Behind the Wall von Karo_del_Green (Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft) ================================================================================ Kapitel 26: Nie. Niemals. Immer ------------------------------- Kapitel 26 Nie. Niemals. Immer Ich schaue zu dem Stapel, der fast unschuldig wirkend neben den Telefonlisten liegen, die Moore mitgebracht hat und mein Herz hüpft, weil ich ganz genau um ihre Brisanz weiß. Es folgt ein elektrisierendes Kitzeln, welches sich sowohl unangenehm wähnt als auch im selben Augenblick anregend ist. Es beginnt auf meinen Unterarmen und arbeitet sich zu meinen Händen vor. Aber auch in die entgegengesetzte Richtung hinauf zu meinen Schultern. Wie tausende kleine Wellen. Intensive Impulse voller rauschender Regung. Mit jedem Zentimeter, den sie über meine Glieder streichen, wird das Gefühl stärker. Fast brennend. Ich stoße mich von der Arbeitsplatte ab und bleibe beim Tisch stehen. Statt nach den Briefen, greife ich die benutzten Tassen und stelle sie in die Spüle. Moores Becher ist unberührt, meiner zur Hälfte leer. Erneut huscht mein Blick über den Stapel Papier, so als gäbe es eine unsichtbare Anziehungskraft, die einfach nicht zulässt, dass es unbeachtet bleibt. Auch mein Herzschlag wird von Sekunde zu Sekunde lauter und dröhnt durch meinen Körper wie Donner. Es ist ein deutliches Zeichen. Das Geräusch ist so laut, dass es mich einfach nicht zur Ruhe kommen lässt und sich mit den unstetigen Gedanken vereint, die durch meinen Kopf schwirren. Gleichwohl fühlt es sich an, wie ein Vakuum, abgeschlossen und dicht, aus dem die Fragen einfach nicht entweichen können. Es schürt die Frustrationen, denn so finde ich keinerlei Antworten und keine Klarheit. Mache ich es richtig, wenn ich Richard ausschließe und mich zurückziehe? Ist es dafür nicht längst zu spät? Finde ich die Antworten nicht eher bei ihm? Doch wer will den Keil zwischen mir und Rick? Wer profitiert davon, dass ich mir vor Unsicherheit das Gehirn zermartere? Wer will mich bestrafen? Richard hätte nichts davon. Genauso, wie der alte Mann. Ich bin mir zwar nicht sicher, wie weit ich Moore wirklich trauen kann, aber er hat keine Gründe, diese Dinge zu tun, denn er weiß bereits mehr als jeder andere und ihm erwächst daraus keinerlei Vorteil. Mit einem schweren Seufzen falle ich auf den Stuhl zurück, auf dem zuvor der Detective gesessen hat. Mein Kopf kippt seitlich gegen die Wand und ich schließe die Augen. Ich weiß nicht, wie lange ich dasitze und dem Rauschen meiner Gedanken lausche. Augenscheinlich so lange, bis das kontinuierliche Rieseln und Überschlagen jener zu einzelnen Wörtern und Bildern werden. Sie formen sich zu ganzen Gesprächsfetzen aus der Vergangenheit, Sequenzen und Segmente aus dem Hier und Jetzt, die mich ungewollt begleiten. Meistens kommen sie unsortiert und in keinem Zusammenhang und füllen mein Herz und meinen Verstand mit mannigfaltigem Gefühl. Die letzten Wochen lasten schwer auf mir, trotz und wegen Richard. Ihn wiederzusehen ist reines Glück und unendliches Chaos. Ich hatte es mir ausgemalt, immer dann, wenn die Wände im Gefängnis näher zukommen schienen, wenn mir langsam die Luft zum Atmen fehlte, weil sich das Gefühl der Schwere auf meiner Brust nicht mehr bändigen ließ. Ich habe mir vorgestellt, wie ich mich in seine Armen bette und die Welt um uns herum verschwimmt, sodass jeder Gräuel zur Humoreske zerfällt. Der Gedanken an Richard hatte mich befreit. Er hielt mich am Leben. Die ausgedruckten Telefonlisten liegen direkt vor mir und ich ziehe sie zu mir heran, ohne mich vorzubeugen. Mein Zeigefinger malt ein paar Kreise auf das raue Papier. Erst kleine, die immer größer werden bis ich zwei Finger nutzen muss, damit das Blatt nicht verrutscht. Von weitem wandern meine Augen über die Zahlenreihen, stoppen kurz bei den bekannten Ziffern von Richards Telefonnummer und das nicht nur, weil sie orange markiert sind. Sie ziehen mich förmlich an. Jemand hat Richards Nummer gewählt, von der Telefonzelle vor meiner Wohnung aus. Mehrmals. Das ist der Fakt. Die Gespräche waren nie sehr lange, das zeigen die dahinter abgebildeten Zeiten. Ein paar Mal dauerten sie nur wenige Sekunden lang, was daraufhin deutet, dass Richard den Anruf nach dieser Zeit beendete. Dreimal wurde die Nummer gewählt, aber es kam kein Gespräch zustande. Ob es die Tage waren, an denen er hier gewesen ist? Ich bin mir nicht sicher. Die letzten Wochen verschwimmen in meinem Kopf zu einer gräulichen Masse. Es ist so viel passiert. So viel, was ich nicht verstehe. Wieder wandern meine Augen zu dem Stapel Briefe. Diesmal greife ich nach ihnen. Doch ich öffne sie nicht sofort, sondern führe sie dichter an meine Nase heran. Es ist irrwitzig, denn nach all den Jahren haftet ihnen einzig der Geruch der Gegenwart an. Sie riechen nach Moores Jackeninnentasche, die mit Salbeihustenbonbons gefüllt war. Ich vernehme den süßlichen Hauch, der mich an die Krankentage meiner Kindheit erinnert. Den Salbeitee habe ich nie gemocht, aber die Bonbons sehr. Ich nehme einen weiteren Zug und lächele. Die Vergangenheit. Sie gibt mir so viel Freude und gleichzeitig Leid. Im Moment überwiegt das eine und ich kann es dennoch nicht loslassen. Die Briefe. Ich öffne einen nach dem anderen, entfalte sie mit dem höchsten Sinn für Kostbarkeit. Es sind nur ein paar der Antworten, der Briefe, die wir damals für einander geschrieben haben. Nur Ausschnitte und Phasen. Im Grunde sind sie Ausdruck absoluter Unschuld. Kindliche Retrospektiven warmer, unvergessener Sommer. Und doch nicht mehr als belanglose Erinnerungen für jemandem, der sie ohne Wissen liest. Aber für mich sind sie Leben. Für mich sind sie Liebe. Jeder einzelne. Als ich beim letzten Brief angelange, stocke ich. Er ist verschlossen und es steht nur mein Name darauf. Keine Adresse. Keine Briefmarke. Kein Absender. Es ist nicht Richards Schrift, mit der mein Name notiert ist, so viel kann ich sagen, denn die einzelnen Buchstaben sind schwungvoll und offen. Nicht krakelig und matschig. Richard war manchmal so aufgeregt beim Schreiben, dass ich oft mehrere Anläufe brauchte, bis ich alles verstand, weil er Endungen vergaß oder ganze Wörter. Einige der Briefe hatten so viele durchgestrichene Passagen, dass sie wirkten, wie ein schlecht gemachter Spickzettel. Viele zeigen die runden Abdrücke seiner Limonadengläser, die er nebenbei trank, weil er zwischendurch pausierte. Er konnte kaum stillsitzen. Er war immer in Bewegung und voller Energie. Das Lächeln auf meinen Lippen erstirbt, als ich meinen Blick zurück auf den geschlossenen Briefumschlag wende. Dieser Umschlag wirkt weniger abgewetzt und alt als die anderen. Ich frage mich, warum Moore ihn nicht geöffnet hat. Vielleicht weil er es nicht musste? Weil er weiß, was darin enthalten ist? Es ist die Schrift meiner Mutter, das erkenne ich nach dem zweiten Blick. Ich reiße ihn an einer der kurzen Seiten auf und ziehe den Inhalt hervor. Mehrere einfache, gefaltete Blätter und doch fühlen sie sich in meiner Hand seltsam schwer an. Es sind mehrere Briefe. Vier an der Zahl. Sie sind aus dem gleichen Block, wie die anderen auch und dieser Umstand lässt mein Herz erneut schwingen. Auch diese Briefe sind von Richard. Meine Hände zittern. Als ich zu lesen beginne, halte ich den Atem an. Ich spüre seine Liebe in jedem verdammt Wort. In jeder Zeile. Selbst in den I-Punkten. Seine flehenden Entschuldigungen öffnen Risse in meinem Herzen, die seit damals nicht verheilt sind und nun wieder bluten. Der Brief erreichte mich nicht, weil ich zu diesem Zeitpunkt schon im Gefängnis war. Deswegen hatte ihn meine Mutter. In den letzten Zeilen bittet mich Richard darum, stark zu sein. Er versichert mir, dass es niemals jemand anderen für ihn geben wird als mich. Damals hätte ich ihm unzweifelhaft geglaubt, heute weiß ich, wie unrealistisch es ist und wie viel naive Traumvorstellung daraus spricht. Menschen verändern sich und mit ihnen ihre Gefühle, ob wir es wollen oder nicht. Wir konnten nicht weiter zusammen wachsen und das hat unsere Beziehung maßgeblich beeinflusst. Rick gab den Brief meiner Mutter, doch sie hat ihn nie abgeschickt und das wahrscheinlich aus gutem Grund. Sie war mit den Dingen, die passiert sind, mit den Entscheidungen, die ich getroffen habe, niemals einverstanden gewesen, aber sie hat nie aufgehört mich beschützen zu wollen. Meine Familie war noch nie gut in Worten. Ich habe nie erfahren, wieso mein Vater nicht bei uns geblieben ist und ich habe nie danach gefragt. Auch Erik und Ewan haben es nicht getan, soweit ich mich erinnern kann. Dennoch bin ich mir nicht sicher, ob sie nicht mehr wissen, denn auch wir haben uns niemals darüber unterhalten. Ich weiß nicht, wie oft ich den Brief lese, aber als ich beim Zähneputzen noch immer Zeile für Zeile vor mich her denke kann, bin ich mir sicher, dass ich es übertrieben habe. Er lässt mich nicht los. Auch nicht, als ich im Dunkel auf meinem Bett liege. Ich kann nicht schlafen. Nicht mal die Augen kriege ich zu, weil jedes Mal wieder die Worte des Briefes vor mir auftauchen und sich mit den Erinnerungen wunderbarer Sommer paaren. Aber auch mit diesem einen, der alles veränderte. Es ist bittersüß. Salzig und sauer. Alles auf einmal. In meiner Brust wird es schwer und jeder Atemzug verbreitet den aufkommenden Schmerz der Sehnsucht noch etwas mehr. Ricks Worte, die so voller naiver Hoffnung und verzweifelter Dummheit waren, sind mir ganz besonders nahe gegangen und ich kann noch immer nicht fassen, dass er zu meiner Mutter gefahren ist und ihr den Brief gebracht hat. Was hat er sich dabei gedacht? Was hat er erwartet, was sie tut? Eine Welle der Wut überrollt mich, die vor allem die Dummheit dieser Aktion aufgreift und mit einem geräuschvollen Grollen setze ich mich auf, während mein Herz gegen seinen umgebenden Panzer kämpft. Mein Inneres ist ein Schlachtfeld, was keine Sieger kennt und dennoch nicht den Mut aufbringt, zu scheitern. Ich versuche, mir den aufkommenden Stimmungsumschwung aus dem Gesicht zu reiben. Rubbele einmal heftig, dann zwei weitere Male ermattet. Nichts davon bringt mir Erleichterung. Nichts davon klärt die Fragen, die sich in meinen Kopf sammeln und schreiend ausgesprochen werden wollen. Es ist kein Wunder, dass Moore niemals das Interesse daran verloren hat, eine Verbindung zu Richard zu finden. Sie war längst da. Er selbst hat sie dem Detective quasi per Hausexpress geliefert. „Dieser verdammte Dummkopf“, flüstere ich in die Dunkelheit hinein und schaffe es nicht, es ernst klingen zu lassen. Richard hat mit seinen Gefühlen nie hinter dem Berg gehalten. Er war immer offen, wie ein Buch, was letztendlich bei seinen Eltern zu Unmut geführt hat, aber mir stets diese bestimme Sicherheit gab. Gott, ich liebe ihn auch für seine naive Dummheit und gleichzeitig möchte ihn dafür verfluchen. Nur schaffe ich es nicht. Ich bleibe noch einen Moment im Bett sitzen, betrachte meine unruhigen Füße, die ohne mein Zutun hin und her wanken, wie Bojen im Wind. Ich bin mir sicher, ich brauche mehr als meine eigenen Gedanken, um von der Stelle zukommen. Also schwinge ich meine Beine aus dem Bett, greife mir die am Boden liegenden Klamotten, sammele die Briefe und Liste ein und bin nach nur zehn Minuten aus der Wohnung verschwunden. Es ist kalt, doch ich habe Glück und kriege sofort den richtigen Bus. Gerade als ich Richards Name am Klingelfeld suche, öffnet sich die Tür und ich weiche automatisch zurück. Der Zugang zur Eingangstür ist eng und bietet damit wenig Platz zum Ausweichen. Ich spüre die Wand direkt hinter mir. „Sorry“, entflieht der abgewandten Gestalt, als sie sich an mir vorbeidrängt, fast zwängt. Er streift meine Schulter. Ich sehe ihm nach und merke, wie sich ein unbehagliches Gefühl in mir aufbaut. Sein Gesicht konnte ich nicht erkennen. Doch das ist es nicht, was diese Beklemmung in mir auslöste. Sondern der Geruch von kaltem Zigarettenrauch, der ihm anhaftete. Mittlerweile reagiert mein gesamter Körper darauf, wie auf ein rotes Warnsignal. Bevor die Tür vollends zuschlägt, halte ich sie offen. Ein letztes Mal sehe ich die Straße entlang, doch es ist niemand mehr zu sehen. Die Stufen nach oben nehme ich schnell und ignoriere die Gänsehaut, die sich mit jedem Schritt intensiver auf meinem Körper ausbreitet. Mit ausgestreckter Hand bleibe ich vor der Klingel stehen. Auf einem Mal höre ich meinen Herzschlag derartig laut, dass es mir Angst einjagt. Er dröhnt. Er pulsiert durch meinen gesamten Leib. Ich ziehe meine Hand zurück und bin erstaunt darüber, sie zittern zusehen. Wieso bin ich hier? Fragen. Antworten. Ich bin mir nicht mehr sicher, ob es eine gute Idee war, herzukommen. Aus einer benachbarten Klingelanlage dringt ein gedämpftes Summen. Die Hauseingangstür öffnet sich und ich vernehme Schritte. Unwillkürlich greife ich mir an die Jacke, lege meine Hand über die Briefe in der Innentasche und fühle mich plötzlich bestätigt. Ich kann es nicht länger vor mich herschieben. Ich muss mit ihm reden. Statt zu klingeln, klopfe ich. Es ist zu zaghaft. Rick konnte es nicht hören. Ich klopfe erneut, diesmal fester und lauter. Aus Richards Wohnung ist nichts zu hören. Und auch der Flur um mich herum wirkt schlagartig extrem still. Das leise Surren ist verschwunden und die Schritte sind nicht nähergekommen. Gerade als ich zögerlich zurück zur Treppe blicke, öffnet Rick die Tür. Ich sehe zuerst seine nackten Füße und arbeite mich nur langsam nach oben. Er trägt nicht mehr, als eine einfache graue Schlafhose und hält eine mit bläulichem Schaum bedeckte Zahnbürste in der Hand. In seinen Mundwinkeln haben sich Spuren der Minzpaste gesammelt. Er braucht diesen gewissen Augenblick, um zu erfassen, wer vor ihm steht, denn mit mir hat er als allerletztes gerechnet. „Lee?“ Sofort geht die Tür weiter auf. „Sag mir, dass du nichts damit zu tun hast!“, platzt es ohne Vorwarnung aus mir heraus und Richard hält in seiner Bewegung innen. Die Geste, die die Berührung suchte, stoppt, ehe sie finden konnte. „Wie bitte? Womit? Wovon sprichst du?“, stammelt er. Ich erkenne nichts als Unverständnis und Überraschung in seinem Blick. Verwirrung. „Ich... bitte, komm erstmal rein, ja?“ Er tritt zur Seite und öffnet die Tür komplett. Ich zögere. Im Grunde weiß ich gar nicht, was ich ihm sagen will. Ich habe so vielen Fragen und so viele Gefühle in mir, dass mir fast der Mut fehlt, sie zu stellen, sei es nur in meinem Kopf. Es fällt mir schwer, preiszugeben, was gerade in mir vorgeht. Was, wenn das, was er antwortet, das ist, wovor ich mich am meisten fürchte? Ich rühre mich erst als Rick seinen Arm erneut nach mir ausstreckt. Erst greift er nach meinem Jackenärmel, dann nach meiner Hand. Seine Finger sind kühl und in den Zwischenräumen leicht feucht. Ich lasse mich in seine Wohnung ziehen, höre, wie er die Tür hinter mir schließt und dicht hinter mir stehen bleibt. Ich drehe mich nicht zu ihm, sondern schließe meine Augen. Ich spüre die Wärme seines Körpers, die mich beruhigt und erdet. Er riecht nach süßem Apfel, so, als hätte er versehentlich das Shampoo seiner Tochter benutzt. Bevor Richard seine Zahnbürste hebt und zum Badezimmer deutet, streichelt er mir durchs Haar. Er leckt sich Reste der Paste aus den Mundwinkeln und ich höre seine baren Füße auf dem glatten Parkett, als er den Flur entlang geht. Noch immer still hadernd, ob es die richtige Entscheidung gewesen ist, herzukommen, ziehe ich mir die Jacke von den Schultern und hänge sie an die Kommode neben eine von Kayas. Statt mich ins Wohnzimmer zu setzen, gehe ich in die Küche. Es fühlt sich eher an, wie neutraler Boden. In Richards Fall jedoch ein chaotischer Boden. Eine Ordnung sucht man hier vergebens. Das Müsli steht neben der Dosensuppe. Mehl beim Apfelsaft. Neben der Spüle gruppieren sich ein paar leere Bierflaschen und eine halbvolle Schale mit Nüssen und anderen Knabbersnackresten. Ob Richard Besuch hatte? Ehe ich mir darüber weitere Gedanken machen kann, geht Ricks Handy los, welches auf der Arbeitsfläche abgelegt ist. Das vibrierende Geräusch auf dem festen Untergrund ist laut und fremd. Kein Ton erklingt. Das Display lässt Jarons Namen aufleuchten und dessen Nummer. Die Gänsehaut auf meinen Armen schlägt Wellen, die in meiner Brust bersten und ein flaues Gefühl hinterlassen. Unwillkürlich strecke ich meine Hand nach dem Telefon aus und stoppe, als meine Fingerspitze das kühle Metallgehäuse berührt. Dennoch spüre ich das Kitzeln so deutlich, als hätte ich einen elektrischen Schlag bekommen. Es schaltet sich wieder aus, bevor ich etwas Dummes tun kann, doch auch diese Nummer hat sich in mein Gehirn gebrannt. Noch dazu bin ich mir sicher, dass auch sie in der Anrufliste steht. Jaron, der Name von Richards Freund, hinterlässt stets einen bitteren Geschmack in meinem Mund. Jedes Mal, auch wenn ich ihn nur in Gedanken benenne. Es ist mehr als das Unvermögen, ihm positive Gefühle beizumessen. Es geht tiefer, aber ich bin nicht in der Lage, es genau bestimmen. Er hatte immer diesen gewissen Blick, der mir schon damals eine Gänsehaut bescherte. Ich höre das Öffnen und Schließen der Badezimmertür und löse mich aus der Vergangenheit, vernehme das Tapsen von baren Füßen auf holzigem Grund. Rick braucht einen Moment, bis er mich gefunden hat. Richard betritt die Küche und bleibt neben mir stehen. Er neigt seinen Kopf tiefer, sodass seine Lippen beinahe meine Schulter berühren. Er sucht meine Nähe. Es ist eine willkommen heißende Geste und mein Herz saugt sie förmlich auf, sammelt jeden winzigen Tropfen für die Zeit, die hoffentlich niemals kommt. „Du hattest Besuch“, stelle ich fest. „Hm?“, erwidert er irritiert und hält in seiner Bewegung inne. Ich deute auf die Flaschen und das benutzte Geschirr. „Oh. Ja, Jaron war hier.“ Rick löst sich von mir und lehnt sich an den Kühlschrank. Die Ferse seines nackten Fußes tippt ein paar Mal gegen die Front. „Nach deinem Anruf brauchte ich etwas Zerstreuung und wollte mit jemanden reden.“ „Über uns?“, frage ich mit wachsender Sorge und schwelender Wut auf mich selbst. Ich bin so dämlich. Was mache ich hier? Was, wenn Jaron noch hier gewesen wäre, als ich ankam? Was, wenn er mich erkannt hätte? Ich führe die Gedanken nicht weiter aus, sondern versuche mich darauf zu konzentrieren, meinen Herzschlag wieder unter Kontrolle zu bringen. Wieder war es nichts als Glück, was mich davor bewahrte, erneut einen Schritt zurück ins Gefängnis zu machen. Rick scheint meine aufkommende Besorgnis zu bemerken, denn er packt mich an beiden Schultern und zwingt mich damit, ihn anzusehen. „Nein! Lee, ich würde doch niemals...“, äußert er schnell. Er schüttelt seinen Kopf. Seine Hände wandern zu meinen Wangen und er sieht mich eindringlich an. Ich kann nicht wegsehen und versinke in den warmen braunen Augen des Mannes, der mir auch nach all den Jahren noch so viel bedeutet. Ich möchte ihm alles glauben. Ich will nicht an ihm zweifeln. Ich will es einfach nicht. „Lee, ich würde niemals etwas so Dummes tun! Jaron weiß nichts von uns. Ich wollte nur nicht allein sein, das ist alles. Ich wollte etwas Ablenkung. Ein Bier. Einen Freund“, gesteht er mir, während seinen Daumen synchron über meine Wangen streicheln. Einen Freund. Es ist sein gutes Recht. Unser letztes Telefonat hat nicht nur ihn aufgewühlt. Ich kann es verstehen. Dennoch behagt es mir nicht, dass dieser Freund ausgerecht Jaron muss. Ich denke an das Gruppenfoto von Richards Schulfreund und erinnere mich an die ersten Male, in denen wir aufeinander getroffen sind. Im Sommer. Am See. Immer öfter mischt sich ein grauer Nebel in die Schönheit der Erinnerungen und manchmal ist er so prägnant, dass sie fast verblasst. Es war nie einfach. Niemals leicht. Nur dann, wenn ich mit Richard allein war. Doch wir können nicht allein existieren. Nicht mehr. Ausgeschlossen. Erst als das Streicheln seiner Daumen ungleichmäßig wird, löst sich meine Starre und ich drehe mich aus der warmen Berührung. „Er mochte mich nie besonders. Keiner von deinen Freunden", äußere ich. „Das lag nie an dir, das weißt du?“ „Ist das so?“ Ich bezweifele es. Jaron war nicht der Einzige, der mir keine Sympathien entgegenbrachte. Ich denke sofort an Rahel. Auch ihre Worte werde ich niemals vergessen und noch immer spüre ich den Schmerz, die sie verursachen. „Jaron war noch nie sehr umgänglich. Glaub mir, wenn ich dir sage, dass ich ihn mehr als oft erwürgen und im See versenken wollte. Er ist stur und lässt nicht locker, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hat. Das macht mich regelmäßig wahnsinnig", erklärt Rick fast schon entschuldigend, „Aber genau das macht unsere Freundschaft auch stark. Ich vertraue ihm. Er hat immer für mich gekämpft und war für mich da.“ Ich weiß, was er meint. Immer dann, wenn ich auf Richards Freunde getroffen bin, hat es sich wie Kampf angefühlt. Ich musste mich beweisen, musste zeigen, dass ich es wert bin, ohne, dass sie mir diesen Wert definierten. Es gab nie einen gemeinsamen Nenner. Wir sprachen eine vollkommen andere Sprache und seine Freunde hatten keinerlei Interesse daran, mich verstehen zu wollen. Sie verstanden auch Richard in diesen Punkt nicht. Er versuchte, mich zu integrieren, also machten sie gute Miene zum bösen Spiel. Doch die argwöhnischen Blicke, weil sie genau wussten, dass ich nicht zu ihnen gehöre, dass ich nicht so bin, wie sie es waren, trugen wenig dazu bei, mit ihnen warm zu werden. Die Tatsache, dass mir Rick jegliche Aufmerksamkeit schenkte, machte es nur noch unangenehmer. Weshalb sich Rahel abweisend verhielt, war mir damals bereits klargewesen. Sie hat es gespürt. Sie hat es irgendwie gewusst. Aber weshalb auch Ricks bester Freund so gehandelt hat, ist mir bis heute ein Rätsel geblieben. Gut, ich war keines dieser privilegierten, reichen Kinder mit riesigen Sommerhäusern und eigenen Swimmingpools. Damals kam es mir abstrakt vor, dass man mich deshalb meiden könnte oder sogar abwertete. Wir waren doch Kinder. Einfach nur Kinder. Ich weiche seinem Blick aus, schaue stattdessen auf den kleinen Esstisch, der übersäht ist mit angetrockneten Flecken verschiedenster Farbennuancen und vereinzelter Holzklötze. Ein Spielzeugpony mit glitzernder Mähe. In der anschließenden Ecke steht der Hochstuhl für Kaya. „Lee...“. Mein Name flieht über seine Lippen. Mein ganzer Körper bebt. Dann spüre ich ihn an meinem Rücken und wie sich seine Arme fester um mich schließen. Seine Wange schmiegt sich an meine. Ich genieße die berauschende Wärme, die sich überall an und in mir ausbreitet. „Jaron und mich trennen auch nur drei Monate, weißt du das?“ Die Finger seiner linken Hand legen sich auf meine. Sanft streicht er über meine Haut, berührt Glied um Glied und verschränkt unsere Hände miteinander. Ich schüttele nur sachte den Kopf. „Sein Vater verließ seine Mutter noch bevor er geboren wurde und er hat ihn nie kennengelernt. Ein bisschen, wie bei dir, was meines Erachtens wesentlich besser ist als die Konstellation, die ich hatte", witzelt er leblos. Keinem von uns war eine liebevolle Vaterfigur vergönnt. Es ernüchtert mich und so löse ich mich aus Ricks Umarmung und drehe mich zu ihm um. Rick wird erst jetzt klar, wie pietätlos sein Kommentar war. „Entschuldige, ich wollte nicht... Ich bin im Moment nicht sehr gut darin, die richtigen Worte zu finden“. gesteht er seufzend. Die Anspannung in seinen Schultern festigt sich erneut. Er streicht sich mehrere Male über den Nacken, ehe er an mir vorbei zum Kühlschrank geht und ein Bier herausholt. Auch mir reicht er eins und ich lehne kopfschüttelnd ab. Richard nimmt einen Schluck und leckt sich über die Lippen. Ich sehe einen Tropfen Kondenswasser, der sich um den Bodenring der Flasche bewegt. Er ist noch klein und nicht in der Lage, abzuperlen. „Jarons Mutter war Jahre lange die Chefsekretärin meines Vaters.“, fährt er fort. „Seine Sekretärin", wiederhole ich leise und versuche mich daran zu erinnern, ob ich sie jemals gesehen habe. Sicher war sie des Öfteren im Paddock Anwesen zugegen, aber ich habe nur ein verschwommenes Bild einer blonden Frau mit roten Lippen im Kopf. Keine Ahnung, ob sie es gewesen könnte oder ob es die Erinnerung eines klischeehaften Abbilds der Figur eines Films ist. Als ich meine Grübelei beende und aufsehe, ertappe ich Richard dabei, wie er mich besonnen anlächelt. Ich möchte meine Hand ausstrecken und einen Finger in seine Wange drücken. Ich will ihn kichern hören und sein Lächeln auf meinen Lippen schmecken. Alles in mir schreit danach. Doch ich schaue ihn einfach nur an. „Wie man so schön sagt, sind ja Sekretärinnen sowas, wie die zweiten Ehefrauen... Seine Augenbraue zucke amüsiert nach oben und er macht einen Schritt auf mich zu. Ich folge seiner Bewegung und frage mich, wie viel Wahrheit in dieser Aussage steckt. Richard wendet seinen Blick ab und spielt mit einem der Kronkorken, die neben der Spüle abgelegt sind. Er lässt seinen Finger in dem gummierten Inneren kreisen und verursacht damit ein kratzendes Geräusch auf der leicht rauen Oberfläche der Arbeitsplatte. „Hast du eine Sekretärin?“, frage ich daraufhin, ohne meine offensichtliche Intension zu verstecken. Rick sieht überrascht auf. „Ja, habe ich, aber keine, die nur für mich zuständig ist“, erklärt er schmunzelnd und kommt auf mich zu. Er stellt die Flasche zur Seite und bleibt dicht vor mir stehen. „Was ich aber eigentlich erzählen will ist, dass deswegen auch Jaron oft bei uns war. Wir hatten ja das gleiche Alter. Wir konnten uns miteinander beschäftigen. Wir sind quasi zusammen aufgewachsen, wie Brüder", fährt er mit der Lebensgeschichte seines besten Freundes fort, „Doch dann kamst du. Vielleicht war er deswegen so abweisend zu dir, weil er merkte, dass du mir wesentlich mehr gibst, als er es je könnte. Nennt man Eifersucht, oder?“ Ricks Hand streichelt sich liebevoll durch meine Haare und er schenkt mir dieses einzigartige Lächeln, welches mit jeder Emotion spielt. Er findet es selbst absurd, dass Jaron so empfindet und hofft gleichzeitig, dass mich dieser Umstand beruhigt. Tut es nicht. Er muss mir nicht erklären, wieso Jaron sein Freund ist. Er muss sich nicht rechtfertigen, wieso er ihm vertraut oder erklären, wieso der andere Mann Antipathien gegen mich hegt. Rick darf fühlen, was er fühle will. Jaron darf genau das auch. Ich nehme es hin, ohne es verstehen zu müssen, denn ich habe kein Recht, ihm eine Freundschaft abzusprechen und im Gegensatz zu manch anderen würde ich das auch niemals versuchen. Ich schließe meine Augen und genieße die Berührungen, die er mir zu kommen lässt und die zärtlich auf meiner Wange verweilen. Jedes Mal mit dem Wissen, dass es das letzte Mal sein kann und immer mit dem Wunsch es nie wieder missen zu müssen. „Ich habe ihm nie einen Grund gegeben, gegen mich kämpfen zu müssen. Brüder sollten nicht eifersüchtig sein“, murmele ich und entziehe mich nun doch seiner Streicheleien. Rick lehnt sich zurück an den Küchentresen, greift sich erneut die Flasche Bier und sieht dabei zu, wie ich eines der abgewaschenen Gläser aus dem Abtropfgestell der Spüle nehme und es mit Wasser fülle. Ich führe das Glas zu meinen Lippen, doch ich trinke nicht, sondern fühle lediglich die kalte Nässe an meiner Lippe. „Gibt es etwas, was du mir nicht erzählst?“, frage ich mit Bedacht und behalte das Glas in der Hand. Ich bin mir selbst nicht wirklich sicher, wieso ich es frage und warum ich es in diesem Moment frage. Doch da ist dieser unangenehme Kitzel in mir, welcher zu kratzen beginnt, welcher immer mehr juckt und wächst. Ich muss es wissen. Ich muss dahinter kommen. Ich brauche die Gewissheit, sonst macht es mich wahnsinnig. Der Gedanke schreit und ist kaum mehr zu ignorieren. „Was meinst du?“, entgegnet Rick verwundert und lässt die beschlagene Bierflasche sinken. Ein Tropfen vom Boden löst sich und fällt auf eine der Fliesen zu seinen nackten Füßen. „Alle haben Geheimnisse... du auch, nicht wahr?“, beginne ich und gebe preis, was mich nicht schlafen lässt. Ich denke an Evan, der mir nicht sagte, dass Detective Moore schon eine Weile mit meiner Mutter anbandelt. Vollkommen egal, was die Gründe waren, die sie beiden zueinander finden ließen. Meine Mutter, die scheinbar all die Jahre wusste, was Rick und ich für eine Beziehung führten. Aber nie etwas sagte. Richard selbst, der eine Tochter hat, von der er mir von allein nichts erzählte. So viele Geheimnisse. So viele Heimlichkeiten und Zweifel. „Ich verheimliche dir nichts. Ich...“ Er stoppt und schüttelt seinen Kopf, ehe er nach meinen Händen greift und sie festhält. „Lee, du bist der Einzige, den ich niemals belogen habe und ich werde nicht damit anfangen. Niemals. Bitte glaub mir das.“ Unbewusst neigt sich mein Kopf zur Seite und mein Blick geht zu Kayas Hochstuhl. Ehe ich darauf etwas erwidern kann, spüre ich, wie sich seine Hand an meinen Arm legt und er mich langsam zu sich herum dreht. „Bitte tu das nicht...“, fleht er mich an, „Hör zu, ich wollte dir Kaya nicht verheimlichen. Aber... sie war nun mal kein Thema, was man mal so eben anspricht. Ich wollte den richtigen Moment abwarten. Mehr nicht.“ Ich glaube ihm. Ich glaube ihm immer. Doch genau das verunsichert mich nur noch mehr. „Du weißt nicht, wer mir diese Nachrichten schickt, oder?“ „Nein. Nein! Nein, ich weiß es nicht! Lee, um Himmelswillen!“ Jedes Nein wird energischer. „Wer weiß noch über uns Bescheid, Rick, außer Rahel? Sie kann es nicht gewesen sein, denn sie erfuhr es erst später“, hake ich unbeirrt weiter nach. Die komischen Nachrichten und Vorfälle kamen weit bevor Rahel erfahren hat, dass ich wieder Teil von Richards Leben bin. Rick stellt die Flasche zur Seite und seufzt schwermütig. Es bildet sich diese kleine Falte zwischen seinen Augenbrauen und er fährt sich durch die Haare, ehe er mich anschaut. „Ich habe mit niemanden über dich gesprochen, Lee. Mit niemanden. Weder über unsere Beziehung von damals, noch über die Beziehung heute.“ „Wer dann? Wer spielt diese Spiele mit mir?“, erwidere ich laut. „Ich weiß es nicht! Und ich will es genauso wissen, wie du. Warum denkst du, dass ich die Antworten darauf habe?“ Ich sehe ihn eine Weile schweigend an, dann gehe ich zurück in den Flur, ziehe die Briefe aus der Jacke hervor und kehre in die Küche zurück. „Die hat mir Moore gegeben“, läutere ich und reiche Richard den zusammengefassten Stapel Briefe. Die jüngsten Briefe liegen ganz oben und ich haben sie auch nicht in den Umschlag zurück getan. Ricks Blick haftet sich auf die vergilbten Papiere und es dauert einen Moment, bis er danach greift. Zögerlich und fast scheu. Als er würde er bereits verstehen, dass sie Fragen aufwerfen, die er lieber nicht gestellt bekommen würde. Ich sehe ihn wiederholt schlucken, verstehe die unruhige Geste, als er sich kurz über das Kinn reibt und danach seine Unterlippe mit den Zähnen bearbeitet. Sein Gesicht spricht Bände. „Wieso hatte er die Briefe, die ich dir geschrieben habe?“, fragt er flüsternd. „Meine Mutter gab sie ihm. Die auch “, sage ich und deute auf den Obersten. Sein Mund öffnet sich, dann zieht er scharf die Luft ein und legt sich die Hand vor die Lippen. Dort verweilt sie für mehrere Augenblicke und ich kann sehen, wie es in dem anderen Mann arbeitet. Vor allem, als er den Brief entfaltet. Seine Augen fliegen über die erste Zeile. Sein Kehlkopf hüpft. Hoch und nieder. Er feuchtet seine Lippen an, bevor sich sein Mund öffnet und gleich wieder schließt. Richard schaut auf, mustert mein Gesicht und ich erkenne, dass ihm wirklich erst jetzt bewusst wird, dass das damit im Zusammenhang stehen kann. „Wie viele hast du davon geschrieben?“, frage ich, „Wieso hast du sie meiner Mutter gebracht.“ „Weil ich sie dir nicht direkt schicken konnte. Ach, verdammt... Es war nicht meine Absicht, dass ...“ „Dass was? Hinweise zu streuen, dass Moore wahrscheinlich Recht hat? Was hast du dir dabei gedacht, ihr Briefe zugeben, in denen du quasi deine Mitschuld gestehst?“ Rick sucht nach einer passenden Erwiderung. Doch auch nach mehrmaligem Mund Öffnen und Schließen kommen lediglich japsende Geräusche hervor. „Herrje, Rick...“ „Was Lee? Ich... ich...“, beginnt er zu stammeln. Er muss sich erst sammeln, also gebe ich ihm diesen Moment. Ich sehe seine Verzweiflung aus jeder seiner Poren dringen, „Ich wusste einfach nicht mehr, wo mir der Kopf steht. Nach dieser Nacht war alles um mich herum das reinste Chaos. Alle warfen mit Vorwürfen und Anschuldigungen um sich. Der Druck war so gigantisch, die Schuld unerträglich und... das Schlimmste war, dass ich nicht mehr zu dir gehen konnte. Ich... ich durfte nicht mehr mit dir reden, dich nicht sehen. Mir wurde erst später so richtig klar, was ich für Mist gebaut habe... Ich hätte einfach dafür grade stehen müssen. Ich hätte es niemals zulassen dürfen...“, gesteht er mir. „Wir haben die Entscheidung gemeinsam getroffen“, sage ich. Rick schnauft als Antwort und schließt die Augen. „Das weiß ich, aber das ändert nichts. Und ich konnte nichts mehr machen. Alles ging plötzlich schrecklich schnell und Mutter hat mich wegschickt, zu meinen Großeltern. Ich durfte nicht ans Telefon, nicht ins Internet. Ich durfte mit niemanden Kontakt aufnehmen. Ich hatte mehr als ein halbes Jahr lang einen Privatlehrer“, berichtet er mir zum ersten Mal. Das hat er bei unserem letzten Gespräch nicht erzählt. „Ich fühlte mich verloren, deswegen habe ich angefangen, dir diese Briefe zu schreiben. Natürlich wusste ich, dass du sie nicht lesen kannst, aber als ich endlich wieder von meinen Großeltern weg durfte, da stand ich eines Tages einfach vor eurer Tür.“ Einfach so. Unüberlegt. Typisch Rick. „Und du wolltest was tun?“ „Um Entschuldigung bitten... hören, wie es dir geht. Ich weiß nicht, was meine Intension war, Lee. Ich hatte Sehnsucht… Wieso hat sie Moore die Briefe überhaupt gegeben?“ „Ich weiß nicht.“ Als meine Mutter es getan hat, dann nur unter der Bedienung, dass Moore dafür sorgt, dass nicht ich zurück ins Gefängnis gehen muss. Für einen Moment blitzt der irrwitzige Gedanke auf, dass der alte Detective zu meinem Schutz in dem engen Auto gesessen haben könnte. Wäre das möglich? Nein, ich glaube nicht daran. Er hatte zu viele Tage damit verbracht, uns auf die Schliche zu kommen, zu viele Energien darauf verwendet, auch nur den kleinsten Hinweis zu finden, dass wir lügen. Wenn er Indizien dafür hätte, dass nicht ich, sondern Richard damals für den Sturz seines Vaters verantwortlich war, dann wären wir längst wieder auf einem Polizeirevier. Er hat nur Vermutungen und seine Spekulation. Der Beweis, den er so lange suchte, existiert nicht. Es gibt nur meine Aussage und ich werde niemals zugeben, dass auch Richard an diesem Abend auf dem Anwesen gewesen war. „Was glaubte sie, würde Moore mit den Informationen tun? Wieso jetzt?“, fährt er fort. Ich sehe ihn an und kann nur ein weiteres Mal mit den Schultern zucken. „Ich weiß es nicht. Vielleicht glaubt sie, dass sie irgendwas beweisen... Keine Ahnung.“ Ich bin mir sicher, dass meine Mutter die letzten Briefe gelesen haben muss. Immerhin hat sie sie erst in den neunen Umschlag getan. Ich seufze geschafft auf, fasse das Glas etwas fester und nehme dann wirklich einen Schluck daraus. „Du bist also hier, weil du wirklich glaubst, dass ich etwas damit zu tun habe?“, fragt Richard plötzlich mit ernster Stimme und in meiner Brust wird es schwer. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)