Behind the Wall von Karo_del_Green (Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft) ================================================================================ Kapitel 29: Die Schwere leerer Worte ------------------------------------ Kapitel 29 Die Schwere leerer Worte „Bist du dir sicher?“ Ein gutes Maß an Skepsis schwingt in seiner Stimme mit. So, wie immer und so, wie es ihm sein einstiger Beruf eintrichterte. Moore nimmt mir das Bild aus der Hand und notiert den Namen meines Arbeitskollegen auf die Rückseite. In meinem Magen beginnt es zu simmern. All die Empfindungen bündeln sich mit einem Mal zu einem glühenden Stein. Es fällt mir schwer, mich nicht darauf zu konzentrieren. Es ist flau und unangenehm. Doch ich versuche es zu ignorieren, verschränke locker die Arme vor der Brust und gebe mir große Mühe, mich auf Moore zu fokussieren. „Nein, sicher bin ich mir nicht. Aber der Aufnäher dort, der kommt mir bekannt vor. Es könnte aber auch ein Schmierfleck sein“, erläutere ich meine Gedanken und übe Kritik an der Qualität der Aufnahme. Ich weiß es nicht hundertprozentig und habe ich den Patch erst beim letzten Aufeinandertreffen kurz gesehen. Er wirkte, als wäre er händisch dort angebracht worden. Auch auf dem Bild wirkt diese Stelle seltsam deplatziert. Zu plakativ. Trotz alledem will mir nicht einmal einfallen, was dort stand. „Hast du zufällig die Marke der Jacke erkannt?“ „Nein. Ich habe auch nicht darauf geachtet“ Ich hatte mehr damit zu tun, gegen meine Angst und die Wut anzukämpfen. Der glühende Stein pulsiert und man erkennt es deutlich auf meiner Haut. „Wie kommt es, dass du kein bisschen überrascht klingst“, merkt Moore an und kräuselt seine helle, buschige Augenbraue. „Überrascht?“, frage ich verwundert. „Ja, in dem Sinne, dass dein Arbeitskollege auf den Aufnahmen einer Überwachungskamera zu sehen sein könnte, die zeigen, wie er in ein Polizeiarchiv einbricht.“ Wenn er es so sagt, dann sollte ich wirklich überrascht sein, aber ich bin es nicht. Mein Blick huscht über den Tisch und über die Mappe, über Moores tippende Finger. Zurück zu ihm. Ich schaue ihm ins Gesicht, doch die hellen blau-grauen Augen lassen mich augenblicklich etwas zusammenschrumpfen. Sie haben schon immer eine gewisse Kühle in sich, eine Distanz, die auch jetzt noch allgegenwertig ist, auch wenn ich längst weiß, dass sich etwas geändert hat. „Ich bin überrascht…“, gebe ich wieder. Es ist nur ein hohles Echo. „Ja, du bist wahrlich die Definition eines dieser Schokoladeneier“, spottet er, „Ernsthaft Eleen, lass den Scheiß und spuck aus, was du zurückhältst. Was ist dieser Pfennig für einer? Du weißt doch etwas.“ Stevens Namen liest er nach einem schnellen Blick von dem beschriebenen Foto ab. „Er ist der Typ widerliches Wiesel“, bringe ich schlicht, aber verbittert hervor und wende mich von Moore ab, um die Emotionen zu verbergen, die sich mit Garantie in meinem Gesicht abzeichnen wie Theaterschminke. Ich öffne den Oberschrank, um ein paar Gläser hervorzuholen. Die Umschreibung Wiesel trifft Steven wirklich gut, aber es ist noch viel schlimmer. In all meinen Gliedern beginnt es zu kribbeln und das kühle Glas in meinen Händen ist vor Dumpfheit kaum zu spüren. „Kannst du das ein wenig ausführen?“, murrt der ehemalige Detective in seiner Brummbärmanier. „Will ich nicht“, watsche ich schnell ab. Moore schnaubt. Ich fülle beide Gläser mit Wasser und stelle eines nach sinnierendem Zögern vor dem älteren Mann ab. Er sieht mich nur an, folgt meinen Bewegungen mit hoher Intensität. Ich fühle mich fast ein wenig entblößt. „Okay. Was kann der Typ mit der ganzen Sache zu tun haben? Ist es Zufall? Wurde er dafür bezahlt? Was sind seine Intentionen?“, fährt er nach einem Moment fort. Ich weiß es nicht. Ich verstehe es nicht. Meine Schultern zucken lediglich nach, denn eine nützlichere Reaktion will sich gerade nicht ergeben. Mein Kopf fühlt sich schwer an und leer. Alles zur selben Zeit. Es ist eigenartig. „Verdammt noch mal, muss ich dir wirklich ständig alles aus der Nase ziehen? Er begeht doch keine derartige Straftat aus Spaß an der Freude“, wettert der alte Detective los. Die Lautstärke lässt mich zusammenfahren. „Vielleicht ja doch!“, gebe ich ebenso energisch retour und seufze passend dazu frustriert auf. „Menschen, die im Gefängnis gesessen haben, sind per Definition Verbrecher und begehen Verbrechen. Ununterbrochen, oder etwa nicht?“ „Er saß also ebenfalls im Gefängnis?“, stellt Moore ruhig fest und die Spannung im Raum schwillt ab. „Weswegen?“ „Ich weiß es nicht. Ich habe ihn nie gefragt und will es auch nicht wissen. Aber er… er ist wirklich sehr unangenehm.“ Allein die Erinnerungen an das Aufeinandertreffen mit Steven, an all die Vorkommnisse verdrehen mir die Eingeweide und ehe ich mich versehe, überwältigt mich das Unwohlsein, welches die gesamte Zeit schwelt und ich übergebe mich in der Spüle. Beim zweiten Würgen höre ich, wie der Stuhl über den Boden schabt und ich strecke instinktiv meine Hand nach hinten aus, um Moore von mir fern zu halt. Ich muss weiter atmen, auch wenn jeder Luftstrom den sauren Nebel in mein Inneres zieht. Ich spucke die Reste der Bitterkeit aus, spüle mir den Mund aus und säubere das Becken mit einem Schwall Wasser, ehe ich mich zu ihm umdrehe. Meine Beine zittern, ebenso wie meine Hände. Ich schaffe es nicht, ihn anzusehen, weil ich noch immer mit der zwiebelnden Säure kämpfe, die sich bis in meine Nase vorgearbeitet hat. Mein Rachen brennt und ich greife nach dem Glas Wasser, ohne etwas zu trinken. Ich will es nur festhalten und mich daran klammern, sodass der Schmerz mich daran erinnert, dass ich weiterkämpfen muss. „Er wurde letzte Woche suspendiert und vorgestern gekündigt“, erkläre ich zurückhaltend, ohne auf das vorige Geschehnis einzugehen. Moore will eine Antwort von mir und das ist das Beste, was ich ihm geben kann. „Sicher nicht ohne Grund.“ „Er hat andere Mitarbeiter schikaniert und… mich auch.“ „Schikaniert?“, hakt er nach und setzt das Verhör ruhig fort. Genau das ist es nämlich, ein Verhör. Schon die ganze verdammte Zeit. Doch Moore verwendet andere Taktiken als damals. Man könnte fast meinen, es ist Verständnis, Einfühlungsvermögen, Anteilnahme. Etwas, was er vor sieben Jahren nicht hatte. Vielleicht ist er auch nur in seinen alten Tagen weich geworden. „Eleen, sieh mich an!“, fordert er mich eindringlich auf, „Da ist noch mehr, oder? Was hat er genau getan?“ „Widerliche Dinge, über die ich nicht reden möchte und die nicht relevant sind.“ Sein Blick ist scharf, aber er sagt zunächst nichts. Die Stille ist noch viel schlimmer als die Fragerei. Nervös lasse ich das Glas in die andere Hand wechseln, ehe ich es zurück auf die Arbeitsplatte stelle. Moore höre ich seufzen und wie seine Hand über sein Gesicht fährt. Seine rauen Handflächen kratzen dabei über wettergegerbte Haut. „Gut, wenn es nicht relevant ist, wieso hast du ihn dann auf diesem Bild erkannt?“ Die Hand wandert von seinem Kinn zu dem Ausdruck der Aufnahme. Alle fünf Finger pressen sich kreisförmig über die verpixelte Gestalt. „Wieso kam er dir in den Sinn? Warum ausgerechnet er, Eleen?“ „Hab ich doch gesagt, ich habe die Jacke erkennt.“ Ich klinge patziger als beabsichtigt. Moore steht rückartig auf und knallt beide Hände energisch auf den Tisch. Der plötzliche Hall dringt tief in mich ein und wir starren uns regungslos an, während mein Puls schallend in den Ohren hämmert. Das Klingeln meines Telefons lässt uns beide zusammenzucken. Es liegt am anderen Ende der Arbeitsplatte, nur eine Armlänge von mir entfernt und wir visieren es beide an, rühren uns aber nicht. Ich brauche es auch nicht, denn ich erkenne die Nummer sofort und das hindert mich daran, das Telefonat anzunehmen. „Willst du nicht rangehen?“, fragt Moore mich. Ich schüttele schnell den Kopf, was mehr verrät, als es ein einfaches Nein getan hätte. Der Blick des alten Detectives flackert zwischen mir und dem Handy hin und her, bis es stoppt. Gleich darauf klingelt das Festnetztelefon. Im Abstand von nur wenigen Sekunden und ein Schauer durchdringt mich. Er ist kalt und stechend. Allein das Geräusch verursacht diese Reaktion in mir, selbst dann, wenn mir bewusst ist, dass keine Überraschung auf der anderen Seite der Leitung auf mich wartet, sondern Richard. Der Mann, den ich liebe. Zusätzlich spüre ich, wie mich Moore erneut mit diesem ganz bestimmten Blick bedenkt und ich weiß, dass ich für ihn ein offenes Buch bin. „Du solltest wirklich rangehen, sonst kommt er noch auf blöde Ideen“, offenbart Moore und greift nach dem Glas, welche vor ihm auf dem Tisch abgestellt ist. Er nippt am Wasser und wir beide Schlucken im selben Moment, aber nicht aus dem gleichen Grund. Ich strecke meine Hand nach dem Handy aus und ziehe es an mich heran, als das Festnetztelefon verstummt. „Ich werde mich etwas über Steven Pfennig erkundigen und Eleen, begreife endlich, dass, so lange das Kontaktverbot besteht, du dich von ihm fernhalten musst. Er sich auch von dir. Ich weiß, dass er dafür kämpft, es aufzuheben, aber so lange…seid vernünftig.“ „Sie lassen niemals locker, oder?“, frage ich mit gesenkter Stimme. Selbst ich kann hören, wie ausgelaugt ich klinge. „Du solltest langsam wissen, dass ich ein starkes Gerechtigkeitsgefühl habe und ich kann Dinge nicht so stehen lassen, vor allem dann nicht, wenn es Unschuldige trifft.“ Unschuld. Ich wiederhole das Wort ein paar Mal in meinem Kopf, doch es fühlt sich leer an. Ohne Bestand. Was bedeutet Unschuld? Existiert sie überhaupt? Ich bin mir da nicht mehr so sicher. „Eleen?“ Ich sehe auf, als er meinen Namen nennt und meine Grübeleien beendet. „Siehst du dich selbst so? Als Verbrecher? Du hast vorhin…“ „Spielt das eine Rolle?“, unterbreche ich ihn. Moore seufzt. Laut und tief. Es fühlt sich an, als würde er mir damit all die Luft aus der Lunge ziehen und zurückbleibt nichts als Leere. Ein dumpfes Nichts. „Du warst im Grunde noch ein Kind und ihr beide, du und Richard, habt einfach falsche Entscheidungen getroffen, aber das, was damals passiert ist, war im Grund ein schrecklicher… Unfall. Das weißt du?“ Die Pause, die er vor dem Wort Unfall macht, erzeugt eine ganze eigene Bedeutung und macht die gewollte Schlichtung nichtig. Er glaubt es noch immer nicht. Wie sollte er auch? Ein Unfall? Das hatte auch Richard gesagt. Und ja, wir haben gestritten. Wir haben oft gestritten, wenn wir mit Richards Vater allein gewesen sind, doch diesmal war es anders. Es war emotionaler als sonst, heftiger als vormals. Es gab so viel Hass, so viele verletzende Worte und es tat so weh. Er war so wütend gewesen. So wütend, dass es jetzt noch brennt wie endloses Feuer, wenn ich mich daran zurückerinnere. Renard hat uns nicht verstanden und wollte es auch nie. Er wollte das wir gehorchen. Allen voran Richard. Jedes Mal, wenn ich daran denke, spielt sich die Szenerie langsamer in meinem Kopf ab. Jedes Detail. Jede Reaktion. Jedes Wort. Sie werden deutlicher. Vielleicht, weil ich nicht mehr versuche, es zu verdrängen. Als Renard Paddock fiel, blieb die Zeit stehen. Dass er stürzte, haben wir niemals gewollt, niemals geplant und niemals verwunden. Ein Unfall. Vielleicht. Je länger ich darüber nachdenke, umso sicherer bin ich mir, dass wir es hätten kommen sehen müssen. Doch hätten wir es verhindern können? Damals hatte niemand geglaubt, dass es ein Unfall gewesen war und es wollte auch niemand glauben. Auch Moore nicht. Die Tatsache, dass der damalige Detective auch jetzt noch hinter uns herjagt, zeigt mir, dass sein Kopf dort hängen geblieben ist. Egal, wie sehr er mir versichern will, dass es anders wäre. Egal, wie sehr er mir zur Seite steht. Auch er versteht es nicht. Mein Telefon meldet sich erneut und das laute Geräusch brandet am Horizont der Stille, die uns umgibt. Moore versteht, dass ich ihm keine Antwort geben werde und zieht, während er einatmet, seine Schultern resigniert in die Höhe. „Mach keine Dummheiten!“ Eine kurze Warnung, ehe er die Küche verlässt. Fast eine Bitte. Ich folge ihm nicht, sondern lausche den Geräuschen, die er macht. Moores Schritte. Ein Schlüssel, der in der Jackentasche klappert. Die Türklinge und das Klicken des Schlosses. Erst als die Tür hinter Moore zu fällt, strecke ich meine Hand nach dem Telefon aus und tippe die Benachrichtigung an, die mir die entgangenen Anrufe zeigt. Es ist nur ein Sekundenbruchteil. Nur der Hauch eines Gedankens, der mich mahnt, es lieber nicht zu tun. Doch er ist nicht schnell genug. Er ist nicht wahrhaftig genug. Ich betätige längst die Wahlwiederholung und es ist Richards Stimme, die mich begrüßt, die mich sanft bettet und in einem Mantel der Bedachtsamkeit hüllt, den ich nach all den verwirrenden Enthüllungen und Geschehnissen dringend nötig habe. Ricks Stimme ist voller Aufregung und sanfter Hast, die sich aus der enormen Geduld speist, die er bis zu meinem Rückruf aufbringen musste. Er hat es noch nie gemocht, zu warten. Vielleicht aber begleitet auch ihn die Angst, dass ich den Mut verliere und aufgebe. Denn ich hatte es auch schon getan. Aufgegeben. Einen Rückzieher gemacht. Doch es hatte mir nichts gebracht, nur weiteren Schmerz. Und ich will keinen Schmerz. Ich will, dass mich Richards Stimme schweben lässt, dass mich seine Erzählungen zum Lachen bringen. Egal, ob es das stumpfsinnige Geplänkel über Kollegen ist oder die Beschreibung seines zerkochten Mittagessens. So wie heute. Ich will genau das. Ich will es so sehr. Und ich bin damit nicht allein. „Wann sehen wir uns wieder?“ Ich höre die Sehnsucht in seiner Stimme. Sie ist wie ein Schwarm Schmetterlinge, der mir entgegenfliegt und mich in Wärme, Farbe und Flüstern hüllt. Doch sie ist ebenso furchterfüllt. „Moore war eben hier“, sage ich schlicht und kann das schwere Raunen am anderen Ende der Leitung kaum überhören. „Und deswegen wirst du mir gleich sagen, dass wir uns lieber nicht sehen sollten. Nicht wahr?“ „Es ist das, was mir Moore rät.“ Und die Vernunft. Sie war schon immer schwach, bei uns beiden. Obwohl er nichts dergleichen sagt, geistern die kindischen Motzereien, die Rick gewöhnlich über den alternden Detective ergießt, wie saurer Regen durch meinen Kopf. „Ist es auch das, was du willst?“ „Das weißt du doch“, antworte ich, ohne zu zögern. „Aber dich bedrückt doch noch mehr, oder?“ „Waren harte Tage, das ist alles“, sage ich schlicht in der Hoffnung, dass er es auf sich beruhen lässt. Denn ich spüre schon jetzt den twistenden Hader in meinem Inneren, der keineswegs Unruhe schaffen will und sich dennoch danach sehnt, es mit ihm zu teilen. „Dann rede mit mir. Bitte, Lee. Versuch nicht alles allein zu lösen, das musst du nicht.“ Ich seufze schwermütig. Doch es sind nicht die Worte selbst, die es hervorbringen, sondern der flehende Ton. Es ist nicht selbstverständlich für mich, darüber zu reden. Ich bin es nicht gewöhnt, jemanden von meinem Tag zu berichten. Es sei denn, Ewan ruft an und versucht aus meinen Erzählungen herauszufiltern, ob ich mich unauffällig verhalten habe. Nicht selten habe ich vieles weggelassen, um genau das zu verhindern. „Meinem Arbeitskollegen wurde gekündigt.“ „Dem, der dir Ärger gemacht hat? Gut so!“ Auf den Punkt. Er hat es nicht vergessen und unwillkürlich schaue ich auf die leicht gerötete Haut meiner Fingerknöchel. Die einzigen Hinweise auf eine der Auseinandersetzungen, die Steven und ich in den letzten Wochen hatten. Rick hatte mich damals danach gefragt und ich bin wie immer ausgewichen. Damals war es nicht wichtig gewesen. Nicht für uns. Doch jetzt? Sollte ich ihm von den Vermutungen erzählen? Von Jaron? Würde er es verstehen? Würde er es objektiv betrachten können? Ich zweifle daran. Und das mit Steven? Ich verstehe selbst noch nicht, was mein großkotziger Arbeitskollege eigentlich für ein Problem mit mir hat. Ex-Kollege, wohl gemerkt. Ich habe, seit ich in der Firma bin, bei niemanden die Absicht verfolgt, Gespräche zu führen oder in irgendeiner Form Sympathien zu wecken. Ich habe auch niemanden böswillig verprellt. Denke ich zu mindestens. Ich wollte keine Kontakte knüpfen und die Meisten haben es schnell gemerkt, nachdem ich zu Beginn jede nett gemeinte Einladung zum Feierabendtrunk ebenso freundlich ablehnte. Erst Kaley hat meine Abwehr gebrochen und das auch nur, weil ich das dringende Bedürfnis nach etwas Normalität verspürte und diese gab sie mir, gibt sie mir. Mit ihr ist es anders. Steven war zwar immer da, aber hatte meiner Erinnerung nach nie eine direkte Zurückweisung von mir erhalten, die diese Abneigung hätte hervorrufen können. Wieso tut er das? Was habe ich ihm getan? Ich begreife es einfach nicht und es macht mir Kopfschmerzen, je länger ich darüber nachdenke. „Was wollte Moore schon wieder bei dir?“, fragt Rick ruhig, aber reißt mich aus den wirbelnden Gedankenparkour, in den ich mich manövriere. Ich bin mir nicht sicher, wie lange mein Schweigen anhielt und wobei es Rick auffiel. Es ist mein Name, der so sanft über seine Lippen perlt, dass es mir Gänsehaut beschert. „Polizist spielen“, entgegne ich locker. „Hat er neue Hinweise gefunden?“ „Ein paar, aber bisher hat sich der Nebel noch nicht gelichtet, wie man so schön sagt. Es sind Vermutungen und…“ Ich führe es nicht weiter, sondern seufze nur auf, weil es in meinem Kopf sofort weiter kreiselt. „Da ist der Alte ganz in seinem Element, nicht wahr?“, ächzt Richard süffisant und lässt mich lächeln. Es ist so absurd, aber wahr, deswegen schmunzele ich weiter. Es ist ein mattest Lächeln. „Rick“, sage ich nach einem Moment des Schweigens, „Wird es irgendwann aufhören?“ Ich weiß selbst nicht genau, was ich damit meine, was ich von ihm hören möchte. Was ich will, dass er mir sagt, denn es liegt nicht in seiner Hand. „Dass Moore ständig seine Nase in unsere Belange steckt? Es muss, sonst trete ich ihm in den Arsch!“, beginnt er und ich möchte gerade erklären, dass ich das nicht meine, als er fortfährt. „Und alles andere auch. Es muss. Eleen, ich setze alles daran, dass keiner mehr an dich herankommen kann. Meine Anwälte sagen, dass sie trotz Mutters Einwände eine Teilrevidierung herbeiführen können. Ich habe bereits eine Stellungnahme formuliert.“ „Was bedeutet das?“ „Dass wir versuchen, das Kontaktverbot und das Annäherungsverbot vor allem von meiner Seite für mich aufzuheben, sodass wir uns sehen können.“ „Glaubst du, dass das eine gute Idee ist? Deine Mutter…“ „Meine Mutter bestimmt nicht über mein Leben, Eleen, nicht mehr. All die Jahre habe ich mich wegen Schuldgefühlen in ihre Wunschvorstellungen pressen lassen und damit ist Schluss.“ „Aber es ist eine Weisung vom Gericht.“ „Alles ist anfechtbar.“ In seiner Welt vielleicht. Doch in meiner nicht. „Lee, ich brauche dieses Verbot nicht. Ich will es nicht und gebe nicht auf.“ Ich glaube es ihm und die Gewissheit, ega, wie schwindend sie ist, lässt mich lächeln. „Du bist verrückt, das weißt du?“ „Und dumm und starrsinnig, idiotisch, nervig.“ Mir fallen noch weitaus mehr Adjektive ein, die in diese Aufzählung passen und ich komme nicht umher, leise lachend zu schnaufen, „Aber vor allem verliebt, also, was soll ich deiner Meinung nach tun?“. Verliebt. Ich erinnere mich daran, wie er es zum ersten Mal sagte. Es war nicht mal ernstgemeint. Nur so dahingesagt, im Eifer des Gefechts und getüncht mit jugendlicher Hast. Doch damals, wie heute hatte es etwas in mir verändert. Wir waren damals zwölf Jahre alt. Es hatte zwei Tage lang geregnet. Das feuchte Gras unter unseren Füßen gab nach, als wir schnellen Schrittes zum Ufer rannten. Die letzten Tropfen des Regens legten sich auf unsere Haut wie ein Versprechen und schmeckten nach der Freiheit, die ich niemals wieder so spürte, wie in diesen Augenblicken. In einer Senke sammelten sich die Regenwürmer und Richard hatte die fixe Idee, zu angeln. Ich weiß bis heute nicht, ob es wirklich klug war. Doch wir taten es. Wir taten das, was wir wollten. Wir standen auf dem morschen Steg mit Stöckern, Schnur und zwei Haken, die Rick von seinem Nachbarn geklaut hatte. Es war ein Desaster. Es war perfekt. Die Hälfte der Regenwürmer ging durch unsere Unfähigkeit, sie an den Angelruten zu befestigen, baden. Genauso wie ich, nachdem ich versuchte, den einen Fisch, den Richard nach Ewigkeiten fing, mit den Händen zu greifen. Erstaunlicherweise entkam er nicht, denn die Stelle, in die ich fiel, war nicht tief. Die Überraschung, dass ich fiel, war nur eine minimale Erschütterung. Ich konnte im Grunde stehen, kämpfte mich mit dem Fisch in der Hand aufrecht und das Erste, was ich sah, war Richard, der schon im nächsten Moment neben mir im Wasser landete. Als auch er auftauchte, war das Wasser um uns herum aufgewühlt und schlammig. Wir lachten uns an. Er packte mein Gesicht mit beiden Händen und in dem Moment ließ ich den Fisch los. Doch er war sowieso längst vergessen. Mit besorgtem Gesicht zog Rick Algen aus meinen Haaren, bis er sich nicht mehr zusammenreißen konnte und laut lachend meine Ähnlichkeit mit dem Ding aus dem Sumpf verkündete. Er wäre verliebt, sagte er. Laut und klar. Lachend. Er sagte es und strich mir dabei Schlamm von der Nasespitze. Er hatte schon immer ein Faible für seltsame Dinge. „Bist du noch da?“, dringt Richards flehende Stimme durch das Telefon. Die Erinnerung verblasst, aber verweilt simmernd in meiner Brust. „Ich höre dich“, erwidere ich sanft. „Bleibst du wirklich bei mir?“ „Ich war eigentlich nie weg.“ „Ich wünschte es wäre so.“ Ich auch. Richards liebevolle Worte lassen mich lächeln, obgleich die Erinnerungen graue Töne tragen. Nach einem Moment höre ich ein weiteres Handy bei Richard klingeln. Mit einem leisen Seufzen erklärt mir, dass es Rahel ist. Er muss rangehen. Ich bekräftige ihn und lege nach einer gewünschten guten Nacht auf. Nach einem Blick in den Kühlschrank entscheide ich mich dafür, ein paar Eier zu braten. Ich krame Butter, Milch und die Eier hervor. Diese schlage ich in einer Tasse mit der Milch auf und schaue mich nach der Pfanne um. Ich suche fast fünf Minuten lang, ohne sie zu finden. Ich hatte eine, dessen bin ich mir sicher. Ewan hatte darin das chinesische Essen warm gemacht. Allerdings erinnere ich mich nicht mehr daran, ob ich oder er sie weggeräumt hat. Ich sehe mich ein weiteres Mal verwirrt um und fühle mich in meiner eigenen Küche eher hilflos als hilfreich. Vielleicht funktioniert es in einem Topf auch. Ich nehme mir einen der Töpfe mit Stiel und stellen diese auf die kleinste Herdplatte. Erneut durchbricht das Läuten des Festnetztelefons die angestrengte Stille und ich schaue erschrocken auf. Doch ehe ich mich dazu durchringen kann, ins Wohnzimmer zugehen, den Anruf anzunehmen oder auch nur die Nummer vom Display abzulesen, hört es auch schon auf. Das Erstarren folgt im Sekundenbruchteil und gleich zu Beginn. Es fühlt sich an wie der Fall tausender Steine, die erst ein knallendes Geräusch um mich herum verursachen und mir im nächsten Augenblick die Luft zum Atmen rauben. So etwas Belangloses, wie das Klingeln des Telefons, löst diese Reaktion in mir aus. Wann hat das ein Ende? Dann regt sich mein Handy neben mir, mit einer simplen Nachricht und ich atme aus. Ich schaue zu der Tasse mit den aufgeschlagenen Eiern und seufze fahrig. Die Textmitteilung ist von Ewan, der mich fragt, wieso ich nicht ans Telefon gehen. Er mahnt mich an, fragt aber auch, wie es mir geht und ob ich mich richtig verhalte. Er benutzt allerdings andere Worte und ringt mir damit einen frustrierten Seufzer heraus. Ich dachte, dass nach unserem Gespräch bei meinem Bruder ein wenig mehr Verständnis entstanden ist, mehr.... Ich schaffe es nicht, meine Gedanken zu Ende zu führen, denn es trudelt eine weitere Nachricht ein, die mich den Rest komplett vergessen lässt. Es ist eine Einladung zum Geburtstagsessen meiner Nichte. Ein Essen mit der Familie. Meiner Familie. Sicher wird unsere Mutter dabei sein. Vielleicht sogar Erik und seine Kinder. Ewans Frau. Schlagartig erlischt der Funken Freude und wird durch eine bittere Verunsicherung ersetzt. Ich frage mich, ob es wirklich mit ihnen abgesprochen ist, dass ich kommen soll oder ob Ewan es allein entschieden hat. Zuzutrauen wäre es ihm. -War unter der Dusche. Melde mich morgen bei dir-, schreibe ich ihm zurück, lege das Handy schwungvoll zur Seite und mache danach das, was ich laut Nachricht bereits getan habe. Ich gehe duschen, finde noch ein paar weiße Flecken der Farbe an meinen Sohlen, an den Unterarmen und am Kiefer. Als ich fertig bin, falle ich nur mit einem Handtuch umwickelt ins Bett. Mein Magen erinnert mich daran, dass es besser wäre, etwas zu essen und das noch immer die aufgeschlagenen Eier in der Küche stehen. Mit einem kehligen Raunen setze ich mich wieder auf, vollführe ein paar kreisende Bewegungen mit meinem Kopf und ziehe mir ein paar Klamotten über, ehe ich mein Experiment starte und die Rühreier im Topf zubereite. Es funktioniert. Hitze ist Hitze. Wieso auch nicht. Die Eier sind so unperfekt wie immer und es schmeckt so unaufgeregt, wie ich mich schon lange nicht mehr gefühlt habe. Danach kehre ich zurück ins Bett. Gegen sieben Uhr treffe ich am nächsten Morgen in der Firma ein. Ein neuer Wachmann sitzt am Empfang und er will sogar meinen Mitarbeiterausweis sehen, ehe er mich weiter ins Gebäude hineinlässt. „Du bist ja schon wieder so früh dran“, drücke ich meine Verwunderung über die Anwesenheit des jungen Auszubildenen aus, der bereits am Tisch sitzt als ich den Mitarbeiterraum betrete. Vor ihm liegt eine hellblaue Brotbox mit angebissener Schnitte und ein paar Cocktailtomaten. Daneben steht eine Thermoskanne mit dem Logo eines Krankenhauses. Kai schaut auf und wirkt, obwohl er mich ansieht, vollkommen in seinen Gedanken versunken. Er schweigt. „Guten Morgen?“, starte ich einen zweiten Versuch und erst jetzt scheint er mich wahrzunehmen. „Eleen? Oh, Hallo. Entschuldige, ich habe geträumt.“ „Habe ich gemerkt. Schlecht geschlafen?“, frage ich und gehe zu meinem Schrank. Von hier aus kann ich den jungen Mann nicht mehr sehen, nur wenn ich mich zurücklehne. Als ich erneut keine Antwort bekomme, mache ich genau das. Kai sieht immer noch in meine Richtung, doch er sieht mich nicht. Ich gehe wieder zurück, stupse den jungen Mann diesmal an und lege meine Hand auf seiner Schulter ab. „Hey, fühlst du dich nicht gut?“, erkundige ich mich. Seine Augenringe sind tief und seine Nase ist leicht gerötet. Allem in allem sieht er aus, wie immer. „Doch!“, folgt es schnell, „Ich bin nur etwas müde. Die Stimmung in der Truppe war gestern ziemlich schlecht.“ Ich nicke verstehend. Auch ich habe es gemerkt, auch wenn ich versucht habe, allen anderen bestmöglich aus dem Weg zu gehen. Immerhin habe ich meine eigenen Aufgaben und kann unabhängig agieren. Für Kai ist es nicht möglich. „Sie reden.“ „Lass sie einfach.“ Kai nickt unschlüssig, verunsichert und dennoch wendet er sich wieder seinem Frühstück zu. Mit genauso wenig Elan, wie zuvor. Er nimmt einen kleinen Bissen vom Brot, kaut lediglich etwas vom Rand ab und seufzt. Ich öffne meinen Spind, wechsele in meine Arbeitsklamotten und gehe zur Theke, um mir einen Kaffee zu kochen. Als das Wasser kocht, gieße ich den Satz auf und atme das Aroma tief ein. „Eleen?“ „Hm?“ „Ich habe Steven gestern gesehen… hier… vor dem Gebäude.“ Ich halte unwillkürlich den Atem an und spüre, wie sich Eiseskälte in meine Eingeweide einnistet und verklumpt. „Wann?“, frage ich, als der kühle Schauer in meiner Magengrube zu einem flauen, hohlen Schein verschwimmt. Es wäre Wunschdenken, zu glauben, dass es Steven nach dem Anschlag auf meine Tür ruhen lässt. „In der Mittagspause.“ „Wollte er etwas von dir? Ist er dir zu nahe gekommen?“ Kai schüttelt kurz aber energisch den Kopf. Er weicht meinem Blick aus und ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich alles war. „Versuch ihm aus dem Weg, okay? Wenn du ihn siehst, dreh um und lauf in die entgegengesetzte Richtung.“ „Und wenn ich das nicht kann?“, erkundigt er sich. Die Tür geht auf und der Kopf des Vorarbeiters sticht hervor. „Ah, de Faro, Sie sind schon da. Komm Sie bitte kurz mit“, ruft er uns entgegen, ehe ich Kai antworten kann. Er winkt mich zu sich. Ich sehe zu Kai und folge meinem Vorgesetzten mit einem Nicken ins Büro. Als ich das lichtarme Kellerzimmer betrete, sehe ich gerade, wie er sich schwerseufzend auf den Stuhl hinter seinem Schreibtisch fallen lässt. Er deutet mir an, die Tür zu schließen und meine Knie bekunden ihre Unruhe. Zum Glück sind meine Hosen weit und schlucken jedes Zittern, denn ich schaffe es nicht, es zu unterdrücken. Eine der Halogen-Leuchten flackert als ich mich auf einen der anderen Stühle setze. Der Vorarbeiter beobachtet mich, reibt sich mit den Zähnen über die Haut seiner Unterlippe bis sie rot ist. „Wie geht es Ihnen?“, fragt er letztendlich, presst es förmlich hervor, so als hätte es ihm unsagbar viel Kraft gekostet. Ihm scheint die Situation unangenehmer als mir, was seltsamerweise meine Nervosität mindert. „Ganz gut…“ Ich entscheide mich für eine Halbwahrheit, mit dem Wissen, dass eine ehrliche Antwort keinem von uns beidem hilft. „Okay, okay. Sie wissen…“ „Ja.“, unterbreche ich ihn mit einem höflichen Lächeln. Ich will es einfach nur abkürzen, nicke bekräftigend und erhebe mich bereits vom Stuhl. „Moment, ich habe noch eine Kleinigkeit zu besprechen…“ „Okay.“ „Wie Sie schon mitbekommen haben, werden wir uns standorttechnisch verändern. Das hier habe ich in der letzten Woche bekommen…und ich möchte, dass Sie einen Blick darauf werfen.“ Er reicht mir ein locker zusammengefasstes Dossier. Darunter sind Planskizzen der Heizungsanlage, die dazugehörige Beschreibung. Die Skizzen des Verlaufs der Klimaanlage. „Die Firma hat große Renovierungspläne und das sind Unterlagen, die gefunden worden. Noch weiß keiner, ob das konkrete IST- oder SOLL- Zustände sind. Der Chef möchte wissen, ob wir damit arbeiten können oder ob wir eine umfassende Inspektion benötigen.“ Ich versuche mich genauer zu erinnern, aber einen so detaillierten Blick habe ich damals nicht hinter die Kulissen geworfen. Ein Gutachter oder Inspekteur bin ich auch nicht. „Ich bin mir nicht sicher, aber das Fabrikat, was hier benannt ist, ist dort nicht installiert“, gebe ich nach einem zweiten Blick zu bedenken. „Sehen Sie“, erwidert er schlicht. Ich bin mir nicht sicher, was er genau von mir erwartet. „Kommende Woche wird alles überprüft. Es wäre gut, wenn Sie in den nächsten Tage Vorort sind, vorabschauen und etwas Ordnung schaffen.“ „Okay.“ Mich beschleicht die Ahnung, dass sie mich absichtlich aus dem Spannungspool ziehen, um weiteres unkontrolliertes Aufbäumen zu verhindern. Scheinbar sind die von Kai angesprochenen Unruhen sogar bis zum Vorarbeiter durchgedrungen. Ich nicke und verspüre keinen Drang, mich dagegen auszusprechen. Am Vormittag ruft mich Kaleys Kollegin an. Das Thermostat spinnt. Schon wieder. Ich habe vergessen, mich nach der Bestellung des neuen Moduls zu erkundigen, welches ich vor einer Weile beantragt habe. Ich fixiere das lockere Kabel diesmal mit einer Kabelklemme und einem speziellen Isolierband, während ich mich beiläufig nach Kaleys Abwesenheit erkundige. Sie hat zusammen mit dem Chef Gerald Barson einen Außentermin. Dadurch angeregt schnattert mir die plauderfreudige Kollegin eine weitere halbe Stunde das Ohr ab. Ich nicke, lächele und äußere hin und wieder meine Zustimmung oder Ablehnung. Mehr ist nicht nötig. Ich glaube, es wäre ihr auch vollkommen egal, wenn ich ihr auf Chinesisch antworte. Nach einem auffälligen Blick auf das Handy und kurzen uneindeutigen Gemurmel verabschiede ich mich mit dem Hinweis auf weitere Arbeit. Ich nutze den methodischen Leerlauf und entscheide mich dafür, zum neuen Standort zu fahren. Nachdem ich alles zusammengepackt habe, bin ich auch schon verschwunden und hinterlasse lediglich eine Notiz für die Kollegen an meinem Spind. Noch immer sitzt der neue Wächter an der Pforte, nickt mir zu, als ich durch den Haupteingang nach draußen gehe. Mein Blick wandert über vorbeieilende Gesichter, gehetzte Körper. Die Anspannung ist greifbar, überall und ich spüre einen Schauer, als mir beim Einsteigen in den Bus der kühle Hauch von Zigarettenrauch in die Nase steigt. Obwohl ich die Strecke nur ein paar Mal gefahren bin, denke ich kaum darüber nach, wohin ich zugehen habe und stehe nach kurzer Zeit vor dem Gebäudekomplex. Es ist bereits dunkel als ich den Gebäudekomplex wieder verlasse. Ich habe die Zeit vergessen, da es sich erstaunlich entspannt angefühlt hat, fernab der eigentlichen Routine zu arbeiten und keinem der bekannten Gesichter zu begegnen. Vielleicht sollte ich mich nach einem neuen Job umsehen. Mein Handy zeigt mir mehrere Anrufe in Abwesenheit. Ich habe es vorhin auf lautlos gestellt und nichts mitbekommen. Ich betätige den Seitenknopf und hole den Sound zurück. Prompt klingelt es erneut. „Ignorierst du mich jetzt auch?“, blufft Ewan mich direkt an. „Natürlich nicht. Und wieso auch?“ Ich ignoriere niemanden. „Wieso gehst du dann nicht ans Festnetztelefon?“ „Weil ich gerade erst mit der Arbeit fertig geworden bin, okay. Es gab viel zu tun. Ich war noch gar nicht in der Wohnung. Kannst du also bitte aufhören, mich anzumotzen.“ In diesem Moment würde ich alles für einen elektromagnetischen Impuls geben, der alle digitalen Geräte lahmlegt. Und ich sollte meine Festnetznummer endlich kündigen. „Okay, das erklärt aber nicht, wieso du nicht bei dem Termin mit dem Bewährungshelfer warst.“ „Shit. Shit!“, erschrocken werfe ich einen Blick auf das Handydisplay. Die anderen Anrufe waren sicher von ihm. Ich habe den Termin komplett vergessen. „Ruf ihn sofort an, Eleen. Gib ihm keinen Grund, Fragen zu stellen.“ Ich presse noch ein leises Ja hervor, ehe Ewan auflegt. Ich scrolle durch die Liste der verpassten Anrufe. Drei sind von meinem Bewährungshelfer und ich drücke sofort die Wahlwiederholung. Es klingelt. Lange und nervenzerrend. Ich erreiche ihn erst auf dem Handy, auf dem Weg nach Hause. Er geht wohl nur ran, weil er meine Nummer erkennt oder meinen Namen gespeichert hat. Ich entschuldige mich als erstes, erläutere ihm die Situation und entschuldige mich erneut. Hintergründig klingt er verständnisvoll, doch übrig bleibt die gewollte Strenge. Es wird einen Vermerk in meiner Akte geben, das äußert er mit klarer Deutlichkeit. Ich entschuldige mich ein weiteres Mal und kann nur inständig hoffen, dass er mir wirklich glaubt. Ich habe sonst keine Verfehlungen. Keine, von denen er weiß. Wir vereinbaren einen neuen Termin in der kommenden Woche und ich versichere ihm, dass ich es nicht wieder vergesse. Von der kalten Luft draußen und der Trockenen in dem nahezu leerstehenden Gebäudekomplex sind meine Lippen rau und rissig. Selbst die leichte Berührung meiner Fingerspitzen löst einen leichten Schmerz aus. Ich beende das Gespräch, streiche mir mit der Hand durch die Haare und nibbele gedankenverloren an einem trockenen Fetzen meiner Lippe. Das Telefon behalte ich in der Hand und es fühlt sich schwer an. Es hätte schlimmer kommen können, aber ich verstehe es als Weckruf. Wenn gleich auch Wut entfacht. Sie ist schon immer da. Doch nun fühle ich sie. Wut darüber, keine Kontrolle mehr über mein eignes Leben zu haben. Wut darüber, mich machtlos zu fühlen. Hilflos zu sein. Wütend zu sein. Ich will endlich mein Leben zurück. Ich tippe ohne nachzudenken. Doch es ist nicht Richards Nummer, die plötzlich im Display steht. Ich lasse den Daumen über das grüne Hörersymbol schweben, ohne es zu betätigen. Meine Atmung ist nur noch flach und leise, doch das Pulsieren meines Herzens dafür umso lauter. Es ist eine schlechte Idee. Ich sollte es nicht tun. Ich starre so lange auf die eingetippte Nummer, bis sich das Display wieder verdunkelt. Es ist eine unglaublich schlechte Idee. Ich sollte es wirklich nicht tun. Trotz dieser Gedanken kippt mein Daumen zurück auf die glatte Oberfläche und das Display leuchtet auf. Dann bestätige ich den Anrufbutton. Es klingelt. Ich atme ein. Es klingelt ein zweites Mal. Ich atme aus. Eine männliche Stimme meldet sich. „Miers.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)