Behind the Wall von Karo_del_Green (Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft) ================================================================================ Kapitel 19: Der Moment des Verstehens ------------------------------------- Kapitel 19 Der Moment des Verstehens Kayas kleine Locken bewegen sich im Takt ihrer ruckartigen, krabbelnden Bewegungen. Sie sind etwas dunkler als die ihrer Mutter. Aber auch Rachels Gesicht ist umrahmt von großen Wellen, die ihren schmalen Gesichtszügen schmeicheln. Kaya quietscht freudig auf als sie bei den Füßen ihrer Mama ankommt. Rachel blickt kurz zu ihrer Tochter und als sie wieder hoch schaut, direkt zu mir. Ich sehe dabei zu, wie sich ihre Atmung beschleunigt und ihre Augen sich weiten, als sie immer mehr zu begreifen beginnt. „Er...er ist Lee", sagt Rachel fassungslos. Sie sieht zu Rick. Auch ich sehe verwundert zu meinem Freund. Ich bin verunsichert. „Der Lee?" Die Betonung lässt mich ein weiteres Mal stocken. Wieso erfragt sie es derartig? Ich sehe weiterhin zu Richard, der gerade selbst mit seine Fassung ringt. Ein kalter Schauer ergreift mich, als mir klar wird, warum. Sie hat nicht gewusst, dass mit diesem Namen keine Frau gemeint ist. Er hat von mir als Lee gesprochen, ohne diesen Umstand ihr gegenüber zu erwähnen und auch ohne zu erklären, dass er im Speziellen mich meint. „Er ist Lee...", wiederholt sie erneut. „Du bist doch... Du bist Richards Freund vom See", stellt sie nun verstehen fest. Anscheinend habe ich mich äußerlich wirklich kaum verändert. „Du hast Richards Vater getötet... Er ist Lee?" Den letzten Teil richtet sie wieder an Rick. Ihr Blick ist gezeichnet von Entsetzen. Noch immer unterstrichen mit einem Hauch Fassungslosigkeit, die sich aber langsam in Wut ändert. Aber auch in Furcht. Sie hat Angst von mir. Diese feine Nuance in ihrer Stimme. Ich höre es deutlich heraus. Richard rückt zu mir auf, bleibt neben mir stehen. Seine Hand streift unauffällig meine, aber ich weiß auch so, dass es als beruhigende Geste dient. Es hilft nur nicht. Die verschiedensten Gefühle bauen sich in mir auf. Eine beißende Mischung aus Verärgerung, Scham und Verunsicherung. Ich fühle mich mehr als unwohl. Was hat er ihr erzählt? Wie viel weiß sie wirklich? Warum hat er überhaupt über mich gesprochen? Sie weiß natürlich genau Bescheid über die Umstände von Renard Paddocks Tod. Das Geschwätz und die Aufruhe, die das ganze Geschehen in der Firma und in der gesellschaftlichen Schicht der Paddocks verursacht hat, war enorm. Nur die Bestimmungen im Zusammenhang mit dem Jugendschutzgesetz haben dafür gesorgt, dass mein voller Name nie an die Presse gegangen ist. Doch das Gerede konnte es nicht verhindern. Rachel beugt sich zu dem schon quengelnden Kind zu ihren Füßen, zieht Kaya in ihre Arme und drückt sie fest an sich. Schützend. Sie schirmt das kleine Mädchen von uns ab. „Wie kommst du überhaupt hier rein?", fragt Richard erstaunlich ruhig. Dennoch schiebt er sich an mir vorbei und geht auf sie zu. Ich sehe deutlich, wie sich seine vorher lockere und befreite Körperhaltung auf Abwehr umstellt. Gestraffte Schultern. Die Pfanne hält er fest in seiner Hand. Ein deutlich angehobener Kopf, denn trotz seiner körperlichen Größe versucht er damit noch größer zu wirken. Ein Reflex aus der Kindheit. Früher habe ich das oft seinem Vater gegenüber bei ihm beobachtet. Bei jeder Konfrontation hat er sich gestreckt und seinen Kopf weit nach oben gereckt. Als Kind ein typischer Versuch zu trotzen. Als junger Mann eine deutliche Gegenwehr. Mit 17 Jahren hatte Rick die Größe seines Vaters erreicht. Sie standen sich auf Augenhöhe, aber Renard sah in ihm immer das unbändige und respektlose Kind. Ein Schauer streift sich über meinen Körper wie ein unkomfortabler Mantel, als ich mich an die letzte Auseinandersetzung entsinne. Rachel hebt ihre Hand und reißt mich damit aus den unschönen Erinnerungen. Sie zeigt einen Schlüssel, der sich gegen ihre Handfläche bettet. Nur ein leises, kurzes Klimpern ist zu hören, danach presst sich das Metall wieder gegen ihre Haut. „Richard, was will er hier?", bellt sie erregt. Sie weiß um meine Bedeutung. Das verrät mir der Ausdruck in ihren Augen. „Sag mir lieber, was du hier willst und woher du den Schlüssel hast?" Richard legt die Pfanne endlich zur Seite und bleibt zwischen uns stehen. Für einen Moment streckt sich seine Hand nach hinten zu mir aus, doch ich rühre mich nicht. „Was will er hier?", keift sie erneut und macht weiterhin keine Anstalten ihre Anwesenheit zu erklären. Auch sonst ermöglicht sie keine weiteren Fragen in ihre Richtung. „Wie kannst du zu lassen, dass er hier herkommt?" „Es ist meine Wohnung, Rachel!", kontert er aufgebracht und laut. Nun greife ich nach Richards Arm und halte ihn zurück. Er glüht. Die Hitze seiner Haut fühlt sich an, als würde sie mich jeden Moment verbrennen können. Ich lasse dennoch nicht locker. Rick blickt kurz zu mir zurück, erhascht meinen Blick und ich bin mir sicher, dass er genau weiß, dass ich nicht möchte, dass er so aufgebracht mit ihr spricht und vor allem nicht vor dem Kind. Er löst sich sachte aus meinem Griff. „Okay, ein letztes Mal, was willst du und woher hast du den Schlüssel?" Er schafft es beide Fragen ruhig, aber direkt auszusprechen. „Ich konnte dich über das Telefon nicht erreichen und... und...ich habe ihn nachmachen lassen für alle Fälle!", gibt Rachel als Antwort. „Für welche Fälle bitte?" „Für solche...", sagt sie und deutet auf mich, „...In denen du unsere Tochter mit einem völlig fremden Mann allein im Zimmer lässt." In Ricks Gesicht spiegelt sich die Fassungslosigkeit, die ich empfinde. So sehr mich diese Worte und die damit verbundenen Vorurteile treffen, so sehr kann ich sie leider auch verstehen. Ich sehe an Richard vorbei zu dem kleinen Mädchen, welches zappelnd in Rachels Armen hängt. Ihre schönen Kulleraugen glänzen feucht. „Ich sollte jetzt gehen!", bekunde ich leise in den Spannung geladenen Raum hinein. „Nein", sagt Richard und im selben Moment donnert ein lautes und deutliches Ja von Rachel zu uns. Es lässt mich zusammenzucken. „Rachel, du hast nicht das Recht, jemanden meiner Wohnung zu verweisen." „Du gefährdest das Wohl unseres Kindes und dann habe ich sehr wohl das Recht." „Wie bitte? Ich will, dass du jetzt gehst. Verschwinde! Wie du gemerkt hast, ging es unserer Tochter bis zu deinem unnötigen Auftritt fantastisch." Wie auf Kommando beginnt Kaya zu wimmern. Aufgebrachte Stimmen und laute Worte sind nichts für Kinder. Egal, wie klein sie sind. Sie verstehen genau, was sie bedeuten. Streit verursachen ist das Letzte, was ich will. Rachel fasst ihre Tochter noch fester und läuft mit verbissener Miene an uns vorbei zu ihrem Kinderzimmer. Rick schaut ihr mit ebenso verfinsterten Gesicht hinterher und wendet sich zu mir. Sein Blick ist entschuldigend. Dabei muss er das gar nicht. Ich höre, wie sie beginnt einige Sache zusammen zupacken. Sie wird Kaya mitnehmen. Das versteht nun auch Rick. Seine Hand streichelt beim Vorübergehen meine Wange. Eine bewusste Geste, die mir zeigen soll, dass er auf meiner Seite steht, auch wenn er Rachel nun ins Kinderzimmer folgt. Er liebt seine Tochter und wahrscheinlich wird die Trennung schon oft genug dafür sorgen, dass er sie nicht sehen kann. Im Zimmer hat Ricks Stimme eine normale Lautstärke angenommen. So kann ich die Worte, die er sagt, nicht hören. Dafür aber Rachels. „Wie kannst du zu lassen... Wieso lässt du ihn in deine Nähe kommen... Er hätte Kaya etwas antun können..." Jedes Wort ist Schmerz für mich. Ich sehe mich nach meinen Wertsachen um, entdecke Portmonee und Schlüssel auf der Kommode zum Flur. Kayas Plüschkäfer sitzt daneben wie ein Wächter. Ich strecke meine Hand nach dem weichen Stofftier aus und ziehe sie kurz bevor ich ihn berühren kann zurück. Stattdessen greife ich nach meiner Jacke, stecke alles ein und schleiche zur Tür, während sich beide im Nebenzimmer unschöne Worte an den Kopf werfen. Mittlerweile ist auch Ricks Stimme wieder deutlich zu hören. Aufgebracht und laut. Kaya beginnt zu weinen und es ist ein Stich, der durch meinen gesamten Brustkorb fährt. Meine Hand drückt sich unbewusst gegen meine Brust. Bevor ich verschwinden endgültig kann, kommen sie aus dem Kinderzimmer. Rachel hält das kleine Mädchen und eine Tasche in der Hand. Ein kurzer Blick zu mir, der mich straft und foltert als das Unheil, was ich für sie bin. Ihnen folgt Rick, der wild mit den Arm gestikuliert und alles andere als glücklich aussieht. Ich sehe auf das kleine Mädchen in Rachels Armen und mir wird schwer ums Herz. Noch bevor ich die Klinke runterdrücken kann, hält mich Ricks Stimme zurück. „Bleib hier", kommt es bestimmend von ihm. Ich sehe zurück. „Richard, es ist besser, wenn..." Die scharfe Stimme meines Kindheitsfreundes unterbricht mich erneut. „Eleen de Faro, du bleibst hier!", mahnt er mich ein weiteres Mal. Rachel hält in ihrer Bewegung inne. „Eleen..." Sie wiederholt leise meinen Namen und mit einem Mal wird ihr etwas immer deutlicher. Sie blickt zur mir und dann zu ihrer Tochter. Auch sie gehört zu den Menschen, die sich trotz wiederholten Erklärungen nicht an die richtige Betonung meines Namens gewöhnen konnten. Bei ihr klang mein Namen mehr, wie das anglisierte Pardon Allan. Ich habe es nicht korrigiert, sowie ich es auch heute kaum noch tue. Ich habe mich daran gewöhnt, dass mein Name nur von wenigen Personen richtig ausgesprochen wird. Genauso, wie ich mich damit arrangiere, dass mein Name, der eines Mädchens ist und ich ihn noch nie leiden konnte. „Wir haben unsere Tochter nach ihm benannt? Einem Mörder?", flüstert sie erschrocken. Erst mit der korrigierten Version meines Namens konnte sie die Herleitung verstehen. „Rachel, halt den Mund!" „Er ist ein Mörder, Richard!", schreit sie dem Angesprochenen entgegen. Ihre Stimme ist voller Entsetzen. „Das ist er nicht! Du hast doch keine Ahnung. Du weißt doch gar nicht, was damals passiert ist ", brüllt ihr mein Kindheitsfreund aufgebracht entgegen. Rachels Finger legen sich abschirmend über die hellen, intensiven Augen des kleinen Mädchens. Ich wünschte mir, sie hätte ihr die Ohren zu gehalten. „Richard, nicht!", flehe ich ihn an, doch an seinem Blick erkenne ich, dass er das nicht so stehen lassen wird. Er sieht mich an. Ich schüttle meinen Kopf. Kaum sichtbar. Eine stille Träne bahnt sich ihren Weg über meine Wange. Rachel blickt zwischen mir und Richard hin und her. Auch ihre Lider füllen sich langsam mit Tränen. "Du weißt nicht, was mein Vater uns angetan hat...", beginnt er von neuem. Seine Stimme ist matt und ruhig. „Wie auch? Du hast nie darüber gesprochen... Also warum ist er nach all den Jahren hier...trotz alledem?", fragt sie erschüttert. „Du weißt, wieso er das ist...", sagt er. Rachel schüttelt ihren Kopf, doch ihre Augen zeigen deutlich, dass das die falsche Geste ist. Sie kennt den Grund. Sie versteht ihn ganz genau. Ihr Kopfschütteln wird immer energischer. „Ich habe nie und werde nie aufhören ihn zu lieben." Rick spricht es trotzdem aus und sieht dabei nur mich an. Ich hingegen sehe zu der blonden Frau, die das schniefende Kind hält. In ihren Augen erkenne ich das schmerzhafte Wissen darum, dass seine Zuneigung niemals über mögen hinausgegangen ist. Rachel beginnt nun richtig zu weinen. Die Feuchte ihrer Augen löst die üppig aufgetragene Wimperntusche. Die vorher unsichtbaren Tränenspuren färben sich grau. An einigen Stellen tief schwarz. Es verleiht ihr ein noch verletzlicheres Äußeres. Sie umfasst ihre Tochter fester und schiebt sich an mir vorbei durch die Tür. Sie bleibt offen stehen, während ich meinen Blick nicht von dem anderen Mann nehmen kann. Seine Worte verursachen mir ein unglaubliches Glücksgefühl, welches durch die Situation gegen eine unsichtbare Mauer prallt. Nur winzige Fetzen dringen zu mir hin durch als ein Flüstern. Dumpf und leise. Ich stehe hinter dieser Wand und kann nur schreien und hoffen. So sehr mich Richards Worte berühren, so sehr sie mich auch beglücken, umso mehr empfinde ich Mitleid für sie. Ich kann mir nicht vorstellen, wie schlimm es sein muss, von dem Mann, den sie liebt solche Worte zu hören. Richard kommt auf mich zu. Seine Arme strecken sich an meinem Kopf vorbei zur Tür. Er drückt sie zu und hält seine Arme weiter oben. Nur minimal berührt er meine Schultern. Noch immer ist sein Blick ungebrochen. Die Intensität darin verursacht ein intensives Kribbeln. In diesen Momenten sieht er wirklich nur mich. Das habe ich früher immer sehr genossen. Doch gerade schmeckt es bitter. Er bettet seine Stirn gegen meine und ich schließe die Augen. „Du darfst so etwas nicht so leichtfertig vor anderen sagen ...", flüstere ich Rick entgegen, erwidere das Liebesgeständnis nicht. Er kennt meine Gefühle für ihn. Ich habe niemals damit hinter dem Berg gehalten und war sogar der Erste von uns beiden, der es damals laut ausgesprochen hat. Richard hatte es nicht fassen können, hat mehrere Male erfragt, ob ich es wirklich ernst meine und das hatte mich zutiefst verunsichert. Doch dann hatte er mich gepackt und den restlichen Abend mit so vielen Küssen beschenkt, dass ich sie nicht mehr zählen konnte. Zwischen jeden dieser Küssen hatte er mir ein 'Ich liebe dich' entgegen gehaucht, so als würde er es im Grunde noch immer nicht fassen können. Alles sehr kitschig, aber unglaublich schön. „Warum nicht? Es ist schließlich die Wahrheit. Und sie weiß, dass es da immer jemanden gab, den ich einfach nicht aus meinen Kopf kriegte und das wird sich auch nicht ändern." Seine Mund berühren meine Stirn, dann meine Wange und im nächsten Moment schon meine Lippen. "Verstehst du?", murmelt er hinterher und klopft dabei sanft gegen die Seite meines Kopfes. So, als könne er es mir damit besser eintrichtern. Ich bekomme Gänsehaut, spüre nach dem sanften Klopfen, wie seine Finger durch meine Haare streicheln und wie sich seine Lippen auf meine legen. Der Kuss ist zärtlich und unschuldig. Er bestätigt mir jedes seiner Worte. Die Erinnerungen und Ricks Nähe lassen mich fast schweben. Doch ich muss auf den Boden bleiben und löse bei diesen Gedanken den Kuss. „Ich kann ihre Reaktion verstehen...", teile ich ihm mit. „Wie bitte? Bist du noch ganz bei Trost?", erwidert er laut seufzend und ich antworte mit Schwermut. Rachel hat Angst um ihr Kind, das kann ihr niemand verübeln. „Eleen, hör mir zu. Rachel gibt nur das wieder, was ihr meine Mutter eingetrichtert hat. Sie weiß im Grunde gar nicht, was passiert ist. Nur das, was sie durch Dritte oder auch die Medien mitbekommen hat. Niemand außer uns beiden weiß, was passiert ist." Er macht eine bedeutungsschwangere Pause. "Ich weiß, dass du kein Mörder bist und du weißt es doch auch. Im Grunde war das alles ein... dummer Unfall." Die Situation hatte sich hochgeschaukelt. Mit jedem Wort. Mit jedem Schritt. Mit jeder noch so winzigen Gegenwehr, die wir seinem Plänen entgegen brachten, meißelten wir seinen Willen in Stein. Er hätte seine Meinung niemals geändert. Ricks Hand gleitet über meine Wange. Nur wir zwei. Ich denke an Renard Paddock. Die dritte Person, die davon wusste, ist tot. „In den Augen anderer bin ich der Schuldige. Und daran ändern auch deine Worte nichts. Sie hat Angst um ihr Kind. Um dein Kind und das kann ich verstehen." Ich drücke ihm meinen Finger gegen die Brust und Rick greift danach. „Du glaubst doch wohl selbst nicht, dass du schlecht für Kaya bist. Du tust keiner Fliege was zur Leide. Die Wahrscheinlichkeit, dass Kaya dich zum Weinen bringt, ist viel größer." Dieser Kommentar lässt mich beleidigt aufblicken. Immerhin bin ich ein erwachsener Mann. Schon wieder versucht Rick die Ernsthaftigkeit der Thematik durch Witzeleien zu brechen. Ich empfinde es nicht als hilfreich und sehe ihn dementsprechend an. „Du glaubst mir nicht? Sie ist ein kleines Monster und sie hat selbst mich aus Verzweiflung einmal fast zum Weinen gebracht", kommentiert Rick und greift nach meinen Händen. Er webt unsere Finger ineinander und lächelt. Ich starre auf unsere Hände, sauge die Wärme seiner Haut in mich ein, denn meine ist schon wieder kalt. „Darum geht es nicht. Sie hat einfach Angst, Richard und sie kann uns damit Schaden. Vor allem mir", flüstere ich resigniert. „Schau mich an." Widerwillig blicke ich auf. „Das wird sie nicht. Du machst dir zu viele Gedanken." Vielleicht mache ich das, aber die Angst, dass es bald alles umschlägt, ist allgegenwärtig und darüber kann ich nicht hinweg sehen. „Und du zu wenig", kontere ich darauf hin. Rachel wird zu seiner Mutter gehen und ich zurück ins Gefängnis, hallt es in meinem Kopf. Erst leise und dann immer lauter. Richard schweigt und ich sehe deutlich, wie sich seine Stirn in Falten legt. Unsere Finger lösen sich, als ich mich von ihm abwende. „Rachel wird zu deiner Mutter gehen." „Das werde ich verhindern..." „Und was sagst du ihr? Dass ich eine Fata Morgana war? Ein böser Geist? Du hast über mich gesprochen, ohne, dass sie es wusste. Sie könnte bereits auf dem Weg zu ihr sein. Glaubst du wirklich, dass sie sich so einfach davon abbringen lassen wird?" „Ja", sagt Rick, ohne auch nur den Hauch von Unsicherheit erkennen zulassen. Ich blicke ihm zweifelnd entgegen, lasse meine Hand über das Holz der Kommode streichen und stoppe bei dem eingerahmten Foto. Ein Bild von Kaya. Ich denke daran, wie fest Rachel sie an sich heran gedrückt hat. Die Angst in ihrem Blick und auch die Wut. In diesem Moment beginnt Richards Handy zu klingeln. Er zieht es aus der Hosentasche, sieht auf das Display und seufzt, steckt es aber wieder weg. „Sie wird einfach den Mund halten, weil du es so willst?", frage ich fast ein wenig belustigt. Für mich ist das fernab jeder Vorstellung. Was sollte sie davon abhalten einfach zu Sybilla zu gehen oder schlimmer noch gleich zur Polizei? „Ja." Schon wieder. Mit einem leisen Geräusch aus wahnwitzigen Lacher und fassungslosem Seufzer schüttele ich meinen Kopf. Ich blicke in seine schönen braunen Augen. Ich weiß einfach nicht, was in seinem Kopf vorgeht. Was denkt er sich nur dabei? Das Handy klingt weiter, setzt kurz aus und beginnt erneut. Rick knurrt, holt es wieder hervor und geht ran. „Jaron, ich ruf dich später zurück..." Damit legt er wieder auf. Ich beiße die Zähne zusammen. „Bist du dir ihrer Treue und Liebe so sicher? Denn sie hat allen Grund..." „Ja", sagt er schnell, scheinbar ohne nachzudenken und ohne mich richtig ausreden zu lassen. Es versetzt mir einen Stich, es so direkt von ihm zu hören. Ich zucke zurück und sehe ihm entgeistert entgegen. Wie kann er nur? Er glaubt ihre Gefühle benutzen zu können. Bewusst und berechnend. Er schluckt, als er merkt, was er gerade eingestanden hat. „Mist, ...so meine ich es nicht...", versucht er sofort zu beschwichtigen, "Lee, so war es wirklich nicht gemeint...glaub mir." „Lass es, bitte. Ich...ich werde jetzt gehen." „Es war blöd von mir sowas zu sagen...", schiebt er nach und hält mich zurück. „Ja, war es..." Mehr sage ich nicht. „Komm schon... Bleib hier. Bitte, geh nicht auch noch", fleht er mich an. Ich schüttle den Kopf. Im Grunde ist es nur ein ablehnendes Andeuten, doch ich sehe, dass Rick es versteht. Er schließt seine Augen und streicht sich unsicher durch die verwuschelten Haare. Er weiß genau, dass er mich nicht weiter bedrängen darf, denn damit erreicht er nur, dass ich mich weiter zurückziehe. Ich ziehe mir die Schuhe an und öffne die Tür. „Du darfst mir nicht folgen, bitte!" Der Mann, den ich so sehr liebe, mustert mein Gesicht. Ich sehe, wie er schluckt als er erkennt, wie ernst es mir ist. Seine Hand wandert zu meinem Hals. Nur hauchzart berühren mich seine Finger. Sein Daumen tippt sanft gegen mein Kinn. Die streichelnde Berührung ist so unendlich warm. „Richard,...", mahne ich ihn an. Ich verwende absichtlich seinen vollständigen Namen, damit er merkt, dass es reicht und auf meine Bitte reagiert. Das Streicheln stoppt, doch er zieht seine Hand nicht zurück. „Okay, wenn du mir versprichst, dass du an dein Telefon gehst." Die Wärme seiner Finger umfängt mich mit Vertrautheit und Zärtlichkeit als er sie diesmal deutlich auf meine Haut bettet. Rick führt mich in einen Kuss, der mir förmlich entgegen schreit, dass er nicht glücklich darüber ist, dass ich gehe. Aber es muss sein. Trotzdem genieße und erwidere ich den Kuss, lasse meine Hand an seinem Arm liegen und löse mich erst als Richard ihn deutlich intensiviert. Nein. Ich darf mich nicht schon wieder vergessen.Er hält mich nicht zurück, als ich durch die Tür verschwinde. Erst nachdem ich die kühle Luft auf meiner Haut spüre, atme ich tief ein. Das damals begonnene Drama weitet sich immer mehr aus. Das habe ich nicht gewollt. Mit Renards Tod ist alles durcheinander geraten. Unser beider Leben und auch das aller anderen. Ich denke an Ricks Töchterchen und erneut bildet sich dieses seltsame Gefühl in meiner Brust. Auch sie könnte ein Spielball werden. Was, wenn Rachel beginnt, Rick den Kontakt zu verbieten? Ich denke an mein eigenes Kontaktverbot. Es bezieht sich auf alle Mitglieder der Familie Paddock und somit auch auf Kaya Eleena. Anscheinend ist das Rachel nicht bewusst, sonst hätte sie es vorhin sicher angebracht. Was mache ich nur? Mit jedem Treffen winke ich unser Verderben und meine Hölle näher an uns heran. Automatisch sehe ich mich um. Mein Herz macht einen Satz als jemand genau in diesem Moment mit einer entzündeten Zigarette aus einem Auto steigt. Es ist nur ein alter Mann, dessen Gesicht im ersten Moment von Rauch verschleiert ist. Dennoch ist mein Puls sofort auf hundertachtzig. Ich bin noch nicht einmal an der U-Bahn als mein Handy anfängt zu klingeln. Es ist Richards Nummer, die mir das Display anzeigt. Unbewusst wende ich mich um, blicke in die vorbeiströmenden Gesichter der Menschen, die mir auf der Straße entgegen kommen. Es ist wie ein Reflex. Niemand ist dabei, den ich kenne. Keiner mit einer Zigarette zwischen den Lippen oder hinter dem Ohr. Kein Richard. Es beruhigt mich ein wenig. Ich bleibe vor dem Eingang zur U-Bahn stehen Ein feiner Seufzer perlt von meinen Lippen und ich gehe ans Telefon. Schließlich habe ich es ihm versprochen. „Ich bin ein wirklich dummer, nein, verdammt dummer Kerl", kommt es ohne Begrüßung oder sonstiger Erklärung. Ich komme nicht umher zu schmunzeln, weil ich mich sofort erinnere. Diesen Wortlaut verwendete er schon damals. Seine Begrüßungsfloskel nach unseren wenigen Streitereien. Oder bei den Malen, die mich Richard angerufen hat, weil er zu faul gewesen ist, Briefe zu schreiben. Jedes Mal habe ich geschimpft, weil wir uns versprochen hatten, nicht zu telefonieren. Ich habe ihn darum gebeten, denn jedes Mal brach danach die Sehnsucht nach ihm in mir aus. Sie überrannte mich fast. Die letzten Wochen vor den großen Sommerferien waren sowieso immer der Horror für mich. Das Wissen darum, dass ich ihn bald wiedersehe, mit ihm reden, scherzen und ihn berühren konnte, ließ mich kaum schlafen. Noch war es besonders hilfreich in irgendeiner Form Konzentration zu finden. Für Klassenarbeiten und Tests nicht unbedingt das Beste. „Rick...", sage ich, will ihm klar machen, dass ich erstmal Zeit zum Nachdenken benötige. Doch soweit komme ich nicht. „Lee. Hör einfach nur zu!", unterbricht er mich sanft, "Bitte verzeih mir. Meine Reaktion war dumm und unsensibel." Er klingt aufrichtig und ernst. „Ich will doch einfach nur, dass du bei mir bist, dass du sicher und glücklich bist und doch... Ich mache das falsch, oder?" Ich weiß, dass er darauf keine Antwort will. Meine Fingerspitzen pulsieren und dich drücke das Plastikgerät noch etwas mehr an mein Ohr. Ein schweres Seufzen perlt über meine Lippen. Der Schmerz in seiner Stimme trifft mich hart. „Ich rede mit ihr und..." Wieder bricht er ab. "Danke, dass du rangegangen bist. Passe bitte auf dich auf. Du fehlst mir." „Du mir auch", erwidere ich leise, höre, wie er ein leises Okay murmelt und dann auflegt. Die Fahrt zurück zu meiner Wohnung verläuft ruhig. Vor der Haustür bleibe ich stehen. Und fast sofort erfasst mich ein kalter Schauer, der sich über meinen Nacken arbeitet bis nach vorn zu meiner Brust. Mein Puls steigt senkrecht nach oben und ich spüre meinen Herzschlag dumpf in meinen Fingerspitzen. Ich atme mehrere Male tief ein und geräuschvoll wieder aus. Panik erfasst mich und ich sehe mich um. Oberflächlich ist nichts auffällig zu sehen. Nicht mal eines von Moores typischen Fahrzeugen. Ich darf nicht paranoid werden, sage ich mir. Doch es hilft nur minimal. Ich drücke die Haustür auf und gehe so langsam, wie noch nie die Treppe hinauf. Fahrig schiebe ich meine Hand in die Hosentasche und krame nach meinen Schlüsseln. Er fällt zu Boden noch bevor ich ihn richtig in der Hand halte. Das Klirren ist laut. Ich sehe, dass meine Hände zittern als ich langsam danach greife. „Hey, alles okay?" Die unerwartete Frage lässt mich hochfahren. Ich wende mich etwas ungelenk um und verdrehe mir dabei auch noch den Fuß. Mein Nachbar und eine junge Frau stehen auf der Treppe hinter mir. Erst jetzt bemerke ich, dass ich auf seiner Etage stehen geblieben bin. Ich nicke dem Brünetten zu, weiche zur Seite aus und sehe dann zu ihr. Meine Augen bleiben in ihrem ebenmäßigen Gesicht hängen. Dunkle, intensive Augen, die von schwarzen Wimpern umrahmt werden. Sie trägt kaum Make up und hat ein ausgesprochen niedliches Gesicht. Zart und schön. Das mit dem Make up fällt mir vor allem im Vergleich zu Rachel auf, deren Augen extrem geschminkt waren. Ich merke erst, dass ich sie anstarre, als sie den aufgehobenen Schlüssel in mein Blickfeld rückt. Auch ihre Haut hat einen dunkleren Teint, aber nicht annähernd so dunkel, wie Kaleys. Ich nehme den Schlüssel dankend entgegen und murmele eine Entschuldigung. „Hat man dein Schloss schon ausgetauscht?", fragt mich Mark und ich schüttele nur kurz mit dem Kopf. Der Blick der jungen Frau wird verwundert, doch er erläutert nichts, sondern scheint mich weiterhin ausführlich zu mustern. Ich fühle mich gezwungen ihn zu beschwichtigen, da ich nicht möchte, dass er sich ein weiteres Mal genötigt fühlt mir seine Hilfe anzubieten. „Das wird am Montag erledigt... Ich will nur schnell etwas holen", erkläre ich. Der erste Teil ist nicht mal gelogen. Meine Finger zittern wieder deutlicher, als ich darüber nachdenke, dass ich bis Montag in der Wohnung bleiben muss. „Sollen wir dich begleiten?", fragt seine Freundin und schaut fragend zu Mark. Ob sie seine Freundin ist? Ich lehne das Angebot dankend ab und möchte die beiden nicht weiter aufhalten. „Sicher? Wir planen nur einen Filmetag und kochen. Wir haben also Zeit und geben dir Rückendeckung", bietet Mark an, deutet, während er spricht, übertrieben mit seinem Daumen in alle Richtungen und positioniert sich in eine leichte Boxerpose ein. Eine auflockernde Geste und sie nimmt mir tatsächlich etwas Anspannung. Ich lache kurz auf. Die Unruhe bleibt. „Vielen Dank, aber... das wird schon. Ich fürchte mich ja nur vor dem zurückgelassenen Chaos." Ich deute mit dem Daumen die Treppe hinauf, greife den Schlüssel fester und nehme die erste Stufe nach oben. Mark hat beim letzten Mal ein wenig der Unordnung mitbekommen, weiß also wovon ich spreche. „Okay, pass auf dich auf...", entgegnet mir Mark und zieht seine Freundin zu seiner Wohnungstür. „Habt einen schönen Tag." Ich hebe meine Hand zum Gruß und setze meinen Weg nach oben fort. Der Schlüssel in meiner Hand klimpert deutlich, denn meine Hand zittert noch immer. Ich höre ihre leisen Stimmen, lausche so lange bis sie vollends verstummen und die Haustür ins Schloss fällt. Ein Klicken und auch meine Wohnungstür öffnet sich. Ich verschließe sie hinter mir und lasse den Schlüssel, wie beim letzten Mal stecken. Noch immer strömt mir der Geruch von Rauch entgegen. Nur noch dezent, aber für mich deutlich und prägnant. Eine unangenehme Gänsehaut legt sich auf meinen Körper. Als Erstes öffne ich weitere Fenster und bleibe dann vor der Schlafzimmertür stehen. Eine gefühlte Ewigkeit. Doch dann reiße ich mich zusammen, entferne die Bettwäsche von Decke und Kissen. Ich reiße sie förmlich herunter und verfrachte alles sofort in die Waschmaschine. 60°C plus Vorwäsche. Dem Bedürfnis, die Bezüge in den Müll zu verfrachten, widerstehe ich, da ich nur die einen besitze. Die Gänsehaut bleibt. Während die Maschine läuft, beginne ich sauber zu machen. Ich reinige jede winzige Oberfläche im Schlaf- und Wohnzimmer. Zweimal. Dreimal. Auch die Unruhe bleibt. Selbst als ich mich über das Bad und die Küche hergemacht habe. Als ich fertig bin, stelle ich mich selbst unter die Dusche, lasse warmes, fast heißes Wasser über meinen angespannten Körper fließen. Das macht mich alles so fertig. Für einen Moment versuche ich alle Gedanken aus meinem Kopf zu verbannen. Es funktioniert. Ich summe ein Lied, welches ich vor ein paar Tagen im Radio gehört habe. Nur ein paar Takte, dann weiß ich nicht mehr weiter. Die Gedanken kommen wieder. Ich nächtige auf Couch, nachdem ich eine gefühlte Ewigkeit vor meinem Bett stehe und es trotz ausgetauschtem Bettzeug nicht schaffe mich hinein zu legen. Am nächsten Morgen erwache ich mit Rückenschmerzen und dem Gefühl keine 15 Minuten am Stück geschlafen zu haben. Mehrere Male bin ich aufgestanden, habe den Schlüssel im Schloss gedreht. Auf. Zu. Auf. Zu. Immer so weit, bis ich ihn nicht weiter drehen konnte. Das mache ich auch den gesamten Sonntag, nachdem ich eine weitere Runde mit dem Putzlappen gedreht habe. Vor allem in der Nacht. Ich mache wieder kaum ein Auge zu. Am Morgen schließe ich meinen Spind, lasse das Vorhängeschloss zuschnappen und lehne meinen Kopf gegen das kühle Metall. Ich bin müde. Zu müde um zu arbeiten. Ich höre, wie die Tür zum Umkleideraum aufgeht. ich vernehme ein paar Schritte. Als ich aufsehe, erkenne ich einen der älteren Kollegen von Stevens Truppe. Er grüßt mich und ich sammele meine Sachen zusammen. Dösig schlängele ich mich durch die Schrankreihen und werde unerwarteter Weise von einem Körper gestoppt. „Entschuldigung", murmele ich fahrig, spüre eine haltende Hand an meiner Hüfte und sehe auf. Stevens blaue Augen blicken mir amüsiert entgegen. Ich zucke sofort zurück, lasse versehentlich meine Wasserflasche fallen und spüre, wie sich mein gesamter Körper auf Abwehr einstellt. Die Flasche rollt gegen Stevens Füße. „Guten Morgen, Eleen...", gibt er ruhig von sich, schließt seinen Spind und beugt sich zu der runtergefallen Wasserflasche. Als er hochkommt, richtet sich sein Blick direkt auf mich. Musternd und eindringlich. „Du siehst müde aus. Schläfst du schlecht?", fragt er mit einem seltsames Lächeln auf seinen Lippen und hält mir die Plastikflasche hin. Ich greife nicht danach, da in meiner Vorstellung eines dieser klischeehaften Zurückzieh-Spielchen beginnt. Eine zu streckende Bewegung, doch ich reagiere noch immer nicht. Ich beobachte sein Gesicht, versuche zu verstehen, was er mit all diesen Andeutungen und Taten wirklich bezweckt. Hat er doch etwas mit dem Einbruch zu tun? Er wäre der Einzige, der an meine Schlüssel gekommen sein könnte. Er kennt meine Adresse aus der Personalakte. Das Alles. Aber mir fehlt noch immer ein richtiger Grund. Gut, wir können uns nicht leiden. Aber wieso sollte er sowas tun? Die Stimme meines Kollegen reißt mich aus den Gedanken. „Wo ist denn deine Angriffslust hin? Man könnte glatt meinen, du wärst eingeschüchtert, aber das kann ja unmöglich sein." Stevens Lächeln wird hämisch. "Du warst gar nicht beim Vorarbeiter... " „Lass mich in Frieden, Steven", sage ich, nachdem ich mich etwas gefasst habe. Das Lächeln in seinem Gesicht wird zu einem Grinsen. Er legt mir die Flasche in die Hände und beugt sich zu mir. „Das kann ich nicht mehr..." Damit geht er an mir vorbei. Erst als er aus dem Umkleideraum verschwunden ist, realisiere ich die Reaktion meines Körpers. Heftiges Zittern und bis ins Mark gehende Gänsehaut. Was hat das nun wieder zu bedeuten? Das kann er nicht mehr, wiederhole ich. Wieso kann er es nicht mehr? „Ellen?", ruft es mich plötzlich. Ich brauche einen Moment um zu reagieren. Der Auszubildende ist an der Tür stehengeblieben und sieht mich an. Er wiederholt meinen Namen. Auch Kai betont meinen Namen immer wieder falsch. Vor allem dann, wenn er unsicher ist. Ich ignoriere es. In seinen Händen hält er ein Klemmbrett und einen Gerät mit einer metallischen Kugel auf der Spitze. Ein Feuchteindikator. Mit diesen Geräten lassen sich Materialfeuchtewerte ermitteln. Das Gerät in Kais Hand wandert von der einen in die andere. Er wirkt nervös. Ich kann mir nicht erklären, warum. Bisher war ich dem jungen Auszubildenden gegenüber immer freundlich und hilfsbereit. Wahrscheinlich macht auch ihm diese ganze komische Situation zu schaffen. Steven hat ihn in gewisser Weise mit hineingezogen. „Kann ich dir helfen?", frage ich und lächele, nachdem von dem jungen Azubi noch immer nichts kommt. Kai nickt und wirkt für einen Bruchteil noch nervöser. Sofern das möglich ist. Ein feiner Seufzer perlt von seinen trockenen Lippen. Dann leckt er sich darüber. „Ja, ich soll das hier benutzen... Aber ich weiß gar nicht, was es ist." Mit jedem Wort wird seine Stimme leiser und eingeschüchterter. „Und warum hast du das nicht denjenigen gefragt, der es dir in die Hand gedrückt hat?" Kai wendet seinen Blick beschämt zur Seite. Selbstständiges Handeln gehört noch nicht zu seinen Stärken und aktives Nachfragen ebenso wenig. Sofort denke ich an Steven. Sicher hat er ihm diese Aufgabe erteilt und sich dann nicht weiter gekümmert. Und Kai sich nicht getraut weiter zu fragen. Mein Magen beginnt erneut zu rumoren und meine Fingerkuppen werden eiskalt. Wieder erfasst mich ein unangenehmer Schauer, der sich sichtbar auf meiner Haut abzeichnet. Ich nehme dem jungen Mann das Gerät aus der Hand. Ich sehe, wie Kai meinen entblößten Arm entlang sieht. Nach einem kurzen Wühlen in den längst vergangenen Inhalten meiner Ausbildung kann ich ihm ein bisschen was dazu erklären. Wenigstens hat das Ding nur vier Knöpfe. In den alten Kellerräumen der Strafanstalt gab es viel Feuchtigkeit und damit auch Schimmel. Keine schöne Sache. Kai ist aufmerksam und fängt nach ein paar Minuten auch wieder an zu lächeln. Ich brauche selbst einen Moment, bis ich das Gerät vollends verstehe und dem jungen Mann wirklich helfen kann. Wir besorgen ihm einige Unterlagen, in denen die Messstellen- und werte der vorigen Untersuchen vermerkt sind und ich gebe ihm den Auftrag, genau diese Stellen wieder abzuarbeiten und alles sorgsam zu notieren. Als ich denke, dass er gut allein zurechtkommt, widme ich mich meinen eigenen Aufgaben. Ich überprüfe die Heizungsanlage. Sie läuft einwandfrei. Als nächstes werfe ich einen Blick auf die Klimaanlage. Nichts. Gerade als ich ein klein wenig gelangweilt auf das Handy blicke, höre ich, wie die Tür aufgeht. „Hey. Hast du viel zu tun?" Kai. „Bist du fertig mit dem Messen?", frage ich, ohne ihm meine Langeweile deutlich zu machen. „Ja, bin fertig und habe die Aufzeichnungen schon Herr Baumer gegeben." „Gut." Ich lächele ihm zu und warte darauf, dass er etwas erwidert. Doch es passiert nichts. Langsam empfinde ich Kais Verhalten als äußerst seltsam. „Kommst du mit mir Mittagessen?", platzt es mit einem Mal aus ihm heraus und er blickt mich ebenso erschrocken an, wie ich ihn. Das Telefon in meiner Hand beginnt zu klingeln. Ich erkenne die Nummer des Foyers, schaue kurz zurück Kai, der mit noch immer rotem Kopf vor mir steht und gehe nach kurzem Zögern ran. „De Faro", sage ich. „Hey. Hier steht ein Ewan de Faro und möchte dich sprechen." Meine Fingerspitzen beginnen zu pulsieren, als der Pförtner den Namen meines Bruders nennt. Oh nein. Bitte nicht. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)