Behind the Wall von Karo_del_Green (Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft) ================================================================================ Kapitel 20: Die herbe Süße reinen Weines ---------------------------------------- Kapitel 20 Die herbe Süße reinen Weines Als ich runter ins Foyer komme, bleibe ich neben dem Tresen des Pförtners stehen und sehe mich nach meinem Bruder um. Ich finde ihn sofort. Ewan hat sich zu einer der Sitzgruppen im Foyer gestellt. Sein Blick wandert über die Prospekte und Angebote. Seine Miene verrät nicht die geringste Regung und dennoch wirkt er seltsam ruhelos. Auch die Tatsache, dass er sich nicht hingesetzt hat, spricht dafür. Ich atme angestrengt aus. Außerdem verfehlt die große Gestalt meines Bruders ihre Wirkung nicht. Jeder, der an ihm vorbeigeht, blickt verstohlen zu ihm auf. Männer, wie Frauen. Auch bei mir weckt es die altbekannten Gefühle. Von den drei Brüdern bin ich der Jüngste und bin trotz meiner 1,80 m der Kleinste. Das haben sie mich oft spüren lassen. „De Faro!" Ein Flüstern dringt zu mir. Ich schaue zur Seite und direkt in das rundliche Gesicht des Pförtners. Seine Augen wandern nervös zu meinem Bruder und dann wieder zu mir. „Brauchst du Hilfe?", fragt er vorsichtig, greift an seinen Sicherheitsgürtel, an dem ein Teaser und Pfefferspray befestigt sind. Er müsste springen um das gefährliche Spray in Ewans Gesichtsbereich zu bekommen. Ich kann nicht verhindern, dass sich ein seltsames Lächeln auf meine Lippen schleicht. „Nein, schon gut. Er ist mein Bruder." Obwohl es beruhigend klingen soll, höre ich mich zurückhaltend an. Micha wirkt nicht überzeugt. Auch die Tatsache, dass ich noch nicht überschwänglich auf mein Familienmitglied losgestürmt bin, gibt ihm wohl Anlass zum Zweifeln. Meine Familie war noch nie besonders bekannt für ihre lauschigen Gefühlsbekundungen. Begrüßung und Verabschiedungen bestehen bei uns aus einem einfachen Händedruck, leichten, eher unfähigen Umarmungen oder seit meiner Entlassung auch nur noch aus einem leichten Nicken. Ewan blickt sich ungeduldig um und wenn ich nicht binnen weniger Sekunden unter dem Empfangstresen abtauche, wird er mich gleich sehe. Schon geschehen. Ewan erkennt mich sofort und hebt fragend seine Hände in die Luft. Ich komme nicht umher, die wenigen Meter zu ihm zu überbrücken und merke, wie mein Kopf auf dem Weg dorthin tausende Gedanken durcheinander schmeißt. Habe ich etwas vergessen? Sicher ist es nur eine Stippvisiten, weil ich die letzten Tage nicht erreichbar gewesen bin. Da er mir nichts aufs Band gesprochen hat, habe ich nichts Böses vermutet. Ich bleibe vor ihm stehen und sehe dabei zu, wie sich Ewans Arme vor seiner Brust verschränken. Unser Begrüßungsrepertoire wurde gerade erweitert. Die eigentlich abwehrende Geste ist bei meinem Bruder ein Ausdruck seiner Unzufriedenheit. „Eleen..." Ich bin es Leid meinen Namen so aus seinem Mund zu hören. Ich seufze genervt und will mich nicht länger mit Floskeln aufhalten. „Was machst du hier?", frage ich direkt und ohne Umschweife. Außerdem möchte ich ihm verdeutlich, wie sehr es mir gegen den Strich geht, dass er bei meiner Arbeitsstelle aufkreuzt. Er selbst hatte mir vor nicht allzu langer Zeit bei einer stundenlangen Ansprache versucht deutlich zu machen, wie wichtig dieser Job für mein normales Leben ist. Eine Chance für ein normales Leben. In jedem seiner Sätze verwendet er das Wort Normal. Aus Interesse heraus habe ich danach den Duden aufgeschlagen und die Bedeutung herausgesucht. So, wie es allgemein üblich oder gewöhnlich ist oder als üblich und gewöhnlich gesehen wird, heißt es darin. Nach meinem Gefängnisaufenthalt war für mich nichts mehr gewöhnlich. Nichts war, wie üblich. Normalität war ein Fremdwort. Niemand hat es verstanden. Ewan seufzt ebenfalls auf und lässt dann seine Hände wieder sinken. Nun wirkt er eher müde als angriffslustig. „Wie geht es dir?", fragt er mich ohne auf meine Frage einzugehen und um die Spannung zu reduzieren. Allerdings funktioniert es nicht. Ich finde unmöglich, dass er ohne Ankündigung hier auftaucht. „Gut... Ewan, was soll das? Wieso bist du hier? Wenn dich mein Vorarbeiter sieht, dann bekomme ich sicher ärger und du willst doch sicher nicht, dass ich den Job hier verliere. Falls du dich daran erinnerst, ist das das Wichtigste überhaupt...", äffe ich seine vormaligen Ansprachen nach und bin reichlich kindisch. Es ist mir nur gerade vollkommen egal. „Wenn du deinen Verpflichtungen – regelmäßiges Melden, Zurückrufen und Vermeiden von Ärger- nachkommen würdest, wäre das Alles nicht notwendig" Er bellt mir diese sogenannten Pflichtaufgabe förmlich entgegen, verdeutlich mir damit noch einmal mehr, welche Position ich habe. Die des Gehorchenden. „Ewan, was willst du hier?", erkundige ich mich erneut, nachdem er seine Tirade endlich enden lässt. Ich schaffe es nicht zu kaschieren, wie sehr mich diese Bevormundung nervt. „Richard mal wieder gesehen?", knallt er mir vor den Latz. Zischend und leise. So dass es niemand anderes hört. Ich stocke augenblicklich und ich bin mir sicher, dass ihn erschrocken ansehe. Meine Reaktionen sind derartig verräterisch, dass ich kaum eine Chance habe mich herauszureden. Ich war auch noch nie sehr gut darin. Bevor ich etwas erwidern kann, holt er ein gefaltetes Blatt aus seiner Hosentasche hervor und drückt es mir in die Hand. „Deine Antwort kannst du dir sparen." Ich entfalte den ersten Knick. Mit schwarzem Filzstift ist das Datum von vor paar Tagen darauf notiert. Ich entblättere das Papier noch weiter und schlucke, als sich die schemenhaften Schatten eines Bildes abzeichnen und dann mich und Rick am Bahnhof offenbart. Unser Kuss. Unser schöner Moment. Mein Herz flattert, stolpert, fällt. Ich lasse das Bild sinken und wage es nicht meinen Bruder anzusehen. „Im Ernst, Eleen, bist du noch ganz bei Trost?", wettert er laut. So laut, dass seine Stimme einen Moment lang in der großen Eingangshalle widerhallt. Ich zucke deutlich zusammen. Auch Ewan zuckt zusammen, erschrocken durch die Schärfe seiner Stimme und den enormen Hall, der seine Worte durch den halben Raum tragen. Dennoch ist seine körperliche Reaktion weniger ausgeprägt als meine. Neben dem altbekannten Unwohlsein spüre ich Scham, die sich durch die sonderbare Situation in mir ausbreitet wie ein Buschfeuer. Ich weiß nicht, wie ich die Bilder erklären soll. Wie ich ihm verständlich machen soll, warum ich trotz aller Verbote nicht die Kraft habe, mich von Richard Paddock fernzuhalten. Meine Gedanken beginnen zu kreisen und mein allgegenwärtiges Gedankenkarussell beginnt von neuem. Wer macht das? Wer hat dieses Foto gemacht und wieso hat er es Ewan geschickt? Alle in Frage kommenden Personen spulen sich ab, ohne dass sich auch nur eine der vorigen Fragen beantwortet. Ihre Motive. Die möglichen Gründe. Ich verstehe noch immer nicht, was dieses Spielchen soll. Mein gerufener Nachname reißt mich aus den Gedanken. Auch Ewan reagiert. Ich erkenne die Stimme. Kaley. Ich wende mich zu der schönen dunkelhäutigen Frau um, die auf mich und meinem Bruder zukommt. Ihr schlanker Körper steckt in einem wollweißen Leinenanzug mit weiten Hosenbeinen und in einem perfekt umschmeichelnden Blazer. Es ist jedes Mal wieder beeindruckend. Kaley lächelt mir entgegen. Erst als sie bei uns ankommt, wandern ihre aufmerksamen Augen zu Ewan. Meinem Bruder gilt das professionelle, distanziert wirkende Lächeln. Ich wende mich bewusst von meinem Bruder ab und stecke das Bild schnell in meine Hosentasche. "Hey, kann ich was für dich tun?" „Ja! Bitte, verzeih die Störung, aber wir benötigen dringend Hilfe." Sie lächelt. „Natürlich", sage ich und schaue zu meinem Bruder. Seine Augen ruhen auf der schönen dunkelhäutigen Frau. „Ich komme gleich", wende ich mich wieder an Kaley, die nickt und schwungvoll zurück zum Empfangstresen geht. Ich ziehe meinen Wohnungsschlüssel aus der Tasche, den ich seit meiner furchtvollen Erkenntnis lieber bei mir trage und halte ihm diesen hin. Erst durch das leise klimpernde Geräusch löst er seinen Blick von Kaley. Er schiebt meine Hand samt Inhalt wieder zurück. Aus der Jackentasche zieht er den Ersatzschlüssel. Tatsächlich hat seine Anwesenheit doch etwas Gutes. Jetzt kann ich ihm gleich den neuen Schlüssel zu meiner Wohnung aushändigen. Ich verkneife mir ein verbissenes Lächeln. Ohne noch irgendwas zu erwidern, wende ich mich ab. Ewan hält mich zurück. „Wann machst du Feierabend?" „Gegen 14 Uhr", sage ich knapp. Um vier Uhr kommt der Schlüsseldienst. Ewan hätte zu keinem schlechteren Zeitpunkt kommen können. Mein Bruder sieht mir nach als ich zu Kaley gehe, die noch immer am Tresen bei Micha steht. Deutlich spüre ich seinen wissenden Blick in meinem Rücken. Der Gedanke daran, dass mein Feierabend mit Ewan ausgefüllt sein wird, bereitet mir Magenschmerzen. Er hat sicher Frage und etliche neue Vorwürfe parat. „Das gehörte nicht in die Kategorie 'Herzliches Familienwiedersehen'", kommentiert Kaley, nachdem wir in einen der Seitengänge des Gebäudes eingebogen sind. Ein sonderbares Lachen perlt von ihren Lippen. Es ist tief und eigenartig bitter. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal ein herzliches Wiedersehen mit meiner Familie hatte. Die Distanz zwischen uns ist mittlerweile länger als der Nil und ich glaube nicht daran, dass sich das je wieder ändern wird. „Das hast du gemerkt?", sage ich fast ein wenig sarkastisch und kann mir ein verzweifeltes Lächeln nicht verkneifen. Ich fühle mich scheußlich. Ewan hat diesen Effekt auf mich. Er zermürbt mich. Kaley lächelt wissend. Während unseres gemeinsamen Restaurantbesuchs haben wir uns über unserer familiären Strukturen ausgetauscht. Wir sind beide umgeben von Brüdern aufgewachsen, aber nur einer von uns ist wirklich glücklich damit. Ich bin es nicht. Für mich war es meistens eher anstrengend mit zwei älteren Brüdern auskommen zu müssen. „Ja, aber nur weil ihr zwei so respektvoll und ruhig miteinander geredet habt..." Kaley setzt noch einen drauf. Sie fummelt kurz an ihrer Uhr herum und seufzt dann leise. „Danke, dass du mich...na ja, gerettet hast...", sage ich nach kurzem Schweigen, quäle mir ein verlegenes Lächeln ab und bleibe mit ihr vor dem Treppenhaus stehen. „Immer wieder gern! Warum ist er denn hier und warum greift er dich mitten im Foyer derartig an?" Er will Ärger machen, hallt es spöttisch als Antwort zu ihrer ersten Frage in meinem Kopf. Genau das, was ich im Moment am Wenigsten gebrauchen kann. Die schöne Frau neben mir schaut mich aufmerksam und abwartend an. Dennoch antworte ich ihr nicht. Ich zucke leicht mit den Schultern und greife nach der Türklinke. Ihre schlanken Finger legen sich auf meinen Arm und zwingen mich so, doch eine geeignete Antwort hervorzukramen. „Es ist etwas kompliziert zu erklären..." Genau genommen kann ich es ihr nur dann erklären, wenn ich ihr auch von meiner Verfehlung berichten würde und das möchte ich einfach nicht. Eine ihrer wohlgeschwungenen Augenbrauen hebt sich nach oben. Kaley ist schlau genug, um zu merken, dass irgendetwas ganz und gar nicht mit mir stimmt. Ich lehne mich etwas ermattet gegen die Wand, schließe kurz die Augen und unterdrücke einen verzweifelten Seufzer. Im Moment mache ich diese Geräusche der Verzweiflung viel zu oft. Ich sollte versuchen meine Lage nicht noch hilfloser darzustellen, als sie für sie sowieso schon scheint. Bevor sie erneut fragen kann, komme ich ihr zu vor. „Hör zu, ich bin dir wirklich dankbar, dass du dich um mich sorgst und...Aber ich denke nicht, dass..." „... das, was, Eleen? Egal, was es ist. Ich bin ein großes Mädchen und kann damit umgehen! Und ich kann mir meine Meinung selbst bilden. Also, was glaubst du passiert, wenn du mir etwas anvertraust?", fragt sie gerade heraus und klingt wirklich enttäuscht. Ich kann sie verstehen. Auch Kaley lehnt sich mit der Schulter gegen die Wand und sieht mich weiterhin an. Das tiefe Braun ihrer Iriden ist klar und ehrlich. Das macht mir nur noch mehr zu schaffen. Bevor ich ihr etwas antworten kann, höre ich Stimmen, die schallend näher kommen und wenige Augenblicke später kommt ein Tross Kollegen an uns vorbei. Sie tragen Anzüge und perfekt gestylte Frisuren. Drei von ihnen bleiben neben Kaley stehen. „Oh, Miss Abeba. So schön, wie immer. Wann darf ich dir endlich die Aufmerksamkeit zukommen lassen, die du verdienst?", flötet ihr ein großer Blonder entgegen. Ihre schönen dunklen Augen verdrehen sich ungehalten und erst dann wendet sie sich ihm zu. „Wenn pinke Elefanten fliegen lernen, Tobey...", kommentiert sie schlagfertig und verschränkt die Arme vor der Brust. In dem Gesicht des Blonden entsteht nur ein angesporntes Lächeln. In diesem Moment blickt er auch zum ersten Mal zu mir. Ich kenne diese Blicke. Kein Wort ist zwischen uns gefallen und doch schätzt er ein, dass ich für ihn kein Konkurrent bin. „Ein einziges Essen. Im 'Te Amore' und zum Nachtisch gibt es das beste Tiramisu, das du je essen wirst." „Ich bin kein Fan der italienischen Küche...also nein...", erwidert sie gelangweilt. „Du brichst mir das Herz....", schleimt er weiter, macht ein paar theatralische Gesten und erntet von seinem Anhang zustimmendes Raunen. Kaley tut mir Leid, wenn sie so etwas wirklich öfter ertragen muss. „Wie zig anderen. Du kommst darüber hinweg...", sagt die schöne Dunkelhäutige und für einen kurzen Moment sehe ich diesen verheißungsvollen Gesichtsausdruck bei ihm und er macht mir Gänsehaut. Ein überhebliches Lächeln bildet sich auf seinen Lippen. Bevor er erneut den Mund öffnen kann, lege ich meine Hand an Kaleys schlanke Hüfte. „Du hast Recht, italienisch ist zu gewöhnlich. Das Injera in dem kleinen äthiopischen Restaurant vom letzten Mal war fantastisch... Und wie hieß noch mal dieses fantastische Eis, was wir uns geteilt habe?", stimme ich mit ein, sehe beim letzten Teil kurz zu Kaley und dann zu dem blonden Schambolzen. „Oh, die Köstlichkeit aus frittierte Banane, meinst du! Und das Alitscha, erinnerst du dich. Es war grandios...vielleicht sollten wir beim nächsten Mal das neue Indische Restaurant probieren", steigt sie sofort ein, klingt besonders lieblich, als sie mir entgegen lächelt und tatsächlich verschwindet sogleich das übertriebene Lächeln auf Blondies Gesicht. Er fummelt kurz an seinem Anzugsknopf herum und streicht sich dann die festsitzenden, blonden Haare zurück. Keine Veränderung. Ein scheinbar amüsiertes Schnauben perlt von seinen Lippen. „Nun gut, mein Verwöhnpaket steht dir jeder Zeit zur Verfügung..." Er macht eine Geste, mit der scheinbar alles erklärt scheint. Ich hebe verwundert meine Augenbraue und auch Kaley entflieht ein vor Absurdität tropfendes Raunen. Was für ein Auftritt. Sie wenden sich ab und lassen uns endlich in Ruhe. Erst, als sie sich definitiv nicht noch einmal umdrehen, entferne ich mich von Kaley und nehme meine Hand von ihrer Hüfte. „So ein Idiot. Immer dasselbe.", ächzt sie leise, streicht sich durch die kurzen Haare und gleitet mit dem Handrücken unter ihren Augen entlang. "Dankeschön." Ich winke ab. „Machst du dir keine Gedanken darüber, dass er dir irgendwann zu nahe treten könnte?", frage ich, während ich den drei Männern nachsehe. Solche Kerle, wie er entwickelten oft einen unnormalen Ehrgeiz und irgendwann explodierten sie. Oft zum Leidwesen der ins Augenmerk gefallenen Damenwelt. Mit einem solchen Typen habe ich mir im Gefängnis ein Zimmer teilen müssen. Er hat mir davon erzählt, wie seine Auserwählte zunächst abweisend gewesen sei, doch dann habe er sie für sich eingenommen. Sie willigte in ein Date ein. Er nannte es ein Spiel. Als sie sich dann letztendlich zierte, hat er sich mit Gewalt genommen, was ihm seiner Meinung nach zu stand. Er berichtete davon, als wäre es der normale Ablauf. Abgeklärt. Kalt. Es war furchteinflößend und widerlich. „Mit dem werde ich fertig...", sagt sie überzeugt und ich sehe endlich zu ihr. Auch Kaley richtet ihren Blick in den Gang. Trotz ihrer gefestigten Worte wirkt sie nachdenklich. Ihre Stärke in allen Ehren, aber erst in einem solchen Moment merkt man, wie schwach man wirklich ist. Mir macht allein der Gedanke Magenschmerzen. „Vielleicht hättest du nicht tun sollen... nachher macht er dir auch noch Ärger.", merkt sie an. Ärger. Im Moment besteht mein Leben sowieso nur aus Spannungen, da fiel eine mehr oder weniger nicht mehr auf. „Der muss mich im Keller erstmal finden", sage ich leise und versuche zu lächeln. Kaley erwidert es. „Sei bitte vorsichtig. Man unterschätzt sehr leicht, zu was Menschen fähig sind...und er...na ja...er hatte diesen speziellen Blick... und der bedeutet, triff ihn nicht allein", rate ich ihr und bin wirklich besorgt. Gefühle, egal ob positive oder negative, können einen so sehr überwältigen, dass man nicht mehr in der Lage ist, rational oder richtig zu handeln. Aus einem solchen Moment heraus, geschah das, was Richards und mein Leben für immer veränderte. Ich würde alles dafür geben, wenn es nicht derartig eskaliert wäre. Vielleicht hätten wir dann ein gemeinsames Leben geführt. Vielleicht hätte es auch nichts geändert. Kaleys Blick wandert ein weiteres Mal in den Gang und obwohl schon eine Weile niemand mehr zu sehen ist, starrt sie sich an einer Stelle fest. „Ich glaube nicht, dass man sich derartig in Menschen täuschen kann... Er ist aufdringlich und widerlich, aber ich denke nicht, dass er mir Gewalt antun würde..." Eine solche Naivität hätte ich ihr nicht zu getraut. „Kaley, gerade das sind die Schlimmsten! glaub mir!", sage ich eindringlich. Sie legt ihren Kopf schief und will mir noch immer nicht glauben. Anscheinend wird es doch Zeit, dass ich ehrlich bin. "Weißt du, ich saß vier Jahre lang wegen Totschlags im Gefängnis. Ich bin noch immer auf Bewährung und verstoße seit Wochen gegen meine Auflagen, weil ich es nicht schaffe, mich von der Person fernzuhalten, die laut meiner Strafakte zu meinen Opfern gehört", gebe ich nun genau das von mir, was ich vorhin unbedingt vor ihr verschweigen wollte. Vielleicht ist es besser. Vielleicht öffnet es ihr die Augen. Als ich aufschaue, sehe ich, wie sich ihre Hand über ihre vollen Lippen legt. Sie ist geschockt. Sie hadert. Mein Herz krampft sich zusammen. Es tut weh. „Und jetzt sage noch einmal, dass man sich nicht derartig in Menschen täuschen kann...", sage ich in Anlehnung an ihren letzten Wortlaut. Die schöne Frau schweigt, scheint völlig erstarrt. „Pass besser auf dich auf...", sage ich leise und verschwinde ohne etwas abzuwarten durch die Tür zum Treppenhaus. In der nächsten Etage sehe auf mein Handy. Die letzten beiden Stunden verbringe ich in dem kleinen Heizungsraum. Noch immer liegt der Geruch von ranzigem, altem Öl in der Luft. Es ist nur noch ein Hauch, doch er frisst sich wie Säure durch meinen Körper. Wann hat das alles nur ein Ende? Die Stunden ziehen sich ins Unendliche. Beim Umziehen in den Umkleideräumen fällt mir das gefaltete Bild in die Hände. Ich breite es aus und blicke auf die liebevolle Geste, die Rick und ich auf dem Bild einander schenken. Meine Lippe beginnt zu kribbeln, als ich mich an das Gefühl erinnere ihn zu spüren. Das Glück und die Liebe. Wenn Richard bei mir ist, dann fühlt es sich an wie früher. So, als wäre das alles nie passiert. Und doch spüre ich deutlich, dass die vergangenen Jahre so viele Veränderungen mit sich gebrachten, dass mir diese Vertrautheit fremd geworden ist. Ich lasse das Bild zurück in meine Tasche gleiten und schließe meinen Spind ab. Als ich aus der U-Bahn komme, gehe statt in die Richtung meiner Wohnung erst noch zu einem kleinen asiatischen Imbiss. Ich besorge etwas zu Essen. Zwar ist mein Kühlschrank noch immer gut gefüllt, dennoch regt die Vorstellung auf ein lustiges Broteschmier-Abendbrot mit meinem Bruder alles andere als Glücksgefühle in mir. Er weiß es, hallt es in meinem Kopf und verursacht mir Gänsehaut. Ich denke an Rick und wünsche mir nichts sehnlicher, als ihn in diesem Moment an meiner Seite zu haben. Er würde Ewan vernünftig Paroli bieten können. Ich bin dazu meistens nicht in der Lage. Ich merke, wie sich bei dem Gedanken an die unvermeidliche Konfrontation mein Brustkorb zusammenzieht und meine Schritte immer langsamer werden. Vor der Wohnungstür bleibe ich stehen. So lange bis mir deutlich der Geruch des chinesischen Essens in die Nase steigt und jede weitere Minute für Abkühlung sorgt. Trotzdem atme ich erst einmal richtig ein und wieder aus. Mache das insgesamt dreimal, bevor ich wirklich hochgehe. Ich öffne die Tür und atme erleichtert auf, als mir Ewan nicht sofort im Flur entgegen kommt. Leises Gerede dringt zu mir als ich meine Jacke in die Garderobe hänge. Gelächter. Der Fernseher. Ich stelle den Plastikbeutel auf der Kommode ab und entledige mich meiner Schuhen und der Socken. Mein großer Bruder breitet sich über die gesamte Couch aus. Mit verschränkten Armen lehnt er in einem der großen Kissen. Seine Füße sind nackt, genauso, wie meine. Unwillkürlich sehe ich auf meine eigenen und wackele mit den Zehen. Ewan starrt auf den Fernseher, in dem vier nerdige Jungs mit einer Blondine diskutieren. Schrödingers Katze. Das sagt mir etwas. Physik habe ich in der Schule immer gemocht. Geistesabwesend blicke ich dabei zu, wie sie reden, zusammen essen und diskutieren. Eine belebte Gemeinschaft. Ich sehe zu meinem Bruder. Ewan wirkt abgelenkt und er hat mich noch immer nicht bemerkt. Sein ruhiges Gesicht ist mir seltsam vertraut, auch wenn ich es schon etliche Jahre nicht mehr gesehen habe. In dieser Pose sieht er aus, wie unser Vater. Von ihm existiert nur ein einziges Foto. Vergilbt und blass. Das Bild schien langsam genauso wie die Erinnerung an ihm zu verschwinden. Meine Mutter versteckt es in einer Schachtel unter dem Bett, mit vielen kleinen anderen Erinnerungsstücken, deren Bedeutungen mir nur ein Verdacht bleiben. Sie erwähnte ihn nie. Sie sprach nicht über ihn. Sie dachte jeden Tag an ihn. „Hast du Hunger?", frage ich ruhig und sehe mit kitzelnder Freude dabei zu, wie mein Bruder zusammenzuckt. Sofort wechselte er in eine weniger bequeme Position und richtet sich letztendlich komplett auf. Er wirkt unschlüssig. „Ich hab uns etwas vom Chinesen mitgebracht..." Ich deute mit dem Daumen in den Flur und stoße mich vom Türrahmen ab, nehme im Vorübergehen die Tüte mit dem Essen mit und verschwinde in die Küche. Ewan folgt mir mit etwas Abstand. „Willst du auch einen Kaffee?", frage ich, greife bereits nach der Dose mit dem Pulver. „Ja, danke..." Danach folgt Schweigen, durchbrochen vom Rauschen des Wassers, dem leisen Gelächter des Fernsehers und den gedämpften Schritten unserer nackten Füße. Kein Wort. Immer wieder blicke ich verstohlen zu dem anderen Mann, räume ein paar Teller und Besteck raus. Ich habe eigentlich damit gerechnet, dass er mit meinem Auftauchen wieder zu ächzen und toben anfängt. Doch nichts. Diese Ruhe ist fast noch schlimmer. Nein, sie ist es definitiv. Auch nachdem wir uns im Wohnzimmer auf die Couch gesetzt haben, schweigen wir uns an. Ein paar Happen und ich halte es nicht mehr aus. „Ewan,..." „Okay, was denkst du dir dabei?", sagt er im selben Moment, in dem auch ich ansetze. Also doch nur die Ruhe vor dem Sturm. Was sagt es über mich aus, dass ich Erleichterung verspüre, als er mit einer neuen Tirade loslegt. „Ich habe wirklich versucht zu verstehen, was in deinem Kopf vorgeht, aber ich kann es nicht. Es entbehrt sich jeglicher Vernunft. Um Himmelswillen Eleen, willst du denn unbedingt zurück ins Gefängnis?" Natürlich will ich das nicht. Mir bricht Angstschweiß aus, wenn ich nur daran denke. Die Kälte, die ständige Beobachtung und doch war es die Einsamkeit, die einen heimsuchte und lähmte. Am Schlimmsten war es mitten in der Nacht. „Ich wusste ja schon immer, dass du eine ungesunde Verbindung zu diesem Kerl hast, aber das stößt dem Fass den Boden aus. Das kann doch nicht dein Ernst sein." „Schlägt", berichtige ich und stochere in meinen Nudeln rum. „Was?" „Das schlägt dem Fass den Boden aus." Ich spieße ein paar Bambussprossen auf und erschrecke augenblicklich durch den lauten Knall, welcher durch das Aufschlagen von Ewans flacher Hand auf dem Tisch verursacht wird. Ich strapaziere seine Geduld. Nicht, dass ich viel dafür tun müsste. „Hör mit deinen Spitzfindigkeiten auf. Verstehst du nicht, wie Ernst deine Lage ist?" Diesmal mit noch mehr Nachdruck. „Doch, das tue ich..." Er ist nicht der Erste, der mir eindringlich mitteilt, wie selten dämlich meine Aktionen sind. Der Detektiv hat etwas Ähnliches gesagt. Er hat versucht, mir zu erklären, dass mein Kindheitsfreund weniger über die Konsequenzen unseres Handelns nachdachte als ich und er hatte damit Recht behalten. Rick handelt wie früher. Aus dem Bauch heraus. Er geht mit dem Kopf durch die Wand, doch das ist schon damals nicht immer die beste Lösung gewesen. Moore weiß das. Augenblicklich frage ich mich, ob der alte Detektiv auch heute wieder in dem Auto vor meiner Wohnung sitzt. Beim Ankommen habe ich nicht darauf geachtet. Ob er von Ewans Anwesenheit weiß? Verstohlen stiere ich zum Fenster. Ich seufze leicht und stecke mir die Bambussprossen endlich in den Mund. „Und dennoch triffst du ihn? Warum machst du dir dein Leben unnötig schwer, Eleen? Hast du wegen Richard Paddock nicht schon genug gelitten?" Ich sehe meinem Bruder entgegen und bevor ich ihm etwas erwidern kann, klingelt es an der Tür. Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich dafür bedanken oder in Tränen ausbrechen soll. Erneut verzögert sich der Knall. An der Tür blicke ich dem Hausmeister samt Schlüsseldienst entgegen. Die Montage des neuen Schlosses dauert nicht lange. Nur der darauf folgende Papierkram sorgt endgültig dafür, dass mein Essen kalt wird. Nach gefühlten zehn Unterschriften überreicht mir der Hausmeister drei neue blanke Schlüssel und ein Bestätigungsschreiben für den Erhalt. Ich schließe hinter mir die Tür und spüre, wie sich etwas meiner Nervosität legt. Jetzt wird niemand mehr so schnell in meine Wohnung eindringen können. Das hoffe ich zu mindestens. Als ich das Wohnzimmer betrete, fehlt von Ewan jede Spur und auch von unseren Tellern. Ich finde ihn letztlich in der Küche. Er lehnt gegen den Küchentisch und starrt aus dem Fenster. Als er mich bemerkt, deutet er zum Herd, auf dem mein Essen in einer Pfanne vor sich hin brutzelt. „Du hast keine Mikrowelle...", merkt er an, so als müsste er mir erklären, warum er so gehandelt hat. Ich sehe auf den Tisch. Auch meine Tasse mit nur noch lauwarmen Kaffee steht darauf. Ich nehme einen Schluck und kippe den Rest zurück in die Spüle. Danach schalte ich die Herdplatte ab und befördere das Essen zurück auf den Teller. Hunger habe ich kaum noch. Ewan bleibt vor dem Fenster stehen. „Wieso musstest du ein neues Schloss bekommen?", fragt er und deutet auf den Schlüsselbund, den ich ebenfalls auf dem Tisch abgelegt habe um ihm nachher einen der Schlüssel auszuhändigen. „Ich habe einen Schlüssel verloren." Während ich das sage, beginne ich wieder zu essen. Eigentlich sind es nur einzelne Nudeln, auf denen ich lustlos herum kaue. Ewan scheint mit meiner Begründung zufrieden zu sein, denn er blickt ein weiteres Mal grübelnd aus dem Fenster, „Wie lange führt ihr schon eine derartige Beziehung?", fragt er dann, ohne mich auch nur anzusehen. Die Ablehnung, die mit seinen Worten einhergeht, ärgert mich. „Wie lange wir schon miteinander ficken, meinst du? Lange...", gebe ich bissig von mir, sehe wie mein Bruder bei derart deutlichen Worten zusammenzuckt und sich seine verschränkten Arme erschöpft lockern. „Eleen,..." Die Formulierung meines Namens ist fast resigniert. Ewan seufzt und streicht sich durch die dunklen Haare. Nun dreht er sich vollkommen zu mir um. „Warum hast du nie etwas gesagt?" „Hätte es etwas geändert?" „Vielleicht." Ich bezweifle es. Sie hatten versucht es mir auszureden, hatten deutlich auf unsere gesellschaftlichen Unterschiede verwiesen und mir letztendlich verboten Rick zusehen. Wir hätten niemals eine Chance gehabt. So etwas hat auch Detektiv Moore geäußert und genau das war es, was auch Renard Paddock gesagt hat. Ich habe ihm widersprochen und er hat mir auf seine ganz persönliche Art klar gemacht, wie wenig er von meinem Widerstand hielt. Wie jedes Mal steigt mir der Geruch von abgestandenem Zigarrenrauch in die Nase und ein heftiger Schauer erfasst mich. Er würde dafür sorgen, dass ich mich nie wieder von Richard anfassen lasse. Und er hätte es fast geschafft. Sein fester Griff um mein Handgelenk sorgt auch jetzt noch für pochenden Schmerz. Er hat mir die Hand fast gebrochen, als er mich zu Boden drückte und mir den Arm auf den Rücken drehte. Wieder und wieder hat er mir zu geflüstert, wie widerwärtig wir seien, wie wenig er von unserer Meinung hielt. Die Erinnerung an die Schwere seines Körpers und sein warmer Atem, der meine Haut traf, verursacht mir heftige Übelkeit. Sie erfasst mich mit kalten Schauern. Seine rauen Hände... „... zu verstehen. Es hätte uns einfach geholfen..." Ewan spricht die gesamte Zeit unbeirrt weiter. Ich stehe abrupt auf und Ewan stoppt mit seinen Ausführungen. Meine Hand legt sich gegen meinen Bauch und ich schaffe es rechtzeitig ins Bad. Die wenigen Lebensmittel, die ich heute zu mir genommen habe, sind schnell verschwunden. Mein Hals brennt als ich mich ein letztes Mal vorbeuge. Ewan ist mir gefolgt, das weiß ich, ohne mich zur Tür drehen zu müssen. Nach einem weiteren Mal würgen, lehne ich mich ermattet gegen den nahen Heizkörper und sehe auf. Ich erkenne Sorge in seinem Blick. Sie ist ehrlich und familiär. Er kommt auf mich zu und reicht mir die Hand. „Komm hoch, hier wirst du nur kalt." Ich nehme diese helfende Geste ohne zu zögern an und er zieht mich hoch. Kurz spüle ich mir den Mund mit Wasser aus, dann verfrachtet er mich aus der Gewohnheit heraus auf die Couch und verschwindet trotz meiner Einwände in die Küche. Er kommt mit einer dampfenden Tasse Tee und einem Glas Wasser zurück. Der Geruch von Anis und Fenchel weht mir entgegen. Diese Sorte kocht er wahrscheinlich auch für seine Tochter, wenn sie krank ist. „Er hatte es herausbekommen, oder?", sagt Ewan unvermittelt, „Renard Paddock hat es gewusst, das von dir und seinem Sohn, nicht wahr?" Er lässt sich auf das andere Ende der Couch nieder und ich nicke. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)