Behind the Wall von Karo_del_Green (Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft) ================================================================================ Kapitel 21: Wenn es nur eine Erinnerung ist, die man liebt ---------------------------------------------------------- Kapitel 21 Wenn es nur eine Erinnerung ist, die man liebt Meine unruhigen Finger schließen sich um den Rand der dampfenden Tasse. Die Hitze trifft meine Haut und die Schmerzrezeptoren aktivieren sich. Doch ich nehme ihn kaum wahr. Die Erinnerungen hingegen, die sich tosend und heftig hervorarbeiten, sind scharf und klar. Sie erfassen mich mit all dem Schmerz der vergangenen Jahre. Ja, Ricks Vater hat von uns gewusst, denn er hatte uns gesehen. In einem vertrauten Moment. Einen sehr intimen. Noch jetzt spüre ich, wie sich der beschämte Schauer auf meinen Körper legt, wie sich meine Haut abwehrend hervor perlt und mir etliche kalte Stöße versetzt. Der Gedanke daran, dass er dabei zugesehen hat, wie wir uns liebten, scheint mich jedes Mal wieder vollkommen zu entblößen. Meine Hand streicht über die Hosentasche, in der sich das Bild befindet, welches Ewan mir gegeben hat. Auch der Gedanken bei unserem Kuss beobachtet worden zu sein, setzt dieses entsetzliche Gefühl frei. Ich schüttele es davon und versuche mich zu konzentrieren. Es ist nur nicht so einfach. Mein Hals brennt. Mein Kopf fühlt sich an, wie leergefegt und doch erfassen mich dauernd diese schmerzhaften Erinnerungen. „Wo hast du eigentlich das Bild her? Hast du...", frage ich leise, ziehe es hervor und entfalte es. Meine Hand zittert. „Hab ich was?", erkundigt er sich scharf. Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll und starre nur das Bild in meiner Hand an. „Denkst du etwas, ich hab dich beobachten lassen? Traust du mir das zu?" Ich zucke mit den Schultern. Im Moment weiß ich gar nichts mehr, aber wenn ich ehrlich bin würde ich es ihm durchaus zutrauen. „Herrje Eleen, ich bin nicht Sybilla Paddock und nein, ich hatte ehrlich gesagt das Vertrauen, dass du das Richtige tust und dann hatte ich vor ein paar Tage dieses Bild in meinem Briefkasten und bin aus allen Wolken gefallen." Er hat es zugeschickt bekommen. Ich schließe frustriert meine Augen und knülle das Bild zusammen. „Sag mir lieber, welcher Scherzkeks euch an den Karren fahren will." „Ich habe keine Ahnung..." "Irgendwer muss es doch sein? Denk nach", sagt er scharf. "Ich weiß es, aber nicht..." "Wer weiß noch, dass ihr euch wieder seht..." "Niemand... nur du...und.." "Und? Eleen, wer weiß es noch?" "Detektiv Moore..." "Was? Das ist ein Scherz? Um Himmelswillen... " "Er ist pensioniert... und er verrät es nicht. Er will nur seinen verdammten Fall lösen", kommentiere ich sarkastisch und greife zur Tasse. Ich nehme einen Schluck des beruhigenden Tees. Mein Hals dankt es. "Seinen Fall? Den von Renard Paddock? Er weiß von euch beiden, dir und...", hakt er nach, spricht aber Richards Namen nicht aus. Ich nicke fahrig ohne es wirklich zu wollen. Ewans große Hand streicht über seinen Mund, bettet sich für ein Zögern über seine Lippen. Danach fällt sie zurück in seinen Schoß. Ich kann seine Reaktion nicht deuten. Ist er sauer? Wütend? Enttäuscht. Ewan wäre damals und womöglich auch heute noch der Erste, der sich gegen eine Beziehung zwischen mir und Richard ausgesprochen hätte. Was also ändert diese Information? Nichts. Ewans Gesicht wendet sich zur Seite. Er folgt mit seinen Augen den tanzenden Schatten am Fensterrahmen. Ich beobachte, wie sie sich auf der gelblichen Oberfläche des Tees spiegeln. Scheinwerferlicht von Autos, die nur schemenhaft durch die Vorhänge dringen und seltsame Gebilde an die Decke und an die Wände werfen. Ein Muster streicht über Ewans mit Bartstoppeln bedeckter Wange. „Erzähl mir, was in der Nacht passiert ist..." Die Stimme meines Bruders ist bittend und ungewohnt ruhig. Das verwundert mich am meisten. Ich blicke auf und direkt in das noch ernster drein schauende Gesicht meines älteren Bruders. Die Falte zwischen seinen Augenbrauen ist tief und doch fühle ich mich das erste Mal seit langem nicht von ihm bedrängt. „Wir haben uns gestritten und ich stieß ihn die Treppe runter..." Ich klinge als hätte ich es auswendig gelernt. Irgendwie habe ich das auch. Ewan seufzt. „Und warum warst du dort gewesen?" „Ich wollte zu Richard..." „Nein, erkläre mir jetzt nicht, dass du nicht wusstest, dass Richard nicht da ist. Du hattest keinen Grund dort zu sein." Ich wende meinen Blick ab. „Warum also warst du es?" „Warum interessiert dich das auf einmal?", entfährt es mir aufgebracht. Damals fragte mich niemand danach. Alle nahmen das Offensichtliche als bare Münze. Fakt Nummer eins. Während eines Streits stieß ich Renard Paddock die Treppe hinunter. Fakt Nummer zwei. Niemand hatte nach einem Grund gefragt. Nein, es ist nicht wahr. Jemand hat danach gefragt. Detektiv Moore. Mit dem letzten Wort meines niedergeschriebenen Geständnisses hatte er sich vor mich gehockt. Ich erinnere mich gut an seine schon damals wässrigen, hellen Augen. Ihre Intensität, die in mich hineinzublicken schien. Ich konnte ihnen damals nicht entkommen. Er stellte mir die Frage nur ein einziges Mal. Ich antwortete nicht. Ich konnte es nicht, denn dann hätte ich mehr erklären müssen. Fakt Nummer drei. Ich habe es gestanden. Es musste niemand nachhaken. Während des Prozesses war es Sybilla Paddock, die über Richards und meine ungewöhnliche, fast abnormale Beziehung sprach. Ich sei von Richard abhängig gewesen, habe ihn manipuliert. Wir waren viel zu viel zusammen. Aber sie wusste nicht, wie tief unsere Beziehung wirklich ist. Ich sehe noch immer, wie sie in ihrem teuren, schwarzen Kostüm im Zeugenstand saß. In ihren Händen ein seidenes Taschentuch mit hellblauen Stickereien, welches andauernd über ihre Wangen wanderte. Scheinbare Tränen, aber kein einziger feuchter Fleck auf dem reinweißen Tuch. Wenn sie über ihren Mann sprach, dann erstickte ihre Stimme vor gespielter Trauer. Doch mit der Erwähnung meines Namens wich jeglicher angeblicher Kummer purem Zorn. Im Grunde hasste sie mich seit ich in Richards Lebens getreten bin. Das habe ich immer gespürt und es jagt mir auch heute noch einen eisigen Schauer durch den Körper. Ihr Blick war es, der mich bei jeder Erinnerung geißelte. Ich habe ihr ihren Mann genommen und in gewisser Weise auch ihren Sohn. „Es hat dich damals nicht interessiert, warum sollte es das jetzt?", frage ich mit zutiefst enttäuschter Stimme und schellte mich innerlich dafür, dass ich es nicht schaffe, ungerührt zu klingen. Die Reaktion, die ich bekomme, erfüllt mich mit Genugtuung. Mein Bruder seufzt schwer. Schuldbewusst. Ewans angespannter Körper spricht zusätzlich eine deutliche Sprache. Er rutscht etwas weiter nach vorn, so dass er sich dichter zu mir beugen kann. „Du hast es gestanden, Eleen. Was hätten wir deiner Meinung nach tun sollen?" Ewans Gesicht zeigt mir die Hilflosigkeit, die er empfindet, die auch der Rest meiner Familie damals empfand. Mit entfährt ein zischendes Geräusch. Ich war selbst schuld daran, dass es so weit gekommen ist. Wenn ich es geschafft hätte zu akzeptieren, dass es zwischen Richard und mir nie eine Zukunft geben wird, dann wäre es nicht passiert. Vielleicht war es der jugendliche Starrsinn oder der Mangel pubertärer Vorstellungskraft mir deutlich zu machen, dass ich jemals ohne Rick leben könnte. Ich wollte es nicht und ich kann es auch noch immer nicht. In diesem Sinn habe ich mich kein bisschen weiter entwickelt. Die Zeit im Gefängnis hätte mir nur beigebracht, meine Gefühle zum Wohle des Überlebens zu unterdrücken, aber sie hatten sich nicht gemindert oder gar ausradiert. Ich habe nur nicht darüber nachgedacht. Doch jetzt. Er ist mir wieder so nah. Ich denke an nichts anderes mehr. Der Wunsch bei ihm zu sein ist intensiv und unglaublich schmerzend. Ich habe damals nicht an meine Familie gedacht. Im tiefen Inneren meines Herzens weiß ich, dass ich auch heute genauso handeln würde, wie ich es in dieser verhängnisvollen Nacht getan habe. Nur um ihn zu schützen. Nur um mich an dem verzweifelten Verlangen zu nähren, bei ihm sein zu können. „Ich habe noch eine Decke im Schrank, die werde ich dir holen...", sage ich ausweichend. Ich habe kein Bedürfnis mehr weiter mit ihm darüber zu reden. Er ändert nichts. Er will Erklärungen, die ich ihm einfach nicht geben kann, weil er sie nicht versteht und nie verstehen wird. Die Vergangenheit ist Vergangenheit. Nichts, was er jetzt sagt oder versucht zu erklären, wird etwas ändern. Meine Familie ist mir fremd und ein weiterer Schatten der Vergangenheit. Ich ziehe das große Kissen hinter meinem Rücken hervor und gebe es Ewan rüber. Statt dem Kissen greift er nach meinem Handgelenk. Seine große Hand umfasst mich zur Gänze. Ich fühle mich wieder, wie ein kleiner Junge. Es ist unangenehm, obwohl diese Berührung in keiner Weise hart ist. „Eleen, du irrst dich, wenn du glaubst, dass wir dich aufgegeben haben. Wir wussten uns nur damals nicht zu helfen... Du hast geschwiegen. Du hast es vorher gestanden. Du hättest mit uns reden..." „... es macht keinen Unterschied." Ich bin mir des Dilemmas durchaus bewusst und trotzdem hätte mir der winzige Funken Verständnis bereits gereicht. Ich lasse das Kissen vor ihm fallen und stehe auf. An der Tür bleibe ich noch mal stehen, wende mich aber nicht zu ihm um. „Ich möchte, dass du morgen wieder zu deiner Familie fährst..." Es ist keine Bitte, aber es entspringt aus den Tiefen meines Herzens. Er muss seine Energien in andere Dinge stecken, nicht in das chaotische Leben seines Bruders. Denn er macht es nur noch Chaotischer. Ich werfe einen kurzen Blick zurück zu ihm auf der Couch. Ewan schweigt, aber sieht mich an. Ich hole die Ersatzdecke aus dem Schrank, komme nicht umher, kurz daran zu schnuppern und bin beruhigt, dass sie halbwegs annehmbar riecht. Zusammen mit einem frischen Handtuch lege ich sie auf die Kommode im Flur und gehe in mein Schlafzimmer. Die Tür schließt sich geräuschlos. Ich lehne mich dagegen, vermeide jeden weiteren Schritt in das Zimmer hinein. Die unangenehme Gänsehaut, die sich seit neusten auf meinem Körper bildet, wenn ich dieses Zimmer betrete, lässt mich erschaudern. Sie lähmt mich. Mein Blick wandert durch den Raum. Bis auf ein paar wenige Accessoire ist er wenig wohnlich ausgestattet. Immerhin schlafe ich hier nur. Nicht mehr. Allerdings ist genauso, wie der Rest meiner Wohnung. Manchmal habe ich das Gefühl, ich bin noch immer nicht angekommen. Ich höre die leisen Schritte im Flur. Wenig später die Spülung im Bad. Ich neige mein Ohr zur Tür, als ich das Gefühl habe, das Ewan am Schlafzimmer vorübergeht. Das leise Klopfen lässt meinen Puls steigen, doch überrascht es mich nicht. „Eleen?" Ein weiteres Klopfen. Ich rühre mich nicht. Ein weiteres Mal ertönt mein Name. Mein Blick fällt auf das Bett. Diesmal kann ich nicht auf die Couch ausweichen. Mein Puls rast bei der Vorstellung, was eventuell darin passiert sein könnte. Noch immer rieche ich etwas Zigarettenrauch, auch wenn ich es mir mittlerweile nur noch einbilde. Ich ziehe das Handy aus meiner Tasche, sehe auf die Uhr und lasse es wieder sinken. Ohne es wirklich bewusst wahrzunehmen, tippe ich Ricks Nummer ein. Blind und aus dem Kopf. Es dürstet mich danach, seine Stimme zu hören. Es klingelt lange. Mit jeder vergehenden Sekunde wird die Vernunft in mir wieder lauter. Bis sie mir entgegen schreit. In dem Moment, in dem ich beschließe, aufzulegen, meldet er sich. „Hallo..." Atemlos. Seine Stimme durchfährt mich mit einem wohligen Schauer. „Lee?" „Hey,..." Ich stoße mich von der Tür ab und gehe zu meinem Bett hinüber. Davor bleibe ich stehen. Rick atmet beruhigt aus, als ich reagiere. Dann höre ich es kurz plätschern. „Hey du, ich habe das Klingeln nicht gleich gehört. Ich liege in der Wanne... Alles okay bei dir?" Ich schließe meine Augen und verhindere nicht, dass ich ihn mir vorstelle. Das entspannte Gesicht, während das warme Wasser seinen schlanken Körper umschmeichelt. Der feuchte Glanz in seinem Haaren. Der Geschmack des Wassers auf seiner Haut. Seinen Lippen. Ich sehne mich danach sie zu schmecken. Seine Liebkosungen zu spüre und wie sein Herz im sanften Takt schlägt. Genauso, wie mein eigenes. So sehr vermisse ich ihn und das obwohl wir vorgestern noch zusammen gewesen sind. „Rede mit mir... bitte.", dringt mir als leises Flehen entgegen. Ich drehe mich auf die Seite, drücke das Plastikteil in meiner Hand wieder fester gegen mein Ohr, im Irrglauben, ihm so näher kommen zu können. „Ich brauche dich...", flüstere ich. Mein Herz wiederholt es schreiend. „Ich bin in 15 Minuten bei dir." Ich höre deutlich, wie er sich aus dem Wasser hebt. Ein Schwall Wasser, der bei der ruckartigen Bewegung an der Keramik zurückprallt. Das Plätschern. das Tropfen „Nein. Nein. Bitte, bleib wo du bist!", sage ich schnell. Meine Äußerung war unbedacht. „Wie kann ich das, wenn du solche Dinge sagt..." „Weil ich dich darum bitte." Das feine Seufzen höre ich deutlich und klar. Er ringt mit sich. So wie damals. „Lee, bitte sag mir, was los ist?" „Erzähl mir von deinem Tag...", sage ich, ohne auf Ricks vorige Frage einzugehen. Ich lege mich nach weiteren Zögern in das frisch bezogene Bett. Der Duft von Weichspüler paart sich mit dem eingebildeten Geruch von Zigaretten. „Bitte, erzähl mir einfach, wie dein Tag war... Alles. Jede Kleinigkeit", wiederhole ich meine Bitte. Ich will einfach nur seine Stimme hören. Sie in mich einsaugen und mich darin betten, wie in einer luftigen Wolkendecke. Rick fragt kein weiteres Mal. Ich schließe meine Augen, während er mir von seinem vergangenen Stunden erzählt. Er hat nicht gut geschlafen und er hatte keinen Schokoladenaufstrich mehr zum Frühstück. Ricks Omen für einen schlechten Tag. Es folgten mehrere lange Meetings. Ein Treffen mit einem alten Freund, der seit ein paar Wochen wieder in der Stadt lebt. Jemand aus seiner Schulzeit. Der erwähnte Name, ist der des Anrufers vom Wochenende. Jaron. Es kitzelt mich, aber ich habe kein passendes Gesicht dazu im Kopf. Rick berichtet mir von dem gemeinsamen Essen. Wilden Plaudereien. Er freut sich seinen Freund wieder öfter zu sehen. Jaron hätte es wohl in den letzten Jahren auch nicht leicht gehabt. Es gab ein Herbstsalat als Vorspeise. Das Hauptgericht war ein Steak mit Rotweinschaum. Es klingt edel und teuer. Ich denke darüber nach, was in einem Salat wohl der Herbst ist und stelle mir schmunzelnd verwelkte Blätter vor. Wenig appetitlich. Ich frage nicht nach. Ich schließe meine Augen und lausche der vertrauten und so sehr geliebten Stimme. Sie verursacht mir ein feines Kribbeln in der Magengegend, welches sich ausbreitet und mit jedem weiteren Wort sanft vibriert. Ich greife das Kissen in meinem Arm fester. Wie gern ich in diesem Moment neben ihm liegen würde. Seine Haut an meiner. Die Wärme. Die Geborgenheit, die ich bei ihm spüre. Die Liebe. „Lass uns beide das nächste Mal dort hingehen." Mein Herz macht einen Satz als er das sagt. Aus Freude und im selben Moment aus Trauer. Richards ungebrochener Optimismus ist schon immer eines seiner größten Stärken gewesen. Doch im Moment und vor allem in dieser Situation verursacht es mir Magenschmerzen. Gerade weil ich mich so sehr danach sehne, dass es wahr wird. „Ewan ist hier...", gebe ich als Antwort. Ich höre deutlich, wie sich Richards Körper in der gefüllten Wanne aufrichtet, spüre selbst die Ernüchterung, die diese Offenbarung für uns beide mit sich bringt. „Was will er bei dir?", fragt er nach. Ich schließe meine Augen. „Das Übliche. Er ist der Hirtenhund und ich sein schwarzes Schaf", sage ich und meine es im Grunde nicht so witzig, wie es klingt. „Er ist heute einfach auf Arbeit aufgetaucht", setze ich nach, höre, wie Rick leise knurrt, doch er unterbricht mich nicht. Unbewusst greife ich nach dem Ring, der um meinem Hals liegt. Das feine Relief der eingravierten Runen. Ich spüre sie unter meinen Fingerspitzen. „Rick, er weiß es. Er... Jemand hat ihm ein Bild geschickt von uns beiden." Am anderen Ende der Leitung bleibt es still. Nur leise Plätschern. Das Auftreffen von kleinen Tropfen auf Keramik und Wasseroberfläche. „Was hat er dazu gesagt?" „Er war außer sich. Fassungslos, was sonst. Er will verstehen, wie tief unsere Beziehung wirklich ist und ob sie es schon damals war." Ich erzähle ihm den Rest unserer Auseinandersetzung. Seine seltsame Reaktion. Sein kläglicher Versuch mir zu erklären, warum sich damals meine eigene Familie von mir abgewandt hat. Ihre Hilflosigkeit, die ich selbst dreimal mehr übertroffen habe. „Ist er noch bei dir?" Ich sehe zur Tür. „Ja, er schläft auf der Couch.... Wieso schickt ihm jemand ein Bild von uns? Wer macht das? Wer?" Nun klinge ich schrecklich verzweifelt. Wieder entsteht in meinem Kopf eine Abfolge von möglichen Schuldigen und wieder ergibt es alles keinen wirklichen Sinn. Wer hat einen Nutzen davon? Wer wollte uns derartig schaden? Wer spielte diese Spielchen? „Ich weiß es nicht..." Wie sollte er auch. Wie gern wäre ich jetzt bei ihm, würde spüren wollen, wie sich seine warme Hand durch meine Haare bewegen, wie sie meine Wange ertasten und wie sie über die feine Beuge meines Halses gleiten. Sein vertrauter Geruch. „Was kann ich tun? Ich mache alles für dich, das weißt du." Die Sorge in seine Stimme geht mir durch Mark und Bein. Genauso, wie die Liebe. Das Klingeln im Hintergrund ist leise, aber durchdringend. Plätschern. Richard flucht. "Lee, warte kurz, da ist jemand an der Tür. Leg nicht auf." Bestimmend, aber ebenso flehend. Ich höre das Rascheln und wie mehrere Dinge zu Boden gehen. Dann eine weibliche Stimme. Ricks genervte. Rahel. Ich spüre, wie sich feine Gänsehaut über meinen Hals zieht. Nach ein paar Minuten geht er wieder ran. „Hörst du mich? Treff dich morgen mit mir. Lass uns in Ruhe reden und wir finden sicher eine Lösung." Ricks Optimismus ist noch immer grenzenlos und so unglaublich naiv. Er nennt mir den Namen einer Bar. Eine Uhrzeit. Weil ich nichts dazusage, bittet er mich zwei weitere Male. Er wird auf mich warten. Ich wünsche ihm eine gute Nacht und lege auf. Ein Treffen. Keine gute Idee, doch es dürstet mich danach Rick zu sehen. Nur zu sehen, mehr will ich gar nicht. Ich seufze schwermütig. Das ist nicht gut. Es wäre nicht richtig. In meinem Kopf rasen die Gedanken. Die Erinnerungen aus lang vergangener Zeit mischen sich mit den Momenten des Gegenwärtigen. Nur einige Wochen und doch haben diese mein Leben wieder vollkommen durcheinander gebracht. Ich drehe mich auf dem Rücken und schließe die Augen. Müdigkeit umfängt mich, aber ich schlafe nicht ein. Am Morgen erwache ich vor dem Weckerklingeln. Weit vorher. Draußen ist es stockdunkel. Nur ab und an fährt ein Auto vorbei und erhellt mein Schlafzimmer, wirft sonderbare Schatten und Formationen hinein. Als kleines Kind habe ich damals schrecklich Angst davor gehabt. Die Fantasie malt sonderbare Dinge. jetzt im Erwachsensein werden diese Dinge auch noch wahr. Ich stehe auf, bewege mich leise in der Wohnung und bin eine halbe Stunde zu früh auf Arbeit. Für Ewan habe ich einen Zettel mit der Bitte, seine Familie von mir zu grüßen und einem der neuen Haustürschlüssel hinterlegt. Ich bin mir sicher, dass er mich in den nächsten Tagen anrufen wird. So, wie er es immer tut. Ich werde ihm sagen, dass es mir gut geht und er wird mich ermahnen. So, wie es sonst gewesen ist. Die Zeit auf Arbeit verbringe ich vor allem damit in Bewegung zu sein. Ich überprüfe alle Heizkörper und Leitungen. Jedes Stockwerk. Entlüfte und justiere. Nur einen gewissen Teil der dritten Etage lasse ich aus. Dennoch kommt mir kurz bevor ich mich wieder in den Keller verabschieden will die rundliche Sekretärin entgegen. Ihr gestauter Körper wirkt in dem engen marineblauen Rollkragenpullover noch unvorteilhafter. Zudem sieht es aus, als hätte sie keinen Hals. Ungünstig. Ihre hohen Schuhe machen unrhythmische Geräusche, die in dem langen Gang widerhallen. Man musste kein Experte sein, um zusehen, dass sie in den Schuhe nicht gut laufen kann. Sie kommt direkt auf mich zu. „Ah, de Faro. Gut, dass ich Sie erwische. Sie sind nicht an ihr Telefon gegangen." Der Vorwurf verwundert mich. Ich gebe ein ebenso verdutztes Geräusch von mir und sehe auf das Arbeitshandy. Drei Anrufe in Abwesenheit. Es ist auf lautlos gestellt und auch alle anderen Benachrichtigungssignale sind aus. Ich kann mich nicht erinnern, sie abgestellt zu haben. „Tut mir leid, ich habe die Anrufe nicht mitbekommen. Was kann ich für Sie tun?", sage ich, schiebe das Telefon zurück in meine Tasche. Sie deutet an das andere Ende des Ganges. Ich unterdrücke ein verräterisches Seufzen. Wenigstens bin ich mit Kaley so nicht allein. Die Sekretärin tippelt vor, während sie mir ausführlich und fast theatralisch mitteilt, dass schon wieder das Thermostat in ihrem Büro spinnt. Der schrille Klang ihrer Stimme bereitet mir wirklich Kopfschmerzen. Ich setze das komplette Auswechseln des Gerätes auf meine geistige Zu-erledigen- Liste und bleibe unbewusst stehen, als sie die Tür zu dem Büroraum öffnet. Sie ist bereist darin verschwunden, bevor ich es schaffe, durch zu atmen und ihr zu folgen. Kaleys Schreibtisch ist leer. Ich atme wieder aus. Etwas beruhigter wende ich mich der Anzeigetafel zu. Sie springt zwischen mehreren Temperaturen hin und her. Wahrscheinlich ist es wieder die Elektrik. Ich schraube sorgsam die Abdeckung ab und finde, wie erwartet ein gelockertes Kabel. Ich versuche es, ohne mir einen Stromschlag zu verpassen, zu befestigen. Dann schreibe ich mir die Fabrikatsnummer und das Modell auf. Ich werde ein Neues bestellen. Ich versichere ihr, dass ich mich darum kümmere und öffne die Tür. Kaley taucht vor mir auf und sieht mich im ersten Augenblick erschrocken an. Ich weiche ihrem Blick aus, noch bevor sich die Überraschung in ihren Augen zu etwas anderem wandelt. „Verzeihung,...", sage ich leise und versuche mich an der schönen Dunkelhäutigen vorbei zu schieben und pralle gegen jemand anderen. Hinter ihr steht der Chef, Gerald Barson. Ich wiederhole meine Entschuldigung und drücke mich auch an dem großen Mann vorbei. Der Versuch, es nicht wie eine Flucht aussehen zu lassen, ist garantiert misslungen. Sicher bin ich mir nicht. Der Fahrstuhl braucht Ewigkeiten bis er endlich oben ist. „Eleen..." Kaleys tiefe Stimme lässt mich aufblicken und hält mich tatsächlich zurück. Sie lächelt. „Ach Kaley, ich brauche doch noch einmal Ihre Hilfe..." Barson folgt ihr in den Flur, sieht erst zu mir und dann zu seiner Assistentin. Kaley ist hin und her gerissen. Ich betrete den Fahrstuhl und bin mir mit einem Mal sicher, dass ich das Treffen mit Richard wahrnehmen will. Nein, muss, damit mein Herz aufhört zu schreien. Ich bin zu früh. Mein Blick wandert zu dem unbeleuchteten Namensschild der Bar, in der ich Richard treffen soll. Dark Orange. Es sieht mehr nach einem Club aus. Nur ein paar Mal war ich in einer Bar gewesen und habe schnell festgestellt, dass ich nicht der Typ dafür bin. Außerdem wirkt ein einzelner, stiller Typ immer etwas sonderbar. Ich sehe ein weiteres Mal auf die Uhr und dann sehe ich mich um. In einem kleinen Bäcker besorge ich mir einen Kaffee, spüre schon beim ersten Schluck, wie mir das bittere schwarze Gebräu den Hals wegbrennt. Ich bin kein Kenner, aber das muss schwarzgefärbte Säure sein. Noch bevor ich mich darüber ärgern kann keine Milch genommen zu haben, stoße ich gegen jemanden und wende mich erschrocken zur Seite um niemanden zu bekleckern. Es ist nicht das erste Mal heute, doch diesmal verschlägt es mir die Sprache als ich die Person erkenne, die mir im Weg stand. Ihre blonden Haare sind zu einem Zopf zusammengebunden, der in einer großen Welle über ihre Schulter fällt. Rahels Schultern straffen sich, sodass sich ihr üppiger Schal etwas mehr gegen ihre Wangen bettet. Was für ein beschissener Zufall. Ist es Zufall? „Hallo", entflieht mir holprig und klingt dabei mehr nach einer Frage, als nach einer lässigen Begrüßung. Unbewusst sehe ich mich nach Richard um in der Erwartung, dass auch er jeden Moment um die Ecke kommt. Doch, wieso sollte er sie mitbringen? Mein Handy klingelt just in diesem Moment und Richards Nummer wird mir auf dem Display angezeigt. „Geh schon ran, er wird dir nur sagen, dass er schon drin ist..." Ich schlucke und nehme den Anruf entgegen. Ricks warme Stimme sagt das Erwartete. „Ich bin gleich da...", sage ich zurückhaltend und löse meinen Blick nicht von dem tiefen Blau, welches mir ernst entgegen blickt. Sie muss gestern Abend gehört haben, wie Richard mit mir gesprochen hat. „Du musst dich endlich von ihm fernhalten.", kommt sie direkt zum Punkt. Ohne Umschweife. Ohne Mitleid. Nur das leichte Zittern ihrer Lippe widerspricht der Härte und zeugt deutlich, wie schwer auch ihr dieses Zusammentreffen fällt. Als ich nichts erwidere schnauft sie leicht auf. „Oh Gott, es ist so unwirklich. Ein Albtraum. Ich kann es noch immer nicht fassen. Ein Mann wie Richard... und dann sowas.", beginnt sie, „Schon damals im Sommer. Jedes Jahr aufs Neue war er, wie ausgewechselt, wenn die letzten Schulwochen begannen. Weißt du, dass er versucht hat, mir alles zu erklären? Du seiest sein Freund und ihr würdet euch nur in den Ferien intensiv sehen können. Mich sähe er ja ständig in der Schule. Genauso, wie die anderen. Auch Markes und Jaron haben es nie verstanden. Richard war ein ganz anderer Mensch in den Ferien. Er wollte nichts mehr mit uns zu tun haben. Er sprach nur darüber, wie sehr er sich freute endlich zurück ins Sommerhaus zu dürfen. Vor allem in den letzten Jahren. Er sprach von Camping. Baden und Abenteuern. Er war so verändert. Es ist so absurd", plappert sie schnell. Diese Veränderung müssten auch seine Eltern wahrgenommen haben, denn in diesen Jahren begann unser Albtraum. Rick wurde gezwungen den Kontakt zu mir zu reduzieren. Er wurde vermehrt in gesellschaftliche Feiern einbezogen und wohnte irgendwelchen wichtigen Treffen bei, bei denen auch Rahel zugegen war. Nun erinnere ich mich. Sie hat sich sehr verändert. Deswegen habe ich sie nicht sofort erkannt. Doch jetzt mit all der Fülle ihrer Mimik, ihrer Gestiken kommt die Erinnerung. Zu dieser Zeit wurde mir richtig deutlich, wie unterschiedlich die gesellschaftlichen Ebenen sind, auf denen wir uns bewegen. Rahel streicht sich eine Strähne von der Wange. Ihre Hand zittert. Ich sehe es trotz der Handschuhe, die sie trägt. „Ich hatte ihn schon öfter gefragt, ob er den Sommer nicht mit uns verbringen will, ob wir ihn besuchen dürfen. Er hat es mir verboten, weißt du? Er hat mir so einiges verboten in den letzten Jahren und immer warst du der Grund dafür. Das weiß ich nun." Diesmal ist es ein verächtliches Lachen, welches von ihren Lippen perlt. Für einen Moment wartet sie darauf, dass ich etwas erwidere, doch ich weiß nicht, was ich sagen soll. Was will sie auch von mir hören? Das es mir Leid tut? Will sie, dass ich die Schuld auf mich nehme? Ich habe Richard nie verboten glücklich zu werden. Mittlerweile greife ich den Becher Kaffee in meiner Hand so fest, dass der Inhalt schwappt. „Wie unzulänglich ich mich ständig gefühlt habe. Ich habe mich so angestrengt. Ich habe alles für ihn getan, doch er hat mich einfach nie so geliebt, wie ich es verdient hatte." Rahels Augen füllen sich mit Tränen. Eine findet ihren Weg über den üppig getuschten Wimpernrand, hinterlässt eine feuchte Verbindung und trägt ein wenig der schwarzen Farbe davon. Es ist ein Zwiespalt, den ihre Worte in mir auslösen Er ist gefüllt von einem Schauer des glücklichen Wohlempfindens, den die Gewissheit über Ricks fortwährende Zuneigung in mir auslöst, aber auch die brennende Schuld, weil es das Unglück eines anderen bedeutete. „Rahel, es ... Ich...Es tut..." Ich weiß nicht, was ich sagen soll und breche die Versuche ab. „Spar es dir. Ich weiß, dass du im Grunde daran keine Schuld trägst. Und du kannst nicht begreifen, was es für mich bedeutete Richard endlich nah zu sein. Er hatte mich endlich gesehen und dann... Es war schrecklich zu verstehen, dass er niemals dasselbe empfinden wird, wie ich." In dem besagten letzten Sommer habe ich gemerkt, wie sehr Rahel an Richard hin. Wir waren alle zu Richards Geburtstag eingeladen. Ich erinnere mich daran, dass sie ein hübsches Sommerkleid mit blauen Kornblumen trug. Ihre Haare waren heller und sie war schon damals stärker geschminkt als nötig. Sie hing von der ersten Sekunden an an Richards Arm. Es waren ihre Blicke. Ihre Körperhaltung und wie sie mit ihm sprach. Zuckersüß. Lieblich. Über jedem Irrtum erhaben. Doch am Abend kam er in mein Bett und nicht in ihres. „Damals habe ich es nicht verstanden. Aber nun... Lee hier. Lee da. Weißt du, wie oft er zu mir Dinge sagte wie: Lee hätte es verstanden. Lee hätte nicht so reagiert. Unentwegt hat er über dich gesprochen, als wärst du ein unantastbares Wesen. Für mich warst du ein Fantasieobjekt, an das niemand heran kommt." Die Wut in ihrem Gesicht mischt sich mit den Tränen, die heiß über ihre Wangen fließen. „Rahel..." Wieder unterbricht sie mich. „Weißt du, es ist schon schlimm genug mit anderen Frauen konkurrieren zu müssen, aber mit einem Mann..." Ihr entflieht ein seltsames, durch die Absurdität verursachtes Schniefen. „Als ich schwanger wurde, dachte ich, dass sich alles ändern wird, aber er trennte sich von mir. Er musste es nicht sagen, aber von da an, wusste ich, dass ich nie mehr von ihm bekommen werde... nur DNS." Die Trauer weicht mit einem Mal reiner Wut. Sie wischt sich eine letzte Träne davon, streicht mit dem Finger unter ihren Augen entlang. Unterbricht dabei die gräulich schwarze Spur auf ihren Wangen. „Ich will meine Tochter beschützen und ich werde alles dafür tun, das verspreche ich dir!", sagt sie und sieht mich an. Ihr Blick. Er versetzt mir einen tiefen Stoß. Direkt ins Herz. „Vor was willst du sie denn beschützen? Rick würde niemals etwas tun, was ihr schadet und ich eben so wenig", versuche ich ihr zu erklären, doch ihre Miene scheint sich nur noch weiter zu verfinstern. "Ich will, dass du dich von Richard und von Kaya fernhältst. Sonst werde ich dafür sorgen, dass Richard Kaya niemals wieder sieht. Ich will, dass er endlich diese lächerliche Wahnvorstellung aufgibt, dass es für euch eine Zukunft gibt. Richard hat bereits eine Familie. Eine Tochter. Eine wahrhaftige Zukunft. Du bist Vergangenheit." Die Deutlichkeit ihrer Worte geht mir durch Mark und Bein. Rahel hat Recht. All das, was passiert ist, basierte auf Erinnerungen. Glückliche und gute Erinnerungen, die nur wenig Platz für die Realität ließen. „Du bist derjenige, der das Ganze wieder in die richtigen Bahnen lenken kann. Tu, was für alle das Beste ist." Das Beste. Das Richtige. Rahel greift in ihre Tasche und zieht ein Foto heraus. Sie reicht es mir. „Das ist Zukunft. Zerstöre sie nicht." Ich habe ihr nichts entgegen zu setzen, sondern starre einfach nur auf das Motiv des Bildes. Richard und Kaya am Tag ihrer Geburt. Das winzige Bündel in den Händen des Mannes, den ich so unsagbar liebe. Auf seinen Lippen liegt ein Lächeln. Es ist tief und rein. Wunderschön. Als ich aufblicke, ist Rahel verschwunden. Ich betrete das Lokal mit einem Gefühl der Leere in der Brust. Rahels Worte hallen in meinem Kopf wieder. Ungeordnet und sich ständig wiederholend. Zukunft und Vergangenheit. Die Stelle, an die ich Bild aufbewahre, fühlt sich besonders schwer an. Eine junge Frau mit Hund kommt mir entgegen und dann sehe ich mich in dem geräumig wirkenden Raum um. Ich sehe Richard zu erst. Noch immer trägt er ein Hemd und eine anthrazitfarbene Anzughose. Er steht an der Bar und unterhält sich mit einem jungen Mann mit gebräunter Haut. Sie scheinen sich zu kennen. Rick lacht. Obwohl ich es nicht vollständig sehe, stelle ich mir vor, wie sich die kleine Narbe an seiner Unterlippe nach oben zieht und dabei strafft. Schuld und Glück erfassen mich. So wie jedes Mal, wenn ich an die Situation denke, die ihm diese Verletzung eingebracht hat. Das liebevolle Zuflüstern, während mehr und mehr Blut über sein Kinn rann. Auch damals hat Richard gelächelt. Er hatte schon immer ein ansteckendes und schönes Lachen. Der Barkeeper bemerkt mich, stupst Rick mit dem Ellenbogen an und deutet mit einem einfachen Blick auf mich. Ich setze mich wieder in Bewegung, sehe, wie mir mein Kindheitsfreund auf halben Weg entgegen kommt. Nun gilt sein Lächeln nur mir. „Entschuldige, dass du warten musstest", sage ich, kann nicht verhindern, dass ich noch einmal zu dem Mann hinter die Bar schaue. Er mustert mich unverhohlen mit wackelnder Augenbraue. Rick folgt meinem Blick, schmunzelt und der andere Kerl verschwindet, wie aufgefordert und ruckartig hinter mehreren Zapfhähnen. „Ein neugieriger Scherzkeks", gibt er erklärend von sich. Seine Hand streckt sich nach mir aus, berührt zunächst nur meine Schulter und dann meine Wange. Ich zucke leicht zurück, als er mich auf seine Lippen zieht. Der Kuss ist nur ein Hauch auf meinen Lippen, der prickelt und zärtlich liebkost. Ricks Freude über meine Anwesenheit ist so ehrlich und genauso rein. Sie erfüllt mich mit unsagbaren Glück. Ein weiterer Kuss. Diesmal erwidere ich ihn ohne zu zögern, giere sehnsüchtig danach ihn zu schmecken. Ich genieße jede Sekunde, die ich bei ihm sein kann und trotzdem beschleicht mich Wehmut. „Hi", sagt er sanft als unser Kuss endet. „Hi." „Du siehst müde aus..." Nun mustert mich auch Rick ausführlich. Doch im Gegensatz zu eben liegt in seinen Augen tiefe Sorge. Mein Kopf schüttelt sich beruhigend. Ich versuche versichernd zu lächeln, aber ich sehe deutlich, dass mich mein Kindheitsfreund durchschaut. Doch er bohrt nicht weiter nach, sondern führt mich zu einem Tisch. Eine schwarze Tasche und die zur Hose passende Anzugjacke hängen auf einem Stuhl. Ich ziehe mir die Jacke aus und setze mich auf die Bank. Mit dem Rücken zur Wand und Rick gegenüber. Unbewusst wandern meine Augen im Raum umher. Noch ist wenig los, aber ich kann mir gut vorstellen, wie voll es hier werden kann. Das Ambiente ist einladend. Dunkles Holz und Orangetöne. Sehr angenehm. Mein Blick haftet sich auf einen riesigen Berg Orangen unweit der Bar. Aus irgendeiner Ecke des Raums dringt leise Musik. „Ja, einen frisch gepressten O-Saft kannst du gern haben, aber auch alle anderen Sauereien, die man so mit Orangen machen kann. Cocktails meine ich, natürlich. Was kann ich euch bringen? Tequila Sunrise? Campari Orange. Sex on..." „Lass deine Bartwickler und bring mir ein Radler, okay?", stoppt Richard die Aufzählung und greift fast schützend nach meiner Hand. Etwas verdutzt sehe ich zuerst auf die liebevolle Wärme an meinen Fingern und dann zu dem jungen Barkeeper. Lächelnd und völlig unschuldig blickt er mir entgegen. Das helle Blaugrau seiner Augen kollidiert mit seiner braunen Haut. „Ja, Ja... Und bei dir?" Ich gucke ein klein wenig ratlos aus der Wäsche. „Oh...okay... einen O-Saft mit ein bisschen Sprudel..." „Kommt sofort." „Danke Duncan." Damit schwirrt der junge Mann ab. Ich sehe ihm nach. „Er hat ein ziemlich großes Mundwerk, aber eigentlich ist er ein ganz lieber Kerl." Daran habe ich keine Sekunde gezweifelt. Ricks Daumen streicht über meinen Handrücken. Ob sich so Normalität anfühlt? Erst als Richard meinen Namen sagt, sehe ich wieder zu ihm. Erneut wandern seine sorgenvollen Iriden über mein Gesicht. Bevor ich ihm ein weiteres Mal vorspielen kann, dass es mir gut geht, richtet er sich auf. Neben mir bleibt er steht, deutet mir an, dass ich zur Seite rutschen soll und setzt sich. So dicht, dass ich sein Bein an meinem spüre. Seine Hand in meinem Nacken und ich schließe die Augen. Wie von selbst kippt mein Kopf auf seine Schulter. Ein Kuss haucht sich gegen meine Schläfe und er drückt mich näher an sich heran. Rick riecht nach Freiheit. Er fragt mich nach Ewan und ich schmiege mich dichter in seine Umarmung. Ich antworte ihm ehrlich. Er bittet mich ein weiteres Mal eindringlich darum, ihn über alle Vorkommnisse zu unterrichten. Alle. Ich denke an die Mutter seiner Tochter. Ich antworte nicht. „Bitte, lass mich helfen..." Ich wüsste einfach nicht wie. In diesem Moment schien alles derartig verfahren, dass ich keine Möglichkeit sehe, wie er mir helfen kann. Im Gegenteil. Alles läuft darauf hinaus, Rick gehen zulassen. Alle wollen das. Der Fremde. Rahel. Ewan. So sehr der Gedanke daran auch mein Herz zerreißt. "Hey, wir kriegen das hin. Ich werde alles versuchen. Das verspreche ich dir." Richard zwingt mich ihn anzusehen. Seine Worte erwärmen mich von innen. Doch zu welchem Preis? Ich denke an das verschmitzte, süße Lächeln seiner kleinen Tochter. Die zarten Löckchen, die sich um ihren Kopf kringeln. Das glückliche Lächeln auf seinen Lippen. Der verträumte Blick auf dem Bild aus dem Krankenhaus. „Wie soll das funktionieren? Wir dürfen uns nicht sehen. Wir dürften gar nicht hier sein. Selbst, wenn wir das Jahr irgendwie rum bekommen, dann..." „Hör mir zu, Eleen. Meine Anwälte prüfen die Möglichkeit zwecks Aufhebung des Kontaktverbotes. Ich werde Widerspruch einlegen und dann..." Für mich scheint alles so unglaublich aussichtslos. Wenn ich ihn nicht stoppe, wird er seine Tochter nie wiedersehen. „Nein, Richard, es ist in meinen Bewährungsauflagen verankert. Du kannst da überhaupt nichts tun. Kein Widerspruch. Kein was auch immer." „Nein. Nein. Hör zu, es gibt Präzedenzfälle und zwar..." „Hör auf,...", schneide ich ihm das Wort ab und vermisse den Druck, der mit diesen Worten einhergehen soll. Ich klinge mutlos. Ich fühle mich leer. Rick schweigt. Er glaubt, er berichtet mir etwas Gutes. „Eleen, lass mich doch erkl..." Ich unterbreche ihn ein weiteres Mal, indem ich meinen Blick vollends von ihm abwende. „Nein, verstehst du denn nicht. Du vergisst, dass sie immer den Grund wissen wollen und dass sie Fragen stellen. Sie werden herausbekommen, dass wir uns sehen. Schlimmer noch, sie werden vielleicht den Vorfall hinterfragen." Den letzten Rest flüstere ich nur noch. Trotz des Bewusstseins der Richtigkeit meiner Worte, schüttelt er nur verneinend seinen Kopf. „Ich darf und kann das nicht mehr machen. Mit jeder Sekunde, in der wir hier zusammen sind, schöpfe ich Hoffnung, die gar nicht da ist." „Sag das nicht!" Richards Stimme schneidet Glas. „Nein, hör du auf so zu tun, als hätte es für uns jemals eine reale Chance gegeben." Erst jetzt sehe ich auf. Rahels Worte liegen, wie ein undurchsichtiger Schatten über mir. Sie versperren mir jegliche Sicht. Ich fühle mich von Dunkelheit umhüllt. Wenn ich Rick jetzt nicht stoppe, dann wird er seine Tochter vielleicht nicht wiedersehen. Ich werde dafür sorgen, dass sich Richard gar nicht erst entscheiden muss. Unwillkürlich denke ich auch an die Worte des ehemaligen Detektivs. Auch er glaubt nicht daran, dass sich Richard jemals für mich entscheiden würde, wenn es drauf ankommt. Und ich muss zugeben, dass die Angst, dass er sich gegen mich entscheidet, ebenso groß ist, wie die Angst, dass er es nicht tut. Ich will es nicht von ihm verlangen, denn im Grunde gibt es nur einen einzigen Weg und der führt von mir fort. Wir haben in dieser verhängnisvollen Nacht eine Entscheidung getroffen und auch, wenn uns damals die Reichweite nicht vollkommen klar war, so müssen wir jetzt mit jeglicher Konsequenz leben. Auch, wenn es heißt, dass wir uns nicht wiedersehen werden. Der Mensch, den ich am meisten liebe, steht seit dieser Nacht hinter einer unüberwindbaren Mauer. Im Gefängnis war sie aus Stein und jetzt aus vernunftgeschmiedetem Stahl, der mit jeder vergangenen Minute immer stärker wird. „Eleen, ich liebe dich...ich will dich nicht noch mal verlieren." Seine Worte machen es nur noch schwerer für mich. „Ich bin nicht mehr derselbe, wie früher Rick. Du auch nicht und das, was du denkst zu lieben ist... Es ist nur eine Erinnerung, die du liebst", sage ich und klinge dabei ungewöhnlich gefestigt. Aber das bin ich nicht. Im Gegenteil. All die Jahre getrennt sein ändert nichts. Denn ich habe das Gefühl, Richard mehr zu lieben als jemals zuvor. Erst jetzt erkenne ich das Lied, welches leise im Hintergrund läuft. Es ist dasselbe, welches sich schon seit ein paar Tagen unentwegt durch meine Gehörgänge bewegt. Herz über Kopf. ‚Und immer, wenn es Zeit wird zu gehen', verpass ich den Moment und bleibe stehn'. Das Herz sagt: Bleib! Der Kopf schreit: Geh! ' „Was redest du da?" Richards Miene ändert sich. Sie spiegelt deutlich die Angst wieder, weil er zu verstehen beginnt, was ich ihm sagen will. Es muss enden. Hier und jetzt. Mein Kopf schreit: Geh! Mein Herz brennt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)