Behind the Wall von Karo_del_Green (Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft) ================================================================================ Kapitel 32: Was der Vergangenheit folgt --------------------------------------- Kapitel 32 Was der Vergangenheit folgt „Stopp… bitte… Wovon redest du da?“, erkundigt sich Richard schwach. Ich schaffe es nicht, aufzusehen und selbst wenn ich es könnte, würde ich sein Gesicht nicht klar erkennen können. „Eleen?“ Er sagt meinen Namen und ich schließe die Augen, setze die Tränen endgültig in Gang, indem ich sie über die Dämme hinausschiebe. „Als du weg warst, da…“, beginne ich flüsternd, „er... ich wusste nicht, was ich machen sollte“ Meine Stimme schwächelt und alles in meinem Kopf ist plötzlich ein absolutes Chaos, so, wie in diesem Moment damals. „Dein Vater... er ist wieder aufgewacht... und er hat ganz schrecklich geröchelt und gestöhnt... Ich... Ich... Er hat mich angestarrt. Es hat mir solche Angst gemacht... Ich wusste, dass er dafür sorgt, dass ich dich nie wiedersehe und... Und...meine Familie mit hineingezogen wird." Sein Blick, richtend und zornig, hat mich verfolgt, unzählige Nächte lang. Immer dann, wenn die Stille nach mir griff und ich ihr nicht entkommen könnte. „Oh nein, du dummer Junge, was hast du getan?" Meine ohnehin schon instabile Ausdrucksfähigkeit wird durch ein weiteren Tränenschwall gestoppt, als ich Moores vorwurfsvollen Ton vernehme. „de Faro!", harscht er mich an. Mein Blick geht zurück zu Richard, der mich ungläubig anblickt. „Er hörte nicht auf und da habe ich … ich wollte das er schweigt und er.... er." Obwohl es keine Worte waren, hörte ich ihn laut in meinem Kopf. Seine Stimme. Die Vorwürfe. Jeder Streit. Jede Diskussion, die er mit Richard führte, echote durch meinen Schädel wie bedrohlicher Donner. Laut und eindringlich. Ich fühlte die Verzweiflung in jeder Zelle meines Seins und sie schrie, auch wenn ich selbst stumm blieb. Das Resultat ist uns allen wohlbewusst, also spreche ich es nicht aus. Ich sah, wie das Leben aus seinen Augen verschwand. „Es tut mir leid…“ Meine Stimme bricht. Ich kann mich nicht dazu bringen, aufzusehen. Nicht einmal, als ich das heftige Klagen höre, welches Moore ausstößt oder das pfeifende Raunen, welches Steven in den Raum entlässt. Genauso wenig schaffe ich es, dem Zittern meiner Hände zu entgehen, welches sich auf meinen gesamten Körper überträgt, wie ein lauer Windstoß, der erst eines und dann alle Blätter zum Wanken bringt. All das, was ich seit Jahren versuche zu verarbeiten und zu verstehen, liegt offen da. Wie ein blanker, freigelegter Nerv, dessen bloße Existenz puren Schmerz verursacht. Ich wollte nicht, dass Richard es erfährt, weil ich mir selbst nicht eingestehen konnte, dass ich dazu in der Lage gewesen war. „Es tut mir so leid“, wiederhole ich flüsternd, so leise, dass ich nicht sicher bin, ob Richard es hören kann. Schluchzend rinnt Richards Name ein paar Mal über meine Lippen wie ein bitteres Gebet um Vergebung. Meine größte Angst war stets, dass Richard erkennt, dass ich es nicht wert bin. Ich ertrug es, von ihm getrennt zu sein, solange ich wusste, dass sich sein Bild von mir nicht trübt. Aber das ist nun vorbei. „Das wird ja immer besser“, höre ich Steven spotten, spüre sein Lachen auf meiner Haut wie saurer Regen und merke, wie sich der Knoten in meiner Magengegend weiter zuschnürt. Warum haben wir nicht einfach in Ruhe Leben dürfen? Einfach vergessen dürfen? „Eleen, hör zu. Eleen!“ Moores Stimme dringt nur wage zu mir durch. „Sein Genick war gebrochen und seine Lunge punktiert. Er ist an seinem eigenen Blut erstickt, das hat die Autopsie bewiesen“, erklärt Moore, nachdem er mehrmals geräuschvoll ein und ausatmet. Ich schüttele den Kopf. Seine Worte ändern nichts an der Tatsache, dass ich ihm bewusst die Chance genommen habe, es zu überleben. In den vergangenen Jahren habe ich oft darüber nachgedacht. Die gesamte Situation zerlegt und wieder zusammengesetzt. Wir hätten vieles anders machen können, vieles anders machen müssen. Doch damals wusste ich nicht, was ich heute weiß. Wir waren Kinder. Wir hatten Angst, denn alles wirkte aussichtslos. Aber es war meine größte Furcht, dass das Überleben seines Vaters unsere Situation verschlimmerte. Mehr als sein Tod. An etwas anderes hatte ich nicht denken können. Das Blut rauschte laut in meinen Ohren. Meine Hände zitterten, so, wie jetzt. Ich habe das Gefühl, komplett betäubt zu sein und von der Schwere all der Gefühle erdrückt zu werden. Richards warme Hand an meiner Wange ist das Einzige, was mich davon abhält, endgültig zu zerbersten. Als ich es endlich schaffe, aufzublicken, hockt er vor mir. In seinen Augen zeigt sich der Film unseres Lebens gefüllt mit tiefsitzender Emotion. Trauer, Wut und Liebe. Ich wünschte nicht zum ersten Mal, ich wäre nur ein Statist darin. Eine Fußnote im Abspann, die im Getümmel der Gesichter Bedeutungslosigkeit erfährt. Auch Richards Wangen sind feucht und bevor ich auch nur einen Ton hervorbringe, zieht er mich in seine Arme. Die Umarmung umfängt mich mit einem Mantel des Vergessens, als die stoische Verwunderung bröckelt und ich mir erlaube, es zu spüren, ihn zu spüren. Selbst wenn es nur für einen Flügelschlag ist, einen Atemzug. Trotzdem schenkt er mir Leben, wie er es immer getan hat. Meine Dämme brechen bis zur Quelle und all die Jahre des Verdrängens spülen blanke Gier hervor. Ist es zu viel verlangt, in dieser Sphäre verweilen zu wollen? Nur er und ich. Alles anderen ist egal. Alles sonstige ist vergessen. Richard hält mich fest in seinen starken, alles ertragenden Armen. Ich verharre in der Wärme und in dem Versprechen, dass nichts Schlechtes geschehen wird oder das schlechte Geschehene keine Bedeutung hat. „Lee, es ändert nichts für mich. Gar nichts, hörst du…“, flüstert er. Ich höre es, vernehme seine Worte, doch ich kann sie nicht glauben. Mein Schweigen hat auch ihm jahrelangen Schmerz bereitet, Schuldgefühle beschert, weil er dachte, dass ich unverschuldet im Gefängnis war. Dass er an allem schuld war. Doch so war es nicht. Ich bin schuld an Renard Paddocks Tod und bin es immer gewesen. Ich lebe mit den Konsequenzen, selbst wenn sie bedeuten mögen, auf das Einzige zu verzichten, was mich mit Leben erfüllte. Ich wusste es in dem Moment, in dem ich zustimmte, die Schuld auf mich zu nehmen und ich war mir allem gewiss, als ich entschied, schuldig zu sein. „Kannst du mir jemals verzeihen?“, schluchze ich hilflos, klammere mich an den Versuch, wie ein Ertrinkender an den Sekundenbruchteil der Gewissheit. Meine Finger krallen sich so stark in seine Jacke, dass ich merke, wie sich meine Fingernägel verbiegen, wie sich das raue Material tief in meine Papillen drückt und nach und nach meine Identität auslöschen. „Lee, da gibt es nichts zu verzeihen, nicht für mich“, flüstert er, sodass nur ich es hören kann. „Kannst du mir vergeben, dass ich dich in diese Situation brachte?“, fragt mich Rick flehend und das löst bei mir einen weiteren Tränenfluss aus. „Aber deine Familie…“, setze ich an, klinge mittlerweile heiser. „Nein, … Lee… nicht. Tu das nicht.“ Obwohl es kaum mehr ein Hauch ist, als ich seine Lippen an meiner Schläfe spüre, fühle ich etwas Kraft zurückkehren. Rick unterbricht ein erneutes Schluchzen mit dieser sanften Geste der Zuneigung. „Mein Vater sagte auch immer, ich solle mich lieber auf die Familie konzentrieren. Doch er hat nie verstanden, dass du ein wesentlicher Teil meiner Familie bist. Der Teil, den ich mir ausgesucht habe und für den ich mich immer wieder entscheiden würde." „Urks!“, würgt Steven hervor, „Scheiße, ich kann verstehen, was du meintest. Die beiden sind wirklich unerträglich abartig“, grölt er uns zu und ich sehe zu dem zutiefst unangenehmen Individuum von ehemaligen Arbeitskollegen. „Halt die Schnauze, wer auch immer du bist. Du hast hier nichts Sinnvolles beizutragen“, wettert Richard ungehalten. Wir richten uns beide auf und ich reibe mir die Tränen von den Wangen. „Scheiße Jaron, all die Drohungen, all die verstörenden Machenschaften. Was hast du dir dabei gedacht? War das alles nötig? Wofür?" Ich sehe, wie sein Freund zusammenzuckt. Ich bin mir sicher, dass es nicht das erste Mal ist, dass sie streiten, doch etwas in Jarons Blick sagt mir, dass er diese anhaltende Intensität nicht kennt. Die Änderungen in seinem Gesicht sind subtil und schnell, durchlaufen einen Zirkel von Scham und Entrüstung, zurück zur Wut. Alles in einer Endlosschleife. „Für die Wahrheit.“, antwortet Jaron ad hoc. „Welche Wahrheit? Du hast doch keine Ahnung, was die Wahrheit überhaupt ist. Ich habe meinen Vater die Treppe runtergestoßen, nicht er. Ich konnte mich nicht kontrollieren, weil er uns… ihm das Leben zu Hölle machen wollte. Und du tust ihm die ganze Zeit wegen deiner fahrlässigen Fehleinschätzung das Gleiche an“, brüllt Rick zornig die Wirklichkeit heraus. Es so klar und deutlich aus seinem Mund zu hören, ist keine Erleichterung. „Aber er…“ „Kein aber, Jaron!“ „Er hat es zugegeben, vielleicht zu Anfang, aber…er… es ist unterlassene Hilfeleistung und und…“ Jaron kommt ins Straucheln. „Er musste erfahren, was er alles kaputt gemacht hat. Du hast ihn doch gehört. Er hat deinen Vater krepieren lassen, weil er nicht wollte, dass er sich weiter einmischt. Komm schon, dass ist perfide und falsch.“ „Du hast nichts verstanden, oder?“, bellt Rick zurück. „Oh doch, das habe ich. Deswegen die Bilder und die Anrufe. Er sollte begreifen, welche anderen Leben er zerstört hat. Richard, du solltest dir langsam eingestehen, dass du nicht der Einzige bist, auf den das Auswirkungen hatte. Kaya. Rahel… wie kannst du nur glauben, sie aus dieser Rechnung raushalten zu können?“, bellt Jaron spottend zurück, gibt seiner Stimme zum Schluss eine unerschütterliche Lautstärke. „Du verdammter…“, knurrt Richard. Ich halte ihn zurück, als er einen schnellen Schritt nach vorn macht und auf die beiden Delinquenten losgehen will. Der Griff um sein Handgelenk ist fest und eindeutig. Ich spüre, wie er zögert, ohne sich zu mir umzudrehen. „Es waren nicht nur Bilder und Anrufe, Jaron. Du hast mich terrorisiert. Mich gestalkt! Wochen lang. Du bist bei mir eingebrochen, hast Dinge gestohlen. Du hast ihn gegen mich aufgehetzt“, mische ich mich ein und deute in Stevens Richtung, „Er hätte mich auf Arbeit fast… verletzt! Das sind verdammte Straftaten! Steht das auf deiner Rechnung?“ Die Verleugnung und Herabsetzung seiner Taten verursachen Fassungslosigkeit bei mir. Er verharmlost alles, was er getan hat und glaubt noch immer, im Recht damit zu sein. „Moment, wovon redest du da?" Aus ihm spricht Verwunderungen. Sie ringt so hell, wie hunderte kleine Glöckchen am Firmament. Dazu gesellt sich das Lachen des anderen Mannes, der sich ausgesprochen bedeckt gehalten hat. Richards Freund begreift sofort, worum es geht. „Was hast du getan? Was hast du hinter meinem Rücken für ein verdammtes Spiel gespielt?", wendet sich Jaron Steven zu. Doch dieser zuckt lediglich mit den Achseln. „Ich tat, was du wolltest!", perlt es lachend und zäh wie heißer Teer über Stevens Lippen. „Du solltest nirgendwo einbrechen, stehlen oder ihn in irgendeiner Form verletzen." „Ach komm, du wolltest ihm einen Denkzettel verpassen und das habe ich getan", rechtfertigt Steven seine ausufernden Maßnahmen und ich begreife immer mehr, warum es sich ab einem gewissen Punkt persönlicher und abartiger angefühlt hat, als es durch Jaron initiiert war. Wir waren nie nett zueinander, aber es gab Grenzen. Steven hat es als Fingerzeig des Schicksals gesehen und so, wie ich ihn mittlerweile kennengelernt haben, sind Grenzen für ihn nur eine Hülle. „Ihn verunsichern, solltest du, nicht das…das habe ich dir nicht aufgetragen. Ihr müsst mir glauben, ich wollte Hinweise streuen und ja, dich zum Aufgeben zwingen… aber…", verteidigt Jaron seine Intensionen. Steven schnaubt. „Und wenn schon, es war nicht nötig, dass du es sagst und ich wollte auch etwas Spaß. Ich habe es echt genossen.“ Augenblicklich habe ich das Bild vor Augen, wie er in meinem Bett lag, wie er stinkenden Zigarettenrauch in die Luft blies. Wie er sich in meinen Spind erleichterte. Noch vieles weitere, was in meinem gesamten Körper eine Welle des Ekels auslöst. Ich spüre Richards Blick auf mir, spüre, wie er seine Hand nach mit ausstreckt und mit den Fingerspitzen die Knöchel meiner Hand berührt. „Richard, dass es so eskaliert, das wollte ich nicht“, verteidigt sich Jaron. „Fuck you, Jaron. Du hast zugelassen, dass dieser Freak Eleens Leben auf den Kopf stellt, egal, ob du es in dem Ausmaß wolltest oder nicht.“ Richards Worte hängen schwer in der Luft, füllen den Raum mit Vorwurf und Tadel. „Scheiße, Pfennig, was hast du für einen Mist abgezogen?“, wendet sich Jaron nun an seinen ehemaligen Handlanger, der lange zuvor seine eigenen Ziele hatte. Dann durchbricht Stevens Gelächter die angespannte Stimmung und ich halte unweigerlich die Luft an. Er ist das präsente Übel. Er hat es geschafft, in den letzten Minuten zum Hintergrund zu werden und sich an dieser ausufernden Absurdität zu ergötzen. Ihn nun Lachen zu hören, macht es umso deutlicher. Zwar wurde die fehlgeleitete Spirale von Jaron in Gang gesetzt, doch Steven ist der Grund, aus dem sie letztendlich eskalierte und das nur, weil er es so wollte. „Was seid ihr nur für ein beschissener Haufen! Es ist so lachhaft“, spuckt Steven uns entgegen, nachdem er das hysterische Gelächter abrupt erstickt. Er fixiert uns abwechselnd mit seinem Blick und das, was ich darin sehe, zeigt puren Wahn. Mit schnellen Schritten tilgt er die Entfernung, die er im Laufe dieser Diskussionen unbemerkt zu uns aufgebaut hat und zieht das Messer. Wir weichen alle zurück und ziehen scharf die Luft ein. „Ihr habt nichts Besseres zu tun, also ununterbrochen Ausflüchte für eure Dummheit zu finden und die Schuld anderen zu zuschieben, nur nicht euch selbst. Aber was soll man von privilegierten Sunnyboys auch anderes erwarten“, setzt mein ehemaliger Arbeitskollege hysterisch fort, zeigt mit der scharfen Spitze des Jagdmessers abwechselnd in Richards und Jarons Richtung. „Und du…“ Nun deutet er auf mich. Ich weiche unwillkürlich zurück, während Rick im selben Moment versucht, mich abzuschirmen. „Mister Saubermann, heulst und jammerst. Die beiden haben dich gefickt, echt gefickt, verdammt noch mal!“, brüllt er laut in die Nacht, spuckt es mir förmlich vor die Füße, „Und du kriechst bettelnd zu ihm zurück, wie das brave kleine Haustier, das du bist. Fucking Märtyrer. An deiner Stelle hätt ich nen Teufel getan. Er schubst Daddy die Treppe runter, gut, nur so schafft man sich Nervsäcke aus dem Weg und ehrlich, … ihm wäre nichts passiert, so wie allen anderen privilegierten Säcken och.“ Stevens Stimme ist derartig hektisch, dass er teilweise die Wörter verschluckt und vernuschelt. Doch die Botschaft geht nicht verloren. „Steven…“, mahnt Jaron an, wirkt fast hilflos und selbst ein wenig erschüttert über die plötzliche Wendung. Mich überrascht es weniger. Auch Moore wird von Minute zu Minute wachsamer, lässt die Spannung in seinem Körper wachsen. „Was? Ist es nicht das, was du wolltest. Die Wahrheit ist raus, Hurra! Aber sie gefällt dir und nun ziehst du den Schwanz ein?“, bellt er seinen vormaligen Komplizen entgegen und wedelt gefährlich mit dem Messer umher, als wäre es nur eine Attrappe. „So war es nie geplant…“, setzt Jaron erneut an, doch als Steven ruckartig und drohend in seine Richtung tritt, bricht er wieder ab. „Wir sollten uns alle beruhigen“, steigt Moore in die hitzige Konversation ein. Ich sehe, dass seine Hände keineswegs die Ruhe ausstrahlen, die seine Worte vermitteln sollen. Ich spüre es auch. Das Lodern in der Luft, welches durch einen winzigen Funken zur Feuerbrunst heranwachsen kann. „Shit, was sind sie eigentlich für ein Kunde und wieso sind sie hier?“, ächzt er zurück und festigt seinen Griff um das Messer. „Ich bin nur hier, um zu verhindern, dass diese Idioten da weiteren Mist bauen, okay?“, erklärt Moore und deutet auf Rick und mich. „Was bist du, ihr Babysitter?“ „Nein, ich bin der Kerl, der durch das Theater der beiden beim ersten Mal aufs Glatteis geführt wurde und ich werde diesmal mit Sicherheit dafür sorgen, dass sich das alles endlich aufklärt.“ Moores Worte lassen meinen Puls steigen. Doch ich wende meinen Blick nicht von dem alternden Detective ab. „Moore, verdammt, was…“, schreitet Rick verärgert ein, doch ich packe seinen linken Arm und zwinge ihn so, sich zurückzuhalten. Richard greift nach meiner Hand, drückt sie leicht. Im Gegensatz zu den anderen ist mir klar, dass er der Einzige ist, der alles richten kann und auch derjenige ist, der die Möglichkeiten hat, es zusammenfallen zu lassen. Er hat die Beweise. Er kann mehr oder weniger objektiv bezeugen, was in den letzten Wochen geschehen ist. Beweise, von denen Richard nichts weiß. Ich muss ihm vertrauen, darauf bauen, dass seine Taten der vergangenen Wochen keine Irreführungen waren, sondern echte Anteilnahme. Ich muss. „Ist es das, was du willst, dass wir uns stellen und unsere Strafen absitzen?“, frage ich zurückhaltend und anstatt Ricks Blick zu erwidern. Stevens Motivationen sind mir noch immer unklar. „Ach, wo bleibt denn da der Spaß? So ist es viel besser.“ „Du tust es nur, um die Leute zu verletzten, oder?“, frage ich, meine nicht die potenzielle Gefährdung, die von dem Messer ausgeht. Statt mir zu antworten, formt sich Stevens Mund zu einem schiefen, bestätigenden Lächeln und dann zucken seine Schultern, als wäre es vollkommen harmlos, was er tut. Ein Spiel. Ein morbides Spiel. „Du beschissener Psychofreak. Was für eine Scheiße läuft bei dir schief?“, meldet sich Jaron aufgebracht zu Wort und tilgt den Abstand, den er zuvor zwischen sie gebracht hat. „Das hättest du dich vielleicht vorher fragen sollen, bevor du ihn auf Lee hetzt“, entgegnet Rick wütend und kassiert von Jaron einen schuldvollen Blick. „Es war eine Fügung des Schicksals…“, kontert Steven mit einem Lachen, „denkst du nicht auch? Dass du mich angesprochen hast. Dass ich dir so nützlich sein konnte mit allem. Er hatte eigentlich nur deine Akte und ein paar Informationen gewollt.“ Steven lässt seine Hände sinken und widmet sich voll und ganz Jaron. Für ihn ist das alles ein hohler Witz und ich bezweifele, dass es für ihn jemals eine Rolle gespielt hat, dass er damit Leben ruiniert oder wie viel Schaden er anrichtet. „Nützlich?“, wiederholt Ricks langwieriger Freund mit absoluter Fassungslosigkeit. „Geilt dich das auf? Du hast völlig allein gehandelt und benutzt mich jetzt als Anstifter?“ „Nein, warte, warte, warte… gibst du mir jetzt die Schuld an allem? An deinem fanatischen und ebenso absurden Racheplan? Werd erwachsen. Dein nicht-Daddy ist krepiert. Und? Sie habens beide getan und jetzt stehst du dumm da. Das ist es!“ Wieder dieses Lachen. Lauter und dröhnender hallt es durch die Nacht im Sinne blanken Hohnes. Es wird abrupt durch ein heftiges Knurren Jarons durchdrungen und der schlagartigen Vorwärtsbewegung. Er packt Stevens Handgelenk mit der einen Hand und den Kragen der Jacke mit der anderen. Es ist wie eine sichtbare Abwärtsspirale der Eskalation. Steven packt den Griff seines Messers fester, während Jaron alles versucht, um es von sich fernzuhalten. Ein einziges Mal gab es so einen Moment auch im Gefängnis. Es war ein selbstgebautes Messer und es ging nicht gut aus. Ich höre Moore mehrmals irgendwas Brüllen. Vernehme Jarons Stimme und auch Stevens. Das Ächzen und Raunen. Alles überschlägt sich und mein Blick fesselt sich an das glänzende Metall der Messerklinge. Immer wieder blitzt sie im fahlen Licht auf, wie ein unheilvoller Countdown, der im lauten Stimmenwirrwarr höhnend schreit. „Hört auf…!“ „Lass das verdammte Messer fallen, Pfennig.“ „Fick dich! Lass los!“ „Seid ihr wahnsinnig!“ „Scheiße…“ „Was...“ „Argghnn…“ Der Knall ist markerschütternd. Richard reißt mich runter. Ich verliere den Halt und meine rechte Hand trifft hart auf den rauen Boden auf. Meine ohnehin schon verletzte Haut reißt weiter auf und sendet sofort ein Alarmsignal durch meinen Kopf. Der Schuss kam von Moore und ging in die Luft. Trotzdem ist ein Ausruf des Schmerzens zu hören und mein Blick fällt sofort zurück zu Jaron und Steven. Mit Entsetzen sehe ich dabei zu, wie das linke Bein von Steven seitlich einknickt. Er lehnt gegen Jaron, rutscht etwas tiefer, bis er vollkommen zu Boden sinkt. Aus seinem inneren Oberschenkel ragt das Jagdmesser. „Scheiße, du hast mir das verfickte Messer ins Bein gerammt“, ächzt Steven Jaron laut entgegen. Seine Stimme zittert hörbar. Mit einem Ruck zieht er den scharfen Gegenstand raus, ehe jemand von uns eingreifen kann. Jaron strauchelt in eine aufrechte Position und Steven lässt das blutgetränkte Messer zu Boden fallen. Es scheppert über den Asphalt und ich starre entsetzt auf die rotleuchtende Wunde. Das Blut drückt sich durch seine Fingerzwischenräume und langsam bildet sich eine deutliche Lache am Boden. Es ist so viel Blut. Verdammt viel Blut. Der menschliche Körper hat 4,5 bis 6 Liter in seinem Kreislauf, geht mir im gleichen Moment durch den Kopf. Das sind 6-8% des eigenen Körpergewichtes. Ich las es vor etlichen Jahren in der Gefängnisbibliothek in einem alten, zerfledderten Anatomiebuch, aber auch heute noch ist die Menge unvorstellbar für mich. „Fuck...du, verdammter Dreckskerl… du…“ Stevens Fluch durchbricht die angestaute Stille. Er bricht mittendrin ab und erst jetzt wird mit klar, dass ich die Luft angehalten habe. Jaron schweigt. Es ist Moore, der als erstes reagiert. Fluchend eilt er auf die beiden Männer zu und reißt sich den Schal vom Hals. Er bindet ihn mit schnellen Handgriffen um den Oberschenkel, hustet bitterlich und zieht ihn mit zittrigen Fingern zu. Danach streckt er seine Hand nach dem Messer aus und schiebt dieses unter seinen Schuh. Steven ächzt laut auf vor Schmerz und das löst den Rest meiner Starre. Auch ich wanke ihnen entgegen, doch Richard stoppt mich. Er schüttelt den Kopf und hält mich eisern zurück. „Fuck you… fickt euch alle, ihr verdammten Mistschweine…fuck…“, meckert mein ehemaliger Arbeitskollege laut auf, nachdem er seine Stimme wiedergefunden hat. „Ich werde wegen euch nicht draufgehen! Shit…“ Es ist deutlich zu erkennen, wie er immer stärker zu zittern beginnt. Sein Blick wird fahrig und unkonzentriert. Moore ruft mehrmals Jarons Namen. Doch der reagiert nicht, also unternehme ich einen neuen Versuch, löse mich aus Richards Griff und hocke mich zu Moore und dem Verletzten. „Er verliert massiv Blut, drück hierauf. So fest du kannst… Richard stopp!!“ Moores alarmierter Ausruf lässt mich zusammenfahren und aufschauen. Rick hält sein Handy in der Hand, wahrscheinlich, um den Notruf zu wählen. „Wir brauchen einen Notarzt!“ „Ja und ich werde ihn rufen. Aber du wirst vorher verschwinden. Sofort!“ „Was? Nein, das werde ich ganz sicher nicht!“, weigert er sich prompt und sein entsetzter Blick flackert über all die beteiligten Gesichter. „Verdammt Paddock, es ist der falsche Zeitpunkt, Edelmut auszupacken.“ „Gott, was ist ihr Problem…“ „Hör auf, zu diskutieren. Mach endlich ne Fliege, Paddock, denn du darfst keinesfalls hier sein, wenn die Polizei eintrifft. Begreifst du es nicht oder willst du wirklich, dass alles auffliegt?“ In Ricks Gesicht offenbart sich ein Schauspiel an Emotionen. Der Wut folgt die Irritation, die durch überraschtes Verständnis abgelöst wird. Ich höre Steven neben mir vor Schmerzen stöhnen und sehe, wie Moore endlich die Nummer des Notrufs wählt. Ich nehme Moore den Schal ab und drücke ihn mit beiden Händen fest auf die blutende Wunde. Moore bellt Richards vollen Namen und ich sehe über die Schulter hinweg zu dem Mann, den ich seit jeher liebe und der sofort verschwinden muss. Seine Anwesenheit würde alles verschlimmern und viel zu viele Fragen öffnen. Auch sage ich seinen Namen, nutze aber unsere Koseform. Es perlt über meine Lippen, wie ein stilles Versprechen und er reagiert. „Geh!“, sage ich leise in Richards Richtung, „Geh endlich!“ Die zweite Aufforderung belege ich mit deutlichem Nachdruck, als er sich nicht rührt. Es ist ein Déjà-vu der schlimmsten Sorte und ich schaffe es kaum, genug Druck auf die Wunde auszuüben, weil meine Hände heftig zittern. „Verdammt, das darf nicht passieren. Ich wollte es diesmal richtig machen“, erklärt Rick, drückt meine Schulter und drückt mir zitternd einen Kuss auf das Haupt. „Scheiße, bringen Sie ihn mir zurück, hören Sie, Moore. Bringen Sie das irgendwie in Ordnung.“ Den letzten Teil richtet er mit scharfem Ton an den alten Detective, ehe er meine Hand loslässt und in der Nacht verschwindet. Längst schildert Moore der Notrufzentrale das Geschehene. Seine Stimme ist fest. Seine Worte ohne Zweifel. Als er die Adresse nennt, sieht er zu mir und ich nicke ihm bestätigend zu, auch wenn es quasi nur ein Rauschen ist, welches in meinem Kopf besteht. Mein Blick schweift zu Jaron, der mit völligem Entsetzen noch an derselben Stelle verweilt, wie zuvor. Seine Lippen beben und die Hände zittern. Sie heben sich deutlich von der dunklen Jeans ab, die er trägt. Auch Moore folgt meinem Blick und ich bin mir sicher, dass er das Gleiche denkt, wie ich, denn schon im nächsten Augenblick steht er auf, packt Jaron am Arm und zieht diesen, ohne abzuwarten, in eine sitzende Position. Er spricht ihn an und es dauert Ewigkeiten, bis sich Jarons Augen wirklich auf Moore fixieren. Dann übergibt er sich, während in der Ferne die Sirenen des Krankenwagens immer lauter werden. „Hey, Eleen, du nicht auch noch… reiß dich zusammen.“ Moore greift mir fest an die Schultern, „Sieh mich an“, fordert er mich ruhig auf. Ich nehme sofort den leicht sauren Geruch an ihm wahr. „Mir geht’s gut“, sage ich automatisch. Es klingt so hohl, wie ich mich fühle. „Das wage ich zu bezweifeln, drück fester“, höre ich ihn sagen, doch es klingt auf einmal weitentfernt. Ich schaue zu der Stelle, an der eben noch Rick gestanden hat und löse mich erst, als Moore erneut fordert, ihn anzusehen. Das matte Blau meines Gegenübers verankert mich im Hier und Jetzt. „Hör mir zu. Wenn die Polizei eintrifft, dann wirst du ihnen im Detail schildern, was Pfennig und Miers getan haben. Wie sie dich hergelockt haben. Was sie dir angetan haben, um sich an dir zu rächen. Du erwähnst Richard mit keinem Wort. Du sagst ihnen, wie ich dir gefolgt bin, weil du den Anrufkanal offengelassen hast. Gut gemacht, übrigens. Verstanden?“ Ich reagiere mit einem minimalen Nicken. „Hast du mich verstanden?“, fragt er erneut. Diesmal lauter. „Ja“, erwidere ich, reibe mir mit dem Handrücken über die feuchten Wangen. Steven ist mittlerweile verstummt. Das leise Wimmern von Jaron wird schnell durch das stetige Rattern der Fahrtrage der Sanitäter übertönt. Ich fühle mich hilflos. Genauso, wie damals. Vergangenheit. Gegenwart. Zukunft. Sie können niemals getrennt voneinander betrachtet werden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)