Behind the Wall von Karo_del_Green (Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft) ================================================================================ Kapitel 30: Die Mauern, die nicht fallen ---------------------------------------- Kapitel 30 Die Mauern, die nicht fallen Ich schweige, weil sich in nur einer Sekunde mein Hals zu schnürt. Die Stimme lähmt meinen Verstand, jeden Muskel und doch ist jede Faser meines Körpers hellwach. Auch dadurch bleibt für mich kein Zweifel zurück. Die Stimme. Sie ist es. Sie verfolgt mich seit Wochen. Sie ist Teil meiner Albträume, selbst am Tag. Er ist es wirklich. Jaron Miers. Die Sicherheit darüber ist so klar und greifbar, dass es mir Angst macht. Sie ist so gewiss, dass ich mich hilfloser und wütender fühle als zuvor. Rasch schweige ich, weil mich das Bedürfnis kitzelt, es ihm gleich zu tun. Ihm ein Stück dieses Albtraums zurückzugeben. Sei es nur für diesen Augenblick. „Hallo?“, fragt Jaron schnaufend, fahrig und ich atme aus, schwer und gehaltvoll, da ich erst jetzt bemerke, dass ich die Luft angehalten habe, „Hallo? Wer ist da?“ Ungeduldig. Die Stille breitet sich aus. Gerade ist sie meine Waffe. Sie ist scharf und schwer. Ich genieße es, die Unruhe zu hören, die sich bei ihm durch ein schneller werdendes Sprachtempo äußert. Die Verunsicherung, die Furcht, die mitschwingt. Sie ist bittersüß. Wir alle spüren sie in solchen Momenten. Wegen Jaron fühle ich sie seit Wochen. Ich sage auch weiterhin nichts, atme aber laut aus, sodass er es hören muss und stelle mir vor, wie er in diesem Moment das Telefon vom Ohr nimmt und die Nummer betrachtet, die auf seinem Bildschirm erscheint. Ob er sie erkennt? Ob er es versteht? Ich höre lediglich das leise Rascheln. „Verdammt, was soll das?“, bellt er. Seine Stimme färbt sich mit Ärger und Zorn. Dennoch, scheinbar ahnt er etwas, denn er legt nicht auf. „Wie fühlt es sich an?“, erfrage ich leise und erwarte keine Antwort darauf. Auf der anderen Seite der Leitung höre ich, wie der Angerufene schnaufend ausatmet. „Na sieh mal an, Eleen de Faro.“ Mein Name klingt wie ein Schimpfwort, so wie er ihn betont. Kein Wundern. Kein Leugnen. Alles fühlt sich eiskalt an. „Du hast dich nicht verändert, Jaron, kein bisschen. Spielst immer noch Spielchen nach deinem Belieben…fühlst dich überlegen, denn du glaubst mit allem im Recht zu sein. Genauso wie damals“, sage ich ruhig und bin doch ein wenig erstaunt, dass er noch immer nicht den geringsten Versuch unternimmt, die Situation zu relativieren. „Es hat sich wohl keiner von uns beiden verändert, denn du denkst ja nach wie vor, dass dich keine Schuld trifft. Allerdings hätte ich nicht gedacht, dass du den Mumm hast, hier anzurufen. Woher hast du die Nummer? Wie bist du darauf gekommen?“ Er klingt amüsiert und herablassend. Ich fühle meinen inneren Tumult wachsen. Wie er sich ausbreitet und mich mehr und mehr vereinnahmt. Es ist wie ein bleibendes Kitzeln in meinem Nacken. „Ich verstehe es nicht. Wieso tust du das? Was versprichst du dir davon? Glaubst du wirklich, dass Richard es gutheißt, was du tust?“, versuche ich abzulenken, denn ich möchte keineswegs mehr preisgeben als nötig oder jemand anderen mit hineinziehen. „Nein, sicher nicht, aber Richard hat keine Ahnung und das ist das Problem! Er ist blind, wenn es um dich geht. Er war es schon immer.“ „Und deswegen mimst du den zigarettenrauchenden Rächer und versuchst mich zu terrorisieren? Bist du noch ganz bei Trost? Mit welchem Ziel?" „Ihm ging es besser ohne dich. Er hat jetzt eine Familie. Eine kleine Tochter. Er hätte eine gute Frau. Deine Taten haben mehr zerstört, als du denkst und jetzt fährst du unbeirrt damit fort, unsere Leben kaputt zu machen“, klagt er mich weiter an und weicht meiner Frage aus. „Hast du jemals Richard gefragt, was er will? Du weißt überhaupt nicht, wovon du redest.“ „Oh doch, das weiß ich sehr wohl. Denn ich war in den letzten Jahren an seiner Seite. Mir hat er sein Herz ausgeschüttet. Und ich habe die Gerichtsaufzeichnung studiert, die Akten gelesen. Jede einzelne und ich habe an vorderster Front mitbekommen, was alles zerbrochen ist.“ „Für wen hältst du dich eigentlich?“, entgegne ich schwachen Herzens, „Ich saß im Gefängnis und…“ „Und du saßt nicht annähernd lange genug!“, unterbricht er mich lautstark, „Eine Jugendstrafe für einen Mord! In welcher Welt ist das gerecht?“ Ein schnaufendes Lachen entflieht seinen Lippen. Danach höre ich, wie ein Feuerzeug entzündet wird, „Sag schon, woher hast du diese Nummer?“ Er klingt durch den herausströmenden Rauch blechern, bis zum Schluss nur noch der Spott den Ton einfärbt. „Du musst damit aufhören…“ „Und du hättest in deinem Kaff bleiben sollen.“ Damit legt er auf. Seine Worte hallen wie ein Echo durch meinen Kopf und eine Gewissheit entblättert sich unwillkürlich. Ich habe zu lange über die Realität hinweggesehen. Habe zu lange versucht zu hoffen, zwecklos, wo ich doch den Mauern niemals entkommen bin. Als meine Bewährungsphase einsetzte, hatte ich genau zwei Möglichkeiten. In das Dorf zu zurückzukehren, in dem ich aufgewachsen bin oder in die Stadt zugehen und in der Anonymität zu verschwinden. Keine schwere Wahl. Ich wollte die wissenden, richtenden Blicke nicht spüren. Wollte nicht hören, was ich nicht hören sollte, weil es trotz all der Zeit stetiger Konsens des allgegenwertigen Getuschels blieb. Keine der mir gegebenen Optionen hätte mich weitgenug fortgebracht, um den Erinnerungen zu entrinnen. Keine davon hätte mir mein altes unbeschwertes Leben zurückgebracht. Ein stetiger Kontakt zu meiner Familie war dennoch als Auflage anzusehen, damit ich mich nicht heimlich absetze. Dabei hätte ich über sowas niemals nachgedacht. Wohin hätte ich auch gehen sollen? Ich war 21 Jahre alt, mit der Lebenserfahrung eines 17-jährigen, der hinter Gefängniswänden erwachsen wurde. Dennoch fand der Übergangsbewährungshelfer das Jobangebot bei Barson Immobilien Management GmbH. Das Vorstellungsgespräch verlief widererwartend gut. Ich fand eine Wohnung. Schneller als gedacht. Mein Leben setzte sich fort, als wäre das alles nur das dunkle Kapitel einer Lebensgeschichte, wie sie jeder hat. Mit der Anonymität, nach der ich mich damals sehnte, hatte ich zunächst wahrhaftig das Gefühl, entwachsen zu können. Ich plante nicht wiederzukommen oder dort anzuknüpfen, wo mein Leben ins Wanken geriet. Gleichwohl sehnte ich mich nach ihm, mit jedem Tag, mit jeder Stunde und in jeder Sekunde. Wahrscheinlich ist es mein Schicksal. Der Raum für Möglichkeiten bestand zu jeder Zeit. Hätte ich es gewollt. Ich habe mich so sehr danach gesehnt, ihn wieder zusehen, aber ich hätte es mir niemals erlaubt. Jarons Vorwurf ist falsch. Unfair. Gemein. Denn nichts davon habe ich gewollt. Meine Finger sind mittlerweile eisig kalt und mein Telefon fällt bei dem Versuch, es zu verstauen, zu Boden. Ich klaube es schwerfällig auf, drehe es umher. Ein kleines Stück des Rahmens ist abgeplatzt. Der Akku hat sich gelöst und fällt beinahe raus. Der Seufzer ist tonlos und ich spüre ihn einzig durch das feine Kitzeln des Luftzugs, der über meine Lippen flieht. Das Ganze macht mich wahnsinnig. Ich sollte meinen Bewährungshelfer nach therapeutischer Unterstützung fragen. Doch was sollte ich einem Therapeuten sagen, ohne mich selbst in die Bredouille zu bringen? Was würde es bringen, wenn ich nicht ehrlich sein kann? Nach einem Blick in den dunklen Himmel, der mir keine Antworten auf meine Fragen schenkt, schaffe ich es, das leicht ramponierte und ausgefallene Handy in die Tasche zustecken. Obwohl ich ausgelaugt und geschafft bin, verspüre ich keinerlei Wunsch, in die Wohnung zufahren. Ich steige etliche Stationen vorher aus und laufe durch die angeregten Straßen bis ich an dem kleinen, unscheinbaren Kino vorbeikomme. Bereits im Eingangsbereich rieche ich die buttrige Sensation von Popcorn und schokoliertem Karamell. Witzigerweise denke ich dabei nie an meine Kindheit, so wie es andere tun. Die süßen, klebrigen Speisen interessieren mich nicht und die Qual der Entscheidung wird mir zusätzlich genommen, da in diesem Augenblick nur ein einziger Film läuft. Ein Horrorfilm und es geht um Geister, verfluchte Orte. Es fühlt sich seltsam passend an, auch wenn meine Geister keine übernatürlichen Phänomene sind, sondern schlicht und einfach menschliche Unzulänglichkeiten. Doch beides kann einen heimsuchen. Beides kann einem den Verstand rauben. Ist es eigenartig, dass ich mir fortwährend wünschte, dass es auch in meinem Fall spukende Geister wären? Ihnen würde ich vielleicht entkommen können, denn die Realität und die damit einhergehenden Konsequenzen und Wahrheiten sind etwas, aus dem ich nicht fliehen kann. Aus einem dringenden Fluchtbedürfnis heraus, kaufe ich eine Karte und sitze letztendlich einzig, mit drei weiteren Personen in dem kleinen Kinosaal. Der Film hat bereits begonnen und ich lasse mich von dem unspektakulären Szenenbild einsaugen, wie flüchtendes, scheues Wild von der Abenddämmerung. Ich habe nicht viel Erfahrung mit Gruselfilmen. Doch das andauernde Rauschen der brechenden Wellen in der Bucht haben für mich eher etwas beruhigendes, was nicht mal der panische Schrei aus der Anfangsszene bricht. Ein verfluchter Leuchtturm. Das tragische Ende eines Familienmitglieds. Ich wäre ein guter Leuchtturmwächter. Der Film ist zu gradlinig, um ansatzweise spannend zu sein. Eher fade und platt. Dennoch war er eine gute Ablenkung und ich spüre für einen Moment Frieden, als ich das Kino verlasse. Die Straßen sind ruhiger, aber nicht menschenleer. Der kühle Wind auf meiner Haut hat etwas heilsames und ich gerate erst wieder in den Strudel meiner schwelenden Gedanken, als ich mich mit den Einschlägen in meiner Wohnungstür konfrontiert sehe. Ich muss der Hausverwaltung schreiben und den Schaden melden. Wahrscheinlich müssen sie die Tür ersetzen und es werden Kosten für mich übrigbleiben. Ich krame den alten Laptop heraus, denn ich von Ewan bekommen habe und tippe einen kurzen Text zusammen. Ich verfasse zusätzlich eine E-Mail, hänge das Schreiben und die Bilder aus meinem Handy mit ran und schicke das Ganze zu meiner Vermietungsfirma. Da ich keinen eigenen Drucker besitze, ziehe ich die Datei auf einen USB-Stick und hoffe, dass ich morgen dazu komme, es auszudrucken. Nach einer Dusche gehe ich zu Bett und schlafe bis zum Morgen durch. Den gesamten Vormittag bin ich am neuen Standort und erhalte Zugang zu den restlichen Unterlagen, die im Lager im Keller abgelegt sind. Auch hier finde ich ein heilloses Durcheinander vor. Zwar sind die Ordner beschriftet, aber sie sind überwiegend unvollständig und längst nicht mehr aktuell. Die Aufbewahrungsfrist für buchungsrelevante Unterlagen liegt bei 10 Jahren. Diese hier sind alle älter und teilweise so verblichen, dass ich die Buchstaben und Zahlen kaum erkennen kann. Gegen 12 Uhr fahre ich zurück. Den Kopierer, den wir nutzen können, ist defekt. Also suche ich nach Kaley und erfahre, dass sie bis zum Nachmittag mit Barson zusammen in Meetings sitzt. Ich bitte ihre Kollegin ihr mitzuteilen, dass ich hier war und lasse letztendlich noch eine kurze Notiz da, in der ich ihr mitteile, dass ich zum Feierabend draußen auf sie warte. Ich lege auch den USB-Stick dazu und bitte sie darum, mir einen Ausdruck von dem Schreiben zu machen. „Na, bist du bereit für den ultimativen Sushi-Rausch?“, ruft mir die schöne Assistentin entgegen, als sie enthusiastisch das Bürogebäude verlässt und beschwingt auf mich zu kommt. Sie sieht heute wieder zauberhaft aus, trägt eine schwarz-weiß karierte Hose und eine schlichte mintgrüne Bluse mit auffälligen Stoffgewabbel im Frontbereich. Nennt man das Rüschen? Ich habe keine Ahnung, aber steht ihr ausgesprochen gut. Ihr langer Mantel ist offen, als könnte sie mit ihrer inneren Wärme jeder Kälte trotzen. Kaleys Lächeln schmilzt unumstößlich die Polkappen. Schlecht für die Pinguine und Eisbären. Gut für mich. „Wenn du damit eine überraschende Nacht über der Kloschüssel meinst, dann nicht… Wollten wir nicht Suppe essen?“, erfrage ich skeptisch und bereue meinen schlechten Scherz direkt. Kaley zieht eine Schnute, die durch ihre schönen vollen Lippen viel einnehmender wirkt, als bei jedem anderen, den ich kenne. „Ich verspreche dir, dass nichts von deinen voreingenommen Horrorklischee eintreten wird. Der Laden, in dem wir essen, ist Top Tier. Spitzenqualität.“, versichert sie mir. „Und ja, wir wollten eigentlich Ramen essen. Das werden wir auch.“ Ich würde ihr alles glauben. Gleichwohl beruhigt es mich, dass sie mir die Option auf Suppe bestätigt. „Brauchen wir ein Taxi?“ „Wir können laufen.“ „Bist du sicher?“, erkundige ich mich nach einem Blick auf ihre hohen, unbequem wirkenden Schuhe, mit denen sie mehr oder weniger Richards Größe erreicht. Das leichte Aufblicken ist mir damit seltsam vertraut. „Pff, ich könnte einen Marathon auf diesen Schuhen laufen…“, entgegnet sie gewitzt und selbstsicher, „Was allerdings voraussetzt, dass ich einen Marathon durchhalten könnte.“ Ihr hübschen braunen Augen formen sich zu Halbmonden und sie kichert., ehe sie richtig lacht. Kaleys herzliches, tiefes Lachen wärmt mich wie eine kuschelige Decke in einer kühlen Winternacht. Sie greift nach meinem Arm und hakt sich unten. „Können wir?“, fragt sie schmunzelnd, „Wir müssen die Straße runter und irgendwann links abbiegen.“ Wir brauchen etwas länger, weil das Linksabbiegen eigentlich rechts meinte. Also durchlaufen wir zwei Blöcke mehr. Es erklärt sich damit, dass sie beim vorigen Mal von der anderen Seite der Stadt kam. Ich störe mich an keiner dieser zusätzlichen Minuten, denn Kaley füllt sie mit spannenden kleinen Anekdoten über einen Mädelsabend, den sie vor einer Woche mit ihren ehemaligen Kommilitonen hatte. Ich habe zu keinen meiner ehemaligen Klassenkameraden Kontakt und wäre vermutlich auch nicht der Mensch, der in solchen Momenten eine angenehme Erfahrung erkennt. Aber ihr zuzuhören, macht mir Spaß. Ihre funkelnden Augen zu beobachten, wenn sie sich weiten, verdrehen oder hin und her rollen, während ihre schlanken Hände passende Gesten vollführen. Kaley redet mit ihrem gesamten Körper und das macht mir große Freude. Im Restaurant bekommen wir einen schönen Platz am Fenster. Es riecht nach Sojasoße und vielen anderen Aromen, die ich nicht sofort identifizieren kann. Aus der offenen Küche kommen Unmengen an Geräuschen. Das Klacken von Messern auf Holz, stark erhitztes Öl, welches brutzelt. Es ist berauschend und allein vom Zuhören bekomme ich großen Appetit. Auf dem Tisch stehen kleine Keramiken mit der Aufschrift Sesam, Mirin und Chili. Eine Phiole mit Sojasoße. Die Einrichtung des Restaurants ist schlicht, mit dunklen Holztönen und beigen Akzenten. Reduziert und ästhetisch. Der Boden unserer Sitzecke und auch der, der anderen Plätze, ist mit festen Strohmatten ausgelegt. Kaley zieht direkt die Schuhe aus, ehe sie sich setzt. Ich schaue ihr interessiert und ohne spezifischen Gedanken dabei zu. „In den meisten ost- und südasiatischen Ländern zieht man sich die Schuhe aus, bevor man das Haus oder die Wohnung betritt“, klärt sie mich auf, „Das hat also ganz und gar nichts damit zu tun, dass mir die Füße wehtun.“ Es ist nur eine gemurmelte Feststellung, die erst durch das Zwinkern zum Geständnis wird. „Wäre mir nie in den Sinn gekommen“, gebe ich schuldfrei von mir. Ein Kellner begrüßt uns mit sanfter, leiser Stimme und verteilt die Karten. Ein älterer Herr mit feinem Akzent und einem stetigen Lächeln auf seinen Lippen. Die Speisekarte besteht aus nur wenigen Seiten, was mich überrascht, bis mir Kaley erklärt, dass es für Sushi noch eine gesonderte Karte gibt. Trotz der übersichtlichen Seitenanzahl scheint Ramen höchst komplex zu sein. Es beginnt schon bei der Wahl der Brühe. Er erklärt es uns mit der Geduld einer zengeerdeten, jahrhundertealten Kiefer. Ich entscheide mich für eine Variante, die Miso als Grundlage hat. Kaley bestellt eine Sorte deren Name ich nach zehn Sekunden vergessen habe, dazu Edamame und Algensalat. Ich lasse mir von ihr den Rest erklären und sie besteht darauf, dass ich alles koste. Unsere Suppen kommen mit Stäbchen und ich bin für einen Augenblick komplett irritiert. So lange bis uns der Kellner erklärt, dass man sie direkt aus der Schüssel schlürft. Die Stäbchen nutzt man für die Einlage und die Nudeln. Auch Kaley braucht einen Moment, bis sie das Holzbesteck korrekt und stabil hält. Ich bin beruhigt, dass auch sie ihre Probleme damit hat, sie zu benutzen. „Herrje, er hat ihm tatsächlich eingeredet, dass die Heizungen frühstens im November aktiviert werden, dass er das Wochenende durchalten muss, statt ihm zusagen, dass die externe Monteurfirma unfähig ist, die Ersatzteile für die veraltete Heizung aufzutreiben. Eine Heizung, die längst hätte ausgetauscht werden müssen. Kannst du dir das vorstellen? Alles Verbrecher.“ „Ist dir eigentlich bewusst, dass du auch in einem Haus voller Straftäter arbeitest? Im mehrfachen Sinn." „Wenn du wüsstest“; erwidert sie und rollt mit den schönen dunklen Augen, „Und tatsächlich weiß ich, dass ... Barson Immobilien Management ist an einer Kooperative beteiligt, die jungen Straftätern die Eingliederung in den Arbeitsalltag erleichtern soll. Ich höre häufiger, wie Gerald mit Bewährungshelfern telefoniert und er ist an den Bewerbungsprozessen der Mitarbeiter beteiligt." „Das wusste ich nicht“, erkläre ich überrascht, „Wieso das?“ Kurzum, mein Bewährungshelfer hat mir nichts dergleichen mitgeteilt. Vielleicht damit ich keine voreiligen Schlüsse ziehe. Ich war schon eingeschüchtert genug. „Barsons ältester Sohn ist sehr früh mit dem Strafvollzug in Kontakt gekommen. Er hatte viele Jugendstrafen, saß mehrfach im Gefängnis und kam dort mit Drogen in Kontakt. Es war sehr schwer für ihn, aus dem Kreislauf auszubrechen und dann wurde er überall abgelehnt.“ „Hatte?", hake ich irritiert nach. „Ja, er starb vor 5 Jahren an einer Überdosis und deswegen hat Barson eine Möglichkeit gesucht, jungen Menschen mit solch einem Hintergrund eine Chance zu geben. Er hat auch mit dir persönlich gesprochen, oder?“ Sofern ich mich recht erinnere, kam Kaley erst ein paar Monate nach mir in das Unternehmen. „Ja, aber er war damals noch nicht in der Chefposition. Ehrlich gesagt kann ich mich kaum an das Gespräch erinnern.“ Ich weiß als einziges noch, dass er mich gefragt hat, was meine Ziele sind und ich antwortete, dass ich einzig ein ganz normales ruhiges Leben führen will, dass ich meine Arbeit gut machen will. Das gilt auch heute noch. Doch der Grund, aus dem ich mich daran erinnere, ist, dass er daraufhin sagte, dass ich durchaus mehr von meinem Leben erwarten darf. Er war sehr freundlich zu mir gewesen, aufgeschlossen und ohne Berührungsängste. Die Firma wurde damals noch von Gerald Barson Senior geleitet. Ihm bin ich nie begegnet. Es erklärt aber, wieso auch Steven einen Fuß in der Firma fassen konnte. Steven. Allein sein Name verringert meinen Appetit erheblich und mit einem Mal perlt sich die Angst hervor, dass er seine dumme Obsession auch auf Kaley übertragen könnte. Sie hat ihm schon mehrfach Paroli geboten. Sie hat seinen Ausschluss aus der Firma initiiert. Das Beben in meiner Magengegend ist erschütternd und die Unruhe bricht nun auch formuliert hervor. „Hey, du wurdest nicht weiter von Steven belästigt, oder?" „Nein, du etwa?“, fragt sie erschrocken zurück und vergisst dabei den Happen Algensalat, den sie sich gerade in den Mund geschaufelt hat. Ein schwarzes Sesamkorn bleibt an ihrer Oberlippe kleben und obwohl ihre Zunge dreimal ihren Mund entlang streicht, verschwindet er nicht. „Nein, gesehen habe ich ihn nicht.“, antworte ich wahrheitsgemäß. Nur seine unangenehme Präsenz habe ich gespürt, doch das sage ich nicht. „Kai meinte, er hat ihn vor dem Gebäude stehen sehen. Vielleicht hat er nur noch etwas abgeholt... Ich weiß nicht. Aber ich mache mir Sorgen, dass er dir zu nahekommt. Bitte, versuch nicht, mit ihm zu argumentieren, wenn du ihn siehst, okay?“, flehe ich fast. Sie mustert mein Gesicht eindringlich, sucht und findet meine Gewissheit. „Hat das was mit dem Schreiben zu tun, was ich für dich ausdrucken sollte?“ Sie greift in ihre Tasche, holt einen unverschlossenen Briefumschlag hervor und reicht ihn mir. „Ich habe noch mal drüber gelesen. Reine Gewohnheit“, rechtfertigt sie sich beschämt. Ich bin ihr nicht böse. Ich hätte nur gern verhindert, dass sie die richtigen Schlüsse zieht. „Er hat deine Wohnungstür demoliert? Ernsthaft? Wie krank ist der Typ? Und woher, um Himmelswillen, weiß er, wo du wohnst?“ „Er hat irgendwann meine Personalakte geklaut“, sage ich schlicht. Mich rauszureden würde nichts bringen, also lasse ich es. „Eleen, das hättest du melden müssen.“ Ich fische mit den Stäbchen nach etwas Fleisch und zucke resigniert mit den Schultern. Zu meinem Erstaunen fällt das geangelte Stück nicht zurück in die Suppe. Dennoch esse ich es nicht. „Es hätte Aussage gegen Aussage gestanden. Ich hatte doch keine Beweise, dass er es war. Nur eine Vermutung. Was hätte es also gebracht?“, erwidere ich, „Zumal ich zu dem Zeitpunkt nicht wusste, warum er es macht. Ich dachte, er ist einfach nur ein dummes Arschloch.“ Was ohne Frage zutrifft, egal, mit welcher Motivation er es letztendlich getan hat. Unweigerlich wandern meine Gedanken zu Jaron. Jaron Miers. Ich verstehe noch immer nicht, wie Steven und Jaron miteinander in Verbindung stehen, aber sie tun es. Steven ist in das Polizeiarchiv eingebrochen. Er hat mich während der Arbeit terrorisiert. Hat er meine Personalakte für Jaron besorgt? Macht Steven für Jaron die Drecksarbeit? Wahrscheinlich ist er in Jarons Auftrag bei mir in die Wohnung eingebrochen und hat meine Sachen durchwühlt. Den Schauer, der sich über meinen Körper zieht, spüre ich sogar in den Zähnen. „Wo bist du mit deinen Gedanken?“, fragt Kaley und justiert die Stäbchen in ihrer Hand. „Überall und nirgends…“, umschreibe ich und hoffe, dass sie es nicht als beleidigend auffasst, weil ich ihr nicht meine gesamte Aufmerksamkeit zukommen lasse. „Tut mir leid.“ „Wieso entschuldigst du dich? Dafür, dass du ein Mensch bist, dem im Moment viel auferlegt ist? Das ist wirklich unnötig. Möchtest du darüber reden?“ „Es ist nicht unbedingt einfach, die richtigen Worte zu finden, weißt du?“ „Du kannst es aber versuchen…“ Kaley sieht mich eindringlich aber mit sanftem Blick an. Ich halte nicht stand und suche einen anderen Punkt, zu dem ich hinschauen kann. „Ja, ich mache in der letzten Zeit nichts anderes, als zu versuchen...“, perlt es bitter über meine Lippen. Ich versuche zu funktionieren, versuche zu verstehen und versuche nicht daran zu zerbrechen. Nur weiß ich langsam nicht mehr, wie viele Versuche ich noch habe. „Weißt du, manchmal möchte auch ich einfach nur laut schreien…“ „Und tust du es dann auch?“, frage ich mehr spaßig als ernst. Ich schaffe es zur selben Zeit ein Stück Möhre mit den Stäbchen zu erwischen. Auch ich kenne das Gefühl, laut schreien zu wollen. So lange zu brüllen, bis einem die Lunge brennt, nur um zu spüren, dass man lebt. „Darauf kannst du wetten!“ Kaleys energischer Ausruf sorgt dafür, dass die Karotte zurück in die Suppe plumpst. „Meistens brülle ich in mein Kopfkissen. Manchmal jedoch gehe ich abends noch schwimmen und schreie Unterwasser. Aber ich habe mich einmal ganz schrecklich verschluckt und danach da gehangen, wie ein Kugelfisch. Nun bin ich vorsichtig.“ Nun ist es an mir, zu lachen. Ich habe vor Jahren mal Kugelfische im Aquarium gesehen. Es war herrlich. „Du solltest besser aufpassen, das kann gefährlich werden“, kommentiere ich, nachdem ich mich endlich beruhigt habe und sehe sie besonnen lächeln. Kaley wirkt zufrieden. „Was? Hab ich mich bekleckert?“ Sie schüttelt sogleich ihren Kopf, während ich alle offensichtlichen Stellen checke und letztendlich mit der Hand über die untere Gesichtspartie wische. Nur für alle Fälle. „Nein, nein… ich mag es einfach, wenn du lachst“, sagt sie schlicht, widmet sich wieder ihrer Suppe und summt leise. Eine vertraute Melodie, die ich jedoch nicht zuordnen kann. Es ist auch nicht wichtig, denn einzig das Gefühl, welches es erzeugt, ist von Bedeutung. Ich fühle mich wohl. „Danke, Kaley.“ „Wofür?“, fragt sie lächelnd. „Dafür, dass du mir Gründe zum Lachen gibst.“ „Immer gern.“ Kaley lechzt nach einem Dessert, nachdem unsere Schüsseln geleert sind und ich zusätzlich zu meiner Suppe noch ihre Beilagen verspeist habe. Die grünen Bohnen mag ich, der Algensalat ist grenzwertig. Trotz der Mengen fühle ich mich nicht überfressen. So willige ich ein und wir durchforsten die Speisekarte nach Süßspeisen. Es gibt Eis, Frittiertes und Gebackenes. Kaley quietscht freudig auf, als sie etwas Bestimmtes auf der Karte entdeckt, was mir, wie alles andere auch, nichts sagt. Doch wer bin ich, ihr diesen Spaß auszureden. „Wow, ich bin so satt. Ich hätte die Mochis nicht mehr essen dürfen“, ächzt sie, während ich ihr in den Mantel helfe und nach ihr auf die Straße trete. Sie sieht aus, als würde sie es beim nächsten Mal genauso machen. Ich fand die Dinger auch toll, obwohl mir nicht klar ist, woraus sie bestehen. Die Konsistenz war sonderbar und dann seltsam anziehend. Klebrig. Wir haben jede Sorte auf der Karte probiert und geteilt. Ich mochte besonders den Grünen, der mit Schokosahne gefüllt war. Er war leicht herb und nicht allzu süß. „Reisen wir das nächste Mal nach Südamerika? Brasilianisch vielleicht. Lass uns Trés leches- Kuchen essen.“ „Erst beim nächsten Mal?“, frage ich schmunzelnd. Wir laufen gemeinsam Richtung Hauptstraße zurück. „Ja, natürlich, aber man darf doch schon träumen. Ich habe viel Spaß dabei, neue Dinge mit dir zu probieren. Wusstest du, dass wir auch einen kleinen Streetfoodmarkt haben? Jeden zweiten Samstag. Lauter asiatische Leckerei und auch vieles anderes. Da müssen wir unbedingt mal zusammen hingehen.“ „Sehr gern.“ Ich bleibe an einem der Taxipoints stehen und sehe mich nach einem Taxi um. Doch es ist keines zusehen. Ohne abzuwarten, wählt Kaley die abgebildete Nummer und mein Blick fällt auf einen huschenden Körper, der auf der gegenüberliegenden Straßenseite in den Schatten verschwindet. Vielleicht nur Einbildung. Nur wieder Gespenster. Trotzdem merke, ich wie der raue Stoff meines Pullovers deutlicher über meine Arme kratzt. „Hey?“ Erst Kaleys warme, tiefe Stimme reißt mich aus dem Gedanken und dann spüre ich schon, wie sie mir kurz den Kopf streichelt. Es ist eine außerordentlich sanfte Geste, voller Zuneigung und Verständnis. Aber sie zeugt auch von Mitleid. Nicht mehr als eine Nuance, ein feiner Wink und doch legt es sich an die Oberfläche. Das Taxi fährt vor. Kaley steigt ein, nachdem wir uns voreinander verabschieden und ich ihr versichere, dass wir beim nächsten Mal Kuchen essen. Ich winke meiner schönen Kollegin zum Abschied. Danach fällt mein Blick zurück zu der Stelle, an der ich eben noch den Schatten wähnte. Es ist niemand zu sehen. Die Nachricht einer unbekannten Nummer taucht auf meinem Display auf und ich bleibe auf der Stelle stehen. Ort. Datum. Zeit und die schnellen Worte: Treff mich dort. Kein Name. Ich fühle, wie sich die nebulöse Schwere einer bevorstehenden Entscheidung in meiner Magengegend manifestiert, wie ein rostiger, stumpfer Dolch. Als ich die Adresse im Handy eingebe, wird mir die Bar ausgegeben, in der mich einmal mit Rick getroffen habe. Ein Zufall? Absicht? Jaron wird die Bar sicher kennen. Vielleicht waren er und Richard gemeinsam dort gewesen. Das macht mich alles fertig und jeder Nerv in meinem Körper schreit danach, das Ganze zu ignorieren, nicht mehr daran zu denken. Der nächste Tag läuft ab wie das blinde Wandeln im Nebel. Der Dunst ist dick und schwer, betäubt meine Wahrnehmung und manchmal, nur für einen Augenblick lang, fehlt mir die Kraft zu atmen. Dennoch erledige ich all die Dinge, die schon seit Wochen auf meiner To-Do-Liste stehen. Einkaufen. Aufräumen. Ich putze die halbe Wohnung und auch noch mal den Treppenabsatz, um die letzten weißen Rückstände zu tilgen. Ich gebe mein Bestes, nicht nachzudenken, versuche nicht in der Starre der Ereignisse zu verweilen. Doch als ich das schmutzige Wasser in die Toilette schütte, denke ich an die Nachricht der unbekannten Nummer. Als ich die Kühlschranktür schließe, nachdem ich die letzten der gekauften Lebensmittel darin verstaue, gehe ich automatisch das Telefonat mit Jaron durch. Wort für Wort. Als ich die zweite Waschmaschine ausräume, weiß ich, dass nur zwei Stunden übrig sind, bis das Treffen stattfindet. Ich weiß, dass es eine dumme Idee ist, während ich meine Schuhe zubinde, denn das ungute Gefühl in meinem Bauch wird zu einem festgezurrten Knoten. Vor dem Lokal bleibe ich stehen. Dark Orange. Hier haben Rick und ich uns getroffen, kurz nachdem ich nicht so zufällig Rahel über den Weg gelaufen bin. Sie gibt mir die Schuld daran, dass ihre Beziehung mit Richard nicht hielt. Jaron sagt im Grunde das Gleiche. Der Kerl und Bekannte von Rick, der schon beim letzten Mal hier gewesen ist, inspiziert gerade ausgiebig einen der Bierhähne. Als er ihn betätigt, entsteht schäumender Wust und der Kompressor grunzt und fiept. Das deutet auf die Dichtungen hin. Ricks Bekannter flucht. Ich erinnere mich nicht an seinen Namen. Die Musik in der Bar wird lauter und beinahe überhöre ich den Anruf. Ein Blick auf das Display zeigt mir Detektive Moores Telefonnummer. Ich bahne mir einen Weg zum Ausgang und gehe kurz bevor ich nach draußen komme erst ran. Die laute Musik hallt nach und ich muss mich erst ein paar Schritte entfernen, um Moore verstehen zu können. „Na endlich. Eleen, hörst du mich? Wieso ist es so laut… Wo bist du?“, fragt der ältere Mann unnötig aufgebracht und gleichbleibend genervt. Ich verdrehe die Augen, aber die freche Antwort bleibt mir im Halse stecken, als ich bei dem Versuch, eine halbwegs ruhige Stelle zu finden, den Bürgersteig entlang blicke. „Ich kann jetzt nicht“, sage ich nach kurzem Zögern ins Telefon und fixiere die Gestalt, die auf mich zu kommt. Es ist nicht Jaron und ich erstarre. „Wehe, du legst auf, de Faro. Hör mir zu, dein alter Kollege wurde neben Körperverletzung und Diebstahl auch mehrfach wegen Stalking angezeigt. Es konnte ihm nicht ein einziges Mal 100-prozentig nachgewiesen werden, da immer Aussage gegen Aussage stand. Doch was ich gelesen habe, zeichnet ein klares Bild. Er ist gefährlich. Halte dich von ihm fern. Verstehst du mich?“ „Verstehe“, erwidere ich schwach und stehe Steven direkt gegenüber. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)