Behind the Wall von Karo_del_Green (Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft) ================================================================================ Kapitel 1: Zeichen der Kindheit ------------------------------- Kapitel 1 Zeichen der Kindheit „Ellen", ertönt es schrill. „Ellen", witzelt mir ein anderer Kollege, eine Frauenstimme nachahmend entgegen. Ich verdrehe ohne mich umzuwenden die Augen und versuche die Rufe bestmöglich zu ignorieren. Nach dem zigsten Mal reicht es mir. „E-lee-n", berichtige ich laut, ziehe die E's in meinem Namen zum wiederholten Mal an diesem Tag besonders lang und verfluche leise meine Mutter dafür, dass sie mir diesen Namen gegeben hat. Schlimm genug, dass sie unmissverständlich ausdrückt, dass ihr ein Mädchen lieber gewesen wäre, nein, sie musste den Namen auch noch so wählen, dass ihn alle, wie den eines Mädchens aussprechen. Wieso ist ihr kein geschlechtsneutraler Name eingefallen? Irgendwas Langweiliges. Banales. Es gibt eine Fülle davon. Doch ich bekam ausgerechnet diesen. Eleen. Licht des Mondes, so die Bedeutung. Schmeichelhaft für eine Frau, doch ich bin keine. Ich ernte blechernes Gelächter und gebe es für den heutigen Tag endgültig auf. So, wie ich es immer mache. Ich ziehe die Tür mit dem Fuß ran, so dass sie nur noch einen Spaltbreit geöffnet ist und entgehe den Blicken meiner nervigen Arbeitskollegen. Ihre Stimmen werden zu einem dumpfen Rauschen, welches von dem tosenden Summen der mich umgebenden Maschine geschluckt wird. Mit einem heftigen Ruck drücke ich den Schraubenschlüssel nach unten und spüre mit Genugtuung, dass die Mutter endlich festsitzt. Wenigstens hierauf habe ich Einfluss. Ich wische mir mit dem Ärmel meines ausgezogenen Pullovers über die verschwitzte Stirn. Die Wärme des Heizungsraumes bringt mich noch mal um. Doch das ist bei weitem nicht das Schlimmste. Nerviger ist der beißende Gestank. Seit Tagen wechsele ich ein Teil nach dem anderen aus. Die Düsen. Den Filter. Doch nichts hilft. Der Geruch nach Schmierölen und alten, ranzigen Verschmutzungen beißt sich überall fest, sodass ich trotz einer Stunde duschen oft noch das Gefühle habe, darin gebadet zu haben. Ich bekomme den Gestank nicht aus meiner Nase, egal wo ich bin, egal was ich mache. Ich bilde mir ein ihn auf meiner Haut zu riechen und auf meiner Zunge zu schmecken. Jeder Gedanke daran lässt mich erschaudern. Die geschlossene Tür macht es natürlich nicht besser, aber wenigstens habe ich so meine Ruhe. Ich lasse meinen Kopf von links nach rechts kreisen, merke, wie es in meinem Hals knackt und lege den Schraubenschlüssel zur Seite. Seit gut einem Monat bin ich für die Wartungen der Heizungs- und Kühlanlagen eines großen Bürogebäudes einer Immobilienfirma zuständig und so lange plage ich mich auch schon mit dem olfaktorischen Angriff auf meine Nerven herum. Im Grunde bin ich ein einfacher Hausmeister. Kein herausragender Job, aber er ernährt mich und ich bin froh ihn zu haben. Nach einer langen Suche habe ich hier eine Chance bekommen. Ich will sie nutzen und mein Leben wieder in die richtigen Bahnen lenken. Ich lasse mich auf die Knie fallen und entferne die Abdeckung der Elektrik. In diesem Moment geht mein Handy los. Auf dem Display erscheint eine interne Nummer und mit einem leisen Seufzen gehe ich ran. „de Faro", melde ich mich mit meinem Nachnamen und vernehme sofort die piepsige Stimme der Sekretärin aus der dritten Etage. „Ah, wunderbar, dass ich Sie sofort erreiche. Die Klimaanlage spinnt. Sie müssen ganz schnell kommen, sonst erfrieren wir hier. Es ist, wie bei den Pinguinen in der Arktis.", gibt sie theatralisch von sich. Mit jedem Wort wird ihre Stimme höher und ich halte mein Telefon weiter weg. Auch die persönlichen Gespräche mit ihr kommen akustischen Messerstichen gleich, die sich hoch aber tief in einen Körper bohren. „Antarktis", berichtige ich ruhig. „Wie bitte?" „Pinguine leben in der Antarktis", erkläre ich ihr und ernte ein empörtes und unverständliches Schnauben. „Nun, das ist mir vollkommen egal. Wir erfrieren hier und Sie müssen sofort etwas dagegen unternehmen", fordert sie. Ich werfe einen Blick auf die Uhr. Der Feierabend ist so nah und rückt damit in weite Ferne. „Okay, haben Sie schon versucht das Thermostat hochzuschalten?", frage ich freundlich, ohne den beiden Bürobewohnerinnen zu unterstellen, dass sie nicht auf die einfachsten Lösungen kommen. Ich habe trotz meiner kurzen Zeit hier schon etliches erlebt. Beispielsweise eine sehr aufgebrachte und panische Sekretärin, die vor lauter Verzweiflung, weil ihr Drucker nicht funktionierte und die IT nicht mehr erreichbar war, mich anrief. Die simple Lösung des Problems war das Ab- und wieder Anschalten des Geräts, welches mir nach diesem hochkomplizierten Procedere freudig piepend verkündete, dass es einsatzbereit war. „Ja, das haben wir. Es hat sich jedoch nichts verändert. Sie müssen kommen!" Ich seufze leise und mehr zu mir als zu der aufgeregten Dame am Telefon. „Ich bin unterwegs." Ich schiebe mir zwei Schraubenzieher in die Gesäßtasche, schalte das Handy aus und versehe die Elektrik wieder mit der Abdeckung. Sicher ist sicher. Ich trabe am Treppenaufgang vorbei, steige in den Fahrstuhl und bin nach wenigen Sekunden in der angedrohten Frosthölle. Die Sekretärin sitzt mit einem dicken Pullover an ihrem Schreibtisch und versucht zu tippen. Ihr untersetzter, etwas pummeliger Körper ist in ein knallrotes Kostüm gezwängt. Ihre blonden Haare sind fest zusammengesteckt. Sie wirkt streng und kalt. Sie erinnert mich an eine Lehrerin aus der dritten Klasse. Schnell schüttele ich den Gedanken fort. Die Kühle, die mir beim Betreten entgegenschlägt ist wohltuend. Sie sieht mich an, wie ein Außerirdischer, denn ich trage nur ein kurzes Hemd und meine Arbeitshose. Mehr ist selbst im Winter im Heizungskeller nicht nötig. „Frisch haben Sie es hier", sage ich salopp und lächele. Sie schüttelt entsetzt den Kopf, steht auf und tippelt mit hohen Schuhen dem Thermostat entgegen. Als sie in meine Nähe kommt, rümpft sie kurz die Nase. Sie riecht das alte Öl und ich spare mir einen Kommentar. „Bitte, machen Sie, dass hier wieder eine normale Temperatur herrscht", harscht sie mich energisch an. Im selben Moment kommt die junge Assistentin des Chefs aus dem Büro. Ihr bin ich schon mehrere Mal im Aufzug begegnet. Jedes Mal lächelt sie mich an. Diesmal wirkt sie angestrengt und etwas geschafft. Auch sie trägt über dem schwarzen Kostüm eine bunte, wollige Strickjacke und schüttelt sich zitternd als sie durch die Tür tritt. Als sie uns sieht, beginnt sie zu lächeln. „Oh, endlich die Rettung. Wir haben das Gefühl in einer Gefriertruhe zu sitzen", plaudert sie sofort los. Sie ist eine hochgewachsene, dunkelhäutige Frau mit einem weichen, warmen Gesicht. Der Ton ihrer Haut ist, wie flüssige Schokolade und der Klang ihrer Stimme die tiefe, herbe Ergänzung zur perfekten Ausgewogenheit. Mit ihr zu telefonieren ist eine Wohltat. Ihre sanften braunen Augen erfassen mich freundlich. „Ich versuche zu verhindern, dass Ihnen bald Eiszapfen wachsen", kommentiere ich die Kühlschrankbemerkungen und ziehe einsatzbereit einen der Schraubenzieher aus der Hosentasche. Sie kichert und lässt sich an ihren Schreibtisch nieder. Ich tippe auf die Temperaturtaste, doch nichts bewegt sich. Ich klopfe kurz mit dem Rücken des Schraubenziehers gegen die gläserne Platte der Anzeige und die digitalen Zahlen vibrieren. Ich vermute ein loses Kabel. Schnell habe ich die Abdeckung aufgeschraubt und habe die einzelnen Kabel der Elektrik in der Hand. Die Leitung zur Schaltung ist gelockert. Dank meiner schmalen Hände ist es unproblematisch die feinen Drähte wieder zu befestigen. Eine Sache von zwei Minuten. Als ich fertig bin, stelle ich die Temperatur auf angenehme 23 Grad und schiebe mein Werkzeug zurück in die Gesäßtasche. Ich höre das zufriedene Seufzen als endlich kein eisiger Hauch mehr aus den Lüftungen kommt. „Den Damen noch einen schönen Tag.", verabschiede ich mich. Die Sekretärin sieht nicht einmal auf, sondern tippt energisch und wenig Sekretärinnen-like auf ihrer Tastatur rum. Ein Ein- Finger-Suchsystem vom Feinsten. Ich schließe hinter mir die Tür und streiche mir über die gänsehautbedeckten Arme. Es war wirklich eisig da drin. Ich drücke auf den Knopf für den Fahrstuhl und sehe aus dem Augenwinkel, wie die Assistentin auf mich zugelaufen kommt. Sie schafft es geschmeidig und grazil, trotz der gigantisch hohen Schuhe. „Eleen, oder?" Sie lächelt und ist die Erste, die meinen Namen richtig ausspricht und das ich ihn vorher fünfmal wiederholen muss. „Ja." „Vielen Dank, dass Sie das so schnell erledigt haben. Der frühere Hausmeister hat uns immer sehr lange warten lassen. Es hat ihm anscheinend Freude bereitet oder er wollte einfach nur nicht arbeiten." Small Talk. Ich verstehe den Sinn darin nicht. Während sie lächelt, kommen ihre schönen weißen Zähne zum Vorschein. Sie ist nur dezent geschminkt und das ist auch gut. Ihr Lächeln wird verlegen. Sie ist vielleicht Anfang zwanzig. „Ich bin übrigens Kaley." Sie reicht mir ihre Hand. Ich weiß nicht, warum sie es macht. Wir werden uns, abgesehen von den wenigen Malen bei der Wartung, sowieso nicht sehen. Ich deute ihr an, dass meine Hände schmutzig sind und sie zieht ihre Geste zurück. „Ich werde dafür sorgen, dass wir ihre Schaltung mal ersetzen. Die Kabel werden sich sicher noch öfter lösen." Die Tür zum Fahrstuhl geht auf und ich stelle mich in die hintere Ecke. „Okay, vielen Dank!", sagt sie und für einen Augenblick habe ich das Gefühl, dass sie noch etwas hinterher sagen möchte. Doch sie entscheidet sich dagegen. Kurz hebe ich meine Hand zum Gruß und sehe dabei zu, wie sich die Tür schließt. Ein leiser Seufzer perlt von meinen Lippen und verfliegt in der Stille des Fahrstuhls. Ich will hier keine Freunde finden, sondern einfach nur meine Arbeit machen. Auch zum Feierabend habe ich das Problem in der Heizungsanlage nicht gefunden. Der Winter rückt unaufhörlich näher, doch ich bin mir sicher, dass ich es bis dahin geschafft habe. Vorausgesetzt mein letzte Woche bestelltes Ersatzteil kommt irgendwann an und die Kollegen von der Montagehotline bequemen sich den Hörer abzunehmen. Ich verräume sorgfältig mein Werkzeug und stelle mich kurz unter die Dusche. Das warme Wasser auf meiner Haut ist wohltuend. Allerdings schleicht sich schon wieder der Geruch des ranzigen Öls in meine Nase. Das Gefühl eines öligen Films legt sich auf meine Haut. Egal, wie stark ich darüber rubbele, egal wie viel Schaum sich bildet, das Gefühl verschwindet nicht. Ich bin müde und ausgelaugt. Ein paar Minuten warte ich auf die U-Bahn, finde einen freien Platz und setze mich, spüre den kühlen Kunststoff durch meine Hose. Ich schließe die Augen und lasse mich völlig in die sanften Vibrationen der startenden Maschine fallen. Die wechselnden Bewegungen. Das stetige Ein- und Aussteigen. Die Gerüche. Schweiß, verschiedene Düfte und manchmal auch Seife. Im Moment ist mir jeder Geruch recht. Ich spüre eine Bewegung neben mir und öffne die Augen, lasse meinen Blick über die benachbarten Sitzplätze wandern. Menschen jeden Alters. Eine Frau lächelt. Ein Kind weint. Ein Herr stiert stur aus dem Fenster, in die nichtssagende Dunkelheit der U-Bahntunnel. Viele starren auf ihre Handys. Spielen, tippen und lesen. Kaum jemand hält ein Buch. Nur eine einzige Person in meinem Abteil. Mein Blick haftet sich auf gepflegte schöne Hände. Sie halten ein dickes, zerfleddertes Buch mit hunderte Eselsohren, die die Seiten auseinander drücken. Ein Lederarmband an seinem linken Handgelenk. Er trägt einen teuren dunkelblauen Pullover und darüber eine schwarze abgewetzte Lederjacke. Sein Zeigefinger tippt stetig eine Melodie gegen den vergilbten Einband. Ein dreiviertel Takt. Ich versuche den Titel des Buches zu erkennen, doch es gelingt mir nicht, denn meine Augen stoppen bei der kleine Narbe an seinen Fingerknöchel des Mittelfingers. Mit jedem weiteren Blick wird der Schlag meines Herzens zum Trommelwirbel und ab diesem Moment sind alle anderen Personen in dem Waggon nichtig. Das unerwartete Wiedersehen eines bekannten Gesichtes. So vertraut, bewusst und doch fremd. Seine Gesichtszüge sind markanter. Die weichen Linien seines Kiefers sind schärfer. Die Wangenknochen zeichnen den maskulinen Ausdruck, der schon damals erahnt, aber durch die kindlichen Formen verdeckt war. Seine Augen sind so ausdrucksstark, wie früher. Nur leicht blitzt das warme, helle Braun durch seine Wimpern, denn sein Blick ist gesenkt. Die Bewegung seiner zeilenfolgenden Pupillen lässt sich nur erahnen. Seine Haare sind dunkler. Sein Mund ist noch derselbe, wie damals. Die Form seiner Lippen. Die Erinnerung an das verschmitzte Lächeln. Seine Haut zeigt die zurückgebliebenen Zeichen einer wilden Kindheit. Die Narbe an seiner Unterlippe. Ein Überbleibsel eines Unfalls mit viel Blut und dem lauten Gelächter, das er sich hatte nicht verkneifen können. Ich habe geweint und mit jeder Träne hat er lauter gelacht. Dabei strich er sanft über meinen Kopf, murmelte zwischen Lachern beruhigende Floskel. Doch nichts hatte mir in diesem Moment helfen können. Noch heute überfällt mich das schlechte Gewissen, sobald ich eine Schaukel sehe. Er hatte sie mit voller Wucht ins Gesicht bekommen und ich war daran schuld. Meine Augen wandern über weiteren von Erinnerungen gefüllten Blessuren, wie auch ich sie an meinem Körper trage. Ich sehe sie nicht, doch sie sind mit vertrauter und bewusster, als alles andere in meinem Leben. Unter seiner Jacke eine Verbrennung am linken Unterarm. Eine Bruchnarbe an seinem rechten Knie. Die Blinddarmnarbe an seinem rechten Unterbauch. Auch jetzt habe ich das Gefühl die feste, unebene Haut unter meinen Fingern zu spüren als hätte ich sie erst gestern berührt. Seine Finger schlagen eine Seite des Buches um. Ich weiß noch immer nicht, was er liest. Ich spüre nur, wie mein Herz unkontrolliert und intensiv gegen meinen Brustkorb schlägt. Ich sehe den breiten Ring an seinem linken Mittelfinger. Die Symbole darauf erkenne ich nicht, doch ich bin mir sicher, dass sie keltischen Ursprungs sind. Ich höre, wie die Ansage meine Haltestelle durchgibt. Das Ruckeln und das langsame Bremsen, welches mir den Bahnsteig ankündigt. Meine Hand greift ungesehen nach der Haltestange und ich ziehe mich hoch, kann meinen Blick nicht von ihm abwenden. Ich spüre das heftige Schlagen meines Herzens, welches schimpft und schreit, wieso ich nicht zu ihm gehe. Wieso ich nicht seine Nähe suche. Doch ich kann es einfach nicht. Ich darf es nicht. Wer weiß, ob er mich wieder erkennt. Wer weiß, ob er mich erkennen will. Ich reiße mich los und gehe zur Tür. Das Warten darauf, dass sich die Tür öffnet, scheint endlos und nun sehe ich doch ein letztes Mal zu ihm. In diesem Moment sieht er auf. Direkt zu mir. Ich gehe dennoch raus, höre wie die Tür hinter mir zu schlägt und blicke zurück. Seine Handflächen drücken sich gegen das schmutzige Glas der Tür, wie damals als sie mich mit dem Wagen abgeholt haben. Ich erinnere mich an das verzweifelte Klopfen gegen das feuchte, regennasse Autofenster. Die Angst in seinen Augen. Ich kann sie wieder deutlich sehen. Die Tränen, als wir davon fuhren. Eine klischeehafte, traurige Erinnerung. Ich starre auf seine verkrampften Finger. Sie krallen sich in die Schutzfolie, die an den Seiten der Scheibendichtung abblättert. Ich meide bewusst seinen Blick, so lange bis der Zug sich in Bewegung setzt. Das warme Braun seiner Augen erfasst mich. Die Bewegung seiner Lippen. Sie formen energisch meinen Namen. Er muss ihn fast brüllen. Doch ich kann es schon lange nicht mehr hören. Er hat mich erkannt. Seine Faust schlägt gegen den Rahmen der Tür. Ich bin erfüllt von den Erinnerungen und sehe dabei zu, wie der Zug in der Dunkelheit verschwindet. Richard, der Freund meiner Kindheit. Mein Verhängnis. Mein Geheimnis. Mein Herz. Für ihn habe ich 4 Jahre im Gefängnis gesessen und ich habe es keinen Tag bereut. Kapitel 2: Plattitüden und Phrasen ---------------------------------- Kapitel 2 Plattitüden und Phrasen Als ich die Tür zu meiner Wohnung öffne, höre ich bereits das energische Klingeln des Telefons. Ohne, dass ich auf die digitale Anzeige sehen zu müssen, weiß ich, dass es mein Bruder Ewan ist. Er ist der Älteste meiner Brüder und der Einzige in meiner Familie mit dem ich noch Kontakt habe. Nach meiner Verhaftung brach meine Familie nach und nach mit mir. Meine Mutter verkraftete den Gedanken nicht und meine Brüder gewöhnten sich nur schwer an die Enttäuschung und die Stigmatisierung. Ein Familienmitglied im Gefängnis zu haben, war scheinbar nur schwer zu ertragen. Doch vor allem konnten sie die Gründe einfach nicht verstehen. Ihre Entfremdung war schleichend. Sie war schmerzhaft. Es ist das erste Mal seit Wochen, dass ich zögere ans Telefon zu gehen. Meine Gedanken drehen sich in diesem Moment nur noch um Richard und das Kontaktverbot, welches seit jenem Tag zwischen uns beiden herrscht. Schneidend und Unheilvoll schwebt es über uns und scheint jegliche Erinnerung mit einem mahnenden Stempel zu versehen. Noch einen Moment warte ich, doch das Geräusch reißt nicht ab, also gehe ich widerwillig ran. „Eleen... Na endlich!", nennt er als erstes meinen Namen. Ich schließe ermattete die Augen. Ich bin es so leid. „Hey, entschuldige, aber ich bin gerade erst rein", sage ich ruhe und klinge erstaunlich überzeugend. Von meinem Zögern ist nichts zu hören. „Viel zu tun?" „Ich kann nicht behaupten, dass ich mich langweile", kommentiere ich, lüge mit einer Ruhe, die mich selbst überrascht und lasse mich komplett angezogen auf die Couch fallen. Mein Kopf kippt nach hinten auf die Lehne und ich starre an die Decke. „Das höre ich gern..." Denn es bedeutet, dass ich keinen Unsinn anstelle. „Und wie geht es dir?" „Gut." Einsilbig. Eine weitere dieser Phrasen, die er jedes Mal abspielt. Sie können kein wahres Stimmungsbild abbilden. Diesmal bemerke ich ein Zögern auf der anderen Seite des Hörers. Vielleicht fragt sich Ewan zum ersten Mal, wie glaubhaft mein Gut ist. Ich mich auch. „Mutter hat nach dir gefragt", teilt er mir dann mit. „Hat sie das? Wie geht es ihr?", frage ich unaufgeregt retour und lasse mich wenige Augenblicke später einfach seitlich auf die Sitze kippen. „Soweit gut. Sie ist gesundheitlich etwas angeschlagen, aber Erik kümmert sich mit den Kindern um sie. Wir sind auch oft bei ihr." Er spricht von sich und seiner Frau Sora. Erik ist unser mittlerer Bruder. Meine Gedanken schweifen ab, während er mehr darüber berichtet, was in meiner Familie geschieht. Ich lasse meine Augen geschlossen und denke an den Moment in der U-Bahn zurück. In meinem Kopf läuft die Erinnerung in Zeitlupe ab und die Geräusche, die von ihm ausgehen sind ums tausendfache lauter. Die feine Reibung, die seine Finger auf den rauen Einband verursachten. Das Umblättern. Die Intensität des Moments wirkt auf mich ein, wie die Stille, die mich nach all den Jahren eingeholt hat. Sieben Jahre haben wir uns nicht mehr gesehen. Eine schier unendliche Zeit, doch jeder Versuch ihn zu vergessen, ist gescheitert. „Eleen, was ist los?" Die Stimme meine Bruders holt mich zurück. Er klingt genervt und ich kann hören, wie er seufzt. „Nichts", sage ich leise. „Nichts? Verarschen kann ich mich allein. Was ist los?", bellt er mir mahnend entgegen. Ich kann hören, wie er etwas notiert. Der Stift, den er benutzt kratzt geräuschvoll über das Papier. Ich seufze fahrig und bin mir nicht sicher, ob ich es ihm wirklich beichten soll. Die wöchentlichen Gespräche mit Ewan sind das Einzige, was mir von meiner Familie geblieben ist. Auch, wenn ich sie jedes Mal aufs Neue unangenehm finde. In ihren Augen ist vor allem Richard schuld daran, dass es soweit mit mir gekommen ist. Doch das, was passiert ist, war meine Entscheidung. Nur weiß das niemand und das ist gut so. Sie sind noch immer so sauer auf mich. Enttäuscht und zornig. „Eleen!" Eindringlicher. „Ich habe ihn gesehen", perlt von meinen Lippen. So leise, dass man denken könnte, er kann es nicht hören. „Wen?", hakt er vorsichtig nach. Auch das Schreiben stoppt, denn das Kratzen endet. Meine Fingerspitzen beginnen zu kribbeln und an meinen Armen beginnend, legt sich ein lauwarmer Schauer über meinen gesamten Körper. „Richard." Seit Jahren ist es das erste Mal, dass ich seinen Namen laut ausspreche. Ich sage ihn mit so viel Sanftheit, dass ich die Augen schließen muss. „Wie bitte? Wo hast du ihn gesehen?", fragt er streng und irgendwas Seltsames schwimmt in seiner Stimme. „In der U-Bahn auf dem Weg nach Hause. Er saß in meinem Abteil. Ich habe ihn nicht angesprochen und er..." Ewan unterbricht mich. „Du darfst keinen Kontakt zu ihm haben. Ich muss dich, doch nicht an deine Bewährungsauflagen und das Kontaktverbot erinnern." Nein, das muss er nicht. Ich atme ruhig, während mich mein Bruder weiter darüber belehrt, wie ich mich zu verhalten habe und noch immer wirkt die Gänsehaut, die die Härchen meine Haut im sanften Takt meines schlagenden Herzens tanzen lässt. Kein Kontakt zur Familie Paddock. Ich erinnere mich gut an die strengen Worte meiner Anwältin. An ihren durchdringenden, ernsten Blick, der sich bitterhart in meinen Verstand meißelte. Mehrere Mal ließ sie es mich wiederholen und irgendwann schluckte ich es still herunter. Genauso wie jetzt. Kein Kontakt zu dem Menschen, der mir einfach alles bedeutete. Ich nicke still, während weitere fordernde und warnende Worte durch den Telefonhörer dringen. „Hast du mich verstanden?" „Ja, selbst meine und deine Nachbarn haben dich verstanden", gebe ich bitter von mir und bleibe geknickt auf der Seite liegen. Keinerlei Vertrauen. In seinen Augen habe ich das auf Lebzeiten verspielt. „Eleen! Ich machen keinen Spaß." „Ich weiß." Gerade jetzt würde ich ihm alles versprechen, alles bestätigen und anstandslos abnicken. Denn es ändert nichts. Ich werde Richard vermutlich nicht wiedersehen. Ich weiß nicht, ob er hier lebt oder ob er nur zu einem Besuch in der Stadt ist. Die Wahrscheinlichkeit ihn wiederzusehen, ist gering. Aber, was weiß ich, denn ich habe auch gedacht, dass ein grundsätzliches Wiedertreffen unmöglich wäre. Bevor mich Ewan ein weiteres Mal maßregeln kann, beschließe ich das Gespräch zu beenden. „Ich bin müde. Mach's gut", sage ich nur noch leise und höre, wie Ewan noch versucht ein paar Worte an mich zu richten, doch ich lege auf. Noch einen Moment lang starre ich auf den ausgeschalteten Fernseher und sehe mein Spiegelbild. Es sieht erbärmlich aus, wie ich auf der Polsterung hänge und leise seufzend richte ich mich auf. Richard. Erst nur gedacht. Dann spreche ich seinen Name noch einmal leise aus. Er hat gut ausgesehen. Sein Gesicht ist schmaler geworden und markanter, doch noch immer sind die für mich so vertrauten Gesichtszüge zu erkennen. Die warmen, vertrauenserweckenden Augen. Die Form seiner Nase. Der schmale Nasenrücken, der an der Spitze einen leichten Bogen nach oben macht. Die schon immer feingeschwungenen Augenbrauen. Es ist als hätte sich sein Anblick in meinen Kopf gebrannt. Ein feines Seufzen perlt von meinen Lippen und ich genieße das sanfte Kribbeln, welches sich von meinem Bauch in allen meiner Glieder ausbreitete. Das Gefühl des Vermissens brennt seit langem wieder heiß in mir. Ich habe mir die Gedanken an ihn verboten, doch jetzt kann ich sie einfach nicht mehr stoppen. Ich lehne mich nach vorn und stütze meine Arme auf den Knien ab. Mein Gesicht lasse in die Handflächen fallen. Erneut sehe ich sein Gesicht hinter der dreckigen Türscheibe der U-Bahn. Der Ausdruck in seinen Augen. Abrupt stehe ich auf, gehe vom Wohnzimmer zum Schlafzimmer und hocke mich vor mein Bett. Ich lehne mich tief unter die Holzumrahmung und brauche einen Moment bis ich das gesuchte mit den Fingerkuppen ertaste. Vorsichtig ziehe ich es an mich heran. Zum Vorschein kommt eine kleine Holzkiste. Als ich sie öffne, weht mir der typische Geruch von altem Papier und Staub entgegen. Ich lehne mich gegen den Bettrahmen und nehme die Bilder heraus. Lass sie durch meine Hände gleiten. Eines der Fotos trägt das Datum von vor 10 Jahren. Ich drehe es um. Richard und ich. Wir haben uns die Arme um die Schultern gelegt und grinsen der Kamera entgegen. Es ist Sommer. Wir sind am See und ein leichter Wind streicht uns durchs Haar. Ich erinnere mich an das Geräusch von surrenden Insekten. An den Duft von Gras und Matsch. Unbeschwerte Zeiten. So viele Erinnerungen. Die dunklen Nächte, die oft kühler waren, als gedacht. Sein warmer, ruhiger Atem auf meiner Haut, der mich traf, während er schlafend neben mir lag. Er hat mich gewärmt. Bild für Bild sehe ich mir an, spüre, wie mein Verlangen den anderen wiederzusehen weiter entfacht. Ewans warnende Worte werden mehr und mehr zu einem stillen Flüstern. Bis sie vollkommen verstummen. Ein Bild mit Richards Gesicht. Es ist das letzte Foto, welches ich von ihm habe. Sein Gesichtsausdruck ist nachdenklich und fast melancholisch. In seinen Augen ein seltsamer Schimmer. Es sind Fotos aus einem kritischen Moment, denn zu diesem Zeitpunkt begann es zu enden. Mein Herz stolpert und ich lege das Bild beiseite. Ich will ihn wiedersehen, das schreit mir mein Herz so laut entgegen, so dass das Bedürfnis fast meinen gesamten Brustkorb sprengt. Lange betrachte ich einfach nur die festgehaltenen, stillem Momente meiner jugendlichen Erinnerungen. Bis tief in die Nacht hin. Irgendwann regt sich mein Magen und das knurrende Geräusch durchbricht die Stille des Raumes. Ich lege das Bild, welches ich gerade beschaue zur Seite und greife nach dem Wecker, der auf meinem Nachtschrank steht. Es ist bereits nach Mitternacht. In nur fünf Stunden muss ich wieder auf den Beinen sein, denn ich habe vor der Arbeit noch einen Termin bei meinem Bewährungshelfer. Ein netter älterer Herr, der mich immer erst nach meinem Befinden fragt. Es ist wie das stupide Abspielen einer immer währenden Schallplatte, die nichts als Plattitüden und Phrasen beinhaltet. Ich antworte ihm stets mit einem lächelnden Gut, den alles andere wurde Besorgnis bei ihm wecken. Ein einziges Mal habe ich es nicht getan. Seine Augen begannen aufmerksam zu funkeln. So als suchten sie die Anzeichen für eine zukünftige Katastrophe. Ich war einfach nur deprimiert, da ich an diesen Tag zum wiederholten Mal bei einen Bewerbungsgespräch abgelehnt worden war. Seine forschenden Fragen beantwortete ich sorgsam und beschwichtigend. Er ließ mich erst gehen, als ich ihm versprach am nächsten Tag noch einmal vorbeizukommen. Ich tat es. Ich antworte ihm positiv und die Sache war gegessen. Seither schlucke ich meine Gefühlsverfassung runter, lächle und nehme seine nichtssagenden und dennoch gut gemeinten Ratschläge an. So ist es auch diesmal. Ich bin müde von dem wenigen Schlaf, doch ich lächle, unterschreibe meine Anwesenheit und verschweige mein Zusammentreffen mit dem Freund meiner Kindheit, Richard Paddock. Für einen kurzen Moment stelle ich mir vor, was passieren wurde, sehe Bilder von einem hektischen Polizeieinsatz. Beamte, die mich mit Schlagstöcken und vorgehaltenen Waffen niederringen. Ich spüre förmlich die schweren Körper auf meinem Leib und erschaudere. Ich frage mich, ob mein Bewährungshelfen nicht wissen müsste, ob Richard hier in der Stadt lebt. Meine Augen wandern fragend, ob das faltige Gesicht des Mannes, der mir mit gespreizten Beinen gegenübersitzt. „Eleen, alles okay bei Ihnen?" Ich sehe ihn bei der wiederholten Frage nach meinem Befinden, verwundert an. „Natürlich. Ich denke nur unentwegt darüber nach, was das Problem an der Heizungsanlage sein könnte, an der ich zurzeit tüftle. Ich habe mittlerweile bestimmt jedes Teil einmal ausgetauscht." Mit dieser Erklärung gibt er sich vollends zufrieden. Sein zuvor aufmerksamer Blick wird wieder weich. „Ah, klingt nach einem großen Problem?" „Nur ein ungelöstes, aber ich arbeite daran." Ich lächele. Er nickt. „Gut, gut. Wie gefällt es Ihnen in der Firma? Werden Sie gut behandelt?", fragt er mich weiter und will nichts Negatives von mir hören. Wiederholt tippt die Spitze seines Stifts gegen das Papier und ich mal mir aus, welches Muster er bereits auf dem Blatt hinterlassen hat. „Ja, sie behandeln mich, wie jeden anderen auch." Wieder eine Lüge. Meine Kollegen gehen mir auf die Nerven. Sehr sogar. „Das höre ich gern." Das habe ich mir gedacht. „Ich habe viel zu tun und die Arbeit tut mir gut" „Gut, gut", wiederholt er und streicht einen weiteren Punkt auf seine Frageliste ab. Er liest einen Moment und ich sehe mich in seinem Büro um. Es ist klein und vollgestopft mit allerhand Kram. Etliche Bücher, viele Akten und bedenklich viele Bilder von Katzen. „Nun dann, ich habe keine weiteren Fragen. Haben Sie noch etwas, worüber Sie sprechen möchten? Liegt Ihnen noch etwas auf dem Herzen?" Nur etwas, was mein Herz komplett erfüllt. Er sieht mich aufmerksam an und ich schüttele den Kopf. Ich lächele. So, wie man es von mir erwartet. Wir vereinbaren einen neuen Termin und bevor ich gehe, sehe ich auf den Kalender neben seiner Tür. Noch ein weiteres Jahr werde ich diese Gespräche haben, bis meine Bewährungen endet. Ich seufze lautlos und schließe die Tür. Ich bin pünktlich auf Arbeit und ziehe mir in den Umkleideräumen meine Arbeitsklamotten an als ich meinen Spint schließe, steht plötzlich ein Arbeitskollege neben mir. Steven Pfennig. Er gehört zu der Gruppe, die mich wegen meinem Namen aufziehen. Ich sehe nur einen Moment zu ihm und binde mir dann die Schuhe zu. „Guten Morgen, Eleen!" Er zieht die 'E's übertrieben lang und ich schenke ihm einen bösen Blick, obwohl ich weiß, dass es ihm nur noch Ansporn geben wird. Es ist nicht die erste Konfrontation, die wir beide haben. Ich schließe die Tür zu meinem Schrank endgültig. Steven bewegt sich nicht. „Was willst du?", frage ich zähneknirschend als er mir weiterhin im Weg steht. „Hey, warum so unfreundlich? Ich will nur freundlichen Kontakt zu dir herstellen. Dem Neuen." Weitere Plattitüden und Phrasen. Der Klang seiner Stimme ist wenig freundlich, sondern manipulativ und überheblich. „Sicher", kommentiere ich ironisch und starte einen Versuch mich an ihm vorbei zu schieben. Sein Arm schnellt nach vorn und versperrt mir den Weg, indem er ihn auf Augenhöhe gegen Spind schlägt. Ich kann ihn nicht leiden, denn er ist einer dieser Typen, die sich einbilden etwas Besseres zu sein, nur weil ihr dauerndes aggressives Verhalten die Menschen einschüchtert. Solchen Typen, wie ihm bin ich im Gefängnis zu genüge begegnet. Sie sehen mich als einfaches, schwaches Opfer. Doch ich habe gelernt mich nicht provozieren zu lassen und mich angemessen zu wehren. Ich weiß, wie man beobachtet und noch so kleine Verfehlungen entdeckt. Bei Steven ist es ganz einfach. Er steht darauf Macht aus zu üben und das mit Vorliebe bei jüngeren. Viel zu jungen. Ich habe gesehen, wie er den Azubi Kai ansieht und wie er ihm verräterisch oft den Arm um die Schultern legt. Mehr als kollegiales und freundschaftliches Verhalten. Ich kenne diese Art der Berührung. Zu dem kompensiert er sein verkapptes homosexuelles Verhalten mit Gewalt und das ist keine gute Mischung. „Ich finde als Neuer solltest du dich besser einbringen. Du solltest dich beliebter machen, sonst wirst du es hier sehr schwer haben.", schwafelt er. Ich sehe auf seinen Arm und ihn dann an. Seine Gesichtszüge sind markant und streng. Seine Lippen sind schmal und seine Nase spitz. Seine Augen haben einen seltsamen und kaum bestimmbaren Ausdruck. Er ist gefährlich. Ein Geräusch in der Nähe sagt mir, dass wir nicht allein sind. Ich sehe zur Seite und erblicke den jüngeren Auszubildenden. Auch Stevens Blick geht zu ihm. „Und was hast du dir so vorgestellt?", frage ich ungerührt, sehe, wie seine Mundwinkel nach oben zucken und seine Aufmerksamkeit zurückkehrt. „Mir fällt da so einiges ein." Noch immer stemmt er seinen Arm direkt vor meinem Kopf gegen den Metallschrank. Ich spiele mit. „Hm, lass mich raten. Ich sollte euch einen ausgeben? Vielleicht von Zeit zu Zeit eure Arbeit machen? Dann und wann eure Schichten übernehmen." „Ich sehe, wir verstehen uns. Mach weiter. Ich denke da noch an andere Gefallen", erwidert er siegessicher, grinst und beugt sich weiter zu mir nach vorn. Er glaubt, dass er mich bereits in der Hand hat. Weit gefehlt. Ich kann seinen zigarettengetränkten Atem riechen und verkneife mir ein angeekeltes Gebären. „Gefallen? Die mit stillschweigen? Oh, jetzt weiß ich, was du willst. Du stehst drauf wenn man dir im Hinterzimmer einen bläst." Ich sehe, wie sich augenblicklich sein Kiefer anspannt. „Oh, verstehe schon, am liebsten wäre dir der kleine Azubi. Soll ich ein gutes Wort für dich einlegen?" „Was laberst du für ne Scheiße", bellt er murmelnd. Niemand soll es hören. „Ich sehe, wie begierig du ihn anstarrst. Steht er dir schon?" Seine Nasenflügel zucken und ich sehe ein zorniges Funkeln. „Halt dein Maul", knurrt er, packt mich am Hemd. Seine Hand verkrampft sich. Es ist nur eine Scheingebärde ohne viel Druck und Inhalt „Halt, ja dein Maul, sonst...", wiederholt er. Ich unterbreche ihn. „Sonst was? Lass mich in Frieden oder deinen kleinen Kumpel erfahren, dass du ein Auge auf den kleinen Azubi geworfen hast." Meine Stimme ist nur ein leises, böses Raunen. „Dir würde niemand glauben", spuckt er mir entgegen und lehnt sich dabei noch näher zu mir. Wieder rieche ich den Gestank nach kaltem Rauch und abgestandener Asche. „Bist du dir sicher? Im Gegensatz zu dir mögen ihn hier alle", merke ich an und verstärke seine Zweifel mit meinem spöttischen Tonfall. Nein, er ist sich nicht sicher. Der Zorn in seinen Augen wird kurz von Unsicherheit überdeckt. Ich hingegen bin mir sicher, dass in seiner Personalakte bereits ein derartiger Übergriff vermerkt sein wird. Er schluckt kaum merklich, doch ich sehe es. Das Gefängnis hatte auch sein Gutes. Es hat mich härter gemacht und aufmerksamer. „Du hättest es besser abstreiten sollen", flüstere ich ihm beim Vorbeigehen zu. Nur noch kurz sehe ich ihn an. Ich höre sein aggressives Raunen und das kurze feste Schlagen gegen die Metalltür eines der Schränke. Ich ignoriere es. Im Flur kommt mir der Bereichschef entgegen und ich erkundige mich gleich nach den angeforderten technischen Plänen der Heizungsanlage. Ich bereite ihn darauf vor, dass die Reparatur womöglich einen längeren Zeitraum in Anspruch nehmen könnte. Er nickt es ab und murmelt etwas von Herbst, dauert und wird sehen. Ich folge ihm in das Büro. Er beginnt in einem der großen Aktenschränke zu kramen, räumt hunderte lose Blätter heraus und reicht mir irgendwann drei Rollen. Noch während er den Schrank schließt klingelt das Telefon. Ich drehe mich zur Tür und will gehen, doch in diesem Moment bewegt sich ein Finger nach oben und er deutet mir an, dass ich warte soll. „... gut. Ja. Ich werde jemanden hinschicken. Ja. Natürlich. Gut." Damit legt er auf und sieht mich an. „Ich denke die Heizung wird noch etwas warten müssen. Wir benötigen Ihre Dienste." „Wie gut, dass sie nicht wegläuft", witzele ich zunächst und ernte einen verstörten Blick, „Was kann ich für Sie tun?" Sofort beginnt er mir von einem Objekt zu erzählen, spricht von Umzug und Erweiterung. Ich nicke es ab und frage mich nach seiner Ausführung noch immer, was ich damit zu schaffen habe. „Und was kann ich nun für Sie tun?", erfrage ich erneut, nachdem er zum Luft holen geendet hat. „Wir betreuen für einen Zeitraum beide Gebäude. Ich muss Sie also darum bitten, auch hin und wieder dort nach dem Rechten zu schauen und bei Anfragen den Mitarbeitern zur Hilfe eilen." Vom Hausmeister zum Laufmeister. Grandios. Immerhin komme ich so wenigstens an die frische Luft. Natürlich sage ich nicht nein. Bereits heute soll ich dort hinfahren. Ich stocke, denn das erste, was mir durch den Kopf geht, ist die Tatsache, dass ich heute nicht nachprüfen kann, ob Richard wieder in der Bahn sitzen wird. Die Hoffnung, dass er den Kontakt zu mir sucht und heute dieselbe Strecke fährt, schwelte den gesamten Morgen in mir. Still. Leise. Aber präsent. Nun sehe ich sie schwinden. Dennoch nicke ich es ab, lasse mir die Adresse, die Schlüssel und die Zugangscodes geben. Ich nehme die Pläne mit in den Aufenthaltsraum. Nur hier habe ich genügend Licht. Die Stimmen lassen mich auf sehen. Steven und ein paar seiner Freunde stehen am Getränkespender, auch der Auszubildende Kai ist dabei. Mein Blick wandert über sein angespanntes Gesicht. Er wirkt verschüchtert. Ich bereite die Pläne auf einen der Tische aus. Ich habe viele solcher Pläne gesehen, doch dieser ist das reine Chaos. Keine gute Arbeit. Wenn es in der Maschine ebenso aussieht, dann weiß ich, wieso nichts funktioniert. Ich lasse mir mit den Plänen Zeit. Studiere sie und bastele mir eine Taktik zusammen. Nach einer Weile spüre ich jemanden neben mir. Ich sehe in Kais jungenhaftes Gesicht. Seine Wangen sind gerötet. „Oh, ich wollte nicht stören. Ich will nur einmal schauen, was Sie sich hier ansehen!" Ein leichtes Stottern. Ich mache einen Schritt zur Seite und ihm damit mehr Platz. „Du störst nicht. Das sind die technischen Karten für die Heizungsanlage. Sie werden von den Firmen erstellt, die die Heizungen montieren und eigentlich auch warten." Er beugt sich dichter an den Plan heran. „Das sieht schwierig aus", sagt er erstaunt und fährt mit den Fingern einige Linie entlang. „Nur, weil du so etwas zum ersten Mal siehst." Ich lächle ihm zu, erkläre ihm die Bedeutung einzelner Linien und das Zusammenspiel der Abbildungen. Die Legende. Die Beschriftungen. Es gibt Normen, die man nachlesen kann. Kai nickt eifrig bis die Tür aufgeht und Steven wieder im Raum steht. Seine Augen funkeln. „Kai komm jetzt. Wir müssen in die dritte Etage. Wir haben richtige Arbeit zu machen!" Seine Stimme duldet keine Widerreden und obwohl er mit Kai spricht, sieht er mich an. Ich höre das leise gemurmelte Danke von Kai und sehe zu, wie er an Steven vorbei aus dem Raum verschwindet. Ich wende meinen Blick uninteressiert von Steven ab, doch er sieht mich noch eine ganze Weile an. Sein Blick scheint sich in mich hinein zu brennen und ich ahne, dass das mit ihm noch lustig werden kann. Mein Plan mich ruhig und unauffällig zu verhalten ist gescheitert. Kapitel 3: Die Begeisterung für die Kleinigkeit ----------------------------------------------- Kapitel 3 Die Begeisterung für die Kleinigkeit Bis zum Mittag arbeite ich an meinen Heizungsproblem. Ich entferne ein paar Teile ohne die Hauptmaschine berühren zu müssen. Keine Anzeichen. Keine Löcher. Keine Ideen. Ich bin langsam, aber sicher resigniert. Die Hitze in dem kleinen Raum hemmt meine Denkfähigkeit. Ich versuche mich zu sammeln und krame in den hintersten Ecken meiner Gehirnwindungen nach nützlichen Erinnerungen. Die Abdichtungen. Das Thermostatventil. In meinen Kopf bildet sich eine Liste belangloser Fakten, die überhaupt nichts mit dieser Maschine zu tun haben. Bei meinem Glück ist es etwas mit der Elektrik und dann gucke ich blöd aus der Wäsche. Meine verschwommenen Erinnerungen an Elektrik und Sicherungen verdanke ich den verschlafenden Momenten meiner Ausbildung. Bis heute schiebe ich die andauernde Müdigkeit auf den Mangel an frischer Luft und Freiraum. Ähnlich wie in diesem vermaledeiten Kellerraum. Doch diesen konnte ich wenigstens einfach öffnen. Unwillkürlich schließe ich meine Augen und fühle mich zurückversetzt. Das Gefühl der kühlen Metalltür unter meinen Fingern. Die Unebenheiten der Lackierung. Ich kenne sie auswendig. Der leichte Luftzug als die Tür auf geht ist herrlich und reißt mich zurück ins Hier und Jetzt. Ich schaue verwundert zur Tür. Nichts, doch plötzlich schiebt sich Kaleys Kopf hinein. Sie sieht erst zur falschen Seite und dann zu mir. „Oh, hier ist es aber warm", sagt sie und lächelt. „Und ich habe gehofft, dass ich die firmeneigene Haussauna noch etwas für mich allein habe", kommentiere ich ungewollt heiter und luge hinter den Heizungsrohren hervor. „Hast du nicht ein bisschen zu viel an für Sauna?", begegnet sie humorvoll. „Woher willst du wissen, wie viel ich wirklich anhabe?", frage ich berechtigter Weise, denn ich bin von einigen Rohren und Kästen verdeckt. „Touché" Ein leise Kichern. „Funktioniert schon wieder eure Klimaanlage nicht richtig?", frage ich und komme aus meiner Ecke hervor. „Nein. Nein, alles gut, abgesehen davon dass Beatrice anscheinend in ihren Wechseljahren ist und alle 10 Minuten die Temperatur verändert." Ich stelle mir die rundliche Sekretärin vor, wie sie hektisch vom Thermostat zu ihrem Schreibtisch stöckelte und wieder zurück. Dabei gibt sie quietschende, meckernde Geräusche von sich. Das Klackern ihrer hohen Schuhe. „Das erklärt, warum die Sicherungen so verschlissen sind", sage ich beiläufig und versuche das Bild der Schreibdame aus meinem Kopf zu bekommen. „Wahrscheinlich." Sie kichert mädchenhaft, trotz ihrer vollen tiefen Stimme und ich kann für einen Moment ihre schönen graden Zähne aufblitzen sehen. Es steht ihr. „Wie kann ich dir dann helfen?", erkundige ich mich. Sie tritt in den Raum und runzelte leicht ihre Nase. Kleine unscheinbare Fältchen schlängeln sich vom Nasenbein zur Spitze. Der Geruch muss für einen empfindsamen Geist grausig sein. Doch sie schenkt sich jeden Kommentar. Ihr schlanker, großgewachsener Körper steckt diesmal in einen körperbetonten schwarzen Rock und einen dünnen senfgelben Pullover. Ihr schöner dunkler Hautton bringt das satte Gelb zum Leuchten. „Ich möchte dich fragen, ob du Lust hast mit mir Mittag essen zu gehen?", erfragt sie als sie bei mir angekommen ist. Eine vorsichtige Frage und ich sehe sie verblüfft an. Mit so etwas habe ich nicht gerechnet und weiß auch prompt nicht, was ich antworten soll. „Nur, wenn du möchtest natürlich", rudert sie etwas zurück und lächelt dennoch hoffungsvoll. „Oh, danke, aber ich denke nicht, dass das keine gute Idee ist", gestehe ich. Ihr Lächeln versiegt und ich kann sehen, dass sie wirklich enttäuscht ist. Mein Bruder würde sagen, dass ich mich schon wieder selbst isoliere. Er hat Recht, doch auch ich habe dafür meine Gründe. Ich höre seine mahnenden Worte. Im Moment stelle ich ihn mir zusätzlich mit roten Warnschildern vor, was im Grunde eine komödiantische Note hat. Sein andauernder Tenor, der im Grunde nichts anderes sagte als ‚tue dies nicht und tue das nicht' geht mir auf die Nerven. Er meint es gut, doch ich bin es leid. Ich schüttele die Gedanken von mir. „Oh okay, das ist wirklich schade", höre ich sie sagen und beobachte die zögernde Bewegung zur Tür. Ein kurzer Blick zu mir, ein letzter Schritt raus, doch sie bleibt stehen, denn ich kann ihre schmale Hand am Türrahmen sehen. Ich halte die Luft an. „Bitte überleg es dir, ich würde mich sehr freuen. Ich muss sonst immer allein essen, da die Damen aus der Vermittlung mich nicht wollen und Beatrice ist bei den anderen Sekretärinnen. Die sind etwas zu tratschig und die anderen Herren...nun ja. Ich hätte gern eine angenehme Gesellschaft." Während sie spricht, neigt sie sich zurück in den Raum. Ich weiß, welche Herren sie meint und verstehe ihren Unwillen. Bei ihrem bittenden Blick schmilzt mein Widerstand, wie ein fallengelassenes Eis in der Sonne. Ein einziges Mittagessen wird schon nicht schaden. „Okay, aber ich muss mich erst ein bisschen sauber machen gehen." Sie lächelt erfreut als sie versteht, dass ich ja gesagt habe. Als ich an ihr vorüberkomme, erfasst mich ihr Strahlen mit Wärme und Wohltat. „Ich kann dir nicht versprechen, dass ich eine angenehme Gesellschaft bin", sage ich leise beim Vorbeigehen. Ihr Blick folgt mir über den Flur. Ich verschwinde im Aufenthaltsraum, wasche mir Hände und Gesicht. Am Spiegel gehe ich wissentlich vorbei. Der Anblick gefällt mir im Moment einfach nicht, somit blende ich ihn aus. Einen Moment lang denke ich darüber nach mich umzuziehen, entscheide mich dagegen und greife nur nach meiner Jacke. Gemeinsam verlassen wir das Gebäude und besuchen einen Imbiss, der ein paar Minuten entfernt liegt und verschiedene Leckereien verkauft. Ich entscheide mich für etwas Schawarmaartiges. Ich habe keine Ahnung, was es genau ist. Es riecht fremd und es ist scharf. Aber das mag ich. Wir setzen uns auf eine niedrige Mauer am Flussrand des nahegelegenen Platzes. Ich lasse meinen Blick über den gutbesuchten Ort wandern. Ein chaotisches, aber heiteres Treiben. Viele genießen ihre Pause. Eine Weile essen wir schweigend, aber hin und wieder sehe ich zu Kaley. Ihre schmalen langen Finger greifen beherzt zu den Pommes. Sie tunkt sie in Mayonnaise und danach in den Ketchup. Ich bin kein Freund dieser Kombination. Mein Blick wandert zu ihrem Gesicht. Ihre vollen Lippen glänzen im sanften Licht der Sonne und zum ersten Mal bemerke ich, dass sie eigentlich kurze Haare hat. Voll und kräftig. Ich dachte immer sie wären nur zusammengesteckt. Ich verstehe nicht, warum sie mich angesprochen hat. „Also im Moment bist du eher eine ruhige Gesellschaft, aber das ist auch ganz schön. Viel besser als die dummen Sprüche oder das ewige Gegacker." Erneut schenkt sie mir das hübsche Lächeln. „Wie lange hältst du es in dieser Firma schon aus?", frage ich etwas Neutrales. „Zu lange!" Ein heiteres Kichern folgt. „Ich bin jetzt seit zwei Jahren die persönliche Assistentin von Gerald Barson. Davor war ich ein halbes Jahr für seinen Vater tätig." Gerald Barson ist der Chef und Namensgeber der Immobilienfirma. Barson Immobilien Management. Ich sehe zu dem Stoffschild, das auf der rechten Seite meiner Arbeitshose prangt. „Der Job ist anstrengend, aber gut. Ich lerne viele interessante Leute kennen und das brauche ich auch. Ich möchte mich irgendwann selbstständig machen", erzählt sie mir und lächelt dabei. Ich folge ihrer Erzählung aufmerksam. Sie ambitioniert, offen und selbstbewusst. „Wie alt bist du?", frage ich sie gerade heraus, ohne wirklich darüber nachzudenken. Ich habe sie auf Anfang 20 geschätzt, aber wenn sie schon so lange hier arbeitet, kann das nicht stimmen. Sie lacht verlegen. „Sowas fragt man doch nicht." Ihr Gesicht ist nur halb so empört, wie ihre Stimme. Sie verdeckt beim Kichern ihren Mund und lächelt mir dann zu. Ich war kurz davor mich zu entschuldigen, doch ich sehe sie nur weiterhin neugierig an. „Ich werde es niemanden verraten, versprochen", beschwichtige ich. Kaley lacht. „Na gut, na gut, ich bin 27 Jahre alt", sagt sie hinter hervorgehaltener Hand. Sie blickt verlegen nach unten und scheint die kleinen Steinchen vor ihren Füßen zu zählen. Ihre Anzahl ist nicht zu erfassen. Ich glaube mich verhört zu haben und sehe sie verdutzt an. „Ohne Scheiß?", gebe ich wenig galant von mir und mir fällt etwas Fleisch von der Gabel. Ich bin wirklich überrascht, denn ihr schönes, strahlendes Äußeres spricht von unschuldiger Jugendlichkeit. „Ist deine Reaktion positiv oder negativ?", fragt sie mich vorsichtig und ich sammle ein paar Fleischstücke von meiner Hose. „Absolut positiv, ich habe dich viel jünger geschätzt." „Wie freundlich, aber nein. Ich habe, bevor ich hier angefangen habe Immobilienrecht studiert", erklärt sie und isst summend weiter. Ihr Kopf bewegt sich im Takt einer stillen, heiteren Musik. „Dann arbeitest du, aber weit unter deinen Qualifikationen, oder?" Sie nickt. „Im Moment. Aber ich möchte bald meine eigene Firma eröffnen und dafür benötigt man Kontakte. Die bekomme ich hier. Ich mache mir unter bestimmten Leute einen Namen und das ist wichtig." „Rechtfertigt das die Quälereien?", erfrage ich und male mir aus, wie anstrengend der Job einer Assistentin sein kann. Doch insgeheim denke ich an die Darstellungen in Filmen und die sind stets unmenschlich und übertrieben. So macht es mir den Anschein. „In diesem Geschäft muss man sich durchbeißen können und wenn das heißt, man muss von Gerald Barson gequält werden, dann muss ich da durch. Wie sagt man, was einen nicht umbringt macht einen stark?" „Ja, mit dem gehe ich konform. Ich denke, du musst schon viel drauf haben, wenn dich der Chef als Assistentin behält." Ich wische mir ein wenig Soße von den Lippen und blinzele sie nur noch an, weil mir die Sonne nun direkt ins Gesicht strahlt. Die Wärme auf meiner Haut ist angenehm. Ich schließe die Augen und denke an die Jahre im Gefängnis zurück. Was einen nicht umbringt, macht einen stark, wiederhole ich in Gedanken und seufze leicht. Kaley ist so eine intelligente, starke Frau. Ich fühle mich etwas eingeschüchtert, weil ich noch weniger verstehe, wieso sie gerade mich als Gesellschaft gewählt hat. „Was ist mir dir?" Sie steckt sich einen Pommes in den Mund. Etwas Mayonnaise bleibt an ihren dunklen Lippen kleben. „Ich warte Heizungen und Klimaanlagen", sage ich flach und sehe auf mein Essen. „Und damit bist du der Held der dritten Etage" Ich sehe verwundert auf, denn in ihren Worten liegt kein Spott, kein Hohn. Kaley meint es wirklich freundlich und ernst. Ein seltener Moment für mich. „Weil ich euch nicht erfrieren lasse? Das ist doch das Geringste." „Dafür bin ich dir ewig dankbar!" Ihre schmale Hand legt sich auf meinen Arm. Ich zucke bei der Berührung unbewusst zusammen. Sie merkt es und nimmt ihre Hand wieder weg. Ich kann sehen, wie sich in ihren tiefbraunen Augen Fragen bilden, doch sie spricht sie nicht aus. „Ich kann euch noch nicht versprechen, dass ihr im Winter nicht doch erfriert, denn ich finde den Fehler in der Heizungsanlage nicht!" Ich versuche amüsiert zu klingen. Ihr seltsamer Blick wird wieder weicher und sie beginnt erneut zu schmunzeln. „Oh weh, also sollte ich schon mal mit dem Shopping von Thermounterwäsche beginnen?" „Besser wäre es. Vielleicht auch ein paar dicke Pullover! " Ich hole mein Handy aus der Tasche und sehe, dass die Pause gleich vorbei ist. „Ob ich meine Shopping-Tour als Firmenausgabe absetzen kann?" Einen Versuch ist es wert. Ich blicke auf die Reste meines Essens. „Du hast einen sehr ungewöhnlichen Namen. Hat er eine Bedeutung?" Während Kaley das fragt, sehe ich auf. Ich spüre ein widerwilliges Kribbeln auf meiner Zunge, doch ich schlucke es runter. „Ja, im allgemeinen Sinn schon." „Und?" „Jeder Name hat die Bedeutung, die du ihm beimisst. Für mich hat er keine nennenswerte", sage ich ausweichend und fahre mir über die Lippen. „Wir sollten zurück!", sage ich nach einem weiteren Blick auf die Uhr. Sie schaut ebenfalls auf die Uhr, schiebt sich die letzten Kartoffelstäbchen in den Mund und wir gehen los. Ich nehme ihr den Essensbehälter ab und suche einen Mülleimer zum Beseitigen. Die Menschenmassen verhindern einen weit reichenden Blick. Gruppen, Paare und einzelne Personen, die reden und essen. Zu viele Bewegungen. Ich entdecke einen Mülleimer am anderen Ende des Platzes und schiebe mich durch die Massen. Ein kurzes Anrempeln. Entschuldigend drehe ich mich um, doch mein Blick wandert an dem verärgerten Gesicht vorbei als ich eine Bewegung im Hintergrund bemerke. Die Lederjacke. Die dunklen Haare. Seine ungewöhnlichen hellbraunen Augen. Er sieht nicht zu mir, doch ich bin mir sicher, dass es Richard ist. Entschlossen schiebe ich mich an dem Herren vorbei, ignoriere das Gezeter und werde durch eine Gruppe junger Frauen blockiert. Aufgeregtes Kichern und lautes Lachen. Ich murmele Entschuldigungen, doch als ich an der Gruppe vorbei bin, kann ich Richard nicht mehr sehen. Mehrmals drehe ich mich um die eigene Achse. Ich kann ihn nicht mehr ausmachen. Der Wunsch ihn zu sehen ist stark. Habe ich es mir nur eingebildet? Im nächsten Moment bin ich mir nicht mehr sicher. Ich seufze verzweifelt und enttäuscht. Gedankenverloren schmeiße ich die Essensreste weg und suche Kaley am Rand des Platzes. „Alles okay?" Sie lächelt mich an und ich nicke. Ihr Lächeln erwidern kann ich in diesen Augenblick nicht. Noch ein letztes Mal sehe ich zurück und spüre die Sehnsucht nach dem anderen heiß in mir brennen. Mit einem seltsamen Gefühl in der Brust folge ich Kaley zurück ins Hauptgebäude. Am Nachmittag mache ich mich auf dem Weg zur anderen Immobilie. Ich brauche fast 20 Minuten und seufze bereits jetzt über die kommenden Pendeleien. Ich hoffe inständig, dass die dortigen Mitarbeiter intelligenter mit der Technik umgehen als die hiesigen. Andererseits bedeute die Fahrerei auch Ruhe und Entfernung von nervigen Kollegen und Konfrontationen. Der Gedanke gefällt mir immer mehr. In der U-Bahn betrachte ich den Plan für das Straßennetz. Ich kann mit einem Bus zu meiner Wohnung fahren. Eine willkommene Abwechslung. Unbewusst lasse ich meinen Blick durch den Waggon wandern. Kein bekanntes Gesicht. Nur nichtssagende, erinnerungsleere Fassaden. Ich denke an Richard. Ob er vielleicht wirklich hier wohnt? Meine Augen wandern weiter über das Nahverkehrsnetz, über farbige Linien und die unbekannten Stationsnamen. Ich bleibe bei den potenziellen Stadtvierteln stehen, lese die Namen und spüre Unwissenheit. Richards Familie besitzt viel Geld. Also kommen nur gute Viertel mit gute Schulen in Frage. Ich denke an seine Mutter und auch an seinen Vater. Mir wird ganz flau. An der richtigen Haltestelle steige ich aus und stehe nach wenigen Minuten vor dem gigantischen Gebäudekomplex. Es ist definitiv eine Firmenerweiterung. Aus Mangel an Sicherheitspersonal im Foyer gelange ich ohne Probleme ins Innere. Keine Fragen. Keine weiteren Mitarbeiter. Ich möchte nicht wissen, wie viele unbefugte Personen in diesem Haus ein- und ausgehen. Mit den Schlüsseln bin ich schnell im Keller und sehe mich eingehend um. Alles in Ordnung. In der zweiten Etage treffe ich doch auf einige Mitarbeiter der kleinen aufgekauften Immobilienfirma. Ich lasse meine Nummer da. Sie machen einen genauso inkompetenten Technikeindruck. Dafür machen die Anlagen im Keller insgesamt einen deutlich besseren Eindruck. Sie sind hochwertiger und neuer. Ich bin begeistert, so sehr man sich eben für Metallrohre und Ventile begeistern kann. Die anderen Stockwerke des riesigen Gebäudes sind leer. Nach einem Rundgang blicke ich auf die Uhr. Es ist bereits nach 17 Uhr. Ich mache mich auf den Weg zurück in meine Wohnung. Als ich in den Bus steige, wird mein Herz schwer. Ob ich ihn vielleicht wirklich verpasse? Sucht er nach mir? Mein Herz pumpt heiß Blut durch meine Adern. Erneut schreit warnende Achtung durch meinen Kopf. Doch der Wunsch, dass er es vielleicht wirklich nach mir sucht, brüllt lauter. Die kühle Luft, die mir entgegen schlägt, als ich aus dem Bus steige, ist wohltuend und lindert mein erhitztes Gemüt. Ich fahre mir durch die, dunklen Haare und schlendere fast gemütlich die Straße zur meiner Wohnung entlang. Diesmal komme ich von der anderen Seite und entdecke einige Geschäfte, die mir vorher noch nie aufgefallen sind. Ein Büchergeschäft. Klein, aber dennoch einladend. Seit ich aus dem Gefängnis entlassen wurde, lese ich nicht mehr gern. Es erinnert mich zu sehr an die Einsamkeit und an die fantasievollen Augenblicke, in die ich Mittels der Bücher geflohen bin. Es erinnert mich zu sehr an die Zeit im Gefängnis. Daneben befindet sich ein Frisör. Gut zu wissen. Ein Laden mit orientalischen Lebensmitteln folgt. Der Duft von Curry und Zimt weht mir entgegen. Für einen Moment bleibe ich stehen und betrachte die ungewöhnlichen Früchte und Gewürze. Vieles davon habe ich noch nie gesehen oder gegessen. Mit einem Blick zurück gehe ich weiter. Einige Meter vor dem Hausaufgang meines Wohnhauses bleibe ich stehen. Den Schlüssel in meiner Tasche ziehe ich über meinen Mittelfinger und lasse den Ring einen Moment rotieren. Ich habe das Gefühl, dass etwas anders ist als sonst. Mein Blick fällt auf das schwarze Auto am rechten Seitenstreifen. Es steht einige Meter von meinem Häuserblock entfernt und ist bedenklich schlecht eingeparkt. Ein Mann sitzt darin. Sein Kopf ist geneigt und er scheint irgendetwas zu schreiben. Der Schlüssel in meiner Hand fällt zu Boden. Ich hebe ihn auf, doch als ich wieder nach oben komme und zu dem Auto schaue, kann ich sehen, wie der Mann darin zu mir blickt. Eine Sonnenbrille versperrt mir die Sicht auf seine Augen, dennoch bin ich mir sicher, dass er mich anschaut. Er startet den Wagen und fährt los. Einen Moment sehe ich ihm nach. Seltsam. In meiner Wohnung angekommen, habe ich das dringende Bedürfnis zu lüften. Es ist stickig. Ich öffne alle Fenster und lasse mich auf die Couch nieder. Ich drehe meinen Kopf zu beiden Seiten und spüre, wie mein Hals knackt. Die rote Leuchte an meinem Telefon beendet meine Bewegungen. Eine Nachricht. Ich stehe wieder auf und betätige den Knopf für den Anrufbeantworter. Eine elektronische Stimme erklingt und kündigt mir einen aufgezeichneten Anruf an. Das penetrante Piepen zerreißt die Stille des Raumes. „..." Nur ein Rauschen. Das Kramen in einer Tasche und dann ein Räuspern. Nichts, dann ein Klicken. Die Nachricht endet, ohne ein Wort. Vermutlich nur verwählt. Wiederholt bildet sich ein eigenartiges Gefühl in meinem Bauch. Kapitel 4: Der vertraute Fremde ------------------------------- Kapitel 4 Der vertraute Fremde Das seltsame Gefühl begleitet mich durch die ganze Nacht. Als ich erwache, halte ich das Kissen in meinen Armen, drücke meine Nase in den weichen Stoff und habe zum ersten Mal seit langem das Gefühl unbändig allein zu sein. Und obwohl mein Verstand dem widerspricht, komme ich nur schwer aus dem Bett. Ich bin unkonzentriert und meine Gedanken wandern ständig zu dem Moment in der U-Bahn zurück. Sein Blick. Er schien sich förmlich auf meiner Haut zu brennen. Jedes Mal, wenn ich daran denke, bekomme ich Gänsehaut, die von den empfindlichen Stellen an meinem Hals bis zu meinen Zehen reicht. Ich habe das Gefühl, dass die aufgerichteten Härchen meiner Haut an meiner Kleidung reiben. Auch jetzt spüre ich es und fahre mir mit den Händen über die Oberschenkel. Ich habe nicht geglaubt, dass meine Begierde nach Richard noch einmal diese Ausmaße annehmen würde. Ich habe sie stets gut unter Kontrolle gehalten und mir eingeredet, dass es alles besser so sei. Das ihn nicht mehr zusehen das Beste ist. Es waren die ersten Monate im Gefängnis, die mich schier ausgebrannt haben, denn heiß und schmerzhaft flammte die Sehnsucht in mir. Ich habe mich dazu gezwungen zu vergessen und zum Teil auch zu verdrängen. Meine Gefühle schwelen seither im Untergrund. So ist es besser für mich. Meine Augen wandern über die erhabenen Buchstaben am metallischen Kessel im Heizungskeller. Die Seriennummer. Ich präge sie mir unbewusst ein und strecke meine Hand danach aus. Meine Finger gleiten darüber, spüren die feinraue Oberfläche und die Kanten, deren Bedeutung ich nicht ertasten kann. Ich kann sie nur sehen. Ein Blick auf die Uhr und ich räume meine Sachen zusammen. Im Aufenthaltsraum führe ich mir noch einmal die Konstruktionspläne zu Gemüte und nehme mir vor, am nächsten Tag mit der Firma in Kontakt zu treten. Als ich die Pläne wieder zusammen rolle, betreten Steven und Kai den Aufenthaltsraum. Steven lacht kehlig und schlägt dem schlanken Kai heftig gegen die Schulter. Die Hand bleibt in seinem Nacken liegen. Kais Schultern ziehen sich unmerklich nach oben und seine Hände schieben sich tiefer in seine Latzhose. Das verlegende Lächeln entblößt schiefe, aber weiße Zähne und zeigt mir wie unangenehm ihm die Situation ist. Ich beobachte, wie sich Steven zu dem jungen Mann beugt und lächelnd etwas in sein Ohr flüstert. Kais Wangen färben sich rot und nur an der Bewegung seiner Lippen sehe ich, dass er stottert. Auch sie machen Feierabend. Als mich Steven sieht, vergeht ihm das Lachen und er nimmt seine Hände vom Auszubildenden. Ich folge ihnen mit meinem Blick bis sie hinter den Schränken verschwinden. Zu hören ist das Öffnen von Türen, das Rascheln von Kleidern. In meinem Inneren beginnt es zu brodeln, denn das Bedürfnis den jungen Azubi in Schutz zu nehmen, wächst mit jedem Tag, an dem ich mitbekomme, wie Steven mit ihm umgeht. Vielleicht sollte ich Kai darauf ansprechen? Würde er sich mir an vertrauen? Wieso sollte er? Es sei nicht so schlimm, formuliert sich mit Kais nachgeahmter Stimme in meinem Kopf. Ich habe etwas Ähnliches durch. Damals sprach mich Richard darauf an und als ich es abstritt, war er wütend geworden. Noch jetzt spüre ich das beklemmende Gefühl in meiner Brust und auch die Furcht. Im Nachhinein weiß ich, dass die negierte Aussage das Ganze nur noch schlimmer gemacht hatte. Ob ich mit dem Chef reden sollte? Den Gedanken schüttelte ich schnell von mir. Das Schließen der metallischen Schranktüren ist zu hören. Erst geht Kai dicht gefolgt von Steven. Bevor er durch die Tür verschwindet, sieht er mich eindringlich an. Ich begegne seinen Blick warnend und wissend. Steven weicht meinem Blick aus. Erneut mahnt es in mir, dass ich mich nicht einmischen will. Eigentlich. Ich fahre mir mit der Hand über die Wangen und das Kinn. Erneut geht mir durch den Kopf, dass mein Plan, mich unauffällig und ruhig zu verhalten, langsam bröckelt. Als ich wieder allein bin, ziehe ich mich um und schließe die Pläne im Schrank ein. Für einen Moment lasse ich mich auf die kleine Bank vor dem Schrank nieder und lehne meinen Hinterkopf gegen das kühle Metall. Bei den meisten unserer Telefonate mit Ewan hatte er stets gemeint ich soll ein einfaches, ruhiges und normales Leben führen. Das wäre für alle das Beste, vor allem für mich selbst. Ich gab ihm damals Recht und schaffte es auch lange diesem Anspruch zu genügend. Doch seit ein paar Tagen scheint mein Leben wieder durcheinander zu geraten. Richards Anblick in der U-Bahn. Bei dem Gedanken wird mir sofort ganz warm. Ich schlucke leicht. Auch das fremde schwarze Auto jagt mir durch den Kopf. Die ungewöhnliche Reaktion kommt mir in den Sinn. War es Zufall, dass er in dem Moment, in dem ich aufblicke, losfährt? Was bedeutet der komische Anruf? Ich fahre mir ein weiteres Mal mit beiden Händen über das Gesicht und stehe wieder auf. Ich werde langsam immer empfindlicher. Sicher hat das alles nichts zu bedeuten. Trotz aller Beschwichtigungen bin ich auf dem Weg nach Hause im höchsten Maß Aufmerksamkeit. Beim Betreten der U-Bahn geht mein Puls nach oben. Meine Augen wandern unruhig über die anwesenden Gesichter. Doch nach diesem prüfenden Blick breitet sich Augenblicklich die Ernüchterung in mir aus. Nur farblose Gesichter. Ohne Inhalt. Ohne Erinnerung. Kein Richard. Als ich die Stufen zur U-Bahn hinunter gelaufen bin, habe ich sofort gespürt, wie vor Aufregung mein Puls nach oben ging. Vielleicht würde ich ihn wieder sehen. Ich wünschte es mir inbrünstig, auch wenn ich um die Konsequenzen weiß, die vor allem mir blühen. Ich vermisse ihn schon so lange. Umso schlimmer wiegt die Ernüchterung. Ich lehne meinen Kopf gegen die kühle Haltstange und schließe für die letzten Stationen die Augen. In mir brennt die Zerrissenheit. Niedergeschlagenheit wechselt sich mit dem beklemmenden Verstehen ab, dass es besser ist. Der Ärger über meine Feigheit paart sich mit dem beglückenden Gefühl ihn wenigstens einmal wieder gesehen zu haben. Die Erinnerung an sein Gesicht ist wie das Streicheln über samtig weiche Haut. Angenehm und befriedigend. Es sah aus als würde es ihm gut gehen und das ist das Wichtigste für mich. Die Durchsage meiner Station erklingt. Ich stehe auf ohne die Augen zu öffnen. Das Ruckeln deutet mir an, dass der Zug stillsteht. Erst jetzt schaue ich auf, sehe zu wie die Tür auf geschoben wird und trete raus. Der Pulk von Menschen zieht mich förmlich mit. Es ist der Strom eines belanglosen, wiederkehrenden Alltags, der mich womöglich für den Rest meines Lebens begleiten wird. In diesem Moment scheint die Erkenntnis jegliche Bewegung um mich herum einzufrieren. Geneigte Köpfe mit dem Blick auf den abgetretenen Boden. Immer die gleichen Wege, sodass man sie auswendig weiß. Geschlossene Lider begleiten den Gedanken an ferne Orte. Ich atme tief ein und treibe weiter im fließenden Nichts. Die Finger, die nach meinen greifen sind kühl. Feuchte Spitzen, die meine Fingerbeeren entlang streichen und jeden Moment den Kontakt verlieren. Ich bleibe erschrocken stehen und wende mich um. Die Berührung wird voller. Sie wird zu einem festen Griff. Seine kühlen Finger an meinem Handrücken. Ein letzter Schritt und er steht direkt vor mir. Richard. Die Elektrizität der Berührung, die den Hauch der Erfüllung durch meinen Körper jagt und die feinen Härchen meiner Haut aufrichtet. Seine warmen braunen Augen glänzen im matten Licht des U-Bahnhofs. Seine Haare liegen wirr und ein paar Strähnen streifen seine Stirn. Ich habe das Verlangen meine Finger danach auszustrecken und das fremde, doch so vertraute Gesicht zu berühren. „Eleen." Der Klang ist flehend, als wurde er sich unbedingt wünschen, dass ich es bin. Seine Stimme ist tiefer als ich sie in Erinnerung habe. Mein Puls rast und mein Herz jagt das Blut durch meine Venen, wie Wasser durch enge Stromschnellen. Ich blicke in die ausdrucksstarken Augen meines Kindheitsfreundes und weiß nicht, was ich sagen soll. Ich muss es auch nicht, denn ich spüre seine Hände, die sich sanft an meine Wangen legen, sehe das glückliche Lächeln auf seinen Lippen und spüre dann die Umarmung, die sich mit aller Kraft meines Körpers bemächtigt. Sein fremder Geruch, der hauchzart die Knospen der Erinnerung kitzelt und langsam das vertraute Gefühl in mir weckt. Erst rühre ich mich nicht, schließe nur die Augen und lasse die Kraft seiner Umarmung auf mich übergehen. Sie wird noch intensiver als ich vorsichtig meine Arme an seinen Rücken lege und meine Finger in den Stoff seiner Jacke kralle, um ihn dichter zu spüren. Seine Brust an meiner. Ich merke, wie sein Herz fest gegen seinen Brustkorb schlägt. Es kollidiert mit meinem eigenen, bis sie nach einen Augenblick im Gleichklang schlagen. Seine Hand in meinem Nacken. Erinnerungen und Bedürfnisse blitzen in mir auf. Wünsche und Sehnsüchte, die so tief in mir verborgen sind, dass ich sie kaum mehr vorhanden weiß. Jetzt kribbeln sie durch meine Glieder. Sanft und zart. Doch mit jeder weiteren Sekunde unserer Berührungen werden sie stärker. Ich weiß nicht, wie lange wir so beieinander stehen und es ist mir egal. Das Gefühl bei ihm zu sein, lässt mich alles vergessen. Ich spüre nur ihn. Es ist als wäre das das Einzige, was ich gebraucht habe. Nichts anderes. Als wir uns voneinander lösen, fühle ich die Kälte, die sich an den Kontaktstellen ausbreitet und bin enttäuscht. Noch immer hat er diesen Ausdruck in seinen Augen. Eine Mischung aus Unglauben, Freude und Furcht. Ich sehe, wie sein Blick über mein Gesicht wandert und dann auch meinen Körper hinab. Ich bin schmaler als früher, doch das wird er wahrscheinlich nicht merken. Seine Hand liegt an meinem Hals und wandert noch einmal zu meinem Gesicht. Das Gefühl seiner warm gewordenen Hände an meiner Wange ist atemberaubend und ich schließe genießend die Augen, sauge das Gefühl seiner Haut auf meiner ein. Eine weitere kurze Umarmung, als könne er es noch immer nicht richtig glauben. Ich kann es genauso wenig. Ein Lächeln in seinem Gesicht. Ich blicke auf die feine Narbe an seiner Unterlippe. Seine Unterlippe bebt in einem sanften Takt. In mir bereiten sich langsam die gleichen gemischten Gefühle aus, wie beim ersten Wiedersehen im Zug. Das Bedürfnis ihn festzuhalten. Ihm zu gestehen, wie froh ich bin sein Gesicht zu sehen. Doch spüre ich diese Zurückhaltung, die mich daran hindert, meine Freude zum Ausdruck zu bringen. Unmerklich mache ich einen Schritt zurück. „Es ist so schön dich wiederzusehen", flüstert er mir entgegen und fast sind seine Worte nicht zu hören, weil die ohrenbetäubenden Geräusche der abfahrenden Züge sie verschlucken. Dennoch ist seine Ehrlichkeit, wie Balsam, der sich wohltuend und heilend auf die Wunden der vergangenen Jahre legt. Sieben Jahre haben wir uns nicht mehr gesehen. Sieben Jahre, in denen ich jeden Tag an ihn gedacht habe. Eine Ewigkeit. „Richard." Ein Flüstern meinerseits. „Rick, sag bitte wieder Rick zu mir. Lee, ich..." Seine Hände wandern erneut zu meinem Hals. Er streicht mir mit dem Daumen an beiden Seiten die dunklen, mittellangen Haare zurück und versucht mich damit wieder zu sich heranzuholen. In Gedanken wiederhole ich unsere Namen, insbesondere den, den er mir gegeben hat. Lee. Nur er nennt mich so, denn er weiß, wie sehr ich meinen Namen hasse. Erinnerungen strömen auf mich ein. Unser erstes Aufeinandertreffen. Unsere ersten gemeinsamen Wochen im Sommer. Wir saßen eines Abends am See in Mitten von saftigen grünen Gras. Meine Mutter rief mich und mit jeder Wiederholung meines Namens sträubte ich mich mehr. Der Graus eines jeden neun-jährigen Jungen. Meine Finger entrissen der Wiese die grünen Halme. Sie färbten meine Hände ebenso satt und obwohl ich um das Geheimnis des leuchtenden Farbstoffs wusste, war ich fasziniert von der Ausdrucksstärke und Schönheit. Der Geruch von frischem Gras breitete sich auf meinen Fingern aus und ich liebte es. Richard beobachtete mich. Forschend und intensiv. Aus dem Nichts heraus sagte er, er würde mich ab sofort Lee nennen. Das würde viel besser zu mir passen. Lee, der, der das Grüne liebt. Die Wiese. Sein Lächeln und das angenehme Gefühl in meinem Bauch kitzeln mich noch heute. In diesem Moment so intensiv, wie damals. Und obwohl die von ihm erdachte Koseform meines Namens dem Bedürfnis meines Unwillens entsprach, ist er der Einzige, der mich beim vollen Namen nennen kann und mein Herz dennoch erblüht, wie die lichtflehende Knospe an einem verhängenden Frühlingsmorgen. Niemand weiß, dass er mich so nennt. Nicht einmal nach unserer Trennung habe ich es verraten, denn nur Rick sollte diesen Namen in den Mund nehmen. Ihn wiederzusehen und seine Stimme zu hören, ist das schönste Geschenk für mich. Doch neben der blindmachenden Sehnsucht und der unsagbaren Freude, beißt die warnende Obacht in mir. Es ist nicht gut, dass wir uns sehen. Ich bin noch immer auf Bewährung und das existierende Kontaktverbot schwebt unheilsam und schwer über uns. Ich schließe meine Augen. Ich entziehe mich seinen Händen und er lässt mich diesmal gewähren. Er versteht, warum ich zögere. Er weiß um die Konsequenzen, die auf mich warten, wenn jemand von unserem Treffen erfährt. „Du darfst nicht hier sein", sage ich leise und kann zu sehen, wie sich seine Kehle zu schnürt. Meine Worte widersprechen meinen Gefühlen. Ich mache erneut einen Schritt zurück, obwohl sich jede Faser meines Körpers nach seinen Berührungen sehnt. Seine Hand streckt sich nach mir aus, doch ich weiche weiter zurück. „Ich weiß...Aber als ich dich gesehen habe, konnte ich nicht...nicht..." Er spricht den Satz nicht zu Ende und sieht zu Boden. Sein Brustkorb hebt sich schwer und er atmet geräuschvoll aus. Er streicht sich durch die Haare und dann zieht er mich in eine abgelegene Ecke. „Fünf Minuten. Nur fünf Minuten. Ich möchte einfach nur wissen, wie es dir geht." Ich lasse meinen Blick über die Menschen in unserer unmittelbaren Umgebung wandern. Abgehetzte und grimmige Gesichter. Hin und wieder jemand, der lächelt. Wir fallen niemand auf. Noch immer wartet er auf eine Antwort und ich greife sachte nach seiner Hand, spüre das kühle Metall seines Ringes. Keltische Symbole, so wie ich sie mir vorgestellt habe. Meine Daumen streicht über die Oberfläche des Ringes und ich spüre die Zeichen erhaben hervortreten. „Ich habe so viel an dich gedacht. Es tut mir so leid, Lee." Seine Hand greift meine fester. „Hör auf, ich wusste für was ich mich entscheide und ich bereue es nicht. Mir geht es gut. Ich habe einen Job und komme zurecht", erkläre ich und will nichts von seinen Entschuldigungen hören. Der schuldbewusste Ausdruck verschwindet nicht aus seinen Augen, sondern scheint sich mit jeder Minute zu intensivieren. Wir haben nie die Gelegenheit erhalten, darüber zu reden. Nach meiner Festnahme wurde uns jeglicher Kontakt verwehrt und seither brodeln die unterschiedlichsten Empfindungen und Fragen in uns. „Ich hätte es nicht zulassen dürfen. Du hättest niemals die Schuld auf dich nehmen sollen. Ich hätte dafür grade stehen müssen", flüstert er mir entgegen und blickt zu Boden. Diesmal bin ich derjenige, der nach seinem Gesicht greift. Ich zwinge ihn mich anzusehen. In meinen Handflächen spüre ich das feine Pieken seiner Bartstoppeln und ich lasse meine Hände bewusst etwas darüber fahren um das Gefühl zu verstärken. „Wir haben uns richtig entschieden, Richard." Bewusst verwende ich seinen vollständigen Namen um meiner Aussage noch mehr Wirkung zu verleihen. Szenen der Nacht kommen mir in den Sinn. Sein hektischer Blick. Schuldbewusst und furchtvoll. Auch damals war ich es, der seine Hand genommen hatte, der die beruhigenden Worte sprach und das, obwohl ich nie der Stärkere von uns beiden gewesen bin. Ich erinnere mich an das Schließen der Tür. Das leise Klacken, welches in diesem Moment explodierend durch den Flur zu dringen schien. Richards Schläge gegen die Tür, doch ich ließ ihn nicht wieder rein. Sein Flehen. Sein Bitten. Ich atme tief ein und blende die Bilder aus. „Ich weiß nicht mehr, ob das stimmt." Es ist purer Schmerz in seiner Stimme schwingt und sein Blick lässt mich schwer schlucken. Zwei junge Mädchen gehen an uns vorbei und starren auf unsere ineinander greifenden Hände. Sie kichern und ich löse den Griff. Ein neuer Zug fährt ein und damit sind die 5 Minuten um. Ich sehe zu der vorbeiströmenden Menge und dann wieder zu Rick. „Ich muss gehen", sage ich, wende mich ab, doch er hält mich zurück. „Warte." Rick zieht sich den Ring vom rechten Ringfinger und legt ihn in meine Hand. Ich starre auf die fein ausgearbeiteten Runen. Er schließt meine Finger darum. „Ein Jahr noch, oder?" Die Frage überrascht mich und ich sehe ihn verwundert an. „Die Bewährung?" Nun verstehe ich und beginne zu nicken. Doch das änderte nichts. Das erwirkte Kontaktverbot seiner Mutter hinderte uns auch danach einander zu sehen. Sie erneuert es jedes Jahr. „Ich werde dafür sorgen, dass das Kontaktverbot abgehoben wird", ergänzt er und mein Nicken wird zu einem Kopfschütteln. „Und dann? Richard, das darfst du nicht machen. Sie werden Verdacht schöpfen und sich fragen, warum du..." Ich schlucke den Rest des Satzes runter. Die damaligen Zweifler würden durch so eine Aktion aufmerksam. Das darf nicht geschehen. „Lee, du verstehst das nicht. Ich wollte dir schreiben. Ich wollte dich sehen. Ich wollte an jedem verdammten Tag jeden Menschen auf diesem Planeten die Wahrheit ins Gesicht brüllen. Jedes Mal, wenn ich in die Augen meiner Mutter sehe, dann..." Ich unterbreche seinen Ausbruch lege einen Finger auf seine Lippen und schüttele erneut den Kopf. Mein Herz schlägt hart gegen meinen Brustkorb und als er erneut nach meinen Händen greift, habe ich das Gefühl, dass es aus mir heraus bricht. Tosend und heiß. „Du hast mir etwas versprochen. Erinnerst du dich?", erkundige ich ihn und sehe, wie er nickt. Seine Augen schließen sich. Ich will, dass er es wiederholt. „Das ich stark sein werde. Das ich mir keine Schuld gebe.", sagt er abermals. Es ist nicht mehr als ein fast tonloses Murmeln. Ich umfasse sein Gesicht auf beiden Seiten, streiche mit dem Daumen über seine Wangen. Richard lässt seinen Augen geschlossen. Ich spüre, wie er sich in meine Berührung lehnt. Seine Hände legen sich an meine Arme, fahren zerstreut über den Stoff meiner Jacke. „Nicht ich musste stark sein, sondern du, Eleen. Das bringt mich langsam um." „Ich kann nur stark sein, weil du es bist und du es immer für mich warst." Ein weiteres Mal streicht mein Daumen über seine stoppelige Wange. Ich horche auf den einfahrenden Zug, sehe die Masse an Menschen und beuge mich zu ihm vor. Meine Lippen streifen sein Ohr. Ich merke, wie er die Luft anhält. „Sei es weiter für mich", flüstere ich ihm zu, nehme beim Zurücklehnen einen kurzen Umweg über seinen Lippen. Nur ein Hauch. Ein Augenblick. Kein richtiger Kuss, doch es reicht aus um die verpuppten Schmetterlinge in meinem Bauch zu erwecken. Ich löse mich vollständig von ihm und verschwinde im Strom der Menschenmenge. Ich weiß, dass er mir nicht folgen wird, doch als ich aus dem unterirdischen Verkehrsnetz trete, blicke ich mich um. Nur unbekannte Gesichter. Noch immer habe ich das Gefühl Richards Haut unter meinen Fingern zu spüren. Vertraut und doch durch die vergangene Zeit befremdlich. Ich schließe kurz die Augen und blicke dann auf das Schmuckstück in meiner Hand. Der Ring wiegt schwer. Mein Blick wandert über ein weiteres Mal über die erhabenen Symbole und Runen. Sie sind eingerahmt durch den Rand des Ringes. Ihre glatte Oberfläche, die sich glänzend vom schwarzen Grund abhebt. Als ich meine Wohnung betrete, wütet noch immer der Sturm der euphorischen Aufregung in mir. Ein letztes Mal drehe ich Richards Ring in meinen Fingern und lächle. Die Bedeutung der Zeichen ist mir noch immer fremd, aber allein der Gedanke an dessen eigentlichen Träger erhellt mein Herz. Er hat mich nicht vergessen. Diese Worte flüstere ich fast vor mich her und obwohl ich es immer hoffte, war ich mir irgendwann nicht mehr sicher gewesen. Niemand hätte ihn daran hindern können ein anderes Leben aufzubauen. Ein Liebe zu finden und einen anderen Weg zu gehen. Niemand. Aber er hat es nicht. Kapitel 5: Die Fähigkeit zur Integration ---------------------------------------- Kapitel 5 Die Fähigkeit zur Integration Noch im Flur ziehe ich mir die Kleidungsstücke über den Kopf, lasse sie achtlos fallen und stelle mich unter die Dusche. Das zunächst kühle Wasser trifft fast warnend auf meinen Körper. Ich spüre es kaum. Ich stemme meine Hände gegen die ebenso kalten Kacheln und lehne meinen Kopf in den eisigen Strahl des Wassers. Ein Keuchen entflieht meinen Lippen und nach und nach merke ich, wie das Wasser wärmer wird. Erst als es heiß über meinen Nacken läuft, blicke ich auf und drehe am Regulierer. Ich lasse mir etwas Flüssigkeit in den Mund fließen, merke, wie es über meine Lippen und über meinen Hals läuft. Die Härte des Wassers kitzelt auf meiner Zunge. Es ist kalkhaltig und schwer. Die Rohrleitungen der Wohnung sind nicht mehr die Neusten. Ich neige meinen Kopf wieder nach unten, halte meine Augen geschlossen und genieße die Wärme auf meiner Haut. Das Wasser perlt meinem Rücken und meine Beine hinab. Ich spüre, wie es meine Oberschenkel entlang fließt. Stellenweise fein kitzelt. Ich mag das Gefühl. Eine ganze Weile stehe ich einfach nur da, lausche dem Geräusch des fließenden Wassers, fühle die Wärme. Nur mit dem Handtuch um der Hüfte lasse ich mich auf das Sofa nieder, schließe die Augen und sehe Richards Gesichtszüge. So wie oft in der letzten Zeit. Sein Kinn und die Wangen sind bedeckt mit leichten Stoppeln. Die Farbe seiner Lippen. Ich erinnere mich nicht an ihren Geschmack. Süß? Herb? Vielleicht eine Mischung aus beidem? Die Vorstellung schickt ein erregtes Kribbeln durch meinen Leib. Die Erinnerungen an unsere intimen Momente blitzen auf. Unschuldig und ohne Erwartungen. Wir haben es einfach nur gewollt, ohne über Konsequenzen und Normen nachzudenken. Ein Keuchen flieht von meinen Lippen, das in der Stille des Zimmers verhallt. Als wäre es nie da gewesen. Ich öffne meine Augen, lasse meinen Blick wandern und sie haften sich an das rote Blinken am Telefon. Ich spüre, wie mein Puls beschleunigt. Doch es ist nicht das Pulsieren voller Aufregung und positiver Erregung. Es ist allein der Unruhe geschuldet, die sich in mir ausbreitet. Nicht schon wieder. Was soll das? Ich setze mich aufrecht und starre einen Moment auf das rote Licht. Was werde ich diesmal hören? Zurückhaltend robbe ich über die Couch zum Telefon und nehme den Hörer ab. Noch während ich den Knopf drücke, schlucke ich. Die Ansage über eine nicht abgehörte Nachricht dringt an mein Ohr. Das Piepen und ich spüre, wie sich mein gesamter Körper anspannt. Ich halte die Luft an. Wieder ein Rauschen. Für mich fühlt sich Stille, wie eine unendliche Ewigkeit an, auch wenn es in Wirklichkeit nur einige Sekunden sind. „Eleen? Hier ist Ewan." Erleichtert atme ich aus und lasse mich in die gemütlichen Kissen meiner Couch zurückfallen. „Ich habe dich nicht erreicht. Ich wollte nur wissen, wie es dir geht und dir Bescheid sagen, dass ich mit deinem Bewährungshelfer gesprochen habe. Er hat mich angerufen. Er war besorgt, weil du beim letzten Termin etwas abwesend gewirkt warst. Melde dich bitte bei mir. Wir müssen darüber reden." Ewans Stimme beruhigte mich zu Anfang, doch als er meinen Bewährungshelfer erwähnt, merke ich erneut, wie sich meine Muskeln anspannen. Das kann doch nicht wahr sein. Reden bedeutet bei ihm nichts Gutes. Ich schalte das Telefon aus und lasse es zu Boden gleiten. Abwesend. Habe ich wirklich abwesend gewirkt? Ich lasse das Gespräch Revue passieren. Doch ich weiß nicht, was ihm schlecht aufgestoßen sein kann. Ungläubig sehe ich zur Decke und fahre mir durch die Haare. Ich dachte immer, dass ich meine Mimik und die Art und Weise, wie ich nach außen hin wirke, im Griff habe. Anscheinend nicht. Das ist gefährlich. Ich darf auf keinen Fall zu lassen, dass er von Richards Anwesenheit in dieser Stadt erfährt. Auf dem Weg zum Schlafzimmer komme ich an der Kommode vorbei, auf der der Ring liegt, den mir Richard gegeben hat. Ich taste danach, spüre das kühle Metall an meinen Fingerspitzen und betrachte wiederholt die gravierten Runen. Fünf Zeichen. Drei davon sehen völlig identisch. Es dauert einen Moment, doch dann verstehe ich, dass tatsächlich mein Name in keltischen Runen darauf steht. Richard trug all die Jahre einen Ring mit meinem Namen bei sich. Augenblicklich erfasst mich tief dringende Hitze. Ich denke an sein flehendes Gesicht zurück, welches mit jeder Minute meiner Anwesenheit weicher und glücklicher wurde. Mit dem Ring in der Hand gehe ich in mein Schlafzimmer und krame in meiner Sockenschublade nach einer alten Kette, die ich damals von meiner Mutter geschenkt bekommen habe. Ich finde sie in einer kleinen schwarzen Samtschachtel und lasse den Ring über die schmalen Kettenglieder gleiten. Einen Augenblick betrachte ich die Kombination und bin mir nicht sicher, ob es eine gute Idee ist den Ring bei mir zu tragen. Doch das Bedürfnis etwas von Richard an mir zu wissen ist in diesem Moment so dringend, dass ich nicht widerstehen kann. Ein weiteres Mal betrachte ich das Schmuckstück bis mir etwas Anderes auffällt. Ich schalte meine Nachttischlampe an und beschaue das Innere des Ringes. Eine Gravur aus Zahlen. Ich drehe den Ring ein paar Mal im Kreis. Es ist eine Telefonnummer. Mein Herz macht einen Satz. Meine Finger beginnen zu Kribbeln. Ist es wirklich das, wofür ich es halte? Ich atme tief ein, schließe die Augen und ziehe mir die Kette über den Kopf. Meine Hand drückt den Ring gegen meine Brust und ich lasse mich rückwärts aufs Bett fallen. Ricks Telefonnummer. Meine Finger streichen über das kühle Metall. Deshalb hat er gewollt, dass ich ihn nehme. Ein Zeichen seiner fortwährenden Zuneigung und die Möglichkeit der Kontaktaufnahme. Ich lausche dem Hämmern meines Herzens, welches durch die Stille des Raumes bellt. Werde ich den Mut haben? Mein Verlangen schreit bereits jetzt danach. Das Bedürfnis ihn zu spüren, brennt heiß. Ich lausche dem Geräusch meines Herzens. Es dauert lange bis ich eingeschlafen bin. Meine Träume sind wild und unglaublich lebhaft. Ich erwache hektisch atmend und mit dem Bedürfnis kalt zu duschen. Ich setze mich auf und fahre mir über den schweißnassen Hals. Es ist eine Weile her, dass ich derartige Träume gehabt habe und ich kann mir ein Lächeln nicht verkneifen. Ich lasse mich wieder ins Kissen fallen und blicke einen Augenblick an die Decke. Als ich meine Augen schließe, sehe ich wieder Ricks Gesicht. Ich atme tief und habe das Gefühl, seine Hände wieder auf meiner Haut zu spüren. Warm und liebevoll streicheln sie über meine Wangen. Seine Berührungen waren die Erfüllung eines lange in mir brodelnden Wunsches. Ich sehne mich nach dem Geschmack seiner Lippen, auch wenn ich mich nicht mehr an sein Aroma erinnern kann. Zu lang ist es her. Der flüchtige Kuss in der U-Bahn hat nicht gereicht. Ich lecke über das zarte Fleisch meiner eigenen Lippen und genau in diesem Moment, beginnt mein Wecker zu piepen. Ich schwinge die Beine aus dem Bett. Es ist kühler geworden und als ich die U-Bahn verlasse, bereue ich es keinen Schal zu besitzen. Ich ziehe den Kragen meiner Jacke höher und betrete das Firmengebäude. Noch ist es ruhig. Ich sehe mich in der großen Eingangshalle um und höre das schallende Umblättern einer Zeitung. Ich schaue zum Pförtner und hebe meine Hand zum Gruß. „Hey, de Faro, komm mal rüber." Verwundert bleibe ich stehen und sehe zu Micha dem Pförtner. Ein normalerweise sehr stiller Mann, der nur schwach winkt und dann wieder seiner Zeitung frönt. Er legt genau diese beiseite und blickt mich aufmerksam an. „Kann ich was für dich tun?", frage ich verwundert und er schüttelt seinen mit grauen Haaren bedecktes Haupt. „Nee, nee. Allet jut", antwortet er mir in seiner ungewöhnlichen Mundart. „Ich wollte nur Bescheid jeben, dass jestern jemand nach dir gefragt hat." Ich stocke und hebe eine Augenbraue nach oben, während er einen Block durchblättert. „Nach mir? Mit Namen und allem?", frage ich wieder ungläubig. „Ja, jestern jegen 18 Uhr. Ziemlich spät. Es war nen junger, blonder Mann", fährt er fort. Meine Stirn legt sich in Falten und ein unangenehmes Kribbeln beginnt in meiner Magengegend. „Was hat er gewollt?", frage ich, merke, wie mich mehr und mehr Verunsicherung erfasst. Ich fahre mir nervös mit den Fingern über die Arbeitshose. „Hat er nich jesagt. Hat nur nach nem Eleen de Faro gefragt und ob der hier arbeitet." Ich erwidere nichts, doch er mustert mein Gesicht und hebt abwehrend die Hände. „Ich hab ihm nix gesagt." „Danke", murmele ich leise und in meinem Kopf beginnt es zu arbeiten. Ich kenne eigentlich niemand in der Stadt. Ein junger Mann. Blond. Im ersten Moment denke ich an Richard. Im falschen Licht könnte er als blond durchgehen. Doch zu diesem Zeitpunkt hat er bereits am Bahnhof auf mich gewartet. Mir fällt die seltsame Situation mit dem plötzlich wegfahrenden Auto wieder ein. Doch in meiner Erinnerung war der Typ in dem Wagen nicht jung gewesen. Michas Stimme holt mich aus meinen Gedanken. „Haste irgendwelche Probleme?", fragt er mich neugierig. Ich schüttele mit dem Kopf. „Nur die Üblichen", gebe ich scherzend von mir und ernte tatsächlich ein amüsiertes Gelächter vom Pförtner. „Gibst du mir bitte Bescheid, wenn das noch mal passiert?" „Klar!" Damit hebt er nur noch kurz seine Hand und widmet sich wieder seiner Zeitung. Ich sehe zum Ausgang und schaue mir einen Moment die vorbeiziehenden Menschen an. Wer kann das gewesen sein? In meinen Magen breitet sich das seltsame Gefühl weiter aus und mit jedem Schritt zum Umkleideraum wird es intensiver. Als ich gedankenversunken die Tür öffne, stehe ich direkt vor Steven. Erschrocken hebe ich meine Hand auf die Höhe seiner Brust und rechne damit, dass er mich umrennt, doch er greift nach meinem Handgelenk und bleibt vor mir stehen. Ich spüre, wie die zurückfallende Tür gegen meine rechte Schulter schlägt. „Na, na. Du solltest vielleicht vorher die Augen aufmachen bevor du durch die Tür rennst", sagt er mit diesem grässlichen Unterton und ich entreiße ihm meine Hand. „Du solltest aufhören im Weg rumzustehen", kontere ich und sehe, wie sich seine Augen zusammenziehen, bis sie nur noch enge Schlitze sind. „Du solltest freundlicher zu mir sein." Wieder leicht drohend. „Würdest du mir BITTE endlich aus dem Weg gehen" Ich betone das Bitte besonders abfällig und sehe ihn unabsichtlich provozierend an. Sofort ärgere ich mich, aber nicht über Steven, sondern über mich selbst. Ich sollte ihn und seine Provokationen einfach ignorieren, doch ich reagiere allergisch auf die Art und Weise, wie er mit mir umgeht. Er dreht sich auf die Seite und als ich mich seitlich an ihn vorbeischiebe, drückt er mich fest mit dem Rücken gegen den Türrahmen. Seine Hand greift nach dem Kragen meiner Jacke. Ein erschrockener Laut rinnt über meine Lippen, aber ich fasse mich schnell und funkele ihn wütend an. In seinem Gesicht bildet sich ein überlegendes Grinsen. „Du kannst mich nicht einschüchtern oder bedrohen, Eleen." Erneut spricht er meinen Namen richtig aus, aber zieht die Vokale abwertend in die Länge. Ich gebe ein amüsiertes Geräusch von mir und beuge meinen Kopf nach vorn. „Ach wirklich, mir kommt es aber so vor als würdest du dich bedroht fühlen." Warum sonst sollte er mich derartig angehen? Ein Ruck und er drückt mich wieder heftig gegen den Metallrahmen der Tür. „Lass mich los", sage ich mit zusammengebissenen Zähnen und sehe ihn unverwandt an. Er weicht meinem Blick nicht aus. „Hast du Angst?", fragt er mich provozierend und ich nutze nun meine Position aus, in dem ich mein Bein hochziehe. Mein Knie befindet sich nun zwischen seinen Beinen. Noch berühre ich ihn nicht. „Wohl kaum. Ich möchte nur verhindern, dass du dich gleich vor Schmerzen auf dem Boden krümmst." In diesem Moment ziehe ich das Knie hoch und stoppe kurz vor seinem Intimbereich. Steven zuckt, aber auch ich stocke, als ich plötzlich seine eindeutige Härte spüre. Sofort lässt er mich los und zieht sich zurück. Ich bleibe überrumpelt stehen und sehe erst auf als ich eine Tür zuschlagen höre. Kai steht im Flur und sieht mich an. Ich warte bis er zu mir aufgeschlossen ist und halte ihm die Tür auf. Als er an mir vorbeigeht, murmelt er ein 'Guten Morgen'. „Morgen." Erwidere ich. Auch ich folge ihm in den Umkleideraum und stelle mich zu meinem Schrank. Ich öffne ihn nicht, sondern lehne meine Stirn gegen das kühle Metall. Mehr und mehr schießt die Hitze in meinen Kopf. Ich kann Steven noch immer an meinem Bein spüren und ein unangenehmes Gefühl breitete sich in mir aus. „Alles okay bei dir?", flüstert mir Kai vom anderen Ende der Spintreihe fragend entgegen und ich wende ihm mein Gesicht zu. Ich versuche zu lächeln und frage mich, wie viel er eigentlich gesehen hat. „Ja, alles okay." Nun einmal habe ich die Tür gehört und das, als Steven rausgestürmt ist. Ich sehe den jungen Mann an und beobachte, wie er es nicht schafft mich durchweg anzusehen. „In welchem Ausbildungsjahr bist du eigentlich?", frage ich ablenkend und stelle mich wieder aufrecht hin. Er kommt schüchtern auf mich zu und ich öffne meinen Schrank. „Im zweiten", antwortet er und schiebt seine Hände ganz charakteristisch in die Seitentaschen seiner Latzhose. Seine Schultern ziehen sich dabei nach oben. „Macht es dir Spaß?" Ich ziehe mir das T-Shirt über den Kopf und mein Arbeitsshirt über. Kai beobachtet mich. Sein Blick wandert an meinem sehnigen Körper entlang. Ich sehe, wie er nur kurz als Antwort zuckt und komme nicht umher darüber zu schmunzeln. „Na, das nenne ich Begeisterung.", kommentiere ich zusätzlich und sehe, wie sich der Azubi zu winden beginnt. „Ja, doch schon, aber manchmal ist es mir zu langweilig. Ich meine, wir machen bloß sauber und reparieren Kram. Da ist ja nichts bei", sagt er leise und in seinen Worten steckt ein Stück Kindlichkeit. Ich lächele und wechsele nebenbei die Hose. „Ich kann dir gern auch mal ein paar Sachen bei mir zeigen, aber dann siehst du nur rostige Heizungsrohre und ständig defekte Thermostate", erkläre ich und sehe ihn an. Noch immer richtet sich sein Blick direkt auf mich. Er starrt fast und scheint irgendwas loswerden zu wollen. „Was ist los?", hake ich nach. Kai atmet tief ein und ich sehe ihn auffordernd an. „Was war das gerade zwischen dir und Steven?", stottert er mir erstaunlich entschieden entgegen. Seine Wangen färben sich rot. Er hat doch mehr gesehen. „Er hat versucht mich einzuschüchtern. Das macht er gern, das weißt du ja." Ich schließe meinen Schrank und sehe erst zu dem Auszubildenden als dieser nichts erwidert. Im nächsten Moment geht die Tür auf und Steven brüllt nach Kai. Ich sehe, wie der junge Mann zuckt und dann an mir vorbeitrabt. Ich halte ihn kurz zurück. Er soll mich auf seiner Seite wissen. „Du bist hier nicht allein. Wenn du mal reden willst." Er sieht mich unsicher an und geht dann ohne etwas zu sagen weiter. Bevor ich zu meinem Freitagsrundgang aufbreche, schnappe ich mir das Telefon und setze mich mit der Heizungsfirma in Verbindung. Natürlich können sie sich nicht erklären, worin das Problem liegt. Ein näselnder Typ versucht mir zu verdeutlichen, wie alt das Modell ist, mit dem unsere Firma arbeitet. Er erklärt mir nichts Neues. Ich verdeutliche ihm, dass bei der Montage Fehler aufgetreten sein müssen. Er wiegelt es ab. Seine nasalen Wörter werden immer länger und teilweise höher, während er versucht, mich davon zu überzeugen, dass bestimmt keine Montagefehler gemacht wurden. Ich verweise ihn auf die mängelbehafteten Blaupausen. Er verspricht mir in der folgenden Woche einen Kollegen vorbeizuschicken und mir vollständige Pläne zukommen zu lassen. Ich bedanke mich freundlich und bin mir sicher, dass ich ihn zum Schwitzen gebracht habe. Ich schiebe das Telefon in meine Gesäßtasche und sehe auf die Uhr. Es wird Zeit für meinen Rundgang. Ich beginne in der obersten Etage und arbeite mich sorgsam in die unteren Geschosse vor. Keine Auffälligkeiten. Als ich im dritten Stock ankomme, läuft mir Kaley in die Arme. „Hey, heute Mal nicht im Keller gefangen?", zwitschert sie mir fröhlich zu und ich sehe, wie sich ihre schön geschwungenen Lippen zu einen Lächeln formen. „Hi. Nein, ich habe heute Freigang." Mein Lächeln ist nur halb so schön, wie ihres. Die Anspielung mit dem Gefängnis bemerke ich erst jetzt und ich schlucke unmerklich. „Und schon eine Lösung gefunden?", fragt sie mich und kommt weiter auf mich zu. In ihren Händen hält sie einen Stapel Unterlagen. „Nicht wirklich, aber ich habe der Montagefirma Feuer unterm Hintern gemacht." „So ist es richtig." Sie lacht und in diesem Moment geht die Tür auf. Ein großer Mann tritt heraus. Sein schwarzgraues Haar harmoniert perfekt mit dem anthrazitfarbenen Anzug, der sich fließend an seinen muskulösen Körper schmiegt. Ich sehe nur sein gigantisches Kreuz. Gerald Barson. Der Chef persönlich. Ich bin ihm noch nie begegnet. „Sind das die Unterlagen für die Wolff-Immobilie?" Seine weiche Stimme steht im direkten Kontrast zu seiner äußeren Erscheinung. „Ja, Sir", sagt Kaley freundlich und reicht ihm die Papiere, danach sieht sie kurz zu mir und lächelt. Auch Barson wendet sich mir zu. Sein Blick scheint mich einmal komplett zu mustert. „Sir", sage ich lapidar. Er nickt und verschwindet wieder in seinem Büro. Als er weg ist, presse ich kurz meine Lippen aufeinander und sehe Kaley erstaunt an. Sie kichert. „Du hast ihn noch nie gesehen, oder?" „Hat er jemals den Keller gesehen?", frage ich retour. „Gute Frage", kichert sie, „Ich sollte wieder zurück." Ich nicke und sehe, wie sie die Tür zum Büro öffnet. Doch anstatt zu verschwinden, bleibt sie stehen und sieht zurück. „Hey, hast du heute Abend schon was vor?", fragt sie mich und ich bleibe überrascht stehen. Nur ein seltsamer Laut dringt aus seinem Mund. Ich habe das Gefühl mit offenem Mund vor ihr zu stehen. Peinlich. „Nur ein kleiner Überfall, versprochen.", hängt sie beruhigend hinterher. „Ganz Unverfängliches. Mein Cousin besitzt ein Restaurant und ich konnte bei der Eröffnung vor ein paar Tagen nicht dabei sein. Deshalb möchte er heute für mich kochen. Ich darf jemanden mitbringen und möchte nicht allein essen. Das sieht immer so blöd aus. Würdest du mich begleiten?", plappert sie aufgeregt und sieht mich als sie endet erwartungsfroh an. Ich fühle mich von der Fülle der Information leicht überfordert. Aber vor allem von der Einladung überrumpelt. Es gibt nichts, was dagegen spricht, dennoch zögere ich. Schon wieder. Insgeheim habe ich das gemeinsame Mittagessen genossen. Es hat mich aus dem Trott herausgeholt und mir das Gefühl eines normalen Lebens vermittelt. Etwas, was ich schon lange nicht mehr erleben durfte. Zudem ist Kaley unglaublich nett und ich mag sie, irgendwie. Integration, hallt es in meinem Kopf und ich denke an Ewans Worte. Sie wartet noch immer auf eine Antwort und als ich nicke, zeigt sie mir ein bezauberndes Lächeln, bei dem ihre perfekten, weißen Zähne hervorblitzen. Es spricht von purer Erleichterung und das verwundert mich nur noch mehr. „Schön. Ich muss wahrscheinlich bis 19 Uhr arbeiten. Das Restaurant ist hier in der Nähe..." Sie deutet in eine willkürliche Richtung und ich komme ihr zuvor. „Ich kann dich von hier abholen.", schlage ich vor. Mein Feierabend beginnt früher und dann wäre ich in der Lage mir noch etwas Vernünftiges anzuziehen. Auch wenn ich nicht weiß, was. „Sehr gut, dann sehen wir uns nachher! Dankeschön." Damit verschwindet sie schnell durch die Tür und ich bleibe am Treppenabsatz stehen. Ich war noch nie mit einer Frau essen. Ein eigenartiges Gefühl breitet sich in mir aus. Mein Herz flattert leicht. Meine Fingerspitzen sind eiskalt. Ich werde mich blamieren oder schlimmer, sie. Mein Puls geht nach oben und ich starre apathisch auf die Stufen der Treppe. Was habe ich mir nur dabei gedacht? Warum tut sie das? Ich sollte vielleicht doch absagen! Meine Finger krallen sich in den Handlauf der Treppe. Nein. Kapitel 6: Anders ist manchmal besser als gut --------------------------------------------- Kapitel 6 Anders ist manchmal besser als gut Als ich nach der Arbeit nach Hause komme, gehe ich gleich duschen und stehe dann etwas unentschlossen vor meinem Kleiderschrank. Meine Klamotten bestehen in erster Linie aus schlabberigen Jeans, Shirts und Pullovern, die ihre besten Tage in einem anderen Leben hatten. Ich besitze einen einzigen Anzug. Doch den habe ich bei den Bewerbungsgesprächen getragen und ich empfinde ihn als unpassend für ein Essen. Ich blamiere sie schon allein durch den Mangel an modischen Geschmacksinn. Es ist eine schlechte Idee. Ich schelle mich für meine Zusage und lasse mich resigniert aufs Bett fallen. „Das ist deinem Einsiedlerleben geschuldet, Eleen", äffe ich meinen Bruder mit brummender Stimme nach und mir fällt ein, dass ich ihn noch zurückrufen muss. Ich starte einen neuen Versuch, stelle mich vor den Kleiderschrank und krame meine einzige schwarze Jeans und einem halbwegs vernünftigen Pullover in einem Anthrazitton hervor. Danach mache mir eine Kleinigkeit zu Essen, weil ich sonst nicht durchhalte und lasse mich eine Weile vom Fernseher berieseln. Ich schalte von einer Kindersendung mit einem sprechenden Schwamm, zu schlecht geschauspielerten Familiendramen und weiter zu den Nachrichten. Die Welt ist ein Trümmerhaufen und ich bin mitten drin. Es folgt eine Dokumentation über schwarze Löcher und Theorien über die Entstehung von Einstein-Bose-Brücken. Ich lasse mich immer tiefer in den Sog des Nichts ziehen. Die Bilder des fernen Alls faszinieren mich und als ich das nächste Mal auf die Uhr sehe, ist es bereits siebzehn Uhr. Ich setze mich auf und sehe zum Telefon. Wenn ich Ewan heute nicht zurückrufe, werde ich es vergessen und dann wird er sauer oder schlimmer noch, misstrauisch. Das will ich auf keinen Fall. Ich robbe zum Telefon und lasse meinen Oberkörper einen Moment missmutig über die Lehne hängen. Ich kann fast unter die Couch gucken und fahre mit dem Finger über eine hauchdünne Staubschicht. Ich verkneife mir, einmal mit der ganzen Hand drunter zufahren und richte mich auf. Zögernd nehme ich den Hörer ab. Ich starre eine Weile auf das Display, tippe die ersten fünf Stellen der Telefonnummer und lege es wieder beiseite. Ich rufe nicht gern bei ihm an. Oft geht Ewans Frau Sora ans Telefon und es entsteht dieser gezwungene Smalltalk. Sie ruft nach ihrem Mann und in der kurzen Zeit des Wartens entsteht dieses unangenehme Vakuum, das sie durch Fragen nach meinen Befinden und meinen Leben füllt. Reine Höflichkeit, denn ich bin mir sicher, dass Ewan sie auf dem Laufenden hält. Sora hat ein gespaltenes Verhältnis zu mir. In ihren Augen bin ich ein Verbrecher und obwohl ich der Onkel ihres Kindes bin, wäre es ihr am liebsten, wenn Ewan mich endlich aufgibt. Für mich wäre auch Schweigen in Ordnung, doch das habe ich ihr noch nie gesagt. Wahrscheinlich aus Angst, dass sie mir das letzte bisschen Menschlichkeit abspricht. In meinem Kopf formuliert sich das einstudierte und ausprobierte Gespräch zwischen uns. Freundlich bestätige ich, dass es mir gut geht und frage meinerseits nach dem Wohlergehen des Kindes und ihrem eigenen. Manchmal stelle ich mir ihr Gesicht dabei vor. Ihre schulterlangen, rötlichen Haare, die ein sommersprossiges Gesicht rahmen. Kantige, scharfe Züge, die ihrem Widerstreben einen besonders starken Ausdruck verliehen. Ich finde, dass sie kein schönes Gesicht hat, aber ich muss nicht jeden Morgen neben ihr aufwachen. Und nun klinge ich, wie die Idioten auf Arbeit. Ich nehme erneut das Telefon zu Hand und tippe die restlichen Nummern ein. Es klingelt und ich setze mich auf. Mein Inneres bereitet sich darauf vor Soras Stimme zu hören, doch stattdessen vernehme ich das schüchterne Piepen meiner Nichte. „Hier bei de Faro. Wer ist am Apparat?" Vorbildlich. „Hallo Lira, hier ist Eleen. Holst du mir bitte deinen Vater ans Telefon." Als sie meine Stimme erkennt, wird ihre sicherer. Lira ist 6 Jahre alt und seit einem halben Jahr stolze Erstklässlerin. „Hallo Onkel Eleen. Mama und Papa sind in der Küche. Warte kurz." Ich höre, wie sie den Telefonhörer zur Seite legt, statt ihm mitzunehmen und in die Küche rennt. Es dauert einen Moment, doch dann höre ich Ewans strenge Stimme. „Hey", sage ich kurz. „Wo warst du gestern?" Er klingt genervt und vergisst vollkommen, dass es höflich wäre jemanden zu begrüßen. Der Wille das Gespräch freundschaftlich zu gestalten sinkt. „Einkaufen. Wenn es gerade nicht passt, dann rufe ich morgen noch mal an." Ich habe keine Lust, seine schlechte Laune abzubekommen. Am anderen Ende des Telefons höre ich es seufzen. „Nein, nein. Entschuldige, aber Sora und ich führen gerade wieder eine dieser Grundsatzdiskussionen und...na ja..." Er führt es nicht aus und ich frage nicht nach. „Okay, sag mir was bei deinem Gespräch mit dem Bewährungshelfer los war", kommt er nun auf den Punkt zurück. Ich zucke ungesehen mit den Schultern und weiß nicht, was ich ihm antworten soll. „Eigentlich nichts. Ich weiß nicht, warum er sich bei dir gemeldet hat. Meines Erachtens verlief es so wie immer." „Hast du ihm von deinem Zusammentreffen mit Richard Paddock erzählt?" „Was? Natürlich nicht. Du etwa?", frage ich erschrocken und spüre, wie mein Puls nach oben schnellt. „Nein, natürlich nicht", wiederholt er meinen erschrockenen Ausbruch. Doch mein Herzschlag wird nicht langsamer. Von meinem erneuten Zusammentreffen mit Rick erzähle ich ihm nichts. „Was war es dann?", fragt er weiter und ich zucke ein weiteres Mal mit den Schultern, obwohl ich weiß, dass er das unmöglich sehen kann. „Keine Ahnung. Ich war etwas müde, weil ich schlecht geschlafen habe. Vielleicht sah er das als Anlass, dir auf die Nerven zu gehen." „Eleen, es ist seine Pflicht mich zu unterrichten, wenn irgendwas auffällig ist." „Das ist gar nicht wahr und nur weil ich mal einen schlechten Tag habe, raube ich keine Bank aus, verdammt noch mal", gebe genervt und übertrieben von mir. „Ich glaube, dass er sich über Diebstahl weniger Gedanken macht", kommentiert Ewan und ich beiße die Zähne zusammen. Als wäre ich die Gefährlichkeit in Person. Mein Bruder weiß, dass das absurd ist. „Okay, Eleen, hör zu." Es klingt, als würde er tief Luft holen und zu einer neuen Lektion ansetzen. „Halt dich einfach von Richard fern", sagt er kurz und bündig. Weniger maßregelnd als erwartet. Trotzdem seufze ich genervt auf. „Was soll ich denn bitte machen, wenn er mit mir in der U-Bahn sitzt? Ich kann ja schlecht weglaufen und er genauso wenig. Also, was soll das? Ich hab ihn durch Zufall in der Öffentlichkeit gesehen. Mehr nicht. Ich weiß ja nicht einmal, ob er mich auch gesehen hat", lüge ich ihn knallhart an und bin froh, dass wir am Telefon miteinander sprechen. Ich sage ihm genau das, was er hören will und zu meinem Glück klingt es relativ glaubwürdig. „Ja, aber du weißt ganz genau das Sybilla Paddock keine Rücksicht auf den Zufall nimmt." Bei der Erwähnung von Richards Mutter wird mir eiskalt. Ich erinnere mich an ihr gramgebeuteltes Gesicht. Das feinbestickte Stofftaschentuch in ihrer Hand, mit dem sie sich im Laufe der Verhandlung wieder und wieder über die Lider tupfte. Immer dann, wenn ihr Blick auf mich fiel, wich die Trauer dem Zorn und der Wut. Mir wird noch immer ganz anders, wenn ich daran denke. Ich höre Ewan ebenso seufzen. „Ich bin doch auf deiner Seite, das weißt du. Aber ich habe mich trotzdem noch einmal über die Konsequenzen eine Zuwiderhandlung des Kontaktverbots informiert. In der Bewährung gehst du ohne Handlungsmöglichkeiten zurück ins Gefängnis. Danach wäre es je nach Schwere des Verstoßes eine Freiheitsstrafe oder Geldstrafe. Also beides keine gute Alternative." Ich höre ihm schweigend zu, doch er erzählt mir nichts Neues. Ich weiß das alles. Mein Blick wandert zur Uhr. Ich muss los. „Ich bin mir dessen im Klaren." „Wirklich?" „Ja!", lauter als beabsichtigt. „Ja, und ich muss jetzt los.", setze ich ruhig hinterher. „Los? Wohin willst du?", fragt er verwundert. Ich höre im Hintergrund eine Frauenstimme sprechen, vernehme wie Ewan seine Hand auf die Sprachübertragung legt und schließe die Augen. Sie diskutieren. „Okay, ich muss auch Schluss machen. Eleen? Pass auf dich auf." „Ja", sage ich leise und drücke blind auf den roten Ausschalter des Hörers. Ich bin genervt von dem ständigen Erwähnen des Kontaktverbots. Alle tun, als würde ich nicht verstehen, was es bedeutet, doch ich verstehe es nur all zu gut. Ich möchte es nur nicht akzeptieren, weil man es uns aufgezwungen hat. Richard hat es nicht gewollt, aber seine Mutter hatte darauf bestanden. Und um unser Lügengespinst aufrecht zu halten, musste er einwilligen und ich weiß, dass es ihm das Herz zerrissen hat. Ebenso wie mir. Ein Kontaktverbot. Damit hatte damals alles angefangen. Kein rechtliches, aber ein väterliches. Ich erinnere mich gut an die Bewegung seiner schmalen Lippen. Strenge Worte, die mich innerlich zerfraßen und denen ich keinen Glauben schenken wollte. Ich konnte und wollte es nicht verstehen. Oft genug habe ich erlebt, wie er so mit Rick gesprochen hatte. Ich habe gebettelt und gebeten, aber er ließ sich nicht erweichen. Der Gedanke an die Gespräche schnürt mir die Kehle zu. Ich blicke auf die Uhr und sehe, dass es Zeit wird, loszugehen. Noch ehe ich vollständig am Arbeitsgebäude angekommen bin, sehe ich Kaley heraustreten. Sie hat sich umgezogen und trägt nun ein hellbeiges Kleid, welches auf ihrer schönen dunklen Haut zu leuchten scheint. Mein Herz rutscht mir in tiefere Regionen und ich atme tief ein, bevor sie bei mir angekommen ist. „Wow, du sieht toll aus", perlt es klischeehaft über meine Lippen, aber es entspricht der Wahrheit. Sie sieht umwerfend aus. In dem Kleid kommen ihre langen, schlanken Beine perfekt zur Geltung. Ich fühle mich schon jetzt völlig fehl am Platz. „Danke." Sie macht einen leichten Knicks und kichert anmutig. „Du auch", sagt sie und streckt ihr Hand nach meinem Pullover aus. Sie zieht sie wieder zurück. Vermutlich erinnert sie sich an das letzte Mal als ich bei ihrer Berührung zusammen gezuckt bin. „Du musst vorangehen", sage ich und sehe dabei zu, wie sich Kaley etwas hilflos im Kreis dreht. „Ja, klar, ich glaube, wir müssen da lang..." Sie zeigt nach Süden. „Du glaubst?", frage ich neckisch. Kurz ziehe sich ihre Lippen zur Seite und grübelt über ihre vorige Aussage nach. „Doch. Ja.", bestätigt sie. Ich schmunzele und deute ihr meinen Arm zum Unterhaken an. Ein Lächeln und sie nimmt es dankend an. Während wir die Straße runtergehen, höre ich, wie hinter uns ein Auto startet. Ich wende mich nicht um, doch nichts fährt an uns vorbei. Zu unserem Glück sind wir wirklich in die richtige Richtung gelaufen und kommen nach wenigen Minuten am Restaurant an. Leise dudelige Musik empfängt uns. Ich schaue mich um. Helle, warme Farben an den Wänden. Beige- und Brauntöne. Ein Hauch Afrika. Ein Kellner kommt auf uns zu und führt uns zu einem Tisch. Ledermöbel und schwere Holztische. Viele Leute sind im Lokal und doch wirkt das Etablissement nicht überfüllt oder laut. Auch Kaley sieht sich neugierig um. „Toll", haucht sie in den Raum und sie streift ihre Jacke ab. „Ich bin das letzte Mal hier gewesen, da waren sie noch im Bau. Ich bin begeistert." Nur kurz setzt sie sich und steht nach wenigen Augenblicken wieder auf. Ich wende mich um und sehen einen großen, dunkelhäutigen Mann auf uns zukommen. Kaley lächelt. Es wird ihr Cousin sein. Ich beobachte, wie der große Mann seine muskulöse Arme um Kaleys schmale Schultern legt und ihr dabei einen sanften Kuss auf die Wange drückt. Als sie sich lösen, sehen mich beide an. „Eleen, darf ich dir meinen Cousin Kari vorstellen." Er reicht mir eine riesige Hand und es wirkt, als würden meine schlanken Finger darin untergehen. Sein Händedruck ist, wie erwartet kräftig, doch trotz meiner schmalen Glieder, habe ich ihm gut etwas entgegen zu setzen. Ich bin stärker als ich aussehe. „Hi, ein wunderschönes Restaurant haben Sie." „Vielen Dank. Wartet erstmal das Essen ab. Ich habe Ralf angewiesen, euch nur das Beste vom Besten zu servieren. Ich hoffe, ihr habt reichlich Hunger mitgebracht." Kari zeigt uns sein schönstes Lächeln. Es ist von derselben Art, wie Kaleys. „Macht es euch gemütlich. Der erste Gang kommt gleich." Er klatscht in seine Hände und verschwindet zurück in die Küche. Ich sehe ihm nach, anscheinend zu lange, denn Kaley sieht mich verwundert an. Er erinnert mich an einen Mithäftling. Ich schüttele den Gedanken von mir. „Er ist groß", sage ich lapidar und ausweichend. Kaley lacht. „Ja, wir sind alle ziemlich groß." Sie ist es auch. Ich lasse mich auf einen der Stühle nieder und überlasse Kaley damit die gemütliche Sitzbank. Je länger ich sitze, umso unwohler fühle ich mich. Ich weiß nicht, worüber ich mit ihr reden soll, denn im Grunde weiß ich nichts. Ich kenne mich mit Rohren und Heizungen aus, mit Plänen und Werkzeug, aber ich weiß nichts über Frauen oder die Welt. Ich war gerade 18 Jahre alt als ich ins Gefängnis kam und hatte vorher so gut wie keine Verabredungen oder sonstige Dinge dieser Art. Ich hatte nur Richard. Mehr habe ich nie gebraucht. Kaley lächelt mir zu als ich aufblicke. Sie stützt ihr Kinn auf die Hände ab. „Schau doch nicht so erschreckt", sagt sie lächelnd und ich schlucke. Ich setze zum Sprechen an und breche dann doch wieder ab. Ihr Lächeln ist weich und warm und es verunsichert mich nur noch mehr. Meine Hände liegen in meinem Schoss unter dem Tisch und ich knete sie durch. Sicher ist ihr meine Nervosität nicht verborgen geblieben. Ich habe das Gefühl sie förmlich auszuströmen. Meine Finger knacken und ein unangenehmer Schmerz fährt durch meinen Arm. Im Gefängnis habe ich mir ein paar Finger gebrochen und seither sind sie etwas schief, aber noch gut funktionstüchtig. Sie zum Knacken zu bringen, ist nicht gesund für mich. Ich nehme die Hände hoch und lege sie auf den Tisch ab. Noch immer sieht sie mich an. Mittlerweile forschend und etwas verwundert. Ich muss ihr gegenüber aufrichtig sein. „Kaley, ich will ehrlich sein. Ich weiß überhaupt nicht, was ich hier mache. Ich bin weder sehr gesellig, noch bin ich ein guter Gesprächspartner. Ich kann im Prinzip nur Zuhören und Dinge reparieren.", gestehe ich und habe keine Vorstellung von dem, was Kaley von mir erwartet. Warum sucht sie meine Nähe? Ich verstehe es nicht. „Dann hast du schon mal mehr Qualitäten als alle anderen Männer, die ich kenne und je kennengelernt habe." Mir entflieht ein amüsiertes Geräusch, was einem nervösen Kichern gleich kommt und mein Gesichtsausdruck wird noch unverständlicher. „Okay, du bist ehrlich, dann bin ich es auch. Ich mag dich. Ganz einfach", erläutert sie. Ich sehe sie fragend an. In meinem Kopf bildet sich ein gigantisches Warum, doch ich sage nichts. Eigentlich kennen wir uns kaum. Die wenigen Mal, die wir uns belanglos auf Arbeit unterhalten haben, können kaum einen bleibenden Eindruck hinterlassen habe. Das eine Mittagessen. Nichts worauf man eine solche Gefühlsregung schließen kann. Mein Gesicht muss die Fragen widerspiegeln, denn sie setzt zu erneuten Erklärungen an. „Hör zu, du findest es sicher komisch. Ich meine, wir sind ja mehr oder weniger Arbeitskollegen, aber du warst von vornherein netter und freundlicher zu mir. Kein dummes Anmachen. Keine dämlichen Sprüche. Du bist anders und das finde ich angenehm." „Normalerweise legt man mir das nicht als positiv aus", antworte ich auf ihre Feststellung. „Du kommst nicht viel unter Menschen, oder?" Kaley stützt ihren Kopf auf ihre Hände. Ihre langen, grazilen Finger mit den unscheinbar manikürten Nägeln. Sie bewegen sich in einem stillen, langsamen Takt, den nur sie zu kennen scheint. „Merkt man das?", frage ich und mache ein gespielt überraschtes Gesicht. Ihre Mundwinkel gehen nach oben und wieder blitzen die schönen, weißen Zähne hervor. Ihre Lider schließen sich für einen Sekundenbruchteil. Ich erkenne deutlich ihre langen, getuschten Wimpern. Danach sehen mich ihre warmen, braunen Augen forschend an. „Nur ein bisschen." Ein weiteres Lächeln. Sie fragt mich nicht nach dem Grund. Ich atme unbewusst erleichtert aus. Ein Kellner kommt und wir bestellen etwas zu Trinken. Für mich Wasser und für Kaley ein Glas Weißwein. Ihren Hinweis, dass ich nichts bezahlen muss, nicke ich ab, aber es ändert nichts an meiner Bestellung. Mit den Getränken stellt uns der jungen Kellner auch Brot mit verschiedenen Aufstrichen hin. Wir beäugen die verschiedenfarbigen Pasten kritisch. Während Kaley mutig ein Stück Brot mit der grünen Paste bestreicht, erzählt sie mir, dass ihr Cousin in diesem Restaurant die typischen Gerichte ihrer beider Nationalitäten vereinen will. Ihre Familie stammt aus Äthiopien. Ich weiß nur, dass das in Afrika liegt. Ich sehe dabei zu, wie sie kaut und dann abwiegend nickt. „Gut, aber scharf", sagt sie und nimmt einen großen Schluck Wein. Sie keucht auf. Es scheint kaum besser geworden zu sein. Das 'Scharf' weckt meine Neugier und ich stelle fest, dass ich es gar nicht als scharf empfinde. Feine Süße tanzt auf meiner Zunge, die sich nach und nach wärmend über meine Geschmacksknospen ausbreitet. Das Kribbeln der Schärfe. Ich mag es. Die anderen Aufstriche probiere ich nicht. Es folgen drei Gänge. Eine Suppe aus Kürbis und Kartoffel. Wieder mit einer feinen Schärfe, die durch Ingwer eine zitronige Note erhält. Eine typisch äthiopische Hauptspeise, die aus verschiedenen breiförmigen Komponenten besteht und zusammen mit einem Fladenbrot gereicht wird. Ihr Cousin nimmt sich die Zeit und erklärt uns jedes Mal, was wir auf den Teller haben. Ich fühle mich überfordert, aber verspüre ebenso Neugier über die vielen neuen Dinge, die sich mir hier bieten. Die fremden Speisen harmonieren mit den verschiedenen europäischen Begleitern und behalten dennoch ihre exotische Wirkung bei. Die Gerüche sind atemberaubend. Vielfältig und erregend. Alles ist unterschiedlich scharf und Kaley bestellt sich zwischendurch ein Glas Milch. Freizügig erzählt sie über ihre Familie. Ihr strenger Vater ist bereits verstorben und ihre Mutter kümmert sich nun allein um ihre beiden jüngeren Geschwister. Zwei Brüder. Der eine ist noch in der Schule und der Ältere beginnt dieses Jahr sein Studium. Ich denke an meine Brüder, sage aber nichts. „Oh man, wie bekommst du das so leicht runter?" Sie keucht auf und wedelt sich mit ihren Händen kühle Luft in den Mund. „Stahlmagen", sage ich plump und stecke mir ein Stück Brot mit einer besonders scharfen Paste in den Mund. Das weniger gute Gefängnisessen hat mich abgehärtet. Ganz dem Klischee geschuldet, war es geschmacksneutral und farblos. Die wenigen Lebensmittel, die wir auf unseren Zimmern aufbewahren konnten, waren meist Konfitüren oder andere Dinge, die keine Kühlung bedurften. Meines war Senf. Während ich darüber nachdenke, greife ich mir an den Hals. Ich spüre die kühle Kette und an meiner Brust. Der Ring von Rick. Das Bedürfnis, ihn anzurufen, kribbelt seit dem Morgen heiß in mir. Ich versuche den Gedanken zu verdrängen, doch wieder und wieder schleicht sich er in meinen Kopf. Die verschiedenen Geschmacksrichtungen des Essens tanzen auf meiner Zunge und ich versuche erneut, mich an das Aroma seiner Lippen zu erinnern. „Oh, unglaublich" Kaley verzieht das Gesicht und ich trinke mein Glas Wasser leer. Vom Dessert, einem selbst gemachten Eis mit Ingwer und Lakritze, koste ich nur ein bisschen und lasse es dann aus verschiedenen Gründen stehen. Ich bin satt und kein Fan der Süßholzwurzel. Ich lehne mich zurück und fasse mir an den flachen Bauch. Kaley sieht lächelnd über den Tisch und isst fleißig an ihrem Nachtisch weiter. Der silberne Löffel schiebt sich zwischen ihre Lippen und während sie ihn wieder herauszieht, dreht sie ihn um, so dass sie die Kuhle mit der Zunge auslecken kann. Ich versuche sie nicht anzustarren und schaue auf meine Finger. „Erzähl mir was von dir, Eleen. Ich habe dich jetzt den ganzen Abend mit meiner Familiengeschichte vollgetextet, aber von dir weiß ich noch immer nicht mehr, als deinen Namen." Eine freundliche Aufforderung und trotzdem fühle ich mich sofort verunsichert. Es gibt nichts zu erzählen, aber ich möchte ihr auch nicht vor den Kopf stoßen. Meine Finger werden immer interessanter. Ich verschränke sie ineinander und atme kurz tief ein. „So viel gibt es da nicht zu erzählen. Ich habe auch zwei Brüder, aber sie sind älter und haben bereits Familie. Ich habe nicht allzu viel Kontakt zu ihnen." Ich sehe auf und blicke direkt in zwei aufmerksamen Augen. Mittlerweile hat sie ihr Dessert aufgegessen und der gründlich abgestrichene Teller steht vor ihr. In ihren Fingern hält sie noch immer den Löffel. „Und deine Eltern?" Ich denke an meine Mutter und in meinem Magen bildet sich ein Stein. Seit einem Jahr habe ich sie nicht mehr gesehen. Sie war dabei, als mich Ewan aus dem Gefängnis abgeholt hat. Ich erinnere mich an ihr eingefallenes, ausgemergeltes Gesicht. Ihr Blick war abwesend. Ihre Berührungen waren zurückhaltend und man hat gemerkt, dass es ihr schwer fiel. Noch immer sehe ich ihre kühlen, kurzen Finger vor mir, die leicht zuckten und unaufhörlich über ihre unbehaarten Arme strichen. „Na ja, meine Mutter lebt in der Nähe von meinen Brüdern und meinen Vater kenne ich nicht." Ihre braunen Augen wandern mein Gesicht ab und scheinen jede noch so kleine Regung aufzusaugen. Sie schließt ihre Lider als würde ihr in diesem Moment deutlich, was meine ausweichenden Antworten zu bedeuten haben. Die volle Bandbreite meines Alleinseins. Ich habe das Bedürfnis, etwas zu erklären. „Weißt du, es hat seine Gründe, warum ich anders bin. Aber das ist okay. Ich möchte es nicht anders, denn ich komme gut damit zurecht." Ich war schon immer irgendwie allein, aber das hat mir nie etwas ausgemacht. Als jüngster, unter zwei Brüdern, haben die beiden anderen nie wirklich etwas mit mir anfangen können und meine Mutter hat sich nie davon erholt, dass ich nicht das erwünschte Mädchen geworden bin. Ich war auch früher eher ruhig und verschlossen. Erst mit Richard habe ich gelernt, wie wunderbar es ist, jemanden an seiner Seite zu wissen. Wir hatten eine intensive und himmlische Zeit. Voller Freude, Freundschaft und Liebe. Das Gefängnis und der Verlust von Richard gab dem Ganzen eine ganz andere Dimension. Doch trotz aller Widrigkeiten, habe ich mich nie einsam gefühlt. Der Gedanke an Rick lässt mein Herz pulsieren. Die Wärme kehrt in meine kühlen Fingerspitzen zurück und ich lächele. Meine Hand wandert zu dem Ring um meinen Hals und ein sanftes Lächeln umspielt meine Lippen. „Ich würde gern wissen, woran du gerade denkst und was dich gerade zum Lächeln gebracht hat, aber du musst es mir nicht sagen." Kaleys Stimme ist ein Flüstern. Sie schmunzelt und in diesem Moment taucht ihr Cousin hinter uns auf. Er schnappt sich den Stuhl neben mir und lässt seine massigen Arme auf den Tisch fallen. „Und, was sagt ihr?" Er sieht erst Kaley und dann mich an. Seine aufmerksamen Augen glänzen. „Scharf, scharf, scharf, aber sehr lecker", sagt sie und Kari sieht gespannt zu mir. „Also ich stehe auf scharf, daher wirklich gut. Es alles sieht toll aus, riecht wunderbar und schmeckt auch so." Ihr Cousin scheint zufrieden und kurz legt er mir seinen schweren Arm um die Schultern. „Okay, dass ist zufriedenstellend. Wie habt ihr euch kennengelernt?", fragt er in die Runde und ich schaue automatisch zu Kaley. „Wir arbeiten zusammen", sagt sie lächelnd und trinkt den letzten Schluck ihres Weines aus. „Oh, du Ärmster, musst du auch dem Chef den Mist hinterher räumen?" Er grinst breit. „Nein, ich bin nur ein einfacher Techniker im Facility Management." Seine eindringlichen Augen sind mir unangenehm. Wahrscheinlich fragt Kari sich gerade, warum sich Kaley mit einem dummen Hausmeister abgibt. Ich frage mich das auch. „Eleen rettet uns ständig vor dem Erfrieren. Er ist mein Held." „Na dann ist er auch meiner. Darf ich euch noch einen Espresso oder Digestif anbieten?" Kurz tätschelt er mir die Schulter. Ein leichtes Klopfen und ich weiß nicht, was es ausdrücken soll. Mit dem Kaffeeangebot steht er auf. Kaley verneint, aber ich stimme zu. Als ihr Cousin weg ist, lehne ich mich auf den Tisch und blicke sie an. „Ich glaube, ein Immobilienmakler wäre ihm lieber", sage ich nur halb ernst, doch Kaleys Lächeln ist ausweichend. „Na ja, er ist wie eine Art großer Bruder und die müssen so sein.", plaudert sie. Ich verstehe die Aussage nicht. Da sie aber nichts mehr dazu sagt, nicke ich es einfach ab. Kari kommt mit dem Espresso zurück und wir unterhalten uns über das Restaurant, während ich das Getränk genieße. Als wir fertig sind, bringe ich Kaley zu einem der naheliegenden Taxistände. Sie bedankt sich für meine Begleitung und ich bedanke mich für die freundliche Einladung. Bevor sie in das Auto steigt, sieht sie mich einen Moment eindringlich an. Doch kein weiteres Wort verlässt ihre Lippen. Nur ein sanftes Lächeln. Sie beugt sich vor und haucht mir einen Kuss auf die Wange. Ich brauche einen Moment bis ich meine Gefühle geordnet habe. Fast automatisch wandert meine Hand zurück an die Kette um meinen Hals und meine Gedanken zu Richard. Meine Sehnsucht ist stark, vor allem in diesen Momenten, in denen ich einfach nicht weiß, was richtig und was falsch ist, in denen ich nicht weiß, was ich empfinde. Eine Freundschaft zu Kaley. Ich weiß nicht, wie man ein guter Freund ist. Die einzige Freundschaft, die ich je hatte, ist die zu Rick, doch das war anders. Das zwischen uns war vieles mehr. Will Kaley eine Freundschaft? Ich weiß es nicht. Noch immer sehe ich dem mittlerweile verschwundenen Taxi nach. Ich atme die kühle Nachtluft ein und sehe mich um. Ich laufe zurück zu meiner altbewerten U-Bahnstation. Meine kalten Finger schiebe ich beim Laufen in die Hosentaschen und meine Gedanken wandern immer weiter davon. In die Vergangenheit. Ich könnte ihn anrufen. Mein Herz explodiert augenblicklich. Es wäre falsch. Die Explosion stagniert und mein Herz zieht sich zusammen. Neben der Treppe zur U-Bahn steht ein junger Mann. Die Zigarette in seiner Hand qualmt. Er saugt den Rauch tief ein und das Ende färbt sich leuchtend orange. Ich sehe, wie er mir mit den Augen folgt. Ich ziehe unwillkürlich meine Schultern höher und damit auch den Kragen meiner Jacke. Am Bahnsteig sind nur noch wenige Menschen. Es ist bereits spät. Ich ziehe mein Handy aus der Hosentasche und blicke auf die Uhr. Mein Daumen streicht über das Display und meine andere Hand greift erneut an meine Brust. Ich spüre den Ring nur minimal unter dem Stoff des Pullovers. Ein Zug fährt ein, doch ich bleibe stehen und ziehe die Kette hervor. Der Ring rotiert in meinen Fingern und ich lese flüsternd die eingravierten Zahlen vor. Unbewusst präge ich sie mir ein. Zahl für Zahl. Bis sie sich in meinen Kopf gebrannt haben. Mein Daumen tanzt dabei über das Display meines Telefons. Kapitel 7: Das Aroma der Begierde --------------------------------- Kapitel 7 Das Aroma der Begierde Blind tippe ich die Nummer ein und stocke. Mein Herz pumpt pure Aufregung durch meine Adern, aber auch Furcht. Was, wenn es nicht seine Nummer ist? Was, wenn sie nicht mehr aktuell ist? Ich mache mich unnötig verrückt. Er hätte mir den Ring nicht gegeben, wenn die Nummer nicht stimmen würde. Ich atme unkontrolliert und wieder bildet sich dieses mahnende Gefühl in mir. Es nagt sich durch meine Knochen. Es ist nicht richtig ihn anzurufen, doch der warnende Schall wird von meinem Verlangen seine Stimme zu hören, überschallt. Ich drücke den grünen Hörer und vernehme das ruhige Klingeln. Mit jedem Ringen wird mein Herzschlag schneller. Meine Atemgeräusche werden lauter und unruhiger. Sie scheinen an den gekachelten Wänden widerzuhallen. Der Zug fährt ab und ich bin vollkommen allein auf dem Bahnsteig. „Paddock." Seine Stimme ist warm, jagt Erinnerungen durch meinen Kopf und trotzdem höre ich diese Spur von Vorsicht. Es ist ein Fehler. „Hallo?", fragt Rick und ich bekomme noch immer kein Wort heraus. Das Telefon rutscht langsam von meinem Ohr. „Lee! Leg nicht auf. Bitte! Bitte, leg nicht auf", kommt hektisch von der anderen Seite des Hörers als er zu begreifen scheint, was der leere Anruf zu bedeuten hat. „Ich habe gehofft, dass du die Nummer wählst...Nur reden, Lee. Ich möchte nur mit dir reden können." Mir geht es ähnlich, aber ich weiß nicht, ob mir Reden auf Dauer reicht. Allein seine Stimme jagt tausende kleine Blitze durch meinen Körper, entfacht den Sturm, das Beben. Wohltuend und sehnsüchtig. „Reden ist gut", höre ich mich sagen und lausche dem beruhigten Ausatmen des anderen Mannes. Ich weiß, dass es ihn glücklich macht. „Wieso trägst du einen Ring mit dir rum, auf dem deine Telefonnummer eingraviert ist?", frage ich, nachdem ich mich etwas gefasst habe. „Ich trug ihn für den Fall, dass ich betrunken nicht mehr nach Hause finde", sagt Rick belustigt und ein vergnügtes Schnaufen perlt von meinen Lippen. „Um dann das Handy in deiner Tasche anrufen zu können?", frage ich und springe auf den Witzzug auf. „Okay, du hast mich erwischt", gesteht er mit einem leichten Lachen ein, dann folgt ein kurzes Schweigen. „Ich habe ihn vor 7 Jahren für dich machen lassen.", erklärt er, "Ich wollte ihn dir unbedingt noch geben und dir damit zeigen, dass ich dich nicht vergessen werde. Niemals, aber sie haben mich nicht mehr zu dir gelassen." Ich erinnere mich schmerzlich. „Dann habe ich versucht ihn dir zu schicken, aber meine Briefe kamen ungeöffnet wieder zurück." Die Traurigkeit in seiner Stimme verursacht mir Gänsehaut. Ich drücke das Telefon dichter an mein Ohr, so als würde ich ihm damit näher kommen können. „Mehrere Male. Wahrscheinlich hat die Tatsache, dass ich keinen echten Namen als Absender drauf geschrieben habe den Umstand nicht verbessert", fährt er fort. Ein Hauch von Witzigkeit und ich komme nicht umher zu lächeln. Richard hat immer seine Witze und Späße gemacht. Ein Versuch die Stimmung auf zu lockern oder den Ernst aus einer Situation zu nehmen. Es gelang ihm nicht immer, aber oft genug zauberte er mir damit ein Lächeln ins Gesicht. Auch jetzt. „Ich freue mich deine Stimme zu hören", ergänzt er. Seine Stimme bebt. Ich horche auf. Ein erregendes Kitzeln. Es arbeitet sich von meinen Bauch in die Spitzen meiner Glieder, in die Enden meiner Fingerkuppen und in die entfernten Stellen meiner Zehen. Mit jedem seiner Worte wird es intensiver. „Ich auch", erwidere ich und stelle mir sein schönstes Lächeln vor. In meiner Vorstellung sieht er aus, wie vor 7 Jahren. Sonderbar. Ein seltsamer Fakt, doch er ist genauso eigenartig, wie die Tatsache nach all den Jahren seine Stimme zu hören. Eine weitere U-Bahn fährt ein. Niemand steigt aus und niemand steigt ein. „Bist du noch unterwegs?", fragt er mich. „Ja, ich bin auf dem Weg in meine Wohnung." Bewusst nenne ich es nicht zu Hause. Ich habe schon lange kein Zu-Hause-Gefühl mehr. Ich sehe dabei zu, wie die Bahn wieder davon fährt und es wird still. „Was hast du gemacht?" In seiner Stimme schwingt Unruhe. Ich hadere mit mir. „Ich war mit einer Kollegin essen." Ich lausche seiner Reaktion. Nichts. Nicht einmal ein Atemgeräusch. Er hält die Luft an. Mein Herz rammt sich gegen meinen Brustkorb. Bestrafend. Schuldig. Was er wohl denkt. „Ihr Cousin hat ein Restaurant eröffnet und sie suchte eine Begleitung. Nur ein zwangloses Treffen." Ich weiß nicht, warum ich es ihm erkläre, aber erst jetzt höre ich ihn wieder atmen. „Wie war es?", fragt er flüsternd und gedrückt. „Gut." Ich mache eine Pause und korrigiere. „Eigentlich seltsam. Sie ist wirklich nett zu mir, aber ich weiß nicht...Sie ist toll ", gebe ich ihm ehrlich zu verstehen und fahre mir mit der Hand über den flachen Bauch. Ich spüre das sanfte herrliche Kribbeln darin und weiß, dass es nicht der Gedanke an Kaley ist, der es verursacht. „Ist sie das? Und trotzdem rufst du mich an?" Seine Stimme klingt geschmeichelt und der Wunsch ihn in diesem Moment an mich zu drücken, wird immer intensiver. Erneut versuche ich mir das Aroma seiner Lippen ins Gedächtnis zu rufen, doch es scheitert. Ich kann mich einfach nicht erinnern. „Ich habe versucht es nicht zu tun... so lange ich konnte.", sage ich und es folgt ein schweres, vielsagendes Schweigen. Es hält nicht lange. „Ich vermisse dich so sehr, Eleen." Seine Stimme ist wieder nur ein Flüstern. Im Hintergrund höre ich eine Tür zu schlagen. Die Sirenen eines Krankenwagens und einen entfernten Kinderschrei. In der Bahnhofshalle ertönen laute Schritte. Ich wende mich um und sehe, wie der junge Mann von oben die letzten Stufen der Treppe hinunter kommt. „Wir dürfen das nicht wieder tun, Rick. Ich kann das nicht." Der Schmerz über den Verlust meines besten Freundes, meines Geliebten brennt in diesem Moment so stark in mir, dass ich das Gefühl habe, dass sich das Fleisch meines Leibes von den Knochen schält. Rücksichtslose und unendliche Qualen. Meine Hände beginnen zu zittern. Der junge Mann sieht mich an. Seine hellbraunen, fast blonden Haare fliegen wild um seinen Kopf. Gestyltes Chaos. Hinter seinem Ohr steckt eine ungerauchte Zigarette. Rick sagt am anderen Ende der Leitung gequält meinen Namen. Mehrere Male, doch diesmal schneidet sie sich messerscharf in meinen Körper. „Gute Nacht", flüstere ich in den Hörer. „Leg nicht auf!" Doch nach diesen Worten drücke ich das Gespräch weg. Der nächste Zug fährt ein und diesmal nehme ich ihn. Ich bleibe stehen, obwohl genügend Sitzplätze sind. Mein Blick ist auf die Dunkelheit gerichtet. Nur schemenhaft kann ich die Wände und Leitungen erkennen, die sich schnell hinter der Scheibe fortbewegen. Hin und wieder ein paar Notfalllichter. Eine unterirdische Stadt. Meterhohe Säulen und Bögen. tausende Kilometer weitere Gleise. Kurz vor den Bahnhöfen lassen sich hunderte bunter Graffitis erkennen. Figuren im Schatten. Symbole und Motive, die durch die Dunkelheit noch durchdringender erscheinen und eine ganze neue Bedeutung erlangen. Die mahnenden Bilder einer verdrängten Welt. Im Gefängnis habe ich junge Sprayer kennen gelernt. Ihre Motive sind vielfältig, aber im Grunde suchten viele einfach nur nach einer Mitteilungsmöglichkeit, weil ihnen sonst niemand zu hört. Der Lautsprecher gibt meine Station durch und ich neige mich zur Tür. Die Bewegung hinter mir nehme ich erst wahr, als der Kerl mit der Zigarette neben mir steht. Der Zug hält. Er schiebt sich durch die nur halbgeöffnete Tür und stößt mir dabei gegen die Schulter. Ein kurzer Blick zurück. Ein gemurmeltes Verzeihung und in mir blitzt eine Erinnerung auf. Er kommt mir bekannt vor, doch ich kann es nicht mehr zuordnen. Ich schließe hinter mir die Wohnungstür und lehne meinen Kopf gegen das kühle Holz. Seine Stimme und die Tatsache, dass ich seine Nummer besitze, erheitern und bedrücken mich zu gleich. Seine Nähe ist das Einzige, was ich mir wirklich wünsche und doch ist es das Letzte, was ich haben darf. Ich pelle mich aus Jacke und Pullover, lasse sie unachtsam im Flur liegen, verschwinde kurz im Badezimmer und schiebe im Schlafzimmer angekommen meine Hose von den Schenkeln. Richard. Meine Gedanken verharren bei ihm. Ich lasse mich aufs Bett fallen und drehe mich auf die Seite. Ich rufe mir seine Stimme in Erinnerung und zergehe bei der Vorstellung, wie er wieder und wieder meinen Namen sagt. Ich liebe es, wenn er sanfte über seine Lippen perlt. In meinem Traum stehe ich vor ihm. Seine warmen, braunen Augen sehen mich an. Die Bewegung seiner Lippen lässt seine Worte nur erahnen. Ich brauche es nicht zu wissen. Ich strecke meine Hand nach ihm aus und er ergreift sie. Meine Fingerkuppen berühren seine Lippen. Sein sanfter Kuss. Ein Prickeln auf meiner Haut. Ich sehe dabei zu, wie es von meinen Fingern deutlich über meinen Arm wandert, wie es meine Schulter streift und sich dann meine Brust entlang arbeitet. Es tippt an mein Herz und wird von dort wellartig durch den Rest meines Körpers geschickt. Ich zergehe in dem Gedanken und führe die geküssten Fingerspitzen zu meinen eigenen Lippen. Der süße Geschmack der Erinnerung. Das Aroma seiner Lippen. Süß, wie Honig, der langsam über seine Haut fließt. Es ist so deutlich, wie damals. Ein Klingeln zerreißt meinen Traum. Für einen Moment habe ich das Gefühl, dass ich mir das Geräusch nur eingebildet habe, doch es klingelt erneut. Verschlafen schäle ich mich aus dem Bett, greife mir die Hose, die noch immer vor dem Bett liegt und ziehe sie mir beim Laufen über. „Moment...", rufe ich leise bevor es ein weiteres Mal läutet. Ich greife nach dem am Boden liegenden Pullover, während ich die Tür öffne. Das grelle Licht im Flur blendet mich und so kann ich nicht sofort erkennen, wer vor meiner Tür steht. Ich drücke mir den Pullover gegen die Brust und stocke beim Aufrichten. Dunkle Jeans und eine Lederjacke. Warme hellbraune Augen, die mich mustern. Richard. Mein Herz macht einen Satz und ich bin überzeugt, dass ich noch schlafe. Rick kann nicht hier sein. Und doch. Der Ausdruck in seinem Gesicht ist facettenreich. Ich erkenne Unsicherheit und die Suche nach der plausiblen Begründung für seine Anwesenheit. Seine Sehnsüchte. Sein Hoffen. Er macht einen Schritt auf mich zu. Ich weiche zurück. Seine Hand packt den Ärmel meines Pullovers. Nur diese Ärmellänge steht noch zwischen uns. „Du darfst nicht hier sein", flüstere ich meiner Traumgestalt entgegen. Meine Stimme ist nur hauchzartes Wispern. „Ich weiß,...", erwidert er ebenso leise und in meinen Inneren beginnt es beben. Es ist mehr als die Aufregung über seine Anwesenheit. Es ist wie die Zusammenkunft all der verdrängten Gefühle, wie Sehnsucht, Freude und Verlangen unter der mahnenden Haube des Verbotenen. Wenn Rick jetzt nicht geht, dann würden diese Gefühle in mir ausbrechen und ich werde sie nicht mehr unter Kontrolle bringen können. Dessen bin ich mir sicher. Noch immer greift er den Stoff meines Oberteils. Die kühle Luft des Flurs trifft auf meine nackte Haut und ich bekomme Gänsehaut, die sich über meine Arme ausbreitet und meine verborgene Brust überzieht. Unser Blick ist ungebrochen. Erneut macht er einen Schritt auf mich zu und steht damit in meiner Wohnung. Mein Herz schlägt mir dröhnend gegen die Brust. Für einen Moment habe ich das Gefühl, dass es mir aus dem Körper springt. Ricks Finger greifen den Ärmel entlang, dichter an mich heran. Mit jedem Millimeter, dem er mir näher kommt, pulsieren hunderte heiße Schauer durch meinen Leib. „Du musst gehen", kommt es leise fordernd über meine Lippen und ich spüre, wie ich beim Vernehmen meiner eigenen Worte selbsthassend zusammenzucke. Aufmerksam sauge ich jede noch so winzige Regung in seinem Gesicht in mich auf. Das verstehende Aufblitzen. Das wissende Lächeln. „Okay." Mit diesem Wort bleibt für einen Augenblick mein Herz stehen. Ich rechne damit, dass Richard den Pullover loslässt und sich abwendet, doch nichts passiert. Seine sanften Augen durchdringen mich, erforschen mich. Sie verstehen meine Reaktion. Wahrscheinlich besser als ich selbst. „Bitte" Fast flehend, denn ich drohe mich selbst zu vergessen. Ich weiß nicht, ob es verneint oder meine Wünsche offenbart. Mein Kiefer beginnt zu vibrieren. Minimal treffen meine Lippen und Zähne aufeinander, während mir zittrige Schauer über die Wangen gleiten und meinem Hals hinab wandern. Ich kämpfe mit mir. Mit meiner Vernunft und meinen Gefühlen. Doch Rick umgreift den Stoff fester und zieht mich minimal zurück. Ich hefte meinen Blick an seine Hände. Die kleine Narbe an dem Mittelhandknochen seiner linken Hand. Die Bissverletzung eines kleineren Hundes, den Rick unbedingt ärgern musste. Ich sehe dabei zu, wie sie Zentimeter für Zentimeter den Stoff hochgreifen bis er nur noch wenig entfernt vor mir steht. Mein Blick ist gesenkt und als seine Finger fast über meine Brust streichen, schließe ich meine Augen. Seine Nähe. Seine Wärme. Mein Herz schlägt wild und wird noch pulsierender als ich mit einem Mal seine Haut auf meiner spüre. Seine Fingerkuppen fahren über die Schnittstelle von Pullover und meinem Körper. Ich habe das Gefühl, an diesen berührten Stellen zu brennen. „Es tut mir Leid, Lee, aber ich kann nicht." Soviel Zärtlichkeit in diesen Worten. So viel Schuld. Seine Hand wandert von meiner Brust zu meiner Wange. Noch immer sind meine Augen geschlossen. Ich mache einen letzten, halbherzigen Schritt zurück und werde von der Wand gestoppt. Keine weitere Rückzugsmöglichkeit und ich will auch keine. Nun sehe ich auf und blicke direkt in Richards sanft lächelndes Gesicht. Ich lasse den noch immer zwischen uns liegenden Pullover sinken und danach auch fallen. Ebenso Rick. Fast augenblicklich schmiege ich mich in die wärmende Hand an meiner Wange. „Ich habe dich so sehr vermisst", flüstert er. Die gleichen Worte und derselbe Ausdruck in seiner Stimme, wie vorhin am Telefon. Ich starre auf die Bewegung seiner Lippen. Er neigt seinen Kopf gegen meinen. Seine Hände fassen meine Seiten entlang gegen die Wand. Ich schließe die Augen und nehme seinen Geruch in mir auf. An ihm haftet der Duft von Talkum und in seinen Haaren der Rest eines dezenten Aftershaves. Er sieht mich an und löst die Berührung unserer Köpfe dadurch. Ich blicke kurz auf und spüre, wie sein Daumen über meine Wange streicht. Sein Gesicht ist meinem so nahe, doch er neigt sich an meinen Mund vorbei. Ich bleibe völlig unbewegt. Ich spüre, wie er in nur minimaler Entfernung mit seinen Mund meine Wange entlang fährt, wie sein warmer Atem meinen Hals streift und sich in meiner Halsbeuge bündelt. Ich bekomme Gänsehaut und spüre dann seine Lippen auf meinem Schlüsselbein. Sein Mund arbeitet sich zärtlich küssend meinen Hals entlang. Die Berührungen federgleich, doch sie erfüllen meinen Körper mit der Intensität von tausenden streichelnden Händen. Ich ersehne den Moment, in dem er endlich bei meinem Mund ankommt. Mein Herz setzt mit jedem zarten Kuss, der meine Haut trifft, für einen Moment einfach aus. Schier unendlich lange. Doch als ich seine Lippen an meinem Kinn spüre, stoppt er. Nur leicht öffne ich meine Augen, sehe durch den Schleier meine Wimpern, wie er mich anblickt. Ich hebe meine Hand und streiche ihm eine Strähne zurück, lasse sie an seiner Wange liegen. Ein intensives Kitzeln. Heiß und flehend. Ich ziehe seine Lippen endlich auf meine. Sie sind so unendlich süß. Sanfte Explosionen. Erregende Wellen jagen durch meinen Körper und branden an den schwachen Mauern meiner Vernunft. Das vertraute Gefühl ist wohltuend und heilend. Wie sehr ich dieses Gefühl vermisse. Ricks Hände haben sich mittlerweile von der Wand gelöst und ihren Weg auf meinen Körper gefunden. Seine Berührungen fühlen sich real und wahrhaftig an. Mein Puls geht nach oben und lässt meinen Körper wohlig vibrieren. Seine Hände fahren zärtlich meine Seite entlang und seine Daumen streichen dabei über meine elektrisierte Brust. Die Berührungen verursachen mir mehr und mehr Gänsehaut, während seine Lippen liebevoll meine erkunden. Jeden Millimeter des empfindlichen Fleisches berühren und es kosten. Es sind nicht unsere ersten Küsse und doch fühlt es sich so unglaublich liebevoll und sanft an. Ich glaube, dass meine Gefühle für ihn mit jedem vergangenen Jahr noch intensiver geworden sind. In meinem Körper erbeben Wellen von Lust, Verlangen und reiner Sehnsucht. Ricks Hände streichen über meine nackte Brust. Er lässt seine Hand über meinem Herzen liegen und löst den Kuss. Meine Finger wandern von seinem Nacken an seine Wange und ich sehe ihn an. Es ist kein Traum. Rick steht wirklich vor mir. Ich spüre ihn so deutlich unter meinen Fingern. Die Wärme, die er ausstrahlt und die tief in mich eindringt. Ich zergehe bei dem Ausdruck, den seine Augen in diesem Moment haben. Sie spiegeln so viele unausgesprochene Emotionen wider. So viele Sehnsüchte. So viel Schuld. Für einen kurzen Moment lehnt er seine Stirn gegen meine Schulter. Er kämpft mit sich und seinen Empfindungen. Zärtlich und beruhigend streiche ich ihm durch die dunklen Haare, setze den Duft frei, der mich ummantelt, wie eine zärtliche Berührung. Ihn trifft nicht die alleinige Schuld. Wir haben beide Fehler gemacht und müssen nun damit leben. Ich möchte in diesem Augenblick nichts fühlen, außer ihm. Nur seine vertrauten Lippen schmecken und die sehnlichst vermissten Berührungen in mir aufnehmen. Nun bin ich es, der seinen Kopf aufrichtet und ihm fordernd meine Lippen aufdrückt. Keine anderen Gedanken mehr. Nur er und ich. Kapitel 8: Der vertraute Hauch gegenwärtiger Vergangenheit ---------------------------------------------------------- Kapitel 8 Der vertraute Hauch gegenwärtiger Vergangenheit Ich schlinge meine Arme um Ricks Hals, spüre seine Wärme und liebe es. Seine Hände schmiegen sich um meine Taille, greifen mich fest und sehnsüchtig. Es sind die vielen kleinen elektrisierenden Berührungen, die mich vor Aufregung und Erwartung keuchen lassen. Ich widerstehe dem Bedürfnis mich ihm entgegen zu strecken, die Reibung zu erhöhen um noch mehr zu spüren. Seine Finger tasten sich weiter. Fordernd und erkundend, bis seine Hand meine Seite hinauffährt. Ich genieße das selbstsichere Handeln, erwarte sehnsüchtig sein Wissen über die empfindlichen Stellen meines Körpers. Es ist das aufregende Kribbeln des Vertrauten, des Ersehnten, was durch meinen Leib fährt und es paart sich mit der unsicheren Aufregung der vergangenen Jahre. Wir sind keine 17 Jahre alt mehr. Wir haben uns verändert und jede dieser Veränderungen lässt mein Herz vor Neugier pulsieren. Der Geschmack seiner Lippen, die sich sanft, aber intensiv auf meinen bewegen, ist atemberaubend. Jede noch so winzige Stelle wird gekostet und ertastet als wäre ein Schlaraffenland. Der Wechsel von zärtlichen Liebkosungen und dem fordernden Küssen lässt das Verlangen in mir wachsen. Seine Zunge lockt meine. Ich zergehe in dem sanften, stetigen Stupsen, dem Streicheln und Necken. Ich liebe das Gefühl, welches bei jeder noch so winzigen Berührung in mir ausgelöst wird. Alles in mir flattert und kribbelt. Pulsiert und tanzt. Mein Körper ist ein einziges Feuerwerk voller Sehnsucht und Glückseligkeit. Ich beginne ihm durch die Haare zu streicheln und meine Hände fast ungeduldig seinen Körper runter wandern zu lassen. Das Gefühl des kühlen, glatten Leders unter meinen Fingern ist anregend, doch als ich endlich Richards Hose erreiche, keuche ich unerwartet heftig auf. In diesem Moment gleiten seine beiden Hände von meiner Hüfte zu meinem Hintern. Unsere Becken prallen aneinander und ich kann seine eindeutige Erregung spüren. Er auch meine. Er schnappt nach meiner Unterlippen, saugt sie sanft, aber bestimmt zwischen seine. Ich keuche erneut leise auf und spüre, wie seine Zungenspitze kitzelnd über den empfindlichen, inneren Bereich meiner Oberlippen fährt. Ein weiteres Mal und ich habe das Gefühl, dass sich das heftige Kitzeln explosionsartig durch meinen Körper arbeitet. Rick sieht mich dabei mit halb geschlossen Augen erregt an. Ich drücke sein Becken noch einmal gegen meins. Das feine Stöhnen, welches unentwegt seine Lippen verlässt, animiert mich. Ein kleines Lächeln bildet sich in seinem Gesicht bevor er mich wieder innig küsst. Ich gleite mit den Händen zu den Rundungen seines trainierten Hinterns. Rick spannt ihn extra an. Ich drücke die Härte seiner Körpermitte aktiv an meinen Intimbereich, zeige deutlich was ich will. Richard raunt erregt und löst den Kuss. „Okay, okay. Warte." Ich schaue verwundert dabei zu, wie er sich die Lederjacke vom Körper reißt und wie sie ebenso achtlos, wie meine Klamotten vorhin, zu Boden fällt. Ihm ist warm. Er zupft wedelnd an seinem Shirt und beginnt mich zu mustern. Sein Blick wandert über meinen schlanken, sehnigen Körper und bleibt bei meiner geöffneten Jeans hängen. Ich trage keine Unterwäsche und das fällt ihm in diesem Moment das erste Mal auf. Richard schluckt heftig und zieht mich derart schnell zu sich heran, dass ich fast nicht reagieren kann. Sein Kuss ist leidenschaftlich und feucht. Er greift nach dem festen Stoff der Jeans und zieht mich nach oben, so dass ich gezwungen bin mich an ihm festzuhalten. Also schlinge ich meine Beine um ihn. Ich klammere mich an ihn und er presst meinen Rücken gegen die Wand. „Ich habe mich so nach dir gesehnt", raunt er in den Kuss und ich bekomme erneut Gänsehaut. Rick stiehlt sich einen fordernden Kuss und beginnt, meine Zunge zu locken. Die Erinnerungen an die langen, heißen Zungenspiele unserer Vergangenheit lassen meine Erregung frohlocken. Feucht fährt er mir über die Lippen, stupst gegen meine Oberlippe bis ich ihm meine Zunge zum Spielen zur Verfügung stelle. Erst zärtlich und sanft. Dann immer voller und intensiver. Jede Berührung lässt mich erzittern. Sein Geschmack dringt tief in mich ein. Ich will ihn nie wieder vergessen, will ihn nie wieder missen müssen. Trotzdem bin ich es, der die Küsse nun unterbricht. Ich ringe nach Luft. „Rick,...", sage ich atemlos. „Zu schnell?", fragt er fürsorglich und ich schüttele nur den Kopf. Seine Arme stützen mich und sein Becken drückt mich fester an die Wand. Er haucht mir einen sanften Kuss auf die Lippen. „Schlafzimmer. Zweite Tür links.", flüstere ich ihm zu. Er versteht sofort und ich brauche nichts weiter tun als mich an ihm fest zu halten. Während er mich ins Schlafzimmer trägt, küssen wir uns. Vor dem Bett setzt er mich ab. Seine Hände umfassen meine Wangen und zärtlich streichen seine Daumen über meine Haut. Ein zärtlicher Kuss folgt. Ich liebe es, wenn er mich so küsst, aber in diesem Moment brennt einfach nur das Jahre lang angestaute Verlangen in mir, die tiefbrennende Sehnsucht. Geschickt öffne ich seine Jeans und er sieht mich kurz perplex an. Nur minimal wandert seine Augenbraue nach oben und ich tue es ihm gleich. Seine mir vertraute Mimik. Sie hat sich in all den Jahren nicht verändert, auch wenn sich seine Gesichtszüge vertieft haben. Rick lächelt, zieht mich in einen langen Kuss und ich lasse mich aufs Bett fallen. Meine aufgewühlte Bettdecke umfängt mich und Rick bleibt stehen. Erneut wandern seine Augen über meinen schon entblößten Körper. Es ist als würde er einen fremden Körper betrachten und gewisser Weise stimmt das. Sein Blick ist forschend, neugierig und lüstern. Aber auch sanft und liebevoll. Ich hebe unsicher meine Augenbraue und er beugt sich hinab. Mit nur einer Hand stützt er sich auf dem Bett ab und mit der anderen zieht er meine Hosenöffnung auseinander. Danach wandern seine Finger zu meinem Bauchnabel. Sie umkreisen ihn hauchzart und ich spanne automatisch den Muskeln an. Meine Bauchmuskeln heben sich deutlich hervor. Rick leckt sich über die Lippen. Die kühlen Fingerkuppen wandern weiter hinunter, bis sie bei der Knopfleiste der Jeans angekommen sind. Er zieht langsam an meinem rechten Hosenbein und mein Beckenknochen kommt zum Vorschein. Der raue Stoff reibt über meine harte Erregung. Ich unterdrücke ein Stöhnen und schlucke. Richard wiederholt es auf der linken Seite. Sein Blick scheint jeden Millimeter freigelegte Haut in sich auf zu nehmen. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals. Nicht allein wegen der Erregung, die sich schwallartig in mir ausbreitet, sondern vor allem ist es die Spannung. Seine Blicke. Seine Berührungen. Seine Reaktionen. Er wiederholt das Spiel und diesmal legt er meinen Intimbereich komplett frei. Sein Blick wird glasig. Sein Atem beschleunigt sich zusehends. Ich erzittere unter seinem intensiven Blick. Er stützt sich auf beide Arme und seine Lippen berühren meinen Unterbauch. Ein federleichter Kuss. Ich keuche durch die Zartheit auf. Er küsst sich weiter hinab, bis seine Lippen an der Spitze meines Gliedes ankommen. Ich richte mich auf, packe ihn an den Schultern und zerre ausweichend an seinen Pullover, den er noch immer trägt. Sein Blick ist verwundert, doch er fragt nicht nach, sondern streift sich den Stoff über den Kopf und sieht mich weiter an. Ich verstehe meine Reaktion selbst nicht richtig. Wahrscheinlich ist es einfach nur Angst und ein wenig Überforderung. Mein Verlangen nach ihm ist groß. Doch in meinem Hinterkopf flüstert noch immer eine mahnende Stimme, die mir andauernd mitteilt, dass das hier nicht passieren darf. Ich schließe meine Augen und spüre die Bewegung an den Seiten als sich Rick über mich setzt. Seine Finger wandern über meine Brust, umkreisen meine Brustwarzen ohne sie wirklich zu berühren und ich strecke mich seinen Händen entgegen. Er erkundet mich ausgiebig und ich werde immer ungeduldiger. Ich will ihn, will seinen nackten Körper spüren. Ich greife nach seiner tastenden Hand und setze mich auf. Sofort finde ich seine Lippen, gleite mit meinen Händen zu seinem muskulösen Rücken. Ich lege meine gesamte Begierde und mein Verlangen in den Kuss. Es dauert nicht lange und er versteht. Ich brauche ihn jetzt und ich weiß, dass es ihm ebenso geht. Ich lasse meine Hände tief in seine Shorts gleiten. Er stöhnt genüsslich auf. Meine Finger umgreifen die Hitze. Ein Zittern durchfährt mich als ich seine Härte berühre. Ich spüre deutlich, dass er keine weitere Anregung benötigt. Seine Lippen suchen meine. Unsere Zungen locken und umspielen einander. Mal ein sanftes Liebkosen und dann wieder ein erregtes Machtspiel. Ich genieße seine Dominanz. Ich will das, denn ich brauche es. Rick richtet sich auf. Mit schnellen Bewegungen entledigt er sich endlich seine Unterhose. Ich starre auf seine Körpermitte und halte für einen Moment die Luft an. Meine Erinnerungen mischen sich mit der Realität und ich keuche auf. Ich spüre, wie ich rot werde und lächelnd zieht mir Rick die Hose von den Füßen. Kein Stoff. Nichts, was zwischen unseren Körpern sein wird. Ich kann meine Augen nicht von seiner Erregung nehmen und sehe erst auf, als sein Gesicht vor meinem auftaucht. Zu meinem Glück sagt er nichts, denn ich werde nur noch beschämter. Er haucht mir einen Kuss auf die Lippen. Bevor er sich über mich legen kann, drehe ich mich um. Ich spüre seine Hände, die mich aufhalten wollen, doch ich lasse mich nicht davon abbringen. Schweigend nimmt er es hin und ich merke, wie sich seine Lippen meinen Nacken entlang küssen, dann dem Pfad meines Rückens hinab wandern. Er ist zärtlich, aber ich spüre die Ungeduld. Ich empfinde sie auch. Ich biete mich ihm an. „Warte...", gibt er schwer atmend von sich und sieht sich um, „Hast du irgendwas da, was wir benutzen können?" Ich schüttele den Kopf und sehe zu ihm nach hinten. Sein Blick wandert zu meinem Nachtisch und er greift gezielt zu der einfachen Feuchtigkeitscreme, die ich für meine trockene Haut benutze. Sie hat einen hohen Aloe Vera-Anteil. Rick betrachtet das Etikett. Ich greife mir das Kopfkissen, umfasse es und schiebe es etwas unter meinen Oberkörper. Als Rick noch immer alles andere macht, nur nicht das, was er soll, beginne ich meinen Hintern an ihm zu reiben. Er antwortet mir mit einem wohligen Stöhnen und endlich merke ich, wie er die kühle Creme auf mir verteilt. Ich selbst greife zwischen meine Beine, spüre ein wenig der Feuchtigkeit, die an mir hinabrinnt und beginne mich selbst abzulenken, während seine Finger geschickt ihrer Arbeit nachgehen. Das Gefühl ist gut. Anders. Ungewohnt und vergessen. Aber seine Sanftheit lässt meinen Körper ungeduldig betteln. Ich presse mich ihm entgegen und keuche verlangend seinen Namen. Rick küsst, streichelt und doch kommt er nicht dagegen an. Meine Finger krallen sich in das Kissen als überraschend leichter Schmerz durch meinen Körper rollt. Ich spüre ihn. Richard greift nach meiner Hand und hält innen. Mein Atem geht schwer. Ricks warmes Keuchen streift meinen Hals, trifft auf meine Wange und fühlt sich an, wie ein beruhigendes Streicheln. „Tut mir Leid", haucht er und langsam entspanne ich mich wieder. Seine Lippen küssen über meinen Hals, verweilen an meinem Nacken und erst als ich wieder genüsslich keuchend unter ihm liege, beginnt er sich weiter zu bewegen. Tief. Ekstatisch. Seine Hand umfasst weiterhin meine. Ich ziehe meinen Oberkörper hoch und stütze mich auf meinen Armen ab um ihm einen besseren Widerstand zu bieten. Ich drücke ihm mein Becken entgegen, möchte ihn noch intensiver spüren. Seine freie Hand wandert über meine Brust, streicht über meinen angespannten, flachen Bauch und findet den Weg in meinem Intimbereich. Schlanke, kräftige Finger legen sich um meine Erregung und beginnen mich gleichmäßig zu stimulieren. Ich keuche genüsslich, aber leise auf, während Ricks Stöße immer intensiver, aber kaum schneller werden. Der explosive Druck in meinem Inneren macht mich fast verrückt. Ich will mehr. „Richard." Ich keuche absichtlich seinen vollständigen Namen und spüre sofort, wie er einmal extra hart zu stößt. „Eleen", stöhnt er mir heiß und lang gezogenen retour ins Ohr. Ich erzittere bei der Erwähnung meines vollen Namens. Der Griff an meiner Hand und an der anderen Stelle meines Körpers wird fester und die Bewegungen werden endlich schneller. Die Intensität. Sein Rhythmus. Seine Wärme. Das Alles verhindert, dass ich mich gut konzentrieren kann. Ich brauche eine Weile bis ich mich endgültig dem Höhepunkt nähere. Doch als sich der konzentrierte Druck immer intensiver bündelt, kippt mein Oberkörper zurück auf das Bett. Um nicht laut zu stöhnen, lasse ich seine Hand los und drücke mir meine Hand gegen den Mund und beiße mir am Ende ins Handgelenk. Ich merke, wie Rick versucht meinen Arm weg zuziehen, doch er schafft es nicht. Er beugt sich über mich. Seine Lippen treffen meinem Hals. Ich weiß, dass er noch nicht gekommen ist, doch er macht keine Anstalten sich weiter zu bewegen. Seine Lippen an meinem Ohr. „Jetzt weiß ich wieder, warum die Position nicht mein Favorit ist." Der Klang seiner Stimme schickt blitzende Schauer durch meinen Leib. Ich stöhne nicht laut. Das habe ich noch nie. Ich habe ihm nie gesagt, warum. Rick hingegen hält seine geräuschvolle Erregung nicht zurück. Sein ekstatischer Bariton erfüllt den Raum und ich genieße es. Es gefällt mir sehr. Ich necke ihn absichtlich, spanne meinen Körper rhythmisch an. Er richtet sich wieder auf und beginnt erneut sich zu bewegen. Er genießt es. Kostet und zögert es heraus. Und obwohl ich bereits gekommen bin, jagen noch immer heiße Schauer der Erregung durch meinen Körper, die allein durch das Gefühl ihn zu spüren ausgelöst werden. Es könnte ewig anhalten. Ein lautes, erfülltes Stöhnen. Ich fühle, wie seine Hände meine Seite entlang fahren und sein Oberkörper nach vorn fällt. Sein heißer Atem streift meine feuchte Haut. Seine Finger suchen die meinen und sie verschränken sich miteinander. Ich lasse meine Augen geschlossen, genieße das Aufprallen seiner bebenden Brust gegen meinen Rücken. Das sanfte Hämmern seines rasenden Herzens, welches bis zu meinem eigenen vordringt. Es ist wunderbar. Es ist richtig. Ich blicke auf seinen schlafenden Körper. Rick liegt auf dem Bauch und sein zu mir gewandter Arm verdreht sich angewinkelt unter seinen Körper. Das hat er schon immer gemacht und ich fragte mich schon damals, warum ihm der Arm nicht permanent einschläft. Ich schlafe nie auf dem Bauch, aber für Rick gibt es nichts Besseres. Ich lächele als ich mir die Erinnerungen ins Gedächtnis rufe. Es war nach einer der ersten Nächte, die wir zusammen in einem Zelt verbracht hatten. Rick fiel immer zur Hälfte von der Luftmatratze und irgendwann haben wir unsere Matratzen zusammen geschoben, sodass er nicht immer auf dem Boden landete. Ich hatte nicht schlafen können, weil mir die Nähe eines anderen Körpers so unbekannt war. Ich lag die gesamte Nacht wach, konnte ihm bei Mondlicht schlafen sehen und sah unter anderen auch die seltsamen Positionen, die er gelegentlich einnahm. Sein Arm lag so nah bei mir, dass ich ihn die Nacht an meiner Brust gespürt habe. Ich lächele versonnen, während sich das zärtliche Kribbeln, welches ich schon damals empfand, durch meinen Körper arbeitet. Sein muskulöser Rücken hebt sich, während der ruhigen, gleichmäßigen Atembewegung. Mein Blick wandert von seinem Nacken über die leicht erhabenen Bögen seiner Wirbel. Eine vertraute Bewegung. Ein bekanntes Geräusch, welches ich unendlich vermisst habe. In den Nächten unserer Jugend habe ich oft neben ihm gelegen und einfach nur seinem Atem gelauscht. Es war hypnotisch und beruhigend gewesen, denn es vermittelte mir das Gefühl, dass ich nicht allein war. So, wie jetzt. Ich setze mich vorsichtig auf, halte inne, als ich neben mir eine Regung spüre. Er wenden seinen Kopf zu mir und nun kann ich in sein schlafendes Gesicht sehen. Ich lehne mich zurück und spüre die leichte Kälte der Nacht auf meiner nackten Haut. Sie verursacht ein Ziehen in meinen Brustwarzen und wird zu einen sanften Prickeln. Sein vertrautes Gesicht mit den markanten Zügen. Eine Strähne fällt über sein Auge und vorsichtig streiche ich sie davon. Eine winzige Bewegung an seiner Nase und er atmet kurz heftiger aus, um das kitzelnde Gefühl zu vertreiben. Kleine Runzeln bilden sich auf seinem Nasenrücken. Ich lächle und fahre erneut hauchzart mit meinen Fingern durch seine verwuschelten Haare. Voll und weich fühlen sie sich an. Eine weitere sanfte Regung in seinem Gesicht und ich lasse meine Hand sinken. Ich möchte ihn nicht wecken und schließe meine Augen. Allein seine Nähe gibt mir das Gefühl in einer Wolke der Geborgenheit zu ruhen. Es sind Wärme und Zufriedenheit, die sich in meinen Leib ausbreiten und jeden dunklen Gedanken von mir abprallen lassen. Es fühlt sich wunderbar an und ich möchte diesen Augenblick genießen und festhalten. Als ich meine Augen wieder öffne, sehe ich direkt in Ricks sanfte helle Iriden. „Kannst du nicht schlafen?", fragt er flüsternd und ich schüttle unmerklich den Kopf. „Nein", flüstere ich genauso leise hinterher. Ich will es nicht. In meinem Inneren bildete sich die Befürchtung, dass das Ganze, wenn ich erwache nur ein Traum gewesen sein könnte. Albern und naiv. Doch mit ihm an meiner Seite werden meine vergessenen kindlichen Verhaltensweisen geweckt. Während meiner Gedanken lasse ich unbewusst meine Hand über seinen Kopf wandern. Tastend und mich selbst beschwichtigend über seine wahrhaftige Anwesenheit. Die warme Haut unter meinen Fingern ist wohltuend und beruhigend. Es ist das feine erleichterte Ausatmen, welches er wahrnimmt. „Hält dich etwas Bestimmtes wach?", fragt er ruhig und liebevoll. Richard setzt sich auf. Die Decke gleitet von seinem Körper. Ich folge der raschelnden Bewegung und fahre mit meinen Blicken die freigelegten Stellen seines Körpers ab. Die dunklen Haare, die an seinen Unterbauch beginnen und sich mit den Schatten seines Schrittes vereinen. Die Vorstellung seines nur noch leicht bedeckten Leibes jagt zarte Erregung durch meine Glieder. Er beobachtet meine Regungen, sieht meine bebenden Lippen, auf die ich zu beißen beginne. Ich halte die Luft an als er seine Hand nach mir ausstreckt und mit den Daumen über meine Unterlippe streicht. Er beugt sich nach vorn und haucht mir einen federleichten Kuss auf die Lippen. „Was geht nur in deinem Kopf vor?" Wieder ein Kuss, der mich veranlasst die Augen zu schließen. Ich kann ihm darauf keine eindeutige Antwort geben und schweige. So habe ich es immer getan und er hat es mir nie krumm genommen. Auch jetzt nicht, denn ich spüre erneut seine warmen Lippen. Sie sind leicht trocken, doch das stört mich nicht. Ich beginne die Küsse zu erwidern. Noch stützt er sich auf seine Arme und beugt sich zu mir, doch nach einem Moment merke ich, wie er mir die Decke von den Schenkeln zieht. Eine minimale Unterbrechung des Kusses und dann setzt er sich über mich. Meine Hände legen sich an die Hüften des größeren Mannes, ertasten die Hitze und Weichheit seiner Haut. Ich habe das Gefühl, noch nie eine solche Wärme gespürt zu haben. Sie umgibt mich und wiegt mich sanft aber unnachgiebig in berauschende Erregung und heilende Geborgenheit. Seine nun feuchten Lippen umspielen meine. Locken und kitzeln. Seine Hände streichen durch meine Haare und obwohl ich begierig seine Berührungen fordere, löst er seine Lippen. Enttäuscht lecke ich über mein empfindliches Fleisch. Seine Hände liegen weiterhin an meinen Wangen und er zwingt mich sanft ihn anzusehen. Wie soll ich nein sagen können? Die schönen und atemberaubenden, hellen Augen. Die feine Narbe an seiner Unterlippe. Ich widerstehe der Versuchung darüber zu streichen. „Ich habe dich so unglaublich vermisst", murmelt er zärtlich und ich höre, wie seine Stimme zittert. Sein Kopf legt sich auf meine linke Schulter. Eine verzweifelt wirkende Geste, die so viel Ehrlichkeit und Wahrheit ausdrückt, dass es mich schmerzt. „So sehr. Mehr als du dir vorstellen kannst." Ich schließe meine Augen. Ich lege ihm zärtlich meine Hand in den Nacken, fahre durch seine Haare und über die feuchte Haut seines Hals. Die jahrelange Trennung hat Narben verursacht, Furcht geschürt, aber niemals unseren Glauben aneinander erschüttert. Das wird es auch nie. Langsam merke ich, wie die Müdigkeit in mir reift. Zu dem benebeln mich sein sanfter Duft und die unendliche Wärme, die von seinem Körper ausströmt. Ich streichele über seinen Rücken und küsse seine Schulter, bis ich spüre, dass sich sein Körper wieder mehr strafft. Er richtet sich auf und sieht mich erneut eindringlich an. Ich halte meine Augen geschlossen und spüre seine Lippen. Wieder sanft und federleicht. Richard bewegt sich von mir runter und zieht mich dann in eine liegende Position. Seine Arme legen sich wiegend und schützend um meinen schmalen Körper und diesmal schlafe ich schnell und tief. Ps vom Autor: An dieser Stelle einen herzlichen und lieben Dank an meinen treuen Kommieschreiber und Leser. :) Ich danke euch von ganzen Herzen, dass ihr meine Geschichten mögt. Ich verspreche euch, dass ihr auch bald mehr über die Hintergründe von Eleen&Richard erfahrt...tüdelü! Gruß, del Kapitel 9: Die schleichende Furcht vor dem Verlassensein -------------------------------------------------------- Kapitel 9 Die schleichende Furcht vor dem Verlassensein Das durchdringende Geräusch meines Weckers erschreckt mich nicht, denn obwohl ich nur wenige Stunden geschlafen habe, bin ich bereits vor dem Klingeln wach. So ist es fast immer. Ich ertrage das nervende Piepen einfach nicht und mein Körper hat dagegen eine Schutzfunktion eingerichtet, die mich stets ein paar Minuten vorher erwachen lässt. An diesem Morgen eine Viertelstunde früher. Ich spüre Richards warmen, schlafenden Körper neben mir, der sich bei dem energischen Lauten des Weckers die Decke über den Kopf zieht. Ich beuge mich zu dem Gerät, welches auf der anderen Bettseite steht und schalte es aus. Richard murmelt etwas Unverständliches und ich nehme an, dass es entweder eine Beschwerde oder ein Dank ist. Ohne Elan, aber wach, schwinge ich die Beine aus dem Bett. An der Tür bleibe ich stehe und sehe zurück auf den bedeckten Leib des anderen. Das ruhige Atmen, welches eindeutig unter der Decke erkennbar ist, lässt mich sanft lächeln. Das rhythmische Bewegen seines Fußes, der über das Laken streicht, zeigt mir, dass er trotz allen Widerstandes wach ist. Als ich geduscht aus dem Badezimmer trete, hat sich Richard auf den Rücken gedreht und sieht mir dabei zu, wie ich mir die Haare trockne. „Es ist Samstag", murmelt er mir entgegen und zieht eine Augenbraue nach oben. Seine verwuschelten Haare rahmen ein müdes Gesicht. „Und?" „Du hast einen Wecker gestellt?" „Nein, ich habe ihn nur nicht ausgestellt", erkläre ich lapidar. „Hast du dir diese irrsinnige Angewohnheit sofort hellwach zu sein noch immer nicht abgewöhnt?", fragt er amüsiert und dreht sich auf die Seite. „Bist du immer noch ein Morgenmuffel?", frage ich retour, die Antwort bereits kennend und ernte ein Murren. Schon damals waren unsere jeweiligen Morgenrituale sehr unterschiedlich gewesen. Rick brauchte ewig um vernünftig am Tag teilnehmen zu können. Oft saß er murrend und grummelnd am Küchentisch, nickte Gespräche und Fragen einfach nur ab und man war sich nicht sicher, ob er deren Inhalte wirklich verstanden hatte. Ich bin anders. Sobald ich meine Augen aufschlage, beginnt es in meinem Kopf zu rumoren und zu arbeiten. Meine Gedanken stehen nicht still, egal, wie sehr ich es mir wünsche. Einmal wach, schlafe ich nicht wieder ein. Dabei schlafe ich sehr gern, denn dann ist es in meinem Kopf endlich still. Ein weiteres Mal fahre ich mir durch die feuchten Haare. Wir sind so unterschiedlich und doch habe ich mir niemals jemand anderen an meine Seite gewünscht als Rick. Vielleicht sind es gerade die Unterschiede, die mich so sehr an ihn binden, denn er gibt mir Sicherheit, Vertrauen und Stabilität, weil er nicht so ist, wie ich. Während ich darüber nachdenke, halte ich in meiner Bewegung inne und lasse das Handtuch letztendlich sinken. „Wo bist du schon wieder mit deinen Gedanken?", fragt er mich. „Bei dir", wispere ich. Dass sich Richard nach vorn beugt, begreife ich erst, als er mich an der Hand packt und zurück auf das Bett zieht. Erschrocken stütze ich mich über ihm ab und sehe in sein belustigtes, noch immer leicht zerknautschtes Gesicht. „Und wieso muss ich dich erst wieder richtig aufs Bett ziehen, damit das wirklich stimmt?" Seine Augenbrauen zucken nach oben und geben seinem Gesichtsausdruck etwas Schelmisches. Wieder eine vertraute Mimik. Ich lächele und knie mich hin. Rick lehnt am Kopfteil des Bettes. Ich taste nach seiner Hand und er nimmt es als Anlass, mich zu sich zu ziehen. Ich bleibe an seiner Brust liegen und schließe die Augen. Genießerisch ziehe ich seinen schlafgetünchten Duft in mich ein und erfreue mich an dem leichten Kitzeln, welches die Priese Sex verursacht, die noch immer an seiner Haut haftet. Wir genießen einander. „Wie hast du mich eigentlich gefunden?", frage ich leise und öffne meine Augen. Aus meiner Position heraus kann ich sehen, wie sich Richards Atmung etwas beschleunigt und sein voriges Streicheln über meinen Nacken fahriger wird. Wahrscheinlich wird mir die Antwort nicht gefallen. In meinem Kopf erklingen die Worte des Kontaktverbotes. Ich weiß nicht, wie viele Schreiben ich davon besitze. Ihr Inhalt ist immer derselbe und jedes Jahr bekomme ich von meinem Bewährungshelfer ein Neues. Ich kann sie mittlerweile auswendig. Das zu widerrechtliche Handeln wird mit sofortiger Zwangshaft geahndet. Nicht einmal Ewan weiß, dass ich jedes Jahr ein Neues zu gesendet bekomme, was mich daran erinnert, dass ich den Mann, der unmittelbar vor mir liegt, nicht zu nahe kommen darf. Sybilla Paddock wird es so angeordnet haben, damit ich es nicht vergesse. Doch wie sollte ich das? „Ich bin dir gefolgt." Die Antwort gefällt mir wirklich nicht. Ich setze mich auf und Rick lässt seine Hand sinken. Im Grunde überrascht es mich nicht und doch wird mir einen Moment lang eiskalt. Nicht weil er es getan hat, sondern weil mir sofort die seltsamen Begebenheiten in den Sinn kommen, die mich in den letzten Tagen wachhalten. Auch Richard richtet sich auf und legt seine Hände auf meinen Schultern ab. „Lee, mich kann niemand gesehen haben. Es war stockdunkel", versucht mich Rick zu beschwichtigen, doch ich ziehe meine Knie an mich heran und igle mich etwas ein. Mir kommt das verdächtige Auto in den Sinn und auch die Person, die sich anscheinend auf Arbeit nach mir erkundigt hat. Sollte ich ihm davon erzählen? Es sind sicher nur Hirngespinste. Mehr nicht! Ricks Hand legt sich an meinen nackten Rücken. Er streicht hinauf zu meiner Schulter und er beginnt mich beruhigend zu massieren. „Hör zu. Es war mitten in der Nacht und es war wirklich niemand, keine Menschenseele zusehen." Sein Arm gleitet nach vorn und ich spüre seine warme Brust, die sich gegen meinen Rücken presst. Seine Lippen an meinem Hals küssen die empfindliche Haut am Übergang zu meinem Kiefer. „Ich werde nicht zulassen, dass dir noch einmal so etwas passiert, Eleen." Wieder benutzt er meinen vollen Namen und es jagt mir damit einen Schauer durch den Leib. Er drückt mich fest an sich. Seine Umarmung ist beruhigend und gefühlvoll, aber auch unnachgiebig und besitzsichernd. Ich genieße die Vorstellung ewig in seinen Armen zu bleiben. Ein Wunsch. Ein Traum. Langsam wird mir bewusst, dass das, was wir hier gerade tun, gefährlich ist. Es gibt so viele Dinge, über die wir noch nicht gesprochen haben. Von Ewan weiß ich, dass Rick das Erbe der Familienfirma antreten musste. Ihm wurde keine Wahl gelassen. Ich denke an seine Mutter. Sie ist überall, dass war sie bereits damals. Ich weiß, dass sie mich noch nie gemocht hat. Ich bin kein Umgang für ihren privilegierten Sohn. Das Kontaktverbot war ihre genugtuende Konsequenz. Richards Arme liegen noch immer um meinen Körper und er streicht mir über den flachen Bauch. „Du weißt, dass ich dem Kontaktverbot nie zugestimmt habe. Jedenfalls nicht freiwillig." Es ist, als würde er meine Gedanken lesen. „Ich weiß", flüstere ich ihm zu und spüre, wie die Umarmung plötzlich noch heftiger wird. Als würde er mir nicht abkaufen, dass ich es wirklich weiß und daran glaube. Aber dem ist nicht so. Ich weiß es sehr wohl. „Wie geht es ihr?", frage ich leise. „Wem?" Seine Nase drückt sich an meinen Hals. Er schnuppert an mir. „Deiner Mutter." Meine Stimme ist nur ein Flüstern. Ich spüre, wie sich Richard hinter mir etwas verkrampft. „Sie ist herrisch, wie immer", sagt er belustigt und definitiv ausweichend. Seine Hand beginnt von neuem über meinen Bauch zur streichen. „Richard, bitte..." Er unterbricht mich. „Eleen, bitte, lass uns nicht über sie reden. Nicht jetzt. Bitte." In seiner Stimme schwingt so viel Schmerz. Ich schließe meine Augen und verspüre Unsicherheit. „Wir müssen irgendwann darüber reden...über all das, was geschehen ist." „Das werden wir, aber nicht jetzt, hörst du." Richard zieht mich rückwärts in eine liegende Position. Seine starken Arme umfangen mich, doch dann schiebt er mich etwas zur Seite und beugt sich über mich. In seinen Augen spiegeln sich Trauer und unendliches Verlangen. Reine Sehnsucht. Ich strecke meine Hand nach ihm aus und streiche ein paar Strähnen zurück. Sie halten nicht hinter seinen kleinen Ohren. „In diesem Moment will ich dich einfach nur spüren und bei dir sein." Seine zittrige Stimme irritiert mich, doch als sich seine köstlichen Lippen auf meine legen, wischen sich langsam alle Bedenken und Gedanken fort. Ich beuge mich seinem Willen nicht darüber zu sprechen und zergehe gänzlich in unserer Blase der heiligen und unberührten Scheinwelt. Den gesamten Samstag verbringen wir im Bett. Sein warmer, ständig präsenter Körper benebelt mich und irgendwann habe ich das Gefühl auf einer Wolke der Glückseligkeit zu schweben. Jede noch so winzige Berührung, jedes seiner liebevoll gesprochenen Worte nehme ich in mir auf, sauge sie regelrecht ein. Wir verlieren kein Wort darüber, dass wir uns am nächsten Tag wieder trennen müssen und obwohl ich seine Anwesenheit intensiv genieße, schwelt die ganze Zeit dieser grässliche Gedanke in mir. Wir werden uns wieder trennen müssen. Es beschäftigt mich so sehr, dass ich die Nacht nicht schlafen kann. Ich lausche seinen ruhigen Atem, fahre hin und wieder sanft durch seine Haare oder über seinen Körper. Rick wacht nicht auf und ich schlafe einfach nicht ein. Am Morgen glaubt er, dass ich einfach nur wieder früher wach geworden bin. Ich gieße zwei Tassen Kaffee auf und betrachte die kläglichen Reste in meinem Kühlschrank. Richard ist im Bad. Im Hintergrund kann ich das Geräusch der Dusche vernehmen und mit einmal ertönt ein mir unbekannter Klingelton aus dem Flur. Im Dunkel leuchtet das Handydisplay auf der Kommode besonders stark. Ich stelle die Tasse beiseite. Es ist Richards Handy. Als ich die Melodie erkenne, geht sie mir durch Mark und Bein. Die Teufelssonate von Giuseppe Tartini. Auf dem Display erscheint der Name von Richards Mutter und ich erstarre unentwegt auf die leuchtenden Buchstaben. Ihre zornigen Augen kommen mir in den Sinn. Ihre schmalen, hellhäutigen Finger, die sich mit jedem meiner Worte mehr und mehr ineinander verschränkt und verkrampft hatten. Ihre straffen Schultern, die sich die gesamte Verhandlung nicht entspannten. Aber am Schlimmsten war dieser Blick gewesen. Ihre hellblauen Augen waren voller Kälte, Zorn und Wut. Rick kommt nur mit einem Handtuch um der Hüfte aus dem Badezimmer. Mit einem weiteren rubbelt er sich durch die feuchten Haare als er mich sieht, lächelt er. „Dein Duschbad ist alle..." Er bricht ab und sieht mich fragend an. „Alles okay?" Ich schaue von seinem Handy auf und nicke. „Ich habe noch welches im Schrank", sage ich ausweichend. Rick kommt auf mich zu und sieht auf das Telefon auf der Kommode. Ich versuche seinem Blick auszuweichen, doch er greift nach dem Gerät und mit der anderen Hand nach mir. Er schaut, weshalb ich so durch den Wind bin. Er legt das Telefon an sein Ohr hört die Mailbox ab. Ich rechne damit, dass er mit diesem Anruf gleich losfährt. Mein Puls geht augenblicklich nach oben und ich wende mich von dem halbnackten Mann ab. Rick hält mich weiter fest. „Möchtest du noch einen Kaffee?", frage ich leise und spüre anstatt einer Antwort, seine Arme, die sich um meinen Bauch schlingen. „Ja, gern und einen Toast, Marmelade, Schokolade oder irgendwas anderes, was ich dir vom Körper lecken kann." Auf meinen Lippen bildet sich ein beschämtes Lächeln. Dass er nicht sofort geht, beruhigt mich ungemein. „Was wollte sie?" „Wissen, wo ich bin und mir noch einmal deutlich sagen, dass ich am Montag die Fusion nicht versauen darf." Seine Lippen legen sich an meinen Hals, doch ich bin so in Gedanken, dass ich die Berührung kaum wahrnehme. Fusion. Aller höchstes Wirtschaftsvokabular und ich verstehe nicht, welche Bedeutung diese Worte haben. Ich weiß nur, dass Richard niemals, wie sein Vater werden wollte und nun zwang ihn Sybilla Paddock genau dazu. Ich wende mich zu ihm um, sehe in ein verwundertes Gesicht und hauche ihm dann einen Kuss auf die Lippen. Ich spüre unsagbare Schuld. „Wofür war der?", fragt er flüsternd und ich zucke nur mit den Schultern. Er musste von meinen Gewissensbissen nichts erfahren. „Ich mache dir Frühstück.", gebe ich von mir und lose mich von ihm. Rick sieht mir nach, als ich in die Küche zurück kehre und schweigend beginne, die letzten Lebensmittel aus meinen Kühlschrank zu kramen. Ich gähne als ich mich zu ihm auf die Couch setze. Der wenige Schlaf der letzten Nacht macht mir zu schaffen. Aber ich hatte jede noch so winzige Sekunde mit Richard genießen wollen. Schlafen kann ich auch später noch. „Wann willst du los?", frage ich leise und lehne meinen Kopf zurück auf die Couchlehne. Rick streicht mir eine paar Haare von dir Stirn und ich schließe meine Augen. „Ich muss gegen 16 Uhr los. Ich werde noch ein bisschen was für die Arbeit vorbereiten müssen." Die Tatsache, dass er das Wort 'wollen' nicht verwendet, lässt mich zufrieden schmunzeln. „Okay." Ich spüre nur noch, wie er mich an der Schulter runterzieht und ich mit dem Kopf auf seinem Schoss zum Liegen komme. Seine warmen Finger streichen durch meine Haare und ich seufze versonnen vor mich hin. „Hast du wieder die halbe Nacht nicht geschlafen, Lee?", flüstert er mir entgegen und ich bin mir sicher, dass er dabei lächelt. „Ich konnte nicht...", murmele ich und sauge Ricks Duft in mich ein. Seine Wärme. Sein Liebe. Ich fühle mich in eine Wolke der Geborgenheit gehüllt. „Es ist lieb von dir, dass du über mich wachst..." Er beugt sich nach vorn und ich spüre seine sanften Lippen auf meinen. Zärtlich. Liebevoll. „Jetzt pass ich auf dich auf." Ein Kuss an meine Stirn und ich dämmere weg. Ich schlafe traumlos und unglaublich tief. Hin und wieder habe ich das Gefühl, dass mich eine zärtliche Hand berührt. Durch meine Haare fährt und ich merke den sanften Druck einer Hand, die sich schützend auf meine Brust legt. Direkt über meinem Herzen. In diesem Moment spüre ich genau das. Sie streicht über meine Brust, hinab zu meinem Bauch. Ein sanftes, wunderbares Gefühl. Ich atme tiefer ein und die Hand bleibt still am unteren Ende meines Bauches liegen. Nur kurz öffne ich die Augen, sehe das schwere Dämmerlicht. Das Flackern des Fernsehers. Ich brauche eine Weile bis ich merke, dass es bereits sehr spät sein muss. Rick lächelt sanft. „Oh, warum hast du mich nicht geweckt? Wie spät ist es?", frage ich benommen und blinzele ihm entgegen. Seine sanften Augen mustern mich und dann beugt er sich zu mir nach vorn. Die Berührung unserer Lippen ist nur ein Hauch und doch ist es das schönste Gefühl von allen. „Habe ich doch gerade, oder?" Rick lehnt sich wieder zurück an die Couch und ich fahre mir müde durch die Haare, setze mich auf und mein Blick fällt auf die Uhr am Telefon. Ich schrecke auf als sie mir verdeutlicht, dass es schon nach 18 Uhr ist. „Scheiße Rick, es ist schon so spät. Du hast doch gesagt, dass du 16 Uhr los musst." Mittlerweile bin ich von der Couch gesprungen und schaue den ruhig sitzenden Mann an, der in diesen Moment scheinbar alle Zeit der Welt hat. „Halb so wild." Er beugt sich nach vorn und zieht mich zurück auf die Couch. Ich knie mich neben ihn und sehe ihn an. Ich verstehe nicht, warum er mich nicht einfach geweckt hat. Außerdem muss er fast fünf Stunden ohne Bewegung gesessen haben. Wie hat er das ausgehalten? „Schau nicht so schrecklich schuldbewusst. Ich wollte dich nicht wecken, denn du hast so schön geschlafen und dabei so verdammt niedlich ausgesehen. Genauso, wie damals." Sein freches Grinsen lässt mich erröten und jagt mir zu gleich das schreckliche Gefühl des Verlassenwerdens durch den Leib. Nun wird er gehen und ich habe die letzten Stunden unseres vielleicht letzten Zusammenseins verschlafen. Die Vorstellung sorgt für Beklemmungen, die sich in mir ausbreiten. Rick greift nach meinen Händen und zieht mich sachte in seine Arme. Eine Weile bleiben wir einfach so sitzen. „Sei vorsichtig", hauche ich ihm vom Türrahmen aus entgegen. Richards Blick wird weich und noch einmal kommt er auf mich zu. Er greift nach meiner Hand und führt meine Handfläche zu seinen Mund. Ein Kuss seiner warmen Lippen. Danach folgt ein weiterer auf die Kuppen meines Zeige- und Ringfingers. Durch die kühle meiner Finger spüre ich die Hitze seiner Lippen besonders intensiv. Ein warmer Schauer durchfährt meinen Körper und ein hauchzartes Keuchen entflieht meinen Lippen. Wie soll ich nur eine weitere Trennung überstehen? Mein Herz beginnt zu spannen. Wir wissen nicht wann und ob wir uns wieder sehen. Das Reißen in meiner Brust wird immer schmerzhafter. Meine Augen füllen sich mit Tränen. Ich blicke zu Boden und versuche die heftigen Gefühle zu verbannen, doch ich schaffe es nicht. Richard macht einen Schritt auf mich zu. „Eleen, wehe wenn du jetzt weinst. Wir kriegen das hin verstanden? Hast du verstanden?" Ich sehe auf und nicke kaum merklich. Rick mochte es nicht, wenn ich weinte. Dann fühlt er sich unsicher und glaubt, irgendetwas falsch zu machen. Das war schon damals so. Doch in diesen Moment ist mir nach weinen. Ich reiße mich nur halbherzig zusammen. „Du kannst mich jeder Zeit erreichen, Lee. Jeder Zeit. Und ich versichere dir diese Nummer kennt niemand anderes. Sie wurde nie benutzt. Nur von dir." Ein weiteres Mal haucht er einen Kuss auf meine Fingerspitze und wendet sich dann um. Ich bin froh und enttäuscht, dass er mich nicht auf den Mund küsst, denn ich weiß nicht, wie stark meine Sehnsucht dadurch noch werden würde. Ich kann ihn anrufen. Seine Stimme hören und in meinen Erinnerungen zerfließen. Ich nehme mir vor, es nicht zu tun. Noch immer müde lasse ich mich auf die Couch fallen. Mein Bein baumelt über die Lehne und das andere steht fest am Boden. Ich habe kalte Finger und ich betrachte die beiden Finger, an die Richard vorhin seinen Lippen gelegt hat. Noch immer spüre ich das zarte Kribbeln, welches sich meinen Arm entlang arbeitet. Unwillkürlich führe ich meine Hand zu meinen Lippen. Ich stelle mir vor den Geschmack seiner Lippen aufzunehmen. Ich will ihn so gern wiedersehen. Ich muss ihn wiedersehen, aber ist das wirklich eine gute Idee? Was, wenn ich mir die Beobachtungen nicht einbilde? Doch wer sollte uns beobachten? Fast automatisch wandern meine Gedanken sieben Jahre zurück in die Vergangenheit. Vielleicht hatte Richards Mutter herausbekommen, dass wir in derselben Stadt wohnen und deshalb jemanden auf mich angesetzt, aber wie hätte sie das herausbekommen sollen? Ich bin nirgendwo gemeldet, außer bei meinem Bewährungshelfer und der durfte solche Informationen nicht einfach herausgeben. Der Gedanke beschäftigt mich den Rest des Tages. In meinem Kopf formen sich Pros und Kontras. Während ich die Wohnung aufräume, lese und mich von dem nichts sagenden Fernseherprogramm berieseln lasse. Am späten Abend habe ich das Gefühl, dass mir die Decke auf den Kopf fällt und beschließe mir eine Kleinigkeit zu essen zu holen. Ich entscheide mich für die Pizzeria um die Ecke. Richard liebt Pizza. Ein Lächeln auf meinen Lippen als ich den Türschlüssel ins Schloss stecke. Mit einem feinen Klack öffnet sich die Tür und ich trete in den dunklen Treppenaufgang. Mein Blick wandert über die Schilder der Briefkästen. Müller. Richter. Morosow und Dima. Von den Meisten meiner Nachbarn hatte ich nicht einmal ein Bild im Kopf. Werbung fällt mir entgegen als ich meine Briefkastenklappe öffne und während ich sie durch gehe, rutscht ein einfacher weißer Briefumschlag hervor. Keine Adresse. Kein Absender. Er ist nur schlicht zugeklebt und wiegt kaum etwas. Ich wende ihn mehrere Male in der Hand und spüre, wie mein Puls nach oben geht. Mein Finger gleitet zwischen die Klebestelle und mühelos öffnet sich der Umschlag. Ich ziehe zwei Bilder heraus. Eine junge, blonde Frau ist darauf zu erkennen. Sie schiebt einen Kinderwagen vor sich her. Es ist keine gute Aufnahme. Ich ziehe das andere Bild nach vorn. Dieselbe Frau und diesmal trägt sie ein kleines Kind auf ihren Armen. Schlafend und mit hellbraunen Locken, die sich zärtlich um den kleinen Kopf kringeln. Ich kenne die Frau darauf nicht. Verwundert wende ich das Bild um. Auf der Rückseite ist eine Adresse notiert und das Datum von vor einem dreiviertel Jahr. Ich kenne die Adresse nicht. Unbewusst trete ich noch einmal aus dem Haus und sehe mich auf der Straße um. In den Autos ist niemand zu erkennen. Niemand auf der Straße. Ich schaue auf die Bilder in meiner Hand. Kapitel 10: Das Wissen als Omen der Vergangenheit ------------------------------------------------- Kapitel 10 Das Wissen als Omen der Vergangenheit Am Montag bin ich früher als gewohnt auf Arbeit. Schon wieder habe ich die halbe Nacht nicht schlafen können, aber diesmal war es der nagende Zweifel, der sich durch mein Gehirn grub und fraß. Alle seltsamen Momente der letzten Tage liefen bildhaft vor meinem geistigen Auge ab. Das wegfahrende Auto vor meiner Wohnung oder vor dem Restaurantbesuch mit Kaley. Im Grunde nichts Ungewöhnliches, aber warum fuhr es genau in dem Moment davon, als ich es entdecke? Der seltsame Anruf. Bisher gab es keinen weiteren. Vielleicht war es nur ein Streich? Allerdings war da auch noch der Typ mit der Zigarette, der immer noch dieses kitzelnde Gefühl des Bekanntseins in mir auslöst. Aber es bleibt ein Kitzeln. Vielleicht irre ich mich auch. Aber egal, denn im Prinzip sagt auch, das nichts aus. Ich kann ihn überall her kennen oder auch nirgendwoher. Aber vor allem natürlich geistern die Bilder der schlanken, blonden Frau durch meinen Kopf. Das Kind auf ihrem Arm. Sind sie aus Versehen in meinem Briefkasten gelandet? Auf dem Umschlag gab es keinen Absender und keine angegebene Adresse. Sie müssen persönlich hin gesteckt worden sein. Die Nacht über zermarterte ich mir das Hirn und schlief irgendwann vor Erschöpfung ein. In meinem Spind krame ich nach den Arbeitsklamotten und ziehe mir mein Shirt über den Kopf. Die Kette und der Ring prallen gegen meine Brust und automatisch denke ich an Richard. Ich lasse mich müde auf der Sitzbank für meinen Schrank nieder. Die Bilder. Wieder und wieder habe ich die junge Frau darauf angestarrt. Ich kenne sie definitiv nicht. Und doch werde ich das Gefühl nicht los, dass es etwas mit damals zu tun hat. Besonders der Anblick des Kindes hatte etwas in mir ausgelöst, was ich schwer definieren kann. Ein beschämendes, mahnendes Kribbeln. Wie falsch ist das mit Rick wirklich? Ich rede mir krampfhaft ein, dass die Bilder nur im falschen Briefkasten lagen. Es muss so sein. Es muss. Ich lasse meinen Kopf gegen den kühlen Schrank kippen und schließe die Augen. Das Arbeitsshirt bleibt in meinem Schoss liegen. Richards lächelndes Gesicht bildet sich in meinem Kopf. Die schönen, warmem Augen, die mich stets so liebevoll und kostbar angesehen haben. Damals, wie heute. Wärme durchfährt meinen erstarrten Körper und lässt mich einen Moment mit einem zärtlichen Kribbeln ausatmen. Ich entspanne mich.. Ich weiß nicht, wann wir uns wiedersehen werden, doch allein diese letzten zwei Tage haben mir Kraft geschenkt. Das Klacken des Türschlosses lässt mich auf schrecken. Kai steht am Ende der Schrankreihe und sieht mich schüchtern an. Ich muss eingeschlafen sein. „Guten Morgen", sage ich leise und ziehe mir schnell das Shirt über den Kopf. „Morgen", murmelt er mir entgegen und wendet seinen Blick von mir ab. Seit ich ihn wegen Steven angesprochen habe, ist er mir mehr oder weniger aus dem Weg gegangen. Wir haben uns immer nur kurz gesehen und dann war er schnell abgehauen. Ich sehe ihm dabei zu, wie er auch jetzt schnell seine Sachen verstaut und dann in den Aufenthaltsraum verschwindet. Es wirkt, als wäre ihm irgendwas unangenehm, aber ich weiß einfach nicht was. Ich ziehe mich komplett um und nehme mir das Arbeitstelefon zur Hand. Ein Anruf in Abwesenheit. Ich erkenne die Nummer als die der Heizungsfirma wieder und rufe sie zurück. Eine nette Dame erklärt mir, dass der Anruf nur bestätigen sollte, dass sich heute einer der Monteure bei uns einfinden wird. Ich bitte darum, mir dessen Nummer zu geben, doch sie versichert mir, dass er sich bei mir melden wird. Wann er bei uns auftaucht, könne sie nicht sagen. Vielleicht zum frühen Nachmittag. Einen weiteren Versuch mir seine Nummer anzuvertrauen, duldet sie ebenso wenig, wie den ersten und wünscht mir einen guten Tag. Bereits jetzt habe ich im Gefühl, dass der Tag nicht sonderlich gut laufen wird. Im Aufenthaltsraum begrüße ich die anderen Kollegen, sehe erneut Kais beschämten Blick und entdecke dann die Nachricht vom Chef, die mir mitteilt, dass ich in der dritten Etage eine Feinjustierung der Klimaanlage durchführen soll. Das Diagnosegerät bekomme ich bei ihm. Gut, dass ich mir um Arbeit keine Sorgen mehr machen muss, so was dauert ewig. Samt Gerät und mulmiges Gefühl latsche ich die Treppe rauf in die dritte Etage und beginne meine Arbeit. Immerhin ohne irgendwelche Störenfriede. „Eleen!" Kaleys Stimme lässt mich zur Seite blicken. Ich lege das Diagnosegerät zur Seite und stehe auf. Meine Knie knacken durch die lange Belastung und das bleibt auch der dunkelhäutigen Schönheit nicht verborgen. „Oh, das klang, aber böse." „Ja, ich bin nichts mehr gewöhnt", sage ich lächelnd und sehe in ihre tiefen, braunen Augen. Das strahlende Lächeln des heutigen Tages steht ihr besonders gut. „Ich wollte mich noch einmal bei dir bedanken, dass du mich am Freitag begleitet hast", plappert sie los. „Du musst dich nicht bedanken. Immerhin habe ich das leckere Gratisessen bekommen und ich habe es gern gemacht. Es war ein schöne Erfahrung.", kommentiere ich ruhig und versuche mir nicht allzu deutlich anmerken zu lassen, dass das die erste solcher Erfahrungen für mich gewesen ist. „Wenn es dir geschmeckt hat, freut es mich umso mehr. Gehen wir heute zusammen Mittagessen?", fragt sie mich und ich schaue kurz auf die alte Armbanduhr um meinem Handgelenk. „Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, wann ich heute Pause machen kann. Ich erwarte den Monteur der Heizungsfirma und man hat mir leider keine genaue Ankunftszeit durchgegeben. Morgen gern.", erwidere ich. „Okay, das macht ja nichts..." Sie zögert. Mit ihren Finger streicht sie über die Längsseite ihres wolligen Rockes und ihr linker Arm greift dann nach dem Ellenbogen des anderen. „Eleen, sag, hattest du ein schönes Wochenende?" In ihrer Stimme schwimmt Neugier und Kindlichkeit. Ich sehe sie verwundert an. „Ja, warum?" Ich verstehe nicht, weshalb sie mich danach fragt. Doch der Gedanke an mein Wochenende mit Richard erfüllt meinen Körper in erster Linie mit purem Glück. Kaley zuckt mit ihren schmalen Schultern. Im kühlen Licht des Flurs erkenne ich deutlich, wie sich auf ihrem Hals eine feine Gänsehaut bildet. Ihr Blick geht verlegen zur Seite. Ihre Finger gleiten ebenso nervös über den rauen Stoff ihrer Kleidung. Auch das Lächeln auf ihren Lippen ist für mich nicht definierbar. „Ich wollte nur fragen. Irgendwas an dir ist anders. Aber schön." Ihr Lächeln wird liebevoll. Erschrocken wandert meine Hand kurz an meinen Mund. Ich spüre die Kälte meiner Finger an meinen Lippen und an der Wange. Diese Reaktion scheint sie nur noch mehr zu bestätigen und ich höre ein leises Kichern, welches über ihre vollen Lippen perlt. Ihre Augen kneifen sich zusammen und zum ersten Mal erkenne ich feine Lachfalten in ihren Augenwinkeln. Sie greift meine Hände und lächelt wissend. Ihre Haut ist warm und weich, dennoch ist das Gefühl im Vergleich mit den Berührungen von Richard ein vollkommen anderes. „Schön, schön. Ich hoffe, dass du nicht zu lange auf den Monteur warten musst. Wir sehen uns morgen." Damit lässt sie meine Hand los und verschwindet elegant den Flur entlang. Ich blicke Kaley nach und lächele. Allerdings eindeutig verwirrt. Ich hocke mich wieder hin und spüre dann plötzlich, wie sich jemand auf meinen Rücken lehnt. Durch den Druck euch ich erschrocken auf. Ein starkes, unangenehmes Parfum weht mir entgegen, das ich eindeutig Steven zu ordnen kann. „Unfassbar, wie kann es sein, dass dich dieses scharfe Gerät anmacht?" Seine Stimme ist nur ein böses Flüstern dicht an meinem Ohr. „Neidisch, weil sie dich keines Blickes würdigt?", entgegne ich platt und ärgere mich sofort darüber, dass ich überhaupt reagiere. Ich will ihn weder provozieren, noch will ich seinen Hirngespinsten beipflichten. In mir herrscht die Überzeugung, dass Kaley nichts anderes von mir will als Freundschaft. Ich werde ihr jedenfalls nichts anderes bieten können. Ich spüre die Wärme seines Atems, der über meine Haut und durch meine Haare streicht. Ein unangenehmes Schaudern. Sein Gewicht in meinem Kreuz belastet mich sehr. Ich muss mich mit den Händen an der Wand abstützen um nicht nach vorn zu kippen. „Du riechst nach Sex." Ich höre, wie er dreist an mir schnuppert. „Fickst du sie?", fragt er weiter und bei dem Wort zucke ich unbewusst zusammen. Er beginnt bösartig zu kichern. „Geh von mir runter, Steven", gebe ich mahnend von mir. „Sonst passiert was?" Wieder dieser arrogante Ton in seiner Stimme. Allein das widert mich an. Ich presse mich hoch und das mit so viel Schwung, dass er nach hinten stürzt und auf dem Boden landet. Ich bin kräftiger als ich aussehe. Ein schmerzhafter Laut, aber ich drehe mich nicht um, sondern hocke mich nur wieder hin um das Diagnosegerät zu Hand zu nehmen. Ich höre, wie er sich aufrappelt. Doch bevor er irgendwas tun kann, treten zwei der Immobilienmakler in den Flur. Steven steht direkt hinter mir. Ich spüre, wie sich sein wütender Blick in meinen Nacken bohrt. Ich neige meinen Kopf und spähe zur Seite. Unsere Blicke treffen sich. Er ist sauer. Trotzdem verschwindet er. Der Monteur lässt mich lange warten. Erst am späten Nachmittag meldete er sich über das Telefon, dass er im Foyer auf mich wartet. Ich hätte in einer halben Stunde Feierabend gehabt. Wir schaffen nur Kleinigkeiten und er garantiert mir morgen früher dazu sein. Ich habe nicht damit gerechnet ihn auch morgen noch an der Backe zu haben. Erschöpft und mit knurrenden Magen stehe ich vor meinen Spint. Ich nehme den letzten Schluck aus meiner Wasserflasche, öffne den Schrank und erstarre. An einer Schnur gebunden und mit einer Büroklammer befestigt, hängt ein Blatt aus meiner Personalakte. Mein Puls beschleunigt sich und unwillkürlich sehe ich mich in den stillen Umkleideräumen um. Über mein Abbild wurden mit schwarzem Stift senkrechte Striche gemalt. Mein Gesicht hinter Gittern. Ich schlucke schwer und in mir bildet sich ein Gefühlsgemisch aus Wut, Ärger und gnadenloser Enttäuschung. Warum hat es nicht einmal gut laufen können? Mir ist bewusst, dass in meiner Personalakte vermerkt sein muss, dass ich ein Straftäter bin, aber dennoch überrascht mich das Ganze. Ich reiße die Kopie ab und zerknülle sie. Ich halte innen und glätte das Papier wieder, um die Beweise ordnungsgemäß zu zerreißen. Ich weiß nicht, wer alles davon weiß, aber da nur Steven ein Interesse da ran hat, mich zu demütigen, müssen es nicht auch noch andere durch Zufall mitbekommen. Ich zerteile das Blatt in winzige Stücke, so dass nichts mehr lesbar ist und stecke es in meine Hosentasche um es draußen wegwerfen zu können. Ob Steven es rum erzählen wird? Er wird versuche mich damit zu erpressen, dessen bin ich mir augenblicklich sicher. Doch was hat er davon? Will er mich wirklich nur fertigmachen oder steckt mehr dahinter? Ich glaube eher nicht, dass ich in sein Beuteschema passe, obwohl seine Erregung beim letzten Mal etwas anderes erzählte. Warum denken immer alle, dass ich ein leichtes Opfer bin? Ich schlage mit der flachen Hand gegen die Wand, weil mir augenblicklich durch den Kopf geht, dass er es sicher Kaley erzählt. Zu meiner Wut mischt sich Traurigkeit. Sie wird mich nicht mehr nach einem gemeinsamen Mittagessen fragen. Mein Herz wird schwer. Ich sollte mich lieber von ihr fernhalten, bevor es eskaliert. Die Unordnung in meinen Spint fällt mir erst jetzt richtig auf. Alles ist umgeworfen und teilweise ausgekippt. Meine Kleidung liegt am Boden. Gerade als ich danach greifen möchte, halte ich wieder innen. An einigen Stellen sehe ich weiße Flecken, die teilweise noch feucht wirken. Ich weiche zurück. Ich brauche nicht lange darüber nachzudenken, was das sein könnte. „Ääh, perverses Schwein", knurre ich angeekelt in die Stille des Raumes hinein. Unfassbar. Ich lehne mich an den gegenüberliegenden Schrank und seufze leicht. Ich sollte es dem Vorarbeiter melden, doch ich bezweifle, dass es etwas bringen wird. Ein alberner Scherz unter Kollegen. Steven würde es abstreiten. Für einen kurzen Moment denke ich darüber nach, es ihm irgendwie heimzuzahlen. Ein Blick in seine Personalakte wird mir sicher ein paar Abmahnungen oder sogar eine ebenso auffällige Verurteilung preisgeben. In meinen Fingerspitzen beginnt es zu kribbeln. Wenn Steven glaubt, ich kann mich nicht wehren, dann irrt er. Doch im Grunde will ich mich einfach nicht auf sein Niveau niederlassen. Nein, es bringt mir nichts. Ich schlucke es runter und hoffe, dass Steven irgendwann aufgibt. Ich besorge mir Reinigungsmittel aus der Personaltoilette und ertappe mich bei dem Gedanken daran, dass ich mich wundere, dass er mir nicht auch noch in den Schrank uriniert hat. Unfassbar. Irgendwie schaffe ich es die Klamotten in einen Beutel zu bekommen, ohne mich einzusauen. Ekelschauer durchfahren mich und langsam kommen die wirklich schlechten Erinnerungen an meine Gefängniszeit zurück. Viele der bösen Klischees, die über das Gefängnisleben existieren sind wahr. Vor allem, wenn frustrierte Junge aufeinander treffen. Späße und heftige Neckereien, wie es die Wärter ausdrückten, endeten in gewalttätige Auseinandersetzungen. Ein paar Mal war ich in solche verwickelt, aber ich kam halbwegs komplett und ohne schwerwiegende Traumata davon. Ich hätte auch nicht noch mehr gebrauchen können. In der U-Bahn schlafe ich fast ein. Ich brauche noch Lebensmittel und obwohl ich den halben Tag nichts gegessen habe, ist mir der Appetit gehörig vergangen. Im Laden besorge ich mir, neben den klassischen Grundnahrungsmitteln, ein halbwegs vernünftiges Vorhängeschloss und seufze schwermütig. Ich ziehe mir die schmutzige Arbeitshose von den Beinen und stecke sie samt der restlichen beschmutzten Sachen in die Waschmaschine. Die Wahrscheinlichkeit, alles wirklich sauber zu bekommen, ist gering. Die Öl- und Schmutzflecken sind hartnäckig und der Gedanke an die anderen Flecken verursacht mir tatsächlich eine gehörige Übelkeit. Steven ist genauso hartnäckig und nervig, wie die Ölflecke und genauso widerlich. Ich schalte die Maschine ein und überlege sofort unter die Dusche zugehen, da aber die Waschmaschine eine unausgewogenen Temperaturstabilität verursacht, entscheide ich mich dagegen und wasche mir 5 Minuten lang die Hände. In dem Moment, in dem ich ins Wohnzimmer trete, beginnt das Telefon zu Klingeln. Ich gehe ran in der Annahme, dass es Ewan ist. „Hallo,..." Am anderen Ende Stille. „Hallo?", frage ich erneut. Noch immer nichts. „Ist da jemand?" Plötzlich höre ich ein Atemgeräusch. Es ist definitiv jemand am anderen Ende. „Was wollen sie?" Nachdem ich das gefragt habe, wird aufgelegt. Ich höre das durchdringende Piepen in der Leitung und starre auf die nun Standardanzeige meines digitalen Telefons. Ich habe nicht darauf geachtet, ob eine Nummer angezeigt wurde. Beim letzten Mal war es nur eine unbekannte Nummer gewesen. Meine Hände werden kalt. Steven. Wenn er Zugang zu meiner Personalakte hat, dann kannte er auch diese Nummer. Er erlaubt sich weitere Späße mit mir. Wer sonst sollte es sein? Ich blicke noch einmal auf das Telefon in meiner Hand und stelle es verunsichert zur Seite. Vielleicht sollte ich Rick davon erzählen? Nein, besser nicht. Ich denke darüber nach, es Ewan zu erzählen, aber ich kann mir genau vorstellen, was er sagt. Er würde mich fragen, wen ich verärgert habe. Ob ich jemanden von meiner Vergangenheit erzählt habe. Im Grundtenor wurde er mir die Schuld dafür geben und mir keine Hilfe sein. Keine Option. Ich seufze leicht und lasse mich auf die Couch nieder. Ich kann es meinem Bewährungshelfer melden? Wenn es Steven war würde er mir sicher helfen können, aber wenn es doch etwas mit Richard zu tun hat, würde er...Ich führe den Gedanken nicht zu Ende und verwerfe sofort jeglichen, weitere Möglichkeit, die in diese Richtung geht. Ich kippe auf der Couch zur Seite und bleibe mit dem Kopf auf die Lehne gestützt liegen. Warum passiert das alles auf einmal? Warum darf ich Richard nicht einfach wieder an meiner Seite haben? Warum kann mein Leben nicht ohne große Dramen fortlaufen? Einfach so. Ohne Schuld. Ohne Ängste. Ich will endlich meine Ruhe. Ermattet und frustriert schlafe ich ein und erwache erst am nächsten Morgen. Ich stelle fest, dass ich vergessen habe die Lebensmittel in den Kühlschrank zu räumen. Die Aufstriche- und schnitte sind in halbwegs genießbarer Zimmertemperatur, aber dafür ist die Butter absolut streichzart. Ich genehmige mir ein Brot mehr und mache mich auf den Weg zur Arbeit. Gerade als ich das Vorhängeschloss an meinem Schrank befestige, bemerke ich Kai, der wieder am Ende der Schrankreihe steht und mich mit hochrotem Gesicht anblickt. „Guten Morgen", begrüße ich ihn gewohnt freundlich und in keiner Weise verdächtigend. Sein Blick sagt mir, dass er etwas von der gestrigen Geschichte mit meinem Schrank mitbekommen hat oder sogar daran beteiligt gewesen sein muss. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er es aus freien Stücken getan hat. Kai antwortet mir nicht, sondern zieht scheinbar mit jeder vergehenden Sekunde seine Schultern höher. Er sieht dabei zu, wie ich die Tür schließe und höre, wie das Schloss gegen das kalte Metall schlägt. Das Geräusch ist im gesamten Umkleideraum zu hören und lässt die angespannte Kaiblase platzen. „Eleen, es tut mir Leid. Ich habe ihn nicht davon abhalten können. Er hat gesagt, du hast ihn gedemütigt und dafür musst du bestraft werden." Während er das beichtet, kommt er auf mich zu. Er ist total durch den Wind. „Ich sollte zu gucken", gesteht er dann und sieht beschämt zur Seite. Das grenzt an sexuelle Nötigung. Ich bereue augenblicklich, dass ich nicht sofort zum Vorarbeiter gegangen bin. Wenn ich das getan hätte, dann hätte sich auch Kai endlich wehren können. Nun wird uns niemand mehr glauben. Mir ist gestern nicht der Gedanke daran gekommen, dass der arme Azubi daran beteiligt gewesen ist. Still gehe ich auf ihn zu, fasse ihm vorsichtig an die Schulter und versuche ihn zu beruhigen. „Ich weiß, dass du nichts dagegen machen konntest, aber ich mache gerade denselben Fehler, weil ich es mir gefallen lasse. Halte dich von Steven fern, so gut du kannst, okay?" „Wie soll das gehen?", fragt er leise. „Ich rede mit dem Chef und du bleibst wenigstens heute bei mir. Ich habe zwar den Monteur der Heizungsfirma da, aber es ist sicher auch für dich mal ganz interessant. Du kannst uns sicher helfen." Für mich klingt es nach einer guten Idee. Kai wäre von Steven weg, wenigstens heute und ich habe einen plausiblen Grund Kaley wegen dem Mittagessen abzusagen. Die Erleichterung, die ich für einen Moment in mir spüre, verursacht mir Bauchschmerzen und weicht augenblicklich Bedauern und Ärger. Für Kaley ist es besser. Sie muss nicht die Schmach über sich ergehen lassen, mit einem Straftäter zu verkehren und sie würde auch aus Stevens Fokus heraus gezogen. Nicht, dass er auch noch ihr das Leben schwer macht. Das wäre zu viel für mich. Ich sehe, wie Kai zögerlich, aber glücklich nickt und bespreche danach alles mit dem Vorarbeiter. Er ist einverstanden und so verbringe ich den gesamten Tag mit dem Monteur und dem Azubi. Wir brauchen ewig bis wir das Problem endlich finden. In einer der elektrischen Sicherungen hat sich durch Kriechwege ein Kurzschluss ergeben, verursacht durch Kondenswasser. Er steckt in einem winzigen Teil in Mitten des Hauptkomplexes. Zudem sehe ich, dass es auch noch falsch verkabelt ist. Der Monteur wird von Stunde zu Stunde schweigsamer. Das ist kein gutes Zeichen. Irgendwann beginnt er zu bemerken, dass nicht er die Heizung installiert hat, sondern ein anderer Monteur. Natürlich. Ich kann es nicht nachprüfen. Es ist mir auch egal, so lange wir das Problem endlich lösen und die Herrschaften in der oberen Etage im folgenden Winter nicht erfrieren. Den ganzen Tag keine Spur von Steven. Dabei bin ich mir sicher, dass er sich meine Reaktion über die Sauerei nicht entgehen lassen wollte. Ich bin dennoch froh, ihn nicht anzutreffen. In der Bahn auf dem Weg zur Wohnung schlafe ich schon wieder fast ein. Doch immer wieder blicke ich auf und suche unbewusst nach Richards Gesicht. Es wäre ein großer Zufall, aber mit jedem Tag, der vergeht, vermisse ich ihn mehr. Meine Hand gleitet zu der Kette und bleibt über dem Pullover liegen. Ich denke an die eingravierten Ziffern und seufze sehnsüchtig. Ich darf ihn jeder Zeit anrufen, das hat er gesagt. Ich traue mich nicht. Was, wenn die Bilder doch etwas mit Richard zu tun haben? Was, wenn die Frau auf den Bildern seine Frau ist? Richard hat bis auf den Ring, denn ich nun um meinen Hals trage keinen anderen Ring an seinen Fingern gehabt. An dem Tag unseres ersten Wiedersehens nicht und danach auch nicht. Der Gedanke beruhigt mich, dennoch denke ich unaufhörlich darüber nach, bis ich plötzlich vor meiner Haustür stehe. Ich suche nach meinem Schlüsseln und stehe einen Moment vor der Tür. „Eleen..." Der Schlüssel in meiner Hand fängt an zu vibrieren. Ich kenne die Stimme. Ich weiß genau zu wem sie gehört und spüre, wie ein eiskalter Schauer durch meinen Körper fährt. Schmerzhaft. Beißend. Ich wage es nicht mich umzudrehen und hoffe, dass ich mich falsch erinnere. „Eleen de Faro.", wiederholt er. Die Erwähnung meines vollständigen Namens gibt mir die letzte Bestätigung. Nur er rollt das 'R' in meinem Namen, sodass es mir im Gedächtnis geblieben ist. Meine Hand zittert derartig, dass ich nicht mehr in der Lage bin das Schloss zu treffen, welches ich strikt fokussiere. Es hat keinen Zweck. Ich greife den Schlüsselbund fester und drehe mich um. Der Mann, der vor mir steht, ist älter geworden. Seine Augen liegen in tiefen Höhlen und wirken unglaublich müde. Ich erkenne graue Haare unter einer marineblauen Wollmütze. Er trägt einen beigen Trenchcoat. So wie man es aus Filmen kennt. Ein wahrhaftiges, wandelndes Klischee. Es fehlt nur eine Zigarette zwischen seinen trockenen Lippen. „Detektiv Moore", sage ich leise. Ich erinnere mich gut an seine kalten Hände, die meine Handgelenke berührten als er mir die Handschellen anlegte. Sie waren kälter als das Metall. Deshalb sind sie mir derartig in Erinnerung geblieben. Sie stecken nun in den Taschen seiner Jacke. Ich sehe auf die Straße und sehe hinter ihm das schwarze Auto, welches beim letzten Mal davongefahren war. Er ist es, der mich beobachtet und er ist es, der Richard auf keinen Fall in meiner Nähe sehen darf. „Moore reicht. Ich bin seit einem Jahr pensioniert.", erklärt er mir ruhig. „Sollten Sie dann nicht irgendwo angeln oder campen? Ihre Memoiren schreiben?", frage ich das Klischee seines Äußeren und dem typischen Polizeiruhestandes aufgreifend. Ich kann mir schönere Freizeitbeschäftigungen vorstellen als Tage lang im Auto zu sitzen und Häuserwände anzustarren. Moore lacht. Er schüttelt seinen Kopf. Mir ist nicht nach Lachen zumute. „Das werde ich noch, aber bis dahin, habe ich noch etwas zu erledigen. Etwas, was schon immer nicht gestimmt hat.", erwidert er kalt. Ich presse meine Hände zusammen und drücke mir den Schlüssel schmerzhaft ins Fleisch. „Wie geht es dir, Eleen? Ich habe gehört, dass du eine gute Anstellung in einer Immobilienfirma hast. Wie geht es deiner Mutter?" Bei der Erwähnung meiner Mutter erstarre ich. Ich schlucke leicht und bin mir sicher, dass er besser weiß, wie es meiner Mutter geht als ich. „Weißt du, Eleen, dass mich deine Mutter einmal im Jahr kontaktiert um zu fragen, ob ich etwas Neues herausgefunden habe?" Das wusste ich nicht. Ein weiteres Mal bohrt sich das kalte Metall des Schlüssels fest in meine Handfläche. So stark, dass ich merke, wie die scharfen Zähne meine Haut einreißen. „Was wollen Sie hier, Moore?", frage ich und achte kleinlich genau darauf, nicht Detektiv zu sagen. „Das weißt du ganz genau", sagt er eindringlich. Ein seltsames Grinsen formt sich auf seinen Lippen und gibt seinem Gesicht einen unbarmherzigen Ausdruck. In seinen Augen blitzt die Entschlossenheit. Ob er weiß, dass Richard auch in der Stadt lebt? Wahrscheinlich. Sicher will er testen, ob ich es auch weiß. Ich verziehe keine Miene und kommentiere es nicht. Moore ist der Einzige, der nie daran geglaubt hat, dass ich es gewesen bin. Er hat mich damals angesehen, er hat meine Tränen gesehen und es gewusst. Intuition? Jahre lange Erfahrung. Egal, was es war, es hat nichts geändert. Alle Beweise und auch meine Aussage sprachen vom Gegenteil. Er hat dagegen nichts tun können. Seine Unzufriedenheit und sein Unwillen darüber kamen schon während der Verhandlung zum Tragen. Er protestierte und zum Schluss wurde ihm der Fall sogar entzogen. Es gab nichts daran zu rütteln. Alle Beweise deuteten auf mich. Ich wende mich von dem älteren Mann ab und merke, dass das Zittern meiner Hände nicht weniger geworden ist. „Wie geht es Richard?" Ein kalter Schauer arbeitet sich durch meinen Rücken als er die erwartete Frage wirklich formuliert. Ich schlucke unmerklich und drehe mich nicht zu ihm. „Woher soll ich das wissen? Wir haben keinen Kontakt zueinander", pampe ich ihm entgegen. „Ist das so?", hakt er nach und ich kann anhand seiner Äußerung nicht einschätzen, ob er weiß, dass wir uns gesehen haben oder nicht. „Eleen, du bist derjenige, der die Konsequenzen eures unbedachten Handelns trägt. Überleg dir gut, was du tust." Ich sehe zu ihm. Sein Blick ist warnend, aber auch besorgt. Wie viel weiß er? Mir wird immer kälter und ich merke, wie langsam, aber sicher die Farbe aus meinem Gesicht weicht. Das ist nicht gut. Ich war noch nie ein guter Lügner. Ich verstehe nicht, warum er nicht einfach Ruhe geben kann. Ich blicke auf den Schlüssel in meiner Hand und dann auf die Glasscheibe der Tür. In dem unebenen Glas spiegelt sich mein Gesicht nur schemenhaft. Genauso, wie seins. „Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen. Warum belästigen sie mich? Brauche sie im Alter den Nervenkitzel um sich lebendig zu fühlen?" „Werd nicht frech!" „Doch! Schauen Sie sich lieber ein paar Sehenswürdigkeiten der Stadt an, statt die geschlossene Tür meines Wohngebäudes." Ich schaue seitlich zu ihm und sehe, wie sich seine Lippen zu einem Grinsen verziehen. Er mustert mein Gesicht. „Beim nächsten Mal nehme ich mir deinen Ratschlag zu Herzen." Er wendet sich ab und geht langsam zu seinem Auto zurück. „Ich hoffe, es wird kein nächstes Mal geben", sage ich gerade heraus und versuche erneut den Schlüssel in das Schloss zu befördern. Die Schritte stoppen. „Eleen, ... ich weiß, dass du Renard Paddock nicht getötet hast...." Ps vom Autor: Ein ganz dickes, liebes Danke an meine tollen Reviewschreiber *__* Ihr seid wirklich toll und ich hoffe, dass es euch auch weiterhin gefallen wird. Vielen lieben Dank auch an meine Leser! ich freue mich über jeden Einzelnen von euch sehr! Kapitel 11: Der Moment und die Stille ------------------------------------- Kapitel 11 Der Moment und die Stille „...und ich werde dafür sorgen, dass euer falsches Spiel endlich endet." Plötzlich spüre ich Detektiv Moores Hand an meinem Arm und wie sich seine Finger in meinen stoffbedeckten Arm krallen. Ich habe nicht einmal gemerkt, dass er mir nah gekommen ist. Seine Stimme ist so ruhig, dass es mir Angst macht. Ich wende mich nicht zu ihm um. Auch nicht als er den Griff löst. Nur das leise, raschelende Geräusch seines Trenchcoats sagt mir, dass er sich von mir wegbewegt. Ich blicke in mein verschwommenes Spiegelbild, welches sich in dem schmalen Fenster der Tür abbildet. Eine unbestimmbare Fratze, die sich langsam entzerrt. Das Bild von Richards Vater erscheint. Seine kühlen, klaren Augen, die mit einem Mal matt und leer schienen. Unbewusst schließe ich die Lider, doch das verstärkt nur das Bild in meinem Kopf. Seine toten, stumpfen Augen haben sich in meine Erinnerung gebrannt. Ich drehe den Schlüssel im Schloss, öffne die Tür und verschwinde in den Treppenflur. Dort bleibe ich stehen, höre wie die Tür hinter mir ins Schloss fällt und spüre sofort die Tränen, die warm und feucht über meine Wangen rinnen. Still und brennend. Ich wusste, dass es uns früher oder spät einholen wird, aber trotzdem trifft es mich mit der vollen Wucht. Haltsuchend fasse ich nach einem der Briefkästen und doch zwingt mich der Schwindel auf die Knie. Meine Hand rutscht über das kalte Metall und ich ziehe sie in den Schoss. Für einen Moment habe ich das Gefühl, nicht mehr atmen zu können, obwohl mein Brustkorb im Takt meines rasenden Herzens Luft hinein pumpt. Die Bilder dieses gewissen Abends prasseln auf mich ein und die Erinnerung ist so klar als wäre es erst gestern geschehen. Die erregten Stimmen ertönen in meinem Kopf. Vor allem Richards und die seines Vaters. Drohungen fallen. Pure Wut erfüllte den Raum. Wir haben so hässliche Dinge zueinander gesagt. Er war außer sich. Beide waren es. Er war gegen mich. Schon immer. Das Geräusch des hinabfallenden Körpers folgt als nächstes. Das Brechen von Knochen. Ein erstickter Laut. Ein entsetztes Stöhnen und dann die alles verändernde Stille. Nur dieser eine Moment und allein das heftige Keuchen unseres Atems war zu hören. Mein Griff an Richards Arm war fest. Doch mein gesamter Körper zitterte. Ich drücke mir beide Hände gegen die Brust, in der Annahmen des ich so mein heftige pulsierendes Herz beruhigen kann. Doch ich spüre nur, wie das Beben doppelt durch meinen Körper hallt. Ich richte mich nur schwerfällig auf, höre meine Knochen knacken und doch nehme ich es kaum wahr. Mein Blick wendet sich in den dunklen Flur. Nur schemenhaft erkenne ich die Stufen der Treppe. Das abgewetzte Holz. Den abgesplitterten Lack am unteren Treppenlauf, den ich jeden Morgen von neuem bemerke. Moores Wort hallen durch meinem Kopf. Wieder und wieder und sie scheinen jedes Mal lauter zu werden, bis sie förmlich schreien. Ich quäle mich mit tauben Gliedern die Treppe hinauf und gehe im Flur meiner Wohnung erneut zu Boden. Meine Knie prallen hart auf dem Holzboden auf. Lass es nicht wahr sein. Wieso ausgerechnet jetzt? Wieso kann er es nicht ruhen lassen? Es hat jemand für den Tod von Renard Paddock gebüßt und in gewisser Weise wir sühnen dafür noch immer. Etliche verschwommene Minuten sitze ich am Boden, lehne mich gegen die geschlossene Wohnungstür und betrachte die groben Holzstrukturen meines Parkettbodens. In meinem Kopf wechseln sich Erinnerung mit grenzenloser Leere ab. Richards erinnerte Stimme jagt kleine Schauer durch meinen Leib. Ich sehne mich danach, sie wirklich zu hören. Heilende Worte zu gewispert zu bekommen, die sich wie Balsam über meine Wunden legen. Ich will den sanften Ausdruck sehen, den seine Augen bekommen, wenn er mich zu trösten begann. Die Zärtlichkeit. Die Liebe. Meine Sehnsucht ist ungestillt. Sie wird niemals vergehen. Unbewusst ziehe ich mein Handy aus der Tasche. Noch ist das Display schwarz. Mein Gesicht spiegelt sich darin, doch ich nehme es nicht als mein eigenes wahr. Seit diesem einen Tag habe ich das öfter. Ich sehe in den Spiegel und erkenne mich selbst nicht. Und manchmal macht sich das Gefühl in mit breit, dass mein Leben einfach nicht fortgelaufen ist, sondern still steht. Als ich das Telefon anschalte, ist mein Spiegelbild verschwunden. Ich suche nach Ricks Nummer und für einen Augenblick ist das Verlangen in mir so überwältigend, dass mein Daumen den grünen Hörer bestätigt. Ich will doch nur seine Stimme hören. Ich will hören, dass weder ihm noch mir etwas passiert. Das erste einsetzende Klingeln holt mich in die Realität zurück. Noch bevor Rick den Anruf annehmen kann, drücke ich auf Abbruch. Ich spüre, wie mein Herz stolpert, meckert und schreit. Die Schläge scheinen in dem stillen Raum widerzuhallen. Doch mein Verstand bestätigt mir, dass es die richtige Entscheidung ist Ich starre auf das Plastikgerät in meinen Händen. Mit einem Mal ist es Tonnen schwer. Ich lasse es zu Boden fallen, sehe, wie es zwischen zwei Streben des Parketts zum Liegen kommt. Jetzt, wo ich weiß, dass Moore vor meiner Tür steht, muss ich stark bleiben. Ich darf ihm keine Gelegenheit bieten und mich oder Rick in Gefahr bringen. Ich atme tief durch und richte mich endlich auf. Als ich ins Wohnzimmer komme, beginnt mein Festnetztelefon zu klingeln. Das Geräusch jagt mir einen derartigen Schrecken ein, dass ich für einen Moment erstarre. Meine Gedanken beginnen zu rasen. Was, wenn... Nein! Nicht schon wieder! Ich atme tief durch und bevor ich den Hörer abnehme, sehe ich auf das Display. Es zeigt den Namen meines Bruders und erleichtert betätige ich den Anruf. „Hey,...", begrüße ich Ewan und ich setze mich zur Beruhigung auf die Couch. „Gut. Ich wundere mich schon die ganze Zeit, warum du nicht rangehst. Alles okay?" Diesmal ist der Vorwurf in seiner Stimme nur ein Hauch. Echte Sorge. Ich fahre mir ermattet durch die Haare. „Entschuldige, ich bin gerade erst rein. Auf Arbeit ist viel zu tun. Ich habe einen firmenfremden Techniker da und muss mich etwas nach ihm richten", gebe ich erklärend von mir und habe damit nicht einmal gelogen. Trotzdem frage ich mich, warum Ewan so anders klingt als sonst. „Alles okay bei euch?", hake ich nach. Ich höre es am anderen Ende des Hörers ein Rascheln und wie sich eine Tür schließt. „Ja... ja, eigentlich schon... Sora ist schwanger. Es ist nicht wirklich geplant", redet er los. Erfreut klingt er nicht. Ich verstehe nicht, warum. Lira ist nun schon sieben Jahre alt und für ein Geschwisterchen wird es höchste Zeit. Anderseits ist Ewans berufliche Situation im Moment schwierig. Die Firma, für die er arbeitet, hat im letzten Jahr vermehrt Verluste gemacht. Ich habe nicht genau verstanden, worum es geht. Ewan ist Bauingenieur und jongliert mit Zahlen und Dingen, von denen ich wegen meiner nur einfachen Ausbildung meilenweit entfernt bin. Trotzdem sind Kinder immer ein Geschenk. Ich denke an die Bilder der jungen Frau und dem kleinen Mädchen auf ihrem Arm. Mein Blick fällt automatisch auf den Esstisch, auf dem sie einem weißen, einfachen Umschlag liegen. „Also, keine Glückwünsche?", frage ich seltsam tonlos und wende meinen Blick wieder von dem fixierten Punkt ab. „Ja, doch. Sora freut sich sehr, aber ich brauche noch ein bisschen um es zu verdauen... Sag ihr bitte nicht, dass ich es dir schon erzählt habe. Sie lyncht mich." Ewan wirkt wirklich überwältigt. Nur leider nicht im positiven Sinne. Ich frage mich, wie er darauf kommt, dass ich es ihr versehentlich erzählen könnte. Ich antworte nicht auf die Phrase und bleibe still, sodass sich mein Bruder genötigt fühlt, weiter zu reden. „Lira haben wir es auch noch nicht erzählt, damit sie nicht damit hausieren geht und jedem von ihrem neuen Geschwisterchen erzählt." Ein schweres Seufzen perlt von seinen Lippen und ich kann mir lebhaft vorstellen, wie meine Nichte mit Spangen geschmückten Haare lachend durch die Gegend hüpft und rumgrölt. Ebenso sehe ich, wie Ewans großer, kräftiger Körper bebt und wie er sich seine hellbraunen Haare zurückstreicht. Wir sehen uns nicht sehr ähnlich und ich kann mich nicht daran erinnern jemals ein richtiges Lächeln auf seinen Lippen gesehen zu haben. Sein Blick ist stets ernst. Vielleicht auch nur, wenn er mich ansieht. Ganz anderes ist es bei Rick. Ein herzhaftes Lachen ist das Erste, woran ich mich bei ihm ersinne. Es war hell und klar. Es steckte so voller Heiterkeit, dass es mich umnebelte, wie feiner Sprühregen voller Sonnenschein. Ich weiß, dass ich schon damals dachte, dass ich noch nie so ein glückliches Gesicht gesehen habe, wie seins. Er beobachtete ein Pärchen auf dem See, dass Ruderboot fuhr. Ein paar wilde, kreisende Drehungen mit den Paddeln. Gezeter. Streit. Richard hielt sich vor Lachen den Bauch. Doch als sie auch noch umkippten, fiel auch er zu Boden und lachte eine gefühlte Ewigkeit herzhaft. Ich sah nicht, wie das Pärchen im See landet, denn ich beobachtete ihn. Das Eis in meiner Hand begann längst zu schmelzen und klebrige Flüssigkeit lief meinen Arm hinab. Eine Biene setzte sich auf meine Hand und vor Schreck ließ ich das Eis fallen. Sie stach mich. Doch nicht der Schmerz ist mir in Erinnerung geblieben, sondern die warmen Hände von Richard, die meinen Arm umfassten und kühles Wasser darüber kippten. Sofort plapperte er los, erklärte er mir, dass man bei Bienen nicht schlagen oder hektisch reagieren darf. Das würde sie wütend machen. Sie hätte ja nur Angst vor uns. Ich war acht Jahre alt. Richard neun. Auf seinen Knien waren grüne Flecken und auch sein Gesicht war dreckig. Er kaufte mir ein neues Eis. Es schmeckte nach Zitrone und Glück. Ein Haufen Erinnerungen, die in meinem Kopf nah und präsent sind. Im Grunde gibt es seit dem Zeitpunkt meines Gefängnisaufenthalts eine Erinnerungslücke in mir. Eine Pause und nach meiner Entlassung setzen sich die Geschehnisse erst fort. Vielleicht bin ich deshalb so sehr von Richard abhängig. Sein Leben ging weiter. Meins blieb stehen. „Eleen?" Erst Ewans fragende Stimme holt mich zurück aus meinen Gedanken. Mein Herz brennt sehnsüchtig nach den Momenten, in denen ich Richard noch an meiner Seite hatte. Nur für mich. Nur wir zwei. Ich brauche nur ihn. Niemand anderen. „Ja, entschuldige." „Bei dir wirklich alles in Ordnung?", hakt er nun nach. Das Misstrauen in seiner Stimme ist deutlich herauszuhören. Ich denke darüber nach ihm von Detektiv Moore zu erzählen. Doch ich will keine schlafenden Hunde wecken. Dennoch kommt mir Moores Frage nach meiner Mutter in den Sinn. Warum kontaktierte sie ihn? Ob Ewan davon weiß? Ich war der Überzeugung gewesen, dass sie sich damit abgefunden hat in mir einen missratenen Sohn zu sehen. Denn die Distanz zwischen uns war nach meiner Entlassung noch größer geworden. „Wie geht es Mama?", frage ich unbewusst laut und erschrecke kurz selbst. Auch Ewan bleibt für einen Augenblick still. Ich frage sonst nie, denn ich möchte das schlechte Gefühl vermeiden, welches sich malmend und quetschend über meine Knochen arbeitet, wenn er mir erklärt, wie schlimm es um sie steht und dass ich daran meinen Beitrag habe. Sie leidet. Ich habe sie im Stich gelassen. Ich habe sie enttäuscht und das von Geburt an. Nach meiner Entlassung habe ich versucht mit ihr zu reden, doch sie hat jede meiner Erklärungen abgeschmettert. „Sie erholt sich.", antwortet er und ich erinnere mich daran, dass er mir beim vorletzten Telefonat erklärt hat, dass sie kränklich ist. „Okay, Eleen, was ist los? Hast du noch mal mit deinem Bewährungshelfer gesprochen?" Ewan riecht den Braten, wie ein Spürhund. Er sollte sich mit Detektiv Moore zusammen tun. Ich verkneife mir ein fahriges Seufzen, was möglicherweise zu viel verraten würde. „Nein, er hat sich nicht noch einmal gemeldet." „Hm. Gibt es Ärger auf Arbeit?" „Nur das Übliche. Scherereien und Diskussionen unter Kollegen. Ich bin immer noch der Neue." Von den weniger harmlosen Problemen mit Steven erzähle ich ihm nichts. „Richard?" Diese einfache Frage überrumpelt mich, obwohl ich sie erwartet habe. „Nein." Ein wenig zu schnell. Mein Herz beginnt zu flattern. Ewan schweigt. Ich weiß nicht, ob er etwas ahnt, aber er fragt auch nicht weiter. Bevor er doch noch etwas erwidern kann, setze ich nach. „Entschuldige, aber ich bin hungrig und müde. Bei mir ist alles in Ordnung. Ich habe einfach viel zu tun." „Okay. Ich wollte auch nur hören, wie es dir geht. Dann hab einen schönen Feierabend", sagt er ungewöhnlich ruhig. „Ewan?" Ich hole mir seine Aufmerksamkeit noch einmal zurück. „Ja?" „Ich freue mich für euch!", ergänze ich und lege auf. Kinder sind ein Segen. Sora und Ewan sind gute Eltern und ich bin mir sicher, dass sie das mit der finanziellen Situation meistern werden. Ich stelle das Telefon auf die Station zurück und gehe zum Esstisch. Der Briefumschlag. Nur mit den Fingerspitzen streiche ich über das weiße, raue Papier. Nur ein kurze Berührung und ich zucke unwillkürlich zusammen. Erst ziehe ich meine Hand weg, doch dann greife ich richtig danach. Ich nehme das Bild mit der junge Frau heraus, betrachte das schmale, feingliedrige Gesicht. Ihre langen, blonden Haare bilden am unteren Ende kleine Wellen. Mehr ist nicht zu erkennen. Ich nehme das andere Bild zur Hand und lasse es sinken als sich eine Schwere in meiner Brust ausbreitet. Die Adresse muss ich mir nicht ansehen. Ich kann sie bereits auswendig. In mir beginnt es zu kribbeln. Eine Mischung aus Neugier, Angst und Wut. Im Schlafzimmer streife ich mir die Klamotten vom Leib. Ich lasse mich einen Moment aufs Bett nieder und streiche mit den Fingern ein paar der Falten der Decke davon. Meine Bewegungen sind unruhig und fahrig. Dennoch beruhigt es mich. Ich lasse mich ins Kissen zurückfallen und schließe die Augen, als ich beginne den Geruch einzusaugen. Vielleicht ist es Einbildung, doch in meinem Kopf ist es eindeutig der Geruch von Richards, der an meiner Bettwäsche haftet. Ich genieße das feine Kribbeln, welches sich durch meinen Körper arbeitet als die Erinnerungen vom Wochenende einsetzen. Ricks sanfte Berührungen. Seine heilenden Worte. Das vertraute Gefühl seinen Körper neben mir zu spüren, ist für einen Moment wieder vollkommen präsent. Ich nehme noch einen letzten tiefen Zug und richte mich wieder auf. Mit einer bequemen Stoffhose und einem Longshirt bekleidet, gehe ich zum Badezimmer. Vor der Kommode im Flur halte ich innen als ich ein ungewöhnliches Licht bemerke. Die Signalleuchte an meinem Handy blinkt. Ich starre auf das Gerät am Boden und unbewusst bücke ich mich danach, hebe es auf. Es fühlt sich wieder genauso leicht an, wie sonst. Das Display zeigt mir zwei Anrufe in Abwesenheit. Ich habe nicht bemerkt, dass es geklingelt hat. Ich öffne die Liste und sehe eine mir unbekannte Handynummer. Die anderer ist von Richard. Ich schlucke schwer. Er hat mich zurückgerufen. Wieder bildet sich diese enorme Sehnsucht in mir seine Stimme zu hören und seinen Rat zu suchen. Nein. Ich darf ihn nicht weiter mit hineinziehen. Es ist weder für ihn, noch für mich gut. Ich denke wieder an Detektiv Moore. Er beobachtet mich und vielleicht verfolgt er auch Richard. Vielleicht sind diese Anrufe von ihm. Doch das kann ich mir nicht vorstellen. Moore direkter Typ, wie er heute eindrucksvoll bewiesen hat. Doch von wem sind diese seltsamen Anrufe dann? Steven, vielleicht. Allerdings hatte er einen Grund auf Arbeit nach mir zu fragen, doch wäre er dem Pförtner unbekannt gewesen. Solche viele Fragen auf die ich einfach keine Antwort weiß. Es zermürbt mich. Es konnte Moore gewesen sein, doch ich erinnere mich daran, dass es ein junger Mann gewesen sein soll. Das Telefon in meiner Hand beginnt zu klingeln. Ich schrecke zusammen und sehe Richards Namen auf dem Display. Ich schließe meine Augen und gehe nicht ran. Als der Anruf endet, schalte ich das Telefon aus. Die gesamte Nacht hindurch kann nicht wirklich schlafen. Jedenfalls fühlt es sich so an. Doch es sind nicht nur der Gedanken an die verfahrene Situation, die mich wach halten, sondern auch die vergrabenen Erinnerung, die durch Detektiv Moore geweckt wurden. Der regungslose Leib von Richards Vater am unteren Ende der Treppe. Ein Bein war verdreht und die langsam größer werdende Blutlache an seinem Kopf bereitete sich über den hellen Fliesenboden aus. In seinem teuren Anzug erschien die Szenerie noch unrealistischer. Die massive Gestalt des Mannes wirkte klein und zerbrechlich. Ich erinnere mich gut an die großen, groben Hände, die meine Handgelenke umfassten und an den warmen Atem, der mir entgegen schlug als er mich anbrüllt. Der schmerzende Druck als er mich gegen die Wand drückte. Seine Worte, die sich wie scharfe Messerklingen in meinen Körper bohrten. Tiefe Wunden schnitten. Ich würde Richard nie wiedersehen, sagte er. Ich würde ihm nie wieder zu nahe kommen. Seine Drohungen waren niemals leer. Sie waren definitiv und ich bekam Angst. Noch jetzt greifen die Worte und tauchen in mein Inneres ein. Sie zerren Furcht hervor und treiben Ängste an die Oberfläche, die ich längst überwunden und vergessen wähnte. Ich spüre die Tränen, die auch jetzt meine Wangen benetzen. Wieso kann das Ganze nicht endlich ein Ende haben? Ich möchte einfach nur ein normales Leben führen. Glücklich sein. Jeden Abend mit einem Lächeln auf den Lippen einschlafen und die Wärme dieses einen geliebten Menschen neben mir spüren. Ich setze mich ermattet auf und fahre mit beiden Händen über das Gesicht, streiche mir die Haare zurück. Ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr. Ich will, dass es aufhört. Die ersten Nächte im Gefängnis hatte ich ähnliche Gedanken. Irgendwann stehe ich auf, hocke mich vor das Bett und hole erneut die Kiste mit den Bildern hervor. Doch das, was ich suche, liegt noch tiefer unter dem Bett. Meine Finger tasten über staubigen Boden, über glatte Holzdielen und dann über einen rauen Einband. Ich ziehe das Buch hervor, setze mich nieder, lehne mich gegen das Bett und lasse meine Hand über den zerfledderten Bucheinschlag wandern. Hunderte Rissen, Kerben und Knicke. Sie ziehen sich über die Illustration des Covers. Die abgebildeten Gesichter sind kaum noch zu erkennen. Sie sind auch nicht wichtig. Einige Buchstaben des Titels fehlen. Ich brauche sie nicht. Es ist das einzige Buch, was ich besitze. Jules Vernes 'Eine Reise zum Mittelpunkt der Erde'. Das erste Mal habe ich es mit Richard zusammen gelesen. Wir waren damals zwölf Jahre alt. Rick war so verdammt lesefaul aber er sollte das Buch über die Ferien analysieren. Ständig hatte er neue Ausreden und Ausflüchte. Und immer wenn ich damit anfing, begann er mich erneut mit seinem einnehmenden Charme abzulenken. Ein Abendteuer hier, etwas zu entdecken da. Eine Woche vor dem Ende der Sommerferien zwang ich ihn dazu. Wir lasen es gemeinsam. Abwechselnd. Mal leise. Mal laut. Wir brauchten drei Nächte. Das machten wir dann jedes Jahr aufs Neue. Rick hat eine wunderbare Lesestimme. Voll und angenehm. Ich könnte ihm ewig zu hören. Ich habe damals gern gelesen und auch viel, aber seit ich aus dem Gefängnis gekommen bin, habe ich kein Buch mehr angefasst. Sobald ich eines in meinen Händen halte, verbinde ich vermehrt die Einsamkeit und das Gefühl des Gefangenseins damit. Auch jetzt. So viele einsame Stunden in der Zelle. Ich erinnere mich gut an den Geruch des alten Papiers. Teilweise durchsetzt von Schimmel roch es muffig und war durchzogen mit einem Hauch von Tabak. Ich bin der Überzeugung, dass sich daran auch allerhand Drogen befunden haben müssen und ein sonderbares Lächeln schleicht sich auf meinen Lippen. Noch ein weiteres Mal wandern meine Finger über die zerrissene Illustration und dann schlage ich es auf. Ich führe das Buch an meine Nase heran, schnuppere und schließe meine Augen. Die Erinnerungen berieseln mich und wiegen mich zärtlich. Ich kenne noch immer jedes Wort. Wir haben es so oft zusammen gelesen. Dennoch fange ich von vorn an. Gegen fünf Uhr am Morgen stehe ich auf. Gut geschlafen habe ich nicht. Selbst nachdem ich einige Kapitel des Buches gelesen habe und die wohligen Erinnerungen ein ruhigen Nebel erzeugten, der sich in meinem Kopf ausbreitete. Bevor ich das Haus verlasse, blicke ich auf die andere Straßenseite. Kein verdächtiges Auto. Kein Moore. Vielleicht ist heute ein guter Tag. Ich fahre etwas früher als gewöhnt zur Arbeit, genieße die Stille, die in den gesamten Räumen herrscht und verspüre ich das Bedürfnis heute jedem aus dem Weg zu gehen. Ich schaffe es, denn wenn ich will, kann ich zum Geist werden. Eine Fähigkeit aus meiner Kindheit. Den Tag verbringe ich mit Kontrollgängen und am frühen Nachmittag fahre ich zu dem anderen Objekt. Auch dort wandere ich die stillen Räume ab. Nur Staub und muffige Luft. Alles sieht gut aus. Mein Handy bleibt still. Obwohl ich müde und ausgelaugt bin, bleibe ich in einem der leeren Räume stehen. Die Vorstellung in meine Wohnung zu fahren, lähmt mich. Kapitel 12: Reden ist Silber und Schweigen ist…falsch ----------------------------------------------------- Kapitel 12 Reden ist Silber und Schweigen ist…falsch Ich werfe einen letzten Blick auf das Handydisplay. Seit acht Minuten habe ich offiziell Feierabend und ziehe zum ersten Mal in Betracht einfach hier stehen zu bleiben. Niemand würde es auf fallen. Keinen würde es stören. Nur mich selbst, da ich es schon bevorzuge in meinem eigenen Bett zu nächtigen. Ich fühle mich eigenartig ruhelos und selben Moment seltsam träge. Seufzend schaue ich erneut auf die Uhr, streiche mir durch die Haare und schalte das Arbeitsgerät ab. Also doch Feierabend. Statt alles ruhen zu lassen, taste ich nach meinem eigenen Telefon, ziehe es, aber nicht aus der Hosentasche. Unweigerlich wandern meine Gedanken zu Richard. Was er wohl denkt? Erst wähle ich seine Nummer und dann ignoriere ich ihn. Zwischendurch war ich kurz davor eine Nachricht zu schreiben, aber solche Sache kann man viel leichter zurückverfolgen. Allerdings hat er mir versichert, dass niemand diese Nummer kennt. Trotzdem macht sich das schlechte Gewissen in mir breit. Dennoch ich bin mir sicher, dass es die richtige Entscheidung war. Hätte ich auch nur eine Sekunde seine Stimme gehört, dann wäre ich vor Sehnsucht zergangen und womöglich nie wieder aus den Tiefen meiner Wünsche zurückgekehrt. Meine Finger streichen über das lautlos geschaltete Gerät und ich spüre ein feines, aber deutliches Kribbeln, welches sich meine Fingerspitzen schreien lässt. Nach einem letzten Moment der Rastlosigkeit verlasse ich den neuen Bürokomplex genauso unbemerkt, wie ich ihn betreten habe. Auf dem Vorplatz des Gebäudes bleibe ich stehen. Ich bin in mitten des Geschäftsviertels der Stadt. Hochhaus reiht sich an Hochhaus. Verglaste Giganten, die sich gemäß ihrer Erbauer größenwahnsinnig in den Himmel strecken, wechseln sich mit Betonwürfel in mannigfaltigen Formationen ab. Ich blicke die Fassade des Nachbargebäudes entlang bis ich bei einem trostlosen Alibidachgarten angelange. Ein Bäumchen mit kränklichem Aussehen und eine Hecke an der deutlich zu erkennen ist, dass das Gärtchen niemand pflegt. Ich schließe meine Lider. Die kühle Luft bläst mir meinen Kopf frei und ich atme tief ein. Als ich die Augen aufschlage, sehe ich mich um. Ein paar Geschäftsleute eilen zu einem Taxistand. Eine junge Frau, die mit allerhand Akten beladen ist, kommt an mir vorbei und beginnt zu schimpfen. Ich sehe auf den Schlüssel, der neben ihr am Rinnstein liegt. Ich bücke mich automatisch, klaube ihn auf und reiche ihn ihr. Sie scheint mir ein verlegenes Lächeln. Ich nicke freundlich und wende mich ab. Vor der Treppe zur U-Bahn bleibe ich erneut stehen. Irgendetwas hält mich zurück. Das laute Signal einer Alarmanlage lenkt mich ab und doch bemerke ich eine Gestalt auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Zigarettenrauch, der sich langsam verflüchtigt und in feinen Schäden über den Autodächern tanzt. Die Person ist nicht mehr zu sehen. Wieder durchfährt mich ein intensives Erzittern und meine Gedanken beginnen zu rasen. Unbewusst ziehe ich meine Schultern nach oben umso die Jacke dichter an meinem Gesicht zu platzieren. In den letzten Tagen ist die Temperatur schnell gefallen. Ich nehme mir vor meine Winterklamotten heraus zu kramen und erschrecke bei dem schlechten Gefühl, welches sich bei dem Gedanken an meine Wohnung in mir ausbreitet. Ich sehe, wie eine Masse von Menschen aus dem U-Bahntunneln kommt und bin für einen kurzen Moment hin und her gerissen. Ich will noch nicht zurück in meine Wohnung. Doch ich kenne niemanden in dieser Stadt, zu dem ich gehen könnte. Ich sehe, wie die leeren Gesichter der Menschen näherkommen. Wie sich einige Augen auf mich richten. Fragend. Wundernd. Verstört. Kurz bevor sie bei mir ankommen, wende ich mich um und schiebe meine Hände in die engen Taschen meiner Jacke. Ich gehe einfach weiter, steige in den nächsten Bus ein und an der nächstgelegenen Haltestelle meiner Wohnung wieder aus. Die Fahrt hat viel länger gedauert, führte vorbei an etlichen Läden und Geschäften und tief hinein in die verschiedensten Wohnviertel. Ein Einblick in die Variabilität einer Stadt und in mancher Hinsicht ein wahrhaftiges Armutszeugnis. Durch die Busfahrt bin ich an einer anderen Stelle meines Wohnviertels rausgekommen als gewöhnlich. Vor einem kleinen Kino in meiner Nachbarschaft bleibe ich stehen. Ich bin schon ein paar Mal beim Einkaufen hier vorbeigekommen, aber ich habe nie wirklich einen Blick riskiert. Hier werden keinen neuartigen Filme gespielt, sondern eher die, die im letzten Jahr beliebt gewesen sind. Es ist eine Weile her, dass ich im Kino gewesen bin. Das letzte Mal vor 10 Jahren. Troja. Episch. Langatmig. Ein Lächeln schleicht sich auf meine Lippen, obwohl ich mich daran erinnere, dass ich nach der Hälfte des Films eingenickt war. Ewan hatte mich irgendwann wachgerüttelt und geschimpft, da ich letztendlich eine der teuren Kinokarten vergeudet hatte. Ohne länger darüber nachzudenken, betrete den winzigen Cinemapalast und habe mich schnell für einen Film entschieden, der auch in ein paar Minuten beginnt. Irgendwas mit Raumschiffe und Weltall. Das Kino ist angenehm leer. Nur wenige Kopf erstrecken sich über die hohen Kinositzen und ich genieße die Ruhe, die sich vor dem Filmbeginn im Saal ausbreitet. Nur hin und wieder leises Getuschel. Das Knuspern und Rascheln von Popcorn. Ich schließe meine Augen, sinke tiefer in den ausgeleierten Sitz hinein und blicke erst auf als sich jemand an meinen Beinen vorbeidrückt. Die Person lässt sich nur zwei Plätze von mir entfernt auf einen Doppelplatz nieder. Ein junger Mann. Er trägt eine Brille. Ich sehe mich einen Moment im Kino um, erkenne kleinere Gruppen von Personen, die heiter Süßigkeiten austauschen. Paare, die sich aneinander schmiegen und sich verstohlene Blick zu werfen. Die hellerleuchtete Leinwand lässt mich ineinander verschränkte Hände erkennen. Ein Gefühl des Vermissens. Und ich frage mich, wie kann man etwas vermissen, was man im Grunde so nie hatte? Als ich mich wieder vernünftig hinsetze, schweift mein Blick zurück zu dem jungen Mann. Sein Blick ist direkt nach vorn gerichtet. Noch immer trägt er seine Jacke. Er ist mit mir der Einzige im Saal der allein ist. Wir beide sind die Einzigen ohne Knabberzeug. Der Film beginnt und er bietet mir genau das, was ich mir erhofft habe. Ablenkung. Ein paar Stunden vergessen. Ich bleibe bis zum Ende des Abspanns sitzen, lese die Namen der Mitwirkenden und bin doch immer wieder erstaunt wie viele Menschen bei der Entstehung eines solchen Films mitwirken. Auch der Mann neben mir bleibt bis zum Schluss. Kurz vor dem letzten Rest des Abspanns steht er auf. Als er an mir vorbeigeht, richtet er seinen Blick auf mich. Ich kann sein Gesicht nicht erkennen, aber ich sehe deutlich die Zigarette, die hinter seinem Ohr klemmt und sich durch den hell erleuchteten Hintergrund hervorhebt. Ich blicke ihm nach und in meinem Magen beginnt es zu kribbeln. Ein seltsames Gefühl arbeitet sich langsam durch meinen Körper, was aber nicht im Verstehen mündet. Dennoch stehe ich abrupt auf und laufe ihm nach. Er verschwindet hinter einer Gruppe von Wartenden und ich folge ihm bis nach draußen. Doch dann ist er verschwunden und ich kann ihn nicht mehr sehen. Noch immer kitzelt mich dieses seltsame Gefühl. Brennt und mahnt. Doch was ist es, was ich nicht verstehe? Ich schaue mich um, sehe nach links und nach rechts. Allerdings blicken mir nur unzählige unbekannten Gesichtern entgegen, die an dem Kino mit Einkaufstüten oder leeren Gesten vorbeiziehen. Es ist mittlerweile Dunkel und meine Sicht ist eingeschränkt. Ich sehe meinen kondensierten Atem, der durch die kalte Luft schwebt, wie der Rauch einer Zigarette. Irgendwoher habe ich ihn gekannt oder bilde ich mir das Ganze nur ein? Spielt mir mein Kopf mittlerweile Streiche? So muss es sein. Gedankenversunken fahre ich in meine Wohnung zurück. Kein Blick in den Briefkasten. Kein Blick auf das Telefon. Auch das Handy lasse ich stummgeschaltet. Nur ein einziges Mal sehe ich auf die Uhr. Es ist bereits nach 21 Uhr und ich falle nach einer kurzen Katzenwäsche, Zähneputzen und dem Entkleiden ermattet auf das Bett. Meine Augen schließen sich nicht und ich starre in die Dunkelheit. Moore. Steven. Der Fremde mit der Zigarette. Die Streiche, die mir mein Gehirn spielt, sind mannigfaltig. Sybilla Paddock. Auch Richards Mutter taucht jedes Mal warnend vor meinen geistigen Augen auf, wenn ich über die Geschehnisse der letzten Tage nachdenke. Hat sie etwas damit zu tun? Zu zutrauen ist es ihr. Bereits damals setzte sie alles daran, dass Rick und ich keinen Kontakt mehr hatten. Die Liste der Personen, die mein Unbehagen in Wallung bringen, wird stetig länger. Ich schließe nun doch meine Augen und obwohl meine Gedanken ununterbrochen bei den anderen Personen sind, sehe ich nur Richard vor mir. Lächelnd und liebevoll. Ich wäre so gern einfach nur glücklich mit ihm. Doch ich weiß, dass dieser Wunsch nur meiner kindlichen Vorstellung entspringt, die jegliche Realität und jede Vernunft ausblendet. In dieser Nacht schlafe ich wieder schlecht. Gegen Mittag des nächsten Tages überfällt mich die Müdigkeit. Es ist wie ein Schlag, bedingt durch die stickige und unreine Luft meines Arbeitsplatzes. Ich lehne mich mit den Rücken gegen die Wand im Heizungsraum. Wahrscheinlich sorgt auch die enorme Hitze für meinen Hänger. Ich lasse mich hinabgleiten und schließe für einen Moment die Augen. Ich atme schwer. Die Luft ist drückend. Die plötzliche Stille um mich herum veranlasst mich meine Lider wieder zu öffnen und er sehe Dunkelheit. Ich strecke meine Hand nach vorn aus. Nichts. Mit wird eiskalt und das obwohl mir eben noch so durchdringend heiß war. Mit einem Mal wird es mir bewusst. Ich befinde mich wieder in Einzelhaft. Schutzhaft, wie sie es nannten. Ein einziges Mal ist mir das passiert. Vorher hatte ich eine Auseinandersetzung mit einem anderen Häftling. Der kleine Raum. Ohne Fenster und als sich die Tür schloss, verschwand die einzige Lichtquelle, denn niemand hatte bemerkt, dass es einen Kurzschluss in der kargen Beleuchtung der Decke gegeben hatte. Nichts war zu erkennen. Nur Schwärze. Es gab nicht sehr viele Dinge in dem kleinen Raum. Ein Bett. Ein Tisch, der aus einer an die Wand genagelten Plastikplatte bestand. Nichts von alledem war in dem absoluten Dunkel zu erkennen. Nichts, was ich nicht kannte. Nichts, was ich nicht schon hunderte Male gefühlt hatte. Und doch hatte die Stille gepaart mit der Dunkelheit mich erdrückt. Es schien so hoffnungslos. Es begann mit feuchten Händen, die obwohl ich dauernd über meine Kleider strich, nicht trocknen wollten. Sie verursachten Kälte, die sich nach und nach von meinen Fingerspitzen über die Arme und über den Rest meines Körpers ausbreitete. Mein vibrierender Kiefer, der die Stille mit klappernden Geräuschen auszufüllen schien. Der erschreckend gleichmäßige Takt meiner aufeinander treffenden Zähne machte mich irgendwann wahnsinnig. Es hörte nicht auf. Es wurde immer lauter. Ich wusste nicht, wann sie mich wieder rauslassen würden. Ich hockte direkt vor der Tür, grub meine klammen Finger in die glatte Eisentür. Als die Kälte ihre Glieder nach meinem Herz ausstreckte, galten meine Gedanken nur noch Richard. Auch jetzt spüre ich, wie sie nach meinem Inneren greift. Ein winziges Tippen und doch merke ich an dieser Stelle meines Herzens einen heftigen Stich, der mich erschaudern lässt. Ich will nicht wieder dorthin zurück. Eine warme Hand legt sich an meine Wange. Ein Daumen, der über meine Haut streicht. „Eleen?" Nur ein hauchzartes Flüstern, welches dumpf an mein Ohr dringt. Doch es holt mich langsam aus meinem Traum zurück. „Rick,...", entfährt es mir leise als die Traumvorstellung komplett zu verschwinden scheint. Eine Berührung an meiner Stirn, dann legt sich die warme, weiche Hand wieder zurück an meine Wange. „Eleen, alles okay?" Diesmal ist die Stimme deutlich. Ich öffne müde und schwerfällig meine Augen und blicke in Kaleys warme braune Augen. Sie sind voller Sorge. Panisch schrecke ich auf, richte mich auf den Knien auf. Automatisch drücke Kaley leicht von mir weg und sehe sie überrascht an. Danach blicke ich zu der leise böllernden Heizung. Einem leisen Surren folgt ein hohles Gluckern. Erst jetzt wird mir wieder richtig klar, wo ich eigentlich bin. Ich bin nicht in einer Isolierzelle. Ich bin im Heizungskeller. Ich bin auf Arbeit. Mein Atem beruhigt sich nur schwerlich. „Hey, ganz ruhig." Kaley drückt mich an den Schultern zurück auf den Boden. Sie zwingt mich sie anzusehen, in dem sie mein Kinn umfasst und meinen Kopf sanft nach oben neigt. „Tut mir leid", sage ich knapp und schließe kurz die Augen um mich zu sammeln. Ich muss tatsächlich eingeschlafen sein. Hoffentlich hat niemand meine Abwesenheit bemerkt. Fahrig streiche ich mir durch die Haare als Kaley mein Kinn löst lässt. „Was machst du hier?", erkundige ich mich verwundert, nachdem ich mich endlich vollkommen gefasst habe. „Ich dachte, wir könnten zusammen Mittagessen. Wie lange sitzt du schon hier drin? Es ist viel zu heiß und es gibt kaum Luft." Kurz wedelt sie sich mit ihren langen schmalen Fingern kaum vorhandene Luft zu. Dann hilft sie mir hoch und wir verlassen gemeinsam den kleinen, stickigen Raum. Ich atme im Flur durch und fahre mir ein weiteres Mal über Stirn und Haare. Feuchtigkeit benetzt meine Finger. „Hast du irgendwo etwas zu trinken?", fragt sie mich und mustert mich ausführlich. Ihr sorgenvoller Blick beschämt mich immer mehr. Ich will ihr keine Probleme bereiten und schon gar keine Sorgen. „Ja, im Pausenraum. Ich hab es dort vergessen." Ich bin schon den ganzen Tag nicht ganz bei der Sache. „Komm!" Sie hält mir symbolisch ihre Hand hin, doch diesmal ergreife ich sie tatsächlich. Sie lächelt. Mir ist noch immer etwas schwindelig. Als wir den Aufenthaltsraum betreten, sehe ich meine Flasche auf einem der Tisch stehen. So, wie ich sie am Morgen zurückgelassen habe. Doch als ich nähe komme, bemerke ich, dass etwas nicht stimmt. Ich beuge mich vor und sehe, dass etwas Weißes darin schwimmt. Ich brauche nicht lange darüber nach zu denken, um was es sich handeln könnte und wer es dort hineingetan hat. Steven. Nachdem am gestrigen Tag nichts passiert war, habe ich schon fast darauf gewartet, dass eine neue Attacke kommt. Es ist widerwärtig und es ist mir unangenehm, dass Kaley das mit ansehen muss. Aus dem Augenwinkel heraus, sehe ich, wie sie die Hand nach der Flasche ausstreckt. Schnell halte ich sie davon ab. Meine kalten Finger lassen sie zusammen schrecken. Kaley blickt von der Flasche zu mir. Ich schüttle den Kopf. „Nicht." „Soll das so aussehen?" Sie beugt sich ebenfalls nach vorn. Doch ich stoppe sie in dem ich ihr sachte meinen Arm vor die Brust lege. „Nein, das soll nicht so aussehen und glaube mir, wenn ich dir sage, dass du nicht wissen willst, was das ist." Wir starren beide auf die Flasche. Sie scheint nicht zu verstehen, was hier passiert und ich bin froh darüber. Ich greife mir einen der Mülleimer und stoße die Flasche dort hinein. Ein Schauer des Ekels erfasst mich und ich bewege mich als nächstes zum Waschbecken. „War das ein Streich? Hast du Ärger mit jemand", fragt mich Kaley, während ich mindestens zehn Minuten lang abwechselnd Wasser und Seife auf meinen Händen verteile. Ich bin eigentlich gar nicht so empfindlich. Doch allein die Wut, die ich empfinde, fördert mein übertriebenes Handeln. Als ich mir die Hände endlich abtrockne, blickt mich die dunkelhäutige Schönheit noch immer fragend an. Ich war zwischendurch nicht sehr mitteilsam. Ich bin auch jetzt nicht gewillt, denn ich merke, wie meine Atmung immer hektischer wird. „Danke für deine Hilfe, aber ich kann heute nicht mit dir essen gehen. Entschuldige mich, bitte.", sage ich ohne sie anzublicken. Meine Hand ballt sich zu einer Faust, während ich durch die Tür verschwinde. Kaleys Stimme hält mich nicht zurück. „Wo willst du hin? Eleen.", ruft sie mir hinterher. Zum Glück ohne mir zu folgen. Ich taste beim Laufen nach meinem Handy und öffne die Aufnahmefunktion. Es reicht. Das muss aufhören. Ich brauche nicht lange nach ihm zu suchen, denn ich weiß, wo sich Stevens Trupp herumtreibt. Sie sind in der zweiten Etage und renovieren dort notdürftig eines der alten Büros, welches übergangsweise als Archiv genutzt werden soll. Noch im Flur kann ich die leise Musik hören und wie sie sich lautstark unterhalten. Gelächter. Tiefes Brummen. Vor der Tür bleibe ich stehen und versuche die Wut, die sich in mir sammelt irgendwie zu dämpfen. Doch ich schaffe es nicht. Als ich den Raum betrete, sehe ich Steven, der mit dem Rücken zu mir steht. In seinen Händen hält er eine Malerrolle. Er lacht. Kai sieht mich als erster. Als er erschrocken meinen Namen sagt, wendet sich Steven um. Doch ich bin bereits bei ihm und presse ihn mit der Malerrolle gegen die frisch gefärbte Wand. Die Stange quer über seine Brust. Die Überraschung in seinem Blick gibt mir erste Genugtuung. Er fängt sich schnell, hantiert mit der Rolle, doch ich bin unnachgiebig. Und nach nur wenigen Augenblicken bildet sich, dieses überhebliche Grinsen in seinem Gesicht. „Du siehst unzufrieden aus." „Du bist widerlich!" „Oww, fühlt sich das Ellielein nicht wohl?" Die absichtliche Verunstaltung meines Namens soll mich zusätzlich reizen. Er schafft es. Ich presse ihn fester gegen die Wand. Steven keucht auf. Die Materielle presse ich ihm fester gegen die Brust. „Du solltest lieber froh sein, dass ich das Ganze nicht sofort gemeldet habe. Ich wette, dass deine Akte nicht Blütenrein ist", knurre ich ihm entgegen. Ich muss mich beherrschen. „So, wie deine?" Ich drücke die Stange erneut fester gegen seine Brust. Die Verwendung von Gewalt liegt nicht in meinem Sinn. Doch ich muss mir eingestehen, dass das Bedürfnis dem anderen Mann ein reinzuhauen immer stärker wird. „Verdammter Hurensohn!", presst er mir entgegen als ihm auch noch der schwere Teil mit der Rolle gegen den Kopf schwingt. Es hat sicher wehgetan. Ich höre eine Bewegung hinter mir. „Pfeif deine Hunde zurück. Das geht nur dich und mich etwas an", knurre ich ihm entgegen, während die dudelnde Musik meine Stimme weiter dämpft. Steven beobachtet mich aufmerksam. „Warum sollte ich?" „Weil ich ihnen sonst sehr überzeugend erzähle, dass du beim letzten Mal, als du mir so nahe kamst einen Ständer hattest", flüstere ich ihm entgegen und drücke ihn noch einmal fest gegen die Wand. „Und das du auch jetzt einen hast." Ich schaue nicht zur angesprochenen Stelle. Das muss ich nicht, denn ich spüre deutlich, wie sich seine Erregung gegen meinen Oberschenkel drückt. Stevens Atem beschleunigt sich. Er schielt an mir vorbei zu seinem Kollegen und dann zu dem Auszubildenden. Er knurrt ihnen ein 'Haut ab' entgegen und widerwillig verlassen sie den Raum. Steven sieht mich wieder an als wir endlich allein sind. Seine Augen funkeln zornig, aber auch mit einem Ausdruck, den ich nicht zuordnen kann. „Haben dir meine Geschenke nicht gefallen?", raunt er mir entgegen. „Du bist ein perverses Schwein, Steven. Was soll der Scheiß? Glaubst du wirklich, dass ich mich nicht wehre? Falls du denkst, ich würde das einfach mit mir machen lassen, wie ein armer, naiver Azubi, dann hast du dich geschnitten." Trotz meiner unterschwelligen Drohung bildet sich dieses widerwärtige Grinsen in Stevens Gesicht. Sein schmales, kantiges Gesicht wirkt für einen Augenblick, wie die aasriechende Fratze eines Geiers. Er findet Gefallen an der Geschichte. Demonstrativ drückt er sein Becken nach vorn und ich weiche zurück. Steven lässt die Rolle fallen. Als er sich von der Wand löst, lässt sich ein deutlicher Abdruck erkennen, den sein Körper hinterlassen hat. „Mich würde ja interessieren, wie du im Knast überlebt hast. Ich weiß, dass die meisten nicht so heile da herauskommen." Er macht eine sich hervorhebende Geste. Steven war also ebenfalls im Gefängnis gewesen. Ich habe es mir fast gedacht. Es passt zu seinen überheblichen und lächerlichen Gebärden. Steven betrachtet seinen farbverschmierten Unterarm und blickt auf, während er einen Schritt auf mich zukommt. „Was hast du verbrochen, hm? Bitte sag mir, dass es etwas Unanständiges war", fragt er weiter. „Das geht dich nichts an", kommentiere ich leider wenig kräftig. „Ow, bitte, ich will doch nur ein paar schmutzige Details. Weißt du, ich war ziemlich überrascht als ich davon gelesen habe. Das passt ganz und gar nicht zu dir." Ein weiterer Schritt auf mich zu. „Also, was willst du jetzt tun? Mich verprügeln? Dann fliegst du hier schneller raus, als du Ficken sagen kannst und wenn du meinst mich verpfeifen zu können, dann bitte, wo sind deine Beweise? Du kennst, doch das Prozedere. Keine Beweise. Kein Fall." Seine Überheblichkeit ist zum Kotzen, aber leider hat er Recht. Durch meine überstürzte Reaktion bei dem Schrankvorfall sind meine besten Beweise flöten gegangen. Es steht Aussage gegen Aussage und auch Kais Bekundungen würden nichts ausrichten können. Allerdings verrät er sich gerade selbst. „Was willst du?", frage ich nun gerade heraus und sehe dabei zu, wie Steven zu lachen beginnt und dann mit den Schultern zuckt. „Spielen", antwortet er. Der Klang seiner Stimme ist furchteinflößend. Er macht einen letzten Schritt auf mich zu. Nun steht er vor mir und sieht mich herausfordernd an. Ich muss auf Konfrontation gehen, denn sonst wird er nicht aufhören. „Wissen die Kollegen von deiner Vorliebe?" Ich mache einen kleinen Schritt auf ihn zu. Sein warmer, süßlicher Atem trifft meine Haut. „Ich bin keine verdammte Schwuchtel!", keift er mir entgegen. „Und doch steht er dir bereits jetzt wieder wie eine Eins." Ich sehe kurz an ihm hinab und dann direkt in seine zornig funkelenden Augen. „Lass mich raten im Knast wurdest immer du gefickt." Ich sehe, wie er tief Luft holt und mich dann zu Boden reißt. Neben mir fällt einer der Farbeimer um. Ein weiteres Scheppern als einige der Malerutensilien durch seine Bewegungen niedergerissen werden. Mit groben Händen reißt er mir die ersten Knöpfe meines Arbeitshemdes ab. Erschrocken richte ich mich auf, doch er drückt mich sofort wieder runter. Angst. Panik. Mein Puls rast. Er packt meine Hände und drückt sie über meinem Kopf zusammen. „Nein, Steven, geh von mir runter", brülle ich ihm entgegen. Ich versuche mich gegen seine groben Gesten zu wehren. Doch die Wut verleiht ihm ungemeine Kraft. Steven presst seinen Körper auf meinen Unterleib. „Hör auf, verdammt." Mein Ellenbogen knallt gegen seine Schläfe. Steven taumelt. Doch schnell hat er sich wieder gefangen und drückt seine Knie fest gegen mein Becken. „Ich werde dir zeigen, wer hier gleich gefickt wird." Mit einem weiteren, heftigen Griff reißt er meine Hose auf. Nun spüre ich die deutliche Panik, die meine Synapsen flutet. „Steven, was tust du da!" Der erschrockene Ausruf dringt nur dumpf zu mir durch. Ich wende mein Gesicht zur Tür und auch Stevens Hände halten plötzlich still. Die Kollegen haben den Krach gehört, den die umfallenden Gegenstände und auch wir verursacht haben. Ein älterer Kollege, graumeliert mit ersten Anzeichen von Haarausfall schaut besonders entsetzt drein und schiebt sich dann entschlossen an den anderen vorbei. Er ist der Netteste aus der Truppe. Neben ihm steht Kai. Seine geweiteten Augen sprechen Bände. Steven lässt von mir ab. Ein fahriges Stottern. Ausflüchte. Ich richte mich langsam auf, merke wie sich mein hektischer Atem nicht beruhigen will. Mein Herz schlägt mir heiß gegen die Brust. Dass das passiert hatte ich nicht beabsichtigt und ich habe auch nicht damit gerechnet. Ich habe ihn zur Rede stellen wollen und habe versucht ihm einige Äußerungen zu entlocken. Ich schellte mich innerlich, weil das gründliche in die Hose gegangen ist. Mit zittrigen Händen versuche ich meine Hose zu schließen, doch Steven hat durch die rabiate Behandlung den Reißverschluss am unteren Ende herausgerissen. Ich spüre seinen Blick auf mir, höre die Worte, die mich davon überzeugen sollen den anderen zu verdeutlichen, dass das alles nur ein Spaß gewesen ist. Wir müssen im Grunde nichts erklären, denn die Szene spricht für sich. Die Gesichter der Kollegen erzählen die Wahrheit. Ein stilles Zeichen des Verstehens. Nun hat Steven ganz allein dafür gesorgt, dass seine Kollegen ihn in einem anderen Licht sehen. Ich raffe mein kaputtes Hemd zusammen und schiebe mich an dem Älteren und dem Azubi vorbei. Kurz spüre ich Kais Hand an meinem Arm. Seine Augen suchen fragend nach Hilfe. Ich kann sie ihm in diesem Moment nicht geben. Ich löse mich aus seinem Griff und nehme bewusst die Treppe um niemanden zu begegnen. Zwischen dem Keller und dem Erdgeschoss bleibe ich stehen, ziehe mein Telefon aus der Hosentasche und beende die Aufnahme. Nun habe ich meine Beweise und auch einige Zeugen. Aber besser geht es mir damit nicht. Im Gegenteil. Ich fühle mich hundeelend. Im Umkleideraum bleibe ich eine Weile vor meinen Schrank stehen. Meine Hände zittern noch immer. Ich ziehe mir das zerfetzte Hemd von den Schultern und versuche die kaputte Hose in irgendeiner Form zu schließen. Ich habe keine andere dabei. Ernüchtert ziehe ich mir mein Alltagsshirt über und hoffe, dass für den restlichen Tag niemand meine offene Hose auffällt. Als ich die Tür höre zucke ich zusammen. Schwere Schritte kommen näher. Bevor ich mich vollständig umgedreht und gegen das Kommende wappnen kann, werde ich schon gegen den Schrank gedrückt. Stevens aufgebrachten Augen funkeln mir entgegen. „Du, elender Hurensohn. Das hast du mit Absicht gemacht. Ich warne dich, wenn du auch nur ein Wort davon an unsere Vorgesetzten gibst, dann..." „Dann was? Ich habe Zeugen. Halte dich von mir fern. Halte dich von Kai fern oder du fliegst hier schneller raus, als du Ficken sagen kannst", kontere ich mit seinem eigenen Wortlaut von vorhin. Ich bin selbst über die Festigkeit meiner Stimme erstaunt, denn innerlich beginne ich zusammenzufallen. Stevens Griff an meinen Schultern wird noch einmal fester. Ein weiteres Mal schlägt die Tür auf und dann wird Steven weggerissen. „Steven, hör auf damit. Du machst es nur noch schlimmer. Lass ihn in Ruhe und entschuldige dich, verdammt noch mal.", bellt der graumelierte Kollege und sieht zu mir. Stevens Körper strafft sich, während sich meiner langsam wieder entspannt. Er streicht sich den durcheinander geratenen Pullover glatt und sieht dann zu mir. Ich will keine Entschuldigung. Ich will meine Ruhe. Mehr habe ich nie gewollt. Ohne ein weiteres Wort verschwindet Steven aus dem Umkleideraum. Ich spüre die Blicke der anderen auf mir und schließe meinen Spind. Ich gehe in den Heizungsraum zurück, verbringe die letzten Stunden meiner Arbeitszeit darin ohne irgendeine Arbeit zu beginnen. Meine Hände hören nicht auf zu zittern. Was für ein Tag. Vor meiner Haustür bleibe ich stehen und sehe mich auf der Straße um. Kein Detektiv Moore. Kein Herr Moore, berichtige ich mich gedanklich. Ob seine Besessenheit für unseren Fall zu seiner frühzeitigen Pensionierung geführt hat? Gut möglich. Warum kann er es nicht einfach ruhen lassen? Wie sollte er? Auch ich kann es nicht vergessen und werde es auch nie. Ich hole mehrere Briefe aus dem Briefkasten. Zwei Rechnungen. Werbeprospekte. Mein Puls beschleunigt sich als ich einen weiteren unbeschrifteten Briefumschlag in den Händen halte. Meine Finger sind klamm. Ich brauche einen Moment bis ich den Brief geöffnet bekomme und ziehe ein gefaltetes Papier und ein weiteres Foto hervor. Richards Gesicht. Eine Aufnahme von vor acht Jahren. Mein Herz wird schwer. Langsam entfalte ich das Blatt und erstarre, als ich die ersten Worte meines damaligen Verhörs lese. >Ich habe ihn die Treppe runtergestoßen. Wen? Richards Vater. Renard Paddock? Ja.< Ich erinnere mich an das quälende Gefühl in meiner Brust, als sie mir die schwerwiegenden Worte entlockten. Die starren, strengen Blicke, die neutral schauen sollten in denen aber nur die Schuldzuweisung zu sehen war. Es folgen die Beschreibungen vom Ablauf und meine Beweggründe. Unbewusst lese ich weiter. Ich habe das ausgesprochene Kontaktverbot zu Richard nicht akzeptieren wollen und hatte seinen Vater zu Rede gestellt. Er blieb hart. Ich wurde wütend. Kein Vorsatz. Nur Affekt. Nun war Richards Vater tot. Er hatte mich angegriffen. Er hatte mich bedrängt. Davon steht kein Wort in dem Bericht. Nirgendwo die Erwähnung von Richards Anwesenheit. Er hatte gar nicht da sein sollen, also war er es offiziell auch nicht. Kein Wort über den Streit. Keine Silbe über die Vorkommnisse, die dazu führten. Uns hätte niemand geglaubt. Mir hätte niemand geglaubt. Ich lasse das Blatt sinken. Wie ist das möglich? Wie kann jemand an diese Akten kommen? Sie waren versiegelt. Es muss Moore gewesen sein. Aber wieso sollte er das tun? Er hat mich persönlich angesprochen, wieso also noch diese Heimlichtuerei? Ich wende das Bild um. Erneut ist darauf eine Adresse notiert. Es ist dieselbe, wie auf dem Foto mit der blonden Frau und dem Kind. In meinem Kopf wiederhole ich die Worte und Zahlen, ohne sie auf dem Bild zu lesen. Ich schiebe alles in meine Jackentasche und verlasse das Haus. Ohne wirklich darüber nachzudenken. Vor dem U-Bahneingang ziehe ich mein Handy hervor und gebe die Adresse im Internet ein. Eine U-Bahnstation, deren Namen mit nichts sagt. Nach einer halben Stunde steige ich genau dort aus. Ein Wohnhaus, wie jedes andere. Nur neuer. Die Haustür ist offen und es ist nur ein leichter Druck nötig um hineinzukommen. Unwillkürlich wandert mein Blick über die Namensschilder der Briefkästen, die sich auf der linken Seite des Eingangsbereichs erstrecken. Paddock. Ich schließe ernüchtert meine Augen. Im Grunde habe ich es gewusst. Nach wenigen Augenblicken bin ich in der 4. Etage. Will ich das wirklich tun? Ich schrecke zurück als plötzlich die Tür aufgerissen wird. Mein Herz prallt hart gegen meine Brust. Richard sieht mir mit ebenso verwunderte Augen entgegen und ich weiche augenblicklich einen Schritt zurück. „Lee", haucht er mir zu, doch ich schaffe es nicht etwas zu erwidern. Ich sehe nur auf das ruhende Kind in seinem Armen. Ein kleines Mädchen. Ich starre auf ihre kleinen Finger und brauche eine Weile bis realisiere, dass dieses Kind dasselbe, wie auf den Bildern ist. Auf den Bildern war sie etwas jünger, aber die Gesichtszüge sind dieselben. Die feinen braunen Locken, die sich kringelnd um den Kopf schmiegen. Sie sind länger, aber die sanften Wellen erkenne ich wieder. Die großen, ausdrucksstarken Augen, von denen auf den Bildern noch nicht die charakteristische Färbung zu erkennen war. Ihre zarten, knubbeligen Finger reiben über große, hellbraunen Augen. Ihr verschlafender Blick und ich denke sofort an Ricks Gesicht beim Erwachen. Sie schmiegt sich an Richards Hals und als ihr Kinderhand sanft in den Kragen seines Pullovers greift, fällt mein Verstand in ein tiefes Loch. Es ist ein schönes Bild, doch spüre ich, wie ich innerlich einfach in mich zusammenfalle. Richard hat ein Kind und wahrscheinlich auch eine Frau dazu. „Was machst du hier?", fragt er flüsternd. Ich weiche noch einen Schritt zurück und meine Hand tastet haltsuchend nach dem Geländer der Treppe. Ich spüre das spröde Holz unter meinen Fingern und obwohl es sich schmerzhaft in meiner Haut sticht, wird mein Griff fester. Ich weiche Richards Blicken aus und als ich im Hintergrund der Wohnung schemenhaft eine Person laufen sehe, murmele ich nur noch eine Entschuldigung und stürze schnell die Treppe hinab. Unter angekommen denke ich nicht darüber nach, in welche Richtung ich muss. Ich gehe einfach. Blind. Taub. Unfähig zu sprechen. Als ich endlich stehen bleibe, weiß ich nicht einmal mehr, wo ich bin. Ich neige meinen Kopf nach hinten und blicke zum wolkenverhangenden Himmel. Er ist noch immer grau und bedrückend. Passend zu meiner Stimmung. Ich spüre keine Wut. Keinen Ärger oder Zorn. Es ist nicht einmal Enttäuschung, sondern einfach die nagende Gewissheit das die sieben Jahre nicht ohne eine Veränderung vergangene sind. Wir sind keine Kinder mehr und während mein Leben einen erzwungenen und herbeigeführten Stillstand hatte, hat sich Richards Leben weiter drehen müssen. Der Wunsch und die Vorstellung ein gemeinsames Leben mit ihm zu haben, bekommt tiefe Risse. Mir wird klar, dass es für immer ein Traum bleiben wird. Das Blut in meinen Adern pumpt sich messerscharf durch meinen Körper und ich spüre, wie sich in mir ein unbändiger Schmerz ausbreitet. Kapitel 13: Die Lasten der Schweigsamen --------------------------------------- Kapitel 13 Die Lasten der Schweigsamen Nach unendlichen Minuten des Nichtatemkönnens setze ich meinen Weg fort. Drücke mir unentwegt die Hand gegen den oberen Bereich meines Bauches und laufe so lange durch die Stadt bis ich vor Kälte meine Finger nicht mehr spüren kann. Erst dann bleibe ich vor einer U-Bahnstation stehen und orientiere mich. Ich befinde mich am anderen Ende der Stadt. Die lange Fahrt zurück in meine Wohnung beruhigt mich. Unbekannte Gesichter. Völlige Anonymität. Zwei junge Mädchen sitzen neben mir und teilen sich einen Kopfhörer. Ich kann die heftigen Beats der Musik, die sie hören, förmlich auf meiner Haut spüren. Berauschendes Dröhnen. Die Melodie ist mir nicht bekannt. Ich bin mir auch nicht sicher, ob man es als Melodie bezeichnen kann. Ein älterer Herr, der nach Zigarrenrauch und Seife riecht, sitzt auf der anderen Seite. Die Kombination der beiden Gerüche ist so eigenartig, dass er ein ganze Weile meine Aufmerksamkeit hat, während mich die Vibrationen der Musik neben mir langsam einlullen. Ich selbst habe nie geraucht, aber Rick hatte ein paar Mal Zigarren von seinem Vater geklaut. Den Geruch empfand ich schon damals als anziehend, obwohl sich zugleich auch ein schlechtes Gefühl in mir wähnt. Auch Renard Paddock roch stets nach abgestandenen Zigarren- und Zigarettenrauch. Doch meine Erinnerung hieran ist bissig, ekelhaft und kalt belegt. Vielleicht ist es die Mischung aus beidem, die mir die Schauer durch den Körper jagen. Unwillkürlich schließe ich die Augen. Ich habe das Gefühl den Geschmack des Tabaks auf meinen Lippen zu spüren. Bitter. Herb. Seine Hände an meinem Hals. Ich kriege keine Luft und schrecke auf. Die Mädchen neben mir sehen mich mit leicht geweiteten Augen an. Ich streiche mir die Haare zurück, stehe auf und stelle mich für den Rest des Weges an die Tür. Niemand steigt in der Zeit ein oder aus und ich starre in die Dunkelheit hinaus. Genau in dem Moment als ich die Tür zu meiner Wohnung schließe, klingelt das Telefon. Das Geräusch lässt mich augenblicklich zusammenfahren. Mein rasender Herzschlag hallt und bebt. Seit wann bin ich wieder so schreckhaft? Noch vollkommen bekleidet, gehe ich ins Wohnzimmer und sehe auf das leuchtende Plastikteil herab. Die ersten Wochen nach dem Gefängnis bin ich auch bei jedem noch so kleinem Geräusch zusammen gezuckt. Ich lauschte und beobachtete. Alles und jeden. Im Gefängnis musste man derartig vorsichtig sein. Ich habe eine Weile gebraucht um die Verhaltensmuster abzulegen. Doch bis heute habe ich gern etwas im Rücken, damit niemand von hinten an mich herantreten kann. Allerdings lässt es sich nicht immer verhindern, wie das Zusammentreffen mit Detektiv Moore vor ein paar Tagen bewies. Er hat mich vollkommen überrascht. Als nächstes fällt mir die Begegnung mit einem meiner Nachbarn ein. Er kam rückwärts aus seiner Wohnung gelaufen, ohne nachzudenken und ohne zu gucken und lief direkt in mich hinein. Ich würde mich stets vorher absichern und lauschen, ob ich im Treppenhaus Schritte oder Stimmen höre. Er war völlig unbedarft. Fast beneidenswert. Ein junger Mann, der stets ein Lächeln in seinem Gesicht trug, aber in der letzten Zeit sah ich ihn immer wieder nachdenklich und ruhig. Das Telefon klingt noch immer. Wenn es Ewan ist, muss ich rangehen. Ich greife zögernd danach, sehe keine Nummer auf dem Display. „Hallo?", frage ich. Nur Stille. „Hallo, wer ist dran?", wiederhole ich verbissen. Ich will keine Furcht zeigen. Nun höre ich jemanden atmen. Das Rauschen ist deutlich wahrzunehmen. „Ich höre sie atmen. Was wollen sie?" Meiner verzweifelten Frage folgt ein feines Kichern. Dann wieder nur Atem. Ich nehme das Telefon bereits von meinem Ohr, doch dann ertönt eine Stimme. Männlich. „Hast du sie gesehen? Sie ist ein schönes Kind, nicht wahr?" Mich erfasst Kälte. Ich muss ihm nicht bestätigen, dass ich die Adresse aufgesucht hatte. Er weiß es. Er hat mich beobachtet. „Wer bist du?", erfrage ich mit zitternder Stimme. „Wie fühlt man sich, wenn man schon wieder eine Familie zerstört?" Ich lasse das Telefon sinken und fallen. Ich bin vollkommen erstarrt. In meinen Ohren beginnt es zu rauschen und ich habe das Gefühl, dass sich mit einem Mal das Pochen meines Herzens durch den ganzen Raum arbeitet. Laut. Dröhnend. Er schallt von den Wänden wider und trifft zurück auf meinen Körper. Die Wände beginnen zu vibrieren und meine Beine geben langsam nach. Als ich auf meinen Knien lande, sehe ich auf das am Boden liegende Telefon. Es ist noch an und ich höre das dumpfe Lachen, das aus dem Hörer dringt. Obwohl die Geräusche aus dem Telefon seit ein paar Minuten verstummt sind, schaffe ich es nicht mich wieder aufzurichten. Was passiert hier? Wieder schrecke ich zusammen, als die Türklingel die gesamte Wohnung durchdringt. Mein gesamter Körper ist überzogen mit einer unangenehmen Gänsehaut. Doch als auf das energische Klingeln lautes Hämmern folgt, richte ich mich auf. „Eleen!" Richards gedämpfte Stimme dringt durch die geschlossen Tür. „Eleen, mach bitte die Tür auf. Bitte! Bitte, lass mich rein." Ich rühre mich nicht. Das Bild des kleinen Mädchens ist allgegenwärtig und lässt sich nur schwer aus meinem Kopf vertreiben. Ich sehe ihre müden, sanften Augen. Die kleinen knubbeligen Finger, die an Richards Hals griffen. Der Schmerz, der durch meine Glieder fährt, ist einnehmend und verbrennend. Er frisst sich durch meine Knochen und verhindert, dass ich mich bewege. Ich bin wie gelähmt. „Eleen! Lee. Bitte." Verzweifelt. Meine Lider schließen sich, als würde unendliche Schwere auf ihnen lasten. "Lee, bitte ignoriere mich nicht. Das hast du schon am Telefon gemacht. Bitte. Ich mache mir Sorgen. Bitte, rede mit mir. Lass es mich erklären. Bitte!" Seine Worte sind durchtränkt von Verzweiflung. Sie sickert durch meinen Körper und lässt mich innerlich ertrinken. Still und schmerzhaft. Ich greife nach dem am Boden liegenden Telefon und stehe vollständig auf. Bevor ich die Tür öffnen kann, vernehme ich ein weiteres Mal meinen verzweifelt gerufenen Namen. Rick lehnt mit beiden Armen am Türrahmen. Er trägt nur eine Strickjacke und es sieht aus als wäre er ohne nachzudenken aus seiner Wohnung gestürmt. So ein Dummkopf. Seine Hand streckt sich hoffnungsfroh nach mir aus, doch ich weiche zurück. Er lässt sie sinken. Ich höre, wie sich im Treppenhaus mehrere Türen schließen. Richards Gebrüll ist ziemlich laut gewesen sein. Für einen kurzen Moment erblicke ich den jungen Mann, der in der Wohnung unter mir lebt und nun auf dem Treppenabsatz steht. Seine wachsamen, braunen Augen sehen zu mir und dann zu Richard. Rick murmelt ihm eine Entschuldigung zu, die er vermutlich gar nicht hört. Ich mache keine Anstalten, irgendetwas zu erklären, sondern greife nun meinerseits nach Ricks Hand und ziehe ihn in die Wohnung. „Aufmerksame Nachbarn hast du", murmelt er witzelnd, nachdem ich ebenfalls wieder in den Wohnungsflur getreten bin. Ich antworte nicht, sondern weiche nur zur Seite aus und lasse den Größeren rein. Leise schließe ich die Tür. Unbewusst lege meinen Arm gegen meinen Bauch und streiche mit unaufhörlich über die selbe Stelle, wie vorhin. Das Gefühl nicht atmen zu können, verschwindet nicht. Richard bemerkt es sofort. Er schluckt. Ich sehe dabei zu, wie sein mit Bartstoppeln überzogener Adamsapfel schnell auf und ab hüpft. Rick ringt mit sich. "Lee, ich...." , setzt er an. „Du musst mir nichts erklären. Ich verstehe es.", sage ich vorweg und greife auf seine vorige Bitte zurück, dass er genau das vor hat. Und er muss es wirklich nicht. Er hat das Recht auf eine Familie und wir haben bis auf ein stilles Versprechen und einem unausgesprochenen Wunsch niemals gesagt, dass wir aufeinander warten werden. Es entbehrte sich jeglicher Logik und dennoch merke ich, wie mit jedem weiteren ausweichenden Gedanken mein Herz zu zerreißen beginnt. „Doch Lee, das muss ich. Es tut mir so leid, dass du es so erfahren hast." Seine Stimme scheint mit jedem Wort leise zu werden bis sie fast bricht. Er macht einen Schritt auf mich zu und seine zittrige Hand tastet an die Stelle seiner Brust, hinter der sein Herz schlägt. Es bebt, genauso wie meins. Dann greift er in die Innentasche seiner Jacke. Er zieht ein Foto hervor und reicht es mir. Das kleine Mädchen ist darauf abgebildet. Ein wunderschönes Lächeln umrahmt von niedlichen Locken. Aufmerksame, sanft goldene Augen. Auf diesem Bild sieht man nur noch deutlicher, dass sie Richards Tochter ist. Ich nehme es nur zögerlich in die Hand. „Das ist Kaya... Kaya Eleena." Bei der Erwähnung ihres vollen Namens sehe ich auf. Ich spüre, wie sich mein Brustkorb zusammenzieht und meine Augen feucht werden. „Sie ist mein kleines Mondgesicht", fährt er fort. Seine Stimme ist ein zärtliches Flüstern. Ich betrachte das Bild, merke, wie meine Sicht verschwimmt, weil sich meine Augen immer mehr mit Tränen füllen. „Sie ist bildschön." Ich gebe ihm das Bild mit zitternden Fingern zurück. Er nimmt es entgegen, steckt es aber nicht weg. Ich versuche meine Gefühle unter Kontrolle zu bringen, doch bei Richard fiel es mir schon immer schwer. Auch jetzt schaffe ich es nicht. Ich merke, wie meine Unterlippe zu beben beginnt. Ich beiße mir sachte darauf, um es zu stoppen. Nichts hilft. Mein Kiefer spannt sich an. Fast automatisch wende ich meinen Blick von Richard ab. Wieso kann ich mich nicht einfach über sein Glück freuen? „Bitte, mach nicht dieses Gesicht", fleht er. Ich versuche augenblicklich den Schmerz und die Enttäuschung aus meinem Gesicht zu wischen, doch ich schaffe es nicht. „Es tut mir so leid, aber ich konnte es dir nicht sofort sagen. Ich wusste, dass du dann keinen Kontakt zu mir willst. Und das wollte ich nicht. Ich bin so egoistisch. Es tut mir Leid!" Rick macht einen Schritt auf mich zu und ich weiche unbewusst zurück. Er stoppt. „Ich verstehe es", wiederhole ich nur. Ungewöhnlich tonlos und meide seinen Blick. „Nein, du verstehst nicht." Rick überbrückt die Distanz zwischen uns. Diesmal habe ich keine Chance zu entfliehen. Er greift nach meinen Händen und hält sie fest. „Ich musste Entscheidungen treffen, die mir nicht leicht gefallen sind. Damit meine Mutter Ruhe gibt. Und ich bedauere es. Aber ich bereue nicht, dass sie mir meine Tochter geschenkt haben. Denn sie hat mir erleichtert dich nicht zu haben." Rick zieht mich zu sich. Trotzdem versuche ich mich dagegen zu wehren. Die Stimme am Telefon hat Recht. Ich zerstöre schon wieder eine Familie. Die Erkenntnis breitet sich in mir aus, wie siedend heißes Gestein. Ich zerbreche an der Last. „Eleen. Bitte, glaube mir." Ich kann es nicht. Wie kann er eine Familie haben und zu mir kommen? Wie kann er das tun? Ich spüre heiße Tränen, die über meine Wange rinnen. Ich schluchze ohne es zu wollen und die Fassungslosigkeit ergreift von mir Besitz. Wieso lässt er zu, dass ich noch einmal seine Familie kaputt mache? Reichte es nicht, dass ich vor sieben Jahren seine und meine eigene Familie zerstört habe? „Wieso?", klage ich ihm und kann nicht mehr aufhören zu weinen. „Warum machst du das? Warum lässt du das zu?", frage ich tränenerstickt. Meine Beine geben nach und ich gehe vor Richard auf die Knie. Die ganze Fülle der Empfindungen packt mich. Sie durchrollt meinen Körper und lässt ihn erbeben. Sie schüttelt und zerrt. Richard hält mich noch immer meinen Arm fest. Er hat gehofft, dass sich mit seinem Worten alles erklärt, das er mir die Angst nimmt, aber für mich hat es alles noch schlimmer gemacht. Sein verwunderter und fragender Blick verschwindet vollends hinter dem feuchten Schleier meiner Tränen. Richard geht vor mir auf die Knie. Seine warme Hand umfasst mein Handgelenk, wandert von dort beruhigend und streichelnd meinen Unterarm hinauf. Hinab. Fahrig und unsicher. "Lee, Nein. Nein, nicht weinen. Warum weinst du so?" In seine Stimme schwimmt dieselbe Unsicherheit, wie damals. Mein Anblick bereitet ihm puren Schmerz. Seine Hand legt sich an meine Wange. Ich schaffe es nicht ihn anzusehen. "Bitte, hör auf zu weinen.", fleht er. Doch das lässt mich nur noch mehr in dem dunklen Meer ertrinken. Mein Weinen wird lauter, hemmungsloser. Er zieht mich in seine Arme und ich lasse es geschehen. Mein Gesicht drücke ich in seine Halsbeuge. Seine Hand streicht beruhigend durch mein Haar und über meinen Nacken. Sie zittert und ich bin in der Heftigkeit meine Tränen gefangen. „Bitte" Nur noch ein Flüstern. Die Last der letzten Wochen entlädt sich über mir, wie tonnenschweres Geröll. Es ist als wären mit einem Mal alle vergangenen Probleme und Ängste wieder so intensiv, wie sie es vor sieben Jahren gewesen sind. „Wieso lässt du zu, .... dass ich deine Familie kaputt mache? Warum, Rick? ... Warum? Es ist genau, ..... wie er gesagt hat", stottere ich zusammen, während ich bitterlich weine. Ich spüre, wie sich sein Körper versteift und jegliches Streicheln aufhört. „Wovon redest du?" Nun zwingt er mich ihn anzusehen, in dem er sanft seine Hände an meine Wangen legt. „Deine Tochter... Deine Familie!", bekomme ich nur unter heftigen Schluchzern heraus. Meine Augen sind so verhangen, dass ich sein Gesicht nicht sehen kann. Das Alles überfordert mich. „Oh, Lee. Wovon redest du da?" „Ich zerstöre schon wieder deine Familie, Rick. Ich will das nicht.... Ich will, dass du glücklich bist. Deine Tochter soll.... glücklich sein. Sie soll eine richtige Familie haben." Ich neige meinen Kopf in seinen Händen wieder nach unten. Tränen tropfen auf meine Oberschenkel. Richards Daumen streicht über meine Wange, streicht Tränen und Schnodder breit. Doch es ist ihm egal. Genauso, wie mir. Dann zieht er mich in eine feste Umarmung. Er lässt sich zurückfallen, sodass ich zwischen seinen Beinen in seinen Armen zum Liegen komme. Seine Wärme beruhigt mich und erzwingt zugleich weitere Verzweiflung. Das sollte er nicht tun. Er sollte mir nicht so nahe sein. Dennoch giere ich danach. Nach jeder winzigen Berührung. Nach jedem lieben Wort, welches über seine Lippen fließt. „Oh Lee." Nur ein Flüstern. Wieder und wieder. Ich spüre seine stoppelige Wange, die sich auf meinen Kopf bettet und dann seine Lippen. Ein sanfter Kuss auf meine Haare. Ein weitere folgt auf meine Stirn. Es fehlt nur noch, dass er mich zärtlich wiegt. Noch immer perlen Tränen über meine Wange. Sie sickern in den Stoff von Ricks Strickjacke. Ich ziehe unentwegt die Nase hoch, bis mir Richard ein Taschentuch samt Packung reicht. Ich beruhige mich langsam und irgendwann beginnt er sanft meinen Nacken zu kraulen. Seine Lippen liebkosen weiter meine Stirn. Die Sanftheit seiner Berührungen zieht mich immer tiefer in die unsagbare Liebe, die ich für ihn empfinde. Ich möchte darin ertrinken. Auf der Stelle. „Rachel, Kaya Mutter und ich leben voneinander getrennt. Das haben wir schon während der Schwangerschaft", beginnt er zu erzählen. Mein Gehirn arbeitet noch nicht, also dringen die Worte nur langsam zu mir durch. Rachel. Auch ihr Name kommt mir irgendwie bekannt vor. „Meine Mutter verlangte nach dem Studium von mir, dass ich mich endlich im Sinne des Familienbetriebs entscheide. Ich sollte heiraten, eine Familie gründen und die Firma leiten. Du kennst ja meine Mutter." Ein trockenes Lachen. Ich sage nichts. Mein Blick ruht auf den dunkelblauen Stoff seines Pullovers und ich lausche meinem und seinem Herzschlag. „Ich war während des Studiums eine Weile mit Rachel zusammen gewesen, aber es war nie...ernst gewesen, sondern eher einfach. Immerhin kennen wir uns schon eine Weile. Meine Mutter sorgte dafür, dass Rachel in der Firma anfing und machte mir damit unmissverständlich klar, was sie von mir wollte." Ich schließe bei diesen Worten meine Augen, spüre, wie sich seine Lippen erneut fester gegen meine Schläfe drücken. Meine Hand, die sich eben noch gegen meine Brust drückte, legt sich an seine Taille. Nur sanft klammere ich mich an ihn. Ich erinnere mich wieder daran, wer Rachel ist. Sie ist die Tochter eines der Geschäftspartner von Richards Vater. Sie war auch am See. In dem Sommer, in dem ich 16 Jahre alt geworden war. „Weißt du, ich habe ohne zu murren das Wirtschaftsstudium begonnen und abgeschlossen. Ich habe, ohne ihr irgendwas entgegen zu setzen, angefangen die Firma zu leiten. Ich dachte, das sei ich ihr schuldig. Meiner Familie. Doch als sie ganz selbstverständlich verlangte, dass ich dich aus meinem Herzen streiche, da habe ich zum ersten Mal seit dem Tod meines Vaters Nein gesagt." Seine Worte lassen mich aufblicken. Ich glaube ihm, doch es wird wenig genutzt haben. Schließlich hat er eine Tochter und diese entstand nicht aus Verweigerung. Obwohl es absurd ist, fühle ich mich betrogen. Es ist ein scheußliches Gefühl und es ist unangebracht. „Ich wollte Rachel um kein Geld der Welt heiraten, aber... Ich habe mich dem Willen meiner Mutter gebeugt, so weit, wie ich es mit meinem Gewissen vereinbaren konnte und blieb mit ihr zusammen. Ich hasse mich dafür." Rick blickt zu mir herunter, mustert mein Gesicht mit verzweifelter Zärtlichkeit. Ich halte meinen Blick gesenkt. Doch er drückt mein Kinn nach oben und sieht mir in die Augen. „Aber sie hat mir Kaya Eleena geschenkt und das ist wunderbar. Hörst du!" Ich nicke schwach. „Außerdem hat meine Mutter damit Ruhe gegeben und sich auch nicht darüber beschwert, dass ich mich von Rachel getrennt habe." So wirklich koscher war es nicht, was er getan hat. Ich spüre schon jetzt, wie mich das Wissen darum belastet. Ein paar Strähnen fallen ihm ins Gesicht. Ich streiche sie ihm davon. „Eleen, ich will nur dich. Ich habe nie jemand anderen gewollt", flüstert er mir entgegen. Er umfasst mich fester. „Sag das nicht", erwidere ich. Ich fühle mich geschmeichelt, dankbar und zugleich schlecht. „Doch. Ich wiederhole es immer wieder und immer wieder. So lange, bis du aufhörst dieses Gesicht zu machen." Nun mache ich es erst Recht. Rick lächelt und greift mir in den Nacken, um mich in einen Kuss zu ziehen. Auf meinen Lippen tanzt das Prickeln der Liebe. Sie entfacht das Flehen nach unendlicher Nähe und Glück. Die Erinnerung an die Süße jugendlicher Lippen, die jetzt eine feinherbe Note haben, ist wohltuend und stark. Es ist noch wunderbarer. Ich genieße es als er beginnt meine Unterlippen mit seiner zu liebkosen. Es sind tausende federleichte Küsse und freches Saugen, dann wechselt er zur oberen. Rick lässt seine Zungenspitze gegen das zarte, empfindliche Fleisch meiner Lippeninnenseite gleiten. Es ist ein Buhlen. Ich gebe der Verlockung nach. Der kribbelige Schauer, der durch meinen Körper fährt, als sich unsere Zungen berühren, lässt mich angeregt keuchen. Nun bin ich es, der den Kuss intensiviert. Seine Zunge umspielt und verlangt. Meine Sehnsüchte sind ungestillt. Sie sind tief in mir verankert. Sie lechzen nach dem anderen Mann, der mir nach so vielen Jahren endlich wieder nahe ist. Obwohl er es nicht dürfte. Ich löse den Kuss, nachdem ich einen sanften Kuss auf seine Ober- und Unterlippen gehaucht habe. Rick lässt seine Augen geschlossen und schmiegt sich mir entgegen. Ich seufze in die Wärme seiner Arme hinein und schließe meine Augen. „Lee, was meintest du vorhin damit, dass er es gesagt hätte?", fragt Rick nach einer Weile leise. Seine Finger streicheln zärtlich durch meine Haare, doch ich löse mich von ihm und setze mich auf. Ricks Blick folgt meinen Bewegungen. Es zu leugnen, würde nichts mehr bringen. Nervös streiche ich mir die Haare zurück. „Ich kriege seit kurzem seltsame Anrufe. Erst war es nur Stille, dann lautes Atmen und vorhin, da hat jemand mit mir gesprochen." "Was?" „Ich habe deine Adresse von Bildern, die mir irgendjemand in den Briefkasten getan hat." „Warte. Warte. Langsam, bitte. Du kriegst seltsame Anrufe und komische Post?" Ich nicke. Seine Hand legt sich an meine Schultern und er beugt sich zu mir. „Wirst du bedroht?" Ich senke meinen Blick. Ich weiß nicht richtig darauf zu antworten. Im Grunde werde ich nicht bedroht, aber auf jeden Fall terrorisiert. In meinem Kopf kommen mir alle seltsamen Momente in den Sinn. Die Bilder. Die Anrufe. Der Fremde mit der Zigarette. Ich denke an Steven. Er bedroht mich, aber das ist eine andere Geschichte. Ich seufze leise. Moore. Der Gedanke an den alten Detektiv lässt mich hochschrecken. Trotz meiner müden Beine stehe ich ruckartig auf. Ich stürze fast, halte mich an der Kommode kurz fest und wanke dann ins Wohnzimmer. Meine Finger beginnen zu zittert und meine Füße Kribbeln voller Unruhe. Es ist unangenehm, aber wird von der furchtbare Vorstellung überdeckt, dass er Rick gesehen haben könnte. Ich schiebe den Vorhang zur Seite und starre hektisch atmend auf die Straße vor dem Haus. „Eleen? Was ist los?" Richard folgt mir mit leichter Verzögerung. Bevor er bei mir ankommt, drehe ich mich um und drücke ihn vom Fenster weg. „Bleib weg", fahre ich ihn an. Ich wechsele zum anderen Fenster. Nichts. Das schwarze Auto ist nicht zu sehen. Vielleicht hat er ein Neues genommen. Unsicher wandert mein Blick über die Straße. Nirgendwo eine Bewegung. Ich wechsele zum anderen Fenster zurück. Für einen Moment lehne ich meine Stirn gegen die kühle Scheibe. Ich kriege kaum Luft. „Was machst du da?" Bevor Rick erneut einen Schritt auf mich zu macht, ziehe ich die Vorhänge zu. Ein letzter, kleiner Schlitz, der den Blick auf ein parkendes Auto frei gibt. Es ist ein roter Mini. Ich glaube eine Bewegung zu sehen, doch letztendlich ist es nur ein vorbeifahrendes Auto, dessen Licht sich in der Scheibe spiegelt. Ich werde langsam paranoid. Meine Lippen zittern. Auch Ricks Stimme wird langsam unsicher. Ich versteht nicht, was hier passiert. Wie soll er auch. „Eleen de Faro....Rede mit mir!" Meinen Namen sagt er laut, den Rest ruhig und bedacht. „Moore ist hier." „Wie bitte?" Richards Gesicht wird bleich. Er weiß sofort, wen ich meine. Auch Rick wurde damals von ihm verhört und verdächtigt. Doch irgendwann sind die Anwälte seiner Familie eingeschritten. „Er hat mich vor ein paar Tagen vor dem Haus abgefangen. Er beobachtet mich und vielleicht auch dich. Er weiß, dass wir beide hier in der Stadt leben und er vermutet, dass wir uns sehen", fasse ich ihm mit aufgeregter Stimme zusammen. Ricks Hand legt sich auf seinen Mund. Er wirkt wirklich geschockt. „Ich fasse es nicht. Verdammt...dieser verbissene Mistkerl und....", gibt er aufgebracht von sich und bricht den letzten Teil ab. Seine Hand ballt sich zu einer Faust und er wendet sich von mir ab. Ist er wütend, weil ich es ihm nicht gesagt habe? Ich wollte ihn nicht belasten und uns beide beschützen. Nur deshalb habe ich es ihm verschwiegen. „Warum hast du nichts gesagt?" Es klingt vorwurfsvoll. Ich wende meinen Blick von ihm ab und schließe meine Augen. So bemerke ich nicht, dass er wieder auf mich zukommt. Erst seine warmen Hände, die nach meinen greifen, lassen mich wieder auf sehen. „Warum bist du nicht gleich zu mir gekommen?", fragt er weiter. „Wir hätten uns gar nicht treffen dürfen. Du hättest nie herkommen dürfen. Das ist falsch. Wir hätten uns nie wieder sehen sollen", belle ich ihm aufgebracht und im gleichen Maß verzweifelt die Tatsachen zu, die uns die letzten Jahre diktiert wurden. Ich bin durcheinander und vollkommen fertig. „Denkst du das wirklich?" „Ja", erwidere ich, halbwegs gefestigt. Doch ich spüre erneut Tränen. „Glaubst du es?" Eindringlicher. „Ja", sage ich leise. „Wirklich?" „Nein." Meine Antwort ist nur noch ein gebrochenes Flüstern. Ricks Hand greift in meinen Nacken und er zieht mich zu sich. „Erzähl mir alles. Bitte", sagt er leise und ich nicke. Ich erzähle ihm von den Anrufen, von der Erkundigung auf meiner Arbeit und dass mich jemand verfolgt. Der Typ mit der Zigarette. Jung. Mir unbekannt. Das Aufeinandertreffen in der U-Bahn und im Kino. Das schwarze Auto, welches zu Moore gehörte. Seine Worte, die mich daran erinnern, dass unsere Geschichte nicht so lückenlos war, wie wir glaubten. Moore weiß genau über uns Bescheid. Die Bilder. Der Anruf. Sie kommen nicht von Moore, dessen bin ich mir fast sicher. Als ich geendet habe, löse ich mich von ihm und gehe zum Esstisch rüber. Ich nehme den Umschlag mit den Bildern zur Hand und reiche sie ihm. Er betrachtet sie. Rick fährt sich mit der Hand über die Lippen, streicht sich über die stoppeligen Wangen. Es ist viel. Es ist verstörend. Ich ziehe das Bild von Richard und die Kopie meines Verhörs aus der Hosentasche. Auch diese halte ich ihm hin. „Das ist von heute.", sage ich, „Wie kann da jemand rankommen? Die Akten sind unter Verschluss", frage ich ihn und sehe, wie er ebenso unwissend den Kopf schüttelt. „Wer hat so alte Bilder von dir?" „Ich weiß es nicht." Er legt sie beiseite und lässt sich auf einen der Stühle nieder. Ein ermattetes Seufzen perlt über seine Lippen. Es ist viel auf einmal. Aber er hat es so gewollt. Ich sehe, wie sehr es in ihm arbeitet und ich weiß, dass er einen Moment zum Nachdenken braucht. Also hole ich aus der Küche zwei Gläser Wasser und setze mich zu ihm. Er sagt noch immer nichts. „Es wäre besser, wenn du...", setze ich an, doch er unterbricht mich. „Hör auf." Sein Blick fällt kurz auf die Bilder seiner Tochter. Ich will nicht, dass er oder sie in Gefahr geraten. „Aber...", versuche ich es erneut. „Hör auf, habe ich gesagt. Ich lasse dich damit nicht allein", fährt er mich an. Aufgebracht richtet er sich auf. „Ich habe dich viel zu lange allein gelassen, Lee." Richard greift nach meiner Hand. Eher er weiter sprechen kann, klingt erneut das Festnetztelefon. Ich erstarre. Es ist Rick, der aufsteht und einen Blick auf das Display wirft. Wieder eine unbekannte Nummer. Meine Finger zittern als er mir den Hörer reicht. Ich verwende keine Begrüßung und ich brauche auch keine. „Lass mich mit Richard sprechen", kommt es ohne Umschweife vom anderen Ende des Hörers. Kapitel 14: Seine Nähe, mein Heilmittel --------------------------------------- Kapitel 14 Seine Nähe, mein Heilmittel „Was wollen sie?", frage ich in den Hörer hinein und schaffe es meine Stimme nicht zittern zu lassen. Mein Blick richtet sich auf den Verlangten, der mir einen fragenden Blick zu wirft. Nein, ich bin nicht gewillt einfach so alles Preis zugeben. „Ich weiß, dass er da ist." Moores Stimme ist ruhig, sachlich. Rick kommt näher und ich weiche zurück. Unbewusst schüttele ich mit dem Kopf. „Nein,...", versuche ich es erneut und ernte nur ein bemitleidendes Lachen. Der Telefonhörer rutscht wenige Zentimeter von meinem Ohr und ich blicke zu meinem Kindheitsfreund. Sein Blick ist ernst und er streckt mir seine Hand entgegen. Nun minimal schüttele ich meinen Kopf, doch er nimmt mir den Hörer aus der Hand. Jedoch nicht ohne ihn vorher auf Lautsprecher zu schalten. „Was wollen Sie?", fragt Rick ohne Umschweife und seine Stimme ist pures Eis. „Die Wahrheit." Eine simple Antwort, die mir eine Gänsehaut verursacht. Rick sieht mich an. Ich kann sehen, wie sein Blick mit einem Mal die unbändige Schuld ausdrückt, die er in all den Jahren mit sich umher getragen hat. Die Schuld, die ihn langsam zu zerbrechen droht. Ich greife nach seiner Hand und spüre sofort, wie sich seine Finger fest mit meinen verweben. Die Wahrheit wird niemand helfen. Sie macht das Verbrechen nicht ungeschehen und sie nimmt niemanden von uns die Lasten von den Schultern. „Wie ist es seine Familie zu belügen, all die Jahre lang, Richard? Wie kannst du überhaupt noch ruhig schlafen? Wie kannst du seelenruhig deine Tochter im Arm halten?", spuckt er anklagend durchs Telefon. Richards Hand fasst das Telefon fester, so dass sogar das Plastik leise knirscht. „Ich will, dass endlich der Richtige für den Tod deines Vaters zur Rechenschaft gezogen wird. Ich will Gerechtigkeit." „Wir haben alle auf irgendeine Weise dafür bezahlt. Wir bezahlen noch immer dafür, also was wollen sie wirklich, Moore? Gerechtigkeit ist es nicht. Und die Wahrheit interessiert sie doch gar nicht." Ein Lachen antwortet. „Nach all den Jahren hast du noch immer nicht aufgehört dich von ihm beschützen zu lassen, nicht wahr Richard? Wie hast du nur geschafft ihn so sehr an dich binden, dass er sogar für dich ins Gefängnis geht?" Moores Stimme ist eine Qual. Jedes seiner Worte weckt in Richard Schuldgefühle und in mir das Bedürfnis den Anruf zu beenden. Moore weiß gar nichts. „Sie führen einen Feldzug gegen eitle Luftschlösser. Hören sie auf bevor noch ernsthaft jemand zu Schaden kommt." „Drohst du mir, Richard? Lässt du wirklich zu, dass er erneut ins Gefängnis geht für ein Verbrechen, welches er nie im Stande gewesen wäre zu begehen?" Ricks Augen ruhen auf mir. Mein Herz pulsiert bei dem Anblick seiner hängenden Schultern. Das Zittern seiner Finger wird immer deutlicher. Wenn es Moore nur darum geht mich zurück ins Gefängnis zu bringen, dann hätte er bereits ausreichend Gelegenheiten gehabt. Nur ein Anruf bei Richards Mutter und sie hätte beim geringsten Verdacht dafür gesorgt, dass die Polizei vor meiner Tür steht. Er selbst hätte es tun können. Bisher ist das nicht geschehen. Stattdessen ruft er hier an. Was also will er von uns? Ging es ihm wirklich nur um die simple Wahrheit? Ich kann es mir nicht vorstellen. Ich würde nicht zulassen, dass Richard für etwas ins Gefängnis geht, wofür schon genug Strafe verbüßt wurde nur um die blinde Vorstellung eines Polizisten zu bestätigen. Moore liegt falsch. Denn Gerechtigkeit ist nicht gleichbedeutend mit Wahrheit. „Ziehen sie ihre Schergen zurück, Moore. Lassen sie uns in Ruhe und genießen sie ihren Ruhestand. Endlich loszulassen wird ihnen bestimmt besser bekommen. Das ist die Wahrheit." Ein fast freundlicher Hinweis, doch ich vernehme die erneute, deutliche Drohung, die darin verborgen liegt. „Ein Polizist geht niemals wirklich in den Ruhestand, vor allem dann nicht, wenn ihm einige Fälle schwer im Magen liegen bleiben." „Dagegen gibt es Medikamente", antwortet Rick trocken. Ich vernehme das geräuschvolle Lachen am anderen Ende der Leitung, was durch die Lautsprecherfunktion noch blechender klingt. Richard schaltet das Telefon ab. Ich sehe die Last, die er auf seinen Schultern trägt. In diesem Moment scheint es als würde er mit jeder Sekunde mehr in sich zusammenfallen. Ich greife seine Hand fester, sehe dabei zu, wie sich seine Augen schließen und wenig später eine erste Träne über seine Wange fließt. Diese Träne trifft mich tief. „Er hat Recht." Ein tonnenschweres Flüstern. „Ich habe zugelassen, dass du für etwas, was ich verursacht habe ins Gefängnis gingst. Jetzt wirst du terrorisiert und ich kann rein gar nichts tun." Rick blickt auf das Telefon in seiner Hand. Eine weitere Träne, die auf dem Ärmel seines Pullovers trifft. „Moore wird nicht aufhören..." Rick klingt ermattet und schuldvoll. So als würde die Last der letzten Jahre nun vollends auf ihn nieder brechen. Ich befürchte es auch. Nur ein einziges Mal habe ich ihn weinen sehen. In der schwärzesten unserer Nächte. Stille und doch so viel bedeutende Tränen, die er vergoss, als er begriff, was passiert war und was daraus folgt. Der gesamte Schmerz der vergangenen Jahre sammelte sich in seinen Tränen. Genauso, wie jetzt. Sein Blick lag die gesamte Zeit auf den leblosen Körper seines Vaters. Keiner von uns beiden hatte es verstanden. Ich habe Richard angebrüllt und dann die Polizei gerufen. Dann habe ich die Tür hinter ihm verschlossen und damit verhindert, dass er wieder ins Haus kam. Ich habe ihm zum Gehen gedrängt, habe seine Schläge gegen die Tür gespürt, die sich wie schmerzende Wellen durch meinen Körper arbeiteten. Ich habe ihn weinen gehört als er mich anflehte, noch einmal darüber nachzudenken. Für mich stand es außer Frage. Ich war nicht volljährig und damit noch dem Jugendstrafgericht unterstellt. Richard hingegen hätte die volle Kraft der Justiz abbekommen. Es dauerte fast 15 Minuten bis sie eingetroffen sind. Erst 5 Minuten vorher war Richard wirklich verschwunden. Die Beamten habe die Tür eingetreten, weil ich nicht mehr in der Lage gewesen bin, irgendetwas zu sagen. Apathisch habe ich vor dem Körper des großen Mannes gesessen. Ich habe geweint und als die Sanitäter eintrafen, haben mich mehrere Hände weggezogen. Große. Starke. Kalte. Ich weiß noch, dass ich draußen gestürzt bin und im Dreck hockend mit Fragen drangsaliert wurde. Sie redeten auf mich ein. Ich schwieg. So lange bis im zuständigen Revier plötzlich Detektiv Moore vor mir stand. Ich nehme Richard das Telefon aus der Hand. Er sieht mir dabei zu, wie ich es auf dem Tisch ablege und dann meinen Kopf gegen seine Schulter bette. Seine Hand gleitet sofort in meinen Nacken und er drückt mich dichter an sich heran. Die Kühle seiner Finger legt sich für einen Moment, wie ein feines Gewitter auf meine Haut. Prickelt und zerrt. „Es tut mir so leid, Lee." Ein hauchzartes Flüstern. Ich will nicht, dass er das sagt. Ihn trifft keine Schuld. Es war meine eigene Entscheidung. Ich kann ihm das wieder und wieder sagen, doch Richard wird es niemals wirklich verstehen. „Hör auf. Das hatten wir schon", sage ich leise, lege meine Lippen an die feine Beuge zwischen seinem Hals und dem Schlüsselbein. Richards Finger beginnen, meinen Nacken entlang zu fahren. Sie streichen durch mein Haar, berühren mein Ohr. In meiner Brust fängt es an zu kribbeln. Meine Finger kitzeln. Das Prickeln wird stärker, als ich meine Fingerspitzen über seinen Hals gleiten lasse. Richard neigt seinen Kopf. Eine winzige Berührung an meiner Stirn. Ich löse mich etwas von ihm und sehe ihn an. Noch immer ist eine leicht feuchte Spur auf seiner Wange zu erkennen. „Sei weiter stark für mich", flüstere ich bittend. Ein schmerzerfülltes Seufzen perlt von seinen Lippen. Doch bevor er etwas negieren kann, drücke ich ihm meine Lippen auf. Das Bedürfnis ihn zu spüren, brennt mit einem Mal heiß in mir. Der Geschmack seiner Lippen berauscht mich. Ich koste sie genüsslich und doch voller Verzweiflung. Erst seine Oberlippe. Meine Lippen umfassen sie streichelnd. Meine Zunge kitzelt über die empfindliche Stelle im Inneren und verursacht ein leichtes Schaudern, welches von seinem Körper ausgeht. Ricks Arme umschließen meinen Körper. Sie drücken mich dichter an den warmen Leib des anderen Mannes. Allein seine Nähe lässt tausende Schmetterlinge in meinem Körper frei. Es ist wunderbar. Es gibt mir das Gefühl, zu leben. Ich vollführe das Spiel bei seiner Unterlippe. Richard giert nach mehr. Unser Kuss wird intensiver und leidenschaftlicher. Seine Berührungen deutlicher. Ich merke, wie seine Finger unter mein Oberteil streichen. Sie treffen auf die Wärme meiner Haut. Es prickelt. Ich keuche. Ich locke seine Zunge, umspiele und liebkose sie. Das Gefühl seiner Lippen auf meinen ist das Schönste für mich. Schon damals habe ich es geliebt von Richard geküsst zu werden. Denn es war immer liebevoll, süß und unschuldig. Der Süßeste unserer Küsse war unser Erster. Auch wenn es zu gleich der Seltsamste war. Ich denke an das unglaubliche Verlangen, welches diese Tat in ihm weckte. Nicht nur in ihm. Ich erinnere mich und an die Unsicherheit, die seine Finger zittern ließ. Sie umfassten meine Wangen. Ich spürte das deutliche Beben seines Daumens als er über meine Haut strich. Das wilde Pochen seines Pulses. Ich war 13 Jahre alt und stieg in dem Moment durch das Fenster in sein Zimmer ein. Zuvor habe ich bereits von draußen laute, streitende Stimmen gehört. Das rasende Gebrüll seines Vaters drang durchs ganze Haus. Und weiter hinaus. Rick gab stets Konter und das endete nicht selten mit blauen Flecken. Ich klopfte an die Scheibe seines Zimmers in dem Moment, in dem er hinter sich die Tür schloss. Richards Blick war voller Wut und Schmerz und dann wandelte er sich in einen Ausdruck, den ich zu vor noch nie bei ihm gesehen hatte. Er öffnete mir das Fenster und meine Augen richteten sich sofort auf die malträtierte Stelle an seiner Unterlippe. Die Blutspur an seinem Kinn war verwischt. Ich streckte meine Hand aus, traf sein Kinn. Doch da umfasste seine schon meine Wangen. Der Kuss war überraschend, völlig verrutscht und fast etwas zu hart. Aber ebenso wunderschön. Sein süßer Geschmack paarte sich mit dem dezenten Aroma von Blut. Er flüsterte meinen Namen als sich unsere Lippen lösten und zog mich dann in sein Zimmer. Wir fielen zu Boden und Richard blieb über mir sitzen. Er stützte sich mit beiden Armen über mich ab. Sein kindliches Gesicht zeigte schon damals erste Spuren des Erwachsenwerdens. Er sah mich lange an. Intensiv und durchdringend. Es war als würde er etwas in meinem Blick suchen und ich ließ ihn das sehen, was ich empfand. Liebe. In diesem Moment wurde sie mir zum ersten Mal richtig bewusst. Sie kitzelte schon lange durch meine Blutbahnen, aber es waren die gesellschaftlichen Konventionen, die einen Tag für Tag eingetrichtert wurden, die unsere erste Zurückhaltung schürte. Mit diesem ersten Kuss, voller Unsicherheit und Blut, kamen wir uns jeden Tag näher. Ich lächele, während mir diese Erinnerungen durch den Kopf gehen. Ricks Finger streicheln über meine Wange. Sie sind weich, liebevoll und mittlerweile auch wieder warm. „Woran denkst du?", fragt er mich als er mein Lächeln bemerkt. „An dich und wie sehr ich es schon damals mochte dich zu küssen", antworte ich ehrlich. „Ist das so?" Ricks Hand greift wieder in meinen Nacken und zieht mich dichter, sodass unsere Lippen nur wenige Millimeter voneinander entfernt sind. Schon jetzt erahne ich die verlockende Süße, das Kitzeln seiner Lippen. Er stiehlt sich einen federleichten Kuss, der triumphiert, verspricht, aber auch stillt. Ich erwidere ihn aber nur kurz. Ich löse mich von Rick, spüre seinen Blick, der meine Bewegungen verfolgt und bleibe ein paar Meter von ihm entfernt stehen. Eine unausgesprochene Frage und ich strecke meine Hand nach ihm aus. Rick zögert keine Sekunde und greift nach meiner Hand. Ich führe ihn ins Schlafzimmer. Das, was ich will, ist eindeutig. Ich will nicht, dass er geht. Moore weiß bereits, dass er bei mir ist. Für diese Nacht ist kein Versteckspiel mehr von Nöten und ich will ihn einfach nur bei mir haben. Ich will seine Nähe genießen. Nein, vielmehr muss ich sie spüren. Denn seine Nähe ist mein Heilmittel. Ich lege meine Hand auf seine Brust als er vor mir stehen bleibt. Direkt auf die Stelle seines Herzens. Ich spüre den rhythmischen Schlag, der gegen meine Hand prallt und ich stelle mir vor, wie es unter seiner Haut pocht. Mein kindliches Besitzverhalten will, dass es nur für mich schlägt. Ich weiß, dass das nicht möglich ist und wie von allein wandern meine Gedanken zu seiner Tochter. Das süße Gesicht und die wunderbaren kleinen Löckchen. Sein Herz wird nie wieder nur für mich schlagen. Dessen bin ich mir schmerzhaft bewusst. „Bleib bei mir", flüstere ich aus einem brennenden Bedürfnis heraus. Richard sieht mich an und spüre, wie seine Hand nach meiner greift. Er drückt sie fester gegen seine Brust. „Ich werde nie wieder gehen." Seine Worte lassen mich lächeln. Auch weil ich weiß, dass das nicht realistisch ist. Sie geben mir dennoch genau das, was ich in diesem Moment brauche. Ich ziehe ihn erneut in einen Kuss, drehe uns dabei um und drücke ihn gleichzeitig aufs Bett. Er versucht sich wieder aufzusetzen. Doch ich presse ihn in eine liegende Position und setze mich über ihn. Ich koste erneut seine Lippen, spüre seine Hände, die beginnen, meinen Körper entlang zu streicheln. Sie schieben meinen Pullover höher und ich ziehe ihn mir bereitwillig über den Kopf. Seine Finger beginnen augenblicklich über meine Brust und über meinen Bauch zu streichen. Als er plötzlich innehält und sich ein Stück aufrichtet, sehe ich an mir hinab. Ich sehe direkt auf den zerrissenen Hosenstall und ich denke an die Auseinandersetzung mit Steven am Mittag. Das ist das Einzige, was ich Richard noch immer nicht erzählt habe. Er muss es nicht wissen. Als seine Hand am Rand meiner Hose entlang streicht, blicke ich ihn an. Rick fährt die Stellen entlang und streckt dann seine Hand nach der Nachtischlampe aus. Mit dem Licht werden die Prellungen deutlich, die Stevens Überfallaktion auf meinem Körper hinterlassen hat. Ich habe es noch gar nicht gemerkt. Rick setzt sich richtig auf und zwingt mich ihn anzusehen. „Was ist das?", fragt er besorgt und ich spüre noch immer seine Finger, die die roten Stellen berühren. Es sieht schlimmer aus als es ist. Ich merke es kaum und will nicht darüber reden. Also zerre ich an Ricks Pullover, den er nach kurzer Gegenwehr über den Kopf zieht. Auch als ich ihn zurück aufs Bett drücke, lässt er mich gewähren. Er sagt nichts, aber ich merke, wie er mich unentwegt ansieht. Mein Blick wandert über seinen Oberkörper und dann beuge ich mich hinab. Meine Lippen treffen auf seine Haut. Ich verteile zarte Küsse, die den Geschmack seines Körpers aufnehmen und ihn über meine Geschmacksknospen wandern lassen, wie eine herrlich fruchtige Süßigkeit. Rick keucht als ich meine Lippen um seine Brustwarze schließe und stupsend meine Zunge dagegen gleiten lasse. Ich merke, wie sie in meinem Mund immer härter wird. Ich umkreise sie. Knabbere und kratze mit meinen Zähnen darüber. Ein kurzes Saugen, dann wechsele ich zu der anderen Seite. Dort das gleiche Spiel. Ricks Keuchen wird immer intensiver. Ich küsse mich tiefer und komme bei seinem Bauchnabel an. Mein Blick wandert zu der kleinen Blindarmnarbe. Ich küsse das feste Geweben und umfahre dann seinen Bauchnabel. Noch immer sieht mich Richard an, doch mittlerweile haben seine Hände einen Weg in meine Haare gefunden. Streichelnd und liebkosend. Sein Daumen tastet sich über mein Ohr. Ein flüchtiges Kitzeln. Ich küsse mich wieder höher, widme mich erneut seinen Brustwarzen und lasse ihn diesmal meine Zähne noch deutlicher spüren. Der Griff an meinem Kopf wird fester. „Lee,...", keucht er mir entgegen und schließt nun endlich seine Augen. Ich möchte, dass er es genießt. Genauso, wie ich es tue. Meine Finger gleiten zum Gürtel seiner Hose. Ich öffne ihn, ohne nach unten sehen zu müssen. Auch der Knopf seiner Hose ist kein Hindernis. Das Kribbeln auf meinen Lippen arbeitet sich durch meinen gesamten Körper. Ihn zu spüren und seine Nähe erfüllen mich mit so viel Zufriedenheit und Glück, dass ich für einen Moment glaube, alles um mich herum vergessen zu können. Die schwere Zeit im Gefängnis. Die Sehnsucht nach ihm. Die quälenden Bilder der verhängnisvollen Nacht. Alles ist in diesen Momenten vergessen. Ich küsse mich vollends nach oben um erneut den Geschmack seiner Lippen in mich aufzunehmen. Ich giere danach. Meine Hände schieben sich langsam in seine Hose. Hitze schlägt mir entgegen als ich auf die wohltuende Härte treffe. Ein letzter Kuss, dann wandere ich wieder tiefer, widme mich seinem Hals und kann mir ein paar leichte Bisse an seinen Schlüsselbein nicht verkneifen. Rick hindert mich nicht daran und das lässt meine Unsicherheit langsam, aber sicher schwinden. Mein Verlangen, den anderen zu spüren, wächst mit jeder weiteren Berührung und mit jeder weiteren Minute mehr. Ich bin mittlerweile bei seinen fein definierten Bauch angekommen. Rick spannt ihn leicht an, so dass sich seine Muskeln abzeichnen. Ich hauche einen Kuss auf jede Welle und folge den feinen Pfad tiefer hinab. Der Rand seiner Short unterbricht den Kontakt mit seiner Haut. Ich spüre den strukturierten Stoff auf meinen empfindlichen Lippen. Mein warmer Atem trifft seinen Bauch und er zuckt. Meine Aufmerksamkeit richtet sich auf die deutliche Erregung, die sich unter dem Stoff abzeichnet. Rick keucht. Ich senke meine Lippen darauf, befriedige mein eigenes Verlangen. Küssend und sanft beißend. Es ist fantastisch und aufregend, trotz der dünnen Stoffbarriere. Ich will mehr und setze mich auf, um ihm die Jeans von den Beinen zu ziehen. Rick sieht mir gierig dabei zu, leckt sich über die Lippen als seine ganze Erregung deutlich wird. Noch immer verdeckt. „Was hast du vor?", kommt es keuchend von meinem Kindheitsfreund und ich reiße mich von dem Anblick ab, der sich mir bietet. Richards Augen glänzen. Sie sprechen von dem Verlangen, welches er verspürt und welches ich deutlich sehen kann. Ich antworte nicht, sondern senke erneut meine Lippen. Die Berührung über dem Stoff entlockt ihm ein feines Stöhnen. Ich mag es, ihn so zu hören. Ich fasse an den Rand seiner Shorts, lasse meine Finger hineingleiten. Er zuckt als meine Fingerspitzen auf das harte Fleisch treffen. Meine andere Hand greift von unten, durch das rechte Hosenbein. Meine Zunge hinterlässt eine feuchte Spur als ich die gesamte Länge entlang lecke. Ich wiederhole es, während meine Finger streichelnd über den zuckenden Muskel fahren. Einen Kuss bette auf seinen Unterbauch, einen weiteren auf seinen linken Beckenknochen. Ich ziehe die Shorts endlich weiter runter, bis sich seine Spitze frei liegt. Sie glänzt feucht und lädt mich regelrecht ein. Ich widerstehe dem Drang sofort meine Zunge drüber streichen zu lassen. Ich warte so lange bis er die Unterwäsche vollends von den Beinen streift und sie unachtsam vor dem Bett zum Liegen kommt. Mein Herz pulsiert vor Erregung und Lust. Ich lecke mir über die Lippen als ich seine gesamte Länge mit meinen Blick abfahre. Meine Hände liegen auf seinen Oberschenkeln. Noch immer packt mich die Unsicherheit, wenn ich ihn so entblößt sehe. Ein Überbleibsel der unerfahrenen Jugend. Aber im gleichen Maß erregt es mich auch, weil die Neugier ihn zu erkunden niemals reißt. Seine Finger streichen durch meine Haare, so als würde er mir damit verdeutlichen wollen, dass ich das nicht tun muss. Ich will es aber. Bevor Richard etwas sagen kann, lege ich meine Lippen auf das zarte Fleisch seiner Eichel, schmecke feine Herbe. Ich lasse meine Zunge hauchzart tanzen, erhalte das überraschte Keuchen, welches ich tief in mich einsauge. Ich umfasse ihn mit meinen Lippen, spüre die Hitze auf meiner Zunge. Brennend. Willig. Er streckt sich mit entgegen und ich komme seiner stillen Aufforderung nach, nehme ihn tiefer in mir auf. Ich will nicht spielen. Ich will ihm zeigen, wie viel es mir bedeutet. Meine Hand umfasst den unteren Rand seines Gliedes. Ich lasse sie auf und ab gleiten. Im gleichen Takt, wie meinen Mund. Nur eine minimale Reibung, aber es reicht aus um Rick aufstöhnen zu lassen. Genüsslich gleiten meine Lippen über das empfindliche Fleisch. Der perfekte Rhythmus zwischen meinen Lippen und meinen flinken Fingern. Ein feines Saugen und von seinen Lippen perlt ein genüsslichen Raunen. Ein flatterndes Lecken, welches den feinen Spalt seiner Eichel stimuliert und das tiefe, berauschende Stöhnen erfüllt den gesamten Raum. Er bäumt sich auf. Ich wiederhole es und nehme ihn dann so tief ich kann. Es ist nicht so einfach. Ich schlucke und erhalte eine weitere, überaus erregende Reaktion des anderen Mannes. Richard keucht meinen Namen. Wieder und wieder. Es verursacht mir Gänsehaut und ich merke selbst, wie meine Lende mehr und mehr arbeitet. Der angenehmer Druck wird zu angespanntes Ziehen. Fast automatisch werden meine Bewegungen noch intensiver. Der Ringe, den ich mit meinen Fingern um seine Erregung bilde, wird fester. Meine Lippen und die Zunge befassen sich nur noch mit der Spitze. Richards Brustkorb hebt sich hektisch. Ich spüre, wie sich seine Finger langsam verkrampfen. „Stopp. Hör auf!" Als ich von allein nicht von ihm ablasse, drückt er mich weg. Heftig keuchend setzt er sich auf. Ich blicke ihm verwundert an. Unsicherheit arbeitet sich durch meinen Leib. Er streckt seine Finger nach mir aus. „Ich falle jeden Moments ins Delirium, wenn du das mit mir machst", sagt er witzelnd, aber deutlich erregt. Ich verstehe nicht, was er mir damit sagen will. Mein Blick muss Bände sprechen, denn Richard setzt sich weiter auf und zieht mich an sich heran. „Ich will den Abend noch länger genießen, Lee und das kann ich nicht, wenn du mich derartig um den Verstand bringst", erklärt er mir und ich muss noch immer reichlich verdattert gucken. Es dauert einen weiteren Moment bis das in meinem Gehirn ankommt und mit sofortiger Wirkung laufe ich rot an. Das bereitet meinem Kindheitsfreund so viel Freude, dass er mich kichernd auf seinen Schoss zieht und genüsslich küsst. Wieder und wieder. Tausende sanfte Küsse. Tausende kleine Zeichen seiner Liebe. Gleich darauf spüre ich seine Hände, die in meine zerrissene Hose gleiten. Dafür will er sicher nachher noch eine plausible Erklärung. Ich schaffe es nicht weiter darüber nachzudenken, denn Ricks warme Hand legt sich um meinen bereits harten Schwanz. Ich keuche überrumpelt auf und schaue an uns hinab. Sein Daumen greift nach seiner eigenen Erregung und er sorgt dafür, dass sie sich berühren und aneinander reiben. Ich spüre seine Hitze. Seine verlockende Härte und mein Körper bebt. Ich keuche deutlicher auf als die Reibung intensiver wird. Ricks Lippen streichen über meinen Hals. Sie küssen sich hinauf und ich neige automatisch meinen Kopf zurück, biete ihm damit mehr Angriffsfläche. Seine freie Hand gleitet zu meinem Hintern. Ich spüre seine Finger, die in die Hose hineingleiten und über die festen Rundungen kitzeln. Mein Becken hebt sich an, sodass er tiefer kommt. Rick nutzt die Gelegenheit. Fahrig schiebt er mir die Hose runter. Ich muss für einen Moment von ihm runtersteigen, um sie von meinen Schenkeln gleiten zu lassen. Auch sie fällt unachtsam zu Boden. Ich habe nicht die Möglichkeit ihr lange nach zu schauen, denn sofort zieht Richard meinen nackten Körper auf seinen Schoss. Die roten Prellungen an meiner Hüfte sind so noch deutlicher. Ich merke, wie er seine Hände sanft über den Bereich streicheln lässt. Er fragt sich, was es damit auf sich hat. Er sorgt sich. Früher war er es, der ständig mit neuen Verletzungen heimgekehrt ist. Aus einer Packung Pflaster wurde bald ein Erste-Hilfe-Kasten. Hunderte Meter Binden und Bandagen. So oft habe ich ihn zusammen geflickt. Ricks Lippen küssen sich über meine Brust. Ich lasse meine Finger über seinen Körper wandern, streichele jeder Stelle, die ich erreichen kann. Ich will alles ertasten. Alles neu erleben. Sein Körper ist mir nach all den Jahren fremd. Er fühlt sich anders an. Es fühlt sich sehr gut an. Ricks Hand wandert wieder in meinen Schritt. Die Hitze seiner Finger benebelt mich augenblicklich. Heiß. Gut. Sein Griff ist fest und bestimmend. Ich liebe es, so von ihm geführt zu werden. Er pumpt mich genüsslich, während seine Lippen erneut gegen meinen Hals stoßen. Ein Biss. Er ist nicht sanft, er ist besitzergreifend. Seine Zähne malträtieren meine Haut. Der feine Schmerz kitzelt sich durch meinen Leib. Er lässt mich ekstatisch Zucken und Keuchen. Ricks große Hand umfasst uns beide zur gleichen Zeit. Nun stöhnt er heiß gegen meinen Hals. Die Reibung und seine Nähe bringen mich fast um den Verstand. Ich brauche ihn so sehr. Seine Hand bewegt sich schneller. Der Druck wird immer heftiger. Mein Keuchen wird schneller, während Rick beginnt seine Finger erneut über meinen Hintern kreisen zu lassen. Bevor er sie in mich hineingleiten lässt, blickt er auf und kurz an mir vorbei. Die Aloe vera-Creme steht, wie beim letzte Mal auf meinem Nachttisch. Er greift danach und sieht mich wieder an. Der Glanz in seinen Augen ist fesselnd. Es erregt mich nur noch mehr. Er streicht mit dem Daumen über meine Unterlippen. Er will, dass ich meinen Mund öffne. Ich tue es. Fast automatisch streicht meine Zunge über die dargebotene Fingerbeere. Sie gleitet über die Kuppe. Ich weiß, wie sehr es kitzelt, doch Rick beißt sich selbst nur sachte auf die Lippe und zieht seine Finger zurück, öffnet die Creme. Während des kleinen Spiels hat er aufgehört uns zu pumpen. Die Bewegung setzt wieder ein als ich einen ersten Finger an meinem Eingang spüre. Er kreist und massiert. Sanft und Zärtlich. Voller vorsichtig. Ich genieße es und merke es kaum, weil seine anderen Hand Wellen der Befriedigung durch meinen Körper pumpt. Ricks Bewegung werden fahrig. Er muss sich auf zu viele Dinge gleichzeitig konzentrieren. Seine Hände. Seine Lippen. Seinen eigenen harten Schwanz. Ich lasse meine Hand zu seiner Erregung wandern, beginne ihn mit dem Pumpen und Streicheln anzulösen. Die freigewordene Hand wandern direkt zur anderen. Seine Finger werden intensiver bis ich endlich ihn in mir spüre. Ich keuche hektischer auf. Er erfüllt mich vollkommen. Es ist berauschend. Es ist unglaublich. Es ist alles für mich. Mit einem Mal ist mein Körper mit Verlustängsten gefüllt, die sich siedend heiß über mich ergießen und mich dazu veranlassen mich an ihm festzuklammern. Er darf mich nicht wieder verlassen. Ich würde kein weiteres Jahr ohne ihn überleben, dessen bin ich mir sicher. Unbewusst perlen Tränen über meine Wange. Sie lassen Richard stocken als die salzige Flüssigkeit seine Lippen trifft. Seine Brust hebt sich schwer und er hält mit jeder Bewegung inne. „Alles okay? Tut es weh? War ich zu schnell?", fragt er besorgt, lässt seinen Daumen über meine Wange gleiten. Ich schüttele meinen Kopf und schlucke. Ich spüre ihn so tief. Nichts anderes will ich mehr spüren. „Eleen, was ist los?" Noch immer spricht reine Besorgnis. Ich beuge mich nach vorn und berühre seine Lippen mit meinen. „Bitte, verlass mich nicht", hauche ich gegen seine Lippen. „Nie wieder." Seine Lippen auf meinen. Der Kuss ist intensiv und malt die Gefühle, die wir nach all den Jahren noch immer für einander empfinden als wunderschöne Farbexplosion. Hell. Bunt. Ihn tief in mir zu spüren und die Sanftheit seiner Lippen lassen mich einen Moment glauben, dass nichts von dem Schrecken wirklich stattgefunden hat. Doch als er sein Becken sanft nach oben drückt und ich ihn noch eine Spur tiefer spüre, erfüllt es mich mit so viel Glück und Zufriedenheit, weil es wahrhaftig und real ist, dass sich eine weitere Träne löst. Ich beginne mich selbst auf ihm zu bewegen. Ich genieße das sanfte Stöhnen, welches gegen meinen Körper prallt. Rick umschließt abwechselnd mit seinen Lippen meine Brustwarzen. Sanftes Saugen. Streichelndes Lecken. Mich zu kitzeln bereitet ihm Freude. Er beginnt mich nach jedem Heben tiefer in seinen Schoss zu pressen. Mein Keuchen wird mit jedem Mal lauter. Seine Hand legt sich um meine Härte. Er beginnt mich gleichmäßiges Pumpen und ich merke, wie der Druck in meiner Lendengegend immer stärker wird. Ein weiteres Mal drückt er mich tief in seinen Schoss. Ich komme unvermittelt und für Ricks Geschmack viel zu leise. Seine Lippen legen sich gegen meine Brust. Direkt über meinen Herzen. Er saugt die Schläge in sich ein, die sich von Innen gegen meinen Brustkorb hämmern. Seine Hand, die eben noch an meiner Erregung war, streicht über meinen Bauch und über meine Brust. Feucht und glitschig. Es ist mir egal. Richard gönnt mir nur diesen kurzen Moment des Verschnaufens, dann merke ich bereits, wie sich sein Becken erneut nach oben bewegt. Kleine, intensive Stöße. Er stöhnt genüsslich. Er kostet es vollkommen aus. Dann hebt Rick mein Becken leicht an, neigt mich nach vorn, so dass er sich nach oben bewegen kann. Seine Stöße sind mit einem Mal heftig und fast hart. Sie sind genauso besitzergreifend, wie der Biss von vorhin. Ich genieße das intensive Gefühl, ihn so zu spüren. Seine Lippen an meiner feuchten Brust. Sein Atem wird immer heftiger. Sein Stöhnen erfüllt den Raum. Ich spüre die Hitze in mir als auch Richard kommt. Ebenso die Feuchtigkeit, die durch meine erhobene Position sofort an meinen Beinen hinab rinnt. Ich lasse mich zurück auf seine Beine nieder, spüre seine Arme, die nicht zulassen, dass ich mich von ihm entferne. Sein warmer, heftig atmender Körper benebelt mich. Ich schließe ermattet meine Augen. Warum kann es nicht immer so sein? Nur er macht mich glücklich. Warum will das niemand verstehen? Ich weiß nicht, wie lange wir in dieser Position sitzen bleiben, aber irgendwann merke ich den gleichmäßigen Atem des anderen Mannes. Richard ist eingeschlafen. Ich löse mich vorsichtig von ihm, verschwinde im Badezimmer, dusche mich ab und bleibe danach einen Moment im Wohnzimmer stehen. Mein Blick fällt auf das Telefon. Die Wahrheit. Dass hatte Moore gesagt. Die Wahrheit ist, dass Richards Vater tot ist, weil er herausbekommen hat, dass wir mehr als eine freundschaftliche Beziehung haben. Dieses Wissen wollte er für sich nutzen. Doch Rick hat schon immer Konter gegeben, vor allem wenn es um die Dinge und Personen geht, die er liebt. Kapitel 15: Der Wunsch nach Normalität -------------------------------------- Kapitel 15 Der Wunsch nach Normalität Ich brauche einen weiteren Moment um mich zurück zu Rick ins Bett zu legen. Nur zögerliche lege ich mich zu ihm. Mittlerweile hat auch er sich richtig hingelegt und sich dabei in die Decke eingekugelt. Er wirkt so friedlich. So unbedarft. Ich weiß, dass es auch ihm nicht leicht fällt und dass die letzten Jahre sehr an ihm nagen, aber dass er nun so friedlich und ruhig hier liegt und schläft, ärgert mich ein wenig. Noch immer spüre ich Aufregung, die sich durch meinen Körper malmt. Meine Gedanken rasen. Der Gewissheit darüber, dass Moore nun eindeutig weiß, dass wir beide miteinander in Kontakt stehen, lässt mich nicht schlafen. Die Vorstellung, dass er es ohne weiteres einfach an Richards Mutter weitergibt und damit meine Rückkehr ins Gefängnis besiegelt, erfüllen mich mit Furcht. Ich bleibe im Bett sitzen, atme tief ein und fühle mich nicht besser. Ein Verstoß gegen meine Bewährungsauflagen hat zur Folge, dass ich für die drei nicht abgesessenen Jahre zurück ins Gefängnis gehe. Mir wird mit einem Mal eiskalt und ein leichtes Zittern durchfährt mich. Ich ziehe meine Beine ran und greife nach meinen Füßen. Meine Zehen sind kalt und die Haut an den Seiten ist trocken. Drei Jahre. Wahrscheinlich würde ich damit den letzten Rest Vertrauen, das meine Familien für mich hat, verlieren. Meine Mutter. Ewan. Ich würde meine Nichten oder vielleicht meinen Neffen nicht wieder sehen. Richard. Unbewusst fasse ich nach der Kette um meinen Hals, die den Ring hält, den ich von ihm bekommen habe. Eine weitere Trennung überstehe ich nicht. Ich fühle mich bei ihm so sicher und trotzdem oder gerade deshalb schwelt dieses beißende Angst in mir. Richard kann nichts tun. Wenn er beginnt Fragen zu stellen, dann wird früher oder später durchsickern, dass wir uns sehen und das wäre nicht gut. Meine Finger streichen über eine besonders raue Stelle an meinem Knöchel und ich greife nach der Aloe vera-Creme, die wir vorhin noch so sträflich für etwas anderes genutzt haben. Mit einem Mal merke ich, wie sich Ricks warme Hand meine Hüfte entlang tastet und sich dann zu meiner Brust arbeitet. Er zieht sich dichter an meinen Körper heran und mich damit auch mehr in seine Arme. Ich biete nicht viel Widerstand und lasse mich nach hinten fallen. Seine Wärme umschmiegt mich, scheint mich zu umhüllen, wie eine wunderbare Wolke der Geborgenheit. Sein Gesicht küsst meinen Nacken. Dann auch seine Lippen. Ricks Anwesenheit ist in diesem Moment das Schönste und das Schlimmste für mich. Ich schließe meine Augen, auch wenn ich noch immer nicht das Gefühl habe einschlafen zu können. Der automatische Weckalarm meines Handys lässt mich hochfahren. Ricks Hand rutscht von meiner Brust zu meinem Becken und ich kann ein leichtes Murren hören, welches von seinen Lippen perlt. Ich sehe zu ihm, erkenne die Bewegung unter der Decke und ein glückliches Kribbeln durchfährt meinen Körper. Wenn das doch jeden Morgen so sein könnte. Es dürstet mich nach Normalität. Nach genau diesen kleinen Momenten der Glückseligkeit und der Ruhe. Mein Blick wandert zur Uhr. Es ist halb 6 und noch habe ich ein paar Minuten Zeit. Ich setze mich auf, spüre, wie mich sein Arm dichter umfasst und sich Richard zu mir heranzieht. Eine ähnliche Szene, wie in der letzten Nacht. Doch diesmal ist sein Griff bestimmter. Ich merke, wie sich seine Hand über meine Schenkel tastet und dabei den Stoff meiner Hose zwischen den Fingern hat. „Wieso hast du eine Hose an?", fragt er mit schlafgetränkter Stimme und klingt seltsam enttäuscht. Ich habe sie mir nach dem Badezimmeraufenthalt übergezogen, weil mir kalt war. „Wieso nicht?" „Aber so kann ich dich gar nicht anfassen", sagt er fast lieblich und drückt seine Nase gegen meine Hüfte. Seine Lippen folgen. Sie küssen sich den Bund meine Stoffhose entlang. Ich merke nur den feinen Druck seiner Lippen und bekomme dennoch das zärtliche Kitzeln auf meiner Haut. Seine Oberlippen trifft meine Haut und das Kitzeln explodiert zu einem tiefgreifenden Prickeln, welches sich meine Glieder entlang arbeitet. Die feinen Härchen meines Körpers beginnen zu tanzen. Seine Hand wandert über meinen Oberschenkel und ich genieße das warme Gefühl seiner Berührung. „Du tust es doch trotzdem.", kommentiere ich ruhig, lasse meine Augen geschlossen und seufze genüsslich. „Ja, ich bin ein böser Junge. Aber ohne Stoff wäre es noch besser." Seine Lippen wandern weiter nach oben. Sie gleiten über meine Wirbelsäule, scheinen jeden Wirbel zu küssen. Einmal links. Einmal rechts und dann in der Mitte. Ich bekomme Gänsehaut, lasse Rick gewähren bis er bei meinem Nackenwirbel angekommen ist und meinen Hals liebkost. „Ich muss zur Arbeit", flüstere ich leise und merke, dass Rick mit seinen Streicheleinheiten nicht aufhört. Ich will es gar nicht. ich will nichts anderes mehr spüren als ihn. Doch dann umfassen mich seine Arme. Er drückt mich fest an sich und seufzt laut und eindeutig. „Bevor ich dich loslasse und zur Arbeit gehen lasse, sagst du mir bitte noch, wo die Prellungen herkommen." Nur hauchzart streichen seine Fingerspitzen über eine der roten Stellen an meine Hüfte. Nun seufze ich. Ich habe wirklich gehofft, dass er es vergessen hat. „Ein Unfall bei der Arbeit" Im Grunde nicht gelogen. Nur nicht ganz die Wahrheit. Die Erinnerung an den Vorfall mit Steven verursacht mir Gänsehaut, aber keine gute. „Ein Unfall? Mit einer Walze?" „Farbeimer." „Die dich überrollt haben?", hakt er nach. Ich murre. „Es ist nichts, wirklich!" „Dann haben also zwei Farbeimer deine Hüfte zusammen gepresst. Bekommst du eine Gefahrenzulage? Wenn nicht, würde ich schleunigst eine beantragen. Eure Arbeitsmaterialien sind gemeingefährlich." Deutlicher Sarkasmus in seiner Stimme. Ich beuge mich nach vorn und entziehe mich so ein wenig mehr seiner Berührungen. Richard rückt schnell wieder auf. „Hast du Ärger?", fragt er nun sanft und sorgenvoll. „Ich bin der Neue und das ist alles", beschwichtige ich und hoffe, dass er damit Ruhe gibt. Rick muss sich nicht um alle meine Probleme sorgen. „Und die Kollegin, mit der du essen warst?" Ich spüre, wie er mit diesen Worten seine Hand fester gegen meine Brust drückt. Sie liegt direkt über meinem Herzen, als würde er spüren wollen, wie ich darauf reagiere. „Kaley", nenne ich ihm ihren Namen, „Sie ist sehr nett zu mir, aber ich werde versuchen, sie nicht mehr zu sehen." Ich greife nach seiner Hand und verschränke unsere Finger miteinander. „Warum?" Seinen Lippen küssen mein Schulterblatt. „Weil ich nicht will, dass sie wegen mir Ärger bekommt oder Probleme kriegt." Kaum habe ich das gesagt, merke ich, wie sich sein Blick schier in meinen Körper brennt. Er starrt mich an. „Also hast du doch Ärger?" Rick ist ein Fuchs. Ich war noch nie gut darin, ihn zu belügen. Schon damals hat er jede noch so kleine Schwindelei sofort aus mir heraus bekommen. Wie ein Lügendetektor. Schrecklich. „Nein, ich bin einfach kein Umgang für sie. Ich bin ein Hausmeister und sie ist die Assistenz der Geschäftsführung. Weißt du." Ich versuche mich aus seinem Griff zu lösen, doch Richard packt mich fester und drückt mich dann zurück aufs Bett. Er zwingt mich ihn anzusehen. „Hör auf sowas zu sagen, Eleen. Du bist wundervoll, witzig und der tollste Kerl, den es gibt. Dich als Freund zu haben, ist ein Gewinn." Er haucht mir einen Kuss auf die Lippen, der all seine Worte bekräftigt. „Ich stehe jetzt auf.", gebe ich als Antwort. Ein weiteres Mal drückt er mich runter, als ich versuche, mich aufzusetzen. Ein weiterer Kuss. Diesmal leidenschaftlich, ehrlich und intensiv. Danach lässt er mich los, greift sich die Decke und rollt sich wieder ein. Ich wage es nicht, ihm zu sagen, dass auch er aufstehen muss. Ich ziehe mich an und verschwinde in der Küche um nach etwas Essbaren zu suchen. Toast und Schokocreme. Mehr spuckt mein Kühlschrank nicht aus. In den letzten Tagen war einkaufen das Letzte, woran ich gedacht habe. Ich werde das unbedingt heute nachholen müssen. Vorbildlich suche ich mir einen Zettel und einen Stift aus der Schublade und beginne die wichtigsten Sachen zu notieren. Danach beschmiere ich ein paar Toasts mit Schokolade und suche Rick im Schlafzimmer. Das Bett ist leer. Ich krame mir ein paar frische Klamotten aus dem Schrank und kehre zurück in die Küche. Im Flur kann ich das leise Rauschen der Dusche vernehmen. Ich greife mir einen der Toasts und beiße ab. Die süße Schokoladencreme kitzelt meine Geschmacksknospen. Der Blick fällt zurück auf meine Einkaufsliste. Bisher stehen vier Artikel darauf. Keine Meisterleistung. Ich entscheide mich eher spontan. Nach Lust und nach Verlangen. Es passt nicht zu mir, aber so mache ich es schon immer. Wenn meine Mutter vor dem Einkaufen fragte, ob sie uns Kindern etwas mitbringen soll, dann entschieden sich Erik und Ewan jedes Mal sofort. Süßigkeiten. Kaugummi. Zeitschriften. Später waren es dann Düfte oder spezielle Haarpräparate. Die Mengen an Haargel- und Spray, die die beiden verbraucht haben, würden wahrscheinlich für das Styling von einer Herde Wollhaarmammuts ausreichen. Die Vorstellung belustigt mich noch heute sehr und es bildet sich ein feines Lächeln auf meinen Lippen. Ich wusste nie vorher was ich wollte. Meistens begleitete ich sie zum Einkaufen, schob den Wagen und half ihr beim Tragen. Der Gedanke an meine Mutter lässt das vorige Lächeln aus meinem Gesicht verschwinden. Mit einem Mal spüre ich eine Hand in meinem Nacken. Sie ist warm und streichelt zärtlich in meine Haare. „Das Lächeln hat mir besser gefallen." Seine Lippen treffen meine Wange, dann drückt er seinen Körper an meinen. Ich spüre Feuchtigkeit, die sich durch mein Shirt drückt. „Du bist noch ganz nass." Erschrocken drehe ich mich zu ihm um und nun sehe, dass er vollkommen nackt vor mir steht. Feine Röte legt sich auf meinen Wangen. Rick allerdings blickt auf den Toast in meiner Hand und greift danach. „Hm, das Frühstück der Helden.", kommentiert er. Damit beißt er ab, leckt sich nach kurzem Kauen Schokolade von den Lippen. Ich beobachte ihn dabei an. „Ich hole dir ein Handtuch", sage ich, nachdem ich mich endlich aus meiner Starre gelöst habe und schiebe mich an ihm vorbei. Richard hält mich zurück und zieht mich in einen Kuss. Schokolade schmilzt auf meiner Zunge und vermischt sich mit dem süßen Geschmack Ricks. Ich zergehe in der Erinnerung. Genau das hat er auch schon damals getan. Er hat ein Stück Schokolade gegessen und mich dann geküsst, weil ich selbst nie wirklich auf die kakaohaltige Süßigkeit stand. Aber in der Kombination mit seinen Lippen war und ist es für mich das Elysium. Ich genieße das zarte Kribbeln auf meiner Zunge. Das schmelzende Gefühl auf meinen Lippen. Seine Nähe. „Bringst du mir auch eine Unterhose mit?", erkundigt er sich als wir unseren Kuss lösen und grinst. Ich hebe meine Augenbraue und bin mir nicht sicher, ob er in irgendeine meiner Unterhosen hineinpasst. Ich lege ihm ein paar Sachen raus und scheuche den nackten Mann zurück ins Schlafzimmer. Angezogen kommt Richard zurück in die Küche. In seinen Händen hält er mein Exemplar von Jules Vernes 'Eine Reise zum Mittelpunkt der Erde'. „Du hast ja den alten Schinken noch?", bemerkt er und kommt auf mich zu. Ich bin mir sicher, dass er noch genau weiß, dass es ursprünglich sein Exemplar ist. Der Gedanke an unsere gemeinsamen Leseabende verursacht mir eine herrliche Gänsehaut. Ausgelöst durch viele glückliche Schauer, die sich in alle Richtungen meines Körpers ausbreiten. Ich nehme ihm das Buch ab und drücke ihm stattdessen eine Tasse Kaffee in die Hand. Rick schnuppert. In seinem Gesicht bildet sich ein sanftes Lächeln und dieser Anblick lässt mich prompt erröten. „Ich habe vor ein paar Tagen darin gelesen", sage ich letztendlich und lege das zerfledderte Buch beiseite. Rick schnappt sich einen weiteren Toast, schiebt ihn sich zwischen die Lippen und blickt auf die Uhr. „Wann musst du los?", fragt er kauend. Eine schreckliche Angewohnheit. „In ein paar Minuten." „Soll ich dich fahren?", fragt er mich und ich sehe ihn erschrocken an. Ist das sein ernst? Für einen Moment zweifele ich an seinen Verstand. „Entschuldige. Ich...Es war ein blöder Vorschlag. Ich habe nicht nachgedacht", sagt er, streckt seine Hand nach mir aus. Doch ich nehme sie nicht an. Der Gedanke an die Verfahrenheit der Situation ernüchtert mich augenblicklich. Es gibt noch immer keine Lösung für all das. Ich will Richard sehen können. Ich will ihn anfassen und mit ihm reden können. „Ich stehe das nicht durch, Richard. Ich..." Ich breche ab, streiche mir mit beiden Händen über das Gesicht und sehe aus dem Augenwinkel heraus, wie er den Toast sinken lässt. „Lee, wir schaffen das. Ich lasse dich nicht mehr allein", sagt er und seine Hand umfasst meine. Ich habe nicht einmal gemerkt, dass er näher gekommen ist. Er lässt mich nicht allein. Vielleicht ist genau das das Problem. Wenn wir uns nicht mehr sehen, dann gerät auch niemand in Gefahr. Ein heftiges Stechen verkrampft mein Herz. Ich versuche mir nichts anmerken zu lassen. Der Schmerz wird besser als ich Ricks Lippen schmecke. In seiner Nähe sein ist das Einzige, was ich wirklich will. Doch das ist genau das, was ich nicht darf. „Ich muss zur Arbeit", sage ich ruhig als wir den Kuss lösen. „Okay." Im Flur bleibe ich einen Moment stehen. Ich lausche. Es ist reine Gewohnheit. Ich schließe die Tür ab, lasse das Schloss zwei Mal klicken. Rick folgt mir nach unten, doch als er die Haustür öffnen will, halte ich ihn zurück. „Du musst hinten rausgehen", sage ich leise. „Nein, ich begleite dich." „Nein! Wir können hier auf keinen Fall gemeinsam rausgehen", sage ich ernst und Rick widerspricht kein weiteres Mal. Ich leite Rick an, wie er aus dem Kellerausgang hinaus kommt und verschwinde durch die Vordertür. Unbewusst gleitet mein Blick über die parkenden Autos. Keines davon erkenne ich wieder. Kein Moore. Jedenfalls zeigt er sich nicht. Ich ziehe die Schultern nach oben und so den Kragen meiner Jacke dichter an meinen Hals. In meinem Körper wüten gemischte Gefühle. Das sanfte und zufriedene Kribbeln, weil ich Rick gesehen habe, weil er bei mir gewesen ist. Die Angst um das Auffliegen und die harte zwangsfolgene Konsequenz. Gefängnis. Eine erneute und vielleicht endgültige Trennung. Auch der Gedanken an die Arbeit behagt mir nicht. Für einen kurzen Moment spüre ich erneut Stevens Beine um meine Hüfte. Seine Hände, die meine Kleidung zerreißen. Die Wut in seinen Augen. Unbewusst greife ich an meine Brusttasche und ertaste das Handy darin. Die Aufnahme. Ich nehme mir vor, sie irgendwo zu speichern und sicher zu verwahren. Rick darf es nicht erfahren. Ich frage mich, was darauf noch folgen wird. Sicher wird Steven diese Blamage nicht einfach auf sich sitzen lassen. Ein flaues Gefühl breitet sich in meiner Magengegend aus. Das Richtige wäre mit dem Vorarbeiter zu reden. Die Stufen zur U-Bahn nehme ich ohne mich umzusehen und auch ohne auf die Leute in meine Umgebung zu achten. An meinem gewohnten Platz bleibe ich stehen, starre auf die geriffelten Steine der Abstandslinie zwischen Bahnsteig und Schienenkeller. Ich kann hören, wie der Zug einfährt und mit einem Mal spüre ich warme Finger an meiner Hand. Die Berührung lässt mich aufblicken und direkt in Ricks hellbraunen Augen. Seine andere Hand greift in meinen Nacken. Er zieht mich an sich heran und drückt mir einen Kuss auf, während die Bahn neben uns zum Stehen kommt. „Pass auf dich auf", sagt er leise und entlässt mich in die U-Bahn. An der Tür bleibe ich stehen. Sie schließt sich und ich kann ihn nur noch schemenhaft durch die dreckige Scheibe erkennen. Getauschte Rollen. Auch ich habe das Bedürfnis, seinen Namen zu sagen, auch wenn ich weiß, dass er es nicht mehr hören kann. Ein Lächeln auf seinen Lippen. Es ist nicht Gewiss, wann und ob wir uns so bald wieder sehen. Noch während der Zug die Bahnhofshalle verlässt und von der Dunkelheit des Tunnels verschluckt wird, stehe ich an der Tür. Schattenhafte Rohrleitungen. Notbeleuchtung in den verzweigten Gängen. In meinem Kopf zeichnet sich Richards Lächeln. Das seltsame, flaue Gefühl in meiner Magengegend wird mit jedem Schritt Richtung Arbeitsstätte schlimmer. Im Foyer bleibe ich einen Moment stehen. Es ist wie eine unsichtbare Sperre, die mich zurückhält. Meine Hände beginnen zu zittern und ich schiebe sie in die Taschen meiner Jacke. In der Stille höre ich, wie Michael seine Zeitung umschlägt. Diesmal eine große Tageszeitung und keine Zeitschrift. Diese folgt vielleicht am Nachmittag. Ich kann die Spitze der Ecken über der milchige Trennscheibe liegen sehen. Er sieht kurz auf und hebt seine Hand zum Gruß als er mich erkennt. Ich erwidere den Gruß und mache mich dann auf den Weg zu den Umkleideräumen. Irgendwann höre ich es laut hinter mir Schnaufen. Verwundert wende ich mich um und sehe Micha mit hoch rotem Kopf hinter mir herlaufen. Er keucht und neigt seinen massigen Oberkörper nach vorn, als er vor mir stehen bleibt. Kein Wort. Kein Atem. Ich widerstehe dem Drang, ihn zu fragen, ob es ihm gut geht. Ich will ihn weder veralbern noch möchte ich ihn auf das deutliche Übergewicht ansprechen. Nur langsam scheint er sich zu beruhigen. „Ich...hab...", stottert er. Kurz richtet er sich auf und sieht mich an, fällt dann aber wieder hin sich zusammen. Er stützt sich erneut auf seinen Knien ab, als er merkt, dass er noch immer nicht genügend Luft zum Sprechen hat. Ich sehe auf einen Umschlag in seinen Händen. „Oh man, hast du...einen schnellen Schritt...Na gut, bei den Beinen", sagt er nun etwas vollständiger. Ich sehe verwundert an mir hinab. Meine Beine sind weder besonders lang noch laufe ich übermäßig schnell. Aber sie sind garantiert 15 Zentimeter länger als Michas. Unbewusst hebt sich meine Augenbraue etwas in die Höhe. „Kann ich etwas für dich tun?", frage ich nun doch und sehe, wie er energisch den Kopf schüttelt. Er reicht mir den Umschlag. Mein Nachname steht darauf in seltsam schnörkeligen Buchstaben. Es ist Handgeschrieben. „Der wurde gestern für dich abgegeben. Irgendwann nach 19 Uhr." Ich spüre, wie mein Puls nach oben geht. Augenblicklich. „Es war diesmal eine Frau. Der Typ, der letztens nach dir gefragt hat, ist nicht wieder aufgetaucht", erläutert er meinen fragenden Blick. Ich nicke ihm dankend zu. „Okay, danke." Ich sehe dabei zu, wie der Pförtner schlendernd verschwindet. Als er aus meinem Sichtfeld verschwunden ist, sehe ich wieder auf den Umschlag. Ich öffne ihn erst als ich in der Umkleidekabine bin. Es befindet sich ein einfaches Blatt Papier darin auf dem 6 Daten und Jahreszahlen gedruckt stehen. Drei davon erkenne ich sofort. Richards Geburtsdatum. Mein eigener und der Todestag von Renard Paddock. Die anderen erkenne ich nicht. Ich wende das Blatt um. Am unteren rechten Rand entdecke ich ein weiteres Datum. Keines aus der Vergangenheit, sondern ein zukünftiges. Es ist der genaue Tag, an dem meine Bewährung endet. Ich lasse mich auf die hölzerne Bank nieder. Zwei weitere Male lese ich die Zahlen. Was bedeuten die drei anderen Zahlenreihen? Ich kann mich nicht daran erinnern. Es sind keine weiteren Geburtstage. Nur andere Tage in vergangenen Zeiten. Wer? Wer schickt mir diese seltsamen Andeutungen? Ich bin mir sicher, dass es von der gleichen Person sein muss, die mir auch die Bilder von Richard und seiner Tochter geschickt hat. Die Frustration überfällt mich schlagartig. Unbewusst wandern meine Augen wieder und wieder über die Zahlenreihen. Ich präge sie mir ein. So wie ich es fast immer automatisch mit Zahlen mache. Woher weiß er so viel? Wie kommt dieser jemand an die Informationen? Wie viel weiß er wirklich? Ich höre, wie die Tür auf geht und sehe, wie der Azubi Kai an mir vorbeihuscht. Er hat mich nicht sofort bemerkt, doch mit einem Mal kommt er zurück. Sein Gesichtsausdruck ist schamvoll. „Guten Morgen", sage ich leise und klinge nicht dem Inhalt entsprechend. „Wie...wie geht es dir?" Wieder ein leichtes Stottern. Wenn er nervös ist, hat er das öfter. Seine Wangen färben sich etwas rot. „Ganz gut", sage ich ihm ehrlich. Kai beginnt an seiner Jacke zu spielen. Er blickt auf seine Hände, schiebt sie danach in seine Taschen. „Wirst du es melden?", fragt er nach einer kurzen Pause und ich sehe nun meinerseits auf meine Hände. Ich möchte ihn am Liebsten fragen, ob ich es melden soll. Ich bin mir selbst nicht sicher, was ich tun soll. „Ist der Plan", sage ich ruhig. Ich sehe, dass er zuckt. Ein weiteres Mal höre ich die Tür. Ich bin seltsam dankbar für die Unterbrechung und öffne meinen Spint. Im Augenwinkel sehe ich einen Kollegen, der sich mit Kai freundschaftlich abklatscht. Ich sehe zu den beiden Männern. Ein schüchternes Lächeln auf dem Gesicht des Azubis. Ich wende mich ab. Den Brief lege ich auf die obere Ablage und ziehe mich um. Ich nehme mir eine Grundwartung und eine Nachkontrolle vor. Als ich im Heizungsraum ankomme, schlägt mir kein penetranter alter Ölgeruch entgegen. Nur noch ein feiner Hauch. Es ist ungewohnt. Noch immer ist es stickig. Kurz vor dem Mittag klingelt mein Handy. Kaley. Ich will nicht rangehen, dennoch zögere ich. Richards Worte kommen mir in den Sinn, aber ich möchte sie einfach nicht mit hineinziehen. Nach zehn Minuten klingelt es ein weiteres Mal. Sieben Minuten später wieder. Nach einer halben Stunde ist ruhe. Ich seufze schwermütig. Es ist zu ihrem Besten, das rede ich mir jedenfalls ein. Zum frühen Nachmittag verschwinde ich in die Umkleidekabine. Ich durchforste mein Portmonee nach Kleingeld. Mit wachsender Ernüchterung stelle ich fest, dass ich nur noch dreißig Cent besitze. Ich sage meinem Mittagessen ade und fange damit an meinem Magen zu beschwichtigen. Ich sehe auf als ich verräterische klackende Geräusche im Flur höre. Es hallt förmlich. Die Tür geht auf und ich sehe verwundert dabei zu, wie sich Kaleys dunkler Haarschopf präsentiert. Sie blickt zuerst in die falsche Richtung und ich starre auf ihren Hinterkopf. Das Ignorieren ihrer Anrufe scheint nicht zu funktionieren. Was habe ich auch erwartet? Immerhin arbeiten wir im selben Gebäude. Als sie mich sieht, richtet sie sich auf. Mit ihren langen Beinen und hohen Schuhen ist sie größer als ich. Weglaufen bringt nichts. Ich fühle mich in diesem Moment, wie die Gazelle, die den Löwen erblickt. Ein merkwürdiger Vergleich, aber das Funkeln in ihren dunklen Augen ist furchteinflößend. „Okay, du arbeitest also noch hier. Ich weiß nicht wieso, aber du ignorierst mich. Darf ich erfahren, warum?" Kaley kommt auf mich zu. Ich räume mein Portmonee zurück in den Schrank. „Ist es wegen dem, was gestern passiert ist?" Sie weiß nicht, was nach dem Vorfall hier im Umkleideraum noch geschehen ist. Ich hoffe inständig, dass es so bleibt. „Ich hab den kleinen blonden Azubis gefragt, aber der hat mich nur angestarrt und mit dem Kopf geschüttelt. Eleen, was ist hier los?" Ich schließe die Tür zu meinem Spint und schiebe die paar Cents in meine Hosentasche. „Ich will nicht, dass du da mit hineingezogen wirst, Kaley und deshalb ist es besser, wenn ich mich von dir fernhalte. Ich will nicht, dass dir irgendwas passiert", sage ich mit ruhiger Stimme und meine es wirklich ernst. Steven ist unberechenbar und da er in die Ecke gedrängt wurde, kann es passieren, dass er auf einem anderen Weg weitermacht. Er hat mich mit Kaley gesehen und wer weiß, was sich noch in seinem Kopf abspielt. „Wo hinein, Eleen? Hast du hier mit irgendjemanden Ärger?" „Kaley hör auf. Umso weniger du weißt, umso besser! Alte Gefängnisweisheit." Ich merke erst, was ich gesagt habe, als es bereits zu spät ist. Ich wende meinen Blick ab und seufze leicht. Sie schweigt. „Ich will ihm keine weiteren Angriffsmöglichkeiten bieten und deshalb darf er uns nicht weiter zusammen sehen." „Du sprichst von Steven, oder? Er kam mir letztens entgegen und er hatte diesen seltsamen Blick drauf. So ein Perversling." Ihr gesamter Körper schüttelt sich. Nur die Erinnerung schien ihr unangenehm. „Du meinst ihn, oder? Ich sehe, wie er dich manchmal ansieht, wenn du an ihm vorbeigehst. Macht er dir Ärger? Belästigt er dich?" „Kaley, ich..." Sie unterbricht meinen flüchtigen Versuch, mich herauszureden. „Melde es." In ihrer Stimme schwimmt Sorge. Ich denke an Kai. „Ich weiß nicht, ob das wirklich etwas bringt", sage ich resignierend und lasse mich auf die Bank vor den Schränken nieder. Ich sehe nicht auf und doch höre ich ganz genau, dass sie näher kommt. Leises Klackern, welches ihre hohen Absätze verursachen. Sie lässt sich neben mir nieder und dann sehe ich ihre schmale Hand, die sich auf mein Knie legt. „Okay, du musst mir nicht erzählen, was genau vorgefallen ist, aber ich garantiere dir, dass du mich nicht beschützen musst. Ich weiß mich gegen so einen Widerling zu wehren und garantiert lasse ich mir wegen so jemand nicht verbieten, mich mit Menschen zu treffen, die ich mag. Schreib dir das hinter die Ohren!" Der Rest des Vortrags ging definitiv an mich. Ich werde also nicht verhindern können, dass sie mit hineingezogen wird. Ich blicke sie verzweifelt an. „Höre auf so zu gucken und lass uns Essen." Der Ausdruck in meinem Gesicht wandelt sich ins Wunderliche. Ich sehe dabei zu, wie sie die Tüte in ihrer Hand auf ihrem Schoss abstellt und öffnet. „Ich wusste nicht, was du magst, also hab ich Hähnchen mit Frischkäse, Salami mit Tomate und Paprika und irgendwas Vegetarisches mitgebracht." Während ihrer Auflistung packt sie die Pakete mit den Sandwichs aus. Dazu gibt es verschiedene Soßen und frischen Salat. Ein großer Armreif rutscht von ihrem Unterarm auf ihr Handgelenk. Er ist aus Holz und trägt ein hübsches figurales Muster. Das Lächeln auf ihren Lippen und die Freude in ihrer Stimme sind herrlich einnehmend. Ich lächele und sie erklärt mir, dass die Currysoße besonders gut auf dem Hähnchen und die Kräutersoße auf dem Salamisandwich schmecken. Ich nehme ihr das belegte Teil mit Hähnchen aus der Hand und sie reicht mir zufrieden lächelnd die Currysoße. „Eleen, wer ist Rick?", fragt sie und durchbricht damit die ruhige Pausenstimmung. Ich blicke von dem belegten Brot in meiner Hand auf und sehe die dunkelhaarige Schönheit an. Ihre langen Finger streichen über ihren beigen Rock. Sie versucht nicht allzu neugierig auszusehen, steckt sich ablenkend etwas heraus gefallene Gurke in den Mund und doch merke ich die Anspannung, die sich in ihrem Körper hält. „Du hast seinen Namen gestern im Heizungsraum gesagt. Mehrmals und na ja, ich wollte gern wissen, von wem du so träumst..." Ich erinnere mich an den Traum, der mich seinen Namen rufen ließ. Kaley hat versucht, mich zu wecken und ihre Berührungen haben sich in meinen Kopf mit dem Wunsch nach Richard verschmolzen. Als sie merkt, dass ich sie beobachte, sieht sie zu mir. Ein unsicheres Lächeln auf ihren Lippen. Ihr Gesicht erhält dadurch eine süße, fast niedliche Note, die durch die kleinen Grübchen in ihren Wangen noch unterstrichen wird. „Er ist ein Freund aus der Kindheit", sage ich daraufhin und die Anspannung gleitet aus ihrem Körper. Ich kann es deutlich sehen. Ich führe das Sandwich zu meinen Lippen, doch ich beiße nicht ab als ich merke, dass nun Kaley mich ansieht. Ihr Blick ist suchend. Ich weiß nicht warum. Ich denke an ihre Bemerkung. Die dass ich nach dem gemeinsamen Wochenende mit Rick anders gewirkt habe. Ob sie etwas ahnt? Aber woher sollte sie? Frauen sind mir manchmal unheimlich. „Steht ihr noch in Kontakt?", fragt sie und beißt dann von ihrem Brot ab. Ich schüttele meinen Kopf. So gerne ich ihr gegenüber auch ehrlich sein will, ich kann es nicht. Ich denke an unsere gemeinsamen Nächte. Meine Fingerspitzen beginnen zu kitzeln. Erneut mustert sie mich und ich merke das feine Lächeln, welches sich auf meine Lippen geschlichen hat, während ich an Richard denke. Auch Kaley lächelt nun. Ihre perfekten, weißen Zähne blitzen hervor. Danach beißt sie wieder von ihrem Sandwich ab. Auch ich widme mich meinem Essen als sie nicht weiter fragt. Ich frage mich, wie viel sie sich zusammenreimt und was sie sich denkt. Ich danke ihr für das leckere Essen und begleite sie noch zum Fahrstuhl. „Eleen, lass dir das von Steven nicht gefallen. Sprich mit Herr Müller oder meinetwegen auch mit Barson direkt." „Ich glaube kaum, dass ihn die niedrigen Angestellten interessieren." Ich denke an den großen, kühl wirkenden Mann. „Er ist anstrengend, aber er dulden so was nicht. Glaub mir", erläutert Kaley mir. Ich drücke die Taste zum Rufen des Fahrstuhls. Die Tür öffnet sich sofort. Sie greift nach meiner Hand. Ihre schöne, dunkle Haut bildet einen wunderbaren Kontrast zu meiner. Erneut beobachte ich, wie der schwere Holzarmreif über ihre Haut streicht. „Du kannst dich jeder Zeit bei mir melden, ja? Das weißt du?" Diesmal sehe ich sie direkt an. „Okay. Danke." Damit lässt sie mich los, lächelt und ich sehe dabei zu, wie sich die Fahrstuhltür schließt. Ich verstehe nicht, warum sie so nett zu mir und trotzdem breitet sich ein warmes Kribbeln in mir aus. Eine gefühlte Ewigkeit stehe ich vor dem Fahrstuhl und hänge meinen Gedanken nach. Erst, als mein Vorarbeiter im Flur auftaucht, reiße ich mich wieder zusammen, hadere damit ihn an zu sprechen und verschwinde dann feige zurück in den Heizungsraum. Der Feierabend lässt auf sich warten. Ich bin nicht bei der Sache und denke an Rick, an Moore, aber auch an Kaley. Ich verstehe sie einfach nicht. Was will sie mit mir? Ich bin weder unterhaltsam noch sonderlich aufmerksam. In meinem Leben bin ich selten auf reine Freundlichkeit gestoßen, wahrscheinlich ist es das, was mich so irritiert. Mir fehlt es an Grundvertrauen. Ich greife nach dem Brief vom Vormittag und sperre meinen Spint ab. So viele verschiedene Daten. In meinen Kopf spulen sie sich ab, wie ein Zeichentrickfilm. Ich weiß nicht, was die Anderen bedeuten. Ob ich Rick davon erzählen soll? Gestern ist er sehr wütend gewesen, weil ich ihm alles so lange verschwiegen habe. Es widerstrebt mir, ihm alles sofort genau zu berichten. Also bin ich für den restlichen Tag hin und her gerissen. Selbst beim Einkaufen bin ich nicht ganz bei der Sache. Letztendlich habe ich eine gigantische Rechnung und weiß beim nach Hause laufen nicht mal mehr, was ich alles eingekauft habe. Ich schleppe die beiden schweren Tüten nach oben. Neben der Tür stelle ich sie ab und weiche zurück. Ein Spalt. Ich sehe eine Diele meines Parketts. Die Tür steht offen. Ich lausche. Es ist nichts zu hören. Mit zitternden Fingern ziehe ich mein Handy aus der Tasche. Ich tippe unbewusst. Ps vom Autor: Ich möchte einen dicken und herzlichen Dank an meine lieben Leser und Kommieschreiber aussprechen. Ihr seid wirklich toll! Kapitel 16: Das nervöse Kitzeln der Furcht ------------------------------------------ Kapitel 16 Das nervöse Kitzeln der Furcht Das Geräusch des Klingelns durchdringt mich als ich tatsächlich den grünen Hörer betätige. Jede Sekunde des Wartens ist blanke Unsicherheit. Ich bekomme Gänsehaut, die mit jeder deutlichen Klingelspitze immer weiter aufzuflammen scheint. „Lee?", geht er ran. Ich kann nicht ausmachen, ob seine Stimme überrascht oder sorgenvoll klingt. Ich weiß nur, dass sie mir ein sanftes Kribbeln der Erleichterung schenkt. Ich starre auf die angelehnte Tür und höre ein Rascheln. „Lee, alles okay?", wiederholt Rick flüsternd, weil ich noch immer nicht reagiere. „Ich glaube in meine Wohnung wurde eingebrochen", sage ich nun. Ich beuge mich vor und schmule durch den Spalt. Richard scheint für einen Moment die Luft anzuhalten. In seinem Kopf spielen sich genauso, wie in meinem die unzähligen Eventualitäten ab. „Bist du in der Wohnung?", fragt Rick ruhig und ich bin fast erstaunt, dass er nicht zuerst nach dem Verschließen der Tür fragt. Ich bin mir sicher, dass ich sie verschlossen habe. Zweimal. Ich achte darauf. Immer. Rick war doch sogar dabei gewesen. Mit einem Mal bin ich mir nicht mehr sicher. War es wirklich ein Zufall, dass genau zu diesem Zeitpunkt jemand bei mir einbricht? Sicher fragt sich Rick dasselbe. Ich höre, wie er leise, aber zischend Luft einzieht. Meine Hand legt sich in diesem Moment an das Holz der Tür. Ich drücke sie weiter auf und ich kann nun ein Stück in den Flur sehen. Im Übergang zum Wohnzimmer liegen Papiere am Boden. „Bist du in der Wohnung?", wiederholt Rick leise, aber erregt. Ich höre deutlich, wie seine Atemfrequenz zugenommen hat. Immer wieder dringt ein Rauschen durch den Hörer. „Nein, ich stehe davor." Ich drücke die Tür weiter auf und sehe noch mehr Papiere, die einen Pfad vom Wohnzimmer zum Schlafzimmer bilden. Die gesamte Flur entlang. „Hast du die Polizei gerufen?", fragt Rick mich und ich schüttele ungesehen den Kopf. Auf diese Idee bin ich gar nicht gekommen. Ich habe eine innere Sperre, die jeglichen Gedanken an die Polizei verdrängt. Sie war nie mein Freund und Helfer. Ich mache einen ersten Schritt in die Wohnung. Nichts ist zu hören. Mein Blick wandert zur Küche rechts neben mir. „Lee?" Energisch, aber leise schleudert er mir meinen Namen durch das Telefon als ich nicht reagiere. Mein Herz macht einen Satz und rammt sich dann ein wenig heftiger gegen meinen Brustkorb. „Nein", antworte ich leise. „Dann mach das, bitte. Geh nach draußen und warte bis die Beamten da sind. Geh nicht in die Wohnung! Hast du verstanden?" Das habe ich, aber dennoch mache ich einen weiteren Schritt hinein. Natürlich verlangt er, dass ich die Polizei dazu hole. Ich würde nicht anders reagieren, wenn er mich mit so einer Nachricht anruft. Ich will jedoch nur seine Stimme hören und ihn in dieser Situation an meiner Seite wissen, wenn auch nur in Form des Telefons. Zur Beruhigung und um mir selbst die Aufregung zu nehmen. „Ruf die Polizei, sofort!", kommt es erneut mahnend von dem anderen Ende des Telefonhörers. Rick duldet keine weitere Verzögerung, aber in meinem Kopf spülen sich gerade die Auswirkungen ab, die ein Polizeieinsatz in meiner Wohnung mit sich bringen würde. „Nein, Rick, das werde ich nicht. Sie werden deine Fingerabdrücke finden und Fragen stellen. Und wenn es der gleiche Kerl ist, der mit diese Hinweise zu steckt, dann hat er vielleicht etwas zurückgelassen, was uns miteinander in Verbindung bringt." Rick setzt zu einem Gegenkommentar an, doch dann stockt er. Meine Argumente sind stichhaltig. Er hat selbst nicht daran gedacht, dass höre ich dadurch, dass er scharf die Luft einzieht und nichts erwidert. Ich stelle mir Richards Gesichtsausdruck vor. Die senkrechten Falten auf seiner Stirn, die sich bilden, wenn er mit etwas nicht einverstanden ist. Seine Augenbrauen, die sich leicht zusammen ziehen und ihm diesem strengen Blick verleihen. Leider hat er diesen von seiner Mutter. Noch nie war ich der Grund gewesen, weswegen er so schauen musste. Ich gehe zuerst in die Küche. Sie scheint vollkommen unberührt. Das Glas mit der Schokocreme steht noch immer auf der Arbeitsplatte. Darauf abgelegt das benutzte Messer. Rick muss es abgeleckt haben, denn es wirkt relativ sauber. Ich höre Stimmen im Hintergrund durch das Telefon. Rick versichert, dass er gleich erscheinen wird. Ich höre ihn leicht knurren als er sich wieder unserem Telefonat widmet. „Geh, bitte nicht allein rein. Warte auf mich. Ich bin in 20 min da." Ein weiterer Versuch, doch dieser Vorschlag lässt mich nur noch energisch auf Rick reagieren. „Untersteh dich herzukommen. Das macht doch alles noch schlimmer.", knalle ich ihm vor den Latz. In diesem Moment ertönt erneut eine Stimme im Hintergrund und obwohl Rick die Öffnungen des Telefons zuhält, kann ich sie als weiblich erkennen. Rau und kühl. Mahnende Worte. Richards Mutter. Sie duldet keine Widerrede. Das Wissen um ihre Anwesenheit bei ihm macht seinen Vorschlag nur noch wahnwitziger. Dennoch lässt er sich nicht abbringen weiter mit mir zu telefonieren. „Verdammt! Der oder die Einbrecher könnten noch immer in der Wohnung sein. Sei vernünftig!" „Ich bin vorsichtig. Geh lieber, sonst wird sie sauer", sage ich leise und lege damit auf. Ein letzter Blick auf das Display. Ich schiebe das Telefon in meine Hosentasche und setze meinen Weg durch die Wohnung fort. Nun spüre ich, wie mein Puls noch eine Schippe zulegt. Ricks Stimme, egal wie aufgebracht sie war, hat mich immer beruhigt. Auch gerade eben. Nun, wo sie weg ist, trifft mich das gesamte Maß der Aufregung und Angst. Was, wenn der Einbrecher wirklich noch in der Wohnung ist? Ich bleibe erneut stehen und lausche. Das Klingeln meines Handys zerreißt die Stille und hätte nun auch jeden Einbrecher aufgeschreckt. Nichts. Ich atme durch, lasse es klingeln und versuche mich zu fassen. Drei weitere Mal versucht Rick mich zu erreichen. Ich ignoriere ihn. Er wird es nicht lange durchhalten, weil er zu seinem Meeting muss. Ich wechsele von der Küche zur anderen Seiten des Flurs. Zum Wohnzimmer. Ein erster Blick offenbart mir das Chaos. Die Schränke sind durchwühlt und sämtliche Ordner mit meinen Unterlagen auseinander gerissen. Meine Finanzunterlagen. Meine Bewährungsunterlagen und die Schreiben meiner Anwältin. Alles liegt verstreut am Boden und auf dem Tisch. Mein Arbeitsvertrag liegt auf einem der Stühle. Im Badezimmer scheint alles unangetastet. Es ist seltsam. Selbst meine am Morgen ausgezogene Schlafhose liegt genauso, wie abgelegt über dem Badewannenrand. Ich wende mich ab. Die Tür zu meinem Schlafzimmer ist geschlossen. Ich schließe sie nie und bin mir auch sicher, dass ich sie am Morgen offen gelassen habe. Zunächst beuge ich mich nach vorn und lege mein Ohr gegen die Lackierung der Tür. Sie ist kühl und rau. Ich schließe meine Augen. Ein wahnwitziger Vorgang, denn dadurch kann ich nicht besser hören, ob sich jemand im Zimmer befindet. Ich atme kurz durch bevor ich die Klinge runterdrücke und die Tür öffne. Es ist dunkel. Alle Vorhänge sind zugezogen. Sofort schlägt mir der Geruch von Rauch entgegen. Kalter, abgestandener Zigarettenrauch. Der Geruch ist deutlich und intensiv. Ich betätige den Lichtschalter und trete hinein. Für einen Moment habe ich das Gefühl kleine Nebelschwaden durch den Raum schweben zu sehen. Es müssen mehrere Zigaretten geraucht worden sein. Der kalte Rauch bereitet mir Übelkeit. Ich lehne mich kurz gegen den Türrahmen und schließe die Augen. Erinnerung. Sie treffen mich, wie ein Regenschauer voller Reißzwecken. Ich denke an die rauen Hände. Seinem festen Griff um meinen Arm und die Finger, die sich hart und unbarmherzig in meine Haut gruben. Mein Herz schlug mit jeden Zentimeter, den er mich näher an sich heranzog, schneller. Sein alkoholisierter Atem schien sich über meine Haut zu brennen. Und tut es auch jetzt. Richard hat seine Augen. Sie fixierten mich. Auf seine zornerfüllten Worte achtete ich nicht. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt mich gegen ihn zu wehren. Der Geruch seines alkoholisierten Atems und der Zigaretten holen mich immer wieder ein. Der Ekel, der damit einherging, das schummerige Gefühl und die Benommenheit. Aber am Schlimmsten ist die Kraftlosigkeit mich nicht aus der Situation befreien zu können. Diese Hilflosigkeit spüre ich auch jetzt. Es wächst mir über den Kopf. Ich merke es deutlich. Meine Hand legt sich an meinen Bauch. Direkt über meinen Magen. Ich versuche mich zusammenzureißen und gehe zum Fenster, öffne es. Ein kühler Luftzug streift meine Haut und gaukelt meiner Lunge für einen Moment einen Ausweg vor. Doch das bittere Gefühl verschwindet nicht. Ich blicke mich um und meine Augen richten sich auf das Bett. Es ist gemacht. Auch das ist nicht durch mich passiert. Mein Herz beginnt mit jedem weiteren Schritt, den ich darauf zu mache, heftiger zu pochen. Ich habe das ungute Gefühl, dass sich jemand dort hineingelegt hat. Ich bekomme Gänsehaut als ich einen deutlichen und fast drapierten Kopfabdruck im Kissen erkenne. Was soll das? Ein kalter Schauer durchfährt mich und dann schaffe ich es gerade so zur Toilette bevor ich mich übergebe. Jemand war in meiner Wohnung und hat sich in mein Bett gelegt. Ich fühle mich entblößt und hilflos. Ein Zittern erfasst mich und ich übergebe mich ein weiteres Mal bis meine Speiseröhre brennt. Ich betätige die Spülung, lausche dem Plätschern. Ermattet bleibe ich einen Moment über der Toilette hängen und stütze meine Ellenbogen auf dem Sitz ab. Warum passiert das? Danach spüle ich mir den Mund mit Wasser aus, putze mir kurz die Zähne und vermeide den Blick in den Spiegel. Meine Hände krallen sich an die Keramik des Waschbeckens und doch spüre ich die raue Beschaffenheit einiger getrockneter Wasserflecke. Mein Griff ist fast und unnachgiebig als wäre das der einzige Halt, der mich nicht zusammenbrechen lässt. Der Geruch nach Rauch hat sich etwas verzogen als ich ins Schlafzimmer zurückkehre. Jedenfalls bilde ich es mir ein. Ich fühle mich taub. Mit rasendem Puls kehre ich in den Flur zurück. Vor dem Schlafzimmer beginnt oder endet der Pfade aus Papieren. Ich bücke mich nach einem der Blätter. In der Mitte des Flurs höre ich mit dem Sammeln auf und richte mich auf. Was soll diese Inszenierung? Wer hatte einen Grund so etwas zu tun? Richards Mutter? Nein. Sie strebt nur das eine an. Mich zurück ins Gefängnis zu bringen. Moore? Auch er hat eigentlich deutlich gemacht, dass ihn andere Beweggründe leiten. Vielleicht... „Hey,..." Ich reagiere erst durch das leise Klopfen an meinen Türrahmen. Der junge Mann, der unter mir in der Wohnung lebt. Seine dunkelbraunen Haare sind durcheinander und er sieht müde aus. „Hi,...kann...ich, was für dich tun?", frage ich holprig, aber erstaunlich ruhig und versuche meinen Puls zu normalisieren. „Deine Einkaufstüten stehen noch vor der Tür und ziehen die Tierwelt..." Er bricht ab. Als er das Chaos im Flur sieht, weiten sich seine Augen etwas. Ich habe meinen Einkauf völlig vergessen. Erst jetzt bemerke ich den Wäschekorb, der unter seinem rechten Arm klemmt. Er war auf dem Weg zum Dachboden um seine Wäsche aufzuhängen. „Wurde bei dir eingebrochen?", fragt er erschrocken, „Bist du verletzt? Soll ich die Polizei rufen?" Er klingt dabei fast genauso fürsorglich und erschrocken, wie Richard. Seltsamerweise beruhigt mich die Anwesenheit des jungen Mann. Ich greife unwirsch nach dem Stapel Papieren, die ich auf die Kommode gelegt habe. „Nein, nein. Das ist nicht nötig!", sage ich schnell und vielleicht etwas zu laut. Ich fahre mir ermattet durch die Haare. Es sollen nicht noch mehr Menschen in dieses Chaos mit hinein gezogen werden. So sehr ich ihm sein Hilfsangebot danke, so sehr möchte ich, dass er jetzt einfach geht. „Wirklich. Es ist alles okay. Ich bin nicht verletzt und ich weiß auch, wer das hier war." Eine Lüge. Ich weiche seinem Blick aus und dennoch spüre ich, wie mich seine aufmerksamen Augen mustern. Ich denke an Richard und an die Tatsache, dass ich sondergleiche schlecht darin bin zu lügen. Wahrscheinlich merkt auch er das. „Okay...", sagt er leise und sieht wenig überzeugt aus. Ich schiele seitlich zur Tür und sehe, wie er aus dem Türrahmen verschwindet und dann mit einem Mal wieder auftaucht. „Ich bin übrigens Mark und wenn du deine Meinung änderst, ich bin direkt unter dir! Hey,.. aber nicht durch die Decke fallen, dass nimmt uns der Vermieter garantiert übel!" Unpassend, aber dennoch zaubert mir dieser Spruch für einen Moment ein Lächeln auf die Lippen. So was hätte Rick auch gebracht. Mark verschwindet ohne eine Erwiderung abzuwarten und ich sehe auf die Papiere vor mir. Es ist die letzte Seite meiner Dauerbenachrichtigung vom Kontaktverbot. Genau die jetzt vor mir zu sehen, ist wie blanker Hohn. Ich verstehe einfach nicht, was das Ganze soll. Mir will jemand Angst machen, aber warum? Und vor allem wer? Erneut beginne ich darüber nachzudenken, wer für all das verantwortlich sein könnte. Ricks Mutter. Aber sie hätte nichts davon es heimlich zu tun. Sie könnte ihr Wissen einfach öffentlich machen und mich damit in die Knie zwingen. Ich sehe zum Schlafzimmer. Der Kerl mit der Zigarette. Ich versuche mich an sein Gesicht zu erinnern, doch es verschwimmt. Trotzdem kommt in mir erneut das Gefühl auf ihn irgendwoher zu kennen. Steven. Er weiß durch meine Personalakte, wo ich wohne, doch er weiß nichts von Rick und mir. Er will mir Schaden, aber ist er wirklich der Typ für Psychospielchen? Ich denke an die Sauerei, die er in meinem Spind hinterlassen hat. Mein Magen macht augenblicklich eine weitere Drehung. Zum Glück ist nichts mehr drin, was raus könnte. Ein deutliches Ja zu den Psychospielchen, aber ein Einbruch ist schon eine ganz andere Nummer. Moore. Er beschattet mich. Ich blicke zum Wohnzimmer und bin dann mit wenigen Schritten vor dem Fenster. Noch immer verdecken die Vorhänge die Scheiben. Ich schiebe einen zur Seite um einen Blick auf die Straße zu bekommen. Es ist ruhig. Nach einer Weile sehe ich ein Auto vorbeifahren und dann erkenne eine Bewegung in einem der parkenden Wagen. Es ist nur ein Schatten. Mein Herz beginnt zu rasen als ich das schwarze Auto wiedererkenne. Er hat es nicht einmal für nötig gehalten das Auto zu wechseln. Es macht mich so wütend. Ich hole meine Einkäufe rein, stelle sie nur im Flur ab und gehe runter. Lautlos und im Schatten gehe ich auf den Wagen zu. Ich schlage mit der flachen Hand gegen die Scheibe seines Fensters. Für mich laut. Für ihn dumpf. Moore schreckt zusammen. Ich sehe deutlich, wie sich die Hände des alten Mannes fester um das Lenkrad schließen. Er atmet aus. Auf seinem Schoss liegt eine Akte. In der rechten Ecke ein Bild, welches durch eine grüne Büroklammer gehalten wird. Es ist das Foto, was nach meiner Festnahme entstand. In diesem Augenblick war ich der festen Überzeugung, dass ich Richard niemals wieder sehen werden und genau das spiegelt sich in meinem Blick. Schmerz. Angst. Hoffnungslosigkeit. Moore schließt die Akte langsam als würde er gar nicht versuchen sie zu verstecken. Warum auch? Er hat uns seine Gründe, während des Telefonats sehr deutlich gemacht. Für Wahrheit und Gerechtigkeit, spottet in meinem Kopf. Die Scheibe fährt langsam runter. Mein Blick fällt auf den herausgezogenen Aschenbecher. Das sanfte Glühen einer gerade angesteckten Zigarette. „Waren Sie in meine Wohnung?", frage ich ohne Umschweife als er mich ausreichend verstehen kann. Meine Finger legen sich ans Autodach. So stark, dass meine Knöchel weiß hervortreten. „Wie bitte?", fragt er aufrichtig verwundert. So scheint es mir jedenfalls. Ich blicke in sein fragendes Gesicht. Seine blaugrauen Augen sind ausdruckstark und sie zeigen seinen festen Willen. Sie machen mir Angst. Angst davor zu verstehen, was er in der Lage sein könnte. Wie weit wird er gehen um an seine Wahrheit zu kommen? „Waren sie in meiner Wohnung? Denn irgendjemand war es." Ein Blitzen geht durch seine Augen und für diesen Moment ist er wieder ganz Polizist. „Ein Einbruch? Bist du dir sicher?" „Die offenstehende Tür und das Chaos spricht dafür", patze ich. „Hast du die Polizei gerufen?", fragt er mich und ich weiß in diesem Moment nicht, ob ich über diese Absurdität lachen soll oder mich ernsthaft fragen muss, ob es dem alten Mann gut geht. Er vollführt eine fahrige Bewegung durch seine Haare. Es ist kein richtiges Durchstreichen. Kein Richten. Eher eine nervöse Geste. Das Grau seine Haare wird auf seiner sonnengeküssten Haut besonders deutlich. „Sehr witzig! Sie wissen ganz genau, dass ich nicht zur Polizei gehen kann und verdammt noch mal, lassen sie mich endlich in Ruhe. Ich will, dass Sie aufhören mich zu beschatten und sich endlich aus meinem Leben raushalten. Meine Akten sind unter Verschluss und das sind sie aus gutem Grund. Also hören Sie auf damit...Mit den Nachrichten. Mit dem Verfolgen. Mit allem", werfe ich ihm laut an den Kopf und bin wirklich wütend. „Eleen, ich bin Polizeibeamter, wie kannst du es... Steig ein." Seine blassen Augen blicken mir wütend entgegen. Meine Worte trafen ihn direkt in seinem Polizistenherz und das sollten sie auch. Ich will wissen, was er weiß. Auch er kann schließlich jemand engagiert um für ihn die Drecksarbeit zu machen. Er hat Zugang zu den alten Polizeiakten und niemand sonst außer mir und Rick weiß so viel über den Fall, wie er. „Los, steig ins Auto, de Faro!" Damit entriegelt er die Türen. Er duldet keine Widerrede. Meine Finger streichen über das kühle, feuchte Metall der Autotür. Ohne meine Antwort oder auch nur eine Reaktion abzuwarten, fährt er die Scheibe hoch. Unwillen durchfährt mich und dennoch gehe ich hinten um den Wagen herum und setze mich auf den Beifahrersitz. Hier drin ist der Geruch von kalten Rauch intensiver und unwillkürlich erfasst mich eine intensive Gänsehaut. Die Zigarette zwischen seinen Lippen wackelt. Das orange Glühen erhellt den Innenraum und obwohl die Heizung an ist, ist mir bitterkalt. „Ich verbiete mir solche Anschuldigungen.", sagt er noch während er den Rauch ausstößt. Der Ernst in seiner Stimme ist unverkennbar. „Sie sitzen seit Tagen vor meiner Wohnung und bespitzeln mich. Das ist doch die Wahrheit", gebe ich fast pampig von mir. Ich habe jedes Mal, dass Gefühl wieder zu dem Jugendlichen zu werden, der ich war als wir das erste Mal aufeinander getroffen sind. „Begreifst du es nicht! Wenn es wahr ist, was du erzählst, dann hast du viel größere Probleme als mich, Eleen", sagt er und bedenkt mich mit einem Blick, der von beißender Wahrheit und einer seltsamen Sorge spricht. „Also wärst du so freundlich wirst etwas konkreter?" Mein Inneres sträubt sich und das zeigt sich auch nach außen. „Ich bekomme komische Nachrichten." Ich schließe meine Augen, seufze deutlich und wiege jedes Wort hin und her bevor ich es ausspreche. Moore unterbricht mich nicht. Er bedrängt mich auch nicht. „Anrufe, ohne dass jemand etwas sagt. Zettel mit seltsamen Daten. Ich habe einen Ausschnitt meines Verhörs bekommen. Ich dachte, meine Akte sei unter Verschluss." „Das ist sie auch." „Und wer bitte kommt da noch alles ran? Anwälte? Polizisten?" „Hüte dich! Ich hätte den Verstoß gegen deine Bewährungsauflagen schon längst melden können und habe es nicht getan. Das du mir solche Machenschaften überhaupt zu traust!" Ihm traue ich alles zu. Doch ich spreche es nicht aus. „Sie sitzen trotz Ruhestand in einem unbequemen Mietwagen und bespitzeln mich. Das nenne ich dezent verbissen." „Verbissen? Ich bin gründlich." „Der Fall ist abgeschlossen!" „Das ist er erst, wenn ich es sage..." „Nein, kein bisschen verbissen", spöttele ich. „Dann sagt endlich die Wahrheit! Alle beide!", bellt er angestachelt. Ich lege mir den Arm vor den Bauch. Es ist frustrierend. „Um Himmelswillen, Eleen. Tue dir selbst den Gefallen und halte dich von Richard fern. Seine Versuche Widerspruch gegen das Kontaktverbot einzulegen werden fruchtlos sein, denn er wird es nicht schaffen das Verbot aufzuheben. Sybilla Paddock wird..." „Er hat Widerspruch eingelegt?", frage ich verwirrt. „Das hat er dir nicht gesagt?" Ich schüttle nur mit dem Kopf und sehe auf meine Hände, die mit einem mal nicht mehr regungslos sind. Mit der Fingerbeere streiche ich mir über die Nagelkanten der anderen Finger. An einer gespaltenen Stelle fange ich an rum zu knibbeln. Mir wird mit einem Mal eiskalt. Vielleicht weiß seine Mutter wirklich darüber Bescheid. „Schon letzte Woche. Richard kümmert sich einen Scheiß darum, dass das nach hinten losgehen kann und du direkt zurück in den Knast gehst. Er denkt nicht über die Konsequenzen nach." Ich denke an Ricks unbedachte Äußerung heute Morgen und auch vorhin am Telefon. Unbewusst weiche ich Moores Blick aus. „Hör zu, Sybilla Paddock hat zwar ihm die Leitung der Firma übergetragen, aber sie mischt noch immer mit und wird es herausbekommen. Wenn auch nur einer seiner Mutter gegenüber erwähnt, dass ihr euch wieder seht, dann stehen sofort zwei Beamte vor deiner Tür. Sie hat ihre Mittel und Wege. Das weißt du." „Sie hat keine Beweise. Nur weil er das Kontaktverbot beenden will, heißt es nicht, dass wir uns sehen." Ich klinge wenig überzeugt. Erst Moores Hand an meinem Arm lässt mich aufblicken. "Das überzeugt dich doch selbst nicht!", bellt er und schnalzt mit der Zunge. Danach nimmt er einen weiteren tiefen Zug von seiner Zigarette. „Woher wissen sie das Alles?", frage ich leise. „Ich bin ein guter Polizist!" Stolz schwimmt in seiner Stimme. Er geißelt mich. „Waren", kommentiere ich flapsig und erinnere mich an seine eigene deutliche Klarstellung beim letzten Aufeinandertreffen. „Hör auf mit dieser Korinthenkackerei", fährt er mich an und ich fühle mich wieder, wie der 17-jährige Junge, der mehrere Stunden im Verhörraum bearbeitet wurde und das obwohl ich sofort geständig war. „Eleen, tu dir endlich selbst den Gefallen und sage dich von Richard los. Egal, was er dir verspricht, es wird nicht dazu kommen. Ihr habt keine gemeinsame Zukunft und ihr hattet sie nie." Seine Worte schneiden sich durch meinen Körper. Mein Herz möchte ihm entgegen rufen, dass wir uns lieben und dass wir es schaffen werden, doch mein Verstand stimmt ihm zu. Es hat noch nie gut für uns ausgesehen. Wir bedienen ein Klischee. Unterschiedliche gesellschaftliche Stellungen. Völlig verschiedene familiäre Situationen. Wir sind zwei Männer und dazu kommt dieses verzweifelte Verbrechen. Doch die Liebe, die ich für Rick empfinde, ist so stark, dass ich nicht darüber nachdenken will, dass wir keine gemeinsame Zukunft haben. Noch immer umfasst Moores Hand meinen Arm. „Eleen,...", setzt er an, doch ich unterbreche ihn. „Sie liegen falsch", sage ich, öffne die Beifahrertür und steige aus. Ich höre, wie er seufzt. „Warte kurz. Es mag sein, dass ich nicht verstehe, was das zwischen euch ist, aber ich kenne Menschen wie Richard Paddock und ich bezweifele, dass er sich für dich entscheiden kann, wenn es darauf ankommt." Ich schließe die Wagentür und gehe ohne noch einmal zurück zu sehen über die Straße. Meine Glieder sind taub. Ich fühle mich leer. Als ich wieder hochkommen, bleibe ich eine Weile vor der Tür stehen. Mein Blick wandert zum Türknauf und dann zum Schloss. Ich starre es eine ganze Weile an und dann spüre ich, wie das Verstehen einsetzt. Mein Herz stolpert. Das Schloss ist unangetastet. Kein Kratzer. Keine Schramme. Nichts. Das ist mir vorhin gar nicht aufgefallen. Die Spitze meines Zeigefingers wandert über die Rundung des Zylinderschlosses. Keine Einbruchsspuren. Ich ziehe den Schlüssel aus meiner Hosentasche. Der metallische Gegenstand liegt schwer in meiner Hand und das obwohl er kaum etwas wiegt. Wer auch immer in meiner Wohnung gewesen ist, hat einen Schlüssel benutzt. Kapitel 17: Gegen Vernunft und Verstand --------------------------------------- Kapitel 17 Gegen Vernunft und Verstand Mit einem schwelenden flauen Gefühl in meinem Bauch betrete ich die Wohnung. Ich werde den Vermieter darum bitten müssen, mir ein neues Schloss einzubauen. Ein verlorengegangener Schlüssel sollte als Grund ausreichen. Ich nehme auch in Kauf, dass mich das Ganze Geld kostet. Meine Finger zittern, während ich die Tür abschließe. Ich lasse das Schloss zweimal klicken und rüttele an der Klinke. Nichts bewegt sich. Es gibt wirklich keine Beschädigung an der Tür. Sie sitzt fest im Türrahmen. Ich wiederhole das Ganze. Diesmal zu meiner eigenen Beruhigung. Den Schlüssel lasse ich stecke, damit ein mögliches Aufschließen von außen blockiert wird. Wie ist er nur an meinen Schlüssel gekommen? Zusätzlich hänge ich die Türkette ein, aber das beunruhigte Gefühl in meiner Brust nimmt nicht ab. Doch es reicht nicht. Schnell bin ich im Wohnzimmer, greife mir einen der Stühle und klemme ihn im Flur zwischen Türklinge und Boden ein, so dass man die Tür von außen schlechter aufbekommt. Meine Konstruktion sitzt. Meine innere Aufregung nimmt nicht ab. Mein Blick wandert durch den Flur. Noch immer liegen ein paar der Unterlagen rum. Die Einkäufe stehe gegen die Wand gelehnt im Türrahmen zur Küche. Ich verstaue als erstes den Einkauf im Kühlschrank. Hunger habe ich keinen mehr. Danach sammele ich die letzten Blätter ein und lege sie mit den anderen Papieren auf den Esstisch im Wohnzimmer. Mir fehlt die Energie, um sie jetzt einzusortieren und wegzupacken. Die Stille um mich herum frisst mich auf. Ich sehe mich wieder und wieder um. Ich fühle mich unwohl und extrem verunsichert. Angst, ich habe wirklich Angst. Noch immer verstehe ich die Motive nicht. Was bezweckt derjenige mit diesen Spielchen? Will er mich zurück ins Gefängnis bringen? Aber dafür hat er längst genügend Beweise um das unumstößlich in die Wege zu leiten. Geht es ihm nur darum, mir Angst zu machen? Das hat er geschafft. Ben ich in Gefahr, wenn derjenige wirklich einen Schlüssel zu meiner Wohnung hat? Was soll ich tun? Mein Kopf ist schwer und ich lasse mich ermattet auf die Couch fallen. Ich sehe zum Festnetztelefon, welches munter vor sich hinblickt. Die Sperre in meinem Kopf verhindert, dass ich danach greife und mir die Nachricht des ABs anhöre. Ich ertrage heute nicht noch mehr. Auch das Handy schalte ich aus und lege es auf die Kommode im Flur. Diese Nacht schlafe ich auf der Couch. Eigentlich schlafe ich kaum. Jedes noch so kleine Geräusch lässt mich aufschrecken. Selbst meine eigenen unruhigen Füße. Bevor ich am nächsten Morgen zur Arbeit gehe, sehe ich doch auf das Telefon. Zögernd ergreife ich es. Die Nachricht ist von Ewan. Er hat mich gestern nicht erreicht. Mein pulsierender Herzschlag normalisiert sich, aber nicht so sehr, wie ich es mir erwünschte. Die gesamte Fahrt über höre ich nichts anderes als meinen dröhnenden Puls in den Ohren. Ich spüre, wie sich die Vene an meinem Hals fest und nachgiebig im selben Takt gegen meine Haut drückt. Mein Blut rauscht durch meinen Körper, wie ein durch heftige Regengüsse angeschwollener Fluss, der sich durch schmalen Gebirgsengen windet. Reißend und rauschend. Es vermischt sich mit den Rattern und Klacken der Schienen zu einem eigenartigen Lautkonzert. In der Umkleidekabine greife ich nach meinem Handy und wähle die Nummer meiner Hausverwaltung. Es dauert Ewigkeiten bis jemand rangeht. Doch irgendwann höre ich eine ältere Dame, die mir freundlich erklärt, dass zurzeit keiner der Verantwortlichen im Haus ist. Ich habe es nicht anders erwartet. Es ist noch zu früh. Trotz allen Widerstandes erkläre ich ihr den Sachverhalt und bitte letztendlich darum, dass sie eine Notiz schreibt und dafür sorgt, dass man mich zurückruft. Das unbefriedigte Gefühl bleibt und verschwinden den gesamten Tag über nicht. Es begleitet mich, wie ein mahnender Schatten, der mit jeder vergehenden Minute Schauer durch meinen Körper schickt. Ich habe das Gefühl bis zum Feierabend nichts geschafft zu haben. Hunderte Dinge sind angefangen, aber nichts beendet. Selbst ein Mittagessen vertilge ich nur zu Hälfte und stehe auf um mich ein paar Minuten später am anderen Ende des Gebäudekomplexes wiederzufinden ohne zu wissen, was ich hier wollte. Ich kann kaum einen Gedanken greifen. Noch kann ich ihn halten. So etwas passiert mir selten. Es ist im höchsten Maß verdrießlich. Zum Feierabend hin schließe ich meinem Spind, lasse das Vorhängeschloss sachte gegen das Metall prallen und lehne meine Stirn gegen die Tür. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich will nicht in die Wohnung. Zu Richard kann ich nicht. Und nirgendwo sonst hin. Ein weiteres Mal wähle ich die Nummer meiner Hausverwaltung, weil sich bisher noch niemand bei mir gemeldet hat. Wieder klingelt es eine gefühlte Ewigkeit und erneut meldet sich die ältere Dame. Ich verkneife mir ein Murren, um sie nicht zu verärgern. Als ich nach einigen Hin und Her endlich einen Verantwortlichen am Apparat habe, bekomme ich nur gesagt, dass frühestens am Montag ein Hausmeister vorbeikommen kann. In meinem Magen bildet sich sofort ein flaues Gefühl. Ich erfrage, ob ich es selbst machen könne, doch er verneint es vehement. Auch jede andere Möglichkeit, die ich nicht mal benenne, schlägt er aus. Die anderen Kollegen sind mittlerweile alle gegangen und so bleibe ich auf der schmalen Holzbank vor meinem Spind sitzen. Es ist ruhig und die sonst so herbeigesehnte Stille umfängt mich mit Ernüchterung. Auch hier lausche ich jedem einzelnen Geräusch. Es sind etliche mehr als in meiner Wohnung. Ein Summen. Ein Rumpeln, welches aus der Wand zu kommen scheint. Und nach einer Weile höre ich sogar ein feines Trillern und Fiepen. Irgendwo muss etwas undicht sein. Ich schließe die Augen und ein feines, aber bezeichnendes Seufzen flieht von meinen Lippen. So unsicher fühlte ich mich schon lange nicht mehr. Nichts scheint klar und alles rinnt mir durch die Finger, wie Sand durch einen zu großen Trichter. Aber das Schlimmste ist, dass ich nun sogar meiner eigenen Wohnung beraubt wurde. Was soll ich nur tun? Was kann ich machen? Meine Fragen finden keine Antworten. Jedenfalls habe ich selbst keine. Die Vorstellung in meine Wohnung zurückzukehren und allein dort zu bleiben, beängstigt mich mehr als ich mir zu Beginn eingestehen wollte. Trotzdem ziehe ich meinen Rucksack aus dem Schrank und schließe ab. Vor dem Fahrstuhl bleibe ich stehen und statt aus dem Nebeneingang zu verschwinden, nehme ich die Treppe nach oben. Ich finde mich wenige Minuten später in der dritten Etage wieder. Ich klopfe ohne zu zögern an die Bürotür, öffne sie und blicke in Kaleys verwunderte Augen. Vor ihr liegt ein Berg von Papieren und sie ist umsäumt von Ordnern. „Hey, was machst du noch hier?", fragt sie überrascht, aber freudig. „Hi,...ähm..." Mein Blick schweift durch den Raum, zu dem leeren Schreibtisch der Sekretärin und zur Tür, die zu dem Büro des Chefs führt. Ein Schatten. Barson ist also ebenfalls noch da. „Alles okay? Du siehst etwas blass aus. Hat sich Steven schon wieder etwas geleistet?" Sie steht auf und kommt auf mich zu. In ihren dunklen Augen spiegelt sich Sorge. „Nein! Nein, nichts dergleichen. Steven lässt mich bisher in Frieden. Ich wollte dich etwas..." Bevor ich ausreden kann, geht die Tür zum Büro auf und der heraustretende Chef unterbricht mich. „Kaley, Sie können..." Er bricht ebenfalls ab als er mich sieht. Kaleys Schultern straffen sich. Der adrette, große Mann ist eine wahrhaftige Erscheinung. Das denke ich mir jedes Mal wieder. Außerdem ertappe ich mich dabei, darüber nachzudenken, dass für gewöhnlich solche Männer Affären mit ihren Assistentinnen haben. Innerlich schelte ich mich für diese klischeehafte Vorstellung. Kaley ist gar nicht der Typ dafür. Rein äußerlich würden sie aber das perfekte Pärchen abgeben. Seinen Erfolg sieht man ihm an und dennoch wirkt er nicht arrogant. Vielen bin ich begegnet, denen ihre Hochnäsigkeit schier aus allen Körperöffnungen tropfte. Sybilla Paddocks Anwälte gehörten in diese Kategorie und auch einige von Richards damaligen Schulfreunden. Ich habe nur ein paar Mal Freunde von ihm getroffen. Einmal zu seinem 16. Geburtstag. Seine Mutter schmiss für ihn eine Geburtstagsfeier. Im Grunde war es mehr eine profilierende, gesellschaftliche Konvention, die es zu erfüllen galt, denn sie lud neben Schulfreunden auch deren einflussreichen Eltern ein. Richard war wenig begeistert, denn für gewöhnlich trafen wir uns am See, teilten uns ein Törtchen oder Muffin und sahen dabei zu, wie die Sonne im See verschwand. Ein Ritual, das besonders mir gefiel, weil ich selbst nie Geburtstage feierte und die Zeit mit Rick immer das Schönste für mich war. Er bekniete mich lange ihn zu begleiten. Ich wollte nicht. Ich war so schon nicht im Hause Paddock willkommen und war es zu einem gesellschaftlichen Event erst recht nicht. Rick ließ sich nicht beirren und ich konnte ihm selten etwas abschlagen. „Kann ich noch etwas für Sie tun?", fragt Kaley freundlich und reißt mich aus den Gedanken. Auf ihren Lippen ein schönes, aber etwas aufgesetztes Lächeln. „Nein, ich wollte Sie gerade nach Hause schicken. Ich denke für heute haben wir genug geschafft. Der Papierkram kann warten..." Er wirft einen Blick auf die Uhr und sieht dann wieder zu mir. „Möchten Sie zu mir?", fragt er und mustert mich. Ich trage noch immer die hausinterne Arbeitskleidung. Er erkennt mich, auch wenn wir uns nur dieses eine Mal kurz im Gang gesehen haben. „Nein", sage ich lapidar und sehe zurück zu Kaley. Barson nickt und sieht ebenfalls zu seiner Assistentin. In seinem Büro klingelt ein Telefon. Nun reißt er sich los, betont noch einmal, dass Kaley ruhig nach Hause gehen kann und verschwindet mit einem einfachen Gruß zurück in sein Bürozimmer. „Das war mal wieder seltsam", kommentiert Kaley leise, nachdem sich die Tür schließt. Sie lächelt mir zu und ich versuche es zu erwidern. Ich bin mir nicht sicher, ob es gelingt. „Er hat sich sicher nur darüber gewundert, wie ich es geschafft habe, aus dem Keller zu kommen. Ja, wir Kellerexemplare habe Daumen und können Knöpfe drücken", erwidere ich trocken und sehe auf die geschlossene, massive Holztür. Die schöne Assistentin beginnt zu kichern. Wieder sehe ich deutlich ihre herrlichen weißen Zähne. „Du tust ihm ja schon ein klein wenig Unrecht.", verteidigt sie ihren Chef. Amüsiert ist sie dennoch. „Ach ja? Sein Blick meinte etwas anderes." Ich kenne solche Blicke nur zu gut. Kaley lacht nun laut und schüttelt ihren Kopf. „Okay, was ist los?", fragt sie und bleibt vor mir stehen. Ihre Hand greift an meinen Arm. Ich zucke wieder etwas zusammen, auch wenn ich es nicht möchte. Sie merkt es, doch sie weicht nicht zurück. „Kaley, ich möchte dich um etwas bitten... ähm..." Sie erwidert nichts, sondern sieht mich einfach nur auffordernd an. Ich bekomme Gänsehaut und spüre Unsicherheit. Im Augenblick bin ich mir nicht sicher, worum genau ich sie eigentlich bitte möchte. „Ich...kann heute Nacht nicht in meiner Wohnung bleiben und... und..." Ich blicke auf meine Hände. Meine Finger haben begonnen, sich ineinander zu verknoten und zu verdrehen. Warum fällt es mir so schwer? Ein leise Knacken und ich lasse mein Hand sinken. Im Grunde ist mir nicht klar, warum ich gerade zu Kaley gehe. Wahrscheinlich weil sie der einzige Mensch neben Rick ist, den ich in dieser Stadt kenne und um sowas bitte kann. Während ich noch immer vor mich hinstammele und versuche ihr zu erklären, was ich eigentlich möchte, fasst sie meinen Arm fester. Die andere greift nach meiner Hand. „Du brauchst einen Platz zum Schlafen?" Ihre langen, schmalen Finger berühren meine Handfläche und die berührte Stelle kitzelt sanft. Ein Lächeln bildet sich auf ihren Lippen und ich merke, wie ein klein wenig Nervosität aus meinem Körper weicht. Ich nicke bestätigend. „Ich habe eine bequeme Couch und sie gehört für die Nacht ganz dir." Ein weiteres Mal drückt sie meine Hand. „Dankeschön", erwidere ich leise, bin erleichtert und werde trotzdem dieses unbehagliche Gefühl nicht los. Bringe ich sie in Gefahr? Auf dem Weg zum Ausgang klingelt mein Handy. Ich stelle es auf lautlos und sehe einen Moment dabei zu, wie mir Richards Nummer entgegen leuchtet. Seit gestern Abend habe ich mich nicht noch mal bei ihm gemeldet. Schreiben möchte ich ihm nicht. Er macht sich sicher sorgen. Wir fahren keine 15 Minuten und gehen direkt auf einen der gläsernen Giganten zu, die eine besonders prägnante Skyline der Stadt malen. Ich komme nicht umher, kurz stehen zu bleiben und die Fassade hinauf zu starren. Ein Penthouse- und Apartmentgebäude, welches von unserer Firma betreut wird. Kaley lächelt verlegen, als sie beim Pförtner ihre Nachrichten erfragt. Er verneint und wir fahren gemeinsam in die 8. Etage. Edles und hochwertiges Design, egal, wo ich hinsehe. Kein Vergleich zu dem maroden Altbau, in dem ich lebe. Ich denke darüber nach, wie wohl die Heizungsanlage aussieht. Wahrscheinlich das Neuste vom Neuen. Ist es seltsam, dass ich mir darüber Gedanken mache? Für mich ist es mehr ein Abwehrmechanismus, denn wenn ich über technische Dinge nachdenke, dann brauche ich mir keine Gedanken darüber machen, was Kaley wohl von mir hält. Unbewusst sehe ich zu der jungen schönen Frau und frage mich trotzdem, was sie in diesem Augenblick denkt. Eigentlich bin ich ein Fremder und handle selbst vollkommen unüblich. Ich möchte nicht, dass es ihr unangenehm ist. Die Fahrstuhltür öffnet sich. Ich könnte einfach stehen bleiben und wieder runterfahren. Aber ich Folge ihr bis Kaley die Tür zu ihrer Wohnung öffnet. „Barson stellt mir diese vier Wände zur Verfügung. Meine Familie hat wenig Geld und ich zahle noch immer meinen Studienkredit ab. Und er möchte mich in seiner Nähe haben", sagt sie erklärend und scheint meine neugierigen misszuverstehen. Es klingt fast nach einer Entschuldigung. Dabei bin ich der Letzte, der wertet. Sie zieht ihre Schuhe aus und ist trotzdem noch ein paar Zentimeter größer als ich. Sie streckt noch im Flur ihre Arme in die Höhe und lässt ihren Kopf kreisen. Dazu ein erleichtertes Ausatmen. Ich bin fast neidisch als ich ihr dabei zu sehen, wie es genießt nach Hause zu kommen. „Mach es dir gemütlich." Kaley deutet auf die Couch und fummelt sich die Kette von ihrem Hals, während sie in ein anderes Zimmer geht. Ich sehe ihr nach und folge nach dem ich sorgsam meine Schuhe neben die Wohnungstür gestellt habe. Dem Flur schließt sich schnell ein geräumiges Wohnzimmer mit offener Küche an. Offene Räume und gigantisch große Fenster, die sich vom Boden fast bis zur Decke ziehen. Ihr Einrichtungsstil ist modern, fast etwas kühl, aber hier und da kann ich warme Kleinigkeiten entdecken. Postkarten mit den verschiedensten Motiven. Teelichthalter und Kerzen. Ich sehe eine Gliederpuppe, die ein selbst gehäkeltes Kleid trägt und eine Tanzbewegung macht. Daneben ein paar abgenutzte Ballettschuhe. Unbewusst suche ich nach Fotos, die eine tänzerische Laufbahn meiner Arbeitskollegin andeuten. Nichts. Danach wende ich mich der Aussicht zu und verschränke locker die Arme vor der Brust. Ich stehe auch manchmal bei der Arbeit in den oberen Etagen und schaue einfach raus. Es hat für mich etwas Beruhigendes. „Der Ausblick ist der Wahnsinn, oder?" Sie bleibt neben mir stehen und ich bestätige ihre Annahme. Sie hat sich umgezogen und ihre langen schlanken Beine stecke in einer gemütlichen Stoffhose, darüber eine luftige Bluse mit einem großen quadratischen Muster. Sie wirkt noch immer, wie aus einem Designerkatalog. Nur ihr Lächeln ist hübscher. „Glaubst du mir, wenn ich dir sage, dass mir ein niedliches kleines Cottage auf dem Land lieber wäre?" Ich sehe Kaley an, während sie aus dem großen Fenster schaut. Im gegenüberliegenden Gebäude gehen zeitgleich ein paar Lichter an. Sie seufzt. Sie, in einem kleinen Haus auf dem Land, kann ich mir wirklich nur schwer vorstellen. „Möchtest du etwas trinken?", fragt sie mich. „Ein Wasser vielleicht. Vielen Dank." Als sie aus der Küche zurückkehrt, setze ich mich auf das Sofa. Ich sinke tief ein, verwundert halte ich mich an der Seitenlehne fest. Kaley kichert. „Im ersten Moment etwas ungewohnt", sagt sie lächelnd. Etwas ist gut. Ich bin garantiert einen halben Meter in den Stoff gesackt und das bei meiner Statur. Ich versuche das Lächeln zu erwidern und bin nicht sehr erfolgreich, das sehe ich an ihrem Gesicht. Sie schenkt mir einen Blick, den ich nicht deuten kann. Ich lehne mich vorsichtig zurück in das weiche Kissen, sehe auf meine Hände, die nutzlos auf meinem Schoss liegen und beginnen sie erneut ineinander zu verweben. Ein leises Knacken. Diesmal höre ich nicht auf, sondern merke, wie meine Verknotungen nur noch schlimmer werden. „Du fühlst dich in meiner Nähe unwohl, warum?", fragt sie leise. Ich blicke sie überrascht an. Sie hat meine Haltung völlig falsch verstanden. „Nicht unwohl, eher unsicher. Aber falls es dich beruhigt, es liegt daran, dass ich mich auch in meiner eigenen Haut nicht wohlfühle... also...", erkläre ich und versuche es zum Ende hin durch Witz abzumildern. Einzig bei Richard ist es anderes. „Aber das musst du doch gar nicht." Kaley setzt sich seitlich hin, lehnt sich an die Rückenlehne und stützt ihren Arm darauf ab. "Ich dachte immer, ich habe eine ganz gute Menschenkenntnis, aber du bist mir immer noch ein Rätsel. Ein kleines, aber ein Rätsel", sagt sie lächelnd und meint keines ihrer Worte in irgendeiner Form abwertend. Und sehe ich verlegen zur Seite. „Hast du Probleme?", erkundigt sie sich nach einem Moment des Schweigens. Ich sehe auf, direkt in ihre dunklen, intensiven Augen, die nichts weiter als Ehrlichkeit von mir erwünschen. Schöne braune Augen werden noch mal mein Untergang. „Irgendwie schon", gestehe ich leise und ehrlich. Ich würde gern mehr vertrauen, aber es ist nicht so einfach. Ihre Wange bettete sich in ihre Handfläche und sie zieht die Beine grübelnd auf die Sitzfläche. „Möchtest du darüber reden?", fragt sie, wie erwartet. Ich atme geräuschlos tief ein. Ich habe ihr schon einmal erklärt, dass ich sie ungern mit hineinziehen möchte. Das ist noch immer so. Ich bin ihr dankbar für die Hilfe, aber ich werde ihr nichts sagen. Als sie merkt, dass ich mit meiner Antwort hadere, schließt sie kurz die Augen und versucht die Enttäuschung zu überspielen, in dem sie nach einem der Gläser auf den Tisch greift. "Du musst nicht." „Ehrlich gesagt, möchte ich einfach nur schlafen, wenn das okay ist?", gestehe ich. Sie mustert mich einen Moment und nickt. Ein Lächeln legt sich auf ihre Lippen, welches mich extrem erleichtert. „Okay. Ich suche dir ein Decke und ein Kissen raus. Dort drüben ist das Bad." Sie deutet hinter sich und ich nicke. Nachdem sie in ihrem Schafzimmer verschwunden ist, stehe ich auf und verschwinde zur Toilette. Eine Katzenwäsche und ich zwinge mich dazu, meine Zahnbürste nicht zu vermissen. Es ist nur eine Nacht und trotzdem gleitet meine Zunge andauernd über meine Zähne. Zurück im Wohnzimmer hat mir sie ein Bett gezaubert. Sie schüttelt ein letztes Mal das Kissen auf, legt es sorgsam auf die eine Seite der Couch, streicht die Decke glatt. Ihre Fürsorge erwärmt mein Herz. Kaley lächelt, als sie merkt, dass ich sie beobachte und kommt auf mich zu. „Hast du alles gefunden?" Ich nicke. „Sehr gut, wenn noch etwas ist, weißt du wo du mich findest, okay? Oh, ich hab auch noch eine Ersatzzahnbürste, wenn du möchtest!" „Liebend gern!" Ich folge ihr noch einmal ins Badezimmer und sie sucht mir die Zahnbürste aus dem Waschbeckenunterschrankheraus. Erneut legen sich ihre schlanken Finger an meinen Arm. Diesmal zucke ich nicht zurück. „Wirklich vielen Dank." „Sehr gern." Ihre Hand wandert an meine Wange. Sie ist warm und sanft. Ihr Daumen streicht leicht über mein stoppeliges Kinn. „Schlaf gut." Damit verschwindet sie in ihrem Schlafzimmer. Ihre Tür lehnt sie nur an. Ich bleibe noch einen Augenblick stehen, putze mir die Zahne, bevor ich mich hinlege und sehe ein letztes Mal auf mein Handy. Mehrere Anrufe in Abwesenheit. Ich habe ein flaues Gefühl in der Brust und spüre sogleich die ungeheure Sehnsucht nach dem anderen Mann, der so dringlich versucht mich zu erreichen. Er macht sich sicher Sorgen, denn ich habe mich seit dem Einbruch nicht noch mal bei ihm gemeldet. Die Furcht, dass er blind und unbedacht vor meiner Wohnung auftaucht und damit Moore oder dem Einbrecher in die Hände spielt, behagte mir nicht und tut es auch jetzt noch nicht. Er, wer auch immer es ist, weiß zu viel über Richard. Sein Geburtsdatum. Die Bilder seiner Tochter. Auch sie war in Gefahr. Die Tatsache, dass derjenige so viel über uns weiß, verursacht mir extreme Magenschmerzen. Es ist jemand aus unserer Nähe, dessen bin ich mir mittlerweile sicher. Doch wer ist es? Es gibt zu wenige personelle Schnittmengen zwischen mir und Richard. Nur unsere Familien und noch immer bin ich der Überzeugung, dass es nicht Richards Mutter ist, denn sie hätte nichts von diesen Spielchen. Doch wer ist es dann? Es ist Besorgnis, die mich schauerartig durchfährt. Richard darf nichts passieren. Am Morgen bin ich wieder vor dem Weckerklingeln wach. Es ist gut, denn so kann Kaley noch weiter schlafen, da sie viel später auf Arbeit erscheinen muss als ich. Ich räume das Bettzeug zusammen, trinke noch ein Glas Wasser und hinterlasse ihr eine dankee Nachricht. Unterwegs kaufe ich mir eine Kleinigkeit zu essen und zu trinken, verschwinde dann zur Arbeit. Auch dieser Arbeitstag verläuft, wie der vorige. Ich bin unkonzentriert, fange verschiedene Dinge an und habe zum Feierabend nichts beendet. Nicht einmal die Dinge vom gestrigen Tag habe ich zu Ende gebracht. Es ist schrecklich unbefriedigend. Als ich mir sicher bin, dass keiner meiner Arbeitskollegen mehr im Gebäude ist, stelle ich mich seit langem wieder unter die Dusche im Waschraum. Das warme Wasser auf meiner Haut ist wohltuend. Es lässt mich für einen Moment abschalten. Während ich mir den Schweiß des Arbeitstages von der Haut wasche, driften meine Gedanken zu Richard und unwillkürlich setzen sich meine Gedanken vom gestrigen Abend fort, so als hätte ich niemals aufgehört darüber nachzudenken. Ich denke an den Kerl mit der Zigarette. Erneut regt sich mein Erinnerungsvermögen, doch der entscheidende Funke bleibt aus. Woher kenne ich ihn? Was genau ist es, was mein Gehirn nicht ausspuckt? Die Ungewissheit macht mich wahnsinnig. Doch im Moment ist es vor allem Sehnsucht, die mich erfasst. Ich würde so gern Richards Körper spüren. Einfach seine Umarmung genießen. Seinen Duft einatmen und wissen, dass nichts und niemand zwischen uns tritt. Gerade jetzt, wo meinen eigenen Händen über meinen Körper gleiten, wünsche ich mir Ricks nur noch sehnlicher. Ich stelle mich wieder unter den Strahl und sehe dabei zu, wie das Wasser die Seife von meinem Körper entfernt. Schaum sammelt sich am Abflusssieb. Ich schließe meine Augen und sofort bildet sich in meinem Kopf die Vorstellung, dass Rick hinter mir steht. Seine Hände, die mich umfassen, über meine feuchte Haut gleiten. Millimeter für Millimeter ertasten. Seine Lippen an meinem Hals. Ich bekomme Gänsehaut und spüre die deutliche Erregung, die durch meinen Leib fährt. Solche Fantasien hatte ich auch im Gefängnis. Fantasien sind gut, so lange es möglich ist, dass sie wahr werden. Irgendwann verbot ich mir diese Gedanken und schob sie weit, weit von mir weg. Das sollte ich auch jetzt tun. Ich weiß, dass es besser wäre, mich von Rick fernzuhalten. Ich versuche es. Doch bereits nach zwei Tagen spüre ich dieses heftige Verlangen nach ihm. Es schwelt in meinen Körper. In verschiedenen Stellen mit unterschiedlichen Intensitäten. Vor allem mein Herz schreit nach ihm. Ich lasse meine Augen geschlossen, halte die Luft an und neige nun auch mein Gesicht unter den Strahl. Ein leises Seufzen perlt von meinen Lippen und ich schalte die Dusche ab. Ein letzter Tropfen trifft meinen Arm. Ein leises Klicken schallt durch den Raum. Ich wende mich erschrocken um und lausche. Nichts. Nur Stille. Es war niemand mehr da. Ich greife nach dem Handtuch, welches neben meinen Klamotten liegt und wickele es mir um die Hüfte. Bevor ich mich abtrockne, öffne ich die Tür zu den Umkleideräumen. Auch hier herrscht Schweigen. Wahrscheinlich höre ich schon Gespenster. Ich trockne mich ab, ziehe mich um und bleibe dann vor meinem Schrank stehen. Eine Ahnung durchfährt mich. Ich weiß nicht, was es ist, aber irgendwas ist anders. Ich stupse die Tür auf. Mit einem quietschenden Geräusch schwingt sie auf. Es sieht alles aus, wie vorher. Oder? Unbewusst sehe ich mich ein weiteres Mal um. Vielleicht werde ich wirklich langsam verrückt. Mein Herz pulsiert heftig in der Brust und der Ruf nach dieser einzigen klaren Konstante wird immer lauter. Entgegen jeglicher Vernunft steige ich nicht aus, als die U-Bahn an meiner Station hält, sondern fahre weiter. Als sich die Tür schließt, ist es, als würde sich mein Verstand abschalten. Mein Herzschlag wird schneller. Es prallt heftig gegen meinen Brustkorb und mit jedem Schlag schickt es Richards Namen durch meinen Kopf als ein suchtverzerrtes Echo. Ich brauche ihn. Vor der Tür von Richards Wohnhaus wende ich mich um. Ich kann die Straße gut überblicken. Kein schwarzes Auto. Kein Moore. Auch sonst ist niemand zusehen, außer einer alten Frau, die mit ihrem Rollator den Gehweg entlang schleicht. In dem Körbchen liegt ihr Einkauf. Äpfel. Kartoffeln und ein Gemüse, welches ich nicht benennen kann. Erst als die alte Dame auf meiner Höhe ist, wende ich mich ab und wieder der Tür zu. Sie geht plötzlich auf. Ich weiche zurück. Eine junge blonde Frau kommt mir entgegen. Sie hält mir lächelnd die Tür auf und ich spüre, wie mein Herz durch die unerwartete schnelle Öffnung heftiger zu marschieren beginnt. In der letzten Zeit habe ich dieses seltsame Gefühl in meiner Brust öfter. Mein Herz scheint nicht mehr zu schlagen. Kein gleichmäßiges Bubbern und kein eindeutiges Pochen. Es scheint zu eine vibrierenden, rasenden Masse zu verwachsen, die mir die Möglichkeiten zum Atmen raubt. Unbewusst legt sich meine Hand gegen meine Brust und ich blicke den dunklen Treppenaufgang hinauf. Es ist nur ein paar Tage her, dass ich hier gewesen bin. Langsam gehe ich hinauf und bleibe vor Richards Tür stehen. Ich ziehe mein Handy aus der Tasche und erschrecke erneut vor der Anzahl an Anrufen, die mittlerweile auf meinem Display erscheinen. Sie sind alle von Rick. Nachdem ich mit zu Kaley gegangen bin, habe ich es auf lautlos geschaltet und habe es den Tag über vergessen wieder zu ändern. Er wird verdammt sauer sein. Ich fürchte mich vor seiner Reaktion, denn ich weiß, dass es vor allem Enttäuschung ist, die sie ausdrücken wird. Ich entscheide mich dafür im Vorfeld bei ihm anzurufen. Vielleicht ist er gar nicht zu Hause. Vielleicht ist er nicht sauer. Ein winziger Funken, doch schnell erlischt er, weil es unwahrscheinlich ist. Ich betätige den grünen Hörer und lasse es klingeln bis er rangeht. „Hey", sage ich, nachdem sich am anderen Ende niemand meldet. „Hey? Ist das dein Ernst, Eleen? Hey? Verdammt noch mal...", schmettert er mir durchs Telefon entgegen. Er ist wirklich sauer. „Rick, es tut mir...", versuche ich ihn zu unterbrechen, doch er lässt mich kaum zu Wort kommen. „Ich habe hunderte Mal angerufen und du hast mich ignoriert. Verdammt, ich habe dir gesagt, dass du das lassen sollst. Du weißt, wie verrückt es mich macht...." „Ja, ich weiß, aber du..." „Aber was? Ich habe mir verdammt noch mal Sorgen gemacht." „Ich weiß,...", murmele ich. „Ich habe die ganze Zeit gedacht dir wäre etwas passiert!" Noch mehr Nachdruck. Mein schlechtes Gewissen wird immer schlimmer. „Du hättest...", setzt er an. „Hör auf,...", sage ich laut und zwinge ihn damit Luft zu holen. Er schweigt tatsächlich. „Ich konnte nicht zulassen, dass du zu mir kommst...", sage ich letztendlich und seufze leicht, als mit einem Mal die Tür aufgerissen wird. Richard steht vor mir. Augenblicklich rutscht das Handy von seinem Ohr. Ich reagiere nicht so schnell. Er macht einen Schritt auf mich zu. Mein Blick haftet auf seinem Gesicht, nimmt jede Regung und jede noch so winzige mimische Veränderung wahr. Überraschung und Erstaunen. Erleichterung. Seine Hand gleitet in meinen Nacken und er zieht mein Gesicht in seine Halsbeuge. Ricks Lippen berühren meinen Hals. Danach meine Schläfe. Als er sich komplett zurückzieht, legen sie sich ein letztes Mal hauchzart an meine Stirn. Ich halte meine Augen geschlossen. Doch als ich sie öffne, sehe ich die Veränderung, die sich in seine Miene spiegelt. Wut und Verärgerung. Fast Zorn. „Spinnst du, Eleen? Wie kannst du mir das antun? Rufst mit so eine Hiobsnachricht an, legst einfach auf und meldest dich dann zwei Tage nicht." Ricks Stimme verdeutlicht seine Aufgebrachtheit. Die kleine Falte auf seiner Stirn wird immer tiefer. Ich lasse die Schimpftirade stillschweigend über mich ergehen, weil er Recht hat. Als er fertig ist, streicht er sich mit der Hand durch die Haare und lässt sie einen Moment über seinen Augen liegen. Ein feines Seufzen. Er klingt geschafft. „Du bist wirklich ein...", entfährt es ihm nach einer kurzen Pause und ich bin mir sicher, dass der Wortschwall gleich weitergeht. „Es tut mir Leid", sage ich ihn unterbrechend. Richard stockt und sieht mich an. „Arrghn, du machst mich echt fertig", knurrt er, kommt auf mich zu und zieht mich zurück in seine Arme. Sie legen sich fest und beschützend um mich. Sofort schließe ich meine Augen, lasse mich in die Umarmung fallen und schlinge nach einem Moment reinem Empfangen meine Arme um seine Taille und lasse ihn gleicher maßen spüren, wie sehr ich ihn brauche. Rick murmelt weitere Worte der akuten Fassungslosigkeit, lässt mich aber nicht los. Sehnsucht und Glück erfassen mich, hüllen mich in einen Kokon der allumfassenden Liebe. Irgendwann stupst er die Tür an und sie fällt ins Schloss. Er löst sich von mir, sieht mich an und zieht mich in die Wohnung. Es ist ein Altbau mit hohen Decken und Stuckverzierung. Wirklich schön. Rick führt mich weiterhin in den Flur. Ich trete auf etwas Hartes und zucke zusammen. „Autsch,..." „Entschuldige. Ich habe noch nicht geschafft aufzuräumen." Ich bin auf eine Playmobilfigur getreten. Ein Zebra. Als ich mich umsehe, entdecke ich den restlichen Zoo. Er hebt die Figur auf und in diesem Moment vernehme ich ein leises Weinen. Seine Tochter ist also hier. Ich versteife mich augenblicklich. Richard drückt mir das Zebra in die Hand. Seine Finger sind kühl. „Warte kurz", bittet er und wendet sich dem Zimmer zu, aus dem das leise Weinen dringt. Bevor er die Tür öffnet, bleibt er stehen und sieht mich an. Seine Hand hebt sich und er deutet mahnend mit dem Finger auf mich. „Wehe, du haust wieder ab!" Ich schlucke unmerklich. Als er wieder kommt, hat er seine Tochter auf dem Arm. Erneut schmiegt sie ihr lockiges Köpfchen gegen seinen Hals. Ihre knubbeligen Finger umgreifen ein Kuscheltier. Ein runder knallroter Marienkäfer. Mein Herz wird schwer. Ihr süßer Anblick zerfetzt es und auch die kleinen, liebevollen Gesten meines Kindheitsfreundes lassen die Bruchstellen zusätzlich brennen. Seine Lippen hauchen sich gegen ihren Kopf. Er flüstert und bleibt dann vor mir stehen. Kayas Augen sind geöffnet. Sie schaut mir müde, aber interessiert entgegen. „Das ist Eleen", stellt er mich vor, sieht kurz zu mir und haucht seinem Töchterchen einen weiteren Kuss gegen das Ohr. Sie richtet sich etwas auf, drückt den Käfer fester gegen ihre Brust. Ihre süßen Augen weiten sich erkennend. „Er heißt so ähnlich, wie du, mein Schatz", flüstert Rick weiter. Leise und bedacht, aber so, dass ich es höre. Ihr kleiner Finger hebt sich. Sie deutet auf mich. „Ja, du hast ihn schon mal gesehen, aber da ist er weggelaufen", sagt Rick weiter und ich spüre augenblicklich, wie mir die Tränen kommen. Das heftige Gefühl, was ich damals hatte, beschleicht mich auch jetzt. Richard so zusehen, erfüllt mich mit den unterschiedlichsten Gefühlen. Sie sind nicht nur positiv und ich schäme mich dafür. Zwei sanft braune Augenpaare beobachten mich. Eine erste Träne fließt über meine Wange und ich schniefe. Richard macht einen weiteren Schritt auf mich zu, aber wendet sich nicht zu mir, sondern stupst noch immer sanft mit seiner Nase durch Kayas Haare. „Der Papa liebt ihn ganz doll. Genauso wie dich, mein kleines Mondgesicht." Kayas Gesicht wendet sich zu ihren Papa, der seine Hand nach mir ausstreckt und mich am Nacken näher zieht. Mein Gesicht direkt in seine unbesetzte Halsbeuge. Ich bin überfordert von all den Gefühlen, die auf mich einströmen und beginne nun richtig zu weinen. Rick drückt mich fester an sich, haucht mir liebevolle Worte zu, die mein Ohr nur leise wahrnimmt. Sanftes Streicheln. Beruhigendes Murmeln. Meine Arme hängen nutzlos an mir herab. Nur mein Kopf berührt den anderen Mann, der noch immer das Kind hält. Ich rege mich erst, als ich mit einem mal eine kleine Patschehand an meiner Schulter spüre. Kaya Eleena macht die typische Ei Ei-Geste und Ricks Lippen drücken sich gegen meinen Kopf. Kapitel 18: Der schleichende Schatten der Vergangenheit ------------------------------------------------------- Kapitel 18 Der schleichende Schatten der Vergangenheit „Ist ja gut. Hör auf zu weinen, Lee", flüstert mir Rick entgegen. Ich möchte ihm so gern Glauben schenken. Keine Ängste mehr verspüren. Keine negativen Gedanken mehr hören, die mich packen und in den stillen Nächten in die tiefe Einsamkeit reißen. Ihn lieben und diese vertraute Innigkeit spüren, ist alles was ich je wollte. Ich wünsche es mir so sehr. Ein Zittern erfasst mich und Richards Arm streichelt beruhigend meinen Nacken. Ich beruhige mich nur langsam. Kaya gähnt herzzerreißend. Sie quengelt leise und ich versuche mich zusammenzureißen. Richards Berührungen werden fahrig und langsamer. Er befindet sich im Zwiespalt. Mich weiter beruhigen oder sein Töchterchen Aufmerksamkeit schenken. Seine Fürsorge berührt mein Herz jedes Mal aufs Neue. Ich mache es ihm leicht, löse mich von ihm und streiche mir die Feuchte von den Wangen. Ricks Blick ruht auf mir, doch ich erwidere ihn nicht. Als er in Kayas Zimmer verschwunden ist, sehe ich mich nach einem Taschentuch um. Ich laufe ins Wohnzimmer. Nichts. Ein kurzer Blick in die Küche, aber ich finde nicht einmal eine Rolle Küchentücher. Die nächste Tür, die ich öffne führt mich ins Arbeitszimmer. Neben einem Schreibtisch steht auch eine kleine Couch neben einem Bücherregal, in dem neben dem Gedachten auch allerhand Kram steht. Bilder in Rahmen und ohne. Ich gehe näher heran und erkenne auf einigen vor allem Richard in jüngeren Jahren. Richard mit mir Fremden aus den letzten Jahren. Studienfreunde. Ein junger Mann mit blonden Haaren. Sie haben sich gegenseitig die Arme um die Schulter gelegt. Sie grinsen. Er kommt mir bekannt vor und als ich ihn auf einigen der früheren Bilder wiedererkenne, bin ich mir sicher, dass es einer von Ricks ältesten Freunden sein muss. Ich bin ihm Mal begegnet, aber ich habe seinen Namen nicht mehr im Kopf. Ich wende mich ab und sehe mich weiter um. Bücher und Akten stapeln sich auf dem großen Schreibtisch. Vereinzelten Kisten mit Ordner stehen daneben. Ich trete näher an den Tisch. Ein Buch liegt geöffnet neben einem Laptop. Ich strecke meine Hand danach aus und ziehe es etwas zu mir heran, sehe auf den Einband. Strafrecht. Meine Finger zucken zurück. Ich verlasse den Raum und suche nun zielstrebig nach dem Badezimmer. Auch hier kein einziges Taschentuch. Nur die Feuchttücher für Kaya. Ich entscheide mich für ein paar Blätter Klopapier und trete in den Flur. Ich schrecke zusammen als mit einem Mal Richard neben mir steht. In seiner Hand eine angebrochene Packung der gesuchten Tränentrockner. Ein Lächeln liegt in seinem Gesicht, welches so liebevoll und warm ist, das es mich jedes Mal aufs Neue ein Stück verrückter nach ihn macht. „Ich weiß ja, dass du sehr genügsam bist, aber Klopapier?", entgegnet er frech und nimmt mir die Blätter aus der Hand. Bevor ich etwas erwidern kann, merke ich wie sein warmer Körper näher kommt. Der vertraute Geruch seiner Haut strömt mir entgegen und dann spüre ich diese heilenden Lippen, die die Reste meiner Unsicherheit fort tragen, wie lauer Wind die bunten Blätter des Herbstes. Unsere Vertrautheit ist wohltuend und beängstigend zu gleich. Sie ist voller wärmender Liebe und kühlender Abhängigkeit. Auch, wenn mir dieser Fakt nur allzu bewusst ist, möchte ich in diesem Moment nichts anderes spüre als seine Lippen und seinen Körper dicht an meinem. „Du darfst nicht... immer so... weinen." Die Pausen zwischen seinen Worten füllt er mit sanften Küssen. „Das bricht... mir jedes Mal... das Herz." Ein letzter Kuss und dann zieht er mich in seiner Arme. Ich weiß, dass er es nicht erträgt, wenn ich weine, aber immer Moment ist es mir einfach alles zu viel. Ich entschuldige mich nicht, lehne mich nur noch etwas mehr in die Umarmung und in die kräftigen Arme meines Kindheitsfreundes. Meine Augen sind so lange geschlossen bis Rick die Umarmung löst und nach meiner Hand greift. Ich folge ihm schweigend ins Wohnzimmer. Er deutet mir an, dass ich mich setzen soll und ich lasse mich auf das weiche riesige Sofa nieder. Ein ähnliches Gefühl, wie gestern bei Kaley. Ich sinke tief ein, höre, wie in der Küche der Wasserkocher angeht und sehe dabei zu wie Richard wenige Minuten später mit zwei Tassen dampfender Flüssigkeit zurückkehrt. „Möchtest du etwas essen?", fragt er mich und stellt die Tassen ab. Tee. Ein fruchtiger Geruch strömt mir entgegen und ich schüttele meinen Kopf, verneine das Angebot nach etwas zu essen. Rick lässt sich neben mir nieder und ich ziehe mir eine Tasse heran. Wohlige Wärme trifft meine kalten Finger und es ist im ersten Moment fast unangenehm. Ich erschnuppere einen Hauch Honig und schließe meine Augen. Schon damals brauchte Rick irgendwas in seinem Tee. Zucker. Süßstoff. Oft mehr Zucker als alles andere. Ich erinnere mich gut an die Momente, in denen ich versehentlich seine Tasse gegriffen habe. Die extreme Süße, die sich in meinem Mund ausgebreitet hatte, verursachte mir jedes Mal Zahnschmerzen. Ich schlug ihm Honig vor, doch Richard war der Überzeugung Honig würde nicht schmecken. Nichts half. Rick war nicht zu belehren, bis zu einem ungewöhnlich kühlen Sommertag, den wir zeltend am See verbrachten. Trotz mahnender Wettervorhersagen und schimpfender Eltern bauten wir unser Lager auf. Fern ab der beliebten Badestellen. Wir waren zu Stolz um uns die Kälte einzugestehen und irgendwo Zuflucht zu suchen, also machten wir das Beste daraus. Das Schönste. Tee und Kuscheln. Ich hatte absichtlich den Zucker vergessen. Rick zeterte und meckerte. Irgendwann strich ich mir etwas Honig auf die Lippen und zwang ihn so zu kosten. An dem Abend wollte er nichts anderes mehr. Die Erinnerungen zaubern ein Lächeln auf meine Lippen. Seither trank er Tee nur noch mit dem süßen Gold. Seltsamerweise mochte er seinen Kaffee schon immer schwarz. Ricks Hand legt sich auf meinen Rücken. Sie streichelt meine Wirbelsäule entlang, gleitet über mein Schulterblatt und ruht für einen Augenblick in meinem Nacken. „Deiner." Ich reiche ihm die Tasse und sehe in verblüfftes Braun. „Der Honig", ergänze ich. Ein wissendes Lächeln auf seinen Lippen. Seine freie Hand gleitet über meinen Hals, fährt die Kante meines Kiefers entlang und kommt unter meinem Kinn zum Stehen. Er neigt meinen Kopf sanft nach oben und haucht mir einen Kuss auf die Lippen. Rick rundet das Ganze mit einem verschmitzten Lächeln ab. „Ich musste mir ganz schön was einfallen lassen um zu erklären, warum das Zelt so verklebt war." Seine Augenbraue zuckt neckisch nach oben. Ich erinnere mich gut an seine Zunge, die den Honig von meinen Körper leckte. Seine Lippen, die die Süße von meinem Körper küssten. In meinen Lenden beginnt es noch jetzt zu kribbeln. Doch egal, wie gut seine orale Arbeit gewesen war, wir klebten danach entsetzlich und alles andere in dem Zelt auch. Sein Daumen legt sich über meine Mund. Ich hauche ein Küsschen darauf, doch Rick zieht mich erneut in einen richtigen Kuss. Seine Lippen schmelzen auf meinen. Er ist die Süßigkeit, die ich brauche. Auch nachdem der Kuss beendet ist, lasse ich meine Augen geschlossen. Er haucht mir einen Kuss gegen die Schläfe. „Lass uns reden, ja?", schlägt er vor und obwohl es sanft und liebevoll ist, merke ich auch, dass es diesmal kein Zurück gibt. Rick lehnt sich vor, greift nach den Tassen auf den Tisch und drück mir meine in die Hand. Ohne dass er weiter definieren muss, worüber ich reden soll, beginne ich ihm von den Geschehnissen in meiner Wohnung zu erzählen. Die Verwüstung. Die zerfledderten Papier im Wohnzimmer. Die Tatsache, dass ich glaube, dass derjenige einen Schlüssel besitzt. Richards Knie streift meins und die berührte Stelle ist herrlich warm. Seine Hand liegt die gesamte Zeit an meinem Rücken, streift hin und wieder meinen Nacken durch ein leichtes Streicheln. Erst als ich ihm beichte, dass ich bei Moore war, setzt er sich aufrecht und neigt sein Gesicht seufzend in seine Handflächen. „Ich hab ihn durch das Fenster gesehen und ihn damit konfrontiert. Er hat es natürlich abgestritten und mich angemotzt." Ich sage ihm nicht alles, was der alte Mann gesagt hat. „Glaubst du ihm, dass er es nicht wahr?", fragt er. „Ja", erwidere ich in völliger Überzeugung. Rick seufzt erneut. Er mag Moore nicht und das weiß ich, aber ich glaube wirklich, dass der ehemalige Detektiv nichts mit dem Vorkommnissen zu tun hat. Es ergebe einfach keinen Sinn. „Kann er etwas gesehen haben?" Ich sehe von meinen Händen auf, die die mittlerweile leere Tasse umklammern und immer wieder über die glatte Glasur der Keramik fahren. „Das habe ich nicht gefragt", sage ich stutzig. Möglich wäre es. Ricks Augenbraue wandern beide nach oben. „Er sitzt doch nicht die ganze Zeit da...", erwidere ich verneinend und sehe, wie mein Kindheitsfreund ein Gesicht macht, was Moore definitiv eine Geisteskrankheit attestiert. Die passende Gaga-Bewegung seiner Hand unterbinde ich, in dem ich nach ihr greife und seine warmen Finger mit meinen verschränke. Richard lächelt, hebt unsere Hände an und haucht einen sanften Kuss auf meine Fingerknöchel. „Und das mit dem Schlüssel? Wie könnte man noch an deinen Schlüssel kommen?" Ich zucke unwissend mit den Schultern. Ich trage meine Schlüssel stets bei mir, schließe ab sobald ich in der Wohnung bin. Ich sehe wieder auf die leere Tasse. „Hast du mal einen verloren? Wo ist der Ersatzschlüssel?" Sein Fragenkatalog scheint nicht zu enden. „Bei Ewan.", antworte ich. Bei der Erwähnung meines älteren Bruders runzelt sich Ricks Nase. Auch die Beiden werden nie Freunde werden. Für Ewan war Richard Quell allen Übels und Richard bezeichnete meinen Bruder gern als überheblichen Furzkopp. Ein O-Ton von früher. Diesmal sagt er aber nichts Derartiges, sondern zieht mich nur dichter an sich heran. Er nimmt mir die Tasse und stellt beide auf den Tisch ab. „Am Montag wird das Schloss ausgetauscht und bis dahin..." Rick unterbricht mich. Anscheinend hat er mir gar nicht weiter zu gehört, sondern seinen Fragenkatalog gedanklich ergänzt. „Wo hast du auf Arbeit deinen Schlüssel?" „In der Jacke im Spind. Rick, was..." Nun stocke ich selbst. Mir wird mit einem Mal eiskalt. Steven. Er war an meinem Schrank gewesen und vielleicht auch in meiner Wohnung. „Was?" Richards Hände greifen nach meinem. Er sieht mich eindringlich an. Tausende Fragen in meinem Kopf, die ich mir erst selbst beantworten muss bevor ich Rick meinen Verdacht mitteilen kann. Ich habe an Steven gedacht, aber im Grunde habe ich ihn durch mangelndes Wissen immer ausgeschlossen. Er weiß von meinem Gefängnisaufenthalt. Er hat sich meine Personalakte besorgt und er war an meinem Spind gewesen. Doch er kann nichts von Richard Wissen. Nichts von seiner Familie. Nichts von unserer Vergangenheit. Nein, mein Arbeitskollege passt nicht wirklich ins Bild und dennoch bekomme ich eine entsetzliche Gänsehaut. Ich habe das Gefühl seine Hände zu spüren, die meine gewaltsam am Boden fest pinnten. Seine Beine, die mein Becken in einem schmerzhaften Schraubstock hielten. Ich atme schwer. Das Geräusch meiner zerreißenden Hose. Die Panik aus diesem Moment beschleicht mich auch jetzt. Der Geruch von abgestanden Zigarrenrauch. Stevens Gesicht wird in meinem Kopf plötzlich zu Renards. Ich stehe ruckartig auf und habe das Gefühl für einen Moment keine Luft mehr zu bekommen. Beim Hochkommen stoße ich versehentlich gegen den Tisch. Die leere Tasse rutscht über die Kante und bleibt auf dem Teppich liegen. „Eleen...Lee..." Richard packt meinen Arm. Ich reiße mich erschrocken los und Rick weicht zurück als er die Panik in meinem Blick erkennt. Er wiederholt meinen Spitznamen in der Annahme, dass ich so besser erkenne, wer vor mir steht. Nur er nennt mich so. Es funktioniert. Ich sehe seinen sorgenvollen Blick, ertrinke darin und spüre seine Hände, die erneut nach mir greifen. Doch diesmal lasse ich es sofort geschehen. Als er mich an sich drückt, fühle ich seinen hämmernden Herzschlag, der sich durch seine Brust hindurch auf mich überträgt. Rick umarmt mich fest. „Tut mir Leid", murmele ich gegen sein Schlüsselbein und merke, wie Ricks Hand sanft durch meine Haare streichelt. Zusätzlich schüttelte er seinen Kopf. Seine Haare kitzeln über meine Stirn und Schläfe. „Nein, nicht, sag mir lieber, was dir durch den Kopf gegangen ist", sagt er und macht keine Anstalten mich los zu lassen. Im Gegenteil die Umarmung wird noch ein Stück fester. Ich weiß nicht, wie ich es ihm erklären soll. Von Steven habe ich ihm noch nichts erzählt, denn ich bin bei der Frage nach dem blauen Flecken ausgewichen. Ich will nicht, dass er es erfährt und löse mich von dem anderen Mann. „Du hast Ärger auf Arbeit, das weiß ich, auch wenn du er leugnest. Kann dort jemand an deine Schlüssel gekommen sein?" Ich sehe in Richards hellbraune Augen. Ich mache eine wankende Kopfbewegung, weil ich nicht genau weiß, wie ich ihm darauf antworten soll. War es möglich? Ja. Ist es logisch? Nein. „Vor ein paar Tagen hat ein Kollege meinen Schrank aufgebrochen und verwüstet, aber es hat nichts gefehlt. Ich weiß auch nicht, wie das zusammenhängen kann, weil keiner von diesen Leuten irgendwas mit dir zu tun hat. Verstehst du?" Immerhin keine komplette Lüge. Eher eine zusammengeschusterte Kurzfassung. Ricks Augen mustern mich ausführlich. Er glaubt mir nicht. Ich sehe es an der kleinen Falte, die sich zwischen seinen Augen und der Nase bildet. „Kollegen?", wiederholt er fährt sich durch die Haare. „Und wenn das wirklich nichts mit mir zu tun hat, sondern dir irgendein Idiot von der Arbeit nachstellt?" Steven. Doch, wieso sollte er so weit gehen? Und noch immer sind da diese vielen Hinweise, die mit Richard zu tun haben. „Die blauen Flecke haben die damit zu tun?", fragt er nach einen Moment nach. „Nein,..." Eine weitere Lüge. Ich weiche unwillkürlich seinem Blick aus, verrate mich dadurch und seufze leicht. „Lee, verdammt, wenn dir jemand zu nahe kommt, dann..." Richard bricht ab und ich sehe deutlich, wie er die Zähne zusammenbeißt. Seine Hände ballen sich zu Fäusten und ich greife nach einer. Diese Wut in seinem Blick weckt böse Erinnerungen. Genauso, wie in ihm. Die scharfen Stimmen hallen mir noch immer durch den Kopf. Die verletzenden Worten, die zwischen beiden Männern nur so hin und her flogen. Ich hörte den Zorn, die Wut und den endlosen Hass, der in Richards Worten schwamm. Es ließ mich erzittern, auch jetzt noch. Ich griff, auch damals nach seiner Hand. Meine genauen Worte weiß ich nicht mehr. Ich sprach sie wie in Trance, doch sie beruhigten ihn. Sie ließen seine Wut abklimmen, so schien es mir jedenfalls. Doch dem war nicht so, dass weiß ich heute. „Rick nicht! Bitte." Ich blicke ihm flehende entgegen. Er braucht eine Weile bis sich seine Gesichtszüge wieder normalisieren, sich seine Finger entkrampfen. Seine Hand streckt sich zögerlich nach mir aus. Seine Fingerspitzen streicheln hauchzart über die Haut meiner Wange. „Darf ich heute Nacht hier bleiben?", frage ich leise und versuche bewusst abzulenken. „Natürlich..." Die Antwort kommt schnell und ohne Bedenken, so wie ich es mir gedacht habe. Ein seltsames Zittern erfasst mich dennoch. Es ist nicht richtig, doch jede Faser meiner Körpers sehnt sich danach bei diesem Mann zu sein. Wir bleiben noch einen Moment sitzen. Richard zeigt mir das Schlafzimmer, gibt mir eine bequeme Stoffhose zum Schlafen heraus und wendet sich zur Tür. „Rick?" „Ja?" Im Türrahmen bleibt er stehen. „Hast du eine Zahnbürste für mich?", frage ich fast schüchtern, sehe wie er lächelt und dann ins Bad verschwindet. Ein Handtuch und eine frische Zahnbürste liegen bereit als er mich ruft. Ich brauche nicht lange, bleibe vor dem Bett stehen und lege mich nur zögernd hinein. Ich weiß nicht, warum ich zaudere. Rick verlangt sicher nicht, dass ich auf ihn warte. Trotzdem sehe ich zuvor noch einmal zur Tür. Er ist sicher bei seiner Tochter. Als ich endlich liege, ist es die Müdigkeit, die mich langsam in die Knie, aber einschlafen kann nicht. Erst als Rick, ebenfalls umgezogen im Türrahmen auftaucht, spüre ich wie eine Schwere von meinem Gliedern fällt. Diesmal bin ich es, der ihn in die Arme zieht. Rick bettet seinen Kopf gegen meine Brust, haucht mir ein paar zarte Küsse gegen den Hals und dann spüre ich bereits, wie mich langsam der Schlaf umfängt. Die unaussprechliche Wärme seines Körpers stößt mich vollends in die Traumwelt. Ich schlafe tief und ruhig. Das erste Mal seit Tagen wirklich erholsam. Als ich am Morgen erwache, liegen wir noch in derselben Position, in der wir auch eingeschlafen sind und das obwohl ich mir sicher bin, dass er wegen Kaya mehrfach aufgestanden ist. Ricks Kopf liegt auf meiner Brust. Ich spüre seinen ruhigen Atem, der über meine Haut streicht. Unbewusst beginnt sanft durch seine Haare zu streicheln. Nur so stark, dass ich ihn nicht wecke und sich dennoch dieser vertraute Duft entfaltet, der seinen Haaren entströmt und mich in Erinnerungen schwelgen lässt. Ich komme nicht umher meine Nase einen Moment tiefer in sein Haar hinein zu stupsen. Ich ziehe den Geruch in mich ein und genieße das Gefühl für diesen Moment im siebten Himmel zu sein. Schon damals haben wir oft in dieser Position gelegen, sind in ihr eingeschlafen und erwacht. Ich genoss es jedes Mal und das obwohl mir regelmassig der Arm einschlief. Aber allein die Tatsache ihn zu spüren und das mit dem gesamten Körper macht alles andere nichtig. Meine Fingerspitze beginnen zu pulsieren. Seine Nähe und seine Wärme umnebeln mich mit angenehmer Zufriedenheit. Mit ihm an meiner Seite bin ich so unendlich glücklich. Ich spüre ein Lächeln auf meinen Lippen und hauche einen Kuss auf die Haare des anderen Mannes. Rick regt sich. Nur feines Schnurren. „Bist du wach?", frage ich leise und merke, wie sich sein Kopf leicht bewegt. Ob es ein Nicken oder ein Schütteln ist, kann ich nicht eindeutig zu ordnen. Ich sehe zum Nachttisch und suche nach dem Wecker. Es ist zu früh zum Aufstehen und ich schließe noch einmal die Augen. Richard beginnt leise summen und sanft treffen seine Lippen meine Haut. Es fühlt sich an, wie federleichte, zärtliche Kitzeleien. „Hmmm, die Position ist so schön", murmelt Rick genießerisch, schmiegt sich dichter an meine Brust und ich lasse meine Finger erneut durch seine Haare gleiten. „Ich mag sie auch", entgegne ich und lächele erneut. „Nein, ich liebe es einfach." Seine Worte lassen mich etwas stocken. Meine Fingerspitzen fangen an zu kitzeln und ich drücke meine Lippen zärtlich gegen seinen Kopf, sowie es Rick gestern Abend oft getan hat. Meine Finger stoppen die Liebkosungen und ich beginne einfach nur zu genießen. „Nicht aufhören." Seine Hand tastet fahrig nach meiner an seinem Kopf. Er meint das Streicheln. Ich setze die Streicheleinheiten, wie erwünscht fort. „Weißt du, warum ich es so liebe?" „Sag's mir." „Wenn ich so liege, höre ich deinen Herzschlag. Wenn du schläfst, ist er leise und gleichmäßig. Ein einfaches zärtliches Bubbern. Babumm. Babumm. Babumm", gibt er ergänzend in einen Rhythmus von sich. Zusätzlich imitiert er das Schlagen meines Herzens, in dem er seinen Finger sanft gegen meine Brust tippen lässt. Die feinen Härchen an dieser Stelle richten sich auf und folgen dem angestimmten Takt. „Aber, wenn du aufwachst und langsam beginnst durch meine Haare zu fahren, zu streicheln und so liebevoll an mir schnupperst, dann wird dein Herzschlag immer schneller. Immer leidenschaftlicher. Es ist die schönste Liebeserklärung von allen.", erklärt er. Seine Lippen drücken sich genau auf die Stelle über meinem Herzen. Auch jetzt beginnt es zu rasen und das nur durch seine liebevollen Worte. Ja, ich liebe ihn so sehr, dass nur seine bloße Anwesenheit meinen Körper in einen Ausnahmezustand versetzt. Alles in mir beginnt zu pulsieren und zu beben. Alles in mir giert nach ihm, will ihn spüren und vollkommen aufnehmen. Mir entflieht ein feines Seufzen des Wohlgefallens. Kaum mehr als ein Wispern. „Und auch das finde ich toll", sagt er dann und ich blicke verwundert zu ihm hinab. Ich begreife erst, was er meint als er sein Knie sachte gegen meinen Schritt drückt. In gleichen Moment haucht er mir einen Kuss gegen die hervorgepellte Brustwarze. Ein weiterer Schauer erfasst mich, der sie nur noch weiter verhärtet. Ricks Zungenspitze schnellt neckend hervor, tippt gegen die weiche Haut. Nur kurz, aber mit einem so heftigen erregenden Beben, dass ich sofort aufkeuche. Er umkreist über den nach Berührung schreienden Nippel. Ein erregender Schauer durchzuckt mich als er sich seine Lippen darum schließen. Rick richtet sich auf ohne von meiner Brust abzulassen. Er wechselt zur anderen Seite und setzt sich dann über mich. Seine Hände wandern, gleiten und lassen meinen Körper unter ihm erbeben. Ich genieße die Berührungen, sauge sie in mir auf und lasse mich einfach fallen. Richard Lippen sind überall. Sie küssen sich tiefer, folgen den schmalen Pfad meiner angedeuteten Bauchmuskeln. Unbewusst spanne ich dem Bauch an, lasse den Weg deutlicher hervortreten um ihn immer weiter hinab zu leiten. Meine Stoffhose rutscht etwas tiefer als Ricks freche Finger in den Bund greifen Bund. Ich keuche auf, während sein Mund genüsslich meinen Bauchnabel umspielt. Küssend. Sanft knabbernd. Eine herrliche Kombination aus sanftem Necken und feuchtes Lecken. Dann kostet er sich meinen Unterbauch entlang, passt sein Tempo dem Zug seiner Hände an bis seine Lippen in dem Moment an meiner Erregung ankommen als die Hose bei meinen Schenkeln angelangt. Mein Herz schlägt wild. Voller Aufregung und freudiger Erwartungen. Er spielt nicht länger, sondern schließt seine Lippen um die Spitze meiner Härte. Die Hitze, die mich umfängt, ist traumhaft und lässt mich genüsslich aufkeuchen. Seine feuchte Zunge gleitet über die empfindliche Haut als ein zärtliches Streicheln. Ein neckisches Umkreisen. Auch Richard gibt ein genüssliches Brummen von sich. Sein Mund umschließt mich immer mehr, während seine Hände massierend über meinen Bauch streicheln. Sie kitzeln meine Seite entlang, lassen mich erbeben und gleiten runter zu meinen Beinen. Ich spreize sie unbewusst, aber es ist genau das was er möchte. Tippende Fingerspitzen wandern meinen Innenschenkel hinauf. Kitzeln mich. Erregen mich. Meine Lenden zucken. Ich stoße unbewusst nach oben, tiefer in diese wohltuende Wärme hinein. Rick lässt es geschehen, streichelt mit seiner rechten Hand zu meinem Unterbauch. Seine Bewegungen werden intensiver und die Reibung immer befriedigender. Ich habe das Gefühl zu schweben. Nur noch Ricks Hände halten mich davon ab in den imaginären, feuchten Himmel abzudriften. Das Weinen, welches knisternd vom Nachttisch dringt, lässt mich zusammenfahren. Fast automatisch lege ich meine Hände an Ricks Kopf und stoppe seine Bewegungen. Rick sieht kurz hoch, doch er lässt seine Zunge nur demonstrativ über meine Eichel gleiten. Ich versuche es erneut, doch er lässt sich nicht irritieren. Seine Lippen umfassen mich wieder fester. Ich keuche auf. Das Jammern wird lauter und nun richtet sich auch Richard auf. Fahrig wischt er sich Spucke von den Lippen und blickt mich an. „Lauf nicht weg....", raunt er mir zu. Er lehnt sich nach oben, küsst mich kurz und hüpft grinsend vom Bett. Schnell ist er aus der Tür verschwunden und dann höre ich sein leises Gemurmel im Babyfon. Ich blicke beschämt an mir hinab. Meine Hose hängt nur noch an einem Bein und ich setze mich auf. Noch immer höre ich Richard leise Stimme. Hin und wieder verstehe ich sogar ein paar Worte. Liebevolles Flüstern und dann sanftes Summen, so als würde er sie wieder niederbetten. Noch immer sind die Gefühle in meiner Brust schwer und durcheinander. Wieso verletzt es mich nur so, dass er ein Kind hat? Kaya verstummt. Als Rick im Türrahmen auftaucht, ziehe ich mir gerade die Hose vom Bein. „Gut, du arbeitest vor. Wir haben vielleicht noch eine Viertelstunde." Seine Worte lasse mich erröten und ein kleinwenig zweifeln. Meint er das ernst? Er kommt auf mich zu und ich sehe die deutliche Erregung, die sich in seiner Hose abzeichnet. Mein Herz schlägt wieder schneller. „Schläft sie?", frage ich leise und starre einen Moment auf seine Körpermitte. „Sie ruht." Richard beugt sich zu mir, küsst mich und krabbelt zurück aufs Bett. Meine Hand legt sich gegen seine Brust. Der Gedanke das Kaya nebenan wach liegt und wir uns hier vergnügen, behagt mir nicht so recht. Ricks Lippen an meinem Hals. Er küsst sich meinen Kiefer entlang und seine Hand fasst nach meiner, die sich noch immer gegen seine Brust bettet. Seine Mund legt sich auf meinen und sofort schmecke ich das zartschmelzende Aroma der Lust. Die Süße seiner Leidenschaft erfasst mich kribbelnd und pulsierend. Sie lässt mich alles vergessen. Ich erwidere den Kuss gierig, lasse ihn meine Finger bereitwillig in seinen Schritt führen. Die Hitze, die von ihm ausgeht, ist so unendlich wohltuend. Meine Hand gleitet ohne Widerstand in seine Hose, trifft auf die deutliche Härte. Ich erstreichele die komplette Länge, spüre die zarte Haut unter meinen Fingerspitzen, umfasse ihn vollständig als sein heißer Atem keuchend gegen meine Lippen trifft. Rick stöhnt genüsslich und tief. Er macht keinen Hehl aus seinen Empfindungen in diesen Momenten und das bereitet mir jedes Mal wieder erregende Schauer. Ich liebe es ihn zu hören und in sein erregtes Gesicht zu sehen. Ich beginne ihn zu pumpen und Rick hält für einen Moment in seiner Bewegung innen. Seine Augen sind geschlossen. Seinen Lippen entflieht ein tiefes erfülltes Brummen. Ich liebe es so sehr ihn so zusehen. Seine leicht geöffneten Lippen glänzen feucht und zittern. Diese Vertrautheit in seinem Gesicht, die mir Gänsehaut macht und mich in eine selige Wolke des Wohlbefindens hüllt. Ich ziehe ihn erneut auf meine Lippen, gönne mir diese geliebte Leckerei und lasse meine Hand tanzen. Unsere Küsse sind intensiv und leidenschaftlich. Ich genieße das Gefühl von seinen Händen auf meinen Körper. Sie stoppen erneut als Kayas Weinen an unsere Ohren dringt. Ricks Kopf kippt auf meine Schulter und ich lasse vollkommen von ihm ab, weil sich erneut dieses unangenehme Gefühl in meiner Magengegend bildet. Meine Hand gleitet durch seine Haare als er keine Anstalten macht von mir runter zugehen. Das kleine Mädchen im Nebenzimmer weint weiter. „Gib mir ein paar Minuten, dann bekomme ich sie vielleicht noch mal etwas ruhig", murmelt mir Richard halbernst gegen den Hals. Ich schmunzele, streichele weiter durch seine Haare und lasse meine Augen geschlossen, während er sanft mein Gesicht küsst. Es dauert einen Moment bis er sich erhebt und murrend seine Hose hochzieht. Auch ich bleibe erst einmal sitzen, versuche mich nicht mehr auf den Druck in meiner Lendengegend zu konzentrieren, doch es fällt mir schwer. Noch immer fühlt es sich so an als würde ich seine Hände auf meinen Körper spüren, seine Lippen auf meinen. Ich merke, wie mein Herz noch immer heißes, pulsierendes Blut durch meine Adern pumpt und keuche leise auf, weil mir weiterhin stetig wärmer wird. Richards leise Stimme dringt aus dem Nebenzimmer zu mir und ich angele nach der Hose, die fast von der Matratze fällt. Ohne zu Fragen suche ich mir weitere Klamotten aus seinem Schrank und verschwinde ins Badezimmer. Eine kühle und dann warme Dusche. Eine Wohltat für mein erhitztes Gemüt. Ich schließe die Badezimmertür leise und trete ins Wohnzimmer. Von Rick keine Spur, aber dafür sehe ich seine Tochter munter durch die Gegend wuseln. Überall liegen Bauklötze. Sie quietscht leise und schlägt zwei der Klötze aneinander. Ich beobachte das kleine Mädchen eine Weile. Mein Herz wummert zweigespalten. Wut. Trauer, aber das Schlimmste meiner negativen Gefühle ist der Neid gegenüber dieser Frau, die mit Rick dieses wunderbare Glück teilen darf. Meine Engherzigkeit erschreckt mich und ich versuche mich auf die positiven Aspekte meiner Gefühlswelt zu konzentrieren. Das Glück und die Zufriedenheit, die ich empfinde, weil ich es dem Mann, den ich liebe gut geht und ich ihn trotz aller Widerstände und vergangener Zeiten an meiner Seite weiß. Kaya ist Bestandteil dieses Glücks und das weckt ebensolche Liebe in mir. Wenn auch langsam. Ich trete zögerlich in den Raum hin und gehe definitiv unsicher auf das Kind zu. Mein Herz schlägt schnell und aufgeregt. Was, wenn sie mich nicht mag? Wenn, Kaya niemals eine Bindung zu mir aufbauen kann? Ein Bauklotz kullert vor meine Füße. Ich greife danach. Nun beginnt mein Herz zu flattern. „Darf ich mitspielen?", frage ich sanft, spüre, wie mein Brustkorb sich anspannt und setze mich trotzdem zu ihr. Für einen Moment blicken mir ihre schönen, großen Kulleraugen wachsam und ebenso skeptisch entgegen. Ich stapele zwei Bausteine aufeinander und lenke ihre Aufmerksamkeit damit auf mein Gebilde. Ich schichte einen weiteren darauf. Irgendwann sind es acht Stück. Der Turm beginnt zu wackeln und stürzt dann ein. Ein quietschende Kichern und Kayas kleine Hände schlagen gegeneinander. Ihre feinen Löckchen bewegen sich sachte mit jeder ihrer ruckartigen Bewegungen. Sie wartet darauf, dass ich einen weiteren Turm baue und dieser durch Instabilität zusammenfällt. Ich erfülle ihr diesen Wunsch, achte aber diesmal darauf ihn noch etwas höher zu bauen. Ihr zartes Kichern wird immer lauter. Mit einem Mal steht sie in der Tür zum Flur. Ihre langen gelockten Haare rahmen ein schmales, hübsches Gesicht. Es ist die junge Frau, die mir gestern Abend die Tür aufgehalten hat und die Person, die mit Kaya zusammen auf den Bildern in meinem Briefkasten abgelichtet war. Erst jetzt im Licht und der Ruhe erkenne ich sie. Ihre Haare sind etwas länger und dunkler. Die Tasche auf ihrer Schulter scheint jeden Moment hinunter zu rutschen. Ich richte mich langsam auf, lasse das Kind vor mir am Boden sitzen. Kaya Eleena blickt auf, erkennt ihre Mutter und bringt diese Freude mit kleinen greifenden Ärmchen zu Ausdruck. Ich habe das Gefühl, das mein Herz gleich aussetzt und dann nie wieder zu schlagen beginnt. Nur dumpf dringen Geräusche aus der Küche. Klappern und das Zuschlagen von Türen. Schritte. Sie kommen näher. Ich blicke zu der fremden Frau, während Richard hinein getreten kommt. „Lee, was möchtest du frühstü... Rachel...?" Rick verstummt als er sie im Wohnzimmer stehen sieht. Er lässt die Pfanne in seiner Hand sinken. Mit der Erwähnung meines Spitznamens beginnen sich Rachels Augen zu weiten. Sie kennt ihn. Sie weiß, wer ich bin. Ps vom Autor: Einen von Herzenkommenden Dank an meine lieben Leser und treuen Kommieschreiber! Ihr seid wahrlich fantastisch! Kapitel 19: Der Moment des Verstehens ------------------------------------- Kapitel 19 Der Moment des Verstehens Kayas kleine Locken bewegen sich im Takt ihrer ruckartigen, krabbelnden Bewegungen. Sie sind etwas dunkler als die ihrer Mutter. Aber auch Rachels Gesicht ist umrahmt von großen Wellen, die ihren schmalen Gesichtszügen schmeicheln. Kaya quietscht freudig auf als sie bei den Füßen ihrer Mama ankommt. Rachel blickt kurz zu ihrer Tochter und als sie wieder hoch schaut, direkt zu mir. Ich sehe dabei zu, wie sich ihre Atmung beschleunigt und ihre Augen sich weiten, als sie immer mehr zu begreifen beginnt. „Er...er ist Lee", sagt Rachel fassungslos. Sie sieht zu Rick. Auch ich sehe verwundert zu meinem Freund. Ich bin verunsichert. „Der Lee?" Die Betonung lässt mich ein weiteres Mal stocken. Wieso erfragt sie es derartig? Ich sehe weiterhin zu Richard, der gerade selbst mit seine Fassung ringt. Ein kalter Schauer ergreift mich, als mir klar wird, warum. Sie hat nicht gewusst, dass mit diesem Namen keine Frau gemeint ist. Er hat von mir als Lee gesprochen, ohne diesen Umstand ihr gegenüber zu erwähnen und auch ohne zu erklären, dass er im Speziellen mich meint. „Er ist Lee...", wiederholt sie erneut. „Du bist doch... Du bist Richards Freund vom See", stellt sie nun verstehen fest. Anscheinend habe ich mich äußerlich wirklich kaum verändert. „Du hast Richards Vater getötet... Er ist Lee?" Den letzten Teil richtet sie wieder an Rick. Ihr Blick ist gezeichnet von Entsetzen. Noch immer unterstrichen mit einem Hauch Fassungslosigkeit, die sich aber langsam in Wut ändert. Aber auch in Furcht. Sie hat Angst von mir. Diese feine Nuance in ihrer Stimme. Ich höre es deutlich heraus. Richard rückt zu mir auf, bleibt neben mir stehen. Seine Hand streift unauffällig meine, aber ich weiß auch so, dass es als beruhigende Geste dient. Es hilft nur nicht. Die verschiedensten Gefühle bauen sich in mir auf. Eine beißende Mischung aus Verärgerung, Scham und Verunsicherung. Ich fühle mich mehr als unwohl. Was hat er ihr erzählt? Wie viel weiß sie wirklich? Warum hat er überhaupt über mich gesprochen? Sie weiß natürlich genau Bescheid über die Umstände von Renard Paddocks Tod. Das Geschwätz und die Aufruhe, die das ganze Geschehen in der Firma und in der gesellschaftlichen Schicht der Paddocks verursacht hat, war enorm. Nur die Bestimmungen im Zusammenhang mit dem Jugendschutzgesetz haben dafür gesorgt, dass mein voller Name nie an die Presse gegangen ist. Doch das Gerede konnte es nicht verhindern. Rachel beugt sich zu dem schon quengelnden Kind zu ihren Füßen, zieht Kaya in ihre Arme und drückt sie fest an sich. Schützend. Sie schirmt das kleine Mädchen von uns ab. „Wie kommst du überhaupt hier rein?", fragt Richard erstaunlich ruhig. Dennoch schiebt er sich an mir vorbei und geht auf sie zu. Ich sehe deutlich, wie sich seine vorher lockere und befreite Körperhaltung auf Abwehr umstellt. Gestraffte Schultern. Die Pfanne hält er fest in seiner Hand. Ein deutlich angehobener Kopf, denn trotz seiner körperlichen Größe versucht er damit noch größer zu wirken. Ein Reflex aus der Kindheit. Früher habe ich das oft seinem Vater gegenüber bei ihm beobachtet. Bei jeder Konfrontation hat er sich gestreckt und seinen Kopf weit nach oben gereckt. Als Kind ein typischer Versuch zu trotzen. Als junger Mann eine deutliche Gegenwehr. Mit 17 Jahren hatte Rick die Größe seines Vaters erreicht. Sie standen sich auf Augenhöhe, aber Renard sah in ihm immer das unbändige und respektlose Kind. Ein Schauer streift sich über meinen Körper wie ein unkomfortabler Mantel, als ich mich an die letzte Auseinandersetzung entsinne. Rachel hebt ihre Hand und reißt mich damit aus den unschönen Erinnerungen. Sie zeigt einen Schlüssel, der sich gegen ihre Handfläche bettet. Nur ein leises, kurzes Klimpern ist zu hören, danach presst sich das Metall wieder gegen ihre Haut. „Richard, was will er hier?", bellt sie erregt. Sie weiß um meine Bedeutung. Das verrät mir der Ausdruck in ihren Augen. „Sag mir lieber, was du hier willst und woher du den Schlüssel hast?" Richard legt die Pfanne endlich zur Seite und bleibt zwischen uns stehen. Für einen Moment streckt sich seine Hand nach hinten zu mir aus, doch ich rühre mich nicht. „Was will er hier?", keift sie erneut und macht weiterhin keine Anstalten ihre Anwesenheit zu erklären. Auch sonst ermöglicht sie keine weiteren Fragen in ihre Richtung. „Wie kannst du zu lassen, dass er hier herkommt?" „Es ist meine Wohnung, Rachel!", kontert er aufgebracht und laut. Nun greife ich nach Richards Arm und halte ihn zurück. Er glüht. Die Hitze seiner Haut fühlt sich an, als würde sie mich jeden Moment verbrennen können. Ich lasse dennoch nicht locker. Rick blickt kurz zu mir zurück, erhascht meinen Blick und ich bin mir sicher, dass er genau weiß, dass ich nicht möchte, dass er so aufgebracht mit ihr spricht und vor allem nicht vor dem Kind. Er löst sich sachte aus meinem Griff. „Okay, ein letztes Mal, was willst du und woher hast du den Schlüssel?" Er schafft es beide Fragen ruhig, aber direkt auszusprechen. „Ich konnte dich über das Telefon nicht erreichen und... und...ich habe ihn nachmachen lassen für alle Fälle!", gibt Rachel als Antwort. „Für welche Fälle bitte?" „Für solche...", sagt sie und deutet auf mich, „...In denen du unsere Tochter mit einem völlig fremden Mann allein im Zimmer lässt." In Ricks Gesicht spiegelt sich die Fassungslosigkeit, die ich empfinde. So sehr mich diese Worte und die damit verbundenen Vorurteile treffen, so sehr kann ich sie leider auch verstehen. Ich sehe an Richard vorbei zu dem kleinen Mädchen, welches zappelnd in Rachels Armen hängt. Ihre schönen Kulleraugen glänzen feucht. „Ich sollte jetzt gehen!", bekunde ich leise in den Spannung geladenen Raum hinein. „Nein", sagt Richard und im selben Moment donnert ein lautes und deutliches Ja von Rachel zu uns. Es lässt mich zusammenzucken. „Rachel, du hast nicht das Recht, jemanden meiner Wohnung zu verweisen." „Du gefährdest das Wohl unseres Kindes und dann habe ich sehr wohl das Recht." „Wie bitte? Ich will, dass du jetzt gehst. Verschwinde! Wie du gemerkt hast, ging es unserer Tochter bis zu deinem unnötigen Auftritt fantastisch." Wie auf Kommando beginnt Kaya zu wimmern. Aufgebrachte Stimmen und laute Worte sind nichts für Kinder. Egal, wie klein sie sind. Sie verstehen genau, was sie bedeuten. Streit verursachen ist das Letzte, was ich will. Rachel fasst ihre Tochter noch fester und läuft mit verbissener Miene an uns vorbei zu ihrem Kinderzimmer. Rick schaut ihr mit ebenso verfinsterten Gesicht hinterher und wendet sich zu mir. Sein Blick ist entschuldigend. Dabei muss er das gar nicht. Ich höre, wie sie beginnt einige Sache zusammen zupacken. Sie wird Kaya mitnehmen. Das versteht nun auch Rick. Seine Hand streichelt beim Vorübergehen meine Wange. Eine bewusste Geste, die mir zeigen soll, dass er auf meiner Seite steht, auch wenn er Rachel nun ins Kinderzimmer folgt. Er liebt seine Tochter und wahrscheinlich wird die Trennung schon oft genug dafür sorgen, dass er sie nicht sehen kann. Im Zimmer hat Ricks Stimme eine normale Lautstärke angenommen. So kann ich die Worte, die er sagt, nicht hören. Dafür aber Rachels. „Wie kannst du zu lassen... Wieso lässt du ihn in deine Nähe kommen... Er hätte Kaya etwas antun können..." Jedes Wort ist Schmerz für mich. Ich sehe mich nach meinen Wertsachen um, entdecke Portmonee und Schlüssel auf der Kommode zum Flur. Kayas Plüschkäfer sitzt daneben wie ein Wächter. Ich strecke meine Hand nach dem weichen Stofftier aus und ziehe sie kurz bevor ich ihn berühren kann zurück. Stattdessen greife ich nach meiner Jacke, stecke alles ein und schleiche zur Tür, während sich beide im Nebenzimmer unschöne Worte an den Kopf werfen. Mittlerweile ist auch Ricks Stimme wieder deutlich zu hören. Aufgebracht und laut. Kaya beginnt zu weinen und es ist ein Stich, der durch meinen gesamten Brustkorb fährt. Meine Hand drückt sich unbewusst gegen meine Brust. Bevor ich verschwinden endgültig kann, kommen sie aus dem Kinderzimmer. Rachel hält das kleine Mädchen und eine Tasche in der Hand. Ein kurzer Blick zu mir, der mich straft und foltert als das Unheil, was ich für sie bin. Ihnen folgt Rick, der wild mit den Arm gestikuliert und alles andere als glücklich aussieht. Ich sehe auf das kleine Mädchen in Rachels Armen und mir wird schwer ums Herz. Noch bevor ich die Klinke runterdrücken kann, hält mich Ricks Stimme zurück. „Bleib hier", kommt es bestimmend von ihm. Ich sehe zurück. „Richard, es ist besser, wenn..." Die scharfe Stimme meines Kindheitsfreundes unterbricht mich erneut. „Eleen de Faro, du bleibst hier!", mahnt er mich ein weiteres Mal. Rachel hält in ihrer Bewegung inne. „Eleen..." Sie wiederholt leise meinen Namen und mit einem Mal wird ihr etwas immer deutlicher. Sie blickt zur mir und dann zu ihrer Tochter. Auch sie gehört zu den Menschen, die sich trotz wiederholten Erklärungen nicht an die richtige Betonung meines Namens gewöhnen konnten. Bei ihr klang mein Namen mehr, wie das anglisierte Pardon Allan. Ich habe es nicht korrigiert, sowie ich es auch heute kaum noch tue. Ich habe mich daran gewöhnt, dass mein Name nur von wenigen Personen richtig ausgesprochen wird. Genauso, wie ich mich damit arrangiere, dass mein Name, der eines Mädchens ist und ich ihn noch nie leiden konnte. „Wir haben unsere Tochter nach ihm benannt? Einem Mörder?", flüstert sie erschrocken. Erst mit der korrigierten Version meines Namens konnte sie die Herleitung verstehen. „Rachel, halt den Mund!" „Er ist ein Mörder, Richard!", schreit sie dem Angesprochenen entgegen. Ihre Stimme ist voller Entsetzen. „Das ist er nicht! Du hast doch keine Ahnung. Du weißt doch gar nicht, was damals passiert ist ", brüllt ihr mein Kindheitsfreund aufgebracht entgegen. Rachels Finger legen sich abschirmend über die hellen, intensiven Augen des kleinen Mädchens. Ich wünschte mir, sie hätte ihr die Ohren zu gehalten. „Richard, nicht!", flehe ich ihn an, doch an seinem Blick erkenne ich, dass er das nicht so stehen lassen wird. Er sieht mich an. Ich schüttle meinen Kopf. Kaum sichtbar. Eine stille Träne bahnt sich ihren Weg über meine Wange. Rachel blickt zwischen mir und Richard hin und her. Auch ihre Lider füllen sich langsam mit Tränen. "Du weißt nicht, was mein Vater uns angetan hat...", beginnt er von neuem. Seine Stimme ist matt und ruhig. „Wie auch? Du hast nie darüber gesprochen... Also warum ist er nach all den Jahren hier...trotz alledem?", fragt sie erschüttert. „Du weißt, wieso er das ist...", sagt er. Rachel schüttelt ihren Kopf, doch ihre Augen zeigen deutlich, dass das die falsche Geste ist. Sie kennt den Grund. Sie versteht ihn ganz genau. Ihr Kopfschütteln wird immer energischer. „Ich habe nie und werde nie aufhören ihn zu lieben." Rick spricht es trotzdem aus und sieht dabei nur mich an. Ich hingegen sehe zu der blonden Frau, die das schniefende Kind hält. In ihren Augen erkenne ich das schmerzhafte Wissen darum, dass seine Zuneigung niemals über mögen hinausgegangen ist. Rachel beginnt nun richtig zu weinen. Die Feuchte ihrer Augen löst die üppig aufgetragene Wimperntusche. Die vorher unsichtbaren Tränenspuren färben sich grau. An einigen Stellen tief schwarz. Es verleiht ihr ein noch verletzlicheres Äußeres. Sie umfasst ihre Tochter fester und schiebt sich an mir vorbei durch die Tür. Sie bleibt offen stehen, während ich meinen Blick nicht von dem anderen Mann nehmen kann. Seine Worte verursachen mir ein unglaubliches Glücksgefühl, welches durch die Situation gegen eine unsichtbare Mauer prallt. Nur winzige Fetzen dringen zu mir hin durch als ein Flüstern. Dumpf und leise. Ich stehe hinter dieser Wand und kann nur schreien und hoffen. So sehr mich Richards Worte berühren, so sehr sie mich auch beglücken, umso mehr empfinde ich Mitleid für sie. Ich kann mir nicht vorstellen, wie schlimm es sein muss, von dem Mann, den sie liebt solche Worte zu hören. Richard kommt auf mich zu. Seine Arme strecken sich an meinem Kopf vorbei zur Tür. Er drückt sie zu und hält seine Arme weiter oben. Nur minimal berührt er meine Schultern. Noch immer ist sein Blick ungebrochen. Die Intensität darin verursacht ein intensives Kribbeln. In diesen Momenten sieht er wirklich nur mich. Das habe ich früher immer sehr genossen. Doch gerade schmeckt es bitter. Er bettet seine Stirn gegen meine und ich schließe die Augen. „Du darfst so etwas nicht so leichtfertig vor anderen sagen ...", flüstere ich Rick entgegen, erwidere das Liebesgeständnis nicht. Er kennt meine Gefühle für ihn. Ich habe niemals damit hinter dem Berg gehalten und war sogar der Erste von uns beiden, der es damals laut ausgesprochen hat. Richard hatte es nicht fassen können, hat mehrere Male erfragt, ob ich es wirklich ernst meine und das hatte mich zutiefst verunsichert. Doch dann hatte er mich gepackt und den restlichen Abend mit so vielen Küssen beschenkt, dass ich sie nicht mehr zählen konnte. Zwischen jeden dieser Küssen hatte er mir ein 'Ich liebe dich' entgegen gehaucht, so als würde er es im Grunde noch immer nicht fassen können. Alles sehr kitschig, aber unglaublich schön. „Warum nicht? Es ist schließlich die Wahrheit. Und sie weiß, dass es da immer jemanden gab, den ich einfach nicht aus meinen Kopf kriegte und das wird sich auch nicht ändern." Seine Mund berühren meine Stirn, dann meine Wange und im nächsten Moment schon meine Lippen. "Verstehst du?", murmelt er hinterher und klopft dabei sanft gegen die Seite meines Kopfes. So, als könne er es mir damit besser eintrichtern. Ich bekomme Gänsehaut, spüre nach dem sanften Klopfen, wie seine Finger durch meine Haare streicheln und wie sich seine Lippen auf meine legen. Der Kuss ist zärtlich und unschuldig. Er bestätigt mir jedes seiner Worte. Die Erinnerungen und Ricks Nähe lassen mich fast schweben. Doch ich muss auf den Boden bleiben und löse bei diesen Gedanken den Kuss. „Ich kann ihre Reaktion verstehen...", teile ich ihm mit. „Wie bitte? Bist du noch ganz bei Trost?", erwidert er laut seufzend und ich antworte mit Schwermut. Rachel hat Angst um ihr Kind, das kann ihr niemand verübeln. „Eleen, hör mir zu. Rachel gibt nur das wieder, was ihr meine Mutter eingetrichtert hat. Sie weiß im Grunde gar nicht, was passiert ist. Nur das, was sie durch Dritte oder auch die Medien mitbekommen hat. Niemand außer uns beiden weiß, was passiert ist." Er macht eine bedeutungsschwangere Pause. "Ich weiß, dass du kein Mörder bist und du weißt es doch auch. Im Grunde war das alles ein... dummer Unfall." Die Situation hatte sich hochgeschaukelt. Mit jedem Wort. Mit jedem Schritt. Mit jeder noch so winzigen Gegenwehr, die wir seinem Plänen entgegen brachten, meißelten wir seinen Willen in Stein. Er hätte seine Meinung niemals geändert. Ricks Hand gleitet über meine Wange. Nur wir zwei. Ich denke an Renard Paddock. Die dritte Person, die davon wusste, ist tot. „In den Augen anderer bin ich der Schuldige. Und daran ändern auch deine Worte nichts. Sie hat Angst um ihr Kind. Um dein Kind und das kann ich verstehen." Ich drücke ihm meinen Finger gegen die Brust und Rick greift danach. „Du glaubst doch wohl selbst nicht, dass du schlecht für Kaya bist. Du tust keiner Fliege was zur Leide. Die Wahrscheinlichkeit, dass Kaya dich zum Weinen bringt, ist viel größer." Dieser Kommentar lässt mich beleidigt aufblicken. Immerhin bin ich ein erwachsener Mann. Schon wieder versucht Rick die Ernsthaftigkeit der Thematik durch Witzeleien zu brechen. Ich empfinde es nicht als hilfreich und sehe ihn dementsprechend an. „Du glaubst mir nicht? Sie ist ein kleines Monster und sie hat selbst mich aus Verzweiflung einmal fast zum Weinen gebracht", kommentiert Rick und greift nach meinen Händen. Er webt unsere Finger ineinander und lächelt. Ich starre auf unsere Hände, sauge die Wärme seiner Haut in mich ein, denn meine ist schon wieder kalt. „Darum geht es nicht. Sie hat einfach Angst, Richard und sie kann uns damit Schaden. Vor allem mir", flüstere ich resigniert. „Schau mich an." Widerwillig blicke ich auf. „Das wird sie nicht. Du machst dir zu viele Gedanken." Vielleicht mache ich das, aber die Angst, dass es bald alles umschlägt, ist allgegenwärtig und darüber kann ich nicht hinweg sehen. „Und du zu wenig", kontere ich darauf hin. Rachel wird zu seiner Mutter gehen und ich zurück ins Gefängnis, hallt es in meinem Kopf. Erst leise und dann immer lauter. Richard schweigt und ich sehe deutlich, wie sich seine Stirn in Falten legt. Unsere Finger lösen sich, als ich mich von ihm abwende. „Rachel wird zu deiner Mutter gehen." „Das werde ich verhindern..." „Und was sagst du ihr? Dass ich eine Fata Morgana war? Ein böser Geist? Du hast über mich gesprochen, ohne, dass sie es wusste. Sie könnte bereits auf dem Weg zu ihr sein. Glaubst du wirklich, dass sie sich so einfach davon abbringen lassen wird?" „Ja", sagt Rick, ohne auch nur den Hauch von Unsicherheit erkennen zulassen. Ich blicke ihm zweifelnd entgegen, lasse meine Hand über das Holz der Kommode streichen und stoppe bei dem eingerahmten Foto. Ein Bild von Kaya. Ich denke daran, wie fest Rachel sie an sich heran gedrückt hat. Die Angst in ihrem Blick und auch die Wut. In diesem Moment beginnt Richards Handy zu klingeln. Er zieht es aus der Hosentasche, sieht auf das Display und seufzt, steckt es aber wieder weg. „Sie wird einfach den Mund halten, weil du es so willst?", frage ich fast ein wenig belustigt. Für mich ist das fernab jeder Vorstellung. Was sollte sie davon abhalten einfach zu Sybilla zu gehen oder schlimmer noch gleich zur Polizei? „Ja." Schon wieder. Mit einem leisen Geräusch aus wahnwitzigen Lacher und fassungslosem Seufzer schüttele ich meinen Kopf. Ich blicke in seine schönen braunen Augen. Ich weiß einfach nicht, was in seinem Kopf vorgeht. Was denkt er sich nur dabei? Das Handy klingt weiter, setzt kurz aus und beginnt erneut. Rick knurrt, holt es wieder hervor und geht ran. „Jaron, ich ruf dich später zurück..." Damit legt er wieder auf. Ich beiße die Zähne zusammen. „Bist du dir ihrer Treue und Liebe so sicher? Denn sie hat allen Grund..." „Ja", sagt er schnell, scheinbar ohne nachzudenken und ohne mich richtig ausreden zu lassen. Es versetzt mir einen Stich, es so direkt von ihm zu hören. Ich zucke zurück und sehe ihm entgeistert entgegen. Wie kann er nur? Er glaubt ihre Gefühle benutzen zu können. Bewusst und berechnend. Er schluckt, als er merkt, was er gerade eingestanden hat. „Mist, ...so meine ich es nicht...", versucht er sofort zu beschwichtigen, "Lee, so war es wirklich nicht gemeint...glaub mir." „Lass es, bitte. Ich...ich werde jetzt gehen." „Es war blöd von mir sowas zu sagen...", schiebt er nach und hält mich zurück. „Ja, war es..." Mehr sage ich nicht. „Komm schon... Bleib hier. Bitte, geh nicht auch noch", fleht er mich an. Ich schüttle den Kopf. Im Grunde ist es nur ein ablehnendes Andeuten, doch ich sehe, dass Rick es versteht. Er schließt seine Augen und streicht sich unsicher durch die verwuschelten Haare. Er weiß genau, dass er mich nicht weiter bedrängen darf, denn damit erreicht er nur, dass ich mich weiter zurückziehe. Ich ziehe mir die Schuhe an und öffne die Tür. „Du darfst mir nicht folgen, bitte!" Der Mann, den ich so sehr liebe, mustert mein Gesicht. Ich sehe, wie er schluckt als er erkennt, wie ernst es mir ist. Seine Hand wandert zu meinem Hals. Nur hauchzart berühren mich seine Finger. Sein Daumen tippt sanft gegen mein Kinn. Die streichelnde Berührung ist so unendlich warm. „Richard,...", mahne ich ihn an. Ich verwende absichtlich seinen vollständigen Namen, damit er merkt, dass es reicht und auf meine Bitte reagiert. Das Streicheln stoppt, doch er zieht seine Hand nicht zurück. „Okay, wenn du mir versprichst, dass du an dein Telefon gehst." Die Wärme seiner Finger umfängt mich mit Vertrautheit und Zärtlichkeit als er sie diesmal deutlich auf meine Haut bettet. Rick führt mich in einen Kuss, der mir förmlich entgegen schreit, dass er nicht glücklich darüber ist, dass ich gehe. Aber es muss sein. Trotzdem genieße und erwidere ich den Kuss, lasse meine Hand an seinem Arm liegen und löse mich erst als Richard ihn deutlich intensiviert. Nein. Ich darf mich nicht schon wieder vergessen.Er hält mich nicht zurück, als ich durch die Tür verschwinde. Erst nachdem ich die kühle Luft auf meiner Haut spüre, atme ich tief ein. Das damals begonnene Drama weitet sich immer mehr aus. Das habe ich nicht gewollt. Mit Renards Tod ist alles durcheinander geraten. Unser beider Leben und auch das aller anderen. Ich denke an Ricks Töchterchen und erneut bildet sich dieses seltsame Gefühl in meiner Brust. Auch sie könnte ein Spielball werden. Was, wenn Rachel beginnt, Rick den Kontakt zu verbieten? Ich denke an mein eigenes Kontaktverbot. Es bezieht sich auf alle Mitglieder der Familie Paddock und somit auch auf Kaya Eleena. Anscheinend ist das Rachel nicht bewusst, sonst hätte sie es vorhin sicher angebracht. Was mache ich nur? Mit jedem Treffen winke ich unser Verderben und meine Hölle näher an uns heran. Automatisch sehe ich mich um. Mein Herz macht einen Satz als jemand genau in diesem Moment mit einer entzündeten Zigarette aus einem Auto steigt. Es ist nur ein alter Mann, dessen Gesicht im ersten Moment von Rauch verschleiert ist. Dennoch ist mein Puls sofort auf hundertachtzig. Ich bin noch nicht einmal an der U-Bahn als mein Handy anfängt zu klingeln. Es ist Richards Nummer, die mir das Display anzeigt. Unbewusst wende ich mich um, blicke in die vorbeiströmenden Gesichter der Menschen, die mir auf der Straße entgegen kommen. Es ist wie ein Reflex. Niemand ist dabei, den ich kenne. Keiner mit einer Zigarette zwischen den Lippen oder hinter dem Ohr. Kein Richard. Es beruhigt mich ein wenig. Ich bleibe vor dem Eingang zur U-Bahn stehen Ein feiner Seufzer perlt von meinen Lippen und ich gehe ans Telefon. Schließlich habe ich es ihm versprochen. „Ich bin ein wirklich dummer, nein, verdammt dummer Kerl", kommt es ohne Begrüßung oder sonstiger Erklärung. Ich komme nicht umher zu schmunzeln, weil ich mich sofort erinnere. Diesen Wortlaut verwendete er schon damals. Seine Begrüßungsfloskel nach unseren wenigen Streitereien. Oder bei den Malen, die mich Richard angerufen hat, weil er zu faul gewesen ist, Briefe zu schreiben. Jedes Mal habe ich geschimpft, weil wir uns versprochen hatten, nicht zu telefonieren. Ich habe ihn darum gebeten, denn jedes Mal brach danach die Sehnsucht nach ihm in mir aus. Sie überrannte mich fast. Die letzten Wochen vor den großen Sommerferien waren sowieso immer der Horror für mich. Das Wissen darum, dass ich ihn bald wiedersehe, mit ihm reden, scherzen und ihn berühren konnte, ließ mich kaum schlafen. Noch war es besonders hilfreich in irgendeiner Form Konzentration zu finden. Für Klassenarbeiten und Tests nicht unbedingt das Beste. „Rick...", sage ich, will ihm klar machen, dass ich erstmal Zeit zum Nachdenken benötige. Doch soweit komme ich nicht. „Lee. Hör einfach nur zu!", unterbricht er mich sanft, "Bitte verzeih mir. Meine Reaktion war dumm und unsensibel." Er klingt aufrichtig und ernst. „Ich will doch einfach nur, dass du bei mir bist, dass du sicher und glücklich bist und doch... Ich mache das falsch, oder?" Ich weiß, dass er darauf keine Antwort will. Meine Fingerspitzen pulsieren und dich drücke das Plastikgerät noch etwas mehr an mein Ohr. Ein schweres Seufzen perlt über meine Lippen. Der Schmerz in seiner Stimme trifft mich hart. „Ich rede mit ihr und..." Wieder bricht er ab. "Danke, dass du rangegangen bist. Passe bitte auf dich auf. Du fehlst mir." „Du mir auch", erwidere ich leise, höre, wie er ein leises Okay murmelt und dann auflegt. Die Fahrt zurück zu meiner Wohnung verläuft ruhig. Vor der Haustür bleibe ich stehen. Und fast sofort erfasst mich ein kalter Schauer, der sich über meinen Nacken arbeitet bis nach vorn zu meiner Brust. Mein Puls steigt senkrecht nach oben und ich spüre meinen Herzschlag dumpf in meinen Fingerspitzen. Ich atme mehrere Male tief ein und geräuschvoll wieder aus. Panik erfasst mich und ich sehe mich um. Oberflächlich ist nichts auffällig zu sehen. Nicht mal eines von Moores typischen Fahrzeugen. Ich darf nicht paranoid werden, sage ich mir. Doch es hilft nur minimal. Ich drücke die Haustür auf und gehe so langsam, wie noch nie die Treppe hinauf. Fahrig schiebe ich meine Hand in die Hosentasche und krame nach meinen Schlüsseln. Er fällt zu Boden noch bevor ich ihn richtig in der Hand halte. Das Klirren ist laut. Ich sehe, dass meine Hände zittern als ich langsam danach greife. „Hey, alles okay?" Die unerwartete Frage lässt mich hochfahren. Ich wende mich etwas ungelenk um und verdrehe mir dabei auch noch den Fuß. Mein Nachbar und eine junge Frau stehen auf der Treppe hinter mir. Erst jetzt bemerke ich, dass ich auf seiner Etage stehen geblieben bin. Ich nicke dem Brünetten zu, weiche zur Seite aus und sehe dann zu ihr. Meine Augen bleiben in ihrem ebenmäßigen Gesicht hängen. Dunkle, intensive Augen, die von schwarzen Wimpern umrahmt werden. Sie trägt kaum Make up und hat ein ausgesprochen niedliches Gesicht. Zart und schön. Das mit dem Make up fällt mir vor allem im Vergleich zu Rachel auf, deren Augen extrem geschminkt waren. Ich merke erst, dass ich sie anstarre, als sie den aufgehobenen Schlüssel in mein Blickfeld rückt. Auch ihre Haut hat einen dunkleren Teint, aber nicht annähernd so dunkel, wie Kaleys. Ich nehme den Schlüssel dankend entgegen und murmele eine Entschuldigung. „Hat man dein Schloss schon ausgetauscht?", fragt mich Mark und ich schüttele nur kurz mit dem Kopf. Der Blick der jungen Frau wird verwundert, doch er erläutert nichts, sondern scheint mich weiterhin ausführlich zu mustern. Ich fühle mich gezwungen ihn zu beschwichtigen, da ich nicht möchte, dass er sich ein weiteres Mal genötigt fühlt mir seine Hilfe anzubieten. „Das wird am Montag erledigt... Ich will nur schnell etwas holen", erkläre ich. Der erste Teil ist nicht mal gelogen. Meine Finger zittern wieder deutlicher, als ich darüber nachdenke, dass ich bis Montag in der Wohnung bleiben muss. „Sollen wir dich begleiten?", fragt seine Freundin und schaut fragend zu Mark. Ob sie seine Freundin ist? Ich lehne das Angebot dankend ab und möchte die beiden nicht weiter aufhalten. „Sicher? Wir planen nur einen Filmetag und kochen. Wir haben also Zeit und geben dir Rückendeckung", bietet Mark an, deutet, während er spricht, übertrieben mit seinem Daumen in alle Richtungen und positioniert sich in eine leichte Boxerpose ein. Eine auflockernde Geste und sie nimmt mir tatsächlich etwas Anspannung. Ich lache kurz auf. Die Unruhe bleibt. „Vielen Dank, aber... das wird schon. Ich fürchte mich ja nur vor dem zurückgelassenen Chaos." Ich deute mit dem Daumen die Treppe hinauf, greife den Schlüssel fester und nehme die erste Stufe nach oben. Mark hat beim letzten Mal ein wenig der Unordnung mitbekommen, weiß also wovon ich spreche. „Okay, pass auf dich auf...", entgegnet mir Mark und zieht seine Freundin zu seiner Wohnungstür. „Habt einen schönen Tag." Ich hebe meine Hand zum Gruß und setze meinen Weg nach oben fort. Der Schlüssel in meiner Hand klimpert deutlich, denn meine Hand zittert noch immer. Ich höre ihre leisen Stimmen, lausche so lange bis sie vollends verstummen und die Haustür ins Schloss fällt. Ein Klicken und auch meine Wohnungstür öffnet sich. Ich verschließe sie hinter mir und lasse den Schlüssel, wie beim letzten Mal stecken. Noch immer strömt mir der Geruch von Rauch entgegen. Nur noch dezent, aber für mich deutlich und prägnant. Eine unangenehme Gänsehaut legt sich auf meinen Körper. Als Erstes öffne ich weitere Fenster und bleibe dann vor der Schlafzimmertür stehen. Eine gefühlte Ewigkeit. Doch dann reiße ich mich zusammen, entferne die Bettwäsche von Decke und Kissen. Ich reiße sie förmlich herunter und verfrachte alles sofort in die Waschmaschine. 60°C plus Vorwäsche. Dem Bedürfnis, die Bezüge in den Müll zu verfrachten, widerstehe ich, da ich nur die einen besitze. Die Gänsehaut bleibt. Während die Maschine läuft, beginne ich sauber zu machen. Ich reinige jede winzige Oberfläche im Schlaf- und Wohnzimmer. Zweimal. Dreimal. Auch die Unruhe bleibt. Selbst als ich mich über das Bad und die Küche hergemacht habe. Als ich fertig bin, stelle ich mich selbst unter die Dusche, lasse warmes, fast heißes Wasser über meinen angespannten Körper fließen. Das macht mich alles so fertig. Für einen Moment versuche ich alle Gedanken aus meinem Kopf zu verbannen. Es funktioniert. Ich summe ein Lied, welches ich vor ein paar Tagen im Radio gehört habe. Nur ein paar Takte, dann weiß ich nicht mehr weiter. Die Gedanken kommen wieder. Ich nächtige auf Couch, nachdem ich eine gefühlte Ewigkeit vor meinem Bett stehe und es trotz ausgetauschtem Bettzeug nicht schaffe mich hinein zu legen. Am nächsten Morgen erwache ich mit Rückenschmerzen und dem Gefühl keine 15 Minuten am Stück geschlafen zu haben. Mehrere Male bin ich aufgestanden, habe den Schlüssel im Schloss gedreht. Auf. Zu. Auf. Zu. Immer so weit, bis ich ihn nicht weiter drehen konnte. Das mache ich auch den gesamten Sonntag, nachdem ich eine weitere Runde mit dem Putzlappen gedreht habe. Vor allem in der Nacht. Ich mache wieder kaum ein Auge zu. Am Morgen schließe ich meinen Spind, lasse das Vorhängeschloss zuschnappen und lehne meinen Kopf gegen das kühle Metall. Ich bin müde. Zu müde um zu arbeiten. Ich höre, wie die Tür zum Umkleideraum aufgeht. ich vernehme ein paar Schritte. Als ich aufsehe, erkenne ich einen der älteren Kollegen von Stevens Truppe. Er grüßt mich und ich sammele meine Sachen zusammen. Dösig schlängele ich mich durch die Schrankreihen und werde unerwarteter Weise von einem Körper gestoppt. „Entschuldigung", murmele ich fahrig, spüre eine haltende Hand an meiner Hüfte und sehe auf. Stevens blaue Augen blicken mir amüsiert entgegen. Ich zucke sofort zurück, lasse versehentlich meine Wasserflasche fallen und spüre, wie sich mein gesamter Körper auf Abwehr einstellt. Die Flasche rollt gegen Stevens Füße. „Guten Morgen, Eleen...", gibt er ruhig von sich, schließt seinen Spind und beugt sich zu der runtergefallen Wasserflasche. Als er hochkommt, richtet sich sein Blick direkt auf mich. Musternd und eindringlich. „Du siehst müde aus. Schläfst du schlecht?", fragt er mit einem seltsames Lächeln auf seinen Lippen und hält mir die Plastikflasche hin. Ich greife nicht danach, da in meiner Vorstellung eines dieser klischeehaften Zurückzieh-Spielchen beginnt. Eine zu streckende Bewegung, doch ich reagiere noch immer nicht. Ich beobachte sein Gesicht, versuche zu verstehen, was er mit all diesen Andeutungen und Taten wirklich bezweckt. Hat er doch etwas mit dem Einbruch zu tun? Er wäre der Einzige, der an meine Schlüssel gekommen sein könnte. Er kennt meine Adresse aus der Personalakte. Das Alles. Aber mir fehlt noch immer ein richtiger Grund. Gut, wir können uns nicht leiden. Aber wieso sollte er sowas tun? Die Stimme meines Kollegen reißt mich aus den Gedanken. „Wo ist denn deine Angriffslust hin? Man könnte glatt meinen, du wärst eingeschüchtert, aber das kann ja unmöglich sein." Stevens Lächeln wird hämisch. "Du warst gar nicht beim Vorarbeiter... " „Lass mich in Frieden, Steven", sage ich, nachdem ich mich etwas gefasst habe. Das Lächeln in seinem Gesicht wird zu einem Grinsen. Er legt mir die Flasche in die Hände und beugt sich zu mir. „Das kann ich nicht mehr..." Damit geht er an mir vorbei. Erst als er aus dem Umkleideraum verschwunden ist, realisiere ich die Reaktion meines Körpers. Heftiges Zittern und bis ins Mark gehende Gänsehaut. Was hat das nun wieder zu bedeuten? Das kann er nicht mehr, wiederhole ich. Wieso kann er es nicht mehr? „Ellen?", ruft es mich plötzlich. Ich brauche einen Moment um zu reagieren. Der Auszubildende ist an der Tür stehengeblieben und sieht mich an. Er wiederholt meinen Namen. Auch Kai betont meinen Namen immer wieder falsch. Vor allem dann, wenn er unsicher ist. Ich ignoriere es. In seinen Händen hält er ein Klemmbrett und einen Gerät mit einer metallischen Kugel auf der Spitze. Ein Feuchteindikator. Mit diesen Geräten lassen sich Materialfeuchtewerte ermitteln. Das Gerät in Kais Hand wandert von der einen in die andere. Er wirkt nervös. Ich kann mir nicht erklären, warum. Bisher war ich dem jungen Auszubildenden gegenüber immer freundlich und hilfsbereit. Wahrscheinlich macht auch ihm diese ganze komische Situation zu schaffen. Steven hat ihn in gewisser Weise mit hineingezogen. „Kann ich dir helfen?", frage ich und lächele, nachdem von dem jungen Azubi noch immer nichts kommt. Kai nickt und wirkt für einen Bruchteil noch nervöser. Sofern das möglich ist. Ein feiner Seufzer perlt von seinen trockenen Lippen. Dann leckt er sich darüber. „Ja, ich soll das hier benutzen... Aber ich weiß gar nicht, was es ist." Mit jedem Wort wird seine Stimme leiser und eingeschüchterter. „Und warum hast du das nicht denjenigen gefragt, der es dir in die Hand gedrückt hat?" Kai wendet seinen Blick beschämt zur Seite. Selbstständiges Handeln gehört noch nicht zu seinen Stärken und aktives Nachfragen ebenso wenig. Sofort denke ich an Steven. Sicher hat er ihm diese Aufgabe erteilt und sich dann nicht weiter gekümmert. Und Kai sich nicht getraut weiter zu fragen. Mein Magen beginnt erneut zu rumoren und meine Fingerkuppen werden eiskalt. Wieder erfasst mich ein unangenehmer Schauer, der sich sichtbar auf meiner Haut abzeichnet. Ich nehme dem jungen Mann das Gerät aus der Hand. Ich sehe, wie Kai meinen entblößten Arm entlang sieht. Nach einem kurzen Wühlen in den längst vergangenen Inhalten meiner Ausbildung kann ich ihm ein bisschen was dazu erklären. Wenigstens hat das Ding nur vier Knöpfe. In den alten Kellerräumen der Strafanstalt gab es viel Feuchtigkeit und damit auch Schimmel. Keine schöne Sache. Kai ist aufmerksam und fängt nach ein paar Minuten auch wieder an zu lächeln. Ich brauche selbst einen Moment, bis ich das Gerät vollends verstehe und dem jungen Mann wirklich helfen kann. Wir besorgen ihm einige Unterlagen, in denen die Messstellen- und werte der vorigen Untersuchen vermerkt sind und ich gebe ihm den Auftrag, genau diese Stellen wieder abzuarbeiten und alles sorgsam zu notieren. Als ich denke, dass er gut allein zurechtkommt, widme ich mich meinen eigenen Aufgaben. Ich überprüfe die Heizungsanlage. Sie läuft einwandfrei. Als nächstes werfe ich einen Blick auf die Klimaanlage. Nichts. Gerade als ich ein klein wenig gelangweilt auf das Handy blicke, höre ich, wie die Tür aufgeht. „Hey. Hast du viel zu tun?" Kai. „Bist du fertig mit dem Messen?", frage ich, ohne ihm meine Langeweile deutlich zu machen. „Ja, bin fertig und habe die Aufzeichnungen schon Herr Baumer gegeben." „Gut." Ich lächele ihm zu und warte darauf, dass er etwas erwidert. Doch es passiert nichts. Langsam empfinde ich Kais Verhalten als äußerst seltsam. „Kommst du mit mir Mittagessen?", platzt es mit einem Mal aus ihm heraus und er blickt mich ebenso erschrocken an, wie ich ihn. Das Telefon in meiner Hand beginnt zu klingeln. Ich erkenne die Nummer des Foyers, schaue kurz zurück Kai, der mit noch immer rotem Kopf vor mir steht und gehe nach kurzem Zögern ran. „De Faro", sage ich. „Hey. Hier steht ein Ewan de Faro und möchte dich sprechen." Meine Fingerspitzen beginnen zu pulsieren, als der Pförtner den Namen meines Bruders nennt. Oh nein. Bitte nicht. Kapitel 20: Die herbe Süße reinen Weines ---------------------------------------- Kapitel 20 Die herbe Süße reinen Weines Als ich runter ins Foyer komme, bleibe ich neben dem Tresen des Pförtners stehen und sehe mich nach meinem Bruder um. Ich finde ihn sofort. Ewan hat sich zu einer der Sitzgruppen im Foyer gestellt. Sein Blick wandert über die Prospekte und Angebote. Seine Miene verrät nicht die geringste Regung und dennoch wirkt er seltsam ruhelos. Auch die Tatsache, dass er sich nicht hingesetzt hat, spricht dafür. Ich atme angestrengt aus. Außerdem verfehlt die große Gestalt meines Bruders ihre Wirkung nicht. Jeder, der an ihm vorbeigeht, blickt verstohlen zu ihm auf. Männer, wie Frauen. Auch bei mir weckt es die altbekannten Gefühle. Von den drei Brüdern bin ich der Jüngste und bin trotz meiner 1,80 m der Kleinste. Das haben sie mich oft spüren lassen. „De Faro!" Ein Flüstern dringt zu mir. Ich schaue zur Seite und direkt in das rundliche Gesicht des Pförtners. Seine Augen wandern nervös zu meinem Bruder und dann wieder zu mir. „Brauchst du Hilfe?", fragt er vorsichtig, greift an seinen Sicherheitsgürtel, an dem ein Teaser und Pfefferspray befestigt sind. Er müsste springen um das gefährliche Spray in Ewans Gesichtsbereich zu bekommen. Ich kann nicht verhindern, dass sich ein seltsames Lächeln auf meine Lippen schleicht. „Nein, schon gut. Er ist mein Bruder." Obwohl es beruhigend klingen soll, höre ich mich zurückhaltend an. Micha wirkt nicht überzeugt. Auch die Tatsache, dass ich noch nicht überschwänglich auf mein Familienmitglied losgestürmt bin, gibt ihm wohl Anlass zum Zweifeln. Meine Familie war noch nie besonders bekannt für ihre lauschigen Gefühlsbekundungen. Begrüßung und Verabschiedungen bestehen bei uns aus einem einfachen Händedruck, leichten, eher unfähigen Umarmungen oder seit meiner Entlassung auch nur noch aus einem leichten Nicken. Ewan blickt sich ungeduldig um und wenn ich nicht binnen weniger Sekunden unter dem Empfangstresen abtauche, wird er mich gleich sehe. Schon geschehen. Ewan erkennt mich sofort und hebt fragend seine Hände in die Luft. Ich komme nicht umher, die wenigen Meter zu ihm zu überbrücken und merke, wie mein Kopf auf dem Weg dorthin tausende Gedanken durcheinander schmeißt. Habe ich etwas vergessen? Sicher ist es nur eine Stippvisiten, weil ich die letzten Tage nicht erreichbar gewesen bin. Da er mir nichts aufs Band gesprochen hat, habe ich nichts Böses vermutet. Ich bleibe vor ihm stehen und sehe dabei zu, wie sich Ewans Arme vor seiner Brust verschränken. Unser Begrüßungsrepertoire wurde gerade erweitert. Die eigentlich abwehrende Geste ist bei meinem Bruder ein Ausdruck seiner Unzufriedenheit. „Eleen..." Ich bin es Leid meinen Namen so aus seinem Mund zu hören. Ich seufze genervt und will mich nicht länger mit Floskeln aufhalten. „Was machst du hier?", frage ich direkt und ohne Umschweife. Außerdem möchte ich ihm verdeutlich, wie sehr es mir gegen den Strich geht, dass er bei meiner Arbeitsstelle aufkreuzt. Er selbst hatte mir vor nicht allzu langer Zeit bei einer stundenlangen Ansprache versucht deutlich zu machen, wie wichtig dieser Job für mein normales Leben ist. Eine Chance für ein normales Leben. In jedem seiner Sätze verwendet er das Wort Normal. Aus Interesse heraus habe ich danach den Duden aufgeschlagen und die Bedeutung herausgesucht. So, wie es allgemein üblich oder gewöhnlich ist oder als üblich und gewöhnlich gesehen wird, heißt es darin. Nach meinem Gefängnisaufenthalt war für mich nichts mehr gewöhnlich. Nichts war, wie üblich. Normalität war ein Fremdwort. Niemand hat es verstanden. Ewan seufzt ebenfalls auf und lässt dann seine Hände wieder sinken. Nun wirkt er eher müde als angriffslustig. „Wie geht es dir?", fragt er mich ohne auf meine Frage einzugehen und um die Spannung zu reduzieren. Allerdings funktioniert es nicht. Ich finde unmöglich, dass er ohne Ankündigung hier auftaucht. „Gut... Ewan, was soll das? Wieso bist du hier? Wenn dich mein Vorarbeiter sieht, dann bekomme ich sicher ärger und du willst doch sicher nicht, dass ich den Job hier verliere. Falls du dich daran erinnerst, ist das das Wichtigste überhaupt...", äffe ich seine vormaligen Ansprachen nach und bin reichlich kindisch. Es ist mir nur gerade vollkommen egal. „Wenn du deinen Verpflichtungen – regelmäßiges Melden, Zurückrufen und Vermeiden von Ärger- nachkommen würdest, wäre das Alles nicht notwendig" Er bellt mir diese sogenannten Pflichtaufgabe förmlich entgegen, verdeutlich mir damit noch einmal mehr, welche Position ich habe. Die des Gehorchenden. „Ewan, was willst du hier?", erkundige ich mich erneut, nachdem er seine Tirade endlich enden lässt. Ich schaffe es nicht zu kaschieren, wie sehr mich diese Bevormundung nervt. „Richard mal wieder gesehen?", knallt er mir vor den Latz. Zischend und leise. So dass es niemand anderes hört. Ich stocke augenblicklich und ich bin mir sicher, dass ihn erschrocken ansehe. Meine Reaktionen sind derartig verräterisch, dass ich kaum eine Chance habe mich herauszureden. Ich war auch noch nie sehr gut darin. Bevor ich etwas erwidern kann, holt er ein gefaltetes Blatt aus seiner Hosentasche hervor und drückt es mir in die Hand. „Deine Antwort kannst du dir sparen." Ich entfalte den ersten Knick. Mit schwarzem Filzstift ist das Datum von vor paar Tagen darauf notiert. Ich entblättere das Papier noch weiter und schlucke, als sich die schemenhaften Schatten eines Bildes abzeichnen und dann mich und Rick am Bahnhof offenbart. Unser Kuss. Unser schöner Moment. Mein Herz flattert, stolpert, fällt. Ich lasse das Bild sinken und wage es nicht meinen Bruder anzusehen. „Im Ernst, Eleen, bist du noch ganz bei Trost?", wettert er laut. So laut, dass seine Stimme einen Moment lang in der großen Eingangshalle widerhallt. Ich zucke deutlich zusammen. Auch Ewan zuckt zusammen, erschrocken durch die Schärfe seiner Stimme und den enormen Hall, der seine Worte durch den halben Raum tragen. Dennoch ist seine körperliche Reaktion weniger ausgeprägt als meine. Neben dem altbekannten Unwohlsein spüre ich Scham, die sich durch die sonderbare Situation in mir ausbreitet wie ein Buschfeuer. Ich weiß nicht, wie ich die Bilder erklären soll. Wie ich ihm verständlich machen soll, warum ich trotz aller Verbote nicht die Kraft habe, mich von Richard Paddock fernzuhalten. Meine Gedanken beginnen zu kreisen und mein allgegenwärtiges Gedankenkarussell beginnt von neuem. Wer macht das? Wer hat dieses Foto gemacht und wieso hat er es Ewan geschickt? Alle in Frage kommenden Personen spulen sich ab, ohne dass sich auch nur eine der vorigen Fragen beantwortet. Ihre Motive. Die möglichen Gründe. Ich verstehe noch immer nicht, was dieses Spielchen soll. Mein gerufener Nachname reißt mich aus den Gedanken. Auch Ewan reagiert. Ich erkenne die Stimme. Kaley. Ich wende mich zu der schönen dunkelhäutigen Frau um, die auf mich und meinem Bruder zukommt. Ihr schlanker Körper steckt in einem wollweißen Leinenanzug mit weiten Hosenbeinen und in einem perfekt umschmeichelnden Blazer. Es ist jedes Mal wieder beeindruckend. Kaley lächelt mir entgegen. Erst als sie bei uns ankommt, wandern ihre aufmerksamen Augen zu Ewan. Meinem Bruder gilt das professionelle, distanziert wirkende Lächeln. Ich wende mich bewusst von meinem Bruder ab und stecke das Bild schnell in meine Hosentasche. "Hey, kann ich was für dich tun?" „Ja! Bitte, verzeih die Störung, aber wir benötigen dringend Hilfe." Sie lächelt. „Natürlich", sage ich und schaue zu meinem Bruder. Seine Augen ruhen auf der schönen dunkelhäutigen Frau. „Ich komme gleich", wende ich mich wieder an Kaley, die nickt und schwungvoll zurück zum Empfangstresen geht. Ich ziehe meinen Wohnungsschlüssel aus der Tasche, den ich seit meiner furchtvollen Erkenntnis lieber bei mir trage und halte ihm diesen hin. Erst durch das leise klimpernde Geräusch löst er seinen Blick von Kaley. Er schiebt meine Hand samt Inhalt wieder zurück. Aus der Jackentasche zieht er den Ersatzschlüssel. Tatsächlich hat seine Anwesenheit doch etwas Gutes. Jetzt kann ich ihm gleich den neuen Schlüssel zu meiner Wohnung aushändigen. Ich verkneife mir ein verbissenes Lächeln. Ohne noch irgendwas zu erwidern, wende ich mich ab. Ewan hält mich zurück. „Wann machst du Feierabend?" „Gegen 14 Uhr", sage ich knapp. Um vier Uhr kommt der Schlüsseldienst. Ewan hätte zu keinem schlechteren Zeitpunkt kommen können. Mein Bruder sieht mir nach als ich zu Kaley gehe, die noch immer am Tresen bei Micha steht. Deutlich spüre ich seinen wissenden Blick in meinem Rücken. Der Gedanke daran, dass mein Feierabend mit Ewan ausgefüllt sein wird, bereitet mir Magenschmerzen. Er hat sicher Frage und etliche neue Vorwürfe parat. „Das gehörte nicht in die Kategorie 'Herzliches Familienwiedersehen'", kommentiert Kaley, nachdem wir in einen der Seitengänge des Gebäudes eingebogen sind. Ein sonderbares Lachen perlt von ihren Lippen. Es ist tief und eigenartig bitter. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal ein herzliches Wiedersehen mit meiner Familie hatte. Die Distanz zwischen uns ist mittlerweile länger als der Nil und ich glaube nicht daran, dass sich das je wieder ändern wird. „Das hast du gemerkt?", sage ich fast ein wenig sarkastisch und kann mir ein verzweifeltes Lächeln nicht verkneifen. Ich fühle mich scheußlich. Ewan hat diesen Effekt auf mich. Er zermürbt mich. Kaley lächelt wissend. Während unseres gemeinsamen Restaurantbesuchs haben wir uns über unserer familiären Strukturen ausgetauscht. Wir sind beide umgeben von Brüdern aufgewachsen, aber nur einer von uns ist wirklich glücklich damit. Ich bin es nicht. Für mich war es meistens eher anstrengend mit zwei älteren Brüdern auskommen zu müssen. „Ja, aber nur weil ihr zwei so respektvoll und ruhig miteinander geredet habt..." Kaley setzt noch einen drauf. Sie fummelt kurz an ihrer Uhr herum und seufzt dann leise. „Danke, dass du mich...na ja, gerettet hast...", sage ich nach kurzem Schweigen, quäle mir ein verlegenes Lächeln ab und bleibe mit ihr vor dem Treppenhaus stehen. „Immer wieder gern! Warum ist er denn hier und warum greift er dich mitten im Foyer derartig an?" Er will Ärger machen, hallt es spöttisch als Antwort zu ihrer ersten Frage in meinem Kopf. Genau das, was ich im Moment am Wenigsten gebrauchen kann. Die schöne Frau neben mir schaut mich aufmerksam und abwartend an. Dennoch antworte ich ihr nicht. Ich zucke leicht mit den Schultern und greife nach der Türklinke. Ihre schlanken Finger legen sich auf meinen Arm und zwingen mich so, doch eine geeignete Antwort hervorzukramen. „Es ist etwas kompliziert zu erklären..." Genau genommen kann ich es ihr nur dann erklären, wenn ich ihr auch von meiner Verfehlung berichten würde und das möchte ich einfach nicht. Eine ihrer wohlgeschwungenen Augenbrauen hebt sich nach oben. Kaley ist schlau genug, um zu merken, dass irgendetwas ganz und gar nicht mit mir stimmt. Ich lehne mich etwas ermattet gegen die Wand, schließe kurz die Augen und unterdrücke einen verzweifelten Seufzer. Im Moment mache ich diese Geräusche der Verzweiflung viel zu oft. Ich sollte versuchen meine Lage nicht noch hilfloser darzustellen, als sie für sie sowieso schon scheint. Bevor sie erneut fragen kann, komme ich ihr zu vor. „Hör zu, ich bin dir wirklich dankbar, dass du dich um mich sorgst und...Aber ich denke nicht, dass..." „... das, was, Eleen? Egal, was es ist. Ich bin ein großes Mädchen und kann damit umgehen! Und ich kann mir meine Meinung selbst bilden. Also, was glaubst du passiert, wenn du mir etwas anvertraust?", fragt sie gerade heraus und klingt wirklich enttäuscht. Ich kann sie verstehen. Auch Kaley lehnt sich mit der Schulter gegen die Wand und sieht mich weiterhin an. Das tiefe Braun ihrer Iriden ist klar und ehrlich. Das macht mir nur noch mehr zu schaffen. Bevor ich ihr etwas antworten kann, höre ich Stimmen, die schallend näher kommen und wenige Augenblicke später kommt ein Tross Kollegen an uns vorbei. Sie tragen Anzüge und perfekt gestylte Frisuren. Drei von ihnen bleiben neben Kaley stehen. „Oh, Miss Abeba. So schön, wie immer. Wann darf ich dir endlich die Aufmerksamkeit zukommen lassen, die du verdienst?", flötet ihr ein großer Blonder entgegen. Ihre schönen dunklen Augen verdrehen sich ungehalten und erst dann wendet sie sich ihm zu. „Wenn pinke Elefanten fliegen lernen, Tobey...", kommentiert sie schlagfertig und verschränkt die Arme vor der Brust. In dem Gesicht des Blonden entsteht nur ein angesporntes Lächeln. In diesem Moment blickt er auch zum ersten Mal zu mir. Ich kenne diese Blicke. Kein Wort ist zwischen uns gefallen und doch schätzt er ein, dass ich für ihn kein Konkurrent bin. „Ein einziges Essen. Im 'Te Amore' und zum Nachtisch gibt es das beste Tiramisu, das du je essen wirst." „Ich bin kein Fan der italienischen Küche...also nein...", erwidert sie gelangweilt. „Du brichst mir das Herz....", schleimt er weiter, macht ein paar theatralische Gesten und erntet von seinem Anhang zustimmendes Raunen. Kaley tut mir Leid, wenn sie so etwas wirklich öfter ertragen muss. „Wie zig anderen. Du kommst darüber hinweg...", sagt die schöne Dunkelhäutige und für einen kurzen Moment sehe ich diesen verheißungsvollen Gesichtsausdruck bei ihm und er macht mir Gänsehaut. Ein überhebliches Lächeln bildet sich auf seinen Lippen. Bevor er erneut den Mund öffnen kann, lege ich meine Hand an Kaleys schlanke Hüfte. „Du hast Recht, italienisch ist zu gewöhnlich. Das Injera in dem kleinen äthiopischen Restaurant vom letzten Mal war fantastisch... Und wie hieß noch mal dieses fantastische Eis, was wir uns geteilt habe?", stimme ich mit ein, sehe beim letzten Teil kurz zu Kaley und dann zu dem blonden Schambolzen. „Oh, die Köstlichkeit aus frittierte Banane, meinst du! Und das Alitscha, erinnerst du dich. Es war grandios...vielleicht sollten wir beim nächsten Mal das neue Indische Restaurant probieren", steigt sie sofort ein, klingt besonders lieblich, als sie mir entgegen lächelt und tatsächlich verschwindet sogleich das übertriebene Lächeln auf Blondies Gesicht. Er fummelt kurz an seinem Anzugsknopf herum und streicht sich dann die festsitzenden, blonden Haare zurück. Keine Veränderung. Ein scheinbar amüsiertes Schnauben perlt von seinen Lippen. „Nun gut, mein Verwöhnpaket steht dir jeder Zeit zur Verfügung..." Er macht eine Geste, mit der scheinbar alles erklärt scheint. Ich hebe verwundert meine Augenbraue und auch Kaley entflieht ein vor Absurdität tropfendes Raunen. Was für ein Auftritt. Sie wenden sich ab und lassen uns endlich in Ruhe. Erst, als sie sich definitiv nicht noch einmal umdrehen, entferne ich mich von Kaley und nehme meine Hand von ihrer Hüfte. „So ein Idiot. Immer dasselbe.", ächzt sie leise, streicht sich durch die kurzen Haare und gleitet mit dem Handrücken unter ihren Augen entlang. "Dankeschön." Ich winke ab. „Machst du dir keine Gedanken darüber, dass er dir irgendwann zu nahe treten könnte?", frage ich, während ich den drei Männern nachsehe. Solche Kerle, wie er entwickelten oft einen unnormalen Ehrgeiz und irgendwann explodierten sie. Oft zum Leidwesen der ins Augenmerk gefallenen Damenwelt. Mit einem solchen Typen habe ich mir im Gefängnis ein Zimmer teilen müssen. Er hat mir davon erzählt, wie seine Auserwählte zunächst abweisend gewesen sei, doch dann habe er sie für sich eingenommen. Sie willigte in ein Date ein. Er nannte es ein Spiel. Als sie sich dann letztendlich zierte, hat er sich mit Gewalt genommen, was ihm seiner Meinung nach zu stand. Er berichtete davon, als wäre es der normale Ablauf. Abgeklärt. Kalt. Es war furchteinflößend und widerlich. „Mit dem werde ich fertig...", sagt sie überzeugt und ich sehe endlich zu ihr. Auch Kaley richtet ihren Blick in den Gang. Trotz ihrer gefestigten Worte wirkt sie nachdenklich. Ihre Stärke in allen Ehren, aber erst in einem solchen Moment merkt man, wie schwach man wirklich ist. Mir macht allein der Gedanke Magenschmerzen. „Vielleicht hättest du nicht tun sollen... nachher macht er dir auch noch Ärger.", merkt sie an. Ärger. Im Moment besteht mein Leben sowieso nur aus Spannungen, da fiel eine mehr oder weniger nicht mehr auf. „Der muss mich im Keller erstmal finden", sage ich leise und versuche zu lächeln. Kaley erwidert es. „Sei bitte vorsichtig. Man unterschätzt sehr leicht, zu was Menschen fähig sind...und er...na ja...er hatte diesen speziellen Blick... und der bedeutet, triff ihn nicht allein", rate ich ihr und bin wirklich besorgt. Gefühle, egal ob positive oder negative, können einen so sehr überwältigen, dass man nicht mehr in der Lage ist, rational oder richtig zu handeln. Aus einem solchen Moment heraus, geschah das, was Richards und mein Leben für immer veränderte. Ich würde alles dafür geben, wenn es nicht derartig eskaliert wäre. Vielleicht hätten wir dann ein gemeinsames Leben geführt. Vielleicht hätte es auch nichts geändert. Kaleys Blick wandert ein weiteres Mal in den Gang und obwohl schon eine Weile niemand mehr zu sehen ist, starrt sie sich an einer Stelle fest. „Ich glaube nicht, dass man sich derartig in Menschen täuschen kann... Er ist aufdringlich und widerlich, aber ich denke nicht, dass er mir Gewalt antun würde..." Eine solche Naivität hätte ich ihr nicht zu getraut. „Kaley, gerade das sind die Schlimmsten! glaub mir!", sage ich eindringlich. Sie legt ihren Kopf schief und will mir noch immer nicht glauben. Anscheinend wird es doch Zeit, dass ich ehrlich bin. "Weißt du, ich saß vier Jahre lang wegen Totschlags im Gefängnis. Ich bin noch immer auf Bewährung und verstoße seit Wochen gegen meine Auflagen, weil ich es nicht schaffe, mich von der Person fernzuhalten, die laut meiner Strafakte zu meinen Opfern gehört", gebe ich nun genau das von mir, was ich vorhin unbedingt vor ihr verschweigen wollte. Vielleicht ist es besser. Vielleicht öffnet es ihr die Augen. Als ich aufschaue, sehe ich, wie sich ihre Hand über ihre vollen Lippen legt. Sie ist geschockt. Sie hadert. Mein Herz krampft sich zusammen. Es tut weh. „Und jetzt sage noch einmal, dass man sich nicht derartig in Menschen täuschen kann...", sage ich in Anlehnung an ihren letzten Wortlaut. Die schöne Frau schweigt, scheint völlig erstarrt. „Pass besser auf dich auf...", sage ich leise und verschwinde ohne etwas abzuwarten durch die Tür zum Treppenhaus. In der nächsten Etage sehe auf mein Handy. Die letzten beiden Stunden verbringe ich in dem kleinen Heizungsraum. Noch immer liegt der Geruch von ranzigem, altem Öl in der Luft. Es ist nur noch ein Hauch, doch er frisst sich wie Säure durch meinen Körper. Wann hat das alles nur ein Ende? Die Stunden ziehen sich ins Unendliche. Beim Umziehen in den Umkleideräumen fällt mir das gefaltete Bild in die Hände. Ich breite es aus und blicke auf die liebevolle Geste, die Rick und ich auf dem Bild einander schenken. Meine Lippe beginnt zu kribbeln, als ich mich an das Gefühl erinnere ihn zu spüren. Das Glück und die Liebe. Wenn Richard bei mir ist, dann fühlt es sich an wie früher. So, als wäre das alles nie passiert. Und doch spüre ich deutlich, dass die vergangenen Jahre so viele Veränderungen mit sich gebrachten, dass mir diese Vertrautheit fremd geworden ist. Ich lasse das Bild zurück in meine Tasche gleiten und schließe meinen Spind ab. Als ich aus der U-Bahn komme, gehe statt in die Richtung meiner Wohnung erst noch zu einem kleinen asiatischen Imbiss. Ich besorge etwas zu Essen. Zwar ist mein Kühlschrank noch immer gut gefüllt, dennoch regt die Vorstellung auf ein lustiges Broteschmier-Abendbrot mit meinem Bruder alles andere als Glücksgefühle in mir. Er weiß es, hallt es in meinem Kopf und verursacht mir Gänsehaut. Ich denke an Rick und wünsche mir nichts sehnlicher, als ihn in diesem Moment an meiner Seite zu haben. Er würde Ewan vernünftig Paroli bieten können. Ich bin dazu meistens nicht in der Lage. Ich merke, wie sich bei dem Gedanken an die unvermeidliche Konfrontation mein Brustkorb zusammenzieht und meine Schritte immer langsamer werden. Vor der Wohnungstür bleibe ich stehen. So lange bis mir deutlich der Geruch des chinesischen Essens in die Nase steigt und jede weitere Minute für Abkühlung sorgt. Trotzdem atme ich erst einmal richtig ein und wieder aus. Mache das insgesamt dreimal, bevor ich wirklich hochgehe. Ich öffne die Tür und atme erleichtert auf, als mir Ewan nicht sofort im Flur entgegen kommt. Leises Gerede dringt zu mir als ich meine Jacke in die Garderobe hänge. Gelächter. Der Fernseher. Ich stelle den Plastikbeutel auf der Kommode ab und entledige mich meiner Schuhen und der Socken. Mein großer Bruder breitet sich über die gesamte Couch aus. Mit verschränkten Armen lehnt er in einem der großen Kissen. Seine Füße sind nackt, genauso, wie meine. Unwillkürlich sehe ich auf meine eigenen und wackele mit den Zehen. Ewan starrt auf den Fernseher, in dem vier nerdige Jungs mit einer Blondine diskutieren. Schrödingers Katze. Das sagt mir etwas. Physik habe ich in der Schule immer gemocht. Geistesabwesend blicke ich dabei zu, wie sie reden, zusammen essen und diskutieren. Eine belebte Gemeinschaft. Ich sehe zu meinem Bruder. Ewan wirkt abgelenkt und er hat mich noch immer nicht bemerkt. Sein ruhiges Gesicht ist mir seltsam vertraut, auch wenn ich es schon etliche Jahre nicht mehr gesehen habe. In dieser Pose sieht er aus, wie unser Vater. Von ihm existiert nur ein einziges Foto. Vergilbt und blass. Das Bild schien langsam genauso wie die Erinnerung an ihm zu verschwinden. Meine Mutter versteckt es in einer Schachtel unter dem Bett, mit vielen kleinen anderen Erinnerungsstücken, deren Bedeutungen mir nur ein Verdacht bleiben. Sie erwähnte ihn nie. Sie sprach nicht über ihn. Sie dachte jeden Tag an ihn. „Hast du Hunger?", frage ich ruhig und sehe mit kitzelnder Freude dabei zu, wie mein Bruder zusammenzuckt. Sofort wechselte er in eine weniger bequeme Position und richtet sich letztendlich komplett auf. Er wirkt unschlüssig. „Ich hab uns etwas vom Chinesen mitgebracht..." Ich deute mit dem Daumen in den Flur und stoße mich vom Türrahmen ab, nehme im Vorübergehen die Tüte mit dem Essen mit und verschwinde in die Küche. Ewan folgt mir mit etwas Abstand. „Willst du auch einen Kaffee?", frage ich, greife bereits nach der Dose mit dem Pulver. „Ja, danke..." Danach folgt Schweigen, durchbrochen vom Rauschen des Wassers, dem leisen Gelächter des Fernsehers und den gedämpften Schritten unserer nackten Füße. Kein Wort. Immer wieder blicke ich verstohlen zu dem anderen Mann, räume ein paar Teller und Besteck raus. Ich habe eigentlich damit gerechnet, dass er mit meinem Auftauchen wieder zu ächzen und toben anfängt. Doch nichts. Diese Ruhe ist fast noch schlimmer. Nein, sie ist es definitiv. Auch nachdem wir uns im Wohnzimmer auf die Couch gesetzt haben, schweigen wir uns an. Ein paar Happen und ich halte es nicht mehr aus. „Ewan,..." „Okay, was denkst du dir dabei?", sagt er im selben Moment, in dem auch ich ansetze. Also doch nur die Ruhe vor dem Sturm. Was sagt es über mich aus, dass ich Erleichterung verspüre, als er mit einer neuen Tirade loslegt. „Ich habe wirklich versucht zu verstehen, was in deinem Kopf vorgeht, aber ich kann es nicht. Es entbehrt sich jeglicher Vernunft. Um Himmelswillen Eleen, willst du denn unbedingt zurück ins Gefängnis?" Natürlich will ich das nicht. Mir bricht Angstschweiß aus, wenn ich nur daran denke. Die Kälte, die ständige Beobachtung und doch war es die Einsamkeit, die einen heimsuchte und lähmte. Am Schlimmsten war es mitten in der Nacht. „Ich wusste ja schon immer, dass du eine ungesunde Verbindung zu diesem Kerl hast, aber das stößt dem Fass den Boden aus. Das kann doch nicht dein Ernst sein." „Schlägt", berichtige ich und stochere in meinen Nudeln rum. „Was?" „Das schlägt dem Fass den Boden aus." Ich spieße ein paar Bambussprossen auf und erschrecke augenblicklich durch den lauten Knall, welcher durch das Aufschlagen von Ewans flacher Hand auf dem Tisch verursacht wird. Ich strapaziere seine Geduld. Nicht, dass ich viel dafür tun müsste. „Hör mit deinen Spitzfindigkeiten auf. Verstehst du nicht, wie Ernst deine Lage ist?" Diesmal mit noch mehr Nachdruck. „Doch, das tue ich..." Er ist nicht der Erste, der mir eindringlich mitteilt, wie selten dämlich meine Aktionen sind. Der Detektiv hat etwas Ähnliches gesagt. Er hat versucht, mir zu erklären, dass mein Kindheitsfreund weniger über die Konsequenzen unseres Handelns nachdachte als ich und er hatte damit Recht behalten. Rick handelt wie früher. Aus dem Bauch heraus. Er geht mit dem Kopf durch die Wand, doch das ist schon damals nicht immer die beste Lösung gewesen. Moore weiß das. Augenblicklich frage ich mich, ob der alte Detektiv auch heute wieder in dem Auto vor meiner Wohnung sitzt. Beim Ankommen habe ich nicht darauf geachtet. Ob er von Ewans Anwesenheit weiß? Verstohlen stiere ich zum Fenster. Ich seufze leicht und stecke mir die Bambussprossen endlich in den Mund. „Und dennoch triffst du ihn? Warum machst du dir dein Leben unnötig schwer, Eleen? Hast du wegen Richard Paddock nicht schon genug gelitten?" Ich sehe meinem Bruder entgegen und bevor ich ihm etwas erwidern kann, klingelt es an der Tür. Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich dafür bedanken oder in Tränen ausbrechen soll. Erneut verzögert sich der Knall. An der Tür blicke ich dem Hausmeister samt Schlüsseldienst entgegen. Die Montage des neuen Schlosses dauert nicht lange. Nur der darauf folgende Papierkram sorgt endgültig dafür, dass mein Essen kalt wird. Nach gefühlten zehn Unterschriften überreicht mir der Hausmeister drei neue blanke Schlüssel und ein Bestätigungsschreiben für den Erhalt. Ich schließe hinter mir die Tür und spüre, wie sich etwas meiner Nervosität legt. Jetzt wird niemand mehr so schnell in meine Wohnung eindringen können. Das hoffe ich zu mindestens. Als ich das Wohnzimmer betrete, fehlt von Ewan jede Spur und auch von unseren Tellern. Ich finde ihn letztlich in der Küche. Er lehnt gegen den Küchentisch und starrt aus dem Fenster. Als er mich bemerkt, deutet er zum Herd, auf dem mein Essen in einer Pfanne vor sich hin brutzelt. „Du hast keine Mikrowelle...", merkt er an, so als müsste er mir erklären, warum er so gehandelt hat. Ich sehe auf den Tisch. Auch meine Tasse mit nur noch lauwarmen Kaffee steht darauf. Ich nehme einen Schluck und kippe den Rest zurück in die Spüle. Danach schalte ich die Herdplatte ab und befördere das Essen zurück auf den Teller. Hunger habe ich kaum noch. Ewan bleibt vor dem Fenster stehen. „Wieso musstest du ein neues Schloss bekommen?", fragt er und deutet auf den Schlüsselbund, den ich ebenfalls auf dem Tisch abgelegt habe um ihm nachher einen der Schlüssel auszuhändigen. „Ich habe einen Schlüssel verloren." Während ich das sage, beginne ich wieder zu essen. Eigentlich sind es nur einzelne Nudeln, auf denen ich lustlos herum kaue. Ewan scheint mit meiner Begründung zufrieden zu sein, denn er blickt ein weiteres Mal grübelnd aus dem Fenster, „Wie lange führt ihr schon eine derartige Beziehung?", fragt er dann, ohne mich auch nur anzusehen. Die Ablehnung, die mit seinen Worten einhergeht, ärgert mich. „Wie lange wir schon miteinander ficken, meinst du? Lange...", gebe ich bissig von mir, sehe wie mein Bruder bei derart deutlichen Worten zusammenzuckt und sich seine verschränkten Arme erschöpft lockern. „Eleen,..." Die Formulierung meines Namens ist fast resigniert. Ewan seufzt und streicht sich durch die dunklen Haare. Nun dreht er sich vollkommen zu mir um. „Warum hast du nie etwas gesagt?" „Hätte es etwas geändert?" „Vielleicht." Ich bezweifle es. Sie hatten versucht es mir auszureden, hatten deutlich auf unsere gesellschaftlichen Unterschiede verwiesen und mir letztendlich verboten Rick zusehen. Wir hätten niemals eine Chance gehabt. So etwas hat auch Detektiv Moore geäußert und genau das war es, was auch Renard Paddock gesagt hat. Ich habe ihm widersprochen und er hat mir auf seine ganz persönliche Art klar gemacht, wie wenig er von meinem Widerstand hielt. Wie jedes Mal steigt mir der Geruch von abgestandenem Zigarrenrauch in die Nase und ein heftiger Schauer erfasst mich. Er würde dafür sorgen, dass ich mich nie wieder von Richard anfassen lasse. Und er hätte es fast geschafft. Sein fester Griff um mein Handgelenk sorgt auch jetzt noch für pochenden Schmerz. Er hat mir die Hand fast gebrochen, als er mich zu Boden drückte und mir den Arm auf den Rücken drehte. Wieder und wieder hat er mir zu geflüstert, wie widerwärtig wir seien, wie wenig er von unserer Meinung hielt. Die Erinnerung an die Schwere seines Körpers und sein warmer Atem, der meine Haut traf, verursacht mir heftige Übelkeit. Sie erfasst mich mit kalten Schauern. Seine rauen Hände... „... zu verstehen. Es hätte uns einfach geholfen..." Ewan spricht die gesamte Zeit unbeirrt weiter. Ich stehe abrupt auf und Ewan stoppt mit seinen Ausführungen. Meine Hand legt sich gegen meinen Bauch und ich schaffe es rechtzeitig ins Bad. Die wenigen Lebensmittel, die ich heute zu mir genommen habe, sind schnell verschwunden. Mein Hals brennt als ich mich ein letztes Mal vorbeuge. Ewan ist mir gefolgt, das weiß ich, ohne mich zur Tür drehen zu müssen. Nach einem weiteren Mal würgen, lehne ich mich ermattet gegen den nahen Heizkörper und sehe auf. Ich erkenne Sorge in seinem Blick. Sie ist ehrlich und familiär. Er kommt auf mich zu und reicht mir die Hand. „Komm hoch, hier wirst du nur kalt." Ich nehme diese helfende Geste ohne zu zögern an und er zieht mich hoch. Kurz spüle ich mir den Mund mit Wasser aus, dann verfrachtet er mich aus der Gewohnheit heraus auf die Couch und verschwindet trotz meiner Einwände in die Küche. Er kommt mit einer dampfenden Tasse Tee und einem Glas Wasser zurück. Der Geruch von Anis und Fenchel weht mir entgegen. Diese Sorte kocht er wahrscheinlich auch für seine Tochter, wenn sie krank ist. „Er hatte es herausbekommen, oder?", sagt Ewan unvermittelt, „Renard Paddock hat es gewusst, das von dir und seinem Sohn, nicht wahr?" Er lässt sich auf das andere Ende der Couch nieder und ich nicke. Kapitel 21: Wenn es nur eine Erinnerung ist, die man liebt ---------------------------------------------------------- Kapitel 21 Wenn es nur eine Erinnerung ist, die man liebt Meine unruhigen Finger schließen sich um den Rand der dampfenden Tasse. Die Hitze trifft meine Haut und die Schmerzrezeptoren aktivieren sich. Doch ich nehme ihn kaum wahr. Die Erinnerungen hingegen, die sich tosend und heftig hervorarbeiten, sind scharf und klar. Sie erfassen mich mit all dem Schmerz der vergangenen Jahre. Ja, Ricks Vater hat von uns gewusst, denn er hatte uns gesehen. In einem vertrauten Moment. Einen sehr intimen. Noch jetzt spüre ich, wie sich der beschämte Schauer auf meinen Körper legt, wie sich meine Haut abwehrend hervor perlt und mir etliche kalte Stöße versetzt. Der Gedanke daran, dass er dabei zugesehen hat, wie wir uns liebten, scheint mich jedes Mal wieder vollkommen zu entblößen. Meine Hand streicht über die Hosentasche, in der sich das Bild befindet, welches Ewan mir gegeben hat. Auch der Gedanken bei unserem Kuss beobachtet worden zu sein, setzt dieses entsetzliche Gefühl frei. Ich schüttele es davon und versuche mich zu konzentrieren. Es ist nur nicht so einfach. Mein Hals brennt. Mein Kopf fühlt sich an, wie leergefegt und doch erfassen mich dauernd diese schmerzhaften Erinnerungen. „Wo hast du eigentlich das Bild her? Hast du...", frage ich leise, ziehe es hervor und entfalte es. Meine Hand zittert. „Hab ich was?", erkundigt er sich scharf. Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll und starre nur das Bild in meiner Hand an. „Denkst du etwas, ich hab dich beobachten lassen? Traust du mir das zu?" Ich zucke mit den Schultern. Im Moment weiß ich gar nichts mehr, aber wenn ich ehrlich bin würde ich es ihm durchaus zutrauen. „Herrje Eleen, ich bin nicht Sybilla Paddock und nein, ich hatte ehrlich gesagt das Vertrauen, dass du das Richtige tust und dann hatte ich vor ein paar Tage dieses Bild in meinem Briefkasten und bin aus allen Wolken gefallen." Er hat es zugeschickt bekommen. Ich schließe frustriert meine Augen und knülle das Bild zusammen. „Sag mir lieber, welcher Scherzkeks euch an den Karren fahren will." „Ich habe keine Ahnung..." "Irgendwer muss es doch sein? Denk nach", sagt er scharf. "Ich weiß es, aber nicht..." "Wer weiß noch, dass ihr euch wieder seht..." "Niemand... nur du...und.." "Und? Eleen, wer weiß es noch?" "Detektiv Moore..." "Was? Das ist ein Scherz? Um Himmelswillen... " "Er ist pensioniert... und er verrät es nicht. Er will nur seinen verdammten Fall lösen", kommentiere ich sarkastisch und greife zur Tasse. Ich nehme einen Schluck des beruhigenden Tees. Mein Hals dankt es. "Seinen Fall? Den von Renard Paddock? Er weiß von euch beiden, dir und...", hakt er nach, spricht aber Richards Namen nicht aus. Ich nicke fahrig ohne es wirklich zu wollen. Ewans große Hand streicht über seinen Mund, bettet sich für ein Zögern über seine Lippen. Danach fällt sie zurück in seinen Schoß. Ich kann seine Reaktion nicht deuten. Ist er sauer? Wütend? Enttäuscht. Ewan wäre damals und womöglich auch heute noch der Erste, der sich gegen eine Beziehung zwischen mir und Richard ausgesprochen hätte. Was also ändert diese Information? Nichts. Ewans Gesicht wendet sich zur Seite. Er folgt mit seinen Augen den tanzenden Schatten am Fensterrahmen. Ich beobachte, wie sie sich auf der gelblichen Oberfläche des Tees spiegeln. Scheinwerferlicht von Autos, die nur schemenhaft durch die Vorhänge dringen und seltsame Gebilde an die Decke und an die Wände werfen. Ein Muster streicht über Ewans mit Bartstoppeln bedeckter Wange. „Erzähl mir, was in der Nacht passiert ist..." Die Stimme meines Bruders ist bittend und ungewohnt ruhig. Das verwundert mich am meisten. Ich blicke auf und direkt in das noch ernster drein schauende Gesicht meines älteren Bruders. Die Falte zwischen seinen Augenbrauen ist tief und doch fühle ich mich das erste Mal seit langem nicht von ihm bedrängt. „Wir haben uns gestritten und ich stieß ihn die Treppe runter..." Ich klinge als hätte ich es auswendig gelernt. Irgendwie habe ich das auch. Ewan seufzt. „Und warum warst du dort gewesen?" „Ich wollte zu Richard..." „Nein, erkläre mir jetzt nicht, dass du nicht wusstest, dass Richard nicht da ist. Du hattest keinen Grund dort zu sein." Ich wende meinen Blick ab. „Warum also warst du es?" „Warum interessiert dich das auf einmal?", entfährt es mir aufgebracht. Damals fragte mich niemand danach. Alle nahmen das Offensichtliche als bare Münze. Fakt Nummer eins. Während eines Streits stieß ich Renard Paddock die Treppe hinunter. Fakt Nummer zwei. Niemand hatte nach einem Grund gefragt. Nein, es ist nicht wahr. Jemand hat danach gefragt. Detektiv Moore. Mit dem letzten Wort meines niedergeschriebenen Geständnisses hatte er sich vor mich gehockt. Ich erinnere mich gut an seine schon damals wässrigen, hellen Augen. Ihre Intensität, die in mich hineinzublicken schien. Ich konnte ihnen damals nicht entkommen. Er stellte mir die Frage nur ein einziges Mal. Ich antwortete nicht. Ich konnte es nicht, denn dann hätte ich mehr erklären müssen. Fakt Nummer drei. Ich habe es gestanden. Es musste niemand nachhaken. Während des Prozesses war es Sybilla Paddock, die über Richards und meine ungewöhnliche, fast abnormale Beziehung sprach. Ich sei von Richard abhängig gewesen, habe ihn manipuliert. Wir waren viel zu viel zusammen. Aber sie wusste nicht, wie tief unsere Beziehung wirklich ist. Ich sehe noch immer, wie sie in ihrem teuren, schwarzen Kostüm im Zeugenstand saß. In ihren Händen ein seidenes Taschentuch mit hellblauen Stickereien, welches andauernd über ihre Wangen wanderte. Scheinbare Tränen, aber kein einziger feuchter Fleck auf dem reinweißen Tuch. Wenn sie über ihren Mann sprach, dann erstickte ihre Stimme vor gespielter Trauer. Doch mit der Erwähnung meines Namens wich jeglicher angeblicher Kummer purem Zorn. Im Grunde hasste sie mich seit ich in Richards Lebens getreten bin. Das habe ich immer gespürt und es jagt mir auch heute noch einen eisigen Schauer durch den Körper. Ihr Blick war es, der mich bei jeder Erinnerung geißelte. Ich habe ihr ihren Mann genommen und in gewisser Weise auch ihren Sohn. „Es hat dich damals nicht interessiert, warum sollte es das jetzt?", frage ich mit zutiefst enttäuschter Stimme und schellte mich innerlich dafür, dass ich es nicht schaffe, ungerührt zu klingen. Die Reaktion, die ich bekomme, erfüllt mich mit Genugtuung. Mein Bruder seufzt schwer. Schuldbewusst. Ewans angespannter Körper spricht zusätzlich eine deutliche Sprache. Er rutscht etwas weiter nach vorn, so dass er sich dichter zu mir beugen kann. „Du hast es gestanden, Eleen. Was hätten wir deiner Meinung nach tun sollen?" Ewans Gesicht zeigt mir die Hilflosigkeit, die er empfindet, die auch der Rest meiner Familie damals empfand. Mit entfährt ein zischendes Geräusch. Ich war selbst schuld daran, dass es so weit gekommen ist. Wenn ich es geschafft hätte zu akzeptieren, dass es zwischen Richard und mir nie eine Zukunft geben wird, dann wäre es nicht passiert. Vielleicht war es der jugendliche Starrsinn oder der Mangel pubertärer Vorstellungskraft mir deutlich zu machen, dass ich jemals ohne Rick leben könnte. Ich wollte es nicht und ich kann es auch noch immer nicht. In diesem Sinn habe ich mich kein bisschen weiter entwickelt. Die Zeit im Gefängnis hätte mir nur beigebracht, meine Gefühle zum Wohle des Überlebens zu unterdrücken, aber sie hatten sich nicht gemindert oder gar ausradiert. Ich habe nur nicht darüber nachgedacht. Doch jetzt. Er ist mir wieder so nah. Ich denke an nichts anderes mehr. Der Wunsch bei ihm zu sein ist intensiv und unglaublich schmerzend. Ich habe damals nicht an meine Familie gedacht. Im tiefen Inneren meines Herzens weiß ich, dass ich auch heute genauso handeln würde, wie ich es in dieser verhängnisvollen Nacht getan habe. Nur um ihn zu schützen. Nur um mich an dem verzweifelten Verlangen zu nähren, bei ihm sein zu können. „Ich habe noch eine Decke im Schrank, die werde ich dir holen...", sage ich ausweichend. Ich habe kein Bedürfnis mehr weiter mit ihm darüber zu reden. Er ändert nichts. Er will Erklärungen, die ich ihm einfach nicht geben kann, weil er sie nicht versteht und nie verstehen wird. Die Vergangenheit ist Vergangenheit. Nichts, was er jetzt sagt oder versucht zu erklären, wird etwas ändern. Meine Familie ist mir fremd und ein weiterer Schatten der Vergangenheit. Ich ziehe das große Kissen hinter meinem Rücken hervor und gebe es Ewan rüber. Statt dem Kissen greift er nach meinem Handgelenk. Seine große Hand umfasst mich zur Gänze. Ich fühle mich wieder, wie ein kleiner Junge. Es ist unangenehm, obwohl diese Berührung in keiner Weise hart ist. „Eleen, du irrst dich, wenn du glaubst, dass wir dich aufgegeben haben. Wir wussten uns nur damals nicht zu helfen... Du hast geschwiegen. Du hast es vorher gestanden. Du hättest mit uns reden..." „... es macht keinen Unterschied." Ich bin mir des Dilemmas durchaus bewusst und trotzdem hätte mir der winzige Funken Verständnis bereits gereicht. Ich lasse das Kissen vor ihm fallen und stehe auf. An der Tür bleibe ich noch mal stehen, wende mich aber nicht zu ihm um. „Ich möchte, dass du morgen wieder zu deiner Familie fährst..." Es ist keine Bitte, aber es entspringt aus den Tiefen meines Herzens. Er muss seine Energien in andere Dinge stecken, nicht in das chaotische Leben seines Bruders. Denn er macht es nur noch Chaotischer. Ich werfe einen kurzen Blick zurück zu ihm auf der Couch. Ewan schweigt, aber sieht mich an. Ich hole die Ersatzdecke aus dem Schrank, komme nicht umher, kurz daran zu schnuppern und bin beruhigt, dass sie halbwegs annehmbar riecht. Zusammen mit einem frischen Handtuch lege ich sie auf die Kommode im Flur und gehe in mein Schlafzimmer. Die Tür schließt sich geräuschlos. Ich lehne mich dagegen, vermeide jeden weiteren Schritt in das Zimmer hinein. Die unangenehme Gänsehaut, die sich seit neusten auf meinem Körper bildet, wenn ich dieses Zimmer betrete, lässt mich erschaudern. Sie lähmt mich. Mein Blick wandert durch den Raum. Bis auf ein paar wenige Accessoire ist er wenig wohnlich ausgestattet. Immerhin schlafe ich hier nur. Nicht mehr. Allerdings ist genauso, wie der Rest meiner Wohnung. Manchmal habe ich das Gefühl, ich bin noch immer nicht angekommen. Ich höre die leisen Schritte im Flur. Wenig später die Spülung im Bad. Ich neige mein Ohr zur Tür, als ich das Gefühl habe, das Ewan am Schlafzimmer vorübergeht. Das leise Klopfen lässt meinen Puls steigen, doch überrascht es mich nicht. „Eleen?" Ein weiteres Klopfen. Ich rühre mich nicht. Ein weiteres Mal ertönt mein Name. Mein Blick fällt auf das Bett. Diesmal kann ich nicht auf die Couch ausweichen. Mein Puls rast bei der Vorstellung, was eventuell darin passiert sein könnte. Noch immer rieche ich etwas Zigarettenrauch, auch wenn ich es mir mittlerweile nur noch einbilde. Ich ziehe das Handy aus meiner Tasche, sehe auf die Uhr und lasse es wieder sinken. Ohne es wirklich bewusst wahrzunehmen, tippe ich Ricks Nummer ein. Blind und aus dem Kopf. Es dürstet mich danach, seine Stimme zu hören. Es klingelt lange. Mit jeder vergehenden Sekunde wird die Vernunft in mir wieder lauter. Bis sie mir entgegen schreit. In dem Moment, in dem ich beschließe, aufzulegen, meldet er sich. „Hallo..." Atemlos. Seine Stimme durchfährt mich mit einem wohligen Schauer. „Lee?" „Hey,..." Ich stoße mich von der Tür ab und gehe zu meinem Bett hinüber. Davor bleibe ich stehen. Rick atmet beruhigt aus, als ich reagiere. Dann höre ich es kurz plätschern. „Hey du, ich habe das Klingeln nicht gleich gehört. Ich liege in der Wanne... Alles okay bei dir?" Ich schließe meine Augen und verhindere nicht, dass ich ihn mir vorstelle. Das entspannte Gesicht, während das warme Wasser seinen schlanken Körper umschmeichelt. Der feuchte Glanz in seinem Haaren. Der Geschmack des Wassers auf seiner Haut. Seinen Lippen. Ich sehne mich danach sie zu schmecken. Seine Liebkosungen zu spüre und wie sein Herz im sanften Takt schlägt. Genauso, wie mein eigenes. So sehr vermisse ich ihn und das obwohl wir vorgestern noch zusammen gewesen sind. „Rede mit mir... bitte.", dringt mir als leises Flehen entgegen. Ich drehe mich auf die Seite, drücke das Plastikteil in meiner Hand wieder fester gegen mein Ohr, im Irrglauben, ihm so näher kommen zu können. „Ich brauche dich...", flüstere ich. Mein Herz wiederholt es schreiend. „Ich bin in 15 Minuten bei dir." Ich höre deutlich, wie er sich aus dem Wasser hebt. Ein Schwall Wasser, der bei der ruckartigen Bewegung an der Keramik zurückprallt. Das Plätschern. das Tropfen „Nein. Nein. Bitte, bleib wo du bist!", sage ich schnell. Meine Äußerung war unbedacht. „Wie kann ich das, wenn du solche Dinge sagt..." „Weil ich dich darum bitte." Das feine Seufzen höre ich deutlich und klar. Er ringt mit sich. So wie damals. „Lee, bitte sag mir, was los ist?" „Erzähl mir von deinem Tag...", sage ich, ohne auf Ricks vorige Frage einzugehen. Ich lege mich nach weiteren Zögern in das frisch bezogene Bett. Der Duft von Weichspüler paart sich mit dem eingebildeten Geruch von Zigaretten. „Bitte, erzähl mir einfach, wie dein Tag war... Alles. Jede Kleinigkeit", wiederhole ich meine Bitte. Ich will einfach nur seine Stimme hören. Sie in mich einsaugen und mich darin betten, wie in einer luftigen Wolkendecke. Rick fragt kein weiteres Mal. Ich schließe meine Augen, während er mir von seinem vergangenen Stunden erzählt. Er hat nicht gut geschlafen und er hatte keinen Schokoladenaufstrich mehr zum Frühstück. Ricks Omen für einen schlechten Tag. Es folgten mehrere lange Meetings. Ein Treffen mit einem alten Freund, der seit ein paar Wochen wieder in der Stadt lebt. Jemand aus seiner Schulzeit. Der erwähnte Name, ist der des Anrufers vom Wochenende. Jaron. Es kitzelt mich, aber ich habe kein passendes Gesicht dazu im Kopf. Rick berichtet mir von dem gemeinsamen Essen. Wilden Plaudereien. Er freut sich seinen Freund wieder öfter zu sehen. Jaron hätte es wohl in den letzten Jahren auch nicht leicht gehabt. Es gab ein Herbstsalat als Vorspeise. Das Hauptgericht war ein Steak mit Rotweinschaum. Es klingt edel und teuer. Ich denke darüber nach, was in einem Salat wohl der Herbst ist und stelle mir schmunzelnd verwelkte Blätter vor. Wenig appetitlich. Ich frage nicht nach. Ich schließe meine Augen und lausche der vertrauten und so sehr geliebten Stimme. Sie verursacht mir ein feines Kribbeln in der Magengegend, welches sich ausbreitet und mit jedem weiteren Wort sanft vibriert. Ich greife das Kissen in meinem Arm fester. Wie gern ich in diesem Moment neben ihm liegen würde. Seine Haut an meiner. Die Wärme. Die Geborgenheit, die ich bei ihm spüre. Die Liebe. „Lass uns beide das nächste Mal dort hingehen." Mein Herz macht einen Satz als er das sagt. Aus Freude und im selben Moment aus Trauer. Richards ungebrochener Optimismus ist schon immer eines seiner größten Stärken gewesen. Doch im Moment und vor allem in dieser Situation verursacht es mir Magenschmerzen. Gerade weil ich mich so sehr danach sehne, dass es wahr wird. „Ewan ist hier...", gebe ich als Antwort. Ich höre deutlich, wie sich Richards Körper in der gefüllten Wanne aufrichtet, spüre selbst die Ernüchterung, die diese Offenbarung für uns beide mit sich bringt. „Was will er bei dir?", fragt er nach. Ich schließe meine Augen. „Das Übliche. Er ist der Hirtenhund und ich sein schwarzes Schaf", sage ich und meine es im Grunde nicht so witzig, wie es klingt. „Er ist heute einfach auf Arbeit aufgetaucht", setze ich nach, höre, wie Rick leise knurrt, doch er unterbricht mich nicht. Unbewusst greife ich nach dem Ring, der um meinem Hals liegt. Das feine Relief der eingravierten Runen. Ich spüre sie unter meinen Fingerspitzen. „Rick, er weiß es. Er... Jemand hat ihm ein Bild geschickt von uns beiden." Am anderen Ende der Leitung bleibt es still. Nur leise Plätschern. Das Auftreffen von kleinen Tropfen auf Keramik und Wasseroberfläche. „Was hat er dazu gesagt?" „Er war außer sich. Fassungslos, was sonst. Er will verstehen, wie tief unsere Beziehung wirklich ist und ob sie es schon damals war." Ich erzähle ihm den Rest unserer Auseinandersetzung. Seine seltsame Reaktion. Sein kläglicher Versuch mir zu erklären, warum sich damals meine eigene Familie von mir abgewandt hat. Ihre Hilflosigkeit, die ich selbst dreimal mehr übertroffen habe. „Ist er noch bei dir?" Ich sehe zur Tür. „Ja, er schläft auf der Couch.... Wieso schickt ihm jemand ein Bild von uns? Wer macht das? Wer?" Nun klinge ich schrecklich verzweifelt. Wieder entsteht in meinem Kopf eine Abfolge von möglichen Schuldigen und wieder ergibt es alles keinen wirklichen Sinn. Wer hat einen Nutzen davon? Wer wollte uns derartig schaden? Wer spielte diese Spielchen? „Ich weiß es nicht..." Wie sollte er auch. Wie gern wäre ich jetzt bei ihm, würde spüren wollen, wie sich seine warme Hand durch meine Haare bewegen, wie sie meine Wange ertasten und wie sie über die feine Beuge meines Halses gleiten. Sein vertrauter Geruch. „Was kann ich tun? Ich mache alles für dich, das weißt du." Die Sorge in seine Stimme geht mir durch Mark und Bein. Genauso, wie die Liebe. Das Klingeln im Hintergrund ist leise, aber durchdringend. Plätschern. Richard flucht. "Lee, warte kurz, da ist jemand an der Tür. Leg nicht auf." Bestimmend, aber ebenso flehend. Ich höre das Rascheln und wie mehrere Dinge zu Boden gehen. Dann eine weibliche Stimme. Ricks genervte. Rahel. Ich spüre, wie sich feine Gänsehaut über meinen Hals zieht. Nach ein paar Minuten geht er wieder ran. „Hörst du mich? Treff dich morgen mit mir. Lass uns in Ruhe reden und wir finden sicher eine Lösung." Ricks Optimismus ist noch immer grenzenlos und so unglaublich naiv. Er nennt mir den Namen einer Bar. Eine Uhrzeit. Weil ich nichts dazusage, bittet er mich zwei weitere Male. Er wird auf mich warten. Ich wünsche ihm eine gute Nacht und lege auf. Ein Treffen. Keine gute Idee, doch es dürstet mich danach Rick zu sehen. Nur zu sehen, mehr will ich gar nicht. Ich seufze schwermütig. Das ist nicht gut. Es wäre nicht richtig. In meinem Kopf rasen die Gedanken. Die Erinnerungen aus lang vergangener Zeit mischen sich mit den Momenten des Gegenwärtigen. Nur einige Wochen und doch haben diese mein Leben wieder vollkommen durcheinander gebracht. Ich drehe mich auf dem Rücken und schließe die Augen. Müdigkeit umfängt mich, aber ich schlafe nicht ein. Am Morgen erwache ich vor dem Weckerklingeln. Weit vorher. Draußen ist es stockdunkel. Nur ab und an fährt ein Auto vorbei und erhellt mein Schlafzimmer, wirft sonderbare Schatten und Formationen hinein. Als kleines Kind habe ich damals schrecklich Angst davor gehabt. Die Fantasie malt sonderbare Dinge. jetzt im Erwachsensein werden diese Dinge auch noch wahr. Ich stehe auf, bewege mich leise in der Wohnung und bin eine halbe Stunde zu früh auf Arbeit. Für Ewan habe ich einen Zettel mit der Bitte, seine Familie von mir zu grüßen und einem der neuen Haustürschlüssel hinterlegt. Ich bin mir sicher, dass er mich in den nächsten Tagen anrufen wird. So, wie er es immer tut. Ich werde ihm sagen, dass es mir gut geht und er wird mich ermahnen. So, wie es sonst gewesen ist. Die Zeit auf Arbeit verbringe ich vor allem damit in Bewegung zu sein. Ich überprüfe alle Heizkörper und Leitungen. Jedes Stockwerk. Entlüfte und justiere. Nur einen gewissen Teil der dritten Etage lasse ich aus. Dennoch kommt mir kurz bevor ich mich wieder in den Keller verabschieden will die rundliche Sekretärin entgegen. Ihr gestauter Körper wirkt in dem engen marineblauen Rollkragenpullover noch unvorteilhafter. Zudem sieht es aus, als hätte sie keinen Hals. Ungünstig. Ihre hohen Schuhe machen unrhythmische Geräusche, die in dem langen Gang widerhallen. Man musste kein Experte sein, um zusehen, dass sie in den Schuhe nicht gut laufen kann. Sie kommt direkt auf mich zu. „Ah, de Faro. Gut, dass ich Sie erwische. Sie sind nicht an ihr Telefon gegangen." Der Vorwurf verwundert mich. Ich gebe ein ebenso verdutztes Geräusch von mir und sehe auf das Arbeitshandy. Drei Anrufe in Abwesenheit. Es ist auf lautlos gestellt und auch alle anderen Benachrichtigungssignale sind aus. Ich kann mich nicht erinnern, sie abgestellt zu haben. „Tut mir leid, ich habe die Anrufe nicht mitbekommen. Was kann ich für Sie tun?", sage ich, schiebe das Telefon zurück in meine Tasche. Sie deutet an das andere Ende des Ganges. Ich unterdrücke ein verräterisches Seufzen. Wenigstens bin ich mit Kaley so nicht allein. Die Sekretärin tippelt vor, während sie mir ausführlich und fast theatralisch mitteilt, dass schon wieder das Thermostat in ihrem Büro spinnt. Der schrille Klang ihrer Stimme bereitet mir wirklich Kopfschmerzen. Ich setze das komplette Auswechseln des Gerätes auf meine geistige Zu-erledigen- Liste und bleibe unbewusst stehen, als sie die Tür zu dem Büroraum öffnet. Sie ist bereist darin verschwunden, bevor ich es schaffe, durch zu atmen und ihr zu folgen. Kaleys Schreibtisch ist leer. Ich atme wieder aus. Etwas beruhigter wende ich mich der Anzeigetafel zu. Sie springt zwischen mehreren Temperaturen hin und her. Wahrscheinlich ist es wieder die Elektrik. Ich schraube sorgsam die Abdeckung ab und finde, wie erwartet ein gelockertes Kabel. Ich versuche es, ohne mir einen Stromschlag zu verpassen, zu befestigen. Dann schreibe ich mir die Fabrikatsnummer und das Modell auf. Ich werde ein Neues bestellen. Ich versichere ihr, dass ich mich darum kümmere und öffne die Tür. Kaley taucht vor mir auf und sieht mich im ersten Augenblick erschrocken an. Ich weiche ihrem Blick aus, noch bevor sich die Überraschung in ihren Augen zu etwas anderem wandelt. „Verzeihung,...", sage ich leise und versuche mich an der schönen Dunkelhäutigen vorbei zu schieben und pralle gegen jemand anderen. Hinter ihr steht der Chef, Gerald Barson. Ich wiederhole meine Entschuldigung und drücke mich auch an dem großen Mann vorbei. Der Versuch, es nicht wie eine Flucht aussehen zu lassen, ist garantiert misslungen. Sicher bin ich mir nicht. Der Fahrstuhl braucht Ewigkeiten bis er endlich oben ist. „Eleen..." Kaleys tiefe Stimme lässt mich aufblicken und hält mich tatsächlich zurück. Sie lächelt. „Ach Kaley, ich brauche doch noch einmal Ihre Hilfe..." Barson folgt ihr in den Flur, sieht erst zu mir und dann zu seiner Assistentin. Kaley ist hin und her gerissen. Ich betrete den Fahrstuhl und bin mir mit einem Mal sicher, dass ich das Treffen mit Richard wahrnehmen will. Nein, muss, damit mein Herz aufhört zu schreien. Ich bin zu früh. Mein Blick wandert zu dem unbeleuchteten Namensschild der Bar, in der ich Richard treffen soll. Dark Orange. Es sieht mehr nach einem Club aus. Nur ein paar Mal war ich in einer Bar gewesen und habe schnell festgestellt, dass ich nicht der Typ dafür bin. Außerdem wirkt ein einzelner, stiller Typ immer etwas sonderbar. Ich sehe ein weiteres Mal auf die Uhr und dann sehe ich mich um. In einem kleinen Bäcker besorge ich mir einen Kaffee, spüre schon beim ersten Schluck, wie mir das bittere schwarze Gebräu den Hals wegbrennt. Ich bin kein Kenner, aber das muss schwarzgefärbte Säure sein. Noch bevor ich mich darüber ärgern kann keine Milch genommen zu haben, stoße ich gegen jemanden und wende mich erschrocken zur Seite um niemanden zu bekleckern. Es ist nicht das erste Mal heute, doch diesmal verschlägt es mir die Sprache als ich die Person erkenne, die mir im Weg stand. Ihre blonden Haare sind zu einem Zopf zusammengebunden, der in einer großen Welle über ihre Schulter fällt. Rahels Schultern straffen sich, sodass sich ihr üppiger Schal etwas mehr gegen ihre Wangen bettet. Was für ein beschissener Zufall. Ist es Zufall? „Hallo", entflieht mir holprig und klingt dabei mehr nach einer Frage, als nach einer lässigen Begrüßung. Unbewusst sehe ich mich nach Richard um in der Erwartung, dass auch er jeden Moment um die Ecke kommt. Doch, wieso sollte er sie mitbringen? Mein Handy klingelt just in diesem Moment und Richards Nummer wird mir auf dem Display angezeigt. „Geh schon ran, er wird dir nur sagen, dass er schon drin ist..." Ich schlucke und nehme den Anruf entgegen. Ricks warme Stimme sagt das Erwartete. „Ich bin gleich da...", sage ich zurückhaltend und löse meinen Blick nicht von dem tiefen Blau, welches mir ernst entgegen blickt. Sie muss gestern Abend gehört haben, wie Richard mit mir gesprochen hat. „Du musst dich endlich von ihm fernhalten.", kommt sie direkt zum Punkt. Ohne Umschweife. Ohne Mitleid. Nur das leichte Zittern ihrer Lippe widerspricht der Härte und zeugt deutlich, wie schwer auch ihr dieses Zusammentreffen fällt. Als ich nichts erwidere schnauft sie leicht auf. „Oh Gott, es ist so unwirklich. Ein Albtraum. Ich kann es noch immer nicht fassen. Ein Mann wie Richard... und dann sowas.", beginnt sie, „Schon damals im Sommer. Jedes Jahr aufs Neue war er, wie ausgewechselt, wenn die letzten Schulwochen begannen. Weißt du, dass er versucht hat, mir alles zu erklären? Du seiest sein Freund und ihr würdet euch nur in den Ferien intensiv sehen können. Mich sähe er ja ständig in der Schule. Genauso, wie die anderen. Auch Markes und Jaron haben es nie verstanden. Richard war ein ganz anderer Mensch in den Ferien. Er wollte nichts mehr mit uns zu tun haben. Er sprach nur darüber, wie sehr er sich freute endlich zurück ins Sommerhaus zu dürfen. Vor allem in den letzten Jahren. Er sprach von Camping. Baden und Abenteuern. Er war so verändert. Es ist so absurd", plappert sie schnell. Diese Veränderung müssten auch seine Eltern wahrgenommen haben, denn in diesen Jahren begann unser Albtraum. Rick wurde gezwungen den Kontakt zu mir zu reduzieren. Er wurde vermehrt in gesellschaftliche Feiern einbezogen und wohnte irgendwelchen wichtigen Treffen bei, bei denen auch Rahel zugegen war. Nun erinnere ich mich. Sie hat sich sehr verändert. Deswegen habe ich sie nicht sofort erkannt. Doch jetzt mit all der Fülle ihrer Mimik, ihrer Gestiken kommt die Erinnerung. Zu dieser Zeit wurde mir richtig deutlich, wie unterschiedlich die gesellschaftlichen Ebenen sind, auf denen wir uns bewegen. Rahel streicht sich eine Strähne von der Wange. Ihre Hand zittert. Ich sehe es trotz der Handschuhe, die sie trägt. „Ich hatte ihn schon öfter gefragt, ob er den Sommer nicht mit uns verbringen will, ob wir ihn besuchen dürfen. Er hat es mir verboten, weißt du? Er hat mir so einiges verboten in den letzten Jahren und immer warst du der Grund dafür. Das weiß ich nun." Diesmal ist es ein verächtliches Lachen, welches von ihren Lippen perlt. Für einen Moment wartet sie darauf, dass ich etwas erwidere, doch ich weiß nicht, was ich sagen soll. Was will sie auch von mir hören? Das es mir Leid tut? Will sie, dass ich die Schuld auf mich nehme? Ich habe Richard nie verboten glücklich zu werden. Mittlerweile greife ich den Becher Kaffee in meiner Hand so fest, dass der Inhalt schwappt. „Wie unzulänglich ich mich ständig gefühlt habe. Ich habe mich so angestrengt. Ich habe alles für ihn getan, doch er hat mich einfach nie so geliebt, wie ich es verdient hatte." Rahels Augen füllen sich mit Tränen. Eine findet ihren Weg über den üppig getuschten Wimpernrand, hinterlässt eine feuchte Verbindung und trägt ein wenig der schwarzen Farbe davon. Es ist ein Zwiespalt, den ihre Worte in mir auslösen Er ist gefüllt von einem Schauer des glücklichen Wohlempfindens, den die Gewissheit über Ricks fortwährende Zuneigung in mir auslöst, aber auch die brennende Schuld, weil es das Unglück eines anderen bedeutete. „Rahel, es ... Ich...Es tut..." Ich weiß nicht, was ich sagen soll und breche die Versuche ab. „Spar es dir. Ich weiß, dass du im Grunde daran keine Schuld trägst. Und du kannst nicht begreifen, was es für mich bedeutete Richard endlich nah zu sein. Er hatte mich endlich gesehen und dann... Es war schrecklich zu verstehen, dass er niemals dasselbe empfinden wird, wie ich." In dem besagten letzten Sommer habe ich gemerkt, wie sehr Rahel an Richard hin. Wir waren alle zu Richards Geburtstag eingeladen. Ich erinnere mich daran, dass sie ein hübsches Sommerkleid mit blauen Kornblumen trug. Ihre Haare waren heller und sie war schon damals stärker geschminkt als nötig. Sie hing von der ersten Sekunden an an Richards Arm. Es waren ihre Blicke. Ihre Körperhaltung und wie sie mit ihm sprach. Zuckersüß. Lieblich. Über jedem Irrtum erhaben. Doch am Abend kam er in mein Bett und nicht in ihres. „Damals habe ich es nicht verstanden. Aber nun... Lee hier. Lee da. Weißt du, wie oft er zu mir Dinge sagte wie: Lee hätte es verstanden. Lee hätte nicht so reagiert. Unentwegt hat er über dich gesprochen, als wärst du ein unantastbares Wesen. Für mich warst du ein Fantasieobjekt, an das niemand heran kommt." Die Wut in ihrem Gesicht mischt sich mit den Tränen, die heiß über ihre Wangen fließen. „Rahel..." Wieder unterbricht sie mich. „Weißt du, es ist schon schlimm genug mit anderen Frauen konkurrieren zu müssen, aber mit einem Mann..." Ihr entflieht ein seltsames, durch die Absurdität verursachtes Schniefen. „Als ich schwanger wurde, dachte ich, dass sich alles ändern wird, aber er trennte sich von mir. Er musste es nicht sagen, aber von da an, wusste ich, dass ich nie mehr von ihm bekommen werde... nur DNS." Die Trauer weicht mit einem Mal reiner Wut. Sie wischt sich eine letzte Träne davon, streicht mit dem Finger unter ihren Augen entlang. Unterbricht dabei die gräulich schwarze Spur auf ihren Wangen. „Ich will meine Tochter beschützen und ich werde alles dafür tun, das verspreche ich dir!", sagt sie und sieht mich an. Ihr Blick. Er versetzt mir einen tiefen Stoß. Direkt ins Herz. „Vor was willst du sie denn beschützen? Rick würde niemals etwas tun, was ihr schadet und ich eben so wenig", versuche ich ihr zu erklären, doch ihre Miene scheint sich nur noch weiter zu verfinstern. "Ich will, dass du dich von Richard und von Kaya fernhältst. Sonst werde ich dafür sorgen, dass Richard Kaya niemals wieder sieht. Ich will, dass er endlich diese lächerliche Wahnvorstellung aufgibt, dass es für euch eine Zukunft gibt. Richard hat bereits eine Familie. Eine Tochter. Eine wahrhaftige Zukunft. Du bist Vergangenheit." Die Deutlichkeit ihrer Worte geht mir durch Mark und Bein. Rahel hat Recht. All das, was passiert ist, basierte auf Erinnerungen. Glückliche und gute Erinnerungen, die nur wenig Platz für die Realität ließen. „Du bist derjenige, der das Ganze wieder in die richtigen Bahnen lenken kann. Tu, was für alle das Beste ist." Das Beste. Das Richtige. Rahel greift in ihre Tasche und zieht ein Foto heraus. Sie reicht es mir. „Das ist Zukunft. Zerstöre sie nicht." Ich habe ihr nichts entgegen zu setzen, sondern starre einfach nur auf das Motiv des Bildes. Richard und Kaya am Tag ihrer Geburt. Das winzige Bündel in den Händen des Mannes, den ich so unsagbar liebe. Auf seinen Lippen liegt ein Lächeln. Es ist tief und rein. Wunderschön. Als ich aufblicke, ist Rahel verschwunden. Ich betrete das Lokal mit einem Gefühl der Leere in der Brust. Rahels Worte hallen in meinem Kopf wieder. Ungeordnet und sich ständig wiederholend. Zukunft und Vergangenheit. Die Stelle, an die ich Bild aufbewahre, fühlt sich besonders schwer an. Eine junge Frau mit Hund kommt mir entgegen und dann sehe ich mich in dem geräumig wirkenden Raum um. Ich sehe Richard zu erst. Noch immer trägt er ein Hemd und eine anthrazitfarbene Anzughose. Er steht an der Bar und unterhält sich mit einem jungen Mann mit gebräunter Haut. Sie scheinen sich zu kennen. Rick lacht. Obwohl ich es nicht vollständig sehe, stelle ich mir vor, wie sich die kleine Narbe an seiner Unterlippe nach oben zieht und dabei strafft. Schuld und Glück erfassen mich. So wie jedes Mal, wenn ich an die Situation denke, die ihm diese Verletzung eingebracht hat. Das liebevolle Zuflüstern, während mehr und mehr Blut über sein Kinn rann. Auch damals hat Richard gelächelt. Er hatte schon immer ein ansteckendes und schönes Lachen. Der Barkeeper bemerkt mich, stupst Rick mit dem Ellenbogen an und deutet mit einem einfachen Blick auf mich. Ich setze mich wieder in Bewegung, sehe, wie mir mein Kindheitsfreund auf halben Weg entgegen kommt. Nun gilt sein Lächeln nur mir. „Entschuldige, dass du warten musstest", sage ich, kann nicht verhindern, dass ich noch einmal zu dem Mann hinter die Bar schaue. Er mustert mich unverhohlen mit wackelnder Augenbraue. Rick folgt meinem Blick, schmunzelt und der andere Kerl verschwindet, wie aufgefordert und ruckartig hinter mehreren Zapfhähnen. „Ein neugieriger Scherzkeks", gibt er erklärend von sich. Seine Hand streckt sich nach mir aus, berührt zunächst nur meine Schulter und dann meine Wange. Ich zucke leicht zurück, als er mich auf seine Lippen zieht. Der Kuss ist nur ein Hauch auf meinen Lippen, der prickelt und zärtlich liebkost. Ricks Freude über meine Anwesenheit ist so ehrlich und genauso rein. Sie erfüllt mich mit unsagbaren Glück. Ein weiterer Kuss. Diesmal erwidere ich ihn ohne zu zögern, giere sehnsüchtig danach ihn zu schmecken. Ich genieße jede Sekunde, die ich bei ihm sein kann und trotzdem beschleicht mich Wehmut. „Hi", sagt er sanft als unser Kuss endet. „Hi." „Du siehst müde aus..." Nun mustert mich auch Rick ausführlich. Doch im Gegensatz zu eben liegt in seinen Augen tiefe Sorge. Mein Kopf schüttelt sich beruhigend. Ich versuche versichernd zu lächeln, aber ich sehe deutlich, dass mich mein Kindheitsfreund durchschaut. Doch er bohrt nicht weiter nach, sondern führt mich zu einem Tisch. Eine schwarze Tasche und die zur Hose passende Anzugjacke hängen auf einem Stuhl. Ich ziehe mir die Jacke aus und setze mich auf die Bank. Mit dem Rücken zur Wand und Rick gegenüber. Unbewusst wandern meine Augen im Raum umher. Noch ist wenig los, aber ich kann mir gut vorstellen, wie voll es hier werden kann. Das Ambiente ist einladend. Dunkles Holz und Orangetöne. Sehr angenehm. Mein Blick haftet sich auf einen riesigen Berg Orangen unweit der Bar. Aus irgendeiner Ecke des Raums dringt leise Musik. „Ja, einen frisch gepressten O-Saft kannst du gern haben, aber auch alle anderen Sauereien, die man so mit Orangen machen kann. Cocktails meine ich, natürlich. Was kann ich euch bringen? Tequila Sunrise? Campari Orange. Sex on..." „Lass deine Bartwickler und bring mir ein Radler, okay?", stoppt Richard die Aufzählung und greift fast schützend nach meiner Hand. Etwas verdutzt sehe ich zuerst auf die liebevolle Wärme an meinen Fingern und dann zu dem jungen Barkeeper. Lächelnd und völlig unschuldig blickt er mir entgegen. Das helle Blaugrau seiner Augen kollidiert mit seiner braunen Haut. „Ja, Ja... Und bei dir?" Ich gucke ein klein wenig ratlos aus der Wäsche. „Oh...okay... einen O-Saft mit ein bisschen Sprudel..." „Kommt sofort." „Danke Duncan." Damit schwirrt der junge Mann ab. Ich sehe ihm nach. „Er hat ein ziemlich großes Mundwerk, aber eigentlich ist er ein ganz lieber Kerl." Daran habe ich keine Sekunde gezweifelt. Ricks Daumen streicht über meinen Handrücken. Ob sich so Normalität anfühlt? Erst als Richard meinen Namen sagt, sehe ich wieder zu ihm. Erneut wandern seine sorgenvollen Iriden über mein Gesicht. Bevor ich ihm ein weiteres Mal vorspielen kann, dass es mir gut geht, richtet er sich auf. Neben mir bleibt er steht, deutet mir an, dass ich zur Seite rutschen soll und setzt sich. So dicht, dass ich sein Bein an meinem spüre. Seine Hand in meinem Nacken und ich schließe die Augen. Wie von selbst kippt mein Kopf auf seine Schulter. Ein Kuss haucht sich gegen meine Schläfe und er drückt mich näher an sich heran. Rick riecht nach Freiheit. Er fragt mich nach Ewan und ich schmiege mich dichter in seine Umarmung. Ich antworte ihm ehrlich. Er bittet mich ein weiteres Mal eindringlich darum, ihn über alle Vorkommnisse zu unterrichten. Alle. Ich denke an die Mutter seiner Tochter. Ich antworte nicht. „Bitte, lass mich helfen..." Ich wüsste einfach nicht wie. In diesem Moment schien alles derartig verfahren, dass ich keine Möglichkeit sehe, wie er mir helfen kann. Im Gegenteil. Alles läuft darauf hinaus, Rick gehen zulassen. Alle wollen das. Der Fremde. Rahel. Ewan. So sehr der Gedanke daran auch mein Herz zerreißt. "Hey, wir kriegen das hin. Ich werde alles versuchen. Das verspreche ich dir." Richard zwingt mich ihn anzusehen. Seine Worte erwärmen mich von innen. Doch zu welchem Preis? Ich denke an das verschmitzte, süße Lächeln seiner kleinen Tochter. Die zarten Löckchen, die sich um ihren Kopf kringeln. Das glückliche Lächeln auf seinen Lippen. Der verträumte Blick auf dem Bild aus dem Krankenhaus. „Wie soll das funktionieren? Wir dürfen uns nicht sehen. Wir dürften gar nicht hier sein. Selbst, wenn wir das Jahr irgendwie rum bekommen, dann..." „Hör mir zu, Eleen. Meine Anwälte prüfen die Möglichkeit zwecks Aufhebung des Kontaktverbotes. Ich werde Widerspruch einlegen und dann..." Für mich scheint alles so unglaublich aussichtslos. Wenn ich ihn nicht stoppe, wird er seine Tochter nie wiedersehen. „Nein, Richard, es ist in meinen Bewährungsauflagen verankert. Du kannst da überhaupt nichts tun. Kein Widerspruch. Kein was auch immer." „Nein. Nein. Hör zu, es gibt Präzedenzfälle und zwar..." „Hör auf,...", schneide ich ihm das Wort ab und vermisse den Druck, der mit diesen Worten einhergehen soll. Ich klinge mutlos. Ich fühle mich leer. Rick schweigt. Er glaubt, er berichtet mir etwas Gutes. „Eleen, lass mich doch erkl..." Ich unterbreche ihn ein weiteres Mal, indem ich meinen Blick vollends von ihm abwende. „Nein, verstehst du denn nicht. Du vergisst, dass sie immer den Grund wissen wollen und dass sie Fragen stellen. Sie werden herausbekommen, dass wir uns sehen. Schlimmer noch, sie werden vielleicht den Vorfall hinterfragen." Den letzten Rest flüstere ich nur noch. Trotz des Bewusstseins der Richtigkeit meiner Worte, schüttelt er nur verneinend seinen Kopf. „Ich darf und kann das nicht mehr machen. Mit jeder Sekunde, in der wir hier zusammen sind, schöpfe ich Hoffnung, die gar nicht da ist." „Sag das nicht!" Richards Stimme schneidet Glas. „Nein, hör du auf so zu tun, als hätte es für uns jemals eine reale Chance gegeben." Erst jetzt sehe ich auf. Rahels Worte liegen, wie ein undurchsichtiger Schatten über mir. Sie versperren mir jegliche Sicht. Ich fühle mich von Dunkelheit umhüllt. Wenn ich Rick jetzt nicht stoppe, dann wird er seine Tochter vielleicht nicht wiedersehen. Ich werde dafür sorgen, dass sich Richard gar nicht erst entscheiden muss. Unwillkürlich denke ich auch an die Worte des ehemaligen Detektivs. Auch er glaubt nicht daran, dass sich Richard jemals für mich entscheiden würde, wenn es drauf ankommt. Und ich muss zugeben, dass die Angst, dass er sich gegen mich entscheidet, ebenso groß ist, wie die Angst, dass er es nicht tut. Ich will es nicht von ihm verlangen, denn im Grunde gibt es nur einen einzigen Weg und der führt von mir fort. Wir haben in dieser verhängnisvollen Nacht eine Entscheidung getroffen und auch, wenn uns damals die Reichweite nicht vollkommen klar war, so müssen wir jetzt mit jeglicher Konsequenz leben. Auch, wenn es heißt, dass wir uns nicht wiedersehen werden. Der Mensch, den ich am meisten liebe, steht seit dieser Nacht hinter einer unüberwindbaren Mauer. Im Gefängnis war sie aus Stein und jetzt aus vernunftgeschmiedetem Stahl, der mit jeder vergangenen Minute immer stärker wird. „Eleen, ich liebe dich...ich will dich nicht noch mal verlieren." Seine Worte machen es nur noch schwerer für mich. „Ich bin nicht mehr derselbe, wie früher Rick. Du auch nicht und das, was du denkst zu lieben ist... Es ist nur eine Erinnerung, die du liebst", sage ich und klinge dabei ungewöhnlich gefestigt. Aber das bin ich nicht. Im Gegenteil. All die Jahre getrennt sein ändert nichts. Denn ich habe das Gefühl, Richard mehr zu lieben als jemals zuvor. Erst jetzt erkenne ich das Lied, welches leise im Hintergrund läuft. Es ist dasselbe, welches sich schon seit ein paar Tagen unentwegt durch meine Gehörgänge bewegt. Herz über Kopf. ‚Und immer, wenn es Zeit wird zu gehen', verpass ich den Moment und bleibe stehn'. Das Herz sagt: Bleib! Der Kopf schreit: Geh! ' „Was redest du da?" Richards Miene ändert sich. Sie spiegelt deutlich die Angst wieder, weil er zu verstehen beginnt, was ich ihm sagen will. Es muss enden. Hier und jetzt. Mein Kopf schreit: Geh! Mein Herz brennt. Kapitel 22: Die Last der gegenwärtigen Vergangenheit ---------------------------------------------------- Kapitel 22 Die Last der gegenwärtigen Vergangenheit Richards Handy regt sich. Ich höre, wie es in seiner Hosentasche vibriert. Er reagiert nicht, sieht mich nur an, wartet auf eine erklärende Antwort und hofft, dass meine Worte nur einem Moment des Irrwahns entsprangen. Doch dem ist nicht so. Ich meine es ernst. So sehr es auch mein Herz zerreißt. Das Lied, welches sein Handy spielt, ist die Teufelssonate. Der Anruf ist von seine Mutter. Es ist wie das mahnende Omen, welches mir nur noch mehr zeigt, dass meine Entscheidung, hier einen Schlussstrich zu ziehen, die richtige ist. Richard holt sein Telefon aus der Tasche und greift nach meiner Hand, so als würde er sicher gehen wollen, dass ich nicht einfach aufstehe um zu verschwinden, während er telefoniert. Eine Weile starrt er auf das lärmende Gerät. Er hadert mit sich. Dann schiebt er den Regler seines Smartphones nach rechts und legt es mit dem Bildschirm nach unten auf dem Tisch ab. Rick dreht sich noch ein Stück mehr zu mir. „Hör zu. Bitte!“ Sein Blick bringt mich fast um und als er nach meinen Händen greift, wird es noch schlimmer. „Ich... ich weiß, dass es im Moment schwierig ist und das es viel auf einmal ist. Es tut mir leid, dass meine vergangenen Entscheidungen es nur noch schwerer machen. Was mit Rahel passiert ist, bedeutet nichts und ich... ich.“ Das Telefon unterbricht erneut zu summen. Die Vibrationen erzeugen auf der Holzplatte des Tisches ein seltsam dumpfes Geräusch. Ich sehe dabei zu, wie es wenige Millimeter über den Tisch tanzt. Hin und her. Rick reagiert nicht darauf. Im Gegenteil, er zwingt mich ihn anzusehen, indem er mir an das Kinn fasst und mein Gesicht zu sich dreht. „Lee…“ Die Koseform meines Namens perlt wie Balsam von seinen Lippen und verursacht dieses geborgene, vertrauensvolle Gefühl in meiner Brust. Ich liebe ihn. Ich liebe ihn so sehr und nie werde ich damit aufhören, dessen bin ich mir sicher. Ich strecke meine Hand nach ihm aus, spüre die warme Haut seines Halses unter meinen Fingern, streiche weiter in das dunkle Haar zurück zu seiner Wange. Rick greift nach meiner Hand, verschränkt unsere Finger wieder miteinander und schließt die Augen. Er dreht sein Gesicht dichter in die Berührung. Seine Lippen küssen meine Handfläche. Zärtlich. Bittend. Die sanfte Geste lässt meinen gesamten Körper in Flammen stehen. Das Prickeln breitet sich in mir aus. Es ist warm und glückverheißend. Aber es ist nur ein Überbleibsel bittersüßer Erinnerung. „Bitte,… Bitte, sieh mich nicht so an“, flüstert er mir entgegen. Unwillkürlich beiße ich mir auf die Unterlippe. Er kann gar nicht wissen, wie ich ihn anblicke, denn seine Augen sind noch immer geschlossen. Sie bleiben es, denn er fühlt es einfach. Rick dreht sein Gesicht noch mehr in die Berührung meiner Hand. So als würde er damit weiterhin sicherstellen können, dass ich bleibe. Aber ich kann nicht. Nein, ich darf es nicht. Der Versuch, meine Hand zurückzuziehen, misslingt. Wie erwartet. Richard beginnt seinen Kopf zu schütteln. „Du hast mir versprochen stark zu sein. Weißt du noch?“, sage ich ruhig. Er nickt, verzieht im selben Augenblick schmerzverzehrt das Gesicht. Auch er denkt an das Gespräch zurück, welches wir schicksalhaft im Sommerhaus vor fast acht Jahren führten. Rick wollte es nicht, doch ich habe ihm das Versprechen abgerungen, dass er stark sein muss. Für uns beide. Ich werde es wieder tun. „Du musst mir wieder etwas versprechen. Hörst du?“ Diesmal schüttelt er den Kopf. „Nein, hör auf, ich lass dich nicht gehen.“ Nur ein energisches Flüstern. „Du musst! Und du musst aufhören an unserer Situation etwas ändern zu wollen“, sage ich mit erstaunlich fester Stimme. Meine freie Hand beginnt zu zittern. „Aber, ich denke, dass ich…“, setzt er erneut an. Ich unterbreche ihn. „Ich will, dass du damit aufhörst. Lass es bitte ruhen und pfeif deine Anwälte zurück, Rick, bevor du mich wieder ins Gefängnis bringst. Denn ich will da nicht wieder rein.“ Die Härte meiner eigenen Worte bricht mir das Herz. Richard zuckt und ich ziehe endlich meine Hand zurück. Richards Gesichtsausdruck wird immer gequälter. Es ist purer Schmerz, der sich in seinen Iriden spiegelt. „Eleen, es tut mir so leid. Ich will, das auch nicht. Ich möchte, dass du bei mir bist und... und ich will doch nur helfen“, stammelt er erregt, „Bitte, das musst du mir glauben…“ Seine Stimme bricht. „Ich weiß es. Aber es ändert nichts…“ Ich greife an meine Brust, ertaste mit Schmerz den Ring an der schmalen Silberkette. Mit klammen Fingern ziehe mir die Kette vom Hals und stehe auf. Ricks Blick spricht von all seinen Ängsten als er mir bei jeder meiner Bewegungen mit den Augen folgt. Auch er springt auf. Ich sehe, wie er dabei unentwegt den Kopf schüttelt. Minimal und dann wieder energisch. Er glaubt es nicht. Er will es nicht. Ich muss es tun. „Du musst es mir versprechen. Bitte, ruf mich nicht mehr an und komm auch nicht zu meiner Wohnung. Ich möchte, dass du nur noch an deine Tochter denkst. Sei stark für sie.“ Ich lasse die Kette auf den Tisch gleiten. Mein geliebter Kindheitsfreund sieht mich einfach nur an. „Versprich es mir!“, wiederhole ich meinen Wunsch und bekomme von ihm dieselbe Reaktion, wie damals. Er schüttelt den Kopf. Dreimal, bis er versteht, dass ich es tun werde und er es nicht verhindern kann. „Lee…“ Flehend. Diesmal schüttele ich den Kopf. Ich ziehe meine Jacke vom Stuhl, doch Rick hält mich zurück. Seine Finger umfassen mein Handgelenk. Sie sind kühl. Das sind sie sonst nie. „Bitte, lass mich einfach gehen.“ Ein letzter Versuch. Ich löse mich aus seinem Griff und verschwinde, ohne mich umzudrehen. Schnell. Fast überstürzt. Es ist richtig. Es ist besser. Es ist Folter. Den Weg zurück in die Wohnung nehme ich wie betäubt. In der U-Bahn kriege ich einen Sitzplatz, lasse mich in das kühle Polster fallen und schließe die Augen. Richards Gesicht. Das heutige und das von vor 8 Jahren. Im stetigen Wechsel. Es ist so deutlich und klar, dass ich das Gefühl habe, ich könnte seine warme Haut spüren, wenn ich meine Hand nach ihm ausstrecke. Sein schönes Lächeln. Irgendetwas in meinem Inneren schreit. Laut und schmerzerfüllt. Ich lasse es hinter der Mauer zurück. Der Sitz neben mir gibt nach und dann merke ich ein Knie, das gegen meines schlägt. Ich sehe auf. Ein junges Mädchen mit blendend weißen Haaren blickt mir entschuldigend entgegen. Sie hat mehrere Piercings im Gesicht. Ein engsitzender Ring am Nasensteg und zwei im linken Nasenflügel. Ihre Augen sind komplett schwarz geschminkt. Ich ertappe mich dabei, wie ich sie anstarre und begreife es erst, als sie demonstrativ ein Stück von mir wegrutscht. Als Reaktion darauf presse ich mich mehr in die Ecke, lehne meinen Kopf gegen das zerkratzte Plexiglas der Trennwand. Die Vibrationen breiten sich augenblicklich in meinem Körper aus. Obwohl sie mich im ersten Moment stören, wiegen sie mich irgendwann in eine Art Trance. Die Müdigkeit der vergangenen Tage holt mich. Schnell und intensiv. Ich verpasse meine Station, nehme die nächste und laufe das Stück zurück. Vorbei an den orientalischen Lebensmittelladen, in dem ich noch nie gewesen bin und wahrscheinlich nie einkaufen werde. Vorbei an dem Frisör, bei dem ich vermutlich mal einen Termin machen sollte. Die Lichter sind bereits aus. Ich bleibe trotzdem kurz stehen. Seltsam lange, ohne wirklich zu wissen wieso. Ich gehe erst weiter, als jemand aus der Tür des Nachbargebäudes tritt und greife bereits nach meinen Haustürschlüsseln. Eine Dusche und Schlaf sind alles, was ich jetzt möchte. Eine lange heiße Dusche. „De Faro!“, ruft es in meiner Nähe. Resigniert und ein wenig erschrocken lasse ich meinen Schlüssel sinken als ich meinen Namen vernehme. Ich erkenne die Stimme sofort. Denn manchmal verfolgt sie mich in meinen Träumen. Ein Gespräch mit dem alten Detektiv ist das Letzte, was ich jetzt gebrauchen kann. Ich wende mich nicht um, halte den Schlüssel nun verkrampft und deutlich ablehnend in meiner Hand, um ihm zu signalisieren, dass ich im Grunde nicht gewillt bin, mit ihm zu reden. Er kommt auf mich zu und bleibt neben mir stehen. Neben den Geruch eines billigen Aftershaves nehme ich das markante Aroma eines Hustenbonbons wahr, welches ihn ummantelt, wie eine Blase des Alterungsprozesses, in dem er steckt. Fenchel und Anis. Es fehlt nur noch der typische Duft eines Rheumabads. „Etwas kalt geworden in der Blechkiste, nicht wahr?“, frage ich ohne aufzusehen. Immerhin haben wir mittlerweile Mitte Oktober. „Es gibt besseres.“ „Sie haben eine schönes warmes zu Hause, oder?“, stichele ich weiter. „Hör auf damit. Ich bin aus einem guten Grund hier.“ Der Ernst in seiner Stimme lässt mich aufblicken. Seine wässrigen blauen Augen liegen in tiefen Höhlen und ich bekomme das Gefühl, dass er schon etliche Tage nicht mehr richtig geschlafen hat. „Ich dachte, dass dich vielleicht interessiert, dass ich meine Kontakte habe spielen lassen. Dabei habe ich entdeckt, ...“ „... das Kokain nach Brause schmeckt?“ Moore schaut mir im ersten Moment verdutzt entgegen und im nächsten säuerlich. Er überbrückt den letzten Schritt zwischen uns, drückt mich mit einer Geschwindigkeit und Härte gegen die Tür, die ich ihm nicht mehr zugetraut habe. Sein linker Unterarm presst sich gegen meinen Brustkorb und zieht dabei meine Kleidung hoch. Kälte kitzelt sich augenblicklich über eine freigelegte Stelle an meinem Bauch. „Hör mir mal zu, Junge. Ich weiß, dass Richard eigentlich der Witzbold von euch beiden ist. Also, was soll das?“ Er drückt mich noch ein kleinwenig fester gegen die Tür. Ich schlucke unwillkürlich und schweige. „Lass dir eines gesagt sein, nämlich dass ich jeder Zeit bereit bin, dafür zu sorgen, dass du umgehend zurückwanderst. Verstanden?“ Ein kühler Windhauch trifft uns. Die deutliche Drohung lässt mich automatisch zusammenzucken. Ich weiche seinem intensiven Blick aus. Das Funkeln in den sonst so wässrigen Iriden erinnert mich zu sehr an den Moment zurück, in dem er begann zu verstehen, dass der Vorfall mit Renard Paddock anders verlaufen sein muss als alle dachten. „Mit Sicherheit...“, gebe ich schwach von mir. „Ich muss dich nicht noch einmal daran erinnern, dass du in der eindeutig ungünstigeren Position bist, oder?“, droht er mir und beginnt zu husten. Nein, das muss er wirklich nicht. Die schlechtere Position zu haben ist schon seit langem Teil meines Lebens. Ich kenne es gar nicht anders. „Was wollen Sie?“, frage ich, mache eine seltsam trotzige Bewegung, die Moore ein weiteres Mal mahnend schauen lässt. Er benötigt keine ausgesprochene Antwort. Ihm reicht ein nachfolgendes Nicken und damit lässt er mich los. Ich ziehe meine Jacke wieder an ihren Platz, verdecke die Gänsehaut, die sich auf meiner hervorschauenden Hüfte gebildet hat. „Wirst du mir jetzt zuhören?“, fragt er und ich nicke ein weiteres Mal. Moore kramt in seiner Tasche nach einem der gerochenen Hustenbonbons. Er schiebt ihn sich zwischen die Lippen bevor er mit der Sprache herausrückt. „Vor ein paar Wochen gab es eine Anfrage ans Polizeiarchiv. Jemand verlangte eine Einsicht in einige älterer Jugendakten. Die Herausgabe wurde verweigert, denn die Meisten sind versiegelt. Im Grunde nichts Ungewöhnliches. Es wird geprüft inwiefern die Herausgabe möglich ist und es wird durch z.B. Schwärzung von Namen und Passagen dafür gesorgt, dass keine persönlichen Informationen herausgelesen werden können. Das jedoch wurde nicht abgewartet. Eine Woche später kam es zu einem Einbruchsversuch, bei dem nichts als gestohlen gemeldet wurde.“ Unwillkürlich verkrampfen sich meine Hände und ich merke deutlich, wie sich auch meine Stirn runzelt. Ein Einbruch. Das ist mehr als eigenartig. Er deutet meinen fragenden Blick richtig. „Ich fand es ebenso merkwürdig. Also habe ich nachgehakt und ein Freund sagt mir im Vertrauen, dass wohl einige Akten abhandengekommen sind. Deine auch. Es gibt eine interne Ermittlung“, gibt er mir preis, macht zwischen den Sätzen immer wieder Lutsch- und Schluckgeräusche. Ich starre ihm unwillkürlich auf die trockenen Lippen. Ich denke an den Ausschnitt aus meinem Verhör, der in meinem Briefkasten gelegen hat. Jemand hat meine Jugendstrafakte gestohlen. „Eleen, wenn es dabei wirklich um deine Akte ging, dann bist du in ernsthaften Schwierigkeiten. Irgendjemand will dir schaden. Wieso? Was ist damals passiert?“ Er klingt wie der Stereotyp eines Bringers für schlechte Omen. Er hustet erneut, während ich schwer damit hadere. „Wäre ich ja nie drauf gekommen…“, kommentiere ich ermattet und wieder mal ausweichend. Ich bin überfordert. Mit der Situation. Mit meinen Gefühlen. Einfach mit allem. Moore straft mich mit einem mahnenden Blick, den ich definitiv verdiene. Die Schuld peitscht sich durch mein Gewissen und kehrt das naive, verletzliche Kind hervor, das mit jedem weiteren Funken Vergangenheit präsenter wird. Das Kind aus der Vergangenheit. Das Kind, welches ich nicht mehr bin. Ich wollte es verschwinden lassen. Ich wollte es vergessen. Ich fühle mich wie der schuldhafte Protagonist eines schlechtgeschriebenen Kriminalromans, der langsam zu begreifen beginnt, dass das Vergessen keine Möglichkeit ist. Das darf alles nicht wahr sein. Jemand will mir Schaden. Ich bin mir dessen schon länger bewusst und weiß noch immer nicht wieso. Vielleicht sollte es ihm sagen. „Fängst du schon wieder an?“, knurrt er resigniert und nur halb so wütend, wie beim letzten Mal. Sein Blick wird weicher, besorgter. „Nicht mal dein Bruder schafft es noch dich zur Vernunft zu bringen. Rede doch endlich mit mir“, kommentiert er und lässt mich aufmerksam aufhorchen. „Sie wissen, dass Ewan hier war?“, frage ich sofort. „Natürlich... Ich hatte die kurze Hoffnung, dass Ewan es schafft dich auf den Boden der Tatsachen zurückzubringen. Doch du scheinst unbelehrbar...“ Ich seufze laut und deutlich. Natürlich? Was bedeutete natürlich? „Haben Sie etwa damit zu tun, dass er hier war?“, frage ich entsetzt als ich mir den Gedanken ein weiteres Mal durch den Kopf gehen lasse. Hat er das Foto geschossen und Ewan geschickt? Er ist ständig hier. Er kennt Ewans Adresse. Er könnte uns an dem Morgen gefolgt sein. „Wenn´s so wäre?“ „Sie haben das Bild gemacht?“ Obwohl ich es ausspreche, kann ich es nicht wirklich fassen. „Ihr seid nicht sehr unauffällig Eleen. Schalte doch endlich mal deinen verdammt Kopf ein. Ich wollte, dass dir dein Bruder endlich Vernunft einbläut.“ Er war es wirklich. „Dazu hatten Sie nicht das Recht!“, belle ich ihm aufgebracht entgegen und sehe mit Genugtuung, wie er zusammenzuckt und schluckt. Er ist zu weit gegangen und er weiß es auch. „Hören Sie endlich auf damit. Sie helfen mir nicht in dem Sie meine Familie mit hineinziehen“, sage ich mit all der Höflichkeit, die ich gerade aufbringen kann. „Dafür ist es längst zu spät. Junge, denk scharf nach. Wer könnte es sein? Wer will dir derartig schaden?“ „Ich weiß es nicht“, erwidere ich und zucke mit den Schultern. Ich hatte nie sehr viele Freunde, aber auch selten wirklich Feinde. Aller Höchstens sind es ein paar Bekannte. „Hattest du im Gefängnis mit jemanden Ärger?“, fragt er und ich schüttele erneut nur den Kopf. „Komm schon…“ Dass er mir Druck macht, hilft wenig. Ich zermartere mir schon seit Wochen den Kopf darüber und bin noch kein Stück weitergekommen. Der alte Mann greift nach meinem Arm. Seine Hand ist warm und irgendwie feucht. „Ich weiß es nicht. Das Alles ergibt für mich keinen Sinn, verstehen Sie.“ „Er muss von dir und deiner Verbindung zu Richard wissen… definitiv. Könnte Paddock der Grund sein?“ Richard? Nun sehe ich den alten Detektiv an, blicke direkt in seine hellen blauen Augen und weiß zunächst nicht, was ich ihm darauf antworten soll. Meine Gedanken beginnen zu kreisen. Ich kenne kaum jemanden aus Richards Umfeld. Nur ein paar frühere Schulfreunde. Rahel. Sybilla. Das ergibt alles keinen Sinn. „Wie meinen Sie das?“, erfrage ich sichtlich verwirrt. Moore streicht durch sein ergrautes Haupt, fährt sich auf dem Weg nach unten einmal über den Nasenrücken. „Vielleicht versucht jemand über dich an Richard heranzukommen.“ „Aber aus welchem Grund? Es war doch Zufall, dass wir uns wieder begegnet sind. Nur Zufall.“ „Vielleicht hat Richards anhaltende Suche nach Schlupflöchern jemand aufgescheucht. Eleen, dir ist gar nicht bewusst wieviel Staub das alles aufgewirbelt hat, oder? Renard Paddock hatte viel Einfluss und sein Tod hat einiges verändert und durcheinander gebracht. Die Firma war nah am Bankrott. Viele verloren ihre Jobs. Sybilla Paddock musste etliche Kompromisse eingehen und Entscheidungen getroffen, die nicht allen gefallen haben. Die Aktionäre und Teilhaber der Firma haben sehr viel Druck ausgeübt. Damals und auch heute noch. Viele sind noch immer verärgert“, berichtet er. Das Alles habe ich nicht mehr mitbekommen. Auch während der Verhandlungen hatte man mich von allen Medien abgeschottet und meine Familie hatte nicht einmal den Namen Paddock in den Mund genommen. Selbst nach der Verurteilung drang kein Wort zu mir durch. „Richards Vater war ein namhafter Mann...“, fährt er fort. „Richards Vater war ein Schwein…also hören sie auf mir erklären zu wollen, welche Unstimmigkeiten aufgetreten sind. Es interessiert mich nicht. Ich glaube auch nicht, dass irgendetwas davon eine Rolle spielt. Verstehen sie, für mich macht es auch keinen Unterschied.“ Die Wahrscheinlichkeit, jemals an Richards Seite sein zu können, war noch nie sehr groß. Nur ein Wunsch. Ein Traum, den ich wunderschöne Sommer lang genießen durfte. Nur Traum. Nur eine Erinnerung. Mehr nicht. Denn wäre Renard Paddock am Leben geblieben, dann hätte er alles daran gesetzt unser Zusammensein zu verhindert und nun ist es sein Tod, der es unmöglich macht. Es waren die letzten Worte, die er mir zu flüsterte. Wir würden niemals zusammen sein. Er würde es nicht zu lassen. Trotz Flüstern war seine Stimme fest. Im Grunde eine selbsterfüllende Prophezeiung. Denn so oder so, er hatte gewonnen. So sehr ich es mir auch wünsche und herbeisehne, ich werde den Menschen, den ich liebe, nicht wieder neben mir spüren dürfen. Dafür habe ich selbst gesorgt. „Was ist wirklich passiert in dieser Nacht?“, fragt er mich erneut. Ich kann die Träne nicht verhindern, die in genau diesem Moment meine Wange hinabrinnt, in dem ich dem alten Detektiv mein Gesicht zuwende. „Ich habe Renard Paddock getötet… mehr müssen sie nicht wissen.“ Moore trägt die gleiche wissende Enttäuschung in seinem Gesicht, wie damals. Doch diesmal mischt sich aufrichtiges Bedauern dazu. Er begreift immer mehr, dass nichts so verlaufen ist, wie er sich vielleicht zusammengereimt hat. „Eleen...“, setzt er an. „Bitte, fahren sie endlich nach Hause. Ich werde mich von Richard fernhalten und er wird hier nicht mehr auftauchen. Es ist vorbei. Schließen sie damit ab, so wie ich es getan habe.“ Nur ein kurzer Blick, dann öffne ich die Tür und verschwinde im Hausflur. Vorbei am Briefkasten. So, wie ich es getan habe. Die Lüge hallt mir nach, folgt mir jede einzelne Stufe hinauf. Die Tür fällt mit einem leisen Geräusch ins Schloss und ich bleibe ermattet stehen. Mein Schlüsselbund fällt zu Boden, weil ich es nicht schaffe den Arm soweit auszustrecken um ihn auf dem Schränkchen abzulegen. Das Klirren hallt. Doch ich nehme es kaum wahr. Als es verstummt ist, ist die Stille nur noch lauter. Mein Gedanken beginnen zu schreien und drücken mich immer mehr zu Boden. Ich lasse mich an der Wohnungstür hinabgleiten und versuche gar nicht zu verhindern, dass sich Tränen ihren Weg über meine Wangen bahnen. Ich merke die Hitze, die sich in meine Haut brennt, schmecke das Salz auf meinen Lippen und möchte einfach ertrinken. Die Intensität der letzten Wochen ummantelt meinen gesamten Körper mit einer unaussprechlichen Kälte. Was soll ich nur tun? Alles bricht über mich ein. Ich lasse mir diesen Moment Verletzlichkeit und streiche mir danach fahrig die Feuchtigkeit davon, suche in meiner Jacke nach einem Taschentuch. Ich finde nur ein zerknittertes, zerknülltes Uraltes und entscheide mich schnell dagegen es zu benutzen. Meine Wohnung ist ungewöhnlich dunkel, da alle Türen geschlossen sind. Das ist normalerweise nicht der Fall. Ich denke an meinen Bruder, der zuletzt hier drin war und hoffe, dass er mittlerweile wieder bei seiner Familie angekommen ist. Er soll sich keine Gedanken machen müssen. Nur um sich und seine kleine wachsende Familie. Als ich mich endlich aufrappele und das Wohnzimmer betrete, liegt das Kissen wieder an seinem Platz. Nur die ordentlich zusammengefaltete Decke auf der Couch und eine benutzte Tasse in der Spüle deuten darauf hin, dass Ewan wirklich da gewesen ist. Ich ziehe mir die Jacke aus, hänge sie über einen der Küchenstühle und reiße mir ein Küchentuch ab. Ich trockne meine Träne, schniefe und schnaube und fühle mich unglaublich ermattet. Danach verschwinde ich ins Badezimmer. Auf den Weg dorthin entledige ich mich meiner Klamotten, lasse sie einfach liegen, wo sie hinfallen und steige unter die Dusche. Der erste Strahl kalten Wassers trifft auf meine Füße. Ich spüre es nicht, weil meine Zehen dieselbe Temperatur haben. Erst als es Wärmer wird, beginnen meine unteren Extremitäten zu kribbeln. Irgendwann leicht zu brennen. Ich lehne mich unter den Strahl, halte die Luft an, als das Wasser über mein Gesicht perlt. Und fast sofort bin ich wieder mit Rick in dieser Bar. Spüre das Gefühl seiner Lippen, als mich sein sehnsüchtiger Kuss begrüßte. Es erfüllt mich mit einem glücklichen Prickeln, welches viel zu schnell vergeht. Er hat mir nicht geglaubt. Bis zum Schluss hat er nicht wirklich daran denken wollen, dass ich es ernst meine. Es ist besser so. Viel besser, das rede ich mir jedenfalls ein. Ich temperiere das Wasser ordentlich und merke kaum, wie es über meinen ausgelaugten Körper fließt. Für einen Moment schaltet sich alles aus. Mein Körper entspannt und meine Gedanken beruhigen sich. Dieser Augenblick ist eine Wohltat. Er hält nicht lange an. Mit dem gleichmäßigen Rauschen drängen sich die Gedanken wieder in Vordergrund. Rahels deutliche Worte. Richards Flehen. Das Bild von ihm und seiner Tochter im Krankenhaus. Ich schalte das Wasser ab, greife nach dem Handtuch und gehe ohne mich abzutrocknen ins Schlafzimmer. Erneut trifft mich das mulmige Gefühl und lässt mich innehalte, aber nur kurz. Die Ermattung überwiegt. Ich ziehe mir eine einfache Stoffhose über die nassen Beine, streiche mir mit dem Handtuch ein wenig Feuchtigkeit aus den Haaren und falle ins Bett. Ich bin so müde. So unglaublich müde. Meine Augen sind geschlossen. Schlafen kann ich dennoch nicht. Ich drehe mich auf die Seite und schaue zum Fenster. Durch einen Spalt zwischen den beiden Vorhängen kann ich den wolkenverhangenen Himmel erkennen. Die Straßenbeleuchtung färbt ihn in ein dreckig wirkendes Orange. Ich schiebe meine Füße unter die Decke, wünsche mir Wärme. Richards Wärme. So wie früher. Ich schließe meine Augen. Die Nächte, in denen er unverhofft zu mir kam, waren die Schönsten. Er kuschelte sich an mich, während ich schlief. Die vertraute Wärme ließ mich nie hochschrecken, nie zaudern. Ich hatte auch keine Angst oder erschrak. Es konnte nur er sein. Sein Geruch. Sein Körper. Ich kannte ihn auswendig. Ricks küsste meine Wange oder meinen Nacken. Seine Hände begannen mich zu streicheln. Erst sanft. Dann immer intensiver. Seine Fingerspitzen waren leicht kalt und verursachten mir ein zartes Prickeln auf der Haut. Ich schmiegte mich nur noch dichter an den wohlig warmen Körper meines Freundes. Seine Berührungen waren immer so unglaublich zärtlich, während er erkundend meinen Leib entlang strich. Sie zeigten mir deutlich, wie sehr er mich vermisste. Wie sehr er mich wollte und ließen mich nie daran zweifeln. Seine Hände verweilten an der Beuge zwischen Hüfte und Rippen. Seine Finger tanzten auf und ab. Manchmal auch über meinen flachen Bauch. Dort hinterließen sie ein aufgeregtes Kitzeln. Zu dieser Zeit war ich schon immer vollkommen wach und regte mich nicht, um diese wunderbaren Berührungen weiter genießen zu können. So lange bis er mir ins Ohr flüsterte, wie sehr er mich liebte. Schlagartig öffne ich die Augen, spüre den Schauer, der durch meine Glieder fährt. Das erregende Prickeln gepaart mit verzweifelten Vermissen. Es ist so schwer. Die Gedanken an diese vergangenen Momente hatten mir stets ein Glücksgefühl beschert. Meine Lebensgeister geweckt und mich durch manch schwere Phase getragen. Vor allem im Gefängnis haben sie mich durchhalten lassen. Jetzt fühle ich eine unbehagliche Schwere. Die Anspannung steckt tief. Hatte der alternde Detektiv vielleicht Recht? Geht es um Richard? Jaron. Mit einem Mal hallt dieser Namen durch meinen Kopf. Er ist einer von Ricks ältesten Freunden. Sie gingen gemeinsam zur Schule. Jetzt fällt es mir wieder ein. Rick war vor ein paar Tagen mit ihm essen. Er hatte angerufen. Ich versuche mich daran zu erinnern, wie er ausgesehen hat. Ich schaffe es nicht ein konkretes Bild hervorzuholen. Ruckartig setze ich mich auf, gleite vom Bett und ertaste die alte Fotokiste im unteren Stauraum. Ich brauche eine Weile, bis ich es schaffe, die Kiste unter dem Bett hervorzuziehen. Irgendwann halte ich die gesuchten Fotos in der Hand. Richard in seiner Schuluniform. Er schaut missmutig in die Kamera. Ich weiß, dass er diese adrette Scharade immer gehasst hat. Unbewusst drehe ich das Bild um, in der Annahme, dass es vielleicht eine Beschriftung enthält, doch dem ist nicht so. Ich lege es zur Seite und lasse die anderen Bilder nacheinander durch meine Hände wandern. Ein Geschwisterfoto. Ich stehe links. Das nächste Foto zeigt Richard. Ich belächele sie alle liebevoll, bis ich auf ein Gruppenbild treffe. Neben Rick stehen drei weitere junge Männer und zwei Mädchen. Eine davon ist Rahel. Alle ebenfalls in Uniform. Ich drehe das Foto um und schaue auf das notierte Datum. Der Beginn der Sommerferien. Es waren unsere letzten gemeinsamen. Namen sind nicht notiert. Ich weiß gar nicht, warum ich das Bild eigentlich habe. Bis auf Richard habe ich keinen Bezug zu diesen Menschen. Meine Augen wandern ihre Gesichter ab und bleiben bei dem dunkelblonden Typen links neben Richard stehen. Er wendet sein Gesicht zu Rick. Nur sein Profil ist zu erkennen. Erneut entspringt ein Funke. Er glüht und erlischt, als ich mich nur daran erinnere, wie auch Rahel von ihm gesprochen hat. Vielleicht ist es nur die mehrmalige Erwähnung. Es sind immerhin sieben Jahre. Sieben Jahre, in denen wir uns alle stark verändert haben. Ich lehne meinen Kopf zurück auf das Bett, spüre erneut, wie meine Augen zu fallen und mich die Stille umfängt. Ich erwache mitten in der Nacht. Meine Füße sind kalt und mein Rücken steif. Von meinem Hals will ich gar nicht reden. Fahrig schiebe ich die Bilder von meinem Schoss, streiche mir über den Nacken und stehe auf. Meine Gelenke knacken, während ich die Toilette aufsuche. Noch immer liegen die achtlos ausgezogenen Klamotten im Flur. Ich laufe um sie herum, hole aus der Küche ein Glas Wasser und stelle mich im Wohnzimmer vor das Fenster. Moores schwarzer Wagen ist weg. Ich starre auf den einzigen leeren Parkplatz. Was auch immer die Gründe sind, wenn es mit der Beziehung zwischen mir und Richard zu tun hat, dann bin ich nun keine Bedrohung mehr. Ich nippe am Glas, sehe auf die menschenleere Straße. Ein Ende. Ruhe. Etwas, was ich mir in diesem Moment nicht einmal vorstellen kann. Nur wünschen. Ich leere das Glas Wasser und lasse es auf der Fensterbank stehen. In der Dunkelheit der gegenüberliegenden Gasse leuchtet etwas auf. Nach einem kurzen Moment wiederholt es sich. Ein kleiner orangefarbener Punkt. Eine Zigarette im Dunkel. Ich weiche augenblicklich zurück. Mein Puls rast. Zögernd sehe ich ein weiteres Mal zu der Stelle. Nichts. Sofort laufe ich zur Wohnungstür. Mit zittrigen Fingern überprüfe ich sie. Sie ist unverschlossen. Mein Blick geht zuerst zur Kommode. Der Schlüssel fehlt. Der Schreck, der durch meine Glieder fährt ist intensiv. Dann sehe ich ihn am Boden liegen. Ich angele mit klammen Fingern den Schlüssel auf, verschließe die Tür. Ich lehne mich gegen das Holz und mir entflieht ein lachender, verzweifelter Laut. Noch immer schlägt mein Herz im Marathonmodus, als ich mich wieder ins Bett lege. Als ich am Morgen aufstehe, fühlt es sich an, als hätte ich nicht geschlafen. Auf Arbeit greife ich mir die gelieferten Ersatzteile für die Heizungsanlage und bin froh den ganzen Tag nicht aus dem Kellerraum herauszukommen. Selbst der olfaktorische Angriff des ranzigen Öls tangiert mich nicht, sondern scheint mit seiner benebelnden Wirkung eher vorteilhaft. Ich habe am Ende des Tages alles Notwendige ausgetauscht. Ölfilter. Antihebeventil. Brenner. Der Grenzwertgeber zeigt endlich die richtigen Werte an. Ein klein wenig Zufriedenheit überkommt mich. Als ich auf die Uhr sehe, ist mein Feierabend längst angebrochen. Von den anderen Kollegen wird niemand mehr da sein. Ich streiche mir mit dem Pulloverärmel über die verschwitzte Stirn, rieche zum ersten Mal den Ruß und das verbrannte Öl deutlich. Meine Finger sind grau. Ich nutze die Abwesenheit der Kollegen um eine Taktung des Ölbrenners durchzuführen. Erst nachdem die Heizung nach dem An- und Abschalten sanft vor sich hin schnurrt, gehe ich in den Umkleideraum. Trotz der langen warmen Dusche fühlt sich mein Körper schwer und erschöpft an. Die Tatsache, dass ich seit Tagen nicht vernünftig schlafe, macht mir sehr zu schaffen. Ich brauche Urlaub. In Gedanken versunken bleibe ich vor meinem Spind stehen. Ich ziehe mir die Unterhose und Jeans über und schließe die Augen. In meinen Händen halte ich das feuchte Handtuch und rege mich erst, als ich höre, wie die Tür sich öffnet. Das klackende Geräusch von hohen Schuhen hallt durch den Raum. Kaley taucht am Ende des Ganges auf. Kurz sieht sie sich um, sucht nach weiteren Anwesenden, doch sie wird niemanden weiter finden. „Hey!“ Die große Schönheit lächelt. Ich ziehe mir das saubere T-Shirt heran und denke darüber nach, dass sie in der Umkleidekabine der Männer eigentlich nichts verloren hat. Nervös versuche ich mein Shirt überzuziehen und scheitere schon daran, dass ich es nicht vernünftig entfaltet bekomme. „Können wir reden?“ Sie kommt auf mich zu und lässt sich ohne eine Antwort abzuwarten auf eine der Holzbänke mir gegenüber nieder. Sie richtet sich den Rock, der durch das Sitzen mehr von ihrem Bein zeigt. Mehrmals zieht sie den Saum glatt, so lange bis sie einsieht, dass es keinen Sinn macht. Ihre Hände legen sich in ihren Schoss. Sie ist aufgeregt, denn ihre Finger beginnen augenblicklich aneinander rumzuspielen. Ihre Fingernägel haben heute die Farbe von dunklen Weintrauben. Ich schaffe es endlich, das Shirt überzustreifen. „Du gehst mir aus dem Weg“, sagt sie zutreffend. Dann halten ihre Hände plötzlich still und sie sieht mich eindringlich an. „Eleen, hör mir zu. Ich mag dich und mir ist egal, was du in der Vergangenheit getan hast. Ich weiß, wer du jetzt bist. Ich weiß, dass du ein einfühlsamer, zurückhaltender und lieber Mensch bist. Punkt.“ Die Worte sprudeln nur so hervor und als sie fertig ist, presst sie ihre wohlgeformten Lippen aufeinander, so als hätte sie etwas Peinliches gesagt. Ihre naive Offenheit irritiert mich, auch wenn sie mich im selben Moment ebenso beeindruckt. Ich könnte das nicht. In solchen Situationen fühle ich mich schon immer unwohl und so ist es auch jetzt. „Kaley, …“, setze ich an, doch ihre warmen, braunen Augen bringen mich dazu, wieder abzubrechen. Meint sie das wirklich ernst? Ist es ihr wirklich egal? In mir regen sich die allgegenwärtigen Zweifel. Ich weiß nicht, was ich ihr sage soll. Ich weiß nicht, was richtig und was falsch ist. In meinem Inneren schreit es danach, dass ich nicht möchte, dass sie sich mit meinen Problemen belasten muss. Egal in welcher Form. „Ich verstehe, warum du versuchst mich fernzuhalten…aber das musst du nicht. Ich kann damit umgehen.“ Ich bin mir nicht sicher, ob sie es wirklich versteht und zögere dementsprechend. Ihre schönen braunen Augen mustern mich intensiv, freundlich und voller Hoffnung. Es fühlt sich seltsam an. Neu und doch ist es genau dieses hoffnungsvolle Empfinden, welches ich gerade suche. „Bitte, lass uns zusammen ausgehen, so wie wir es letztens getan haben. Etwas Gutes essen. Neues entdecken. Lass uns reden und uns besser kennenlernen. Ich kenne da einen wirklich guten Italiener“, schlägt sie aufgeregt vor. Die Anspielung lässt mich verhalten lächeln. „Okay“, antworte ich leise, bin mir im Grunde nicht sicher, ob es wirklich eine gute Idee ist. Aber genau das brauche ich jetzt. Ihr Lächeln wird augenblicklich breiter. Sie strahlt erfreut und ebenso erleichtert. „Woher wusstest du, dass ich noch da bin?“, frage ich nach kurzem Schweigen während ich mich neben ihr niederlasse und die Beine ausstrecke. „Ich habe Micha gefragt, ob du noch im Haus bist. Er meinte, er sei dir den ganzen Tag nicht einmal begegnet, wäre sich aber sicher, dass du noch da bist. Ich weiß zwar nicht, wie er sich so sicher sein konnte, denn seine Nase steckte sehr tief in der neuen InTouch. Wirklich sehr tief.“ Beide Male zieht sie das Sehr deutlich in die Länge, verdreht die braunen Augen und kichert. Wahrscheinlich hat sie dasselbe Bild des rundlichen, stillen Pförtners im Kopf, wie ich. Der Pförtner und seine Klatschzeitungen sind in der Firma ein Running Gag. Kaley stupst mich leicht an. „Du kennst die InTouch?“, fragt sie frech und schaue sie für einen Moment verwundert an. „Sicher, Klatsch und Tratsch ist meine heimliche Leidenschaft“, gebe ich ebenso neckisch von mir. Eine glatte Lüge. Ich hätte ohne inhaltlichen Zusammenhang mit dem alten Pförtner nicht einmal gewusst, dass es sich dabei um eine Zeitschrift handelt. „So, so. Stille Wasser sind wirklich tief…“ Die schöne Dunkelhäutige kichert verschwörerisch und sieht mich an. Ihre Hand legt sich an mein Knie. Erneut bewundere ich die dunkelvioletten Nägel. Die Farbe passt wunderbar zu ihrem Teint und zu ihrer Bluse. Ich fühle mich neben ihr jedes Mal wie ein schäbiger Bauerntrampel. „Ist dein Bruder noch bei dir?“ Ich schüttele verneinend den Kopf. „Ich hab ihn nach Hause zu seiner schwangeren Frau und seiner Tochter geschickt“, antworte ich. „Ui, wie schön für die beiden. Aber wieso wirkst du unglücklich?“ Ihre Hand bleibt an Ort und Stelle. Ich kann nicht verhindern, dass mein Fuß vor Anspannung zu wackeln beginnt. „Das hat nichts damit zu tun. Ich bin müde. Ich hatte ein paar schlaflose Nächte, das ist alles“, sage ich beschwichtigend und ausweichend. Eine Lüge ist es nicht. Kaley mustert mich aufmerksam. Es ist immer noch sehr schwer für mich, derartig intensiv angesehen zu werden. Damit kann ich nicht umgehen. „Dann sollten wir endlich Feierabend machen…“ Ihre Finger streichen über mein Bein und sie richtet sich auf. „Ich hoffe, das Barson es auch so sieht...“, hängt sie kichernd mit ran. „Meine Daumen sind gedrückt“, erwidere ich. „Danke. Komm gut nach Hause“, sagt sie lächelnd, streicht sich den Rock glatt. Auch ich richte mich auf. „Du auch.“ Ich sehe ihr nach, als sie kurz winkt und Richtung Ausgang verschwindet. An der Ecke wendet sie sich mir noch einmal zu. „Vergiss nicht, wir haben morgen ein Date…“, sagt sie, so als würde sie aufgeregt eine Terminbestätigung einholen. Ein Date. Was auch immer das heißt. Kaley zwinkert, lächelt und verlässt den Raum. Mein Puls arbeitet. Ich spüre ihn in meinen Fingerspitzen. Deutlich und klar, so als würde ich direkt auf einen spielenden Bass fassen. Ein seltsames Gefühl. Ich habe ein schlechtes Gewissen. Gerade als ich meine Schranktür schließe, nehme ich hinter mir eine Bewegung wahr. Ehe ich reagieren kann, drückt mich jemand gegen den Schrank. „Du hast es doch den Vorarbeiter gesteckt. Du elendiger Mistkerl. Du hast mich provoziert...“, knurrt mir Steven aggressiv ins Ohr. Drückt mich noch mal ruckartig gegen das kalte Metall des Spinds, so dass das sich das Schloss heftig gegen meine Hüfte drückt. Die Knöpfe meiner Jacke verursachen ein deutliches Geräusch auf dem Metall. Ich kann mich erst umdrehen, als er seinen Griff löst und mich wütend anfunkelt. -------------------------------------- Ps: Ein kartoffeliges Danke an meine liebste Beta. Danke für deine knolligen Mühen!!!! Ich habe die, von dir gewollten Kroketten aus dem Titel wieder entfernt xD In diesem Sinne! Kartoffelbrei! (Ich darf so spät nichts mehr hochstellen) Auch ein liebes Danke an euch tollen Menschen, die meine kleine Geschichte weiterhin verfolgen, obwohl ich so schrecklich lahmarschig bin. Ich gebe mir Mühe!!! Kapitel 23: Ein Knochen, der bricht, wächst stärker zusammen ------------------------------------------------------------ Kapitel 23 Ein Knochen, der bricht, wächst stärker zusammen Ich schaffe es kaum ihn anzusehen, da stößt er mich wiederholt gegen den Schrank. Die Wut in seinem Gesicht ist beängstigend. Sie verzerrt sein Gesicht zu einer Fratze mit funkelnden Blick. Ich spüre, wie sich mein Herz pulsierend in meiner Brust bewegt und die Angst als Motor benutzt. Jeder Impuls als markerschütternder Beben, welches meinen Fluchtreflex aktiviert. Ich weiche zur Seite aus, doch er folgt mir prompt und verstellt mir erneut den Weg. „Oooh, wo ist denn dein großes Mundwerk? Na komm! Droh mir!“ Die letzte Aufforderung spukt er mir laut entgegen. Das Blut in meinen Ohren rauscht. Ich weiche erneut zurück. Es bleibt beim Versuch, denn Steven greift nach meinem Handgelenk und dreht mir den Arm hinten den Rücken und meinen Körper zurück gegen die Metallschrankreihe. Der blitzartige Schmerz, der mich durchzuckt, lässt mich aufkeuchen und sorgt dafür, dass ich mich unwillkürlich weiter nach vorn lehne. Das kühle Metall des Spinds trifft meine Wange, sorgt für einen Moment für bittere Erkenntnis. „Weißt du, was mich wirklich brennend interessiert...“, flüstert er und trotzdem schneidet sich seine Stimme Stahl, „Wie hast du im Knast überlebt, mh? Wie?“ „Fass mich nicht an…Lass los“ Sein Griff wird noch fester. Die Panik wird immer stärker. Ich spüre, wie sie an die Oberfläche steigt und meinen gesamten Körper ausfüllt. „Steven, lass mich endlich los...du machst nur schlimmer“, wiederhole ich und schaffe es nicht, das verräterische Zittern aus meiner Stimme zu bekommen. Beim letzten Teil bricht sie sogar. Er gibt einen Laut von sich, der klingt, als wäre ihm in diesem Moment etwas Bestimmtes eingefallen. Er presst mich heftig gegen den Schrank. Ich beginne mich zu wehren, reiße mich endlich von ihm los. Doch ich weiche nicht zurück, sondern greife nach seinem Kragen, drücke ihn stattdessen gegen das harte Metall. Steven wehrt sich nicht, grunzt nur vergnügt. Ich lasse ihn schnell wieder los. „Vier Jahre Knast. Ich kann nicht glauben, dass du nicht gefickt wurdest. Du warst doch gefundenes Fressen. Ganz hübsch bist du auch. Du bist die perfekte Pussi für jeden langsitzenden Knastbruder. Ein dreckiger Fick.“ Noch bevor ich begreife, was passiert ist, spüre ich heftigen Schmerz in meinen Fingerknöcheln. Mein Kollege taumelt zurück und rutscht dann zu Boden. Seine Unterlippe ist an der rechten Seite aufgeplatzt. Blut fließt langsam sein Kinn hinab. Meine Hand beginnt noch heftiger zu zittern. „Sicher weißt du ganz genau, wovon du sprichst.“, presse ich atemlos heraus. „Fick dich, de Faro!“, zischt er mir entgegen, „Wenn ich wegen dir den Job verliere, wirst du dafür büßen.“ Eine klare Drohung. Damit lässt er mich allein zurück. Den Weg in meine Wohnung nehme ich wie betäubt. Meine Fingerknöchel sind rot. Sie schmerzen und ich kann noch immer nicht fassen, dass ich ihn geschlagen habe. Das passt nicht zu mir. Das bin ich nicht. Ich lasse den Rucksack im Flur stehen, gehe ins Badezimmer und lasse mir kühles Wasser über die malträtierte Hand fließen. Mehrere Minuten lang, bis meine Finger taub sind. Was passiert hier? Ich verstehe einfach nicht, wie es dazu kommen konnte. Wer hat es dem Chef gesteckt? Mit einem Handtuch in der Hand schlürfe ich ins Wohnzimmer. Sofort geht mein Blick zu der rotblinkenden Anzeige an meinem Telefon. Die generierte Stimme informiert mich über einen eingegangenen Anruf. Sie wiederholt die Nummer. Ich kenne sie nicht. Das passiert in der letzten Zeit viel zu oft und verursacht mir augenblicklich Gänsehaut. Ich merke, wie sich meine Glieder anspannen und wie sich ein nervöser Kitzel durch meinen Körper arbeitet. Das Handtuch lasse ich auf die Couch fallen. „Eleen, hier ist Moore.“ Eine kurze Pause. Die Anspannung fällt von mir ab und das obwohl die Tatsache, von dem alten Detektiv zu hören, meistens nichts Gutes mit sich bringt. Ich höre den schweren Atem, der über seine Lippen flieht und stelle mir vor, wie er sich angestrengt aus seinem Auto hievt. „Hör zu, ich weiß nicht, wie ernst du es meintest, dass du den Kontakt zu Richard abgebrochen hast. Wenn es so ist, dann ist es die beste Entscheidung, die du treffen konntest. Das hörst du nicht gern, das weiß ich...“ Ein trockenes Husten unterbricht seinen Redeschwall. Ich lasse mich auf die Couch fallen und kippe zur Seite, Mit dem Kopf auf der Lehne bleibe ich liegen und höre dem alten Mann beim Husten zu. „Aber...es ist das Beste...“ Ein weiteres Räuspern. „Irgendjemand will dir an den Karren fahren und ich befürchte, dass es eskalieren könnte. Ich weiß, dass du nicht sehr viel Vertrauen in mich hast, aber du solltest auf mich hören. Junge, sei bitte vorsichtig“, sagt er als letztes und wieder nach einer Pause. Es folgt nur noch eine kurze Verabschiedung. Ich bleibe auf dem Sofa liegen, schließe meine Augen und fühle die erdrückende Leere, die mich in der letzten Zeit öfter einholt. Mit der Stille scheint sie sich immer weiter auszubreiten. Auch meine Gedanken drehen sich unaufhörlich im Kreis. Steven könnte derjenige gewesen sein, der in meine Wohnung eingebrochen ist. Aber er ist keineswegs derjenige, der mir all diese seltsamen Hinweise und Bilder schickt. Er weiß nichts von Richard. Er weiß nichts von der Familie Paddock und den ganzen Skandalen. Familie, echot durch meinen Kopf. Aber es passt in den Verlauf meines Lebens, dass ich ausgerechnet zwei Baustellen zur gleichen Zeit habe. Das Schicksal meint es einfach nicht gut mit mir. Schwerfällig richte ich mich und gehe in die Küche. Es riecht nach gebratenen Nudeln, denn noch immer liegen die feinsäuberlich gefalteten Pappverpackungen des chinesischen Essens im Müll. Nachdem ich das Fenster geöffnet habe, klaube ich die Essensreste zusammen, bewaffnet und verschwinde mit der Mülltüte in den Innenhof. Ich erkenne eine schemenhafte Gestalt, die sich an den Müllcontainern zu schaffen macht. Es rumst und knall. Es ruckelt mehrere Male begleitet von leisem, aber stetigem Fluchen. „Kann ich dir helfen?“, frage ich. Mark dreht sich zu mir um. Es braucht einen Moment, bis er mich in der Dunkelheit erkennt. Dann lächelt er. „Irgendwie hat sich die Klappe verklemmt. Ich kriege den Deckel nicht auf“, sagt er atemlos. Ich stelle meinen Müllbeutel neben Marks und gehe zu ihm. Hier im Innenhof gibt es kaum Licht. Ich ziehe naiv an der Klappe. Nichts. Ich schaue einen Moment suchend die einzelnen Teile ab. Die Scharniere sehen gut aus. Der Rahmen auch. Die Luke wirkt verzogen. Mit der Handkante klopfe ich dreimal gegen die Klappenunterkante, höre, wie sich das Metall ein Stück nach oben schiebt. Ich versuche erneut sie zu öffnen und es funktioniert mit etwas mehr Kraftaufwand. Schön, wenn sich Probleme so einfach lösen. „Okay, mein Freund hat Recht. Ich habe Puddingarme“, bemerkt Mark ernüchtert und hebt eine Augenbraue beeindruckend weit nach oben. Die benutzte Beschreibung für seinen Habitus lässt mich schmunzeln. Ob er mit Freund seinen Partner meint? Ich denke an das hübsche Mädchen, welches beim letzten Mal bei ihm gewesen ist und schelte mich im nächsten Moment, dass es mich gar nichts angeht und die klischeehaften Gedankengänge. „Wie nett von ihm“, merke ich an, halte Mark die Öffnung auf und sehe dabei zu, wie er unsere beiden Beutel in die Öffnung schubst. „Ich habe andere Qualitäten, die weiß er allerdings sehr zu schätzen.“ Der Kommentar lässt mich schmunzeln. Irgendwie beschämt. Anscheinend liege ich mit meiner Vermutung richtig. Ich werfe meinen Müll hinter her. „Mit deiner Wohnung wieder alles klar?“, fragt mich Mark auf dem Weg nach oben, mustert mich unauffällig. „Ja.“ Ich versuche zu lächeln, doch es gelingt mir nicht. Vor seiner Wohnung bleibt er stehen. Ich wünsche ihm einen schönen Abend und gehe weiter. „Und mit dir?“, fragt er etwas lauter hinterher. Ich bleibe stehen und drehe mich zu ihm um. Der Gesichtsausdruck des jungen Mannes irritiert mich. Er ist ehrlich. Aufrichtig. So etwas kenne ich nicht. Nicht von Fremden. „Geht schon…Danke.“ Diesmal lächele ich wirklich. Mark nickt und verschwindet dann in seiner Wohnung. Nach dem Händewaschen mache ich mir eine Kleinigkeit zu essen, schalte den Fernseher an und lasse mich den gesamten Abend berieseln. Nichts Kompliziertes. Nichts, was mich auch nur ansatzweise nachdenklich macht. Ich muss nicht mal danach suchen, sondern schalte nach dem Ende einer Sendung einfach auf den nächsten Kanal um. Unsere Fernseherkultur ist zum Davonlaufen, doch heute kommt sie mir gerade recht. Als mein Handy zu klingeln beginnt, schalte ich den Apparat nur etwas lauter. Ich schlafe auf der Couch ein, erwache am Morgen mit schmerzenden Knochen und schalte das hyperinformative Frühstücksfernsehen aus. In der U-Bahn hole ich mein Handy hervor. Ein verpasster Anruf. Es war Rick. Er hofft, dass meine Entscheidung nicht endgültig war und mein Herz antwortet ihm sofort mit einem Mark erschütternden Ruf der Sehnsucht. Ich darf nicht nachgeben. Ich muss stark bleiben. Es zerreißt mich innerlich. Ich fühle mich fürchterlich. Dank der Couchnacht merke ich jeden einzelnen Muskeln in meinem Körper und mit Sicherheit sind sie alle gegen mich. Mit einem leisen Raunen lasse ich meinen Kopf kreisen bis es einmal laut knackt. Selbst für meine Verhältnisse klang es mehr als gruselig. Ich blicke auf meine geröteten Fingerknöchel der rechten Hand und sehe auf als ich die Tür höre. Ein paar Schritte. Unwillkürlich halte ich die Luft an, doch es sind nur zwei Kollege aus dem Reinigungsdienst. Erleichtert bette ich meinen Kopf gegen die Schranktür und schließe die Augen. Als ich noch einmal zur Seite sehe, erblicke ich plötzlich  meinen Vorarbeiter und kann nicht verhindern, dass ich ein wenig zusammenschrecke. Ich richte mich irritiert auf und sehe fragend zu dem anderen Mann. Sein Gesicht ist, wie immer streng und dennoch wirkt er seltsam unentschlossen. „de Faro, gut, dass sie schon hier sind. Kommen Sie, ich will Sie einen Moment in meinem Büro sprechen... “, erklärt er sein Auftauchen. Ich nicke und folge ihm, nach dem ich sorgsam meinen Spind verschließe und meinen Schlüssel tief in die Hosentasche verschwinden lasse. „Schließen Sie bitte die Tür.“ Während ich der Bitte nachkomme, lässt er sich an seinen Schreibtisch nieder und seufzt synchron mit seinem Bürostuhl. „Setzen Sie sich.“ Auch dem komme ich nach. „Es wurden Unstimmigkeiten an mich herangetragen und...“, beginnt er und faltet seine Hände über seinem Bauch zusammen. Bevor er fortführt, räuspert er sich ausgiebig. Er fühlt sich nicht wohl. Was soll ich sagen? „...und diese betreffen wohl Sie, den Auszubildenden Maier und Herr Pfennig als Verursacher.“ „Unstimmigkeiten?“, wiederhole ich kritisch und ich sehe dabei zu, wie er auf seinem Stuhl nach vorn rutscht. Damit richtet er sich mehr auf und sitzt kerzengrade Unstimmigkeiten sind definitiv untertrieben. Es klingt es ginge es hier um ein geklautes Mittagessen. Es ist weitaus mehr. „Nennen wir es eine Meldung über konkrete Belästigungen durch einen Mitarbeiter.“, korrigiert. Für meine Verhältnisse nicht genug. Es ist erstaunlich, wie sehr er versucht es nicht beim Namen zu nennen. „Sexuelle Belästigung, Sir und mehr...“, benenne ich es nun konkret. Er räuspert sich auffällig. Wieder straffen sich seine Schultern und diesmal habe ich das Gefühl, dass jede Sekunde sein Körper implodieren könnte, so angespannt ist er. „Dann können Sie mir die Vorfälle bestätigen?“ Ich nicke und beginne ihm von einigen der Vorfälle zu berichten. Die gestohlene Personalakte. Der verwüstete und beschmierte Schrank. Das Sperma in meiner Trinkflasche. Der Übergriff. Mit jedem weiteren Detail kann ich sehe, wie sehr es ihn anekelt. Doch insgeheim wünscht er sich inständig, ich hätte alles abgestritten, der Vorwurf wäre verpufft und er könnte seinem gewohnten Alltagstrott nachgehen. Mit Kai hat er noch nicht gesprochen. Genauso, wie ich geht er davon aus, dass er nicht viel sagen wird. „Nun ja, die Anschuldigungen sind natürlich unerfreulich. Aber so lange ich keine Aussage dazu von Herr Maier habe und eine Stellungnahme von Herr Pfennig, ist es... schwierig... hier vorzugehen“, stammelt er rum. Unerfreulich, wiederholt sich in meinem Kopf. Mir fallen ganz andere Worte ein, mit denen ich Stevens Aktionen beschreiben würde. Etliche, die ich im Gefängnis gelernt habe und zweifellos zweifelhaft sind. Ich höre meinem Vorarbeiter eine Weile dabei zu, wie er versucht die Situation bestmöglich zu erfassen und einen Weg zu skizzieren, den seine Möglichkeiten vorgeben. Nachdem er endet, weiß ich nicht mehr, wie oft er das Wort Schwierig benutzt hat. Es ist auf jeden Fall eine Zahl im zweistelligen Bereich. Dass es nicht einfach wird, ist mir bewusst. Ich denke währenddessen darüber nach, von wem er es erfahren haben könnte und welche Auswirkungen es letztendlich haben wird. Viele Möglichkeiten gibt es nicht. Ich erfrage es auch nicht, denn im Endeffekt ist es egal, wer es war, der mehr Mut und Courage hatte als ich. Als ich die Tür zum Büro schließe, erfasst mich eine tiefe Unzufriedenheit. Das Gefühl begleitet mich den gesamten Tag über. So lange, bis mich kurz vor dem Feierabend eine Nachricht der schönen Dunkelhäutigen erreicht. Sie hofft um 19 Uhr Schluss machen zu können und fragt, ob ich sie wieder abhole. Sie freut sich. Ich fühle mich irgendwie überfordert und fahre mit einem wachsenden schlechten Gewissen zurück in meine Wohnung. Dasselbe Prozedere, wie gestern. Das rote Lämpchen der der Benachrichtigungsfunktion blinkt. Doch als die aufgezeichnete Nachricht einsetzt, bleibt es zunächst still. Wieder ist es das laute Atmen, welches durch den Hörer dringt. Es wirkt fast heiser und verursacht mir Schauder, die mir durch den Körper jagen und eisige Kälte auf meinen Gliedern hinterlässt. Bis tief in meine Knochen dringt sie ein. Es soll aufhören. Es soll enden. Mit zitternden Fingern entferne ich das Telefon langsam von meinem Ohr als endlich eine Stimme erklingt. „Zu spät..." Damit endet die Aufzeichnung und ich bleibe ermattet stehen, starre auf den nun wieder schweigenden Hörer. Was soll das heißen? Zu spät? Was ist zu spät? Die Unruhe, die mich überfällt, ist symptomatisch. Meine Gedanken fahren Achterbahn, während ich spüre, wie sich mein Puls beschleunigt bis er heftig rast. Mein Atem geht schnell und unruhig. Was, wenn der Unbekannte mich nun doch an Ricks Mutter verraten hat? Nichts hinderte ihn daran. Was, wenn jeden Moment die Polizei vor meiner Tür steht? Wer verdammt noch mal veranstaltet dieses Spiel mit mir? Ich lege mit zitternden Händen das Telefon zurück auf die Station. Nach kurzem Zögern nehme ich den Hörer wieder zur Hand und drücke auf die Wahlwiederholung, die mir dieses Mal eine Nummer anzeigt. Eine Nummer. Er hat einen Fehler gemacht. Ich lasse mir von der elektronischen Stimme die Nummer vorlesen. Dreimal. Bereits nach dem ersten Mal kann ich sie auswendig. Meine Hände werden einfach nicht ruhiger als ich entschlossen Moores Nummer eintippe. Ich erwische zwei Mal eine falsche Zahl, betätige den roten Hörer und fange von vorn an. So lange bis es klingelt und der alte Detektiv sich mit rauer Stimme meldet. Es folgt ein Husten und eine genuschelte Entschuldigung. „Können Sie Anrufe zurückverfolgen?“, frage ich, ohne zu erwähnen, dass ich es bin oder ihn in irgendeiner Form zu begrüßen. Ich bin viel zu aufgeregt. „Wie bitte? Wer ist da?“ Ein kurzes Räuspern. Ein Seufzen und dann murmelt er verstehend meinen Namen. „Wenn ich Ihnen eine Nummer gebe, können Sie herausbekommen von wem sie ist?“, setze ich erklärend nach. „Ich bin nicht mehr im aktiven Dienst, das weißt du. Und überhaupt, wieso sollte ich das tun? Immerhin hast du meine Hilfe eindeutig abgelehnt.“ „Ich bekomme seltsame Anrufe und meine damit nicht ihre. Vielleicht kriege ich so raus, von wem sie kommen. Wer sie…“, beginne ich meine Idee zu erklären, doch ich werde von dem schwermütigen Seufzen unterbrochen, dass mir von der anderen Seite des Hörers entgegenschlägt. „Oh Junge.“ Der alte Detektiv klingt verzweifelter als ich. Es entmutigt mich. Ich setze mich auf die Couch, schließe meine Augen und lasse meinen Kopf auf die Rückenlehne fallen. „Eleen, bist du dir sicher, dass du das machen willst? Wäre es nicht klüger, einen Schlussstrich zu ziehen? Einfach wegzugehen oder besser noch, geh nach Hause!“ Nach Hause, wiederhole ich flüsternd. Was heißt zu Hause? Seit dieser Nacht im Sommer habe ich keines mehr. „Können Sie mir helfen oder nicht?“, frage ich, ohne ihm meine Bedenken mit zu teilen. Ohne ihm und mir selbst einzugestehen, dass ich nicht dazu bereit bin, Richard vollständig loszulassen. Ich will immer noch hoffen, denn die Hoffnung hält mich am Leben. Außerdem will ich verdammt noch mal wissen, wer dieses Spielchen mit mir spielt und wieso. „Gib mir die Nummer. Ich werde schauen, was ich machen kann“, antwortet er nach einem weiteren lauten Atemgeräusch. Ich gebe ihm die eingeprägte Nummer durch. „Die Nummer sieht nach einer Telefonzelle aus“, höre ich ihn sagen. Telefonzelle? „Sowas wird noch benutzt?“, frage ich verwundert. „Sicher. Von sehr vielen sogar. Ältere und Leute, die kein Geld für ein Handy haben.“ „Sie müssen es ja wissen“, kommentiere ich und bekomme ein mürrisches Raunen als Antwort. Die Belehrung folgt auf dem Fuß. „Du willst meine Hilfe, also sei gefälligst respektvoll“, wettert er zurück. Ich muss ihn nicht sehen, um zu wissen, dass mich seine kühlen blauen Augen fordernd anblicken würden. Nur das Wissen darum setzt mich beschämten Gefühlen aus. Schon wieder eine Predigt. Ich habe sie verdient, entschuldige mich aber nicht. Ich höre, wie Moore am anderen Ende des Hörers seufzt. Es folgt eine Knistern und dann das typische Lutschgeräusch, welches seit neusten als Erkennungsmelodie des alten Mannes dient. „Ich melde mich morgen bei dir.“ „Danke.“ „Eleen... Pass auf dich auf.“ Damit legt er auf. Ich atme tief ein, spüre die imaginäre Schwere, die mich seit geraumer Zeit belastet. Ich werde aus dem alten Detektiv nicht schlau. Warum war er wirklich hier? Was sind seine wahren Motive? Er kann nichts ändern. Er kann den Tod von Renard Paddock nicht mehr rückgängig machen und genauso wenig er kann mir die vier Jahre Gefängnis zurückgeben. Seine Verbissenheit ist völlig zwecklos und doch bin ich seltsam erleichtert, dass er mir seine Hilfe nicht verweigert. Auch, wenn ich noch nicht abzusehen vermag, welchen Nutzen er sich daraus erhofft. Lustlos schleppe ich mich in die Dusche, brauche länger als gewöhnlich und stehe dann vor demselben Problem, wie beim letzten Mal. Mein Kleiderschrank ist für solche außerberuflichen Aktivitäten zur Abendstunde nicht genügend ausgestattet. Schon gar nicht in den kälteren Monaten. Lange werde ich der unausweichlichen Klamottenkauferei nicht mehr entgehen können. Ich ziehe den anthrazitfarbenen Pullover hervor, den ich schon beim letzten Mal getragen habe und blicke meine Beine entlang. Die Hose sieht halbwegs vernünftig aus. Etwas zerknautscht, aber zumutbar. Ich lasse meine nackten Zehen wackeln. Was mache ich hier? Mein Kopf neigt sich zum Schrank, bettet sich gegen das kühle Holz der Tür. Ich lasse meine Augen einen Moment lang geschlossen. Mir ist nicht nach Gesellschaft. Nicht nach Reden. Nicht nach Nähe. Vielleicht muss ich mich gerade deswegen zusammenreißen. Ich denke an die Worte meines Bruders, der mich ständig ermahnt mich nicht zu isolieren. Es fällt mir schwer. Im Badezimmer tausche ich meine Oberbekleidung, käme mir die Haare und werfe nur einen kurzen Blick in den Spiegel. Die Müdigkeit und die Unruhe der letzten Wochen ist mir deutlich anzusehen. Mir bleibt nichts anderes übrig, als es zu ignorieren und loszufahren. Kaley wird es nicht stören. Vor dem Bürogebäude bleibe ich stehen. Meine Finger sind klamm und obwohl ich seit mehreren Wochen merke, wie es kälter wird, habe ich noch immer nicht meine Winterkleidung herausgeholt. Das rächt sich nun. Ich schiebe meine Hände in die Enge meiner Hosentaschen. Es bringt kaum Veränderung. Ich beobachte die wenigen Leute auf der gegenüberliegenden Straßenseite, blicke suchend die Gesichter ab. Es ist kein Bekanntes dabei. Kein Typ mit Zigarette hinterm Ohr. Kein gealterter Detektiv, der mir aus einem Auto streng entgegenblickt. Als ich hinter mir Klackern von Schuhen höre, wende ich mich um. Diesmal hat Kaley es nicht geschafft, sich noch einmal umzuziehen. Sie sieht trotz alledem bezaubernd aus in ihrem schlichten roséfarbenen Rock und der weißen Bluse. „Entschuldige, dass du warten musstest. Irgendwann lässt er mich noch Nachtschichten schieben…“ Obwohl sie versucht amüsiert zu klingen, kann ich deutlich die Frustration heraushören. „Aber ich konnte entkommen und jetzt habe ich Hunger. Ich will Spaghetti alla Carbonara oder Pizza. Und zum Schluss einen dicken Eisbecher mit warmen Himbeeren!“ Ich glaube kaum, dass sie das alles schaffen wird. Sie hakt sich bei mir unter, lächelt und beginnt nach meinem Tag zu fragen, während wir zu dem Italiener gehen. Kaley bringt mich zum Schmunzeln und obwohl ich mich in ihrer Nähe immer wohler fühle, lasse ich die ungewöhnlichen Teile meines bisherigen Tages aus als sie sich nach meinem Befinden erkundigt. Der Anruf steckt mir noch tief in den Knochen. Ich lass es mir nicht anmerken. Im Restaurant wird uns ein kleiner Ecktisch zugewiesen. Direkt neben mehreren übereinander gestapelten Fässern. Sie sind alt und verströmen diesen einzigartigen Geruch von lange gegorenen Wein. Leichter Säure und süßen Trauben. Ich mag die Ruhe, die das Lokal ausstrahlt. Ich nehme Kaley die Jacke ab und hänge sie zusammen mit meiner eigenen an die kleine Garderobe um die Ecke. Aus dem Hauptraum dringen ein paar italienische Worte. Es klingt wie eine überschwängliche und freudige Begrüßung, gefolgt von heiterem Gelächter. Ich kann es mir nicht verkneifen, einen Blick zu erhaschen, doch ich sehen nur den Rücken eines großen, runden Mannes in einem schwarzen Anzug. Die Kellnerin kommt, als wir unsere Plätze eingenommen haben. Meine schöne Kollegin bestellt sich Rotwein. Sie nennt eine ganz bestimmte Sorte. Kaley bedankt sich auf perfekten Italienisch. Ich bin beeindruckt, wie flüssig die fremden Worte über ihre Lippen perlen. Wie sicher. Ich entscheide mich für eine einfache Cola. „Warst du schon mal in Italien?“, frage ich neugierig, schlage die Karte auf und bin mir im Grunde schon sicher, dass ich eine der hoch angepriesenen Pizzen nehmen werde. „Nein. Ich beherrsche nur ein wenig Angebervokabular.“ „Das aber sehr überzeugend.“ „Ja, man muss nur wissen, wie... und von Vorteil ist natürlich, wenn die anderen es nicht können.“ Es folgt ein mädchenhaftes Kichern. Es ist wie beim letzten Mal. Ich fühle ich mich unsicher, obwohl Kaley wunderbar ist. Ich weiß nicht, was ich sagen soll und mir ist nicht klar, was sie erwartet. Ich wende meinen Blick auf die Karte, bin dankbar für die kurze Redepause, in der wir nach einer passenden Speise suchen. Ich schwanke zwischen einer herkömmlichen Pizza Prosciutto oder Pizza Caprese. Insgeheim wünsche ich mir Schärfe. „Meinst du, sie würden mir auf die Pizza Piccante extra Peperoni drauf tun?“ Kaley blickt mir mit einer Mischung aus Erstaunen und Unglauben entgegen. Sie greift die Speisekarte mit beiden Händen und beugt sich weiter zu mir nach vorn. „Du bist schon ein wenig verrückt, oder?“, sagt sie mit vollen Ernst und beginnt im nächsten Augenblick leise zu kichern. „Bekommst du von so scharfen Essen keine Magenschmerzen?“ Sie blättert ein paar Seiten weiter und beginnt, leise zu summen. Nein, ich habe noch nie Magenschmerzen von zu scharfen Essen bekommen. Was das angeht, bin ich wirklich hart im Nehmen. „Na ja, einmal habe ich einen Löffel puren Sambal Olek auf leeren Magen gegessen und ja, danach war mir etwas mulmig zu mute.“ Ihr Blick ist fantastisch. „Dein Ernst?“ Ich nicke und erneut beginnt sie zu lachen. Es klingt schön. Tief und ehrlich. Daran könnte ich mich gewöhnen. Während sie mir weitere Mal attestiert, dass ich verrückt sein muss, entscheidet sich hingegen ihrer vormaligen Ankündigung auch für eine Pizza. Eine mit Meeresfrüchten. Ich nehme die mit Schinken und grünen Peperoni. Als unser Essen kommt, lehne ich mich vor und inspiziere den Belag ihrer Teigware. Muscheln und Scampis. Ich schlucke angeekelt, als ich lauter kleine Tintenfischärmchen entdecke. Tentakel mit kleinen Saugnäpfe neben großen Käsefladen. Kaley interpretiert meine Abneigung als vollen Erfolg dafür, dass sie nun die Pizza vollkommen allein essen kann. Garantiert und äußerst perfide. Fischstäbchen sind das höchste aller Meerestiergefühle für mich. Meine Kollegin gibt eine Anekdote über warmgewordenes Sushi auf einer Firmenveranstaltung zum Besten und ich bin mir nach der lautmalerischen Beschreibung des plötzlichen Veranstaltungsendes sicher, kein Sushi probieren zu müssen. Auch nach der Beschwichtigung, dass das japanische Nationalessen unglaublich lecker und gesund ist. Während wir essen, kommen weitere Geschichten über die langatmigen und anstrengenden Firmensitzungen heraus, die eine erhebliche Vielfalt an kulinarischen Fehltritten aufweisen. Haggis. Froschschenkel. Fragwürdiges Chop Suey. Irgendwann sind wir wieder bei dem Thema bittere Arbeitszeiten. Sie ist nicht glücklich mit der Arbeit, die sie in Barsons Firma erledigen muss. Ich erinnere mich daran, dass sie bei unserem ersten Essen meinte, sie wünsche sich, eine eigene Firma aufzubauen. Sie war damals ausgewichen, was die Gründe angeht, weshalb es sich verzögert. „Was hindert dich daran, dich selbstständig zu machen?“, frage ich, greife nach meinem Glas Cola und lehne mich zurück. Bevor sie mir antwortet, pult sie einen der Shrimps aus einem Mozzarellahäufchen. Sie steckt ihn sich in den Mund und leckt danach über ihre tomatensoßenverschmierten Finger. Ich sehe deutlich, wie sie nach der perfekten Antwort sucht. Sie wird es nicht geben. Oft ist es die Furcht vor dem ersten Schritt, die einen daran hindert, einen neuen Weg einzuschreiten. Es sind die Fragen nach seinem eigenen Durchhaltevermögen, nach der inneren Durchsetzungsfähigkeit und der alles einnehmenden Überzeugung, es wirklich zu wollen. Diese Ängste können einen lähmen und im schlimmsten Fall alles verhindern.   „Na ja, es ist nicht ganz so einfach. Ich würde mich gern sofort selbstständig machen. Wäre da nicht mein Studienkredit und all die Dinge, die man im Vorfeld organisieren muss.“ Sie wiederholt die Spielerei mit einem kleinen Tintenfisch. „Man benötigt einen Businessplan, ein gewisses Startkapital. Eine Strategie für die Akquisition. Firmen, mit den man kooperiert, Mandanten und vieles mehr.“ Sie seufzt, nippt energisch an ihrem Wein und ein Tropfen der roten Flüssigkeit perlt von ihren dunklen Lippen. Sie streicht ihn davon und seufzt. Ich denke an Richard. Er würde genau wissen, wovon sie spricht. Wahrscheinlich könnte er ihr sogar helfen. Möglicherweise könnte er ihr sogar helfen. Aber im Grunde weiß ich gar nicht genau, was Richard eigentlich macht oder was er studiert hat.   „Wo bist du schon wieder mit deinen Gedanken?“ Kaley lächelt, greift erneut nach ihrem Glas, trinkt aber nicht, sondern lässt den schlanken Stiel zwischen ihren Fingern tänzeln. Die rote Flüssigkeit schwingt hin und her, hinterlässt im ersten Augenblick einen feinen Film auf der klaren Oberfläche. „Entschuldige bitte.“ „Denkst du an ihn?“, fragt sie und lässt mich überrascht aufsehen. Es gibt kaum noch eine Minute, in der ich nicht an ihn denke und obwohl das Gefühl, ihn zu vermissen, durch diese lange Präsenz zu einem Teil meiner selbst geworden ist, entflammt die bloße Erwähnung ein alles einnehmendes Feuer in mir. Jedes Mal.   „Kaley, ich... weiß nicht...ob... “, setze ich an, doch sie unterbricht mich. „Erzähl mir von ihm. Von Rick.“ Nun nimmt sie einen Schluck. Ich rühre mich nicht. Es ist seltsam, die sonst nur von mir verwendete Kurzform seines Namens zu hören. Ich bin uneins. „Bitte“, hängt sie mit ran und lächelt. Einerseits denke ich noch immer, dass es besser ist, wenn sie so wenig wie möglich weiß. Zu ihrer Sicherheit und auch zu meiner und seiner. Andererseits habe ich das stille Bedürfnis danach, jemanden vertrauen zu können. Vielleicht kann sie jemand sein, der mir dabei hilft ein herkömmliches, normales Leben zu führen. Wie jeder andere auch. „Er ist mein ältester Freund. Seit ich mich erinnern kann, sind wir jedes Jahr im Sommer, mit dem Beginn der Schulferien an den See gefahren. Meine Mutter packte mich und meine zwei Brüder ins Auto und fuhr mit uns los. Sie mietet einen kleinen Bungalow mitten am Wasser. Jedes Jahr der Gleiche. Und egal, welches Wetter war, als wir ankamen, rannten wir als allererstes ins Wasser.“ Kaley schmunzelt amüsiert. Ist meine Erzählung doch der klischeehafte Einstieg eines typisch amerikanischen Teenie-Films. Ich wünschte es wäre so, denn normalerweise endeten diese Filme in einem Happy End. „Ich weiß bis heute nicht, wie sie es geschafft hat Jahr für Jahr den Aufenthalt zu bezahlen, doch ich bin sehr glücklich darüber. Denn nur deswegen traf ich ihn vor 16 Jahren.“ Es lässt mich schmunzeln, da die Erinnerung an unsere ersten Momente so viel Glück in mir erzeugt. Sein Lachen. Sein Selbstbewusstsein. Die liebevolle Fürsorge, als mich die Biene stach. Auch Kaley lächelt. „Wir waren im ungefähr gleichen Alter und seine Eltern besaßen ein Ferienhaus auf der gegenüberliegenden Seite. Sie verbrachten die Sommer ebenfalls immer dort und wir begegneten uns an einem der heißesten Tages diesen Sommers.“ Ich mache eine kurze Pause, sehe den kindlichen Richard geradewegs vor mir. Er trug kurze blaue Hosen und ein T-Shirt, was am Morgen mal weiß gewesen war und als ich ihn traf ein Tarnfleckenmuster trug. Seine Knie waren immer dreckig. Genauso, wie seine Hände. Die Biene. Das Eis. Mir wird warm ums Herz und die Sehnsucht brennt. „An so einem See kann man eine Menge entdecken. Die ersten Jahre waren so aufregend. Wir haben so viel Mist gebaut und so viele tolle Dinge erlebt“, erzähle ich und kann nicht verhindern, dass ich ins Schwärmen gerate. Rick war mein erster richtiger Freund und die Erinnerungen an die Zeit damals am See sind mit das Kostbarste, was ich besitze. „Irgendwann hielten wir auch den Rest des Jahres über Kontakt. Mit Briefen. Kleinen Päckchen. Hin und wieder ein Telefonat. So wie man es eben als Kinder macht.“ „Kaum auszudenken, da man doch heute ohne Handy vereinsamen würde“, witzelt sie. „Ja, stell dir vor, damals hat man sich vorwiegend von Angesicht zu Angesicht unterhalten und wenn jemand zum Treffzeitpunkt nicht da war, hat man einfach gewartet. Heute undenkbar.“ Sie beginnt herzhaft zu lachen und reißt mich mit. Trotzdem ist mein Lachen eher verhalten. „Okay, das klingt eigentlich wie die perfekte Geschichte, die man seinen Kindern am Lagerfeuer erzählt, wenn man mit ihnen an genau denselben See gefahren ist. Was ist passiert?“ Ich schließe für einen Moment meine Augen und habe sofort die Bilder von Renard Paddock im Kopf. Die Wut in seinen Augen. Die Aggression in seiner Stimme. Er hat es gewusst und er wollte, dass ich mich von Richard fernhalte. An diesen verhängnisvollen Abend hatte ich mich eigentlich mit Richard verabredet. Ich war wie gewohnt durch das Fenster seines Zimmers eingestiegen. Doch statt Rick empfing mich sein Vater. Er hatte dafür gesorgt, dass Richard zu einer Veranstaltung mit musste und keine Chance hatte um mir Bescheid zu sagen. Keine Widerrede. Keine Chance. Renard stand vor mir, bebte voller Zorn. Er würde nicht zulassen, dass ich seinen Sohn weiter verderbe. Als ich mich wiederholt weigerte ihn gehen zu lassen, packte er mich. Er würde es mir austreiben. Er würde dafür sorgen, dass mich Richard nicht mehr wollte. Seine groben Hände waren stark. Er tat mir weh. Bis er plötzlich von mir abließ. Rick riss ihn von mir runter, stieß seinen Vater zu Boden. Die Wut in seinen Augen war so intensiv, wie ich sie noch nie bei ihm gesehen habe. An diesem Tag hat er ihn so sehr gehasst. „Ein Mädchen?“, fragt Kaley neugierig und reißt mich aus den unschönen Erinnerungen. Ich brauche einen Moment bis ich ihre Frage verstehe. Sie möchte wisse, ob es ein Mädchen gewesen ist, die uns auseinander brachte. Unwillkürlich denke ich an Rahel und dann an Kaya. Ich schüttele meinen Kopf. „Gesellschaftliche Konventionen“, sage ich. Kaley sieht mir verwundert entgegen. „Wie meinst du das?“ „Rick kam aus gutem Haus. Ich nicht.“ Die einfachste und klischeehafteste Form der Erklärung für unsere Situation. Es war bei weitem nicht alles, aber das formuliere ich nicht und Kaley hakt dahingehend nicht nach. „Irgendwann waren seine Eltern der Überzeugung, dass ich ein schlechter Einfluss bin und wir zu viel Zeit miteinander verbringen.“ Ihr Blick wird ernst. Wahrscheinlich fragt sie sich, ob mein eingestandenes Verbrechen damit in Verbindung steht. Ich bin nicht bereit, ihr Einzelheiten zu erzählen und ich weiß nicht, ob ich das jemals sein werde. „Aber ihr seht euch wieder?“ „Nein, nicht mehr.“ „Wieso nicht?“, fragt sie überrascht. „Es ist besser so. Er hat eine kleine Tochter. Eine Familie. Er hat ein anderes Leben.“ Ich kann nicht verhindern, dass meine Stimme bei der Erwähnung von Kaya bricht. Es fällt mir so unendlich schwer. Ich rede mir ein, dass es der Wahrheit entspricht. Dass es wirklich besser ist, ihn zu vergessen, aber ich weiß, dass ich es niemals werde. Mit einem Mal spüre ich Kaleys Hand an meiner. Ihre Finger sind warm und weich. Ihr Daumen streicht liebevoll über meinen Handrücken. Direkt über die gerötete Stelle, die der Schlag in Stevens Gesicht hinterlassen hat. Ich sehe einen Moment dabei zu. Als ich aufsehe, schaue ich direkt in ihr lächelndes Gesicht. „Kaley, ich bin ein enorm kaputter Typ“, gebe ich flüsternd, aber bitter ernst gemeint von mir. Ich bin noch immer der Überzeugung, dass sich Kaley lieber von mir fern halten sollte und dennoch bin ich ihr so unglaublich dankbar, weil sie es nicht macht. „Weißt du, meine Oma sagte immer, dass ein Knochen der bricht, stärker wieder zusammenwächst. Also... und damit du es weißt, Die Liebe ist unantastbar“, merkt sie an, formt mit ihren Händen einen imaginären Bruch und schließt dann ihre Hand um einen ihrer Finger um die Stärke zu demonstrieren. Ihre zauberhafte Wärme berührt mich tief. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Kaley scheint damit zufrieden zu sein. Sie leert ihr Glas in einem Zug, klopft auf den Tisch und lächelt. Wir winken die Kellnerin heran und bezahlen. Zum Schluss gibt es noch einen wirklich guten Espresso, der meine liebreizende Kollegin dazu anheizt eine weitere Anekdote von sich zu geben. Der Praktikant und der Kaffeeautomat. Wir lachen geschlagene fünf Minuten und ich kann erst aufhören, als Kaley kichernd zur Toilette verschwindet. Ihr Lachen ist unglaublich ansteckend. Genauso, wie Richards. Er fehlt mir so. Mittlerweile ist es stockdunkel. Der Himmel klar. Durch die Kälte fällt mir ein, dass sich Kaley ihren Eiswunsch nicht erfüllt hat. Ich nehme mir vor, sie irgendwann auf ein Eis einzuladen. Sie winkt sich ein Taxi heran, bleibt vor mir stehen und greift nach meinen Händen. „Danke, dass du dich ein wenig geöffnet hast. Ich weiß, dass dir das nicht leicht gefallen ist. Danke für den schönen Abend.“ Denn den Dank habe ich nicht verdient. Eigentlich müsste ich ihr danken. Ich weiche ihrem intensiven Blick aus. Sie beugt sich vor und haucht mir einen Kuss auf die Wange. „Komm gut nach Hause.“ Kaley lächelt und wendet sich dem Taxi zu. Ich halte sie zurück, weil  da noch etwas anderes ist, was mir auf der Seele brennt. „Hey,....ähm...“, halte ich sie zurück, “Hast du mit jemanden über die Vorfälle mit Steven gesprochen?“ Kaley beißt sich nervös auf die Unterlippe als sie sich zu mir umdreht. „Das habe ich. Ich habe eine Situation mit dem Azubi beobachtet und euren Vorarbeiter darauf angesprochen...“, gesteht sie mit gefestigter Stimme und sieht mich trotzdem eher zurückhaltend an, „Ich teilte ihm auch mit, dass ich von anderen Belästigungen weiß und das er mit dir reden soll. Eleen, ich konnte nicht anders. Das, was Steven mit dir abzieht, ist widerwärtig und der Azubi ist so eingeschüchtert, das er sich kaum traut auch nur atmen, wenn Steven es ihm nicht erlaubt. Das ist keine gute Arbeitsatmosphäre. Ich musste es tun.“ Kaley versucht sich zu rechtfertigen, dabei hat sie nur das Richtige getan und das, was ich selbst längst hätte tun sollen. „Gut“, sage ich, „Gut, dass du es gesagt hast.“ Sie nickt erleichtert, greift nach meiner Hand und drückt sie. Ich sehe dabei zu, wie sie in das Taxi steigt und mache mich auf den Weg zur U-Bahn. Nur drei weitere Personen sitzen mit mir im Wagen. Eine Rothaarige mit leuchtend roten Schuhen. Ihr Kopf bewegt sich langsam im Takt einer Musik, die aus ihren Kopfhörer dringt. Sie schlägt immer wieder die Beine abwechselnd übereinander. Ich sehe zu dem älteren Herren, der mir gegenüber sitzt. Er schlummert. Ich hoffe es jedenfalls. Man sieht ihn kaum atmen. Beim Hinausgehen stoße ich leicht gegen seinen Fuß und bin seltsam erleichtert als sich der alte Herr regt, räuspert und weiterschläft. An der Haustür bleibe ich einen Moment stehen, sehe mich um. Ich suche nach verräterischen Schatten. Es ist alles ruhig. Nichts Auffälliges. Nichts im Briefkasten. Fast zu gut, um wirklich wahr zu sein. Auf der letzten Treppe zu meiner Etage werde ich langsamer, sortiere den Schlüsselbund in meiner Hand und stoppe. Ich erkenne ihn bereits an den Schuhen. Die letzten Stufen nehme ich schnell und aufgeregt. Er ist es. Rick sitzt mit dem Kopf auf seinen Armen und Knien abgelegt auf dem kleinen Absatz vor meiner Tür. Er schläft. Kapitel 24: Mit dem Geruch von Gras und Staub --------------------------------------------- Kapitel 24 Mit dem Geruch von Gras und Staub Richard rührt sich nicht. Selbst, als ich vor ihm stehen bleibe, sehe ich nur, wie sich sein Körper im ruhigen Takt seiner Atmung sanft auf und ab bewegt. Er schläft. Hier, mitten im Hausflur und in meiner Brust explodiert ein kleiner, aber intensiver Sternenschauer, der jede noch so entlegene Stelle meiner Glieder erreicht und die feinen Härchen meines Körpers sich verneigen lässt. So sehr ich mir auch gewünscht habe, dass er sich an meine Bitte hält, so sehr ersehnte mein Inneres, dass er sein Versprechen bricht. Meine Hand greift das Geländer der Treppe noch etwas fester. In diesem Moment bin ich voller Verzweiflung, Scham und Liebe. Sieben Jahre und doch ist er in meinem Herzen so präsent, wie am ersten Tag. Und mit jeder vergehenden Sekunde liebe ich ihn mehr. Es ist hoffnungslos zu glaube, dass ich ihn je vergessen kann. Wir zwei sind hoffnungslos, weil wir trotz aller Widerstände aneinander festhalten. Ich überwinde die letzten Stufen zu meiner Wohnetage. Lautlos hocke ich mich vor ihn, sehe in sein ruhendes Gesicht, welches unbequem auf seinem rechten Arm abgelegt ist. Eine Strähne seines braunen Haares schwebt kurz über seiner Nasenspitze und ich kann mir das Bedürfnis, ihn zu necken, nicht verkneifen. Vorsichtig stupse ich die Strähne an, sodass die weichen Haaren über seine Nase streicheln. Die Reaktion, die ich daraufhin bekomme, ist so unglaublich erfüllend, dass ich das Gefühl habe mein Herz zerspringt vor Glück. Ich wiederhole es, schaue erneut dabei zu, wie sich kleine Runzeln auf seinem Nasenrücken bilden und die Spitze zweimal hin und her wackelt. Ein leises Murren. Ich schmunzele. Rick erwacht, blinzelt benommen und hebt seinen Kopf. Das warme Braun seiner Augen sieht mir verschlafen entgegen. Er braucht einen Moment, um die Situation zu verstehen und sitzt, als er begreift, kerzengerade. „Lee…“ Das Flüstern meines Namens jagt Schauer durch meinen Leib. Heiße. Vertraute. „Hey“, flüstere ich erwidernd. Richard streckt seine Hand nach mir aus, stoppt auf der Höhe meiner Wange. Sein Blick trübt sich, so, als würde ihm erst jetzt das Ende unseres letzten Treffens wieder bewusst werden und die Hand sinkt zurück auf sein Knie. „Ich hab auf dich gewartet…“, sagt er, um die Stille zu füllen und ich komme nicht umher zu schmunzeln, als er den Versuch, zu erklären, fast beschämt wieder abbricht. Er ist nervös. Unruhig. Ich merke es am Tempo seines Gesprochenen. An seinen Händen, die immer wieder etwas suchen und doch nicht finden. Diese Nervosität zeigt er nur mir. Rick streicht sich zum wiederholten Male über das Kinn, reibt dabei über auffälliges Barthaar. Er sieht müde aus. Diesmal bin ich es, der die Hand nach ihm ausstreckt und ihm eine wilde Strähne davon streicht. Es ist nur ein Hauch, doch ich spüre, wie sich Richard unwillkürlich in meine Berührung lehnt. „Du solltest nicht hier sein“, sage ich den Satz, der seit unserem Wiedertreffen wie ein schallendes Mahnen über uns schwebt. Unser ganz persönliches Damoklesschwert. Ricks Augen schließen sich für diesen Moment. Er atmet tief ein, während mein Daumen über seine Wange streicht. Über kratzende Bartstoppeln. Über warme Haut. Über vertraute Glückseligkeit. Am Übergang zu den Ohren färbt sich sein Bart rötlich und das trotz seiner dunklen Haare. Das sehe ich zum ersten Mal und es lässt mich lächeln. Draußen ertönt die Alarmanlage eines Autos und wir schrecken beide zusammen. Rick sieht zu dem schmalen Fenster oberhalb der Treppe, lauscht und greift unwillkürlich an meinen Arm. Seine Unruhe verstärkt sich. „Moore, ist er noch hier?“, erfragt Rick hastig. Ich schüttele den Kopf. „Ich habe ihn gebeten nach Hause zu fahren", sage ich ruhig und fixiere erneut, die feinen roten Härchen an seiner Wange. „Du hast ihn gebeten“, wiederholt er leise und ihm entfährt ein seltsam amüsiertes Schnaufen, „Das schaffst auch nur du...“ Er streicht meinen Arm entlang und greift nach der Hand, die noch immer an seiner Wange ruht. Richard lächelt. Erst sanft. Dann betrübt. „Ich habe erwartet, dass du sauer bist…", flüstert er. Seine warmen braunen Augen sehen für einen Moment zur Seite, fixieren einen imaginären Punkt an der Tür des Nachbarn. Er will nicht sehen, dass es doch so sein könnte. „Das bin ich", antworte ich und sehe ihn unbeirrt an, was seine Aufmerksamkeit zurück auf mich lenkt. Sein Blick ist intensiv. Ich spüre, wie er mich so tief berührt, so wie es kein anderer macht. Ich kann ihm nicht entkommen und ich will es auch nicht. Wollte es nie. Ich richte mich auf, sehe auf meinen geliebten Kindheitsfreund, der sich nun ebenfalls rührt und unter lautknackenden Knochen aufsteht. Er macht einen Schritt auf mich zu und streckt seine Hand nach mir aus. Seine Fingerspitzen gleiten über den metallischen Reißverschluss meiner Jacke. Ich kann sehen, wie es in ihm arbeitet. Mit den Zähnen streicht er sich über die Unterlippen, beißt kurz zu, so als würden seine nächsten Worte nur mit Ansporn hervordringen können. „Schrei mich an!“, fordert Richard mich auf. „Hier im Hausflur?“, frage ich amüsiert retour. Richard schluckt. „Eleen, ich meine es ernst. Bitte. Bitte, schrei mich an“, wiederholt er. Ungewöhnlich ruhig und ernst. Ich sehe auf und verneine seine Bitte mit einem kaum zu erkennenden Kopfschütteln. Richard fasst nach meinen Händen und ich sehe automatisch hinab. Sein Griff ist fest, fast grob. Ich begreife die Situation, als ich zurück in Ricks vertraute, warme Augen sehe. Der Ernst ist bitter. „Sag mir,... dass ich ein dummer, feiger Mann bin. Dass ich selbstsüchtig bin. Egoistisch. Rücksichtlos. Dass ich dich in Gefahr bringe und dass du mich niemals wiedersehen willst. Bitte schrei mich an...sag mir, dass du mich hasst...“ Er schluckt heftig und zwingt sich dazu, weiter zu sprechen. „Sag mir erneut, dass es vorbei ist. Dass ich dich nie wiedersehe. Ein für alle mal. Bitte... Bitte... Tu es." Die Bitte ist nicht mehr als ein Flüstern. Ich sterbe tausende Tode nur, weil ich mir vorstelle es zu tun. Er sucht eine Möglichkeit um mich zu beschützen und er ist bereits meinen Weg zu gehen, auch, wenn es bedeutet, dass wir ihn fortan nicht teilen. Meine Finger beginnen zu zittern. Ich kann es nicht. Werde es nie können. Niemals. Ich schüttele erneut meinen Kopf. Richard packt mich am Jackenkragen, zieht mich so dichter an sich heran. „Eleen, bitte…schrei mich einfach an… Bitte, hasse mich. Sonst…ich werde nicht…ich kann nicht... Ich weiß nicht, wie ich dich anderes beschützen kann.“ Richard bricht ab, schließt seine Augen und lässt seinen Kopf sinken, bettet ihn gegen meine Schulter. Ich neige mein Gesicht zu seinem weichen Haaren. Es ist der Geruch von Sommer, Freiheit und grünem Gras. Es weckt hunderte Erinnerungen, wie sich aus meinen Gedanken lösen, wie ein Schwarm Schmetterling in den wundervollsten Farben. Ein Flügelschlag und ich sehe wieder deutlich, wie wir gemeinsam am See saßen. Wie es sich anfühlte, als meine Finger erst über das weiche Grün und dann übers Richards warme Haut glitten. Ich denke daran, wie unendlich intensiv das Gefühl gewesen war, als sich seine Finger zum ersten Mal mit meinen verschränkten. Er war so zärtlich und zurückhaltend. Es war ertastend. Probierend. Aber es war niemals unsicher. Er ließ seinen Daumen federleicht über meinen Handrücken streichen. Sein Blick richtete sich auf unsere Hände, während ich mich nur auf das aufgeregte Gefühl konzentrierte, welches mich in diesem Moment durchfuhr, bis ich bemerkte, dass auch Rick seine Augen geschlossen hielt. Danach durchströmte mich reines Glück. Ich erinnere mich daran, dass meine Hände leicht zitterten. So wie jetzt. Doch Richards strahlten so viel Stärke und Sicherheit aus, dass es sich anfühlte, als müsste ich nie wieder etwas anderes berühren als ihn, um glücklich zu sein. Ich war mir damals so sicher, dass uns nichts auseinanderbringen könnte und dass ich mit ihm zusammen alles überstehen kann. Allein daran zu denken, erfüllt mich mit einer unbändigen Glückseligkeit. „Ich liebe dich!“, flüstere ich, spüre, wie sich der Griff am Kragen verstärkt und wie ein Beben durch den Körper des anderen Mannes geht. Ich wiederhole meine Worte, als das, was sie sind. Die Wahrheit. Richard hebt seinen Kopf und ich sehe seine Tränen, die seine Wange benetzen. Seine Finger lösen sich von meiner Jacke, streichen über die kühle Haut meines Halses, über meinen Kiefer bis sie zärtlich streichelnd an meinen Lippen ankommen. Ricks Daumen liebkost sich über die empfindsame Haut meines Mundes und ich hauche einen Kuss gegen ihn. In seinen Augen sehe ich die Liebe, die er für mich empfindet und die Angst, die diese Gewissheit mit sich bringt. Seine Arme umfangen mich fest. Fast verzweifelt. Seine Berührungen ziehen mich tiefer in die begehrte Nähe und wiegt mich in einem Schleier alles verdrängender Nichtigkeit. Nur ein kurzer Moment und ich erwidere die Geste sehnsüchtig. Ich atme tief und genießend das Aroma der Erinnerungen in mich ein, spüre, wie sich Ricks Hände über meinen Rücken bewegen. Sein Körper bebt. Seine linke Hand stoppt in meinem Nacken und ich hauche einen Kuss gegen seinen Hals. Einen weiteren bette ich gegen seine Wange. Ich schmecke das Salz seiner Tränen und küsse seinen Mundwinkel. Zweimal. Dann lege ich meine Lippen auf seine. Er erwidert den Kuss ohne zu zögern und schenkt mir damit all die Gewissheit, die ich brauche. Seine Berührungen sind weich und zärtlich und doch sind sie pures Verlangen und genießerisches Ertasten, welches mich an unsere ersten gemeinsamen Momente erinnert. Sie sind noch intensiver als damals und ich genieße das Gefühl, welches sie in mir auslösen. Mit jedem weiterem Kuss fällt die Anspannung. Mit jeder neuen Berührung versinke ich mich in den Wellen meinen Erinnerungen und wünsche mir nichts sehnlicher als darin zu ertrinken. Richard beendet den Kuss nach einer gesegneten Ewigkeit. Seine Stirn kippt zurück auf meine Schulter und meine Finger streicheln sich zurück in seinen Nacken. Sie gleiten über die warme Haut seines Halses, über den weichen Haaransatz. Ich genieße es, ihn so nah zu spüren, sauge erneut diesen einmaligen Duft in mich ein, der mich jedes Mal wieder zurückversetzt. In keine glücklichere Zeit. Jedoch in eine Unbeschwerte. Erst das feine Seufzen meines Kindheitsfreundes lässt mich reagieren. Meine Streicheleien enden und ich löse mich von ihm. Rick bleibt regungslos stehen, folgt meinen Bewegungen mit den Augen, als ich meinen Schlüssel hervorziehe. Mit der freien Hand greife ich nach seiner. „Komm…“ Die Tür springt auf und obwohl mich Dunkelheit umfängt, bleibt das beängstigende Gefühl der letzten Male aus. Richards Anwesenheit nimmt jegliche Furcht von mir. Sie wog mich bereits früher in eine seltsame Unbesiegbarkeit. So ist es noch immer. Im Flur ziehe ich mir die Jacke von den Schultern und streife unachtsam meine Schuhe von den Füßen. Rick rührt sich nicht und bleibt vor der geöffneten Tür stehen. Ich erkenne Unsicherheit, verstehe das Zögern und strecke ihm meine Hand erneut entgegen. Sicher. Fordernd. Versprechend. Diesmal schwankt er nicht. Seinen warmen Finger umfangen meine Kalten, während er der Tür einen letzten Schubs gibt. Richard ist meine Vergangenheit, meine Gegenwart und meine Zukunft. Egal, was diese auch bringen wird. Im Flur entledigt sich Richard seiner Jacke und Tasche. Danach folgen seine Schuhe. Ich sehe ihm dabei zu, wie er sie sorgsam mit meinen zusammen unter der Garderobe positioniert. Gemeinsam und dicht beieinander. Es lässt mich lächeln und als er aufblickt, erwidert er es. Dann greift er nach meiner Hand und bleibt vor mir stehen. „Du weißt, wie sehr ich dich liebe, oder?“, fragt er mich und will darauf keine Antwort, denn im Grunde ist es eine Feststellung, „Und ich hoffe, dass du auch weißt, dass ich alles, was an dem Tag passiert ist, rückgängig machen würde, wenn ich es könnte.“ Ich nicke, obwohl ich sicher bin, dass ich genauso handeln würde, wie ich es getan habe. Man schützt die, die man liebt. Um jeden Preis. „Glaubst du mir das? Seit ich dich damals in der U-Bahn gesehen habe, da... gibt es nur noch diesen einen Gedanken in meinem Kopf. Ich will dich zurück. Egal, wie...“, setzt er nach. In jedem Wort schreit die Verzweiflung in Panik.  „Ich kann nicht klar denken... ich mache alles falsch... nicht wahr?“ Betrübt weicht Richard meinem Blick aus und fasst meine Hand dennoch fester. Ich spüre, wie seine Finger über die hervortretenden Sehnen meiner Handoberfläche reiben, merke das knubbelige Knacken, wenn die Sehne zurück an ihre Position federt. „Warum sollte es falsch sein, dass du für uns kämpfen willst...“, sage ich leise und Richard sieht auf. Ein verzweifelt lachendes Schnauben flieht von seinen Lippen und er beugt sich vor für einen ebenso anmutenden Kuss. Es ist einer dieser Küsse der herzensguten Unvollkommenheit. Leicht schief. Feucht und das obwohl ich deutlich die Trockenheit seiner Lippen spüre. Er ist voller unausgesprochenem Gefühl. Und doch ist er perfekt. Ich schließe meine Augen und lasse sie auch noch geschlossen als er sich sein Mund wieder von mir entfernt. „Wir müssen endlich reden, Richard“, sage ich und benutze absichtlich den vollen Namen meines Freundes. Ich muss nicht spezifizieren, was ich meine. Zu lange haben wir es aufgeschoben. Zu lange verdrängt. Mein Gegenüber nickt zögerlich. „Ich weiß“, bestätigt er noch einmal laut. Rick macht mit mir gemeinsam die ersten Schritte auf das Wohnzimmer zu und ich stoppe ihn. „Ich will noch kurz ins Bad“, bitte ich und löse mich von dem warmen Körper des anderen Mannes. Ricks Finger entlassen mich erst mit etwas Abstand, streichen sich über meine Haut, so, als würde er nicht wollen, dass ich mich nur einen Millimeter von ihm entferne. Im Badezimmer wasche ich mir die Hände. Danach folgt etwas kaltes Wasser ins Gesicht und ich ziehe mir die leichte Stoffhose über, die seit dem Morgen am Handtuchhalter hängt. Ich atme tief durch, als ich in den Spiegel blicke. Ich sehe den Zwiespalt meines Inneren ganz deutlich. Rick ist hier und sollte es nicht sein. Rick ist hier und es macht mich derartig glücklich, dass sich in mir das Gefühl wähnt, dass es für uns doch ein gutes Ende nehmen könnte. Es wäre doch möglich? Vielleicht. Wieso auch nicht? Oder? Was ist falsch daran, es zu hoffen? Es muss eine Möglichkeit geben. Irgendeine. Warum sonst sollte uns das Schicksal wieder zusammenführen? Wenn ich bei ihm bin, will ich es einfach glauben. Ich gehe zu Richard ins Wohnzimmer, der in der Zwischenzeit zwei Tassen Tee gekocht hat und mit geschlossenen Augen auf der Couch ruht. Ich setze mich zu seinen Füßen, die sich ausgestreckt über die halbe Länge erstrecken. Erst, als das Polster merkbar nachgibt, regt er sich. Rick lächelt mir müde entgegen und streckt seine Hand einladend nach mir aus. „Komm her“, sagt er, lässt eines seiner Beine zu Boden gleiten und zieht mich rücklings in eine wohltuende Umarmung. Als ich mich gegen seine Brust schmiege, haucht er mir einen Kuss auf die Schulter. Ich leg meine Hand an seinen Unterarm, streichele mit den Fingern durch die weiche Armbehaarung. Ich sehe dabei zu, wie die Härchen verschiedenartige Muster formen. Richard verschränkt seine Finger in meine. Sie sind so unglaublich warm und wohltuend, dass es sich sofort bis in mein Herz auszubreiten scheint. „Wo warst du heute Abend?", fragt er mich nach einem Moment genießerischer Ruhe neugierig, drückt mir einen Kuss auf die Schulter und atmet dann warm gegen meinen Hals. Ich lasse meinen Augen geschlossen. Das ist es nicht, worüber ich reden wollte, deshalb antworte ich nicht sofort. Ich spüre, wie sich langsam ein seltsames Kitzeln durch meinen Körper arbeitet. Ein Gefühl von Schuldbewusstsein. Und obwohl ich weiß, dass ich nicht so fühlen muss, kann ich es nicht verhindern. Ein weiterer Kuss bettet sich gegen meinen Hals. „Ich war mit meiner Arbeitskollegin essen“, sage ich, streiche verwirbelte Haare auf seinem Arm glatt und spüre die seltsame Aufregung noch etwas intensiver werden. Rick stoppt seine Liebkosungen und beugt seinen Kopf so weit nach vorn, dass er mein Profil sieht. „Kelly?“, erfragt er. „Kaley", berichtige ich und der Name der schönen Kollegin perlt wie selbstverständlich von meinen Lippen. „Ja. Kaley“ Er wiederholt ihren Namen, so, als würde er ihn sich diesmal einprägen wollen. „Gefällt sie dir?", fragt er mich ruhig. Rick streicht mir eine Haarsträhne davon, gleitet danach mit seinen Fingerkuppen über den oberen Teil meines Ohrs. Ein intensives Prickeln entsteht auf meiner Haut und wandert tiefer. Es hinterlässt feine Schauer der Erregung auf meinen empfindsamen Hals und bündelt sich in meiner Brust. „Sie ist sehr nett“, sage ich fahrig, genieße die Wärme und Zärtlichkeit seiner Finger. „Das meine ich nicht", sagt er amüsiert und haucht mir einen Kuss in den Nacken. Ich weiß, was er meint. Ich weiß nur nicht, was ich ihm antworten soll. Sie ist eine schöne Frau. Ohne Frage. Sie ist liebevoll und freundlich. Ein jeder kann sich glücklich schätzen, sie in seinem Leben zu haben. Doch in meinem Kopf gab es bisher immer nur Rick und weder der Prozess mit all seinen Zerstörungen, noch meine Inhaftierung hatten daran etwas geändert. Ich mag Kaley, weil sie mir etwas Normalität vermittelt und weil sie mir eine Erfahrung von Schönheit schenkt. „Ich kann mit ihr reden und sie hört mir zu. Sie… sie ist die einzige, die mich auf Arbeit nicht seltsam behandelt“, sage ich und denke unwillkürlich an meine anderen Arbeitskollegen. An Kai, der Hilfe bei mir sucht, obwohl ich nicht sicher bin, ob sie ihm überhaupt geben kann. Steven. Der Gedanke an ihn jagt mir Angst und Schrecken ein. Ich weiß nicht, was ich ihm getan habe und ich fürchte mich davor, erfahren zu müssen, was noch alles in seinem Kopf nicht normal läuft. Auch, wenn es wirklich zu der Suspendierung kommt, heißt es nicht, dass er mich in Ruhe lässt. Ich richte mich auf, lehne mich nach vorn, von Rick weg und streiche mir die Gänsehaut vom Arm, die mich gepackt hat. „Ich freue mich, wenn sie dir Halt gibt.“ „Ja." Kurz sehe ich zu ihm zurück, „Du würdest sie mögen. Sie ist so schlau und kultiviert wie du. Sie ist studiert und hat so tolle Pläne für die Zukunft", ergänze ich. Ricks Hand streicht über meinen Rücken. Ich schließe meine Augen und atme tiefer ein, während sich sein Daumen meine Wirbelsäule entlang arbeitet. „Eigentlich verstehe ich nicht, warum sie überhaupt mit mir redet. So, wie bei dir damals“, sage ich fahrig lächelnd. Fast wehmütig. „Lee, mach das nicht.“ Richard rutscht höher und setzt sich auf. Seine Arme schlingen sich um meinen Körper und ich spüre, wie sich seine Wange gegen meinen Rücken bettet. Ich blicke mich in der Wohnung um. Die Vorhänge sind geöffnet und ich sehe für einen Augenblick nach draußen. Das fahle Licht der Laternen lässt es noch kälter wirken. Noch unangenehmer. Schon immer war der Herbst eine Jahreszeit der Einsamkeit für mich, denn nach unseren gemeinsamen Sommern, konnte die nachfolgende Jahreszeit nur schlechter sein. Als ich nichts weiter zu dem Thema sage, lehnt er sich wieder zurück ins Kissen. Ich denke an damals. Der Sommer endete und das hieß jedes Mal wieder, dass ich Richard für lange Zeit nicht mehr sehen würde. Dieses Gefühl schwelt noch immer in mir. Nur bedingt es sich nun durch die unzähligen Widrigkeiten und Interessen unserer Umgebung. Ricks Hand wandert erneut über meinen Rücken, streicht über meine Schulter und seine Finger über meinen Nacken. Ich neige meinen Kopf zur Seite, erhasche einen kurzen Blick in das Gesicht des anderen Mannes. Seine Augen sind geschlossen und in dem kühlen Licht wirkt sein Gesicht fahl und ermattet. „Du siehst müde aus“ „Ich habe nicht sehr viel geschlafen die letzten Tage.“ „Meine Schuld?“, frage ich flüsternd. Nur eine rhetorische Frage, denn ich kenne die Antwort. Dennoch lässt Rick seine Hand über meinen Kopf streicheln als beruhigende, beschwichtigende Geste. „Nein, nicht deine Schuld“, lügt er, „Erklärst du mir, was vorgestern geschehen ist?“ Ich denke an das Zusammentreffen mit Rahel, an ihre Worte und wieder trifft mich dieses beklemmende Gefühl, wie ein Paukenschlag. Wie erkläre ich ihm die Wankelmütigkeit? Wie mache ich ihm verständlich, dass ich trotz unserer Gefühle der Überzeugung bin, dass Standhaftigkeit für uns beide besser gewesen wäre? Vielleicht würden wir dann wieder schlafen können. Irgendwann vielleicht. „Bitte, rede mit mir“, fordert er mich auf. Mein Kopf kippt nach vorn. Ich hadere mit meinen Worten und Richard setzt sich wieder aufrecht hin. Er baut Nähe auf. Als Schutz vor meinem Beweggründen? Als Hilfe gegen meine eigene Unsicherheit? Egal, was es ist, es funktioniert. Er berührt die Helix meines linken Ohres sanft mit dem Zeigefinger. So als wollte er mich damit animieren, alles zu offenbaren. Ich bekomme Gänsehaut und das nicht nur wegen des zärtlichen Berührens. „Ich weiß nicht genau wie“, gestehe ich ein. Das hilflose Gefühl, welches das Wissen um das Fehlen unserer gemeinsamen Zukunft in mir auslöst, erfasst mich erneut kalt und erbarmungslos. Es ist so unglaublich stark und präsent. Wie soll ich ihm sagen, dass ich daran zweifele, dass wir eine gemeinsame Zukunft haben? So viele Dinge liegen im Argen. Zu viele Personen stehen zwischen uns. Und dennoch spüre ich seine Präsenz nah und intensiv. Egal, wo ich bin und völlig egal, wer noch bei mir ist. Richard ist an meiner Seite. „Lee, ich weiß, dass ich…das wir… nicht mehr dieselben sind, wie vor acht Jahre. Wie sollten wir auch? Es ist viel passiert und gerade ich habe viel Mist gebaut.“ Ich spüre, wie er tief einatmet. Seine Arme legen sich noch fester um meinen Bauch. Ricks Atem streift meinen Hals, bevor er einen winzigen Kuss gegen meine Haut haucht. Er ist so unglaublich warm. Das Gefühl so unfassbar gut. „Bitte, gib uns nicht auf", sagt er nach kurzer Stille. Ich spüre, wie seine Worte direkt in mein Inneres dringen. Die Wahrheit, die sie transportieren, trifft mich unerwartet tief. Meine allein getroffene Entscheidung kam wirklich einer Aufgabe gleich. Ich spüre Tränen, doch dieses Mal unterdrücke ich sie. Ich muss stark sein. Stärker sein und noch stärker werden. „Wir haben schon einmal... Nein, ich habe zugelassen, dass wir diese Entscheidung trafen und das kann ich mir nicht verzeihen. Ich hätte damals bei dir bleiben sollen. Wir hätten erklären müssen, dass es ein Unfall war.“ Ein Unfall. Niemand hätte uns geglaubt. „Sie war richtig, Rick“, widerspreche ich ihm seufzend. Sie hätten es nicht als Unfall gelten lassen und seine Familie hätte alles dafür getan, dass Richard keine Strafe erhält und die Schuld nur auf mir lastet. Welchen Unterschied hätte es also gemacht? Renard Paddock war sein Vater. Er stieß ihn von der Treppe, um mich zu beschützen, aber auch aus Wut. Und nichts, was wir ausgesagt hätten, hätte daran etwas geändert. Niemand hätte uns geglaubt. Niemand hätte verstanden, was in dieser Nacht wirklich geschehen war. Von den Erinnerungen übermahnt, richte ich mich auf. Richard folgt, ändert seine Position so, dass er neben mir sitzt. Seine Hände umfassen mein Gesicht. Seine Fingerspitzen sind kalt, doch die Wärme und Liebe in seinem Blick lassen es mich nicht spüren. „Erzähl mir, was passiert ist nach dem ich gegangen bin. Alles“, bittet er. Richard greift nach meinen Händen, verschränkt sie mit seinen und sieht mich an. Ich lasse meine Augen einen Moment geschlossen. Die Erinnerungen kommen sofort zurück. Es ist der Geruch von kalten Staub, der mir als erstes in den Sinn kommt. Es ist verrückt, doch er lag jedes Mal im Haus. Selbst nach ein paar bewohnten Wochen konnte man ihn noch riechen. Immer dann, wenn man sich auf eine Couch niederließ oder einen Stuhl verrückte, konnte man die feinen Staubpartikel sehen, die sich in die Luft ablösten. Ich sah sie oft im Lichtschein tanzen. Auch an diesem Abend. Die Sonne stand tief. Kurz vor dem Untergang. Auch als der Körper von Richards Vater auf den Boden aufschlug, tanzten feine Staubpartikel durch die Luft. Sie erfüllt den gesamten Raum. Doch in diesem Moment atmeten wir nicht, regten uns nicht. Alles andere stand einfach still. Die abrupte Stille brannte sich in mein Gedächtnis. Sie wurde einzig unterbrochen durch den heftigen, lauten Schlag meines Herzens, den nur ich selbst hörte. Es waren Sekunden, die vergingen, bis uns die Situation dämmerte und doch, es vergingen Minuten bis wir es vollkommen realisierten. Richard sprang die Treppe fast hinunter, kniete nieder und wirkte in diesem Moment so hilflos, wie ein Kind. Sein Vater regte sich nicht. Er blutet nur. Viele nachfolgende Teile des Abends liegen im Schatten und je mehr ich darüber nachdenke, umso undurchsichtiger scheint es mir. Hin und wieder erinnere ich Worte und Blicke. Nichts als Bruchstücke. Richard Hände berührten immer wieder den leblosen Körper seines Vaters. Er murmelte irgendwelche Worte. Ich hörte die Unruhe in seiner Stimme, die mehr und mehr der Panik wich. Er begann zu zittern und in diesem Moment wollte ich, dass er geht. Ich glaube, dass ich ihn angeschrien habe. Doch sicher bin ich mir nicht. Ich wollte einfach nur, dass er geht, denn mit jeder vergehenden Minute wuchs das Wissen um die Folgen. Ich nahm sein Gesicht in meine zitternden Hände und die Worte, die ich danach zu ihm sagte, sind mir als einziges völlig klar im Gedächtnis geblieben. Sie wiederholen sich auch jetzt in meinem Kopf, so wie sie es schon hunderte Male getan haben seit diesem Abend. ~ Richard, du musst gehen! Geh! Du warst nie hier. Hast du verstanden?~ ~ Ich kann nicht.~ ~ Du musst. Rick geh! Bitte. Du warst nie hier.~ ~ Ich kann nicht. Lee, ich kann das nicht.~ ~ Doch du kannst. Du musst stark sein, hörst du? Für uns beide. Versprich es mir. Bitte, versprich es mir.~ Ich spüre, wie mich eine intensive Gänsehaut erfasst und fahre fort mit der Ankunft der Polizei am Tatort. Die Sirenen, die näher kamen und mir die Luft zum Atmen raubten. Das blaue Licht, welches alles in eine gespenstische Kühle tauchte. Ich berichte von den nervenzerrenden Verhören derselben Nacht. Richard hört einfach zu, greift meine Hände in einigen Momenten fester und senkt seinen Blick. Ich erzähle von den Wochen in Untersuchungshaft, die mir das Fürchten gelehrt haben, weil ich in dieser Zeit kaum ein Auge zugetan habe. Wie hätte ich auch? Die Ungewissheit über das, was kommen würde, was mich erwartete und der Verlust jeglichen Vertrauens von denen, die ich in diesem Moment am meisten gebraucht hätte, haben mich nicht schlafen lassen. Ihre Blicke aus Enttäuschung und Unglauben begleiten mich noch heute bis in meine Träume. Meine Brüder schwankten zwischen Unglauben und dem Wissen, dass sie schon immer dachten, ich würde irgendwann Ärger machen. Stille Wasser sind tief und nicht selten schmutzig. Meine Mutter weigerte sich lange, es hinzunehmen. Aber auch sie konnte irgendwann der Geißelung nicht mehr entfliehen, es akzeptieren zu müssen. Das Urteil stand. Schuldig des Totschlags nach § 212 StGB. Laut des Richters habe ich billigend in Kauf genommen, dass der Geschädigte zu Tode kommt. Nur die von mir benannten Umstände, mein Schuldbekenntnis und mein Alter veranlassten den Staatsanwalt auf einen minderschweren Fall zu plädieren. 7 Jahre Gefängnis, wovon 4 Jahre auf Bewährung ausgesetzt wurden. Vorausgesetzt, ich würde mir im Gefängnis nichts zuschulden kommen lassen und meine Auflagen einhalten. Darunter zählte die Aufnahme und der erfolgreiche Abschluss einer Ausbildung, sowie die vollkommende Kontaktsperre zu der Familie Paddock. Die Worte des Richters hallen noch jetzt, wie ein Echo durch meinen Kopf. Sie sind so nah und klar, dass ich das Gefühl habe wieder in dem Gerichtsaal zu stehen und ihre Blicke zu spüren. Vor allem die von Richards Mutter. Sie starrte mir ununterbrochen in den Rücken. Ich habe es nie gesehen, aber die gesamte Zeit über gespürt. Es war mehr als die bloße Wut über den Verlust ihres Mannes. Es war eindringlich und seltsam wissend. Doch wie viel hat sie wirklich gewusst? Was hat sie mitbekommen? Ich weiß bis heute nicht, was Richard ihr erzählt hat und das macht mir Angst. „Wie viel weiß deine Mutter eigentlich über uns?“, frage ich interessiert. Rick hebt den Kopf. Für einen kurzen Moment kräuselt sich seine Stirn. „Sie weiß nicht, dass wir uns wieder getroffen haben. Das musst du mir glauben“, versichert er mir schnell, ob wohl das gemeint habe. Das hat er schon einmal. Ich zweifle nicht daran, dass er das wirklich glaubt. Ich lehne mich zurück und sehe den anderen Mann seitlich an. „Weiß sie von uns? Ich meine, weiß sie, dass wir schon damals mehr waren als Freunde?“, präzisiere ich die Frage, die ich mir schon seit langem stelle. Was genau weiß Sybilla Paddock? Ich strecke meine Finger, sodass sie sich etwas aus Richards Hand lösen. Auch er lehnt sich zurück, stützt seinen Arm auf der Rückenlehne ab und hält damit seinen Kopf aufrecht. Als ich aufsehe, blicke ich in das warme helle Braun seiner Augen. „Ehrlich gesagt, bin ich mir nicht sicher. Sie hat nie irgendwelche Fragen gestellt. Sie vermied es, deinen Namen auch nur auszusprechen und als du nicht mehr in meiner Nähe warst, hat sich die Frage nicht gestellt, denn war ja brav...“, antwortet er mir, lässt deutlich erkennen, wie wenig er von der Einstellung seiner Mutter hält. „Sie wollte nie die genauen Gründe erfahren?“, frage ich, schließe meine Finger und schmiege sie zurück in die warme Hand des anderen Mannes. Ein leichtes Kopfschütteln. Richard senkt seinen Blick. Ich bin nicht überrascht. Ihr Verhältnis zueinander war nie sehr herzlich und familiär gewesen. Für sie war ich immer der böse Junge, der ihr den Mann und beinahe auch den Jungen genommen hatte. „Nein, du kennst sie. Ihr hat die Erklärung vor Gericht ausgereicht. Sie redet, sie weist an und sie schreibt vor. Das und nichts anderes. Sie hat nie mit mir darüber gesprochen, Eleen. Kein einziges Wort und wenn ich es versucht habe, dann hat sie mich einfach nur angeschrien und weggeschickt. Sie wollte nie meine Meinung wissen. Sie wollte nicht wissen, wieso sie mich nicht bei der Veranstaltung gesehen hatte. Sie wollte nicht wissen, wieso ich bei der Beerdigung nicht...“ Er beißt sich auf die Unterlippen und stoppt. „Auch als sie das Kontaktverbot initiiert hat, legte sie keinen Wert auf meine Meinung, verstehst du? Ich konnte nur meine Füße stillhalten und dabei zusehen, weil alles andere zu auffällig gewesen wäre.“ Ich höre deutlich die Wut, die er empfindet. Es folgt ein leises Zähneknirschen, was die Wut noch einmal lautmalerisch hervorhebt. Richards Wange bettet sich in meine Halsbeuge und er schweigt. Ein Zeichen seiner Hilflosigkeit. Seine Bartstoppeln pieken und es macht mir Gänsehaut, die ich so sehr genieße, dass es fast unheimlich ist. „Ich habe angewiesen, dass meine Anwälte mit den Recherchen aufhören.“ Er macht eine Pause, atmet tief ein, so als würde es ihm unendlich schwer fallen, auch nur darüber nachzudenken. „Ich wollte immer nur, dass wir wieder zusammen sein können. Am liebsten sofort ohne all diese Probleme... Ich würde alles dafür tun... aber ich verstehe auch, dass dieser Weg Frage aufwirft, die wir nicht gebrauchen können. Ich vertraue meinen Anwälten, aber... meiner Mutter...“ Er spricht es nicht aus. „Ich weiß… Ich bin müde“, sage ich leise und meine nicht nur meinen jetzigen Gemütszustand, sondern die gesamte Situation. Rick wirft einen Blick auf die Uhr und ich spüre, wie er nickt. „Soll ich gehen?“, fragt er leise und ich vermeide es ihn anzusehen. Wieder liefern sich mein Kopf und mein Herz ein Duell. Es wäre besser, wenn er geht, doch ich sage, dass genaue Gegenteil. „Bitte bleib.“ Richard haucht mir einen Kuss auf die Fingerspitzen und steht auf. Er verschwindet im Badezimmer. Ich folge ihm nach kurzer Verzögerung, suche ihm eine Zahnbürste heraus und sehe dabei zu, wie ihm beim Putzen Zahncremeschaum über die Lippen quillt. Wenn ich ihn bei so etwas beobachte, dann habe ich noch immer das Gefühl wieder 17 Jahre alt zu sein. Ich spüre das Glück und die Unbeschwertheit. Ich streiche ihm Reste der Zahnpasta aus dem Mundwinkel und Richard küsst mich. Als ich am Morgen erwache, liegt Rick schlafend neben mir. Es fühlt sich gut und richtig an. Ich höre seinen ruhigen Atem und spüre seine warmen Füße an meinen. Ich bleibe ruhig liegen, schließe meine Augen und genieße das angenehm beruhigende Gefühl, welches sich in mir ausbreitet. Erst eine halbe Stunde später beginnt Rick sich zu rühren. Erst sind es nur seine Hände. Sie schieben sich aus der Decke hervor und nach kurzer Zeit wieder runter. Seine Füße reiben an meinen. Ich öffne meine Augen und schaue in das entspannte Gesicht meines Freundes. Er dreht sich auf die Seite und murrt. Danach rollt er zurück auf den Rücken und wieder auf die Seite. Obwohl seine Augen geschlossen sind, lächelt er mich an. Er murmelt etwas, was ich als ´Guten Morgen´ identifiziere und ich streichele ihm wirre Haare zurück. Danach schwinge ich schnell und bestimmt die Beine aus dem Bett. „Nicht gehen“, murmelt er und streckt seine Hand nach mir aus. Er kriegt mein Handgelenk zu fassen. „Ich kann nicht mehr liegen…und brauche einen Kaffee“, erkläre ich, löse seinen Griff und setze meinen Weg unbeirrt fort. Als ich wieder aus dem Bad komme, stolpert mir Richard entgegen. Er drückt mir mit halbgeöffneten Augen einen fahrigen Kuss auf, der mehr Wange als Lippen trifft  und torkelt Richtung Toilette. Ich höre, wie sich Richard über den Flur bewegt als er mit Duschen fertig ist. Leise summend, so, als gäbe es nichts auf der Welt, was ihn betrüben könnte. Ich lausche seiner Melodie, erkenne ein Lied unserer gemeinsamen Vergangenheit und schließe meine Augen, bis er hinter mir stehen bleibt. Rick legt sorgsam seine Arme um mich, während ich den Kaffee aufgieße. „Wie hast du geschlafen?“, fragt er mich, schmiegt seine Wange gegen meine und beginnt erneut, leise zu summen. „Ganz gut.“, antworte ich und untertreibe. Es war seit langem die erste Nacht, in der ich ohne Unruhe und Albträume einfach nur geschlafen habe. „Schön zu hören. Immerhin warst du so entspannt, dass du leise geschnarcht hast. Wie ein kleiner Bär im Winterschlaf“, kommentiert Richard schmunzelnd und ich brauche einen Augenblick, um zu verstehen, dass er übertreibt. Ich höre, wie er leise kichert und mir dann sanft in den Hals beißt. Die Stelle danach küsst. „Möchtest du etwas essen?“, frage ich nach einem genießenden Moment, während Rick erneut beginnt zu summen. „Kaffee reicht erstmal“, sagt er und lehnt sich rücklings an den Küchentresen. Ich schiebe ihm die dampfende Tasse zu und er schenkt mir ein dankendes Lächeln. Seine Haare sind noch immer feucht vom Duschen. Ein Wassertropfen löst sich aus einer Strähne, während Richard einen ersten Schluck vom Kaffee nimmt. Das leichte Brummen, was folgt, ist kein Ausdruck des Wohlgefallens. „Wow, du kochst Teer! Ich brauche Zucker…“, entflieht es ihm, nachdem sich sein Gesichtsausdruck wieder normalisiert hat und nimmt dennoch einen zweiten Schluck. „…und Milch“, ergänzt er. Suchend öffnet er eine beliebige Schranktür und starrt einen Moment auf den Stapel Teller, der vor ihm aufgetaucht ist. Ich schließe sie für ihn und greife zielsicher zu der unscheinbaren Zuckerdose, die neben Mehl und Salz auf dem Küchentresen steht. Rick nimmt sie dankend entgegen, löffelt sich gleich zwei große Portionen in die schwarze Flüssigkeit und schnuppert. „Entschuldige, ich mag ihn so“, gestehe ich und mache einen Abstecher zum Kühlschrank. Leider kann ich keine Milch finden. Nicht mal Kaffeesahne. Ich sehe ihm entschuldigend entgegen. Milch ist keine meiner typischen Einkaufskomponenten. Richard lächelt, streckt seine Hand nach mir aus und nimmt einen weiteren Schluck der nun gesüßten Flüssigkeit. Ich nehme die Aufforderung gern wahr. „Musst du heute los?“, fragt er mich, während er mir einen Arm an die Hüfte legt und mich so wieder dichter an ihn heranführt. „Nein. Du?“, frage ich retour, spüre, wie sich die Hoffnung in mir breit macht, dass Rick länger bei mir bleiben könnte. Sie währt nicht lange. „Leider ja. Ich habe nachher noch ein Abschlussmeeting für eine geplante Übernahme…“ „An einem Samstag?“, frage ich seltsam enttäuscht, obwohl es mich nicht überrascht. „Ja, auch an einem Samstag. Internationale Firmen unterliegen einem anderen Zeitplan… und…Rahel bringt später Kaya zu mir.“ Beides überrascht mich nicht. Doch letzteres versetzt mir zum wiederholten Mal einen Stich. Die zwiespältigen Gefühle im Zusammenhang mit Richards kleiner Tochter machen mich verrückt. Ich will sie nicht spüren. Ich schäme mich zutiefst und schaffe es nicht alle Regungen zu verstecken. Unwillkürlich weiche ich seinem Blick aus. Richard stellt die Tasse zurück auf die Arbeitsplatte und umfängt mich dann mit beiden Armen. So als hätte er es ganz genau gesehen, wie schwer ich an dem Gedanken knabbere. „Rahel ist nicht unser Feind. Sie ist verletzt und sauer. Aber sie spielt keine Spielchen…So ist sie nicht. Bitte glaub mir...“, setzt er an und ich unterbreche ihn. „Ich bin ihr vor der Bar begegnet“ Ich denke an das Bild, welches sie mir von Richard und seiner Tochter gegeben hat. Ich habe es noch immer in der Innentasche meiner Jacke. Rick seufzt, als würde ihm mit einem Mal klar, weshalb dieser Abend so geendet war. Das schwere Gefühl habe ich noch immer. Und es wird auch nicht so schnell verschwinden. „Sie muss es am Abend zuvor mitangehört haben. Lee, es tut mir leid. Ich…“, setzt er an und seufzt ein weiteres Mal, doch dieses Mal deutlich verzweifelter. Richard stellt seine Kaffeetasse ab. „Was hat sie getan oder gesagt, was dich derartig verunsichert hat? Hat sie dir gedroht?“ Ich vollführe eine Mischung aus nicken und Kopf schütteln. Ich verneine es bejahend und bin hin und hergerissen. Ich deute ihm an, dass er einen Moment warten soll. Aus dem Flur hole ich das Foto und überreiche es Richard. „Sie gab mir das.“ Ich senke meinen Blick auf die Abbildung, ebenso wie er. Diesmal flieht ein angestrengtes Seufzen über seine Lippen und er lässt seine Hand samt Foto sinken. Ich sehe ihn schlucken. „Ich werde mit ihr reden.“ „Zu welchem Zweck? Nichts, was sie zu mir gesagt hat, war unwahr oder zumindest nicht verständlich. Sie hat Angst. Sie will ihre Familie beschützen. Sie liebt dich und ich kann verstehen, warum sie so handelt.“ „Aber sie versteht nicht, was du mir bedeutest.“ „Das ist nicht wahr. Sie versteht es ganz genau und ich wiederum verstehe, dass sie nur sieht, dass ich mich wieder in dein Leben dränge und alles durcheinander bringe. Ich bringe alles durcheinander, Rick! Nicht nur für sie. Für deine Tochter genauso. Auch für Ewan. Selbst für Moore. Er sollte seinen Ruhestand genießen. Irgendwo an einem Teich stehen und angeln. Stattdessen sitzt er seit Wochen in seinem Auto und versucht mich davon zu überzeugen, dass wir niemanden einen Gefallen tun, mit dem, was wir machen.“ „Du darfst dich nicht dafür verantwortlich fühlen. Für nichts davon. Ich habe mich von ihr getrennt und das lange bevor wir uns wieder gesehen haben. Sie hat nicht das Recht, solche Dinge zusagen. Und Moore ist nichts weiter als ein wahnhafter alter Mann, der Gespenstern hinterher jagt, weil es nicht schafft sich nach all den Jahren ein eigenes Leben aufzubauen. Er kennt es nicht anders. Lee, du bist nicht derjenige, der alles durcheinander bringt. Sie sind es. Diese Schatten der Vergangenheit, die alles wieder hochholen. Warum können sie es nicht einfach ruhen lassen...“ In seiner Stimme liegt Wut als er den Vorwurf formuliert. Ich spüre die Verzweiflung und obwohl er in gewisser Weise recht hat, fühle ich mich nicht besser. All diese Geister. All dieser Erinnerungen. Sie lasten schwer auf mir. Im Wohnzimmer beginnt Richards Handy zu klingeln. Doch statt darauf zu reagieren, zieht er mich in eine feste Umarmung. Erst nach einer weiteren Tasse Kaffee, diesmal weniger stark und ein Toast mit Streichschokolade sammelt Richard seine Sache zusammen. Im Flur schiebt er das Telefon in seine Brusttasche und sieht mich an. Wir haben nicht darüber gesprochen, wann wir uns wiedersehen und ob. Haben nicht darüber gesprochen, was wir gegen die Schatten tun werden. Ich will nicht, dass er geht. Ich lasse meinen Augen geschlossen, während sich seine Hände über meine Arme nach oben arbeiten. Ich weiß, dass er mich ansieht, dass er jede meiner Reaktion beobachtet. Seine Fingerknöchel streicheln über meine Wange und ich blicke auf. In diesem Moment umfängt er mich mit einer intensiven Umarmung. Liebevoll gleitet seine Hand durch mein Haar. Ich will nicht, dass er geht. Seine Augen bleiben genießend geschlossen und er bettet seine Stirn gegen meine. „Ich muss los“, flüstert er in diesem weichen, warmen Tonfall, der mich fast jedes Mal auf die Knie zwingt. „Ich weiß“, antworte ich knapp, aber ruhig und mache keine Anstalten mich von den warmen, anziehenden Körper zu entfernen. Richard haucht mir einen Kuss auf die leicht geöffneten Lippen. Kurz und sanft. Seinen Blick haftet an der berührten Stelle. Es folgt ein zweiter, der noch etwas länger dauert und ein wenig sehnsüchtiger ist. Der Abstand zwischen unseren Lippen ist nicht mehr als ein Hauch des Widerstandes, der trotz seiner Sanftheit jedes Blatt eines jungen Baumes zum Vibrieren bringt. Kein Hindernis. Keine Barriere. Den dritten Kuss erwidere ich energisch. Neckend. Fordernd. Rick nimmt meine Unterlippen zwischen seine Lippen. Ein leichtes Saugen lässt meine Haut tanzen. Ein zärtliches Knabbern lässt mich nur noch mehr verlangen. Mit der Zunge tippe ich gegen seine Oberlippe, treffe den kitzelnden Punkt genau in der Mitte und merke mit Genugtuung, wie sich seine Lippen zu einem feinen Lächeln verziehen. Nur für eine Sekunde unterbricht es den Kuss. Der, der folgt, ist noch intensiver, als die vorigen. Ich schmiege mich dichter an ihn und genieße das atemberaubende Kribbeln, welches durch meinen Körper jagt, als sich unsere Zungenspitzen nähern, spielen und verzehren. Tausende kleine Explosionen durchfahren mich, wie eine ersehnte Entladung all meine Frustrationen. Sie entfliehen meiner Kehle, sorgen dafür, dass sich mein gesamter Körper leichter anfühlt. Schwerelos. Großartig. Die warme Haut unter meinen Fingerspitzen macht mich nur noch höriger. Alles in mir reagiert auf ihn. Jede Faser meines Körpers. Jedes noch so winzige Molekül. Ricks Hände streicheln sich unter meinen Pullover. Sie schieben ihn nach oben und ich nehme unwillig meine Hand aus seinem Nacken, lasse zu, dass das Stück Stoff auf den Boden landet. Ricks Mantel fällt als nächstes und seine süßen Lippen nehmen meinen Mund sofort wieder in Besitz. Ich spüre, wie sich die Wärme seines Körpers beruhigend um mich legt, wie sie in mich eindringt und wie sie mich jedes Mal aufs Neue alles vergessen lässt. Ich will ihn spüren. Noch dichter als jetzt. Noch tiefer. Ich greife in den Stoff seines Pullovers, ziehe ihn nach oben bis Rick nach meinen Handgelenken fasst. Erst nur, um mich davon abzuhalten, weiter an dem Stoff zerren. Dann drückt er sie jedoch  hoch und an die kalte Wand, nippt an meinen Lippen, als wären sie Teil seiner Belohnung. Als ich versuche meine Arme aus der Position zu befreien, hindert er mich daran. Er fasst meine Handgelenke fester und stiehlt sich einen Kuss, während dem er mich anblickt. Direkt und eindeutig. Ich sehe die Dominanz, die hin und wieder arrogante Züge annimmt. Rick drückt meine Arme weiter nach oben und lässt seine Lippen neckend, nippend über meinen Kiefer gleiten. Das zärtliche Flüstern prickelt sich über meine Haut bis ich vor Spannung die Luft anhalte. Darauf wartend, dass sein Mund einer Stelle gnädig wird, sich ihr mit all der Leidenschaft widmet und meiner Erregung Abhilfe verschafft. Doch seine Lippen setzen ihren Weg fort. wandert bis zu meinem Ohr, wo mich die Wärme seines Atems unwillkürlich erbeben lässt. Ein Keuchen perlt von meinen Lippen. Es ist tief, wohlig und erwartend. Fast ein wenig fordernd. Es überrascht nicht nur mich. Rick löst sich von meinem Hals und sieht mich an. Seine warmen braunen Augen sind getränkt mit Lust und Erregung. Dieser Blick jagt mir jedes Mal wieder bloße Schauer durch den Leib. Ich unterdrücke ein weiteres Keuchen, spüre das Beben auf meinen Lippen und wie es Rick kurz darauf kostet. So, als wäre es das erste Mal. Während des Kusses entlässt er meine Hände aus seinem Griff. Richard streichelt über meine verhüllte Erregung. Ich ziehe scharf die Luft ein und schließe meine Augen, während er sich neckend meinen Kiefer entlang küsst. Bis zu meinem Ohrläppchen. Mit leichter Reibung bewegt sich seine Hand über meine Erregung. Ein kurzer Biss in das zarte, weiche Fleisch meines Ohres und ein erneutes fahriges Keuchen erfüllt den Raum. Es ist tiefer und intensiver. Richard schließt genießerisch seinen Augen und saugt jeden Laut in sich ein. „Stöhn für mich“, fordert er mich neckend auf und legt seinen Mund gegen die empfindliche Haut meines Halses. Ich spüre die Hitze seines Körpers, fühle ihn. Vollkommen und intensiv. Ricks Härte drückt sich gegen meinen Oberschenkel und ich greife zu seinem Hosenknopf. Er hält mich zurück, schiebt erneut meine Hand nach oben und es erfasst mich eine erregende Welle. Sie breitet sich in mir aus, wie ein Feuer voller Leidenschaft. Ich möchte mehr. „Stöhn für mich!“, wiederholt er, doch diesmal ist es nicht fordernd, sondern eindeutig bittend. „Nimm mich“, sage ich stattdessen, folge seinem Blick bis er mich direkt ansieht. Seine Lippen nippen an meinem, kosten die unbestimmbare Süße, die nur wir beide schmecken und die mich tiefer in die Sucht treibt. Ich wiederhole meine Aufforderung flüsternd und sehe ihn unverwandt an. Ein eindeutiges Lächeln umspielt seine Lippen und selbige suchen erneut nach meinen. Der Kuss ist intensiv und leidenschaftlich. Richard zieht mich von der Wand weg, direkt in seine Arme. Dieses Mal stoppt er mich nicht, als ich versuche, seine Hose zu öffnen. Doch durch die Nähe des anderen Körpers habe ich wenig Spielraum. Der Knopf löst sich nicht und ich bin nicht gewillt den intensiven Kuss zu beenden. Stattdessen bringe ich etwas Abstand zwischen unsere Unterleiber. Nicht sehr lange, denn Richard schließt jede Lücke sofort und schiebt mich mit jedem Versuch etwas weiter Richtung Wohnzimmer. Erst, als meine Waden gegen die Couch stoßen, schaffe ich es, öffne den Reißverschluss und lasse meine Hände in die wohlige Tiefe seiner Hose gleiten. Mühelos streiche ich direkt in seine Unterhose, fühle wie sich mir seine Härte bettelnd entgegenstreckt. Rick entledigt sich selbst seines Pullovers und zieht mich sofort wieder in einen Kuss. Seine Hände wandern über meinen Rücken. Ein wissendes und intensives Streicheln, welches tief in meine Haut eindringt. Ich will ihn spüren. Noch viel stärker. Noch viel mehr. Ich umfasse seine Erregung fester, genieße die Hitze auf meiner Haut und das scharfe Zischen, welches von Richards Lippen flieht. Es erregt mich ungemein, ihn so zu hören. Das Wissen darum, dass ich solche Empfindungen in ihm auslöse, ist beruhigend und aufrührend zu gleich. Ich bewege meine Hand schneller über seine Härte, entlocke ihn weiteres Stöhnen. Wir lösen unseren Kuss und Rick lässt seinen Mund über meinen Kiefer wandern, zu meinem Hals, zu meinem Ohr. Ein sanfter Biss und ein Keuchen. Erst seines, dann meines. Ich intensiviere meine Massage und merke schnell, dass Richards Liebkosungen fahriger werden. In diesem Moment ist nichts von seiner vorigen Dominanz zu spüren. Er genießt meine Berührung in vollen Zügen und gibt sich mir hin. Ein weiteres Mal zieht er scharf die Luft, greift dann nach meiner Hand und hindert mich daran, weitere Intensität aufzubauen. Rick sucht meine Lippen, trifft nur meinen linken Mundwinkel und keucht. „Du hast doch bestimmt irgendwas hier?“, raunt er fragend, berührt meinen Hals zärtlich mit dem Mund und nippt sich zu einer besonders weichen Stelle an meinem Schlüsselbein. „Wenn du das dritte Buch im dritten Fach des Bücherregals nach hinten ziehst, öffnet sich die Tür zu meinem geheimen Spielzimmer“, kommentiere ich trocken und schließe meine Augen, um das sanfte Spiel an meinem Hals noch intensiver zu spüren. Doch nichts passiert also öffne ich meine Lider und sehe zu meinem Kindheitsfreund. Ich beginne zu kichern als er mich mit hochgezogener Augenbraue anblickt. „Scherzkeks... und nicht hilfreich“, lässt er verlauten und zieht mich dennoch  in einen intensiven und energischen Kuss. Nur widerwillig löse ich mich von ihm als ich als erstes begreife, dass sich weiter Küssen keine Lösung für das Problem bringt. „Warte hier…“, weise ich ihn an, deute auf die Couch und tapse mit wackeligen Beinen ins Badezimmer. Ich finde ein Massageöl und bin damit sehr zufrieden. Richard trägt nur noch seine Shorts, als ich zurück komme und hat sich auf die Couch nieder gelassen. Vor ihm bleibe ich stehen. Er beugt sich direkt zu mir, greift in den Bund meiner Hose und lässt sie über meine Beine gleiten. Ich trage nichts drunter. Zärtlich haucht er mir einen Kuss gegen den Unterbauch. Einen weiteren gegen meinen Bauchnabel. Dann blickt er auf. Seine warmen braunen Augen erfassen mich, während er seine Lippen auf die Spitze meiner Erregung bettet. Ich zucke unwillkürlich mit genau dieser Gegend und treffe dabei seine Nasespitze. Rick grinst, wiederholt die sanfte Berührung mit seiner Zungenspitze und schließt dann seine Lippen vollends um mich. Die Wärme ist atemberaubend. Die feuchte Reibung wohltuend. Ich schließe angeregt meine Augen und merke, wie mir Richard das Öl aus der Hand nimmt. Seine Hand gleitet meinen Innenschenkel entlang, schiebt sich zwischen meinen Beinen weiter nach oben. Zu meinem Hintern. Sanft streichelt er über die Spalte nach vorn, stoppt bei meinem Damm und fährt dann mit mehr Druck wieder zurück. Er wiederholt es, bis sein Finger neckend über meinen Eingang streicht. Das Öl hinterlässt ein feuchtes und samtiges Gefühl auf meiner Haut. Sein Finger dringt in mich ein, während sein Mund sich noch etwas fester um mich schließt. Er nimmt mich tief, lässt seine Zunge kreisend um meine Eicheln spielen. Es fühlt sich wundervoll an. Heißt und Feucht. Ich lasse meine Augen geschlossen bis ich merke, dass Rick kurz von mir ablässt. Dann sehe ich hinab. Seine Lippen schweben nur Millimeter von meiner Härte entfernt. Er sieht zu mir auf, lässt seine andere Hand nicht ruhen. Ich keuche leise auf. „Stöhn für mich“, wiederholt er seine Bitte vom Anfang und lässt seine Zunge über meine feuchtglänzende Spitze gleiten. Direkt über den schmalen Schlitz. Ich werde schlagartig rot, merke die enorme Hitze auf meinen Wangen und kann nicht verhindern, dass er es bemerkt. „Rick, ich…“, setze ich an, doch spreche nicht aus, was ich denke. „Bitte…“, sagt er und setzt seine wohltuende Massage fort. Ich lasse meine Finger durch sein dichtes Haar fahren, ertappe mich dabei, dass ich ihn ab und an dichter an mich heran drücke, um ihn noch mehr zu spüren. Rick lässt es geschehen, nimmt seine freie Hand dazu, um noch mehr Reibung zu erzeugen und stoppt jedes Mal wissend, bevor er mich zum Höhepunkt bringt. Mit jedem Mal keuche ich lauter, bis er sich erneut von mir löst. Er lehnt sich zurück, greift nach dem Fläschchen mit Öl und gießt ein paar Tropfen auf seine Körpermitte. Dann streckt er seine Hand nach mir aus und ich folge ihm willig. Ich küsse ihn gierig. Ich will ihn spüren. Überall. Ganz tief. Richard greift meine Hüfte und ich sinke kontrolliert und langsam auf ihn nieder. Bis er mich vollkommen ausfüllt. Kreisend beginne ich mich auf ihm zu bewegen. Rick zieht scharf die Luft ein und lässt seinen Kopf nach hinten kippen. Er stöhnt wohlig auf, streichelt mit seinen Händen über meine Oberschenkel und über meinen Bauch. Mit der linken gleitet er über meine Brust, schmiegt sie an meine Wange und führt mich in einen weiteren Kuss. Ich umfasse mich selbst, pumpe mich erst im selben ruhigen Takt, wie ich mein Becken bewege. Doch es reicht mir nicht. Ich will ihn noch deutlicher spüren. Noch heftiger. Unwillkürlich werden meine Bewegungen unruhiger. Rick merkt es und sieht mich für einen Moment fragend an. „Mehr…“, keuche ich ihm zu. Er beobachtet mich und nickt. Er stoppt meine Bewegungen und deutet mir an aufzustehen. Ich steige von ihm runter und spüre ihn sofort hinter mir. Meinen Oberkörper drückt er nach vorn und mein Becken zieht er zurück. Schnell dringt er in mich ein. Stößt tief. Erst langsam und bedacht. Ich drücke ihm mein Becken entgegen. Fordere mehr. Erst, als er das Tempo deutlich anzieht, genügt es mir. Diesmal stöhne ich laut und irritiere Richard damit so sehr, dass er kurz stoppt. Mehrere Küsse treffen meinen Nacken und Rücken, während er weitere heftige Stöße setzt. Die Hitze in meinem Inneren wird unerträglich. Mit jedem Stoß schiebt sich die atemberaubende Befriedigung durch meinen Leib. Sie ist heiß und wohltuend. Ich stöhne wieder auf und merke, dass der folgende Stoß noch etwas intensiver ist, als die anderen. Ricks Atmen trifft meinen Rücken. Er ist schnell und unkontrolliert. Er wird mit jeder Sekunde fahriger. Mit drei tiefen Stößen kommt er heiß und heftig in mir. Ich spüre seine Hitze direkt. Auch die Feuchtigkeit. Nach kurzem Luftholen setzt er seine Bewegungen fort. Weniger heftiger und weniger intensiv. Doch das ist mir egal, denn seine warme Hand legt sich um meine Erregung und beginnt mich in selben Takt zu pumpen. Ich brauche etwas länger um mich der Befriedigung hinzugeben. Rick zieht mich zurück, als ich heiß in seiner Hand komme und doch hinterlasse ich Spuren auf dem Stoff der Couch. Auch das ist mir vollkommen egal. Wir lassen uns zurückfallen, atmen unkontrolliert und schnell. Ich beruhige mich erst, als mich Richards Arme umfangen und ich mich an seinen Körper schmiegen kann. „Danke“, haucht er mir ins Ohr und ich sehe ihn an. „Wofür?“ „Dafür, dass du mir nach alldem noch vertraust.“ Ich hauche ihm ein Kuss auf die Lippen und schließe meine Augen. Erneut beginnt Richards Telefon zu klingeln und er drückt mich noch fester an sich, bevor er sich löst und nackt in den Flur trabt. Ich bleibe noch einen Moment liegen. Ich kann nicht verstehen, mit wem er spricht, doch er klingt kurz angebunden. Vermutlich jemand aus seiner Firma. Sie einigen sich auf eine spätere Uhrzeit und ich angele nach meiner hingeworfenen Hose. Als Rick zurückkommt, streicht er sich ermattet durch die Haare und lächelt mir entgegen. „Entschuldige. Ich würde viel lieber hier bleiben, aber die Arbeit ruft laut und bald auch schrill, wenn ich das Meeting nicht wahrnehme.“ Mit schrill spielt er auf seine Mutter an. Sie war es aber nicht am Telefon. „Schon gut.“ Er kommt auf mich zu, gibt mir einen Kuss und greift nach seinen Klamotten. Ich begleite ihn zur Tür und wir starten einen zweiten Versuch, uns zu verabschieden. „Lass uns heute Abend noch mal reden.“ „Während du deine Tochter auf dem Arm hast? Nein.“ „Dann lass mich morgen Abend noch mal vorbeikommen. Wir müssen überlegen, was wir tun wollen. Zusammen. Bitte.“ Zusammen, wiederholt sich in meinem Kopf. Ich nicke es ab, obwohl sich erneut ein weniger gutes Gefühl in meiner Magengegend bildet. Mit einem Lächeln schließt er die Tür hinter sich. Was machen wir hier bloß? Auch ich fahre mir durch die zerzausten Haare und brauche dringend einen zweiten Kaffee. Ich bin noch keine zwei Schritte von der Tür entfernt, als es leise klopft. Kapitel 25: Kaum mehr als ein zweifelhafter Moment -------------------------------------------------- Kapitel 25 Kaum mehr als ein zweifelhafter Moment In der Annahme, meinen Kindheitsfreund zu erblicken, öffne ich schwungvoll die Tür. Doch es ist nicht Richards warmes Braun, welches mir entgegensieht, sondern es sind die mattblauen Augen des alternden Detectives. Ich merke, wie meine Atmung einen Augenblick lang aussetzt, wie sich die Härchen in meinem Nacken sträuben und das überraschende Kitzeln seinen Weg über meine Arme nimmt, bis es in meiner Brust mündet. Ein weiterer beschämter Schauer ergießt sich über mich bei dem Gedanken daran, dass Detective Moore eben auf der Treppe Richard begegnet sein könnte. Vielleicht auch nur flüchtig. Von Richard unbemerkt. Vermutlich weiß Moore ganz genau, wie er ungesehen bleibt. „De Faro.“ Er formuliert meinen Namen mit einem noch herberen Tonfall als sonst. Ich sehe, wie er mich mustert und wie ihm der Mangel an Kleidungsstücken an meinem Körper auffällt. Ich erkenne auch, wie er seine Schlüsse daraus zieht und keinen Hehl daraus macht, dass er mich dafür noch weniger respektiert. Ausreden oder Erklärung kann ich mir sparen. Sie wären vergeudet, denn er weiß auch so, was vor wenigen Minuten passiert sein muss. Mit wachsender Scham starre ich auf meine nackten Füße und fühle mich erneut wie der hilflose Teenager, der unter den Blicken der Autorität zusammenbrach. Meine Zehen sind bereits eiskalt. Der Rest folgt schnell. „Lässt du mich rein?", fragt er und sieht bewusst an mir vorbei. Ich bestätige, indem ich beiseitetrete. Mit dem alternden Polizisten habe ich nicht gerechnet. Er sollte gar nicht mehr hier sein, sondern am See seine Angel auswerfen. So hatte er es gesagt und so hatte ich es gehofft. Ein leises Seufzen flieht über meine Lippen als Zeichen vollkommener Beklommenheit, während ich die Tür schließe. Das Klicken des Schlosses übertönt es zum Glück. „Was wollen Sie hier? ... Schon wieder?“, frage ich bissig. Als ich Moore in den Flur gefolgt bin, hält er mir eine schlichte braune Akte hin. Ich nehme sie nur zögerlich an und verstehe nur Bahnhof. „Ich mache meine Arbeit, um die du mich übrigens gebeten hast“, erwidert er mit Nachdruck. Der Verkehrsknotenpunkt für Züge bleibt weiterhin präsent. In meinem Kopf herrscht ein heilloses Durcheinander und die einzige wirklich laute Frage ist die nach der Möglichkeit, ob er Richard gesehen hat. Mein Herz beginnt zu flattern und das Rauschen in meinen Ohren wird noch etwas lauter. Es muss so sein. „Das sind die Telefondaten", erläutert er, als er meinen hilflosen Blick bemerkt. „Aus der Telefonzelle?", frage ich ungläubig und deute fahrig hinter mich in Richtung der Außenwelt. Ich habe nicht damit gerechnet, dass er sie so schnell bekommen würde. Im Grunde habe ich nicht einmal geglaubt, dass er mir wirklich helfen wird. „Kaffee hast du doch?“, fragt er und reißt mich aus den Gedankenkreisel meiner Hilflosigkeit. Ich zeige zur Küche und sehe dabei zu, wie er am Wohnzimmer vorbei darin verschwindet. Auch ich werfe einen kurzen Blick in die Stube hinein, als ich dem anderen Mann folge und bekomme augenblicklich Gänsehaut. Ricks Geruch haftet an mir und ich spüre seine Wärme, sobald ich meine Augen schließe. Vorsichtshalber ziehe ich die Tür ran und verhindere weitere ungewollte Blicke. Moore sitzt bereits am Tisch und ich lege die Akte vor ihm ab. Ohne abzuwarten setze ich Kaffee auf, stelle zwei Tassen hin und lehne mich mit verschränkten Armen gegen den Küchentresen. Die Stimmung im Raum ist mehr als unangenehm und ich schaffe es nicht, ihn anzusehen. Mein Magen verknotet sich heftig, fast schmerzhaft und keiner von uns beiden versucht etwas gegen die Schwere zu unternehmen. Wir schweigen bis das Wasser fertig kocht. Meine Hände sind feucht und der gefüllte Behälter ist schwer. Ich verschütte etwas, als ich versehentlich die Tasse über den Rand hinausfülle. Das Resultat sind braune Körner auf der Arbeitsplatte und dem Außenbereich der Keramik. Ich lasse es wie es ist und versuche mein Bestes, auf dem Weg zum Tisch nicht noch mehr zu verkippen. Die kühlen Augen des anderen Mannes folgen dabei jedem meiner Schritte, bis ich mich ihm gegenüben hinsetze. Er greift nach der weniger beschmierten Tasse, zieht sie zu sich heran, ehe er sich räuspert und nach der abgelegten Akte greift. Er hebt sie an, ohne sie aufzuschlagen. „Ihr zwei seid unfassbar!“, platzt es aus Moore heraus, „Vor allem du! Du bist der Inbegriff von töricht und dumm.“ Die Akte landet mit einem auffällig lautem Platsch zurück auf dem furnierten Holz des Esstisches und verleiht seinem Ausruf etwas mehr Nachdruck. Diese Show war nicht nötig. Ich zucke, unfähig es zu unterdrücken, zusammen. Ein paar Zettel lösen sich aus der Halterung der Akte und schieben sich heraus. Darauf zu erkennen sind handschriftliche Anmerkungen. Kopfüber kann ich sie nur schwer lesen, fixiere sie aber dennoch. Ich erkenne eine Ansammlung von Zahlenreihen. Tag und Monat, sowie Uhrzeiten. „Zum Glück warst du nicht so umnachtet, Richard vom Festnetz aus anzurufen.“ „Sind sie fertig?“ „Noch lange nicht.“ Ich antworte mit einem schwermütigen Raunen und bleibe sonst still. „Nachdem ich die Anrufliste der Telefonzelle erhalten habe, habe ich mir auch die Daten deiner Nummer geben lassen. Was übrigens sehr aufschlussreich war." Ich verstehe nicht, was er meint. „Wozu brauchten Sie meine Nummer?“ „Weil ich prüfen wollte, wie unglaublich dämlich ihr seid.“, kommentiert er flapsig. „Sie sind schrecklich aufdringlich“, gebe ich retour und merke selbst, dass meine Erwiderung durchweg schwach ist. Er ist nicht hier, um zu streiten. Moore ist gerade nicht mein Feind, sondern einer der wenigen Hilfen. Deswegen werde ich seine Provokationen einfach schlucken müssen. Ich lasse seinen wertenden Blick schweigend über mich ergehen und stupse unter dem Tisch mit den blanken Zehen schmollend gegen einen der Tischbeine, während ich darauf warte, dass er fortfährt. Der Detective räuspert sich und klappt schwungvoll die Akte auf. Meine Fingerspitzen streichen über die warme Keramik meiner Tasse, aber ich trinke nicht, sondern sehe ihm schweigend dabei zu. „Wenigstens konnte ich keinerlei Verbindungen zwischen euch herstellen, aber glaub nicht, dass mir diese nicht nachverfolgbare Nummer nicht aufgefallen ist.“ Ein weiteres Mal spricht er in diesem Tonfall, der jedes seiner Worte zu einem Vorwurf formt. Die Nummer gehört zu einer Prepaidkarte, welches Rick schon ewig besitzen muss, wenn man bedenkt, dass er den Ring nicht erst gestern anfertigen ließ. „Die gehört zu einem Arbeitskollegen.“, kommentiere ich fahrig. „Sicher.“, sagt er trocken und fächert mehrere Blätter nebeneinander auf, “Ich konnte in der Anrufliste deiner Nummer mehrmals dieselbe Telefonzelle identifizieren. Aber auch zwei weitere. Also habe ich mir auch die ausgehenden Anrufe von denen besorgen lassen.“ Er sortiert vier Stapel auf dem Tisch. Auf dem einen steht am oberen Rand meine Festnetznummer. Auf den anderen erkenne ich die unbekannten Zahlenreihen, die zu den anderen beiden Telefonzellen gehören. Moore deutet zwischen ihnen hin und her. „Jedes Mal wurde nach dem Anruf bei dir vom selben Telefon aus noch eine andere Nummer gewählt." Moore dreht mir die Papiere mit orangemarkierten Stellen zu. Er deutet auf eine der gekennzeichneten Zeilen und danach auf die Liste der Telefonzellen. Die Nummer erkenne ich nicht. „Welche?“ „Richards.“, erwidert er kühl. Ich sehe sofort auf und spüre, wie im selben Augenblick alles in mir zum Stehen kommt. Erst nach einem unbestimmten Moment beginnen meine Fingerspitzen zu pulsieren. Das Blut in meinen Venen bewegt sich rasend schnell durch meinen Körper und es ist so heiß, dass es fast schmerzt. „Richards?... Was…Woher wissen Sie...“ Eine blöde Frage. „Das hier ist seine Festnetznummer.“ Das Volldepp, welches deutlich auf seinen Lippen hängt, lässt er unausgesprochen. Stattdessen tippt er demonstrativ mit seinem knubbeligen Zeigefinger auf das Papier. An den Seiten ist der Fingernagel rissig und angebissen. Ich brauche einen Moment, bis ich mich von dem Anblick losreißen kann und mein Gehirn die dargebotene Information halbwegs bearbeitet hat. Dann sehe ich mir die fremde Nummer an, so als würde mir damit irgendwas klarer werden. Ricks Festnetznummer. „Ich nehme mal an, dass er dir diese nicht gegeben hat?" Es ist eine rhetorische Frage. Ich verneine unwillkürlich, indem ich automatisch den Kopf schüttele. Als ich es bemerke, lasse ich es gleich wieder sein. Ein Pokerface hatte ich noch nie. Meine Hand beginnt zu zittern, als ich das Papier mit den Fingerspitzen dichter an mich heranziehe. Fast sofort präge ich mir die Zahlen ein. Sie brennen sich regelrecht in meinen Kopf hinein. Dann zähle ich die Markierungen der Anrufe durch, bei der meine Nummer gewählt wurde. Ich weiß nicht, wie viele dieser Belästigungen es wirklich gewesen sind. Mitgezählt habe ich nicht. Angestrichen sind neun Anrufe und ebenso neun Mal taucht direkt danach Richards Nummer auf. Ich versuche mich zu erinnern. Doch mein Gehirn blockiert jeglichen Gedanke daran und trotzdem merke ich, wie das beklemmende Gefühl mich überrollt, mich erschüttert und ebenso lähmt. „Eleen, ist dir klar, was das bedeutet?“ Was es bedeutet, wiederhole ich still in meinem Kopf. Nein. Ja. Nein. Ich sehe auf. In seinen Augen erkenne ich denselben angeregten Funken wie damals. Er glaubt noch immer, dass Richard der Stein des Anstoßes ist. Unbewusst beginne ich meinen Kopf zu schütteln. Nein. Ich kann seinen Gedanken folgen, aber werde es niemals glauben. „Richard hat nichts damit zu tun.“ „So naiv kannst du nicht sein. Nicht so blind. Eleen, wie erklärst du dir die Anrufe?“ Diesmal ist seine Stimme nicht vorwurfsvoll, höhnend oder anklagend und das macht sein Gesagtes fast noch schlimmer. „Ich weiß nicht. Vielleicht wird er von derselben Person belästigt.“ Meine Stimme wird mit jedem Wort leiser. Wenn es so wäre, hätte er es mir doch erzählt. Oder nicht? „Meinst du nicht, dass er dir das gesagt hätte?“, formuliert Moore meinen Gedanken. Ich weiche seinem Blick aus, schaue auf die Liste mit Nummer und schüttle meinen Kopf energischer. Sage jedoch nichts. Ich kann es einfach nicht. „Wahrscheinlicher ist, dass ihm jemand Bericht erstattet. Die jeweilige Dauer ist unterschiedlich, aber einige davon sind 10 Minuten lang. Wie erklärst du dir das?“, vermutet der alte Mann weiter und ich sehe ihn erschüttert an. „Richard hat nichts damit zu tun!“, entfährt es mir mit Nachdruck. Meine Hand auf dem Tisch ballt sich zur Faust. Die mattgrauen Augen des anderen Mannes betrachten meine lächerliche Wutreaktion. Unwillkürlich lockere ich meinen Griff und lehne mich zurück, bringe so etwas mehr Distanz zwischen uns. Seine ablehnende Haltung und seine vorgefertigte Meinung verärgern mich. Seine Schlüsse sind subjektiv. Nichts anderes. „Wieso um Himmelswillen bist du dir so sicher?“, fragt er mit einer Ruhe, die mir durch Mark und Bein geht. Ich gebe ihm keine Antwort, weil egal was ich ihm sage, er würde es mir nicht glauben. Er würde es nicht verstehen. Niemand versteht es. Für ihn ist mein Schweigen ebenfalls eine Antwort und der erfahrene Detective weiß es zu lesen. „Eleen, hör mir zu. Ich weiß nicht, was Richard damit zu tun hat, aber ich sage dir, dass er der Grund ist, aus dem das passiert…“ „Das ist doch... nein, das ergibt keinen Sinn…warum... nein...“, würge ich ihn ab. Auch der alte Detective lehnt sich resigniert seufzend zurück. Er streicht sich über die durch Bartstoppeln gezeichneten Wangen und wirkt in diesem Moment noch ein klein wenig älter, ausgemergelter und seltsam müßig. Er verliert mit mir und meinem störrischen Verhalten langsam aber sicher die Geduld. Er will mir nur helfen, rufe ich mir ins Gedächtnis, aber ich kann die Vergangenheit nicht einfach abschütteln. Ich verstehe seinen Unmut und Moore hat mir gegenüber keine Verpflichtungen. Er macht nur seinen Job. Schon immer. Schon damals brandete er an meiner Entschlossenheit, an meiner Naivität und das muss ihn wahnsinnig gemacht haben. Und so sehr es mich schmerzt, an das Vergangene zurückzudenken, so weiß ich doch, dass es immer meine eigene Entscheidung gewesen ist und damit muss ich Leben und niemand anderes. „Okay´, beginnt er laut ausatmend. Es klingt fast wie ein Schnaufen. „Sinn hin oder her. Richard handelt bei weitem nicht so, wie er müsste, wenn er wirklich verhindern will, dass du zurück ins Gefängnis gehst. Ihr solltet beide schlauer sein und euch einfach voneinander fernhalten.“ „Sie sind nicht hier, um mir eine Moralpredigt zuhalten“, sage ich erneut trotzig. Ich bin es leid. „Und ich werde nicht zulassen, dass sie Richard irgendwas anhängen, nur um endlich Bestätigung zu erhalten.“ „Glaubst du wirklich, dass das mein einziges Anliegen ist?“, fragt er entgeistert und ich zucke nur mit den Schultern, „Du denkst, ich bin nur hier, um Richard Paddock ins Gefängnis zubringen? Eleen, ich bin hier, um zu verhindern, dass du weiter aus blindem Vertrauen heraus dein Leben wegwirfst. Ein zweites Mal, wohl gemerkt.“ Ein abfälliges Geräusch perlt über meine Lippen. „Ach, Sie sind nur nie darüber hinweggekommen, dass Sie den Fall nicht vollkommen auflösen konnten“, spotte ich und bin mir sehr wohl bewusst, dass ich damit einen empfindlichen Punkt treffe. Womöglich sogar eine Grenze überschreite. Eine gefährliche. Mit der flachen Hand schlägt er auf den Tisch. Zorn fliegt über sein Gesicht, der aber ebenso schnell wieder verschwindet, wie er kam. Moore hatte sich schon immer gut unter Kontrolle und das ist auch jetzt so. Der von ihm gewünschte Effekt tritt trotzdem ein. „Du solltest dich zurückhalten, denn ich habe noch immer genügend Möglichkeiten. Ein Wort von mir und all die Besserungsmaßnahmen sind hinfällig und die Bewährung wird zurückgezogen.“ Die Deutlichkeit seiner Worte trifft mich erwartet hart. Ich schlucke schwer und weiche unwillkürlich seinem Blick aus. Wie damals. Auch heute noch habe ich das Gefühl, dass ich dem autoritären Blick des anderen Mannes nichts entgegensetzen kann. Dabei bin ich kein Kind mehr. Doch in seiner Gegenwart werde ich wieder 17 Jahre alt und habe gerade gesehen, wie ein Mensch stirbt. „Eleen, sei nicht dumm“, beginnt er mit ruhiger, fast sanfter Stimme, “Rick wird niemals wirklich an deiner Seite sein… Das kann er einfach nicht...“, setzt er an und ich unterbreche den alten Detective, indem ich meine Hand hebe. Rick? Nach kurzem Schweigen setzt er unbeirrt fort. „Glaubst du denn wirklich, dass du jemals mit ihm zusammen sein wirst?“ „Wieso nennen Sie ihn so?“, frage ich dann doch. „Was? „Rick. Sie nannten ihn Rick.“ „Hab ich das? Du hast ihn sicher mal so genannt…“ Seine Antwort kommt zu schnell. Unruhig beugt er sich wieder zum Tisch und verschränkt seine Finger ineinander. Ein einfaches Mittel, um Nervosität zu verstecken. Ich mache es auch. „Sicher nicht. Ich nenne ihn nie vor anderen so. Woher wissen Sie es?“, frage ich misstrauisch. Er zögert und lehnt sich wieder zurück. Seine Hände landen diesmal in seinem Schoß. Nur kurz, dann greift er in die Innenseite seiner Jacke und er zieht mehrere geöffnete Briefumschläge hervor. „Ich habe eure Briefe von damals...“, gesteht er. Ich starre irritiert auf das Bündel in seiner Hand und spüre zum wiederholten Mal an diesem Tag, wie mein Herz vor Panik zu rotieren beginnt. Das Papier ist an einigen Stellen dreckig. Braun. Schwarz. Vergilbt. Auf dem Vorderen steht die Anschrift meines Elternhauses und mein Name in krakeliger Jungenhandschrift. Moore legt sie in die Mitte des Tisches und achtet darauf, dass es nicht auf den Ausdrucken der Telefondaten liegt. Seine Beweise feinsäuberlich aufgereiht. Was weiß er noch alles? Was weiß er nicht? Ich fühle mich entblößt. Unwillkürlich greife ich nach dem Ring um meinem Hals und ziehe meine Hand erst zurück, als meine Fingerspitzen sachte gegen das verdeckte Metall stoßen. „Unerwartet sind eure Spitznamen nicht. Trotzdem, gute Tarnung.“ „Sie dienen nicht als Tarnung“, erwidere ich abwehrend und denke an den Moment zurück, als Rick mich zum ersten Mal Lee nannte. Ich spüre die durchdringende Wärme, seine Liebe, die in dieser Koseform steckte und wünsche mich augenblicklich an seine Seite. „Was willst du von mir hören?“ „Woher haben Sie die Briefe?“ „Von deiner Mutter.“ Meine Mutter? „Was machen Sie bei meiner Mutter?“, frage ich gedankenverloren, greife nach dem abgekühlten Kaffee und störe mich nicht daran, dass er bitter und schwer über meine Zunge fließt, als ich diesmal wirklich davon trinke. Im Gegenteil, das unangenehme Aroma bringt mich wieder zurück in die Gegenwart. „Sie... Sie reden mit ihr?“ „Sie rief mich an...“ „Sicher nur um Sie davon abzubringen, weiter rumzustochern...“ „Im Gegenteil. Sie ist immer noch der Überzeugung, dass du unschuldig bist und will, dass ich es beweise“, sagt er. Unschuldig. Ich war nie wirklich unschuldig. „Und sie macht sich große Sorgen. Sie hat mich gebeten, ein Auge auf dich zu haben.“ Also ist sie schuld daran, dass Moore hier aufgeschlagen ist und uns das Leben schwer macht? Ich kann es kaum fassen. „Wow, dass sie mir nicht traut, wusste ich bereits, aber nun glaubt sie auch nicht mehr daran, dass Ewan seinen Babysitterjob erledigt?“ Ich fühle mich verraten. Ewan sollte es auch. „So ist das nicht.“ „Ach nein? Das ist doch absurd. Auf einmal bittet sie Sie auf mich aufzupassen, aber sie schafft es nicht allein zum Telefon zugreifen und mich anzurufen? Warum ausgerechnet Sie?“ Aufgebracht springe ich auf, presse meine Lippen aufeinander und tigere ein paar Schritte in meiner kleinen Küche hin und her. Moore sieht mir geduldig dabei zu, streicht sich durch die ergrauten Haare und lehnt sich zurück. „Würdest du dich bitte wieder hinsetzen und es mich erklären lassen.“ Mit dem Fuß schiebt er meinen Stuhl in eine wartende Position. Die Ruhe in seiner Stimme ist unerträglich. Ich fühle mich nicht dazu in der Lage, still dazusitzen und mir diese halbgaren Erklärungen anzuhören. Es ist alles zu viel. „Nein!“, sage ich erstaunlich gefestigt, „Nein, ich denke, Sie sollten gehen. Ich muss noch einiges erledigen und…“ Meine Bitte folgt mit weniger Nachdruck. „Eleen.“ „Nein, ich will, dass Sie gehen.“ Ich bleibe demonstrativ stehen und deute zur Tür. Meine Stimme ist erstaunlich fest, doch ich fühle mich, als würde mir jeden Moment der Boden unter den Füßen wegbrechen. Ich brauche Zeit für mich, um über alles nachzudenken. „Was ist das eigentlich an deiner Hand?“ Moore deutet auf meinen Handrücken. Ich folge seinem Blick zu den geröteten Knöcheln meiner rechten Hand und schiebe sie hinter meinen Rücken. „Nichts weiter…“ „Machen dir noch mehr Leute Ärger?“, fragt er fast besorgt. Ich werde aus diesem Mann einfach nicht schlau. „Er ist nur ein Idiot von der Arbeit, dem mein Name nicht gefällt“, sage ich ausweichend und mit genügend Wahrheit darin, dass er es glaubt. Von Stevens Drohungen und dessen Beleidigungen muss er nichts wissen. „Du musst vorsichtiger sein…“ „Bitte hören Sie auf, so zu tun, als würde Ihnen etwas an mir liegen“, unterbreche ich. Von Moore kommt nur ein eigenartiges Lachen. Der alternde Detective richtet sich schwerfällig auf. Seine Hand stützt sich flach auf den Tisch. Sein Zeigerfinger zuckt auf und ab. Viermal, dann entflieht ein weiteres tiefes Raunen über seine Lippen, als er beschließt, meiner Bitte zur folgen. Er geht an mir vorbei in den Flur. Ich folge ihm. Der ehemalige Detective bleibt an der Schwelle zum Hausflur stehen und sieht mich an. „Ich bin nicht dein Feind. Ich hoffe, das wird dir langsam klar.“ Damit schließt sich die Tür. Es folgt Stille und das Dröhnen in meinem Kopf scheint mit einem Mal unendlich laut. Ich bleibe im Flur stehen, weil in dem Moment die Schwere aller Informationen auf mich niederschlägt, die mir eben aufgetischt wurden. Ich fühle mich wie gelähmt. Die Telefonate. Die Briefe. Moore und meine Mutter. Rick. Das kann doch alles nicht wahr sein. So viele neue Informationen, die meinen vorhandenen nicht zuträglich sind. Nichts wird klarer. Nichts wird verständlicher. Es wird alles nur noch undurchsichtiger. Ich fühle mich verlorener als jemals zuvor. Wann wird das alles nur enden? Wer ist dieser Spinner, der erst mich anruft und dann Richard? Egal, warum er ihn anruft. Wer hatte etwas davon? Sybilla Paddock? Sie ist die einzige mit klaren Motiven. Aber nein, sie hätte andere Mittel, die viel schneller dafür sorgen würden, dass ich zurück ins Gefängnis gehe. Sie würde auch Richard niemals belasten oder mit hineinziehen. Schnell und ohne Spuren, das wären ihre Methoden. Rick hätte es nie mitbekommen. Rahel, eventuell. Aber im Grunde nicht wirklich, denn auch sie hätte andere Möglichkeiten, um mich aus Richards Leben zu entfernen. Außerdem hat sie bis vor kurzem nicht einmal gewusst, wer ich bin. Noch dazu würde nichts, was sie tun könnte, Richard zu ihr zurückbringen. Das hatte er zu mindestens gesagt und ich glaube ihm. Seine Entscheidung fiel, bevor wir einander wieder nähergekommen waren. Wer also bleibt übrig? Ich starre einen Moment lang hilflos auf meine noch immer nackten Füße. Dass sie kalt sind, merke ich schon gar nicht mehr. Und obwohl ich versuche, mich darauf zu konzentrieren, funktioniert es nicht. Es gibt nur einen Gedanken, der sich unaufhörlich hervorpellt. Erst leise, aber bohrend. Dann laut und unwiderruflich, bis ich ihn nicht mehr leugnen kann. Was weiß Rick? Eine Antworte bleibe ich mir schuldig. Doch das Gefühl in meiner Magengegend wird zunehmend schmerzhafter. Ermattet laufe ich ins Wohnzimmer. Mein Blick fällt auf die Couch mit den zerwühlten Kissen und den deutlichen Flecken. Ich mache kehrt, hole aus dem Badezimmer ein Handtuch und feuchte es an. Zurück im Wohnzimmer hocke ich mich vor die Couch und beginne zu rubbeln. Mit ein wenig Reibung sind die Spuren schnell verschwunden. Meine Gedanken jedoch nicht. Hatte Richard etwas damit zu tun? Von dieser beißenden Frage überwältigt, lasse ich mich vor der Couch nieder und strecke meine Beine aus. Ich lasse meine Zehen wackeln. Nein, aus tiefsten Herzen glaube ich nicht daran, dass Richard etwas damit zu tun hat. Aber was, wenn doch? Der Zweifel, einst undurchsichtig und klein, hebt sich nun deutlich hervor. Kann man einer Person hundertprozentig vertrauen? Hätte man mich vor ein paar Wochen danach gefragt, hätte ich ohne zu zögern gesagt, dass Richard dieser jemand für mich ist. Nun scheint alles um mich herum zu schwanken, sodass auch mein Inneres durcheinander gerät. Ich reibe mir mit beginnender Frustration übers Gesicht. Noch mal Nein, Rick würde mir sowas nicht antun. Die Wut, die er zeigte, als ich ihm von den Anrufen und Nachrichten erzählte, war echt gewesen. Seine Sorge ist es ebenfalls. Er macht vielleicht nicht alles richtig, aber macht nichts davon mit Hintergedanken. Doch irgendwas erzählt er mir nicht. Vielleicht weiß er doch mehr? Wird er selbst auch von seltsamen Anrufen belästigt und will es mir nicht sagen, damit ich mir keine Sorgen mache? Einige der Gespräche haben nach Moores Aussage länger gedauert. Was, wenn Rick den Mann mit der Zigarette wirklich kennt? Ich strecke meinen Arm in die Höhe, lasse ein paar Knochen knacken und streiche mir mit der anderen über die behaarte Haut meines Unterarms. Mein Blick haftet sich an die Rötungen auf meinen Knöcheln. Ich lasse die Hand sinken und lege sie auf meinem Brustkorb ab. Habe ich Richards Familie zerstört, so wie es der Anrufer behauptete? Wahrscheinlich. Ich bin der Grund, aus dem es so weit gekommen ist. Hätte ich damals Rénard Paddocks Warnungen nachgeben sollen? Hätte ich das gekonnt? Ich weiß es nicht. Müde streiche ich mir über den Bauch und verschränke danach die Arme vor der Brust. Ich habe es Rick nie erzählt, doch bereits Wochen vor dem endgültigen Streit hatte mich sein Vater angesprochen. Er legte mir nahe, dass ich seinen Sohn vergessen soll. Es war eines dieser klassischen Klischees. Nur bot mir Rénard Paddock damals kein Geld an, sondern beließ es bei Drohungen und mahnenden Anweisungen. Es schüchterte mich ein, doch nichts hätte mich von Rick fernhalten können. Es schien unmöglich. Genau das ließ mich später ins Verderben rennen. Moore bezeichnete es vorhin als blindes Vertrauen. Hatte er damit Recht? Vertraue ich Richard so bedingungslos, dass ich ungesehen ins Verderben renne? Erneut? Ich denke an die Briefe, die auf dem Tisch liegen und in meinen Fingerspitzen entflammt ein intensives Kribbeln. Sie sind ein Teil unserer gemeinsamen Geschichte. Unserer Liebe. Es sind materielle Beweise, an die ich schon lange nicht mehr gedacht habe. Ob Rick meine Hälfte auch noch hat? Ob meine Mutter sie ebenfalls gelesen hat? Wieso glaubte sie, dass die Briefe Moore helfen würden, mich zu beschützen? Sollten sie mich vielleicht nur brechen? Das Kribbeln verebbt in meiner Magengegend. Gerade, als ich mich wieder aufrichte, beginnt das Festnetztelefon neben der Couch zu singen. Die Gänsehaut, die sich auf meinem Körper ausbreitet, ist so intensiv, dass ich für einen Moment das Gefühl habe, dass ich mich zu häuten scheine. Mein Herz springt und ich bin mir sicher, dass ich es nur dank meiner fleischlichen Hülle nicht abrupt in den Händen halte. Zögerlich greife ich nach dem Hörer, atme erleichtert aus, als ich die Nummer erkenne und gehe ran. „Ich bin´s“, meldet sich Ewan direkt, ohne eine erste Begrüßung meinerseits abzuwarten. „Hey“, erwidere ich wenig enthusiastisch. „Geht’s dir gut? Du klingst seltsam.“ „Bin nur müde“, versichere ich schwach. Ein Klischee, was jeder sofort durchschaut. Natürlich auch mein Bruder. Ewan setzt zu einem weiteren Versuch an, doch die kindliche Stimme seiner Tochter unterbricht seinen Gedankengang. „Einen Moment…“ Ich höre, wie er mit Lira spricht. Er verneint. Sie quengelt. Er gibt nicht nach. Streng sein ist Ewans Spezialität. Schon immer. Ich höre Liras piepsige Stimme, aber verstehe keines ihrer Worte. Unwillkürlich schweifen meine Gedanken zu Rick und an seine kleine Tochter. Kaya wird auch älter werden und irgendwann Fragen stellen. Solche, wie `Wieso Mama und Papa nicht jeden Tag zusammen sind?` oder `Wieso sie zwei Zuhause hat?`. Ob sie irgendwann nach mir fragen wird? „…Eleen?“, höre ich Ewan meinen Namen wiederholen. Ich habe nichts mitbekommen. „Ja! Entschuldige. Ich habe noch nicht gefrühstückt“, erkläre ich meine Unaufmerksamkeit. Auch wenn es im Grunde eine hinkende Aussage ist. Genauso wie die Müdigkeit. „Es ist fast mittags?“ Verständnislos. Ich verkneife mir ein genervtes Raunen. „Wie geht es Sora?“, erkundige ich mich nach seiner Frau, um der Belehrung zu entgehen, die sich langsam aber sicher einen Weg nach draußen kämpft. In Lektionen Verteilen ist er ebenfalls ein Weltmeister. Manches wird sich nie ändern. Immerhin schaffe ich es, ihm den Wind aus dem Segel zu nehmen. „Soweit ganz gut. Die Morgenübelkeit macht ihr sehr zu schaffen. Mehr als bei Lira damals. Die Ärzte sagen aber, dass alles in Ordnung ist.“ Jetzt klingt er nur noch geschafft und abgekämpft. Ich nicke verstehend, ohne, dass er es mitbekommen kann. „Eleen, was ist los?“ Die Frage perlt mit deutlicher Verstimmung über seine Lippen. Ich hadere mit meiner Unwilligkeit, ihn noch tiefer in die Angelegenheit hinzuziehen. Er weiß schon viel zu viel. Erneut wiederholt er meinen Namen und ich gebe nach. „Hast du in der letzten Zeit mit Mama gesprochen?“, frage ich mit erstaunlich ruhiger Stimme und lasse meinen Kopf zurück auf die Couch fallen. „Sicher, wieso?“ Wieder regt sich der Unwillen. Ich lasse meinen Kopf ein wenig auf dem Polster auf und ab hüpfen und verursache kleine quietschende Geräusche. „Nur so…“, antworte ich ausweichend. „Eleen... muss das sein?“ Ich stoße laut die Luft aus. „Ist ja gut. Weißt du, ob sie… Kontakt zu Detective Moore hat?“ „Warum willst du das wissen?“, fragt er zögerlich. Es verrät ihn. Ich streiche mir die Haare zurück und bin mir unsicher, ob ich einfach nur überrascht oder doch entsetzt bin. „Also ja“, stelle ich laut klar. Am anderen Ende des Apparats bleibt es ungewöhnlich still. So ruhig, dass ich hören kann, wie er sich auf einen der gummierten Küchenstühle niederlässt. Ein leises Quietschen ertönt. Ein Raunen folgt, dann ein Klopfen. Es sind seine Finger auf der Tischplatte. „Wie lange weißt du es schon?“, frage ich weiter. „Eleen…“, setzt er an. Ich unterbreche ihn. „Wie lange?“, sage ich diesmal etwas schärfer. Ewan atmet tief und geräuschvoll ein. Ein kurzes Rauschen dringt durch das Telefon, als sein Atmen über den Sprachbereich streicht. „Seit der letzten Bewährungsanhörung. Sie sind danach ins Gespräch gekommen.“ Es muss ihm schwerfallen, mir dir Wahrheit zusagen. „Mutter braucht jemanden, mit dem sie reden kann. Erik und ich haben es versucht, aber sie hat sich uns gegenüber nicht geöffnet. Es war und ist eine schwere Zeit für sie.“ Die Vorwürfe höre ich deutlich. „Und wieso hast du es mir nicht gesagt? Gott, er ist der Kerl, der mich eingesperrt hat und ihr haltet es nicht für nötig, mir das zu erzählen?“ „Ich sah darin keine Notwendigkeit, weil ich dachte, dass du die Kurve endlich gekriegt hast... und Mutter bat uns darum, es nicht zu erwähnen.“ Keine Notwendigkeit? Kein Wort der Entschuldigung? Die Zeit ändert wirklich nichts. „Das kann doch nicht euer Ernst sein?“, pfeffere ich ihm wütend entgegen. „Reg dich ab. Du weißt, dass es nicht so einfach ist... Es war für uns alle schwer. Für Mutter ganz besonders.“, versucht er zu beschwichtigen. Eshilft nur nicht. „Natürlich...“, entflieht es mir sarkastisch, „Zu eurer Information, für mich war es schlimmer.“ Aufgebracht lege ich auf. Ich stoße das Telefon aus Wut quer durch den Raum und es schliddert gemächlich gegen die gegenüberliegende Wand. Zu hören ist nur ein leises Klack und das laute Rotieren meines Verstandes. Ich schnappe mir eines der Kissen und drücke mein Gesicht hinein. Wieso denkt jeder, etwas vor mir verheimlichen zu müssen? Wieso gibt es so viele Geheimnisse und Unehrlichkeiten? Ich lasse meinen Kopf nach hinten fallen und sehe an die Decke, so wie ich es vorhin schon getan habe. An einigen Stellen löst sich ein Teil der Tapete und die Fugen zwischen den einzelnen Bahnen reißen auseinander. Vielleicht sollte ich renovieren? Laut Mietvertrag ist man zu Schönheitsreparaturen in der Wohnung verpflichtet und meine hat es definitiv nötig. Es gäbe einiges zu tun. Nicht meine einzige Baustelle, aber sie wäre eine perfekte Ablenkung von meinen Zwischenmenschlichen. Allerdings würde es auch nicht helfen. Meine Familie hat es nie verstanden. Doch darf ich ihnen wirklich einen Vorwurf machen? Das Verhältnis zu meiner Mutter ist angespannt und war auch nie wirklich intensiv gewesen. Wir sind uns zu ähnlich. Beide eher ruhig und zurückgezogen. Kopfmenschen, die sich nicht zu artikulieren wissen. Die wenigen Male, die wir uns seit meiner Entlassung gesehen haben, waren überschattet von unangenehmem Schweigen und seltsam klischeehaften Phrasen. Keiner von uns beiden wusste es besser zu handhaben. Ewan hatte oft versucht zu vermitteln, aber egal was er sagte, das Gefühl des Verlorenseins in mir wurde nicht gemindert. Ich fühlte mich damals von meiner Familie im Stich gelassen und so ist es auch noch heute. Ich weiß um ihre Hilflosigkeit, aber ich verstehe sie nicht. Sie hätten an meiner Seite sein müssen. Egal, wie sehr sie zweifelten oder verzagten. Ich wäre es gewesen. Mit der Hand streiche ich mir über den flachen Bauch und wie auf Kommando beginnt er leise zu knurren. Ich sollte dringend etwas essen, aber vor allem muss ich einkaufen gehen. Normalerweise mache ich mir eine Liste, da ich dazu neige, die Hälfte zu vergessen, wenn ich es nicht tue. Doch mein Magen meldet sich ein weiteres Mal so laut, dass ich einfach nur einen der Einkaufsbeutel aus der Schublade krame und nach dem Sockenanziehen losstiefele. Den Weg zum Supermarkt gehe ich wie in Trance. Ständig wiederholen sich die gleichen Fragen in meinem Kopf, wie schon zuvor. Wer? Was? Wieso und Warum? Ich wälze jeden Fakt wieder und wieder umher, doch ich finde keine Antworten, sondern nur noch mehr Fragen. Planlos betrete ich das Geschäft, nehme einen Korb statt eines Wagens und bereue bereits jetzt, keine Notizen gemacht zu haben. Vor dem Obst bleibe ich stehen und starre gedankenversunken auf einen Berg von Äpfeln. Der kleine Korb in meiner Hand fühlt sich sondergleichen schwer an und ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Ich fühle mich in großen Supermärkten schlichtweg überfordert. Tausende Sorten von Käse, Wurst und Zahnpasta. Manchmal ergeben Anordnungen und Zusammenstellungen des Regals gar keinen Sinn für mich. Jedes Mal wieder suche ich die Eier oder den Ketchup. Bei Hefe habe ich schon mal vollkommen aufgegeben. Ich weiß bis heute nicht, wo ich sie finde, weshalb selbstgemachte Pizza seit langem kein Thema mehr für mich ist. Nachdem ich geschlagene fünf Minuten unbeweglich verweile, biege ich in einen Nebengang mit Konserven und Grundlebensmitteln ab und das nur, weil ich da niemanden mehr im Weg stehe. Ich denke an Pizza, als mein Blick die gestückelten Tomaten kreuzt und ich erinnere mich daran, wie gut die Schinkenpizza mit Peperoni bei dem kleinen Italiener war, bei dem ich mit Kaley gewesen bin. Ich greife nach einer der Dosen. Der Inhalt stammt aus Italien. Sonnengereift. Fruchtig. Süß. Ich möchte gern einmal nach Italien reisen. Dort muss es wunderschön sein. Und es wäre weit weg. Im Moment wirkt dieser Gedanken seltsam befreiend auf mich. Aber es bleibt auch was es ist, eine Fantasie. Nach und nach schaffe ich es, einige essenzielle Dinge in meinen Korb zulegen. Käse, etwas Gemüse und Aufstrich. Bei Brot bin ich unentschieden. Ich beschäftige mich eine Weile mit einem einfachen Weizenbrot und einer angepriesenen Fitnessvariante. Vollkorn mit Ballaststoffen und garantiert mehr Gesundheit. Für ein langes, glückliches Leben. Wäre es nur so einfach. Ich lasse es in meinen Korb fallen und streune weiter durch die Gänge. Schaue hier und da. Meine Unentschlossenheit nimmt ungeahnte Ausmaße an. Noch dazu sehe ich mich ständig um. Es sind nicht sehr viele Leute im Laden unterwegs und dennoch fühle ich mich beobachtet. In der Kühlabteilung kommt mir einer der Mitarbeiter entgegen. Ein kurzer versteckter Blick, dann verschwindet er abrupt im Lagerbereich. Vermutlich werde ich langsam verrückt. Ich greife mir Erbsen und Fischstäbchen und beschließe, dass das heute als ordnungsgemäßes Mittag herhalten muss. Mit allerletzter Anstrengung entscheide ich mich noch für ein paar Cornflakes, die ich greife, während zwei junge Männer dicht an mir vorbeigehen. Ich folge ihnen unruhig mit meinem Blick und es richten sich meine Nackenhaare auf. Ich drehe mich weg, höre noch, wie ein Einkaufswagen über den unebenen Boden rattert und sehe eine junge Frau hinter einem Regal verschwinden. Ihr folgt eine feine Rauchspur. Ich umfasse den Korb in meiner Hand fester. Ich sehe schon Gespenster. Seufzend greife ich die Packung Cornflakes fester und lege sie ohne hinzusehen zu meinem Einkauf. Danach streune ich mit der Gewissheit, etliches vergessen zu haben, zur Kasse. Der Kassierer lächelt übertrieben, während er meinen Einkauf übers Band zieht. Dann erkenne ich, dass es derselbe Mitarbeiter ist, der vorhin im Lagerbereich verschwunden ist. Mit dem Wechselgeld wünscht er mir einen besonders schönen Tag und ich verlasse irritiert den Laden. Draußen bleibe ich stehen und bemerke eine noch glimmende Zigarette in dem nahestehenden Müllbehälter. Kleine Qualmfäden lösen sich von dem brennenden Material. Ein leichter Luftzug entfacht die Glut und meine Gänsehaut. Ich rieche den Rauch und blicke mich unwillkürlich um. Auf der Straße ist niemand zu sehen. Sehr wahrscheinlich hat es auch gar nichts zu bedeuten. Jeder kann die Zigarette dort abgelegt haben. Jeder oder niemand. Wahrscheinlich waren es Gespenster. Ich fasse die Einkaufstasche fester und wende mich ab. Das Blut in meinen Venen rauscht so laut, dass ich es die gesamte Zeit über hören kann und an nichts anderes denke. Zurück in der Wohnung stelle ich die Einkaufstüte beiseite und schrecke zusammen, als meine Tasche zu klingeln beginnt. Es ist das Handy und trotzdem schlägt mir das Herz bis zum Hals. Ich greife fahrig danach. Als ich auf das Display sehe, erkenne ich Richards Nummer. Mein Herz macht einen kleinen glücklichen Hüpfer und wird dennoch von einem bedrückenden Gefühl begleitet. Ich lasse es mehrfach Klingeln, bevor ich den Regler letztendlich in die grüne Richtung schiebe. „Hi“, haucht er erleichtert. Ich kann hören, wie er lächelt. „Hi“, erwidere ich, höre selbst, wie meine Stimme weicher wird. „Ich würde gern zu dir kommen“, sagt er ohne Vorwarnung, klingt ruhelos und angespannt. Mein Körper beginnt zu kribbeln, als ich mir vorstelle, wie sich Ricks Arme um mich legen, wie sein Geruch mich umfängt und wie sich das Gefühl völliger Seligkeit in mir ausbreitet. Ich sehne mich sehr danach, ihn bei mir zu haben. „Ich dachte, deine Tochter ist bei dir?“, hake ich nach, als ich mich an unser morgendliches Gespräch erinnere. Ich schließe die Augen und spüre die Gänsehaut etwas intensiver werden. Doch dieses Mal nicht aus dem positiven Gefühl heraus. „Kaya fiebert etwas und Rahel behält sie bei sich.“, erklärt er unaufgeregt. Ich sollte darauf reagieren, mein Mitgefühl ausdrücken, meine Anteilnahme äußern oder einfach nur Sorge, doch ich schweige. Ich ziehe die Packung mit Cornflakes aus der Einkaufstasche hervor und bemerke zum ersten Mal, was ich eigentlich gekauft habe. Von der Front blickt mir ein überdimensionales grinsendes weißes Einhorn mit bunter Regenbogenmähne entgegen. Ebenso farbenfroh sind auch die Cerealien im Inneren. Es ist nicht das, was ich kaufen wollte. Ich hätte besser hinsehen sollen. „Es ist nichts Ernstes. Im Kindergarten grassiert ständig etwas und Rahel ist etwas zu vorsichtig“, erklärt er von ganz allein. Ich antworte noch immer nicht, gebe kaum ein Geräusch von mir und nibbele an der Pappverpackung der Einhornflakes herum. „Können wie uns sehen?“, wiederholt er seine Bitte. Diesmal fast flehend. Er merkt, dass ich zögere. „Vielleicht sollten wir lieber nicht...“, beginne ich schweren Herzens. „Lee, bitte nicht. Das hatten wir doch schon. Ich weiß, dass wir vorsichtig sein müssen.“ Weiß er das wirklich? Mein Blick fällt auf die Briefe, die auf dem Tisch liegen. Ebenso wie die Telefonlisten. Ich beginne erneut zu zweifeln. „Bitte rede einfach mit mir." Ein weiteres Flehen perlt von Richards Lippen und ich kann deutlich hören, dass er mit aller Kraft gegen die Unsicherheit kämpft. Das macht es für mich nicht leichter. „Moore war hier", sage ich tonlos und hoffe, dass ihm das als Begründung für meine Zweifel reicht. Ihm zu sagen, dass ich ihn nicht sehen will, weil ich schon wieder mit mir und der ganzen Situation hadere, würde ich nicht über mich bringen. Nicht schon wieder. „Ich dachte, er wollte verschwinden und dich in Ruhe lassen?“ „Du kennst ihn. Er ist hartnäckig“, gebe ich seltsam ermattet von mir. Was soll ich ihm auch sagen? Jede weitere Erklärung würde auf das Gespräch hinauslaufen, welches ich noch nicht bereit bin zu führen. Ich lehne mich gegen die Arbeitsplatte und schaue auf die Cornflakespackung in meinen Händen. Ich habe keine Milch gekauft. Trotzdem öffne ich sie und ziehe das Plastikinnere heraus. Die Pappe klemme ich mir unter den Telefonarm. Es knistert laut und ist sicher auch für Rick zu hören. „Vielleicht sollte ich es ihm auch noch mal deutlich machen.“, schlägt Rick knurrend vor. Sein halbstarker Ausruf lässt mich wenig schmunzeln, zeigt aber auch, wie sehr wir beide noch immer in alten Strukturen feststecken. „Lass es gut sein.“, sage ich beschwichtigend und öffne das Plastik mittig, in dem ich es vorsichtig auseinanderziehe. Innen drin sind kleine einhornförmige Gebilde zu erkennen. Einige sind so dick und aufgepufft, dass man die Form kaum erahnen kann. „Was wollte er von dir? Also abgesehen von den obligatorischen Moralpredigten und dem dummen Geschwätz“, fragt er diesmal mit ruhiger Stimme. Der Geruch, der mir von den Flakes entgegenströmt, ist zuckrig und leicht zitronig. „Nur das“, gebe ich ausweichend von mir, nehme ein paar Einhörner aus der Tüte und betrachte sie mit gerunzelter Stirn. „Sicher nicht mehr?“ „Nein“, lüge ich gerade heraus und eigenartig unbeirrt. „Wieso willst du mich dann nicht sehen?“ Ich lasse die Einhörner sinken. „Rick, ich…“ Am anderen Ende der Leitung bleibt es auffällig still. „Ich will einfach... ich...“ Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll. Ich weiß nicht einmal, was ich fühlen soll. Mein Kopf und mein Herz sind sich uneins und es macht mich wahnsinnig. „Okay, wenn du Zeit brauchst, dann nimm sie dir.“, sagt er zögerlich. Er versucht neutral zu klingen, gefasst, aber ich höre deutlich, dass er sich vor den Kopf gestoßen fühlt. Vor ein paar Stunden haben wir noch miteinander geschlafen. Wir waren uns so nah, wie man sich nur sein kann. Nun stoße ich ihn wieder fort. Mein Blick gleitet unruhig zum Tisch, auf dem die Briefumschläge ruhen. „Schließ mich nicht aus, okay?“, flüstert Richard. „Werde ich nicht“, versichere ich und meine es auch so. Es gibt nur zu viele Dinge, die ich selbst erst mal verstehen muss. „Du fehlst mir. Pass auf dich auf.“ Damit legt er auf. Mit geschlossenen Augen lasse ich das Handy sinken und spüre mit einem Mal einen heftigen Schmerz in der Brust. Er verebbt nur langsam. Pochend. Dröhnend. Meine Hände ballen sich zu Fäusten und ich zerbrösele die Einhornflakes in meiner Hand zu Krümel. Ich schere mich nicht darum, dass die Reste den Boden verschmutzen. Das grinsende Einhorn auf der Cornflakes-Packung blickt mir übertrieben begeistert entgegen und ich fühle keinerlei Bedürfnis, es zu erwidern. Ich stelle Pappe und Beutel zur Seite und fische vorher nach weiteren Flakes in der Öffnung. Ich stecke mir ein paar der Einhörner in den Mund und zerkaue sie trocken. Trotz der extremen Süße schmecke ich den Hauch von Zitrone, der es irgendwie angenehm macht. Ich esse eine weitere Handvoll und stelle die restlichen Lebensmittel an ihren Platz. Danach haben die Briefe meine volle Aufmerksamkeit. Kapitel 26: Nie. Niemals. Immer ------------------------------- Kapitel 26 Nie. Niemals. Immer Ich schaue zu dem Stapel, der fast unschuldig wirkend neben den Telefonlisten liegen, die Moore mitgebracht hat und mein Herz hüpft, weil ich ganz genau um ihre Brisanz weiß. Es folgt ein elektrisierendes Kitzeln, welches sich sowohl unangenehm wähnt als auch im selben Augenblick anregend ist. Es beginnt auf meinen Unterarmen und arbeitet sich zu meinen Händen vor. Aber auch in die entgegengesetzte Richtung hinauf zu meinen Schultern. Wie tausende kleine Wellen. Intensive Impulse voller rauschender Regung. Mit jedem Zentimeter, den sie über meine Glieder streichen, wird das Gefühl stärker. Fast brennend. Ich stoße mich von der Arbeitsplatte ab und bleibe beim Tisch stehen. Statt nach den Briefen, greife ich die benutzten Tassen und stelle sie in die Spüle. Moores Becher ist unberührt, meiner zur Hälfte leer. Erneut huscht mein Blick über den Stapel Papier, so als gäbe es eine unsichtbare Anziehungskraft, die einfach nicht zulässt, dass es unbeachtet bleibt. Auch mein Herzschlag wird von Sekunde zu Sekunde lauter und dröhnt durch meinen Körper wie Donner. Es ist ein deutliches Zeichen. Das Geräusch ist so laut, dass es mich einfach nicht zur Ruhe kommen lässt und sich mit den unstetigen Gedanken vereint, die durch meinen Kopf schwirren. Gleichwohl fühlt es sich an, wie ein Vakuum, abgeschlossen und dicht, aus dem die Fragen einfach nicht entweichen können. Es schürt die Frustrationen, denn so finde ich keinerlei Antworten und keine Klarheit. Mache ich es richtig, wenn ich Richard ausschließe und mich zurückziehe? Ist es dafür nicht längst zu spät? Finde ich die Antworten nicht eher bei ihm? Doch wer will den Keil zwischen mir und Rick? Wer profitiert davon, dass ich mir vor Unsicherheit das Gehirn zermartere? Wer will mich bestrafen? Richard hätte nichts davon. Genauso, wie der alte Mann. Ich bin mir zwar nicht sicher, wie weit ich Moore wirklich trauen kann, aber er hat keine Gründe, diese Dinge zu tun, denn er weiß bereits mehr als jeder andere und ihm erwächst daraus keinerlei Vorteil. Mit einem schweren Seufzen falle ich auf den Stuhl zurück, auf dem zuvor der Detective gesessen hat. Mein Kopf kippt seitlich gegen die Wand und ich schließe die Augen. Ich weiß nicht, wie lange ich dasitze und dem Rauschen meiner Gedanken lausche. Augenscheinlich so lange, bis das kontinuierliche Rieseln und Überschlagen jener zu einzelnen Wörtern und Bildern werden. Sie formen sich zu ganzen Gesprächsfetzen aus der Vergangenheit, Sequenzen und Segmente aus dem Hier und Jetzt, die mich ungewollt begleiten. Meistens kommen sie unsortiert und in keinem Zusammenhang und füllen mein Herz und meinen Verstand mit mannigfaltigem Gefühl. Die letzten Wochen lasten schwer auf mir, trotz und wegen Richard. Ihn wiederzusehen ist reines Glück und unendliches Chaos. Ich hatte es mir ausgemalt, immer dann, wenn die Wände im Gefängnis näher zukommen schienen, wenn mir langsam die Luft zum Atmen fehlte, weil sich das Gefühl der Schwere auf meiner Brust nicht mehr bändigen ließ. Ich habe mir vorgestellt, wie ich mich in seine Armen bette und die Welt um uns herum verschwimmt, sodass jeder Gräuel zur Humoreske zerfällt. Der Gedanken an Richard hatte mich befreit. Er hielt mich am Leben. Die ausgedruckten Telefonlisten liegen direkt vor mir und ich ziehe sie zu mir heran, ohne mich vorzubeugen. Mein Zeigefinger malt ein paar Kreise auf das raue Papier. Erst kleine, die immer größer werden bis ich zwei Finger nutzen muss, damit das Blatt nicht verrutscht. Von weitem wandern meine Augen über die Zahlenreihen, stoppen kurz bei den bekannten Ziffern von Richards Telefonnummer und das nicht nur, weil sie orange markiert sind. Sie ziehen mich förmlich an. Jemand hat Richards Nummer gewählt, von der Telefonzelle vor meiner Wohnung aus. Mehrmals. Das ist der Fakt. Die Gespräche waren nie sehr lange, das zeigen die dahinter abgebildeten Zeiten. Ein paar Mal dauerten sie nur wenige Sekunden lang, was daraufhin deutet, dass Richard den Anruf nach dieser Zeit beendete. Dreimal wurde die Nummer gewählt, aber es kam kein Gespräch zustande. Ob es die Tage waren, an denen er hier gewesen ist? Ich bin mir nicht sicher. Die letzten Wochen verschwimmen in meinem Kopf zu einer gräulichen Masse. Es ist so viel passiert. So viel, was ich nicht verstehe. Wieder wandern meine Augen zu dem Stapel Briefe. Diesmal greife ich nach ihnen. Doch ich öffne sie nicht sofort, sondern führe sie dichter an meine Nase heran. Es ist irrwitzig, denn nach all den Jahren haftet ihnen einzig der Geruch der Gegenwart an. Sie riechen nach Moores Jackeninnentasche, die mit Salbeihustenbonbons gefüllt war. Ich vernehme den süßlichen Hauch, der mich an die Krankentage meiner Kindheit erinnert. Den Salbeitee habe ich nie gemocht, aber die Bonbons sehr. Ich nehme einen weiteren Zug und lächele. Die Vergangenheit. Sie gibt mir so viel Freude und gleichzeitig Leid. Im Moment überwiegt das eine und ich kann es dennoch nicht loslassen. Die Briefe. Ich öffne einen nach dem anderen, entfalte sie mit dem höchsten Sinn für Kostbarkeit. Es sind nur ein paar der Antworten, der Briefe, die wir damals für einander geschrieben haben. Nur Ausschnitte und Phasen. Im Grunde sind sie Ausdruck absoluter Unschuld. Kindliche Retrospektiven warmer, unvergessener Sommer. Und doch nicht mehr als belanglose Erinnerungen für jemandem, der sie ohne Wissen liest. Aber für mich sind sie Leben. Für mich sind sie Liebe. Jeder einzelne. Als ich beim letzten Brief angelange, stocke ich. Er ist verschlossen und es steht nur mein Name darauf. Keine Adresse. Keine Briefmarke. Kein Absender. Es ist nicht Richards Schrift, mit der mein Name notiert ist, so viel kann ich sagen, denn die einzelnen Buchstaben sind schwungvoll und offen. Nicht krakelig und matschig. Richard war manchmal so aufgeregt beim Schreiben, dass ich oft mehrere Anläufe brauchte, bis ich alles verstand, weil er Endungen vergaß oder ganze Wörter. Einige der Briefe hatten so viele durchgestrichene Passagen, dass sie wirkten, wie ein schlecht gemachter Spickzettel. Viele zeigen die runden Abdrücke seiner Limonadengläser, die er nebenbei trank, weil er zwischendurch pausierte. Er konnte kaum stillsitzen. Er war immer in Bewegung und voller Energie. Das Lächeln auf meinen Lippen erstirbt, als ich meinen Blick zurück auf den geschlossenen Briefumschlag wende. Dieser Umschlag wirkt weniger abgewetzt und alt als die anderen. Ich frage mich, warum Moore ihn nicht geöffnet hat. Vielleicht weil er es nicht musste? Weil er weiß, was darin enthalten ist? Es ist die Schrift meiner Mutter, das erkenne ich nach dem zweiten Blick. Ich reiße ihn an einer der kurzen Seiten auf und ziehe den Inhalt hervor. Mehrere einfache, gefaltete Blätter und doch fühlen sie sich in meiner Hand seltsam schwer an. Es sind mehrere Briefe. Vier an der Zahl. Sie sind aus dem gleichen Block, wie die anderen auch und dieser Umstand lässt mein Herz erneut schwingen. Auch diese Briefe sind von Richard. Meine Hände zittern. Als ich zu lesen beginne, halte ich den Atem an. Ich spüre seine Liebe in jedem verdammt Wort. In jeder Zeile. Selbst in den I-Punkten. Seine flehenden Entschuldigungen öffnen Risse in meinem Herzen, die seit damals nicht verheilt sind und nun wieder bluten. Der Brief erreichte mich nicht, weil ich zu diesem Zeitpunkt schon im Gefängnis war. Deswegen hatte ihn meine Mutter. In den letzten Zeilen bittet mich Richard darum, stark zu sein. Er versichert mir, dass es niemals jemand anderen für ihn geben wird als mich. Damals hätte ich ihm unzweifelhaft geglaubt, heute weiß ich, wie unrealistisch es ist und wie viel naive Traumvorstellung daraus spricht. Menschen verändern sich und mit ihnen ihre Gefühle, ob wir es wollen oder nicht. Wir konnten nicht weiter zusammen wachsen und das hat unsere Beziehung maßgeblich beeinflusst. Rick gab den Brief meiner Mutter, doch sie hat ihn nie abgeschickt und das wahrscheinlich aus gutem Grund. Sie war mit den Dingen, die passiert sind, mit den Entscheidungen, die ich getroffen habe, niemals einverstanden gewesen, aber sie hat nie aufgehört mich beschützen zu wollen. Meine Familie war noch nie gut in Worten. Ich habe nie erfahren, wieso mein Vater nicht bei uns geblieben ist und ich habe nie danach gefragt. Auch Erik und Ewan haben es nicht getan, soweit ich mich erinnern kann. Dennoch bin ich mir nicht sicher, ob sie nicht mehr wissen, denn auch wir haben uns niemals darüber unterhalten. Ich weiß nicht, wie oft ich den Brief lese, aber als ich beim Zähneputzen noch immer Zeile für Zeile vor mich her denke kann, bin ich mir sicher, dass ich es übertrieben habe. Er lässt mich nicht los. Auch nicht, als ich im Dunkel auf meinem Bett liege. Ich kann nicht schlafen. Nicht mal die Augen kriege ich zu, weil jedes Mal wieder die Worte des Briefes vor mir auftauchen und sich mit den Erinnerungen wunderbarer Sommer paaren. Aber auch mit diesem einen, der alles veränderte. Es ist bittersüß. Salzig und sauer. Alles auf einmal. In meiner Brust wird es schwer und jeder Atemzug verbreitet den aufkommenden Schmerz der Sehnsucht noch etwas mehr. Ricks Worte, die so voller naiver Hoffnung und verzweifelter Dummheit waren, sind mir ganz besonders nahe gegangen und ich kann noch immer nicht fassen, dass er zu meiner Mutter gefahren ist und ihr den Brief gebracht hat. Was hat er sich dabei gedacht? Was hat er erwartet, was sie tut? Eine Welle der Wut überrollt mich, die vor allem die Dummheit dieser Aktion aufgreift und mit einem geräuschvollen Grollen setze ich mich auf, während mein Herz gegen seinen umgebenden Panzer kämpft. Mein Inneres ist ein Schlachtfeld, was keine Sieger kennt und dennoch nicht den Mut aufbringt, zu scheitern. Ich versuche, mir den aufkommenden Stimmungsumschwung aus dem Gesicht zu reiben. Rubbele einmal heftig, dann zwei weitere Male ermattet. Nichts davon bringt mir Erleichterung. Nichts davon klärt die Fragen, die sich in meinen Kopf sammeln und schreiend ausgesprochen werden wollen. Es ist kein Wunder, dass Moore niemals das Interesse daran verloren hat, eine Verbindung zu Richard zu finden. Sie war längst da. Er selbst hat sie dem Detective quasi per Hausexpress geliefert. „Dieser verdammte Dummkopf“, flüstere ich in die Dunkelheit hinein und schaffe es nicht, es ernst klingen zu lassen. Richard hat mit seinen Gefühlen nie hinter dem Berg gehalten. Er war immer offen, wie ein Buch, was letztendlich bei seinen Eltern zu Unmut geführt hat, aber mir stets diese bestimme Sicherheit gab. Gott, ich liebe ihn auch für seine naive Dummheit und gleichzeitig möchte ihn dafür verfluchen. Nur schaffe ich es nicht. Ich bleibe noch einen Moment im Bett sitzen, betrachte meine unruhigen Füße, die ohne mein Zutun hin und her wanken, wie Bojen im Wind. Ich bin mir sicher, ich brauche mehr als meine eigenen Gedanken, um von der Stelle zukommen. Also schwinge ich meine Beine aus dem Bett, greife mir die am Boden liegenden Klamotten, sammele die Briefe und Liste ein und bin nach nur zehn Minuten aus der Wohnung verschwunden. Es ist kalt, doch ich habe Glück und kriege sofort den richtigen Bus. Gerade als ich Richards Name am Klingelfeld suche, öffnet sich die Tür und ich weiche automatisch zurück. Der Zugang zur Eingangstür ist eng und bietet damit wenig Platz zum Ausweichen. Ich spüre die Wand direkt hinter mir. „Sorry“, entflieht der abgewandten Gestalt, als sie sich an mir vorbeidrängt, fast zwängt. Er streift meine Schulter. Ich sehe ihm nach und merke, wie sich ein unbehagliches Gefühl in mir aufbaut. Sein Gesicht konnte ich nicht erkennen. Doch das ist es nicht, was diese Beklemmung in mir auslöste. Sondern der Geruch von kaltem Zigarettenrauch, der ihm anhaftete. Mittlerweile reagiert mein gesamter Körper darauf, wie auf ein rotes Warnsignal. Bevor die Tür vollends zuschlägt, halte ich sie offen. Ein letztes Mal sehe ich die Straße entlang, doch es ist niemand mehr zu sehen. Die Stufen nach oben nehme ich schnell und ignoriere die Gänsehaut, die sich mit jedem Schritt intensiver auf meinem Körper ausbreitet. Mit ausgestreckter Hand bleibe ich vor der Klingel stehen. Auf einem Mal höre ich meinen Herzschlag derartig laut, dass es mir Angst einjagt. Er dröhnt. Er pulsiert durch meinen gesamten Leib. Ich ziehe meine Hand zurück und bin erstaunt darüber, sie zittern zusehen. Wieso bin ich hier? Fragen. Antworten. Ich bin mir nicht mehr sicher, ob es eine gute Idee war, herzukommen. Aus einer benachbarten Klingelanlage dringt ein gedämpftes Summen. Die Hauseingangstür öffnet sich und ich vernehme Schritte. Unwillkürlich greife ich mir an die Jacke, lege meine Hand über die Briefe in der Innentasche und fühle mich plötzlich bestätigt. Ich kann es nicht länger vor mich herschieben. Ich muss mit ihm reden. Statt zu klingeln, klopfe ich. Es ist zu zaghaft. Rick konnte es nicht hören. Ich klopfe erneut, diesmal fester und lauter. Aus Richards Wohnung ist nichts zu hören. Und auch der Flur um mich herum wirkt schlagartig extrem still. Das leise Surren ist verschwunden und die Schritte sind nicht nähergekommen. Gerade als ich zögerlich zurück zur Treppe blicke, öffnet Rick die Tür. Ich sehe zuerst seine nackten Füße und arbeite mich nur langsam nach oben. Er trägt nicht mehr, als eine einfache graue Schlafhose und hält eine mit bläulichem Schaum bedeckte Zahnbürste in der Hand. In seinen Mundwinkeln haben sich Spuren der Minzpaste gesammelt. Er braucht diesen gewissen Augenblick, um zu erfassen, wer vor ihm steht, denn mit mir hat er als allerletztes gerechnet. „Lee?“ Sofort geht die Tür weiter auf. „Sag mir, dass du nichts damit zu tun hast!“, platzt es ohne Vorwarnung aus mir heraus und Richard hält in seiner Bewegung innen. Die Geste, die die Berührung suchte, stoppt, ehe sie finden konnte. „Wie bitte? Womit? Wovon sprichst du?“, stammelt er. Ich erkenne nichts als Unverständnis und Überraschung in seinem Blick. Verwirrung. „Ich... bitte, komm erstmal rein, ja?“ Er tritt zur Seite und öffnet die Tür komplett. Ich zögere. Im Grunde weiß ich gar nicht, was ich ihm sagen will. Ich habe so vielen Fragen und so viele Gefühle in mir, dass mir fast der Mut fehlt, sie zu stellen, sei es nur in meinem Kopf. Es fällt mir schwer, preiszugeben, was gerade in mir vorgeht. Was, wenn das, was er antwortet, das ist, wovor ich mich am meisten fürchte? Ich rühre mich erst als Rick seinen Arm erneut nach mir ausstreckt. Erst greift er nach meinem Jackenärmel, dann nach meiner Hand. Seine Finger sind kühl und in den Zwischenräumen leicht feucht. Ich lasse mich in seine Wohnung ziehen, höre, wie er die Tür hinter mir schließt und dicht hinter mir stehen bleibt. Ich drehe mich nicht zu ihm, sondern schließe meine Augen. Ich spüre die Wärme seines Körpers, die mich beruhigt und erdet. Er riecht nach süßem Apfel, so, als hätte er versehentlich das Shampoo seiner Tochter benutzt. Bevor Richard seine Zahnbürste hebt und zum Badezimmer deutet, streichelt er mir durchs Haar. Er leckt sich Reste der Paste aus den Mundwinkeln und ich höre seine baren Füße auf dem glatten Parkett, als er den Flur entlang geht. Noch immer still hadernd, ob es die richtige Entscheidung gewesen ist, herzukommen, ziehe ich mir die Jacke von den Schultern und hänge sie an die Kommode neben eine von Kayas. Statt mich ins Wohnzimmer zu setzen, gehe ich in die Küche. Es fühlt sich eher an, wie neutraler Boden. In Richards Fall jedoch ein chaotischer Boden. Eine Ordnung sucht man hier vergebens. Das Müsli steht neben der Dosensuppe. Mehl beim Apfelsaft. Neben der Spüle gruppieren sich ein paar leere Bierflaschen und eine halbvolle Schale mit Nüssen und anderen Knabbersnackresten. Ob Richard Besuch hatte? Ehe ich mir darüber weitere Gedanken machen kann, geht Ricks Handy los, welches auf der Arbeitsfläche abgelegt ist. Das vibrierende Geräusch auf dem festen Untergrund ist laut und fremd. Kein Ton erklingt. Das Display lässt Jarons Namen aufleuchten und dessen Nummer. Die Gänsehaut auf meinen Armen schlägt Wellen, die in meiner Brust bersten und ein flaues Gefühl hinterlassen. Unwillkürlich strecke ich meine Hand nach dem Telefon aus und stoppe, als meine Fingerspitze das kühle Metallgehäuse berührt. Dennoch spüre ich das Kitzeln so deutlich, als hätte ich einen elektrischen Schlag bekommen. Es schaltet sich wieder aus, bevor ich etwas Dummes tun kann, doch auch diese Nummer hat sich in mein Gehirn gebrannt. Noch dazu bin ich mir sicher, dass auch sie in der Anrufliste steht. Jaron, der Name von Richards Freund, hinterlässt stets einen bitteren Geschmack in meinem Mund. Jedes Mal, auch wenn ich ihn nur in Gedanken benenne. Es ist mehr als das Unvermögen, ihm positive Gefühle beizumessen. Es geht tiefer, aber ich bin nicht in der Lage, es genau bestimmen. Er hatte immer diesen gewissen Blick, der mir schon damals eine Gänsehaut bescherte. Ich höre das Öffnen und Schließen der Badezimmertür und löse mich aus der Vergangenheit, vernehme das Tapsen von baren Füßen auf holzigem Grund. Rick braucht einen Moment, bis er mich gefunden hat. Richard betritt die Küche und bleibt neben mir stehen. Er neigt seinen Kopf tiefer, sodass seine Lippen beinahe meine Schulter berühren. Er sucht meine Nähe. Es ist eine willkommen heißende Geste und mein Herz saugt sie förmlich auf, sammelt jeden winzigen Tropfen für die Zeit, die hoffentlich niemals kommt. „Du hattest Besuch“, stelle ich fest. „Hm?“, erwidert er irritiert und hält in seiner Bewegung inne. Ich deute auf die Flaschen und das benutzte Geschirr. „Oh. Ja, Jaron war hier.“ Rick löst sich von mir und lehnt sich an den Kühlschrank. Die Ferse seines nackten Fußes tippt ein paar Mal gegen die Front. „Nach deinem Anruf brauchte ich etwas Zerstreuung und wollte mit jemanden reden.“ „Über uns?“, frage ich mit wachsender Sorge und schwelender Wut auf mich selbst. Ich bin so dämlich. Was mache ich hier? Was, wenn Jaron noch hier gewesen wäre, als ich ankam? Was, wenn er mich erkannt hätte? Ich führe die Gedanken nicht weiter aus, sondern versuche mich darauf zu konzentrieren, meinen Herzschlag wieder unter Kontrolle zu bringen. Wieder war es nichts als Glück, was mich davor bewahrte, erneut einen Schritt zurück ins Gefängnis zu machen. Rick scheint meine aufkommende Besorgnis zu bemerken, denn er packt mich an beiden Schultern und zwingt mich damit, ihn anzusehen. „Nein! Lee, ich würde doch niemals...“, äußert er schnell. Er schüttelt seinen Kopf. Seine Hände wandern zu meinen Wangen und er sieht mich eindringlich an. Ich kann nicht wegsehen und versinke in den warmen braunen Augen des Mannes, der mir auch nach all den Jahren noch so viel bedeutet. Ich möchte ihm alles glauben. Ich will nicht an ihm zweifeln. Ich will es einfach nicht. „Lee, ich würde niemals etwas so Dummes tun! Jaron weiß nichts von uns. Ich wollte nur nicht allein sein, das ist alles. Ich wollte etwas Ablenkung. Ein Bier. Einen Freund“, gesteht er mir, während seinen Daumen synchron über meine Wangen streicheln. Einen Freund. Es ist sein gutes Recht. Unser letztes Telefonat hat nicht nur ihn aufgewühlt. Ich kann es verstehen. Dennoch behagt es mir nicht, dass dieser Freund ausgerecht Jaron muss. Ich denke an das Gruppenfoto von Richards Schulfreund und erinnere mich an die ersten Male, in denen wir aufeinander getroffen sind. Im Sommer. Am See. Immer öfter mischt sich ein grauer Nebel in die Schönheit der Erinnerungen und manchmal ist er so prägnant, dass sie fast verblasst. Es war nie einfach. Niemals leicht. Nur dann, wenn ich mit Richard allein war. Doch wir können nicht allein existieren. Nicht mehr. Ausgeschlossen. Erst als das Streicheln seiner Daumen ungleichmäßig wird, löst sich meine Starre und ich drehe mich aus der warmen Berührung. „Er mochte mich nie besonders. Keiner von deinen Freunden", äußere ich. „Das lag nie an dir, das weißt du?“ „Ist das so?“ Ich bezweifele es. Jaron war nicht der Einzige, der mir keine Sympathien entgegenbrachte. Ich denke sofort an Rahel. Auch ihre Worte werde ich niemals vergessen und noch immer spüre ich den Schmerz, die sie verursachen. „Jaron war noch nie sehr umgänglich. Glaub mir, wenn ich dir sage, dass ich ihn mehr als oft erwürgen und im See versenken wollte. Er ist stur und lässt nicht locker, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hat. Das macht mich regelmäßig wahnsinnig", erklärt Rick fast schon entschuldigend, „Aber genau das macht unsere Freundschaft auch stark. Ich vertraue ihm. Er hat immer für mich gekämpft und war für mich da.“ Ich weiß, was er meint. Immer dann, wenn ich auf Richards Freunde getroffen bin, hat es sich wie Kampf angefühlt. Ich musste mich beweisen, musste zeigen, dass ich es wert bin, ohne, dass sie mir diesen Wert definierten. Es gab nie einen gemeinsamen Nenner. Wir sprachen eine vollkommen andere Sprache und seine Freunde hatten keinerlei Interesse daran, mich verstehen zu wollen. Sie verstanden auch Richard in diesen Punkt nicht. Er versuchte, mich zu integrieren, also machten sie gute Miene zum bösen Spiel. Doch die argwöhnischen Blicke, weil sie genau wussten, dass ich nicht zu ihnen gehöre, dass ich nicht so bin, wie sie es waren, trugen wenig dazu bei, mit ihnen warm zu werden. Die Tatsache, dass mir Rick jegliche Aufmerksamkeit schenkte, machte es nur noch unangenehmer. Weshalb sich Rahel abweisend verhielt, war mir damals bereits klargewesen. Sie hat es gespürt. Sie hat es irgendwie gewusst. Aber weshalb auch Ricks bester Freund so gehandelt hat, ist mir bis heute ein Rätsel geblieben. Gut, ich war keines dieser privilegierten, reichen Kinder mit riesigen Sommerhäusern und eigenen Swimmingpools. Damals kam es mir abstrakt vor, dass man mich deshalb meiden könnte oder sogar abwertete. Wir waren doch Kinder. Einfach nur Kinder. Ich weiche seinem Blick aus, schaue stattdessen auf den kleinen Esstisch, der übersäht ist mit angetrockneten Flecken verschiedenster Farbennuancen und vereinzelter Holzklötze. Ein Spielzeugpony mit glitzernder Mähe. In der anschließenden Ecke steht der Hochstuhl für Kaya. „Lee...“. Mein Name flieht über seine Lippen. Mein ganzer Körper bebt. Dann spüre ich ihn an meinem Rücken und wie sich seine Arme fester um mich schließen. Seine Wange schmiegt sich an meine. Ich genieße die berauschende Wärme, die sich überall an und in mir ausbreitet. „Jaron und mich trennen auch nur drei Monate, weißt du das?“ Die Finger seiner linken Hand legen sich auf meine. Sanft streicht er über meine Haut, berührt Glied um Glied und verschränkt unsere Hände miteinander. Ich schüttele nur sachte den Kopf. „Sein Vater verließ seine Mutter noch bevor er geboren wurde und er hat ihn nie kennengelernt. Ein bisschen, wie bei dir, was meines Erachtens wesentlich besser ist als die Konstellation, die ich hatte", witzelt er leblos. Keinem von uns war eine liebevolle Vaterfigur vergönnt. Es ernüchtert mich und so löse ich mich aus Ricks Umarmung und drehe mich zu ihm um. Rick wird erst jetzt klar, wie pietätlos sein Kommentar war. „Entschuldige, ich wollte nicht... Ich bin im Moment nicht sehr gut darin, die richtigen Worte zu finden“. gesteht er seufzend. Die Anspannung in seinen Schultern festigt sich erneut. Er streicht sich mehrere Male über den Nacken, ehe er an mir vorbei zum Kühlschrank geht und ein Bier herausholt. Auch mir reicht er eins und ich lehne kopfschüttelnd ab. Richard nimmt einen Schluck und leckt sich über die Lippen. Ich sehe einen Tropfen Kondenswasser, der sich um den Bodenring der Flasche bewegt. Er ist noch klein und nicht in der Lage, abzuperlen. „Jarons Mutter war Jahre lange die Chefsekretärin meines Vaters.“, fährt er fort. „Seine Sekretärin", wiederhole ich leise und versuche mich daran zu erinnern, ob ich sie jemals gesehen habe. Sicher war sie des Öfteren im Paddock Anwesen zugegen, aber ich habe nur ein verschwommenes Bild einer blonden Frau mit roten Lippen im Kopf. Keine Ahnung, ob sie es gewesen könnte oder ob es die Erinnerung eines klischeehaften Abbilds der Figur eines Films ist. Als ich meine Grübelei beende und aufsehe, ertappe ich Richard dabei, wie er mich besonnen anlächelt. Ich möchte meine Hand ausstrecken und einen Finger in seine Wange drücken. Ich will ihn kichern hören und sein Lächeln auf meinen Lippen schmecken. Alles in mir schreit danach. Doch ich schaue ihn einfach nur an. „Wie man so schön sagt, sind ja Sekretärinnen sowas, wie die zweiten Ehefrauen... Seine Augenbraue zucke amüsiert nach oben und er macht einen Schritt auf mich zu. Ich folge seiner Bewegung und frage mich, wie viel Wahrheit in dieser Aussage steckt. Richard wendet seinen Blick ab und spielt mit einem der Kronkorken, die neben der Spüle abgelegt sind. Er lässt seinen Finger in dem gummierten Inneren kreisen und verursacht damit ein kratzendes Geräusch auf der leicht rauen Oberfläche der Arbeitsplatte. „Hast du eine Sekretärin?“, frage ich daraufhin, ohne meine offensichtliche Intension zu verstecken. Rick sieht überrascht auf. „Ja, habe ich, aber keine, die nur für mich zuständig ist“, erklärt er schmunzelnd und kommt auf mich zu. Er stellt die Flasche zur Seite und bleibt dicht vor mir stehen. „Was ich aber eigentlich erzählen will ist, dass deswegen auch Jaron oft bei uns war. Wir hatten ja das gleiche Alter. Wir konnten uns miteinander beschäftigen. Wir sind quasi zusammen aufgewachsen, wie Brüder", fährt er mit der Lebensgeschichte seines besten Freundes fort, „Doch dann kamst du. Vielleicht war er deswegen so abweisend zu dir, weil er merkte, dass du mir wesentlich mehr gibst, als er es je könnte. Nennt man Eifersucht, oder?“ Ricks Hand streichelt sich liebevoll durch meine Haare und er schenkt mir dieses einzigartige Lächeln, welches mit jeder Emotion spielt. Er findet es selbst absurd, dass Jaron so empfindet und hofft gleichzeitig, dass mich dieser Umstand beruhigt. Tut es nicht. Er muss mir nicht erklären, wieso Jaron sein Freund ist. Er muss sich nicht rechtfertigen, wieso er ihm vertraut oder erklären, wieso der andere Mann Antipathien gegen mich hegt. Rick darf fühlen, was er fühle will. Jaron darf genau das auch. Ich nehme es hin, ohne es verstehen zu müssen, denn ich habe kein Recht, ihm eine Freundschaft abzusprechen und im Gegensatz zu manch anderen würde ich das auch niemals versuchen. Ich schließe meine Augen und genieße die Berührungen, die er mir zu kommen lässt und die zärtlich auf meiner Wange verweilen. Jedes Mal mit dem Wissen, dass es das letzte Mal sein kann und immer mit dem Wunsch es nie wieder missen zu müssen. „Ich habe ihm nie einen Grund gegeben, gegen mich kämpfen zu müssen. Brüder sollten nicht eifersüchtig sein“, murmele ich und entziehe mich nun doch seiner Streicheleien. Rick lehnt sich zurück an den Küchentresen, greift sich erneut die Flasche Bier und sieht dabei zu, wie ich eines der abgewaschenen Gläser aus dem Abtropfgestell der Spüle nehme und es mit Wasser fülle. Ich führe das Glas zu meinen Lippen, doch ich trinke nicht, sondern fühle lediglich die kalte Nässe an meiner Lippe. „Gibt es etwas, was du mir nicht erzählst?“, frage ich mit Bedacht und behalte das Glas in der Hand. Ich bin mir selbst nicht wirklich sicher, wieso ich es frage und warum ich es in diesem Moment frage. Doch da ist dieser unangenehme Kitzel in mir, welcher zu kratzen beginnt, welcher immer mehr juckt und wächst. Ich muss es wissen. Ich muss dahinter kommen. Ich brauche die Gewissheit, sonst macht es mich wahnsinnig. Der Gedanke schreit und ist kaum mehr zu ignorieren. „Was meinst du?“, entgegnet Rick verwundert und lässt die beschlagene Bierflasche sinken. Ein Tropfen vom Boden löst sich und fällt auf eine der Fliesen zu seinen nackten Füßen. „Alle haben Geheimnisse... du auch, nicht wahr?“, beginne ich und gebe preis, was mich nicht schlafen lässt. Ich denke an Evan, der mir nicht sagte, dass Detective Moore schon eine Weile mit meiner Mutter anbandelt. Vollkommen egal, was die Gründe waren, die sie beiden zueinander finden ließen. Meine Mutter, die scheinbar all die Jahre wusste, was Rick und ich für eine Beziehung führten. Aber nie etwas sagte. Richard selbst, der eine Tochter hat, von der er mir von allein nichts erzählte. So viele Geheimnisse. So viele Heimlichkeiten und Zweifel. „Ich verheimliche dir nichts. Ich...“ Er stoppt und schüttelt seinen Kopf, ehe er nach meinen Händen greift und sie festhält. „Lee, du bist der Einzige, den ich niemals belogen habe und ich werde nicht damit anfangen. Niemals. Bitte glaub mir das.“ Unbewusst neigt sich mein Kopf zur Seite und mein Blick geht zu Kayas Hochstuhl. Ehe ich darauf etwas erwidern kann, spüre ich, wie sich seine Hand an meinen Arm legt und er mich langsam zu sich herum dreht. „Bitte tu das nicht...“, fleht er mich an, „Hör zu, ich wollte dir Kaya nicht verheimlichen. Aber... sie war nun mal kein Thema, was man mal so eben anspricht. Ich wollte den richtigen Moment abwarten. Mehr nicht.“ Ich glaube ihm. Ich glaube ihm immer. Doch genau das verunsichert mich nur noch mehr. „Du weißt nicht, wer mir diese Nachrichten schickt, oder?“ „Nein. Nein! Nein, ich weiß es nicht! Lee, um Himmelswillen!“ Jedes Nein wird energischer. „Wer weiß noch über uns Bescheid, Rick, außer Rahel? Sie kann es nicht gewesen sein, denn sie erfuhr es erst später“, hake ich unbeirrt weiter nach. Die komischen Nachrichten und Vorfälle kamen weit bevor Rahel erfahren hat, dass ich wieder Teil von Richards Leben bin. Rick stellt die Flasche zur Seite und seufzt schwermütig. Es bildet sich diese kleine Falte zwischen seinen Augenbrauen und er fährt sich durch die Haare, ehe er mich anschaut. „Ich habe mit niemanden über dich gesprochen, Lee. Mit niemanden. Weder über unsere Beziehung von damals, noch über die Beziehung heute.“ „Wer dann? Wer spielt diese Spiele mit mir?“, erwidere ich laut. „Ich weiß es nicht! Und ich will es genauso wissen, wie du. Warum denkst du, dass ich die Antworten darauf habe?“ Ich sehe ihn eine Weile schweigend an, dann gehe ich zurück in den Flur, ziehe die Briefe aus der Jacke hervor und kehre in die Küche zurück. „Die hat mir Moore gegeben“, läutere ich und reiche Richard den zusammengefassten Stapel Briefe. Die jüngsten Briefe liegen ganz oben und ich haben sie auch nicht in den Umschlag zurück getan. Ricks Blick haftet sich auf die vergilbten Papiere und es dauert einen Moment, bis er danach greift. Zögerlich und fast scheu. Als er würde er bereits verstehen, dass sie Fragen aufwerfen, die er lieber nicht gestellt bekommen würde. Ich sehe ihn wiederholt schlucken, verstehe die unruhige Geste, als er sich kurz über das Kinn reibt und danach seine Unterlippe mit den Zähnen bearbeitet. Sein Gesicht spricht Bände. „Wieso hatte er die Briefe, die ich dir geschrieben habe?“, fragt er flüsternd. „Meine Mutter gab sie ihm. Die auch “, sage ich und deute auf den Obersten. Sein Mund öffnet sich, dann zieht er scharf die Luft ein und legt sich die Hand vor die Lippen. Dort verweilt sie für mehrere Augenblicke und ich kann sehen, wie es in dem anderen Mann arbeitet. Vor allem, als er den Brief entfaltet. Seine Augen fliegen über die erste Zeile. Sein Kehlkopf hüpft. Hoch und nieder. Er feuchtet seine Lippen an, bevor sich sein Mund öffnet und gleich wieder schließt. Richard schaut auf, mustert mein Gesicht und ich erkenne, dass ihm wirklich erst jetzt bewusst wird, dass das damit im Zusammenhang stehen kann. „Wie viele hast du davon geschrieben?“, frage ich, „Wieso hast du sie meiner Mutter gebracht.“ „Weil ich sie dir nicht direkt schicken konnte. Ach, verdammt... Es war nicht meine Absicht, dass ...“ „Dass was? Hinweise zu streuen, dass Moore wahrscheinlich Recht hat? Was hast du dir dabei gedacht, ihr Briefe zugeben, in denen du quasi deine Mitschuld gestehst?“ Rick sucht nach einer passenden Erwiderung. Doch auch nach mehrmaligem Mund Öffnen und Schließen kommen lediglich japsende Geräusche hervor. „Herrje, Rick...“ „Was Lee? Ich... ich...“, beginnt er zu stammeln. Er muss sich erst sammeln, also gebe ich ihm diesen Moment. Ich sehe seine Verzweiflung aus jeder seiner Poren dringen, „Ich wusste einfach nicht mehr, wo mir der Kopf steht. Nach dieser Nacht war alles um mich herum das reinste Chaos. Alle warfen mit Vorwürfen und Anschuldigungen um sich. Der Druck war so gigantisch, die Schuld unerträglich und... das Schlimmste war, dass ich nicht mehr zu dir gehen konnte. Ich... ich durfte nicht mehr mit dir reden, dich nicht sehen. Mir wurde erst später so richtig klar, was ich für Mist gebaut habe... Ich hätte einfach dafür grade stehen müssen. Ich hätte es niemals zulassen dürfen...“, gesteht er mir. „Wir haben die Entscheidung gemeinsam getroffen“, sage ich. Rick schnauft als Antwort und schließt die Augen. „Das weiß ich, aber das ändert nichts. Und ich konnte nichts mehr machen. Alles ging plötzlich schrecklich schnell und Mutter hat mich wegschickt, zu meinen Großeltern. Ich durfte nicht ans Telefon, nicht ins Internet. Ich durfte mit niemanden Kontakt aufnehmen. Ich hatte mehr als ein halbes Jahr lang einen Privatlehrer“, berichtet er mir zum ersten Mal. Das hat er bei unserem letzten Gespräch nicht erzählt. „Ich fühlte mich verloren, deswegen habe ich angefangen, dir diese Briefe zu schreiben. Natürlich wusste ich, dass du sie nicht lesen kannst, aber als ich endlich wieder von meinen Großeltern weg durfte, da stand ich eines Tages einfach vor eurer Tür.“ Einfach so. Unüberlegt. Typisch Rick. „Und du wolltest was tun?“ „Um Entschuldigung bitten... hören, wie es dir geht. Ich weiß nicht, was meine Intension war, Lee. Ich hatte Sehnsucht… Wieso hat sie Moore die Briefe überhaupt gegeben?“ „Ich weiß nicht.“ Als meine Mutter es getan hat, dann nur unter der Bedienung, dass Moore dafür sorgt, dass nicht ich zurück ins Gefängnis gehen muss. Für einen Moment blitzt der irrwitzige Gedanke auf, dass der alte Detective zu meinem Schutz in dem engen Auto gesessen haben könnte. Wäre das möglich? Nein, ich glaube nicht daran. Er hatte zu viele Tage damit verbracht, uns auf die Schliche zu kommen, zu viele Energien darauf verwendet, auch nur den kleinsten Hinweis zu finden, dass wir lügen. Wenn er Indizien dafür hätte, dass nicht ich, sondern Richard damals für den Sturz seines Vaters verantwortlich war, dann wären wir längst wieder auf einem Polizeirevier. Er hat nur Vermutungen und seine Spekulation. Der Beweis, den er so lange suchte, existiert nicht. Es gibt nur meine Aussage und ich werde niemals zugeben, dass auch Richard an diesem Abend auf dem Anwesen gewesen war. „Was glaubte sie, würde Moore mit den Informationen tun? Wieso jetzt?“, fährt er fort. Ich sehe ihn an und kann nur ein weiteres Mal mit den Schultern zucken. „Ich weiß es nicht. Vielleicht glaubt sie, dass sie irgendwas beweisen... Keine Ahnung.“ Ich bin mir sicher, dass meine Mutter die letzten Briefe gelesen haben muss. Immerhin hat sie sie erst in den neunen Umschlag getan. Ich seufze geschafft auf, fasse das Glas etwas fester und nehme dann wirklich einen Schluck daraus. „Du bist also hier, weil du wirklich glaubst, dass ich etwas damit zu tun habe?“, fragt Richard plötzlich mit ernster Stimme und in meiner Brust wird es schwer. Kapitel 27: Der Versuch, sich zu irren -------------------------------------- Kapitel 27 Der Versuch, sich zu irren „Antworte mir! Glaubst du wirklich, dass ich dir das antun würde?“ „Nein, ich... vielleicht? Keine Ahnung. Ich weiß im Moment überhaupt nicht mehr, was ich denken soll“, gestehe ich ihm ehrlich und schaffe es nicht, ihn dabei anzusehen. Ich kann es einfach nicht. Es reicht, dass ich seinen enttäuschten Blick auf mir spüre, der durch jedes meiner Worte der Verunsicherung ein Wechselbad der Gefühle auslöst. Er arbeitet sich tief in mich hinein, brennt und schmerzt. Die Luft um uns herum ist mit einem Mal so schwer, dass ich das Bedürfnis verspüre, mich zu setzen. Ermattet lasse ich mich auf einen der Stühle fallen und schlage die Hände vor das Gesicht. „Was um Himmelswillen hätte ich davon? Hä? Was, Eleen?“, spricht Rick energisch weiter. Als ich darauf nicht antworte, fährt er fort. „Es ist Moore, oder? Er hat dir diesen Floh ins Ohr gesetzt?“ Nun blicke ich doch auf und schaffe es nicht zu verbergen, dass es durchaus mit dem alternden Detective zu tun hat, dass ich mit meinen Gedanken in diese Richtung gerutscht bin. Doch was soll ich tun? „Dir ist doch aber bewusst, dass er alles dafür tun würde, mich am Arsch zu haben?“ „Ist mir bewusst.“ „Also...“ „Nichts mit also, Rick. Es ändert doch nichts daran, dass du mit den Briefen Mist gebaut hast. Wie konntest du nur so dämlich sein?“, schleudere ich ihm an den Kopf und halte mich nicht zurück, „Ist dir klar, was alles hätte passieren können? Was, wenn meine Mutter direkt zu Moore gegangen wäre? Was, wenn er doch noch irgendwelche Beweise gefunden hätte? Was, wenn ihm doch jemand geglaubt hätte und sie weitere Fragen gestellt hätten? Was ...“ „Genug!“, jault Richard auf und unterbricht meine Tirade. Ich merke sogleich, wie mir der Rest der Vorwürfe schwer auf der Zunge zurückbleibt. Also wende ich meinen Blick ab. Nichts davon ist hilfreich, nichts davon ist der Situation zuträglich. Ich sehe erst wieder auf als Richard fortfährt und mich der Klang seiner Stimme erneut zaudern lässt. „Du hast Recht, das, was ich getan habe, war dämlich, dumm und unverantwortlich... Aber auch das, was wir getan haben, war dumm, Lee. Wir hätten von Anfang an die Wahrheit sagen sollen. Dass das alles meine Schuld war!“ Ich will nicht, dass er sich so fühlt. Ich möchte nicht, dass er das denkt. „So meinte ich es nicht“, rudere ich mit gequälter Stimme zurück. Ich habe ihm niemals die Schuld dafür gegeben wegen dem, was damals passiert ist und das werde ich auch nicht. Es würde nicht stimmen. Es war nicht mutwillig. Es war nicht böswillig. Keine Absicht. Wir haben nur zusammen sein wollen. Wir haben uns nur lieben wollen. Deswegen haben wir gemeinsam entschieden, diesen Weg zu gehen. Dass die Konsequenzen, die sich daraus ergaben, für uns nicht abzusehen waren, war der Jugend geschuldet und der naiven Liebe. „Aber so ist es doch. Ich hätte nicht dauernd provozieren dürfen. Vielleicht wäre es dann…“, erwidert Richard mit schwacher Stimme und katapultiert mich zurück in die Realität der bitteren Wahrheit. Liebe ist kein Allheilmittel. Sie kann nicht alles abwehren. Nicht im echten Leben. Das musste ich in all den Jahren lernen und dennoch zerrt mir die Gewissheit jedes Mal wieder den Boden unter den Füßen davon. Liebe ist eine der größten Stärken und kann im gleichen Atemzug die schlimmste Schwäche sein. „Rick...“; setze ich an, doch er stoppt mich, indem er zaghaft den Kopf schüttelt und so jedes weitere Wort im Keim erstickt. Es ist schmerzhafter als alles zuvor. Richard streicht sich durch die Haare, ballt seine Hand am Hinterkopf zu einer Faust und beißt die Zähne zusammen. Sein Atem bebt, als er sich mir gegenüber auf dem Stuhl niederlässt. Ich beobachte jede Regung seiner Miene. Wie sich seine Lider senken, aber nicht vollständig schließen. Wie sich seine Lippen rhythmisch aufeinanderpressen, als würden sie mit den Worten kämpfen, die noch nicht ausgesprochen sind, aber gesagt werden sollten. Ich bemerke zum ersten Mal die unscheinbaren Falten auf seiner Stirn und um die Lider, die zeigen, dass er nicht mehr der 18-jährige junge Mann ist, der im Gras meine Hand hielt. „Bitte glaub mir doch. Ich bin der Letzte, der will, dass du zurück ins Gefängnis musst und es tut mir leid, dass ich so dämlich war...nein… bin. Ich bin es“, sagt er mit Nachdruck und leidvoller Miene. Ich glaube ihm. Noch dazu sorgen Ricks Dummheiten eher dafür, dass er im Endeffekt die Schuld auf sich selbst zieht. „Weißt du, dass ich dich in den vergangenen Jahren hätte finden können?“, erklärt er mit ruhiger Stimme. Ich wollte nicht darüber nachdenken. „Als du entlassen wurdest, wurden wir von den Anwälten in Kenntnis gesetzt. Du kannst dir vorstellen, dass meine Mutter verhindern wollte, dass ich es erfahre, aber ich wusste es. Gleichzeitig war mir klar, dass ich dich nicht kontaktieren durfte, dass ich mich zurückhalten musste. Und... das habe ich getan, weil ich wusste, dass es nicht gut wäre, wenn wir uns sehen.“ Abermals macht er eine kleine Pause, lehnt sich in seinem Stuhl zurück und dann doch wieder vor. „Ich habe gewollt, dass du mich vergisst. Dass du ein gutes Leben führen kannst und all das hinter dir lässt. Ich wollte es wirklich, glaub mir, ich habe es versucht. Ich wünschte es mir von ganzen Herzen.“ Während er spricht, sieht er nicht auf. Er streicht mit dem Zeigefinger und Daumen seinem linken Ringfinger entlang. Einmal. Zweimal. Beim dritten Mal bleibt sein Finger über der Narbe am Knöchel stehen. Ich habe sie noch nie wahrgenommen. „Doch dann warst du da in der U-Bahn... und ... all die Dinge, die ich geplant habe, all die Vorsätze, die ich hatte, waren verschwunden. Mein Kopf war blank... komplett leer...von jetzt auf gleich… bis auf der Gedanke an dich. Es hat sich angefühlt, als hätte unser gemeinsames Leben nur auf Pausieren gestanden und wäre in diesem Moment auf Fortsetzen gesprungen.“ Richards Hände hüpfen ein paar Mal hin und her, als wäre das der Beschreibung zuträglich. Ich weiß nicht, was diese Geste bedeutet, nur dass alles in mir danach schreit, ihn in den Arm zunehmen. Denn ich verstehe auch so sehr gut, was er meint. Denn so fühlte ich es in jedem Sommer. Die Welt drehte sich einfach weiter, wenn wir uns am Ende der Ferien voneinander verabschieden mussten, aber mein Leben stand im Grunde still und begann erst erneut, wenn ich im darauffolgenden Sommer zurück an seiner Seite war. Ich habe es mir nicht ausgesucht. Ich habe es mir nicht herbeigesehnt. Doch ich kann nicht loslassen. Ich will nicht loslassen, denn genauso wie bei Rick bin nicht ich es, der auf Fortsetzen drückt. Ohne etwas zu erwidern, richte ich mich auf. Richard folgt mit verunsichertem Blick meinen ruhigen Bewegungen, als ich auf ihn zutrete. Ich lege meine Hand an seine Schulter und drücke ihn sachte aber bestimmt zurück. Richard gehorcht und sieht mich einfach nur an. Für nicht eine Sekunde löst er unseren Blickkontakt. Ich positioniere mich rittlings auf seinem Schoss, lege meine Arme um seinen Hals und mich umfängt Wärme. Sie stammt nicht nur von seinen Händen, die sich sofort an meinen Rücken schmiegen, nicht von der Hitze seiner Lende, auf die er mich presst, sondern kommt einzig und allein von dem sanften Ausdruck seiner Augen. Das wunderschöne, vertraute Hellbraun. Sie stammt von dem kleinen dunklen Fleck in seiner linken Iris südöstlich der Pupille. Diesen sieht man nur, wenn man ihm so nah ist, wie ich ihm jetzt. Seine Hände wandern höher und seine Arme schmiegen sich an meinen Rücken. Sie betten mich in eine feste Umarmung und wir schmelzen ineinander wie die Schichten einer Matroschka. Ich bette mein Gesicht in seiner Halsbeuge, als wäre es der perfekte Ort, um dort zu verweilen. „Ich habe es dir damals schon einmal gesagt und ich möchte es wiederholen“, flüstert Richard, „Du bist der beste Teil meiner Vergangenheit. Mein Licht in der Gegenwart und der richtige Weg in die Zukunft. Daran glaub ich fest.“ Richard beginnt noch während er diese Worte an mich richtet, meinen Nacken zu streicheln. Hauchzart gleiten seinen Fingerspitzen über die feinen Härchen an meinen Haaransatz, krabbeln über die empfindliche Haut, die meine Halswirbel bedeckt. Es lässt meine Nerven tanzen, meinen Körper beben und mein Herz um ein Vielfaches schneller schlagen. Nichts, was mein Körper nicht kennt. Kaum mehr als das Wispern lauen Windes und doch legt sie mir in diesem Moment seine Welt zu Füßen. Ich spüre seine Liebe in jedem Wort, in jeder Geste. Es fühlt sich wunderbar an und trotz all der Dunkelheit, die uns einholt, denke ich nur an das eine. Es ist richtig. Mit ihm zusammen zu sein, ist richtig. Wenn er nicht da ist, sehne ich mich nach ihm. Wenn er nicht bei mir ist, vermissen ich ihn mit jedem Molekül, welches meine Existenz ausmacht und weitaus mehr. „Vertraust du Moore?“, fragt Rick ruhig und lässt seine Lippen sanft über meinen Hals streichen. Als er am Bogen zum Schlüsselbein ankommt, haucht er einen Kuss auf die empfindliche Fläche und setzt das Ganze in die andere Richtung fort. Es ist nicht mehr als eine simple Berührung und doch vervollständigt sie meine Welt. Ich antworte nicht, sondern konzentriere mich auf das zarte Kitzeln und genieße das berauschende Wissen, geliebt zu werden. „Ich kann ihn nicht leiden, aber... ja, aus irgendeinem Grund vertraue ihm“, erwidere ich. Mit einem tiefen Seufzer richte ich mich auf, greife mir mit beiden Händen in den Nacken, um das berauschende Kribbeln zu beenden, welches Ricks Berührungen hinlassen haben. Der Versuch ist träge. Das Ergebnis ist nur ein hohles Echo. Eigentlich will ich auch nicht, dass es aufhört. Ich will, dass es ewig so bleibt, auch wenn mir bereits beim nächsten Wimpernschlag die Realität und die immerwährenden Warnungen entgegenschlagen. „Du solltest es nicht.“ „Was sollte ich nicht?“, fragt Rick. Er wirkt, als würde er geradezu in den Zärtlichkeiten baden und nichts anderes mitbekommen. Seine Augen sind geschlossen und seine Lippen ziert ein feines Lächeln. Ich genieße es an ihm, wenn auch nur für diesen hauchzarten Augenblick. Es wird zu einem Flunsch, als ich mich noch weiter aufrichte und mich ihm damit entziehe. „Du. Moore. Vertrauen“, erläutere ich und tippe ihm bei jedem Wort gegen die Brust, bis er seine Augen öffnet. „Nicht in tausend Jahren“, entgegnet er überzeugt, klingt fast spottend und lässt wenig Raum für Widerworte, „Nicht in diesem und keinem anderen Leben.“ „Nicht mal, wenn er dich vorm Ertrinken retten könnte“, führe ich weiter. Rick nickt eifrig und lächelt spitzbübisch. Ewige Gegner. Ich schaffe es nicht, ein Grinsen zu unterdrücken. Mein Kindheitsfreund streckt beide Hände nach mir aus und legt sie an meine Wangen. Statt die aufkommende Spannung hinauszögern, zieht er meine Lippen auf seine. Erst ist es nur ein Schmatzer aus dem Affekt, der allein eine Welle voller sanfter Funken durch meinen Körper rollen lässt. Der folgende Kuss ist verweilend zärtlich und erhebt die Funken zu einem Feuerwerk. Überall und nirgends. Seine Lippen auf meinen und die Zeit spielt keine Rolle mehr. Weder das Vormals noch das Künftige. Nur er und das Hier und Jetzt. Ich genieße es, bei ihm zu sein, den Kuss zu schmecken. Seine Wärme zu fühlen und wie sich seine Haut auf meiner anfühlt. All die Kleinigkeiten, die mir so lange verwehrt waren und all die Sehnsüchte in mir schürten. Richards Hände wandern in meinen Nacken und er schmiegt sich noch etwas mehr an mich heran, sodass kein Hauch mehr zwischen uns passt. Ich schmelze in seiner Umarmung und habe zum ersten Mal seit langem das Gefühl, keine umfassende Ruhelosigkeit zu spüren. Es ist als würde mir Richards Präsenz erlauben, zu ankern. Und das habe ich so dringend nötig. Richards Finger streicheln mich unentwegt. Hier und dort. Am Hals. An den Ohren. Im Nacken. Als würde auch er sichergehen wollen, dass ich nicht wieder verschwinde. Das feine Kitzeln ist dabei allgegenwärtig und ich liebe es. So sehr. Mir ist egal, wie lange wir so beieinandersitzen und dass die Nacht immer dunkler wird. Ich brauche jede Minute, jede noch so kleine Sekunde. Irgendwann spüre ich, wie Richard seine Beine verlagert und mich dabei sachte justiert. Wahrscheinlich sind sie eingeschlafen. Ich richte mich auf und merke sofort, wie mich seine Hände zurückholen. „Bleib!“, murmelt er, küsst mein bedecktes Sternum und schaut lächelnd zu mir auf. Richard holt sich die Briefe heran, die hinter mir auf dem Tisch liegen und ich kann in seinem Gesicht ablesen, was er denkt. Ich habe mich das gleiche gefragt. Sein Blick flattert von den Briefen zu mir und wieder zurück. Er beißt sich fahrig auf die Unterlippe, ehe er seine Gedanken äußert. „Ob der alte Blödmann sie gelesen hat?“ Ich weiß es nicht. Die letzten Briefe waren zwar in dem neuen Umschlag, was aber nicht heißt, dass meine Mutter sie ihm vorher nicht gezeigt hat. Er könnte gemeinsam mit meiner Mutter entschieden haben, es so aussehen zu lassen. Vielleicht, um mich in Sicherheit zu wiegen. Um uns Glauben zu machen, dass sie nichts wissen. Wobei der alte Detective bereits verdeutlicht hat, wie viel er weiß. So oder so fühlt es sich jedes Mal so an, als würde man mich bis auf die Knochen entblößen. Diese Briefe waren für niemand anderen bestimmt als für mich und meine für ihn. Diese Worte gehören einzig und allein mir. Ich habe nicht bemerkt, ab wann ich meinen Blick abwand. Erst als ich Ricks sanfte Finger an meiner Wange spüre, wird es mir klar. „Hey, sieh mich an! Was geht dir durch den Kopf?“, fordert er sanft. „Ich weiß nicht, ob er sie gelesen hat, oder nicht. Sie steckten in einem neuen Umschlag, den meine Mutter beschrieben hatte. Die alten vielleicht. Aber die meisten der Briefe habe ich beim Umzug mitgenommen und sie sind in meiner Wohnung.“ „Ich habe meine auch noch. Also deine, meine ich“, bekundet mein Kindheitsfreund und lächelt derartig begeistert, dass man glauben könnte, er hätte einen längst verborgen Schatz entdeckt. Es wärmt mich bis in den Kern meines Seins. „Ach ja?“ „Natürlich, ich werfe sie doch nicht weg. Ich liebe es darüber zu lesen, wie sehr du damals das Bockspringen gehasst hast und dass du genervt warst, weil deine Lehrerin deine Gedichtinterpretation nicht mochte. Ich mochte sie übrigens sehr. Ich fand Kraniche schon immer wundervoll“, entgegnet er unverblümt charmant. Ich habe auch nicht daran gedacht, dass er die Briefe weggeworfen hätte. Vielmehr Rahel oder seine Mutter, die in einem hysterischen Wahn all die Erinnerungen an mich auslöschen wollten. Meine Vermutung erwähne ich nicht und Rick liest in meinem Schweigen Unglauben. „Du glaubst mir nicht? Gut, komm mit.“ Er legt beide Hände an meine Hüfte und schiebt mich sachte von seinem Schoss. „Doch, ich glaube dir.“ Rick lässt sich nicht davon abbringen. Er greift nach meiner Hand und zieht mich Richtung Schlafzimmer. Ich bleibe im Türrahmen stehen und beobachte ihn dabei, wie er in den oberen Bereich des Kleiderschranks herumkramt. Ein paar Tischdecken schiebt er zur Seite oder sind es Laken? Zwei Kisten holt er hervor, stellt sie auf dem Bett ab und kehrt zurück zum Schrank. Er drückt die Decken oder Laken wieder zur anderen Seite. Dann stemmt er plötzlich die Arme in die Hüfte. „Die Kiste mit den Briefen ist weg“, erklärt er. Unwillkürlich sehen wir uns beide um und folglich auch an. Richard mit tiefem Kräuseln auf der Stirn. Ich mit stetig wachsendem Herzschlag. „Hast du sie vielleicht umgelagert?“, frage ich und hebe hilflos einen Pullover an, der auf seinem Bett abgelegt ist. „Unters Bett womöglich?“ „Wo das Krümelmonster hinkommt und daraus Konfetti produziert? Nein, ich habe sie dort hochgeräumt, dort, wo sie niemand einfach findet. Sie waren in einer solchen Kiste dort. In einer Grünen. Ich bin mir sicher.“ Während er spricht, deutet er auf zwei Stoffkisten auf dem Bett. Die eine ist beige und die andere hellblau. Der Gedanken daran, dass er für die Erinnerungen an mich die grüne gewählt hat, lässt mich glücklich lächeln. Doch das ist jetzt nicht wichtig. „Wann hast du sie das letzte Mal in der Hand gehabt?“, erkundige ich mich und laufe um sein Bett herum. Aber nirgendwo ist die grüne Kiste zu entdecken. „Ist noch nicht lange her. Vor ein, zwei Wochen vielleicht“, erklärt er und streicht sich durch die Haare, „Scheiße. Wo ist sie hin?“ Sein Blick wandert zum wiederholten Male durch den Raum, ohne Ergebnis. Als nächstes macht er auf dem Absatz kehrt und verlässt schnellen Schrittes das Schlafzimmer. Ich bleibe irritiert zurück, höre, wie er trotz barer Füße lautstark durch den Flur stiefelt und dort einen weiteren Schrank ausräumt. Er flucht und ich gehe ihm nach. Erst im Türrahmen angekommen stürmt er an mir vorbei und verschwindet ins Kinderzimmer. Ich folge ihm dorthin und komme im Flur an der Kommode mit dem Festnetztelefon vorbei. Sogleich durchschwimmt mich ein Schauer. Nach den Nummern habe ich ihn gefragt und alles in mir verlangt danach, es nicht tun zu müssen. „Wie viele Personen haben eigentlich deine Festnetznummer?“, frage ich und ignoriere das unangenehme Wabbern in meinen Eingeweiden. „Das Festnetz?“, ruft er mir aus dem Kinderzimmer zu. „Ja.“ Ich bleibe vor Kayas Zimmer stehen und sehe dabei zu, wie er planlos hin und her wuselt. Erstaunlich leichtfüßig weicht er den rumliegenden Spielzeugen aus, hebt hier und da einige auf und wirft sie in eine offene Box, die mit bunten Stickern beklebt ist. „Öhm, meine Mutter. Meine Großeltern. Rahel vielleicht. Ich bin mir nicht sicher. Aber eigentlich benutzt das doch keiner mehr. Ich glaube, ich habe vor ein paar Jahren eine Rufumleitung eingerichtet. Die Anrufe gehen direkt auf mein Handy, soweit ich weiß. Ich bin ja kaum hier.“ Rufumleitung, geht mir durch den Kopf und aktuell kann nicht einschätzen, ob das entstandene Gefühl ein positives oder negatives ist. Auch weiß ich nicht, ob es wirklich etwas ändert. Es heißt nur, dass Rick nicht zu Hause gewesen sein muss und der Anrufer genau das wusste. „Wieso?“, fragt er hinterher als ich nicht reagiere und kommt auf mich zu. In den Händen hält er eines von Karas Stofftieren. Einen Igel. Wieder durchfliegt mich ein unangenehmer Schauer. „Moore hat Anruflisten besorgt, weil…“, erkläre ich zögerlich. „Er hat was? Von mir? Dieser Schweinehund“, unterbricht er mich aufgebracht. Das Stofftier in seiner Hand wird zum leidtragenden Opfer und ich bin froh, als er es schwungvoll Richtung Bett entlässt. Wäre es kaputt gegangen, hätte Kara sicher geweint. „Werde bitte nicht wütend“, versuche ich zu beschwichtigen, „Ich hatte mir bei einem dieser seltsamen Anrufe die Nummer gemerkt. Moore hat es getan, um herauszubekommen, wer die Anrufe bei mir macht. Aber sie stellte sich als die Nummer einer Telefonzelle heraus.“ „Und was wollte er dann mit meiner?“ „Es ging nicht um deine per se.“ „Nicht? Komm, spucks einfach aus, Eleen.“ Ungeduldig und fordernd wie eh und je. Ich kann mir ein fahriges Seufzen nicht mehr verkneifen und bin mir sehr wohl bewusst, dass er es hört. Schon damals habe ich nicht sehr gemocht, wenn er mich unter Druck setzt. Doch Rick war schon immer jemand, der schnell eine Antwort wollte, der sofort eine Entscheidung verlangte. Richard nimmt die beiden Boxen vom Bett und stellt sie zurück in den Schrank. „Jemand hat von der Telefonzelle aus auch mehrfach deine Festnetznummer gewählt. Jedes Mal direkt, nachdem die Person mich angerufen hat. Das ist Moore aufgefallen, als er meine Anrufliste und die Zelle abgeglichen hat. Deswegen hat er sich auch eine Liste zu deiner Nummer besorgt.“ Dass das nicht ganz koscher war, weiß ich selbst. „Wie bitte?“, äußert Richard mit Nachdruck, streicht sich mehrere Male auffällig über die untere Gesichtshälfte, während seine Augen Sinn suchend hin und her wandern. „Richard...“, setze ich an. „Direkt danach?“ „Ja.“ „Meine Festnetznummer?“ Es klingt noch immer als könnte er es nicht glauben. Doch ich kann es ihm zeigen. Auch die Listen habe ich dabei. „Ja.“ „Denkt ihr deshalb, dass ich etwas damit zu tun habe, weil es so aussieht, dass die Person mir berichtet erstattet?“ Bei dem letzten Teil geht seine Stimmt in die Höhe und er sieht mich getroffen an. Das wollte ich damit nicht sagen. „Scheiße, wirklich? Wer ist dieser verdammte Dreckssack?“ „Hast du eine Ahnung, wer...“ „Nein! Nein, ich... ich telefoniere mit hunderten Menschen am Tag. Manchmal schaue ich nicht mal aufs Display. Ich werde ja dauernd von unbekannten Nummern angerufen. Das ist nichts Ungewöhnliches. Geschäftspartner. Alte. Neue. Ehemalige Kommilitonen. Sonstige Idioten.“ Rick schüttelt seinen Kopf, während er die Aufzählung macht und wirkt dabei genauso überfahren, wie ich es war, als Moore mir davon berichtete. „Ich dachte immer du hast eine Sekretärin, die in einem Vorzimmer sitzt und die Anrufe vorher abwimmelt“, entgegne ich spitz. Ich bin mir selbst nicht sicher, wie ernst ich das gerade meinte und wieso ich die Thematik erneut anschneide. „Schön wäre es. Kann es sein, dass du gar nicht weißt, was ich da eigentlich mache?“ „Ehrlich gesagt nicht, nein.“, gestehe ich. Rick tritt auf mich zu. Vor mir bleibt er stehen und streckt seine Hand nach mir aus. Seine Finger ertasten den weichen Stoff meines Pullovers und verfangen sich darin bis sie auf meinen Körper treffen. Ich blicke hinab und Rick nutzt den Moment, um sich zu meinem Ohr zu beugen. „Ich bin im Grunde nichts weiter als ein stinknormalter Abteilungsleiter, der wesentlich intensiver vom Vorstand genervt wird“, erklärt er. „Haben Abteilungsleiter keine Sekretärinnen?“ „Nein. Aber ich habe hin und wieder einen armen Stiefel als Praktikanten.“ „Ich war davon ausgegangen, dass deine Mutter dich zwingt, die Firma zu übernehmen.“ „Das werde ich auch, aber erst in ein paar Jahren. Noch würde der Vorstand das nicht zulassen. Zum Glück. Dafür gibt es im Augenblick noch immer eine kommissarische dreigeteilte Leitungsstelle.“ „Aha.“ Unternehmensstrukturen sind mir ein Rätsel oder vielmehr ein schwarzes Loch, dessen Bedeutung ich niemals verstehen werde. Der hilflose Kommentar lässt Richard schmunzeln. Er zerknüddelt den Stoff meines T-Shirts weiter und zieht mich somit dichter an sich heran. „Nach dem Tod meines Vaters hat sich einiges geändert. Der Firma ging es schlecht und es gab kleine Übernahmen, anteilige Verkäufe und viele andere undurchsichtige Machenschaften, die meine Mutter in die Wege leitete. Aber sie sorgte auch für eine stabile Struktur“, erklärt er verschwörerisch. Ich nicke, ohne die vollständige Bandbreite seiner Worte zu erfassen. Vermutlich konnte er es damals selbst nicht. „Der neue Vorstand machte die Vorgabe, dass ich nach dem Studium erstmal Erfahrung sammele und deswegen krieche ich nun seit ein paar Jahren glatzköpfigen CEOs in den Arsch und nehme an den meisten Leitungsmeetings teil, damit ich im Bilde bleibe.“ „Aber du musst die Firma übernehmen?“ „So will es meine Mutter.“ „Und was willst du?“, hake ich flüsternd nach. Statt darauf zu antworten, küsst er mich. Ich schmelze ihm unwillkürlich entgegen und erwidere den Kuss sehnsüchtig. Ich wünschte, es würde genügen. Ich wünschte, es würde ausreichen, nur wir zwei zu sein. Doch das wird es nicht. Es wird es nie sein, das habe ich längst begriffen. „Bleib hier“, bittet er, nachdem wir den Kuss lösen. Ein einfaches Begehren voller Hoffnung. Ich weiß, dass ich es verneinen sollte, aber ich will nicht. Ich will seine Nähe spüren. Solange es mir möglich ist. „Ich bin müde“, flüstere ich und lehne meinen Kopf zum Verweilen an seine Schulter. Im Moment ist damit nicht nur mein Schlafbedürfnis gemeint und ich bin mir sicher, dass Rick es versteht. „Okay. Lass uns ins Bett gehen“, erwidert er lächelnd, streichelt mir sanft durchs Haar. Er haucht einen Kuss an meine Schläfe und greift nach meiner Hand. Gemeinsam gehen wir ins Schlafzimmer. In seinen Armen schlafe ich sofort ein. Am Morgen wecken uns beide Handys im Abstand von 10 Minuten. Ich verlasse seine Wohnung zuerst und schmunzele noch in der Bahn über das putzige Carepaket, welches er mir fertiggemacht hat. Es beinhaltet ein Sandwich mit Gürkchen, Apfelstücke und ein Trinkpäckchen, welches definitiv Kara gehört. Trotzdem lächele ich die gesamte Fahrt über, bis ich bei dem vertrauten Bürogebäude ankomme. Mit all diesen Dingen, die um mich herum geschehen, fühlt es sich von Mal zu Mal seltsamer an, zur Arbeit zu kommen. Es fühlt sich nicht mehr sicher an. Alsbald ist mein einziges Bedürfnis, mich in den Heizungsraum einzuschließen, um niemanden begegnen zu müssen. Zum Glück ist um diese Uhrzeit kaum jemand da. Nicht einmal Micha. Vermutlich hat er die Nachmittagsschicht. Im Mitarbeiterraum bleibe ich länger sitzen, versuche die Gedanken zu verdrängen, die mir folgen wie Schatten. Ich lehne meinen Kopf gegen das kühle Metall meines Spinds und starre an die Decke. Sie hat auch schon bessere Zeiten gesehen und nachdem ich mir vorstelle, wie der ein oder andere Fleck entstanden sein könnte, bin ich zwar abgelenkt, aber ebenso angewidert. Das Öffnen und Schließen der Tür sorgt dafür, dass sich die Härchen auf meinem Arm aufrichten. Doch entgegen jeglicher Warnung meines Körpers steht lediglich der junge Azubi am Eingang und sieht mich mit großen blauen Augen eingeschüchtert an. Er ist das wahrhaftige Reh im Scheinwerferlicht. Einen Augenblick später erweicht sein Blick und der Schreck entlässt seine Glieder, sodass er endlich auf mich zukommt. „Morgen, du bist ja früh hier“, nuschelt er und geht an mir vorüber zu seinem Schrank. „Du auch“, erwidere ich und schaue dabei zu, wie er seinen Rucksack auf der Bank abstellt, darin rumkramt und danach erst den Spind öffnet. Kai wirkt nervös, nervöser als sonst. Was bei ihm langsam aber sicher auf einen Herzinfarkt hindeutet. Hin und wieder wirft er mir einen Seitenblick zu, während er nach und nach in seine Arbeitskleidung wechselt. Als er den Pullover hervorholt, den er schon in der letzten Woche getragen hat, habe ich doch das Bedürfnis, etwas zusagen. „Ist das...“, setze ich an und werde prompt unterbrochen. „Der Vorarbeiter will mit mir reden“, platzt es aus ihm heraus und seine Hände fuchteln vor seinem Bauch herum, bis sie den Pullover zurück auf die Bank befördern. Deshalb wirkt er wie Rehkitz auf einem verschneiten weiten Feld, was man beim Grasen stört. Scheinbar kann er an meinem Gesicht ablesen, dass ich den Grund dafür kennen könnte. Kai lässt den mit Farbklecksen übersäten Pullover sinken und macht ein paar Schritte auf mich zu. „Du weißt wieso.“ Eine Feststellung, keine Frage. Ich nicke wahrheitsgemäß. Ich kann mir denken, wieso und ich weiß auch, warum es ihm auf den Magen schlägt. „Es ist wegen Steven, oder?“ Ich lasse meinen Kopf erneut nach vorn wippen. Diesmal bedächtig. „Wieso?“ „Was heißt, wieso? Steven benimmt sich wie der letzte Arsch und natürlich fällt es irgendwann auch anderen auf. Egal, wie hartnäckig wir darüber schweigen.“ „Aber...“ „Nein, Kai, es ist wichtig, dass du dem Vorarbeiter sagst, was passiert ist und wie sehr dich Steven ausnutzt, bedrängt und bloßstellt.“ „So ist es doch gar nicht.“ „Ach nein?“ „Hast du denn auch erzählt, was er mit dir gemacht hat?“, fragt er vorsichtig und um mich zu prüfen. Er lässt sich mit ausreichend Abstand zu mir auf die Bank nieder. Er greift nach dem Pullover und statt ihn überzuziehen, beginnt er ihn mit den Fingern zu kneten. Sein Blick ist fürchterlich erwartungsvoll. Ich will ihn nicht belügen. „Nicht alles.“ Ich will ihm auch nicht sagen, dass mein Gespräch mit dem Vorarbeiter dadurch gekennzeichnet gewesen ist, dass er es tunlichst vermied, es beim Namen zu nennen. „Siehst du!“ „Hey, hör mal zu. Ich bin, was das angeht, nicht das beste Vorbild, das weiß ich, aber ich habe leider meine Gründe. Also, bitte ich dich. Für dich und für mich. Sag ihm einfach, was los ist und was passiert ist. Was Steven dir antut. Wir müssen lernen, für uns selbst einzustehen, denn es tut selten ein anderer. Bitte!“ Ich sehe ihn nicken, ehe ein anderer Kollege den Mitarbeiterraum betritt. Er wünscht uns einen guten Morgen. Ich hole meine eigenen Arbeitsklamotten hervor und sehe zu Kai. Sein Pullover ist nach dem Anziehen ein reines Knitterdesaster voller unbestimmter Flecken. Zum Mittag treffe ich mich mit Kaley und werde prompt zu meiner Lunchbox ausgefragt. Ich druckse rum, so wie immer und meine hübsche Kollegin gibt sich zum Glück damit zufrieden. Allerdings erst als ich ihr das Trinkpäckchen überlasse. Kai sehe ich nicht mehr vor dem Feierabend und kann ihn daher auch nicht fragen, wie das Gespräch gelaufen ist. Eine der Spindtüren wird laut zu geschlagen, als ich den Mitarbeiterraum betrete. Ich schaue hinein und bemerke, wie Steven um die Ecke prescht. Er stoppt, als er mich in der Tür stehen sieht und sein Gesicht formt sich noch im selben Moment zu einer verzerrten Fratze. Ich kann die Wut förmlich schmecken und riechen, obwohl er meterweit von mir entfernt ist. Es bringt meine Haut in Wallung. In keinem guten Sinne. „Das wirst du mir büßen, mach dich darauf gefasst!“, spuckt er mir entgegen und kommt schnellen Schrittes auf mich zu. Die anderen Kollegen im Raum japsen, einige lassen das fallen, was sie gerade in ihren Händen halten. Ich mache automatisch mehrere Schritte zurück, sodass ich mich im Flur wiederfinde, als er vor mir stehen bleibt. Eine halbe Armlänge trennt uns. „Wovon redest du?“ „Die haben mich rausgeworfen.“, erhellt er mich. „Was nicht meine Schuld ist“, wehre ich ab, obwohl ich es besser nicht gesagt hätte. Auch mir fehlt manchmal die Fähigkeit, mich zurückzuhalten. „Fristlos gekündigt und es ist deine Schuld.“ Die Worte zischen durch seine Zähne hindurch, denn er presst den Kiefer so fest aufeinander, dass ich höre kann, wie es knirscht. Das wässrige Blau seiner Augen ist von Wut getrübt und lässt meine augenscheinliche Ruhe langsam verpuffen. Jeder Zentimeter zwischen uns dient als Sicherheit, doch es ist kaum mehr was übrig. Mein Blick wandert ihn ab, um sicher zu gehen, dass er keine Waffe in der Hand hat oder irgendwo hervorziehen kann. Steven trägt seine Alltagskleidung und darüber eine viel zu dünne Jacke für diese Jahreszeit. Ein aufgenähtes Emblem auf der rechten Seite hat sich an einigen Stellen bereits gelöst und wirkt ohnehin als wäre es kein Bestandteil, der ursprünglich zu der Klamotte gehört. „Bist du zufrieden? Hä?“, bellt er. „Das können sie nicht ohne berechtigten Grund“, erwidere ich und ärgere mich prompt darüber, dass meine Stimme ein wenig zittert. Aber was soll ich tun? Seine Nähe fördert meinen Fluchtreflex, in all seinem Umfang. Passend dazu mache ich einen weiteren Schritt zurück. Ich spüre, wie mein Hacken gegen die Scheuerleiste trifft und das Wissen darum, dass ich nicht mehr zurückweichen kann, lässt meinen Puls explodieren. „Und du hast ihnen unglaublich gern einen geliefert, oder? Hast du dich dabei das erste Mal in deinem Leben überlegen gefühlt?“ „Wie bitte? Du hast mich angegriffen! Du hast mich… angefasst. Was erwartest du?“ Ich versuche, beherrscht zu klingen, doch meine Stimme bricht zum Schluss. Ich möchte ihm sagen, wie widerlich ihn alle finden. Wir sehr ich ihn verabscheue. Doch das würde nichts bringen. So jemand wie Steven würde es niemals verstehen, wird es niemals erkennen. „Du suchst die Schuld ständig bei anderen, statt deine eigenen Fehlentscheidungen zu sehen. Du verhältst dich allen gegenüber unmöglich. Es ist allein dein Versagen, dass du deinen Job los bist.“ „Hey, Leute, hört auf“, ruft ein anderer Kollege uns zu. Steven ignoriert es. „Du hast mich provoziert und du tust es wieder.“ Natürlich. Er packt mich am Kragen. Ich stoße ihn von mir weg. Er rückt sofort wieder auf und ich schubse ihn diesmal härter weg. Steven lacht nur auf und fängt sich problemlos. „Oww, nun wird der kleine, passive Lee endlich sauer?“ Ich halte noch im selben Moment inne. Wie hat er mich genannt? Kapitel 28: Der Moment der Stille im Angesicht des Donners ---------------------------------------------------------- Kapitel 28 Der Moment der Stille im Angesicht des Donners Das Entsetzen über die Verwendung des Namens hält sich mit einem tiefgehenden Zittern in meinen Knochen. Es vibriert bis ins Mark hinein und ich ringe um Fassung. Wie kann es sein? Woher kennt er meinen Spitznamen. Ist es ein Zufall? Hat er ihn irgendwoher mitbekommen können? Habe ich ihn ausgeplaudert? Vielleicht vor Kaley? Ihr habe ich von Rick erzählt. Doch ich bin mir sicher, dass sie es niemanden gegenüber erwähnt hätte. Wieso auch. Sie hätte keinen Grund. Dennoch werden es nur noch mehr Fragen, die in meinem Kopf entstehen und nach Antworten verlangen. „Wieder sprachlos? Dabei wollte ich unbedingt mal sehen, wie du ausrastest.“ Das provozierende Grinsen in Stevens Gesicht weckt viel mehr als Rage und Unmut. Es schürt vor allem Furcht, vor dem, woran er beteiligt sein könnte. Es ist nicht das erste Mal, dass mir der Gedanke kommt, dass er etwas mit den Vorkommnissen zu tun hat. Aber bisher hat es für mich keinen Sinn ergeben. Ja, wir mögen uns nicht. Wir mochten uns von Anfang an nicht, obwohl ich ihm nie Anlass dazu gegeben habe. Ich erinnere mich an das seltsame Gefühl, welches mich bis ins Mark traf, als er mich in der ersten Mittagspause unentwegt anstarrte. Es war nichts, was ich nicht auch aus dem Gefängnis kannte und obwohl zunächst nichts passierte, ließ es Obacht zurück. Es ist wie ein Reflex. „Warum zur Hölle tust du das? Macht es dir Spaß? Geilt es dich so sehr auf?“, frage ich angestachelt. Steven lacht auf. „Es macht großen Spaß, zu sehen, wie du dich windest, ist unglaublich geil.“ „Du bist ekelhaft“, zische ich. „Es macht dich doch genauso an. Steht er dir schon?“ „Das wirst du wohl niemals wissen.“ „Du kotzt mich so an, weißt du das? Du machst einen auf unschuldig und bist der größte Lügner von allen.“ Der abrupte Wechsel der Stimmung ist spürbar und es lässt jeden Muskel in meinem Körper zucken. Unter meiner Zunge beginnt es zu jucken. Ich schlucke schwer. „Was weißt du schon“, bringe ich hervor. „Mehr als du denkst, denn ich durchschaue dich. Ja, ich sehe all die Abgründe, all die dunklen kleinen Abartigkeiten.“ Stevens Blick ist starr, ohne Regung, ohne die geringste Emotion. „Du hast keine Ahnung, wovon du redest. Du bist nur ein krankes Arschloch, was sich daran aufgeilt, anderen nachzusteigen!“ „Ich zeig dir krankes Arschloch…“, zischt er mir entgegen und stößt mich mit der flachen Hand zurück, sodass ich gegen die Wand pralle. „Steven!“, ertönt es am anderen Ende des Flurs vom Büro des Vorarbeiters aus. Stevens linkes Auge zuckt noch im gleichen Moment. Er wendet seinen Blick nicht von mir ab, während ich flach atmend auf die pulsierende Vene starre, die sich unter demselben Auge abzeichnet. „Pfennig, verschwinden Sie endlich! Denken Sie nicht, Sie haben schon genug Ärger! Nehmen Sie ihre Sachen und dann raus. Ich werde es nicht wiederholen“, sagt er mit fester Stimme. Nun pressen sich Stevens Zähne aufeinander. Ich erkenne es deutlich an der Spannung in seinem Kiefer und als sich seine Lippen etwas öffnen. Er richtet den Saum meiner Arbeitsjacke, ehe er endlich einen Schritt zurück macht und dabei die Hände abwehrend in die Luft hebt. Steven wirft dem Vorarbeiter einen vielsagenden Blick zu, der in diesem Augenblick bei uns ankommt. „Miese Drecksfirma“, spuckt er, kehrt in den Umkleideraum zurück, aus dem er seinen Rucksack holt. Ein letztes Mal bleibt er auf meiner Höhe stehen und starrt mich an. Ich kenne diesen Blick. Roh. Zornig. Zerstörend. Ich spüre, wie die Anspannung nachlässt als ich Steven um die Ecke verschwinden sehen. „Entschuldigt mich. Ich brauche frische Luft.“, erkläre ich und die Hand, die eben noch meine Schulter berühren wollte, zieht sich augenblicklich zurück. Der Vorarbeiter nickt und ich laufe in die entgegengesetzte Richtung, in die Steven verschwunden ist. Mir ist warm, obwohl meine Hände eiskalt sind. Mir ist schlecht, obwohl eben noch mein Magen knurrte. Im Grund ist nichts, was ich spüre, klar und deutlich. Nicht in diesem Moment. Ich fühle die Ohnmacht in jedem Winkel meines Körpers und fast so schlimm, wie an diesem einen Tag. Ich muss hier raus. Ich brauche frische Luft. Die immer gleich aussehenden Kellergänge des Gebäudes nehmen die Orientierung. Es dauert etwas, bis ich endlich einen geeigneten Ausgang finde, presse meinen ganzen Körper gegen den Querhebel, der die Feuerschutztür öffnet und trete in den mit Böschungen gesäumten Außenbereich, der oft von den Rauchern genutzt wird. Nur wenige Sekunden, nachdem sich die schwere Tür mit einem deutlichen Rumms schließt, geht sie wieder auf. Das Klicken des Schlosses, des Stangengriffs. Mein Herz poltert laut durch meinen Körper. Alles in mir erbebt erneut in der Annahme, dass plötzlich Steven hinter mir auftaucht und seine Torturen fortsetzt. Doch dann schiebt sich Kaleys schwarzer Haarschopf hervor. Sie schaut zur falschen Seite und murmelt meinen Namen, welcher wie ein tiefes Zirpen klingt. Erst beim zweiten Versuch erblickt sie mich, hüpft hervor und lässt die schwere Tür ins Schloss fallen. Ich atme angestrengt aus und war mir bis eben nicht bewusst, dass ich die Luft angehalten habe. „Hier bist du. Du bist eben an mir vorbeigerauscht und hast nicht auf meine Rufe reagiert.“ Mein Herzschlag ist so laut, dass ich den Anfang gar nicht verstehe. „Oh, tut mir leid. Ich war in Gedanken.“ Und bin es eigentlich noch immer. Mein Verstand driftet stetig tiefer hinein. „Scheinbar so sehr vergraben, dass ich eine Schaufel hätte mitbringen sollen.“ Nun sehe ich wieder auf. „Schaufel?“ „Naja, um dich aus deinen Gedanken zu buddeln“, erklärt sie mit einem verlegenen Lachen, welches ihrem Gesicht eine zärtliche Weichheit verleiht. Es ist ansteckend und ich erwidere es mit einem Lächeln. Sie macht zusätzlich eine Bewegung, die beweist, dass Kaley noch nie in ihrem Leben eine Schaufel in der Hand hatte. „Dafür brauchst du schon einen Bagger“, gebe ich ehrlich zu und ziehe mich an den Betonabsatz hoch, um mich zu setzen. Kaley folgt mir, schafft es aber nur mit meiner Hilfe hoch. „Vielen Dank. Oh, hier…“, sagt sie, als sie sich ordentlich positioniert hat und reicht mir etwas aus der Tüte, welche die ganze Zeit an ihrem Handgelenk baumelt wie eine Ersatztasche. Das, was sie mir gibt, ist eine kleine Packung mit einem runden Stück Kuchen darin. „Was ist das?“ „Ein Biskuit-Baumkuchen mit Matcha. Ich war gestern nach der Arbeit noch in einem Asiamarkt und ich habe lauter Zeug gekauft, von dem ich nicht wirklich weiß, was ich eigentlich damit mache. Aber vollkommen egal, ich finde schon Rezepte. Da habe ich auch die Baumkuchen gefunden und gleich an dich gedacht, also habe ich welchen gekauft.“ „Baumkuchen?“, erfrage ich. Bei genauer Betrachtung erkenne ich tatsächlich eine Art Baumringe. Es ist hübsch. Die äußeren Ringe sind leicht grün. „Was ist Matcha?“ „Du bist Kaffeetrinker, habe ich ganz vergessen. Matcha ist pulverisierter grüner Tee aus Japan. Mittlerweile wird er nicht nur getrunken, sondern daraus werden auch etliche Süßspeisen hergestellt. Wirklich toll. Mousse. Kuchen. Torten. Schokolade. Alles so hübsch grün.“ „Ich mag grün.“ „Ich auch. Und ich trinke gern grünen Tee. Wobei ich ohne Kaffee nicht lange überlebe“, plaudert sie heiter und ich genieße es, ihr einfach zu zuhören. Ihrer tiefen warmen Stimme zu lauschen. Ich fühle mich besser, weil ich nicht mehr allein bin und sie so herrlich nach Sommer duftet. „Eleen? „Hm?“ „Vielleicht sollten wir doch mal japanisch Essen gehen, was sagst du?“, wiederholt sie die Frage, die ich scheinbar nicht mitbekommen habe. „Ich weiß nicht, ob ich nach deiner Sushi-Erzählung vom letzten Mal objektiv dran gehen kann.“ „Wir müssen ja kein Sushi essen. Es gibt ja auch unglaublich viele Nudelgerichte, oder Onigiri, Takoyaki und Ramen“, zählt sie begeistert auf, tippt dabei abwechselnd die Fingerspitzen ihrer linken Hand an und ich verstehe fast nur Bahnhof. Nur die letzte Aufzählung sagt mir etwas. „Oh, das ist diese Suppe, nicht wahr? Das mag ich.“ „Na, dann haben wir ein Date. Ich kenne da nämlich den besten Ramenshop der Stadt und er hat dieses vorzügliche Schwarze-Sesam-Eis. Der Traum von einem Nachtisch, den selbst du mögen wirst.“ Obwohl ich es mir nicht vorstellen kann, habe ich große Lust, es zu probieren. Kaley klatscht freudig in die Hände und spätestens jetzt hätte sie mich überzeugt. „Klingt sehr gut“, erwidere ich und öffne die Kuchenverpackung. Ein süßer, aber unbekannter Duft weht mir entgegen und ich schaue mir zunächst die hübschen gleichmäßigen Ringe des Gebäcks an. Ich frage mich, wie so etwas hergestellt wird. „Also, wie geht es dir?“, fragt sie nicht unerwartet. Ich spüre ein Kitzeln in meinem Nacken. „Wie geht es dir?“, gebe ich ihr die Frage zurück, mit festerer Stimme als ich mir zu getraut hätte und schaue in ihr verblüfftes Gesicht. Ihre braunen Iriden mustern mich eingehend und ihr Gesichtsausdruck wechselt zurück in diesen besorgten, fürsorglichen Zustand. Kaley legt ihren Kopf schief, blickt auf ihren Baumkuchen und wieder zu mir. „Nun ja, ich musste heute Morgen aufstehen, was ich als fürchterlich empfand, weil ich schlecht geschlafen habe. Meine Kollegin hatte keine Zeit, um mit mir Mittagessen zu gehen, deswegen habe ich Eis gegessen und habe nun Bauchschmerzen.“ Ihre Stimme ist ein Meisterstück der Theatralik. Ich bin mir sicher, dass sie übertreibt und doch lässt mich die Vorstellung schmunzeln. „Und trotzdem hast du vor, das da essen?“, frage ich und deute auf den nach Zucker und Konservierungsstoffen schreienden Kuchen, der auf ihrem Schoss liegt. Sie nickt keck. „Ich bin eine erwachsene Frau und nichts kann mich davon abhalten, meine Süßigkeiten zu essen“, erklärt sie mit erhobenem Haupt und glänzenden Augen. Ihr Lächeln ist sanft und frei. Es steht ihr unglaublich gut. „Nicht mal die Vernunft?“, gebe ich zu bedenken und lege im Grunde keinen Wert darauf, sie in irgendeiner Form von ihrer Ansicht abbringen zu wollen. Sie hat alles Recht der Welt, die Dinge zu tun, die sie liebt. Wir alle haben dieses Recht. „Wird überbewertet.“ Nun lache ich auf und Kaley setzt ebenfalls ein. Noch während wir restglucksen, nehme ich ihr den geschlossenen Kuchen weg und packe ihn zur Seite. Ihre Beschwerde ist nur Makulatur. „Du solltest besser einen Tee trinken und ihn dir für morgen aufheben.“ „Okay, dann siegt heute mal die Vernunft“, gibt sie schneller zu als erwartet und ich merke gleich darauf warum, „Nun du! Wie sieht es bei dir aus?“ „Ich habe ganz gut geschlafen.“ In Ricks Armen, mit zu berauschender Wärme, sodass ich am liebsten niemals aufgestanden wäre. „Eleen.“ „Sie haben Steven entlassen und er gibt mir die Schuld“, sage ich nun das Offensichtliche. Kaley hat es sicher mitbekommen. Immerhin hat auch sie dazu beigetragen, dass das Ganze an Fahrt aufnahm. „Ich weiß, dass sie ihn entlassen haben und es war richtig so. Er hat vielen Leuten in der Firma Ärger gemacht. Nicht nur dir und Kai. Also, was auch immer dir durch den Kopf geht, ich sage dir klar und deutlich, du bist nicht daran schuld.“ „Er sieht es anders.“ „Und wenn schon, dann soll er Beschwerde einlegen, soll er sich einen Anwalt nehmen.“ „Kaley, glaub mir, er ist nicht der Typ, der sich einen Anwalt nimmt. Er ist der Typ, der mir in den Schrank onaniert“, sage ich so klar und deutlich, wie es nun mal ist. Es wäre ja nicht das erste Mal. Wieder perlt mein Name über die schönen vollen Lippen. Diesmal mit deutlicher Sorge. Ich wünschte es wäre so, wie Kaley es sagt. Ich wünschte, sie würde sich nicht irren. Doch das, was für andere unvorstellbar scheint, ist für andere grausame Realität. Ich stecke mir den letzten Rest des Kuchens in den Mund, genieße die herbe Süße auf der Zunge und hüpfe von dem Betonabsatz. Am Boden gelandet, atme ich tief ein und lächele meine schöne Kollegin an. „Ich mache mich jetzt vom Acker. Vielleicht versuchst du auch mal, früher nach Hause zu gehen? Du könntest deinen Magen auf der Couch auskurieren und ich empfehle dir, Tee zu trinken, das hilft meistens gegen Magenschmerzen.“ „Vielen Dank, Dr. de Faro, stellst du mir auch das Rezept aus, dass ich dann Barson geben kann?“ „Ich schreibe dir gern so viele Rezepte aus, wie du möchtest. Aber ich befürchte, dass sie Barson egal sind.“ Es tut mir fast leid, sie zu ernüchtern. „Ja, befürchte ich auch“, erwidert sie kichernd. „Ich habe noch einen Stapel Unterlagen zu sichten, der Lebensgröße hat.“ Ich empfinde großes Mitleid mit ihr. Ich bedanke mich ein weiteres Mal für die süße Aufmerksamkeit und wir wünschen uns jeweils einen nach allen Umständen hinnehmbaren Abend. Ich hoffe wirklich, dass Kaley heute früher nach Hause gehen kann. Die Fahrt nach Hause fühlt sich an wie ein Spießroutenlauf in Watte. Jedes Geräusch bereitet mir Unbehagen, weil es im gleichen Moment weit entfernt und direkt an meinem Ohr erscheint. Ich spüre alles auf meiner Haut, wie kalter Schweiß. Jede noch so kleine Berührung lässt mich zusammenfahren. Ich sehe Gespenster, höre sie, rieche sie. Doch der Geschmack in meinem Mund bleibt durch und durch bitter. Erst als ich die Wohnungstür hinter mir schließe, atme ich richtig ein. Einmal. Zweimal, um gleich darauf in den nächsten Gefühlspool zu schliddern, weil mich der eisige Schauer erfasst, der sich ausbreitet, sobald ich meine Wohnung betrete. Der Geruch von kaltem Zigarettenrauch steigt mir in die Nase, obwohl er nicht da ist. Ich lege den Inhalt meiner Taschen auf der Kommode im Flur, ziehe die Schuhe aus und gieße mir ein Glas Wasser in der Küche ein. Ehe ich trinken kann, höre ich, wie mein Handy zu klingeln beginnt. Mit dem Glas in der Hand bleibe ich im Flur stehen und fokussiere das nervige Gerät, welches in der Jackentasche zurückblieb. Ich muss mit Bedauern feststellen, dass es nicht aufhört zu singen. Ich atme schwer aus, gehe zurück und greife nach dem Telefon. Es ist Moore. Ich erkenne die Nummer und trotz meines hervorbrechenden Unwillens gehe ich ran. „Sie schon wieder“, entflieht es mir angestrengt. Es ist gar nicht so gemeint, aber das unangenehme Gefühl in meiner Magengegend, welche die Stimme des alten Detectives in mir auslöst, lässt sich einfach nicht abschalten und ebenso wenig verdrängen. Er knurrt als Antwort, klingt dabei wie ein Braunbär mit Verstopfung. Ich lehne mich mit verschränkten Armen gegen die Küchenzeile, während er noch ein paar Zeilen wie `Bengel, pass bloß auf` und ´Kein Respekt` hinterher murmelt. Ihn am Telefon zu haben, bedeutet nichts Gutes und dennoch schleicht sich ein schwaches Lächeln auf meine Lippen. Vielleicht ist es nicht mehr als Resignation und der Versuch, in der Bitterkeit ein Funken zusehen. Mir bleibt nichts anderes übrig. „Bist du jetzt bereit, mir etwas Respekt entgegenzubringen und zuzuhören?“ Ich gebe nur ein Raunen als Antwort, welches so interpretiert werden kann, wie er es gern möchte und bin froh, dass es ihm ausreicht und er endlich zu reden beginnt. „Ich habe in Erfahrung gebracht, dass, Wochen bevor deine Akte gestohlen wurde, eine Anfrage zur Einsicht ans Archiv des Reviers ging. Sie kam von der Redaktion einer Bezirkszeitung.“ „Bezirkszeitung?“, erfrage ich skeptisch. „Ja, so ein provinzkommunales Käseblatt. Angeblich ging es um eine Recherche zur Thematik der kommunalen Kriminalprävention im Zusammenhang mit Jugendkriminalität im Binnenraum von Großstädten. Die angeforderten Akten waren überwiegend zum Thema kleinerer Diebstähle und Vandalismus. Graffiti. Sonstige Sachbeschädigung. Also überwiegend Incivilities. Außer deine. Die Sachbearbeiterin hat zum Glück gemerkt, dass deine Akte nicht freigegeben werden durfte, da sie einen Sperrvermerk hat. Aber sie erinnert sich daran, dass sie die Aktennummer notierte und den Hinweis zur Verweigerung der Herausgabe darauf notierte. Dieser Zettel könnte versehentlich als Kopie mit rausgegangen sein.“ Ich habe in der Mehrheit keine Ahnung, wovon er eigentlich spricht und das muss ich auch nicht. „Okay, und das heißt, Sie sperren die arme Frau jetzt ein wegen eines Formfehlers?“, frage ich und bin mir sehr wohl bewusst, wie sarkastisch ich dabei klinge. Moore ist immerhin der Rächer des Fehlverhaltens. „Komiker, natürlich nicht! Normalerweise hätte die Aktennummer keine Auswirkung, wenn man keinen Zugriff auf die polizeilichen Datenbanken hat. Es wären nur Zahlen und Buchstaben. Aber sie ist natürlich sehr hilfreich, wenn man vor hat, die Akte zu stehlen, du Schlauberger.“ „Dann denken sie, dass derjenige, der die Anfrage gestellt hat, meine Akte klaute?“ „Naja, kennst du jemand mit dem Namen Martha Hoffmann?“ „Nein.“ „Hätte mich auch gewundert. Sie gehört zu dem Rechercheteam der Zeitung und hat an diesem Tag mehrere Anfragen an Polizeireviere gestellt. Sie erinnert sich nicht im Einzelnen daran. Nur, dass der Redakteur es eilig hatte. Danach folgte die direkte Anfrage ans Revier nach Herausgabe, die ebenfalls abgelehnt wurde. Erinnerst du dich?“ „Ja.“ Natürlich erinnere ich mich. Eine Woche danach wurde die Akte gestohlen und niemand hat es gemerkt. Die Wahrscheinlichkeit, herauszubekommen, wer es gewesen ist, ist zudem in den niedrigstelligen Bereichen, wenn nicht sogar Minus. „Gut, aber wieso erzählen Sie mir das?“ „Weil ich noch auf einen anderen Namen gestoßen bin, der dich interessieren wird.“ Unwillkürlich halte ich die Luft an, während mein Herz so heftig schlägt, dass ich Moore kaum noch durch das Telefon höre. „Jaron Miers.“ „Richards Freund?“, frage ich verblüfft. „Er ist Journalist. Wusstest du das nicht?“ „Nein, woher?“ „Also hat dir Richard nichts darüber erzählt“, sagt er und klingt dabei fast ein wenig schadenfroh. Er fühlt sich bestätigt, in all seinen Mutmaßungen und Annahmen, die er mir über Rick auftischt. „Sein lieber Freund arbeitet als investigativer Journalist, nicht unbedingt erfolgreich, daher übernimmt er bei mehreren kleineren Redaktionen hin und wieder geplante Füllartikel und siehe da, bei dieser speziellen Bezirkszeitung schreibt er überwiegend zu kriminalistischen Themen.“ „Dann kam die Anfrage nach den Akten von ihm?“ „Nicht offiziell, aber mutmaßlich.“ „Mutmaßlich ist kein Beweis.“, erwidere ich schnippisch. „Willst du echt so anfangen?“ „Ich sage nur, wie es ist.“ „Überleg doch mal, der Tod von Renard Paddock hatte Auswirkungen auf die gesamte Firma und soweit ich weiß, war Miers Mutter ebenfalls für die Paddocks tätig.“ „Sie war seine Sekretärin.“ „War sie das? Interessant.“ Es klingt verdächtig. Ich bin mir sicher, dass er das längst wusste. „Denken Sie etwa auch, sie hatten eine Affäre?" „Denkst du das denn?“ „Spielt es eine Rolle?“ „Es spielt im Grunde keine Rolle, wenn sie durch den Tod Paddocks ihren Job eingebüßt hat, dann hatte es vor allem finanzielle Auswirkungen, die auch er spüren musste. Privatschulen sind teuer. Vielleicht gibt Miers dir die Schuld dafür, dass seine Familie nicht mehr das schöne, glitzernde Leben hatte." „Mutmaßungen“, sage ich schlicht. Moore raunt auffällig und endet mit einem Hustenanfall. Ich gebe ihm die Zeit, sich zu beruhigen und wälze selbst die Gedanken hin und her. Sicher könnte es schlicht Rache sein. Doch dann hätte er einfach nur dafür sorgen müssen, dass die Polizei davon erfährt, dass ich das Kontaktverbot breche, nachdem er mich quasi zu Richard hingeführt hat und ich hätte längst den Rest meiner Strafe abzusitzen. Es wäre der effektivere Weg. Warum also spielt er diese Spielchen? Er ist Ricks Freund. Ich verstehe es nicht und das macht es so unendlich ermüdend. Moore auf der anderen Seite der Leitung hat sich wieder beruhigt. Nach Räuspern, lautem Knistern und einem Geräusch, dass ich nicht identifizieren kann, spricht er erneut. „Ich werde noch ein paar Fragen stellen.“ „Warum?“, erkundige ich mich leise. Es fällt mir zusehends schwerer, all diesen verwirrenden Gedanken zu folgen. Könnte es Jaron sein? War er es, der mir gefolgt ist? Der mir diese Drohungen und Andeutungen zukommen ließ? Er wäre die Verbindung zu Richard. „Was meinst du mit Warum?“ Ich atme angestrengt aus. Ich möchte gerade nichts lieber als die Augen schließen und meinem Gehirn zu befehlen, mit der Arbeit aufzuhören. Nur weißes Rauschen. Oder Stille. „Sie sollten lieber angeln gehen oder meine Mutter schick zum Essen einladen“, schlage ich vor. Wir sollten gewöhnliche Dinge tun. Schöne Dinge. „Eleen…“ Ich hasse es, wenn mein Name mit dieser Ernsthaftigkeit ausgesprochen wird. Sie ergießt sich über mir wie blitzartiger Schauer. „Schon gut, ich kann Sie eh nicht aufhalten. Machen Sie, war Sie denken“, sage ich, ehe er fortfahren kann und lege auf. Ich kann niemanden aufhalten. Konnte es nie. Weder heute, noch damals. Ich kann mich nicht mal selbst davor stoppen, wieder und wieder die gleichen Fehler zu begehen. Endlich leere ich das Glas Wasser, welches ich mir vor dem Anruf eingoss. Alles in einem Zug und gönne mir ein weiteres kaltes. Danach öffne ich den Kühlschrank, entscheide, dass nichts darin meine Kochambitionen schürt. Daher greife ich mir lediglich die Packung Käse, rolle die erste Scheibe zusammen und beiße hinein. Nach der Hälfte hole ich den Ketchup hervor, gieße einen Schwung auf einen kleinen Teller und tunke die Rolle darin ein. So esse ich drei weitere Scheiben und falle auf die Couch. Doch schlafe ich ein und erwache natürlich viel zu früh am nächsten Morgen. Ich nutze die Gelegenheit, um ausgiebig zu duschen, mich zu rasieren und meine erste Tasse Kaffee bei altmodischen Cartoons zu trinken. Trotz des frühen Aufstehens bin ich später als sonst auf Arbeit. Diesmal sitzt Micha am Empfang, aber telefoniert, als ich bei ihm vorbeikomme. Also klopfe ich ihm lediglich kurz auf die Theke und verschwinde in die Mitarbeiterräume. Die Blicke der Kollegen sind unangenehm, aber weitaus hinnehmbarer als die ständige Panik, Steven irgendwo allein zu begegnen, die mich sonst verfolgte. Niemand spricht mich darauf an, was gestern vor dem Mitarbeiterräumen passiert ist. Nur die Blicke hängen an mir, obwohl ich mir sicher bin, dass die meisten von ihnen lieber wegsehen würden. Kaley bringt mir einen weiteren Baumkuchen mit Erdbeergeschmack. Er ist rosa. Diesmal essen wir sie zusammen. Wir verabreden uns für den kommenden Freitag, in dem von ihr gemochten Ramen-Restaurant und für einen Moment fühlt es sich an, als wäre es ein ganz normales Leben. Ein durchschnittliches, langweiliges Leben. Ich habe vergessen, wie es ist und obwohl sich der warme Schimmer heilend zeigt, traue ich ihm nicht. Auf dem Rückweg mache ich mehrere Stopps. Bei der Apotheke, dem Schlüsseldienst und dem Asiamarkt. Ich finde keinen Baumkuchen, aber klebrig aussehende Mochis und Instantnudeln, bei denen ich mir die verrücktesten Geschmacksrichtungen auswähle. Gesund ist anders, verrückt ist es auch, aber man lebt nur einmal. Mit dem Blick auf die Treppenstufen gerichtet, stocke ich, als ich in meiner Etage ankomme und weiße dicke Tropfen und Rinnspuren auf dem grauen Steinboden erkenne. Der Geruch frischer Malerfarbe hängt in der Luft. Der Etagenabsatz ist mit der weißen Masse bedeckt, deren Ursprünge von meiner Wohnungstür ausgeht. Doch nicht nur das. Die Tür ist demoliert. Ein deutlicher, fast runder Einschlag ziert die Mitte. Ein halbrunder ist am unteren Ende zu erkennen. Er stammt von einem Fuß, der obere von einer Faust. Richtige Löcher sind es nicht, doch als ich näherkomme, kann ich die Verschalung der Tür erblicken. Alles ist mit Farbe beschmiert und sie ist noch feucht. Wahrscheinlich die, mit der die Renovierungen der Büroräume vorgenommen wurde. Steven. Wer sonst. Und es ist noch nicht lange her, dass er hier gewesen war. Ich pfriemele mein Handy hervor, schieße ein paar Fotos als Beweis, die ich dem Hausmeister vorlegen kann und merke, wie sich mein Brustkorb verengt. Nur einen Spaltbreit öffne ich die Wohnungstür, um mich hindurch zu zwängen und um zu verhindern, dass ich den Flur meiner Wohnung einsaue. Drinnen ziehe ich als erstes die Schuhe und die Jacke aus, hole Lappen und Eimer aus der Küche und kehre zurück in den Treppenaufgang. „Scheiße, was ist denn hier passiert?“ Ich schaue erschrocken auf und erblicke Mark, der auf der Treppe auftaucht. Mit großen, entsetzten Augen starrt er erst auf die Sauerei und zur Klingel. Ich folge seinem Blick und erst jetzt bemerke ich, dass dort ´Fuck you´ geschrieben steht. Nun besteht kein Zweifel mehr für mich, dass es Steven war. An meinem großen Zeh wird es kalt und ich bemerke, dass ich in die Farbe getreten bin und die Feuchtigkeit langsam durch den Stoff meiner Socke sickert. „Pass lieber auf, wo du hintrittst. Die Farbe ist noch feucht“, informiere ich und stelle den Eimer an einer sauberen Stelle ab. Mein Nachbar hangelt sich vorsichtig das Geländer entlang und schafft es, unbeschadet in seine Etage zu gelangen. Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll und kremple mit zitternden Händen zunächst meine Ärmel hoch und starre mich an einer Stelle fest, die aussieht, wie ein Munch - Gemälde. Aus dem Augenwinkel heraus sehe ich erneut Marks Schuhe auf dem Treppenabsatz auftauchen und blicke auf. Auch er hält einem Eimer mit etwas Wasser in der Hand, aus dem ein bereits gebrauchtes Tuch heraushängt. In der anderen hält er eine Kehrschaufel, die längst bessere Tage gesehen hat. Sie ist voller grauer Flecke und an einer Stelle gesplittert. „Hier, damit kannst du die Farbe in den Eimer schaufeln“, erklärt er und hält mir das Plastikteil hin. Danach setzt er sich auf den Absatz und zieht sich ebenfalls die Schuhe aus. „Meine Schwester und ich haben einmal einen ganzen Eimer Farbe in der Küche verkippt, weil wir uns um Kekse gestritten haben“, erklärt er, ohne dass ich nachfragen muss, klettert zur unteren Treppe zurück und beginnt dort, die kleineren Flecken weg zu schrubben. „Wenn es darum geht, unseren Unfug zu vertuschen, können wir perfekt zusammenarbeiten. Leider kam es doch raus, weil mein Vater nachher lauter Kekskrümel im Farbeimer fand. Na ja. Wir waren zehn und acht. Ich fand uns großartig.“ „Und Kekse?“ „Hinüber. Tragisch!“ „Mark?“, setze ich an und fahre erst fort, als er aufblickt, „Danke für deine Hilfe.“ Er nickt lächelnd und ich versuche, so viel Farbe wie möglich vom Boden abzuschaben. Das Gleiche versuche ich mit der Tür, während Mark mit dem Tuch die weißen Schlieren weg reibt. Die bereits angetrockneten Stellen machen es uns besonders schwer und mit dem Verschwinden der Farbe offenbart sich das Ausmaß des Schadens an meiner Tür nur noch mehr. Als wenigstens der Boden halbwegs normal aussieht, richtet sich Mark auf und ächzt als wäre er ein Greis. „Da war ziemlich viel Wut hinter“, merkt er an und schaut zu den Einschlägen in der Tür. Mir fallen noch mehr Emotionen ein, die Futter dieser Reaktion waren. Ich seufze schwer und nicke. „Vor einer Weile saß so ein Kerl vor deiner Tür. War er es?“, fragt mein Nachbar. Ich schaue ihn überrascht an und schüttele direkt den Kopf. Die Person, die er meint, war Richard. „Nein.“ „Aber du weißt, wer es war? Du hättest Beweisbilder machen sollen.“ Habe ich zum Glück und deute ihm das an. Aber ein echter Beweis ist es nicht, sondern lediglich meine zweifelsfreie Vermutung. „Wer auch immer das gemacht hat, scheint ein echtes Problem zu haben. Du solltest das der Polizei melden.“ Mark deutet mit seinen weißverschmutzten Fingern auf das Klingelschild, über dem noch immer die wenig netten Worte stehen. Seufzend setze ich meinen Lappen dort an und kreiere leidig einen verschmierten Balken, unter dem die Worte noch deutlich hindurchscheinen. Es ist absurd, dass ich frustriert auflache und mir im nächsten Moment wünschte, ich könnte in Tränen ausbrechen. Doch das tue ich nicht, stattdessen setze ich mich neben Marks Schuhe auf die Treppe und kippe meinen Kopf gegen das Holzgeländer. Mark folgt. Wir bleiben eine Weile stillsitzen und ich bemerke erst, dass meine Hände zittern, als der jüngere Mann sachte mein Handgelenk berührt. Seine Fingerspitzen fühlen sich durch die getrocknete Farbe rau und kratzig an. Es ist nur eine kleine Geste, doch sie hilft mir. Sie beruhigt und erdet mich. Ich danke ihm erneut und ich frage ihn, was für Kekse es gewesen waren, um die er sich mit seiner Schwester gestritten hatte. Er weiß es noch genau. Sie waren mit Schokolinsen und waren quietsche bunt. Mark hat noch ein paar mehr solcher Anekdoten und irgendwann steuere ich ein paar Geschichten meiner Brüder hinzu. Unser Altersunterschied hatte eher dazu beigetragen, dass Evan und Eric wenig mit mir unternahmen, aber dennoch immer wieder mal ein Auge auf mich haben mussten. Erst als sich mein Handy mit einer Nachricht meldet, verabschiede ich mich von meinem Nachbarn, danke ihm erneut und sehe, wie er auf seine Etage verschwindet. Danach reinige ich die letzten offensichtlichen Spuren und schreibe in der Küche eine Einkaufsliste, auf der Verdünnung für dein Steinboden und ein neues Kehrschaufelset für Mark stehen. Erst danach lese ich die Nachricht. Eine SMS. Sie ist von Moore, der mich fragt, ob ich zu Hause bin. Er hat Neuigkeiten. Ich bin mir nicht sicher, ob ich sie verkrafte, dennoch bestätige ich ihm meine Anwesenheit. Ich schaffe es, mich umzuziehen und die gröbsten Flecken an mir selbst zu reinigen, ehe es an der Tür klingelt. Wahrscheinlich hat er längst in seinem Auto vor meiner Wohnung gesessen und anstandshalber ein paar Minuten gewartet, damit es nicht auffällt. Dieser verrückte alte Mann. Es ist absurd. Wann hört das alles nur auf? Seit sieben Jahren kein Entrinnen. „Was ist mit deiner Tür passiert?“, fragt Moore hustend, als ich ihm öffne und wir beide zu dem deutlichen Einschlagsloch blicken, welches die Wohnungstür ziert. „Plötzlicher Steinschlag. Die Straßen sind gefährlich“, sage ich ruhig, sehe von dem Loch zu dem älteren Mann und wieder zurück. Moore steckt sich kopfschüttelnd einen der Hustenbonbons in den Mund, nach denen er immer riecht und steckt das Papier in die Jackentasche. „Ist das so?“, murmelt er und inspiziert die Löcher mit einem wissenden Blick. „Verrückt, oder?“ Natürlich glaubt er mir nicht. Doch er fragt auch nicht weiter, sondern deutet mir an, dass er reinkommen will. Ich verkneife mir das resignierte Seufzen nicht, als ich zurücktrete und ihm den Eintritt gewähre. Ich schließe die Tür besonders langsam, verbleibe einen Moment länger im Flur und atme mehrmals tief durch, bevor ich zu ihm in die Küche gehe. Ich bin auf keine weiteren Überraschungen vorbereitet und habe das Gefühl, dass ich mittlerweile auf blanken Nerven tanze, die jeden Moment reißen können. Diesmal hat er auf dem anderen Stuhl Platz genommen und wartet mit verschränkten Armen darauf, dass ich ihm endlich die Aufmerksamkeit zukommen lassen, die er verlangt. Er hat einen Hefter neben sich auf den Tisch abgelegt, der mit einer Nummer beschriftet ist, einem Datum und Zeitstempel. Moore folgt meinem Blick, lässt den Hefter aber an Ort und Stelle als er zu reden beginnt. „Zu dem Einbruch im Archiv laufen aktuell die internen Ermittlungen. Viel konnte man mir bisher noch nicht sagen, aber in Anbetracht der Tatsache, dass es erst Tage später entdeckt wurde, ist das nicht verwunderlich.“ Er ist wütend. Ich höre es deutlich an den feinen Vibrationen in seiner Stimme und an dem abschätzigen Seufzen, mit dem er die Sätze beendet. „Es gibt dementsprechend kaum forensische Hinweise. Ich habe mit jemanden aus der digitalen Abteilung gesprochen, ob es Überwachungsaufnahmen gibt. Aber drei von fünf Kameras waren defekt. Angeblich wegen eines Systemfehlers, der ein paar Tage zuvor auftrat. Wahrscheinlich ein Zufall.“ „Wundert sich keiner darüber, dass Sie andauernd Fragen stellen?“ Immerhin ist er nicht mehr im aktiven Dienst und hat mit den Vorfällen nichts zu tun. Mich würde es wundern. „Ich bin im Gegensatz zu dir und Richard diskret“, spottet er zurück. Ich hätte gern etwas, um es dagegenzusetzen, doch in der letzten Zeit waren Rick und ich nicht sehr unauffällig und ich wundere mich, dass uns das nicht schon längst auf die Füße gefallen ist. Das wäre der letzte Rest, der mein Leben zum Untergehen brächte und ich hätte es selbst verschuldet. Schon wieder. „Verstehe! Und sie haben dazu diese Oldschool Cop-Aura. Sie brauchen nicht fragen, alle reden freiwillig.“ „Bist du fertig mit deinen nachpubertären Aufmüpfigkeiten?“ „Aufmüpfigkeiten? Ist das überhaupt ein echtes Wort?“ Moore entgegnet mit einem Blick, der mir als Teenager das Blut in den Adern gefrieren ließe. Mittlerweile bin ich zu abgestumpft, um mir deswegen Gedanken zu machen. „Ich habe einige Gefallen eingefordert, um Antworten zu kriegen. Noch dazu habe ich ein übergeordnetes Interesse, weil es eine Akte meiner alten Fälle betrifft. Die Kollegin war verständnisvoll.“ Diesmal deutet er mit der Hand auf einen Hefter, den er neben sich auf den Tisch abgelegt hat. „Und sie hat etwas. Es gibt nämlich doch ein paar Aufnahmen des möglichen Täters.“ Der innere Drang nach Aufmüpfigkeiten macht einer tiefsitzenden Aufregung Platz, die nach der Erwähnung blasenartig aufsteigt. Ich hefte meinen Blick auf die beige Pappe und sehe schweigend dabei zu, wie Moore sie öffnet und zwei Fotos hervorzieht. „Könnte das Miers sein?“, fragt er ohne weiteres Geplänkel und drückt mir die Bilder mit schlechter Qualität in die Hand. Das Erste ist eine Aufnahme im Weitwinkel. Das zweite Bild, das ausgeschnittene Detail der Person, die darauf abgebildet ist. Es ist grünlich-grau. Ich erkenne kaum mehr als dunkle Plörre. Lediglich grobe Pixel. Das Gesicht der abgebildeten Gestalt ist nur im Profil zu sehen und wird durch eine Mütze mit Schirm bedeckt. Es konnte jeder sein und niemand. Es ist nicht deutlich, ob es sich wirklich um einen Kerl handelt. Dennoch zieht etwas meine Aufmerksamkeit auf sich. Eine helle Stelle auf der Jacke. Ein Emblem mit großen Buchstaben. Das habe ich schon einmal gesehen und etwas in meiner Magengegend simmert. „Und?“ „Nein, denke nicht, dass er es ist. Ich wüsste auch nicht, ob ich ihn wirklich erkenne. Aber…“ „Aber was?“, drängt er sofort. „Mir kommt die Jacke bekannt vor.“ „Die Jacke? Wem gehört sie?“, bohrt Moore nach und ich nicke abwesend. Ich starre mich an dem Punkt fest, doch es verschwimmt nur mehr. Ich könnte mich irren. Er klopft ein paar Mal mit der flachen Hand auf den Küchentisch und holt vollends meine Aufmerksamkeit zurück. „Es könnte die Jacke meines Arbeitskollegen Steven Pfennig sein.“ Kapitel 29: Die Schwere leerer Worte ------------------------------------ Kapitel 29 Die Schwere leerer Worte „Bist du dir sicher?“ Ein gutes Maß an Skepsis schwingt in seiner Stimme mit. So, wie immer und so, wie es ihm sein einstiger Beruf eintrichterte. Moore nimmt mir das Bild aus der Hand und notiert den Namen meines Arbeitskollegen auf die Rückseite. In meinem Magen beginnt es zu simmern. All die Empfindungen bündeln sich mit einem Mal zu einem glühenden Stein. Es fällt mir schwer, mich nicht darauf zu konzentrieren. Es ist flau und unangenehm. Doch ich versuche es zu ignorieren, verschränke locker die Arme vor der Brust und gebe mir große Mühe, mich auf Moore zu fokussieren. „Nein, sicher bin ich mir nicht. Aber der Aufnäher dort, der kommt mir bekannt vor. Es könnte aber auch ein Schmierfleck sein“, erläutere ich meine Gedanken und übe Kritik an der Qualität der Aufnahme. Ich weiß es nicht hundertprozentig und habe ich den Patch erst beim letzten Aufeinandertreffen kurz gesehen. Er wirkte, als wäre er händisch dort angebracht worden. Auch auf dem Bild wirkt diese Stelle seltsam deplatziert. Zu plakativ. Trotz alledem will mir nicht einmal einfallen, was dort stand. „Hast du zufällig die Marke der Jacke erkannt?“ „Nein. Ich habe auch nicht darauf geachtet“ Ich hatte mehr damit zu tun, gegen meine Angst und die Wut anzukämpfen. Der glühende Stein pulsiert und man erkennt es deutlich auf meiner Haut. „Wie kommt es, dass du kein bisschen überrascht klingst“, merkt Moore an und kräuselt seine helle, buschige Augenbraue. „Überrascht?“, frage ich verwundert. „Ja, in dem Sinne, dass dein Arbeitskollege auf den Aufnahmen einer Überwachungskamera zu sehen sein könnte, die zeigen, wie er in ein Polizeiarchiv einbricht.“ Wenn er es so sagt, dann sollte ich wirklich überrascht sein, aber ich bin es nicht. Mein Blick huscht über den Tisch und über die Mappe, über Moores tippende Finger. Zurück zu ihm. Ich schaue ihm ins Gesicht, doch die hellen blau-grauen Augen lassen mich augenblicklich etwas zusammenschrumpfen. Sie haben schon immer eine gewisse Kühle in sich, eine Distanz, die auch jetzt noch allgegenwertig ist, auch wenn ich längst weiß, dass sich etwas geändert hat. „Ich bin überrascht…“, gebe ich wieder. Es ist nur ein hohles Echo. „Ja, du bist wahrlich die Definition eines dieser Schokoladeneier“, spottet er, „Ernsthaft Eleen, lass den Scheiß und spuck aus, was du zurückhältst. Was ist dieser Pfennig für einer? Du weißt doch etwas.“ Stevens Namen liest er nach einem schnellen Blick von dem beschriebenen Foto ab. „Er ist der Typ widerliches Wiesel“, bringe ich schlicht, aber verbittert hervor und wende mich von Moore ab, um die Emotionen zu verbergen, die sich mit Garantie in meinem Gesicht abzeichnen wie Theaterschminke. Ich öffne den Oberschrank, um ein paar Gläser hervorzuholen. Die Umschreibung Wiesel trifft Steven wirklich gut, aber es ist noch viel schlimmer. In all meinen Gliedern beginnt es zu kribbeln und das kühle Glas in meinen Händen ist vor Dumpfheit kaum zu spüren. „Kannst du das ein wenig ausführen?“, murrt der ehemalige Detective in seiner Brummbärmanier. „Will ich nicht“, watsche ich schnell ab. Moore schnaubt. Ich fülle beide Gläser mit Wasser und stelle eines nach sinnierendem Zögern vor dem älteren Mann ab. Er sieht mich nur an, folgt meinen Bewegungen mit hoher Intensität. Ich fühle mich fast ein wenig entblößt. „Okay. Was kann der Typ mit der ganzen Sache zu tun haben? Ist es Zufall? Wurde er dafür bezahlt? Was sind seine Intentionen?“, fährt er nach einem Moment fort. Ich weiß es nicht. Ich verstehe es nicht. Meine Schultern zucken lediglich nach, denn eine nützlichere Reaktion will sich gerade nicht ergeben. Mein Kopf fühlt sich schwer an und leer. Alles zur selben Zeit. Es ist eigenartig. „Verdammt noch mal, muss ich dir wirklich ständig alles aus der Nase ziehen? Er begeht doch keine derartige Straftat aus Spaß an der Freude“, wettert der alte Detective los. Die Lautstärke lässt mich zusammenfahren. „Vielleicht ja doch!“, gebe ich ebenso energisch retour und seufze passend dazu frustriert auf. „Menschen, die im Gefängnis gesessen haben, sind per Definition Verbrecher und begehen Verbrechen. Ununterbrochen, oder etwa nicht?“ „Er saß also ebenfalls im Gefängnis?“, stellt Moore ruhig fest und die Spannung im Raum schwillt ab. „Weswegen?“ „Ich weiß es nicht. Ich habe ihn nie gefragt und will es auch nicht wissen. Aber er… er ist wirklich sehr unangenehm.“ Allein die Erinnerungen an das Aufeinandertreffen mit Steven, an all die Vorkommnisse verdrehen mir die Eingeweide und ehe ich mich versehe, überwältigt mich das Unwohlsein, welches die gesamte Zeit schwelt und ich übergebe mich in der Spüle. Beim zweiten Würgen höre ich, wie der Stuhl über den Boden schabt und ich strecke instinktiv meine Hand nach hinten aus, um Moore von mir fern zu halt. Ich muss weiter atmen, auch wenn jeder Luftstrom den sauren Nebel in mein Inneres zieht. Ich spucke die Reste der Bitterkeit aus, spüle mir den Mund aus und säubere das Becken mit einem Schwall Wasser, ehe ich mich zu ihm umdrehe. Meine Beine zittern, ebenso wie meine Hände. Ich schaffe es nicht, ihn anzusehen, weil ich noch immer mit der zwiebelnden Säure kämpfe, die sich bis in meine Nase vorgearbeitet hat. Mein Rachen brennt und ich greife nach dem Glas Wasser, ohne etwas zu trinken. Ich will es nur festhalten und mich daran klammern, sodass der Schmerz mich daran erinnert, dass ich weiterkämpfen muss. „Er wurde letzte Woche suspendiert und vorgestern gekündigt“, erkläre ich zurückhaltend, ohne auf das vorige Geschehnis einzugehen. Moore will eine Antwort von mir und das ist das Beste, was ich ihm geben kann. „Sicher nicht ohne Grund.“ „Er hat andere Mitarbeiter schikaniert und… mich auch.“ „Schikaniert?“, hakt er nach und setzt das Verhör ruhig fort. Genau das ist es nämlich, ein Verhör. Schon die ganze verdammte Zeit. Doch Moore verwendet andere Taktiken als damals. Man könnte fast meinen, es ist Verständnis, Einfühlungsvermögen, Anteilnahme. Etwas, was er vor sieben Jahren nicht hatte. Vielleicht ist er auch nur in seinen alten Tagen weich geworden. „Eleen, sieh mich an!“, fordert er mich eindringlich auf, „Da ist noch mehr, oder? Was hat er genau getan?“ „Widerliche Dinge, über die ich nicht reden möchte und die nicht relevant sind.“ Sein Blick ist scharf, aber er sagt zunächst nichts. Die Stille ist noch viel schlimmer als die Fragerei. Nervös lasse ich das Glas in die andere Hand wechseln, ehe ich es zurück auf die Arbeitsplatte stelle. Moore höre ich seufzen und wie seine Hand über sein Gesicht fährt. Seine rauen Handflächen kratzen dabei über wettergegerbte Haut. „Gut, wenn es nicht relevant ist, wieso hast du ihn dann auf diesem Bild erkannt?“ Die Hand wandert von seinem Kinn zu dem Ausdruck der Aufnahme. Alle fünf Finger pressen sich kreisförmig über die verpixelte Gestalt. „Wieso kam er dir in den Sinn? Warum ausgerechnet er, Eleen?“ „Hab ich doch gesagt, ich habe die Jacke erkennt.“ Ich klinge patziger als beabsichtigt. Moore steht rückartig auf und knallt beide Hände energisch auf den Tisch. Der plötzliche Hall dringt tief in mich ein und wir starren uns regungslos an, während mein Puls schallend in den Ohren hämmert. Das Klingeln meines Telefons lässt uns beide zusammenzucken. Es liegt am anderen Ende der Arbeitsplatte, nur eine Armlänge von mir entfernt und wir visieren es beide an, rühren uns aber nicht. Ich brauche es auch nicht, denn ich erkenne die Nummer sofort und das hindert mich daran, das Telefonat anzunehmen. „Willst du nicht rangehen?“, fragt Moore mich. Ich schüttele schnell den Kopf, was mehr verrät, als es ein einfaches Nein getan hätte. Der Blick des alten Detectives flackert zwischen mir und dem Handy hin und her, bis es stoppt. Gleich darauf klingelt das Festnetztelefon. Im Abstand von nur wenigen Sekunden und ein Schauer durchdringt mich. Er ist kalt und stechend. Allein das Geräusch verursacht diese Reaktion in mir, selbst dann, wenn mir bewusst ist, dass keine Überraschung auf der anderen Seite der Leitung auf mich wartet, sondern Richard. Der Mann, den ich liebe. Zusätzlich spüre ich, wie mich Moore erneut mit diesem ganz bestimmten Blick bedenkt und ich weiß, dass ich für ihn ein offenes Buch bin. „Du solltest wirklich rangehen, sonst kommt er noch auf blöde Ideen“, offenbart Moore und greift nach dem Glas, welche vor ihm auf dem Tisch abgestellt ist. Er nippt am Wasser und wir beide Schlucken im selben Moment, aber nicht aus dem gleichen Grund. Ich strecke meine Hand nach dem Handy aus und ziehe es an mich heran, als das Festnetztelefon verstummt. „Ich werde mich etwas über Steven Pfennig erkundigen und Eleen, begreife endlich, dass, so lange das Kontaktverbot besteht, du dich von ihm fernhalten musst. Er sich auch von dir. Ich weiß, dass er dafür kämpft, es aufzuheben, aber so lange…seid vernünftig.“ „Sie lassen niemals locker, oder?“, frage ich mit gesenkter Stimme. Selbst ich kann hören, wie ausgelaugt ich klinge. „Du solltest langsam wissen, dass ich ein starkes Gerechtigkeitsgefühl habe und ich kann Dinge nicht so stehen lassen, vor allem dann nicht, wenn es Unschuldige trifft.“ Unschuld. Ich wiederhole das Wort ein paar Mal in meinem Kopf, doch es fühlt sich leer an. Ohne Bestand. Was bedeutet Unschuld? Existiert sie überhaupt? Ich bin mir da nicht mehr so sicher. „Eleen?“ Ich sehe auf, als er meinen Namen nennt und meine Grübeleien beendet. „Siehst du dich selbst so? Als Verbrecher? Du hast vorhin…“ „Spielt das eine Rolle?“, unterbreche ich ihn. Moore seufzt. Laut und tief. Es fühlt sich an, als würde er mir damit all die Luft aus der Lunge ziehen und zurückbleibt nichts als Leere. Ein dumpfes Nichts. „Du warst im Grunde noch ein Kind und ihr beide, du und Richard, habt einfach falsche Entscheidungen getroffen, aber das, was damals passiert ist, war im Grund ein schrecklicher… Unfall. Das weißt du?“ Die Pause, die er vor dem Wort Unfall macht, erzeugt eine ganze eigene Bedeutung und macht die gewollte Schlichtung nichtig. Er glaubt es noch immer nicht. Wie sollte er auch? Ein Unfall? Das hatte auch Richard gesagt. Und ja, wir haben gestritten. Wir haben oft gestritten, wenn wir mit Richards Vater allein gewesen sind, doch diesmal war es anders. Es war emotionaler als sonst, heftiger als vormals. Es gab so viel Hass, so viele verletzende Worte und es tat so weh. Er war so wütend gewesen. So wütend, dass es jetzt noch brennt wie endloses Feuer, wenn ich mich daran zurückerinnere. Renard hat uns nicht verstanden und wollte es auch nie. Er wollte das wir gehorchen. Allen voran Richard. Jedes Mal, wenn ich daran denke, spielt sich die Szenerie langsamer in meinem Kopf ab. Jedes Detail. Jede Reaktion. Jedes Wort. Sie werden deutlicher. Vielleicht, weil ich nicht mehr versuche, es zu verdrängen. Als Renard Paddock fiel, blieb die Zeit stehen. Dass er stürzte, haben wir niemals gewollt, niemals geplant und niemals verwunden. Ein Unfall. Vielleicht. Je länger ich darüber nachdenke, umso sicherer bin ich mir, dass wir es hätten kommen sehen müssen. Doch hätten wir es verhindern können? Damals hatte niemand geglaubt, dass es ein Unfall gewesen war und es wollte auch niemand glauben. Auch Moore nicht. Die Tatsache, dass der damalige Detective auch jetzt noch hinter uns herjagt, zeigt mir, dass sein Kopf dort hängen geblieben ist. Egal, wie sehr er mir versichern will, dass es anders wäre. Egal, wie sehr er mir zur Seite steht. Auch er versteht es nicht. Mein Telefon meldet sich erneut und das laute Geräusch brandet am Horizont der Stille, die uns umgibt. Moore versteht, dass ich ihm keine Antwort geben werde und zieht, während er einatmet, seine Schultern resigniert in die Höhe. „Mach keine Dummheiten!“ Eine kurze Warnung, ehe er die Küche verlässt. Fast eine Bitte. Ich folge ihm nicht, sondern lausche den Geräuschen, die er macht. Moores Schritte. Ein Schlüssel, der in der Jackentasche klappert. Die Türklinge und das Klicken des Schlosses. Erst als die Tür hinter Moore zu fällt, strecke ich meine Hand nach dem Telefon aus und tippe die Benachrichtigung an, die mir die entgangenen Anrufe zeigt. Es ist nur ein Sekundenbruchteil. Nur der Hauch eines Gedankens, der mich mahnt, es lieber nicht zu tun. Doch er ist nicht schnell genug. Er ist nicht wahrhaftig genug. Ich betätige längst die Wahlwiederholung und es ist Richards Stimme, die mich begrüßt, die mich sanft bettet und in einem Mantel der Bedachtsamkeit hüllt, den ich nach all den verwirrenden Enthüllungen und Geschehnissen dringend nötig habe. Ricks Stimme ist voller Aufregung und sanfter Hast, die sich aus der enormen Geduld speist, die er bis zu meinem Rückruf aufbringen musste. Er hat es noch nie gemocht, zu warten. Vielleicht aber begleitet auch ihn die Angst, dass ich den Mut verliere und aufgebe. Denn ich hatte es auch schon getan. Aufgegeben. Einen Rückzieher gemacht. Doch es hatte mir nichts gebracht, nur weiteren Schmerz. Und ich will keinen Schmerz. Ich will, dass mich Richards Stimme schweben lässt, dass mich seine Erzählungen zum Lachen bringen. Egal, ob es das stumpfsinnige Geplänkel über Kollegen ist oder die Beschreibung seines zerkochten Mittagessens. So wie heute. Ich will genau das. Ich will es so sehr. Und ich bin damit nicht allein. „Wann sehen wir uns wieder?“ Ich höre die Sehnsucht in seiner Stimme. Sie ist wie ein Schwarm Schmetterlinge, der mir entgegenfliegt und mich in Wärme, Farbe und Flüstern hüllt. Doch sie ist ebenso furchterfüllt. „Moore war eben hier“, sage ich schlicht und kann das schwere Raunen am anderen Ende der Leitung kaum überhören. „Und deswegen wirst du mir gleich sagen, dass wir uns lieber nicht sehen sollten. Nicht wahr?“ „Es ist das, was mir Moore rät.“ Und die Vernunft. Sie war schon immer schwach, bei uns beiden. Obwohl er nichts dergleichen sagt, geistern die kindischen Motzereien, die Rick gewöhnlich über den alternden Detective ergießt, wie saurer Regen durch meinen Kopf. „Ist es auch das, was du willst?“ „Das weißt du doch“, antworte ich, ohne zu zögern. „Aber dich bedrückt doch noch mehr, oder?“ „Waren harte Tage, das ist alles“, sage ich schlicht in der Hoffnung, dass er es auf sich beruhen lässt. Denn ich spüre schon jetzt den twistenden Hader in meinem Inneren, der keineswegs Unruhe schaffen will und sich dennoch danach sehnt, es mit ihm zu teilen. „Dann rede mit mir. Bitte, Lee. Versuch nicht alles allein zu lösen, das musst du nicht.“ Ich seufze schwermütig. Doch es sind nicht die Worte selbst, die es hervorbringen, sondern der flehende Ton. Es ist nicht selbstverständlich für mich, darüber zu reden. Ich bin es nicht gewöhnt, jemanden von meinem Tag zu berichten. Es sei denn, Ewan ruft an und versucht aus meinen Erzählungen herauszufiltern, ob ich mich unauffällig verhalten habe. Nicht selten habe ich vieles weggelassen, um genau das zu verhindern. „Meinem Arbeitskollegen wurde gekündigt.“ „Dem, der dir Ärger gemacht hat? Gut so!“ Auf den Punkt. Er hat es nicht vergessen und unwillkürlich schaue ich auf die leicht gerötete Haut meiner Fingerknöchel. Die einzigen Hinweise auf eine der Auseinandersetzungen, die Steven und ich in den letzten Wochen hatten. Rick hatte mich damals danach gefragt und ich bin wie immer ausgewichen. Damals war es nicht wichtig gewesen. Nicht für uns. Doch jetzt? Sollte ich ihm von den Vermutungen erzählen? Von Jaron? Würde er es verstehen? Würde er es objektiv betrachten können? Ich zweifle daran. Und das mit Steven? Ich verstehe selbst noch nicht, was mein großkotziger Arbeitskollege eigentlich für ein Problem mit mir hat. Ex-Kollege, wohl gemerkt. Ich habe, seit ich in der Firma bin, bei niemanden die Absicht verfolgt, Gespräche zu führen oder in irgendeiner Form Sympathien zu wecken. Ich habe auch niemanden böswillig verprellt. Denke ich zu mindestens. Ich wollte keine Kontakte knüpfen und die Meisten haben es schnell gemerkt, nachdem ich zu Beginn jede nett gemeinte Einladung zum Feierabendtrunk ebenso freundlich ablehnte. Erst Kaley hat meine Abwehr gebrochen und das auch nur, weil ich das dringende Bedürfnis nach etwas Normalität verspürte und diese gab sie mir, gibt sie mir. Mit ihr ist es anders. Steven war zwar immer da, aber hatte meiner Erinnerung nach nie eine direkte Zurückweisung von mir erhalten, die diese Abneigung hätte hervorrufen können. Wieso tut er das? Was habe ich ihm getan? Ich begreife es einfach nicht und es macht mir Kopfschmerzen, je länger ich darüber nachdenke. „Was wollte Moore schon wieder bei dir?“, fragt Rick ruhig, aber reißt mich aus den wirbelnden Gedankenparkour, in den ich mich manövriere. Ich bin mir nicht sicher, wie lange mein Schweigen anhielt und wobei es Rick auffiel. Es ist mein Name, der so sanft über seine Lippen perlt, dass es mir Gänsehaut beschert. „Polizist spielen“, entgegne ich locker. „Hat er neue Hinweise gefunden?“ „Ein paar, aber bisher hat sich der Nebel noch nicht gelichtet, wie man so schön sagt. Es sind Vermutungen und…“ Ich führe es nicht weiter, sondern seufze nur auf, weil es in meinem Kopf sofort weiter kreiselt. „Da ist der Alte ganz in seinem Element, nicht wahr?“, ächzt Richard süffisant und lässt mich lächeln. Es ist so absurd, aber wahr, deswegen schmunzele ich weiter. Es ist ein mattest Lächeln. „Rick“, sage ich nach einem Moment des Schweigens, „Wird es irgendwann aufhören?“ Ich weiß selbst nicht genau, was ich damit meine, was ich von ihm hören möchte. Was ich will, dass er mir sagt, denn es liegt nicht in seiner Hand. „Dass Moore ständig seine Nase in unsere Belange steckt? Es muss, sonst trete ich ihm in den Arsch!“, beginnt er und ich möchte gerade erklären, dass ich das nicht meine, als er fortfährt. „Und alles andere auch. Es muss. Eleen, ich setze alles daran, dass keiner mehr an dich herankommen kann. Meine Anwälte sagen, dass sie trotz Mutters Einwände eine Teilrevidierung herbeiführen können. Ich habe bereits eine Stellungnahme formuliert.“ „Was bedeutet das?“ „Dass wir versuchen, das Kontaktverbot und das Annäherungsverbot vor allem von meiner Seite für mich aufzuheben, sodass wir uns sehen können.“ „Glaubst du, dass das eine gute Idee ist? Deine Mutter…“ „Meine Mutter bestimmt nicht über mein Leben, Eleen, nicht mehr. All die Jahre habe ich mich wegen Schuldgefühlen in ihre Wunschvorstellungen pressen lassen und damit ist Schluss.“ „Aber es ist eine Weisung vom Gericht.“ „Alles ist anfechtbar.“ In seiner Welt vielleicht. Doch in meiner nicht. „Lee, ich brauche dieses Verbot nicht. Ich will es nicht und gebe nicht auf.“ Ich glaube es ihm und die Gewissheit, ega, wie schwindend sie ist, lässt mich lächeln. „Du bist verrückt, das weißt du?“ „Und dumm und starrsinnig, idiotisch, nervig.“ Mir fallen noch weitaus mehr Adjektive ein, die in diese Aufzählung passen und ich komme nicht umher, leise lachend zu schnaufen, „Aber vor allem verliebt, also, was soll ich deiner Meinung nach tun?“. Verliebt. Ich erinnere mich daran, wie er es zum ersten Mal sagte. Es war nicht mal ernstgemeint. Nur so dahingesagt, im Eifer des Gefechts und getüncht mit jugendlicher Hast. Doch damals, wie heute hatte es etwas in mir verändert. Wir waren damals zwölf Jahre alt. Es hatte zwei Tage lang geregnet. Das feuchte Gras unter unseren Füßen gab nach, als wir schnellen Schrittes zum Ufer rannten. Die letzten Tropfen des Regens legten sich auf unsere Haut wie ein Versprechen und schmeckten nach der Freiheit, die ich niemals wieder so spürte, wie in diesen Augenblicken. In einer Senke sammelten sich die Regenwürmer und Richard hatte die fixe Idee, zu angeln. Ich weiß bis heute nicht, ob es wirklich klug war. Doch wir taten es. Wir taten das, was wir wollten. Wir standen auf dem morschen Steg mit Stöckern, Schnur und zwei Haken, die Rick von seinem Nachbarn geklaut hatte. Es war ein Desaster. Es war perfekt. Die Hälfte der Regenwürmer ging durch unsere Unfähigkeit, sie an den Angelruten zu befestigen, baden. Genauso wie ich, nachdem ich versuchte, den einen Fisch, den Richard nach Ewigkeiten fing, mit den Händen zu greifen. Erstaunlicherweise entkam er nicht, denn die Stelle, in die ich fiel, war nicht tief. Die Überraschung, dass ich fiel, war nur eine minimale Erschütterung. Ich konnte im Grunde stehen, kämpfte mich mit dem Fisch in der Hand aufrecht und das Erste, was ich sah, war Richard, der schon im nächsten Moment neben mir im Wasser landete. Als auch er auftauchte, war das Wasser um uns herum aufgewühlt und schlammig. Wir lachten uns an. Er packte mein Gesicht mit beiden Händen und in dem Moment ließ ich den Fisch los. Doch er war sowieso längst vergessen. Mit besorgtem Gesicht zog Rick Algen aus meinen Haaren, bis er sich nicht mehr zusammenreißen konnte und laut lachend meine Ähnlichkeit mit dem Ding aus dem Sumpf verkündete. Er wäre verliebt, sagte er. Laut und klar. Lachend. Er sagte es und strich mir dabei Schlamm von der Nasespitze. Er hatte schon immer ein Faible für seltsame Dinge. „Bist du noch da?“, dringt Richards flehende Stimme durch das Telefon. Die Erinnerung verblasst, aber verweilt simmernd in meiner Brust. „Ich höre dich“, erwidere ich sanft. „Bleibst du wirklich bei mir?“ „Ich war eigentlich nie weg.“ „Ich wünschte es wäre so.“ Ich auch. Richards liebevolle Worte lassen mich lächeln, obgleich die Erinnerungen graue Töne tragen. Nach einem Moment höre ich ein weiteres Handy bei Richard klingeln. Mit einem leisen Seufzen erklärt mir, dass es Rahel ist. Er muss rangehen. Ich bekräftige ihn und lege nach einer gewünschten guten Nacht auf. Nach einem Blick in den Kühlschrank entscheide ich mich dafür, ein paar Eier zu braten. Ich krame Butter, Milch und die Eier hervor. Diese schlage ich in einer Tasse mit der Milch auf und schaue mich nach der Pfanne um. Ich suche fast fünf Minuten lang, ohne sie zu finden. Ich hatte eine, dessen bin ich mir sicher. Ewan hatte darin das chinesische Essen warm gemacht. Allerdings erinnere ich mich nicht mehr daran, ob ich oder er sie weggeräumt hat. Ich sehe mich ein weiteres Mal verwirrt um und fühle mich in meiner eigenen Küche eher hilflos als hilfreich. Vielleicht funktioniert es in einem Topf auch. Ich nehme mir einen der Töpfe mit Stiel und stellen diese auf die kleinste Herdplatte. Erneut durchbricht das Läuten des Festnetztelefons die angestrengte Stille und ich schaue erschrocken auf. Doch ehe ich mich dazu durchringen kann, ins Wohnzimmer zugehen, den Anruf anzunehmen oder auch nur die Nummer vom Display abzulesen, hört es auch schon auf. Das Erstarren folgt im Sekundenbruchteil und gleich zu Beginn. Es fühlt sich an wie der Fall tausender Steine, die erst ein knallendes Geräusch um mich herum verursachen und mir im nächsten Augenblick die Luft zum Atmen rauben. So etwas Belangloses, wie das Klingeln des Telefons, löst diese Reaktion in mir aus. Wann hat das ein Ende? Dann regt sich mein Handy neben mir, mit einer simplen Nachricht und ich atme aus. Ich schaue zu der Tasse mit den aufgeschlagenen Eiern und seufze fahrig. Die Textmitteilung ist von Ewan, der mich fragt, wieso ich nicht ans Telefon gehen. Er mahnt mich an, fragt aber auch, wie es mir geht und ob ich mich richtig verhalte. Er benutzt allerdings andere Worte und ringt mir damit einen frustrierten Seufzer heraus. Ich dachte, dass nach unserem Gespräch bei meinem Bruder ein wenig mehr Verständnis entstanden ist, mehr.... Ich schaffe es nicht, meine Gedanken zu Ende zu führen, denn es trudelt eine weitere Nachricht ein, die mich den Rest komplett vergessen lässt. Es ist eine Einladung zum Geburtstagsessen meiner Nichte. Ein Essen mit der Familie. Meiner Familie. Sicher wird unsere Mutter dabei sein. Vielleicht sogar Erik und seine Kinder. Ewans Frau. Schlagartig erlischt der Funken Freude und wird durch eine bittere Verunsicherung ersetzt. Ich frage mich, ob es wirklich mit ihnen abgesprochen ist, dass ich kommen soll oder ob Ewan es allein entschieden hat. Zuzutrauen wäre es ihm. -War unter der Dusche. Melde mich morgen bei dir-, schreibe ich ihm zurück, lege das Handy schwungvoll zur Seite und mache danach das, was ich laut Nachricht bereits getan habe. Ich gehe duschen, finde noch ein paar weiße Flecken der Farbe an meinen Sohlen, an den Unterarmen und am Kiefer. Als ich fertig bin, falle ich nur mit einem Handtuch umwickelt ins Bett. Mein Magen erinnert mich daran, dass es besser wäre, etwas zu essen und das noch immer die aufgeschlagenen Eier in der Küche stehen. Mit einem kehligen Raunen setze ich mich wieder auf, vollführe ein paar kreisende Bewegungen mit meinem Kopf und ziehe mir ein paar Klamotten über, ehe ich mein Experiment starte und die Rühreier im Topf zubereite. Es funktioniert. Hitze ist Hitze. Wieso auch nicht. Die Eier sind so unperfekt wie immer und es schmeckt so unaufgeregt, wie ich mich schon lange nicht mehr gefühlt habe. Danach kehre ich zurück ins Bett. Gegen sieben Uhr treffe ich am nächsten Morgen in der Firma ein. Ein neuer Wachmann sitzt am Empfang und er will sogar meinen Mitarbeiterausweis sehen, ehe er mich weiter ins Gebäude hineinlässt. „Du bist ja schon wieder so früh dran“, drücke ich meine Verwunderung über die Anwesenheit des jungen Auszubildenen aus, der bereits am Tisch sitzt als ich den Mitarbeiterraum betrete. Vor ihm liegt eine hellblaue Brotbox mit angebissener Schnitte und ein paar Cocktailtomaten. Daneben steht eine Thermoskanne mit dem Logo eines Krankenhauses. Kai schaut auf und wirkt, obwohl er mich ansieht, vollkommen in seinen Gedanken versunken. Er schweigt. „Guten Morgen?“, starte ich einen zweiten Versuch und erst jetzt scheint er mich wahrzunehmen. „Eleen? Oh, Hallo. Entschuldige, ich habe geträumt.“ „Habe ich gemerkt. Schlecht geschlafen?“, frage ich und gehe zu meinem Schrank. Von hier aus kann ich den jungen Mann nicht mehr sehen, nur wenn ich mich zurücklehne. Als ich erneut keine Antwort bekomme, mache ich genau das. Kai sieht immer noch in meine Richtung, doch er sieht mich nicht. Ich gehe wieder zurück, stupse den jungen Mann diesmal an und lege meine Hand auf seiner Schulter ab. „Hey, fühlst du dich nicht gut?“, erkundige ich mich. Seine Augenringe sind tief und seine Nase ist leicht gerötet. Allem in allem sieht er aus, wie immer. „Doch!“, folgt es schnell, „Ich bin nur etwas müde. Die Stimmung in der Truppe war gestern ziemlich schlecht.“ Ich nicke verstehend. Auch ich habe es gemerkt, auch wenn ich versucht habe, allen anderen bestmöglich aus dem Weg zu gehen. Immerhin habe ich meine eigenen Aufgaben und kann unabhängig agieren. Für Kai ist es nicht möglich. „Sie reden.“ „Lass sie einfach.“ Kai nickt unschlüssig, verunsichert und dennoch wendet er sich wieder seinem Frühstück zu. Mit genauso wenig Elan, wie zuvor. Er nimmt einen kleinen Bissen vom Brot, kaut lediglich etwas vom Rand ab und seufzt. Ich öffne meinen Spind, wechsele in meine Arbeitsklamotten und gehe zur Theke, um mir einen Kaffee zu kochen. Als das Wasser kocht, gieße ich den Satz auf und atme das Aroma tief ein. „Eleen?“ „Hm?“ „Ich habe Steven gestern gesehen… hier… vor dem Gebäude.“ Ich halte unwillkürlich den Atem an und spüre, wie sich Eiseskälte in meine Eingeweide einnistet und verklumpt. „Wann?“, frage ich, als der kühle Schauer in meiner Magengrube zu einem flauen, hohlen Schein verschwimmt. Es wäre Wunschdenken, zu glauben, dass es Steven nach dem Anschlag auf meine Tür ruhen lässt. „In der Mittagspause.“ „Wollte er etwas von dir? Ist er dir zu nahe gekommen?“ Kai schüttelt kurz aber energisch den Kopf. Er weicht meinem Blick aus und ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich alles war. „Versuch ihm aus dem Weg, okay? Wenn du ihn siehst, dreh um und lauf in die entgegengesetzte Richtung.“ „Und wenn ich das nicht kann?“, erkundigt er sich. Die Tür geht auf und der Kopf des Vorarbeiters sticht hervor. „Ah, de Faro, Sie sind schon da. Komm Sie bitte kurz mit“, ruft er uns entgegen, ehe ich Kai antworten kann. Er winkt mich zu sich. Ich sehe zu Kai und folge meinem Vorgesetzten mit einem Nicken ins Büro. Als ich das lichtarme Kellerzimmer betrete, sehe ich gerade, wie er sich schwerseufzend auf den Stuhl hinter seinem Schreibtisch fallen lässt. Er deutet mir an, die Tür zu schließen und meine Knie bekunden ihre Unruhe. Zum Glück sind meine Hosen weit und schlucken jedes Zittern, denn ich schaffe es nicht, es zu unterdrücken. Eine der Halogen-Leuchten flackert als ich mich auf einen der anderen Stühle setze. Der Vorarbeiter beobachtet mich, reibt sich mit den Zähnen über die Haut seiner Unterlippe bis sie rot ist. „Wie geht es Ihnen?“, fragt er letztendlich, presst es förmlich hervor, so als hätte es ihm unsagbar viel Kraft gekostet. Ihm scheint die Situation unangenehmer als mir, was seltsamerweise meine Nervosität mindert. „Ganz gut…“ Ich entscheide mich für eine Halbwahrheit, mit dem Wissen, dass eine ehrliche Antwort keinem von uns beidem hilft. „Okay, okay. Sie wissen…“ „Ja.“, unterbreche ich ihn mit einem höflichen Lächeln. Ich will es einfach nur abkürzen, nicke bekräftigend und erhebe mich bereits vom Stuhl. „Moment, ich habe noch eine Kleinigkeit zu besprechen…“ „Okay.“ „Wie Sie schon mitbekommen haben, werden wir uns standorttechnisch verändern. Das hier habe ich in der letzten Woche bekommen…und ich möchte, dass Sie einen Blick darauf werfen.“ Er reicht mir ein locker zusammengefasstes Dossier. Darunter sind Planskizzen der Heizungsanlage, die dazugehörige Beschreibung. Die Skizzen des Verlaufs der Klimaanlage. „Die Firma hat große Renovierungspläne und das sind Unterlagen, die gefunden worden. Noch weiß keiner, ob das konkrete IST- oder SOLL- Zustände sind. Der Chef möchte wissen, ob wir damit arbeiten können oder ob wir eine umfassende Inspektion benötigen.“ Ich versuche mich genauer zu erinnern, aber einen so detaillierten Blick habe ich damals nicht hinter die Kulissen geworfen. Ein Gutachter oder Inspekteur bin ich auch nicht. „Ich bin mir nicht sicher, aber das Fabrikat, was hier benannt ist, ist dort nicht installiert“, gebe ich nach einem zweiten Blick zu bedenken. „Sehen Sie“, erwidert er schlicht. Ich bin mir nicht sicher, was er genau von mir erwartet. „Kommende Woche wird alles überprüft. Es wäre gut, wenn Sie in den nächsten Tage Vorort sind, vorabschauen und etwas Ordnung schaffen.“ „Okay.“ Mich beschleicht die Ahnung, dass sie mich absichtlich aus dem Spannungspool ziehen, um weiteres unkontrolliertes Aufbäumen zu verhindern. Scheinbar sind die von Kai angesprochenen Unruhen sogar bis zum Vorarbeiter durchgedrungen. Ich nicke und verspüre keinen Drang, mich dagegen auszusprechen. Am Vormittag ruft mich Kaleys Kollegin an. Das Thermostat spinnt. Schon wieder. Ich habe vergessen, mich nach der Bestellung des neuen Moduls zu erkundigen, welches ich vor einer Weile beantragt habe. Ich fixiere das lockere Kabel diesmal mit einer Kabelklemme und einem speziellen Isolierband, während ich mich beiläufig nach Kaleys Abwesenheit erkundige. Sie hat zusammen mit dem Chef Gerald Barson einen Außentermin. Dadurch angeregt schnattert mir die plauderfreudige Kollegin eine weitere halbe Stunde das Ohr ab. Ich nicke, lächele und äußere hin und wieder meine Zustimmung oder Ablehnung. Mehr ist nicht nötig. Ich glaube, es wäre ihr auch vollkommen egal, wenn ich ihr auf Chinesisch antworte. Nach einem auffälligen Blick auf das Handy und kurzen uneindeutigen Gemurmel verabschiede ich mich mit dem Hinweis auf weitere Arbeit. Ich nutze den methodischen Leerlauf und entscheide mich dafür, zum neuen Standort zu fahren. Nachdem ich alles zusammengepackt habe, bin ich auch schon verschwunden und hinterlasse lediglich eine Notiz für die Kollegen an meinem Spind. Noch immer sitzt der neue Wächter an der Pforte, nickt mir zu, als ich durch den Haupteingang nach draußen gehe. Mein Blick wandert über vorbeieilende Gesichter, gehetzte Körper. Die Anspannung ist greifbar, überall und ich spüre einen Schauer, als mir beim Einsteigen in den Bus der kühle Hauch von Zigarettenrauch in die Nase steigt. Obwohl ich die Strecke nur ein paar Mal gefahren bin, denke ich kaum darüber nach, wohin ich zugehen habe und stehe nach kurzer Zeit vor dem Gebäudekomplex. Es ist bereits dunkel als ich den Gebäudekomplex wieder verlasse. Ich habe die Zeit vergessen, da es sich erstaunlich entspannt angefühlt hat, fernab der eigentlichen Routine zu arbeiten und keinem der bekannten Gesichter zu begegnen. Vielleicht sollte ich mich nach einem neuen Job umsehen. Mein Handy zeigt mir mehrere Anrufe in Abwesenheit. Ich habe es vorhin auf lautlos gestellt und nichts mitbekommen. Ich betätige den Seitenknopf und hole den Sound zurück. Prompt klingelt es erneut. „Ignorierst du mich jetzt auch?“, blufft Ewan mich direkt an. „Natürlich nicht. Und wieso auch?“ Ich ignoriere niemanden. „Wieso gehst du dann nicht ans Festnetztelefon?“ „Weil ich gerade erst mit der Arbeit fertig geworden bin, okay. Es gab viel zu tun. Ich war noch gar nicht in der Wohnung. Kannst du also bitte aufhören, mich anzumotzen.“ In diesem Moment würde ich alles für einen elektromagnetischen Impuls geben, der alle digitalen Geräte lahmlegt. Und ich sollte meine Festnetznummer endlich kündigen. „Okay, das erklärt aber nicht, wieso du nicht bei dem Termin mit dem Bewährungshelfer warst.“ „Shit. Shit!“, erschrocken werfe ich einen Blick auf das Handydisplay. Die anderen Anrufe waren sicher von ihm. Ich habe den Termin komplett vergessen. „Ruf ihn sofort an, Eleen. Gib ihm keinen Grund, Fragen zu stellen.“ Ich presse noch ein leises Ja hervor, ehe Ewan auflegt. Ich scrolle durch die Liste der verpassten Anrufe. Drei sind von meinem Bewährungshelfer und ich drücke sofort die Wahlwiederholung. Es klingelt. Lange und nervenzerrend. Ich erreiche ihn erst auf dem Handy, auf dem Weg nach Hause. Er geht wohl nur ran, weil er meine Nummer erkennt oder meinen Namen gespeichert hat. Ich entschuldige mich als erstes, erläutere ihm die Situation und entschuldige mich erneut. Hintergründig klingt er verständnisvoll, doch übrig bleibt die gewollte Strenge. Es wird einen Vermerk in meiner Akte geben, das äußert er mit klarer Deutlichkeit. Ich entschuldige mich ein weiteres Mal und kann nur inständig hoffen, dass er mir wirklich glaubt. Ich habe sonst keine Verfehlungen. Keine, von denen er weiß. Wir vereinbaren einen neuen Termin in der kommenden Woche und ich versichere ihm, dass ich es nicht wieder vergesse. Von der kalten Luft draußen und der Trockenen in dem nahezu leerstehenden Gebäudekomplex sind meine Lippen rau und rissig. Selbst die leichte Berührung meiner Fingerspitzen löst einen leichten Schmerz aus. Ich beende das Gespräch, streiche mir mit der Hand durch die Haare und nibbele gedankenverloren an einem trockenen Fetzen meiner Lippe. Das Telefon behalte ich in der Hand und es fühlt sich schwer an. Es hätte schlimmer kommen können, aber ich verstehe es als Weckruf. Wenn gleich auch Wut entfacht. Sie ist schon immer da. Doch nun fühle ich sie. Wut darüber, keine Kontrolle mehr über mein eignes Leben zu haben. Wut darüber, mich machtlos zu fühlen. Hilflos zu sein. Wütend zu sein. Ich will endlich mein Leben zurück. Ich tippe ohne nachzudenken. Doch es ist nicht Richards Nummer, die plötzlich im Display steht. Ich lasse den Daumen über das grüne Hörersymbol schweben, ohne es zu betätigen. Meine Atmung ist nur noch flach und leise, doch das Pulsieren meines Herzens dafür umso lauter. Es ist eine schlechte Idee. Ich sollte es nicht tun. Ich starre so lange auf die eingetippte Nummer, bis sich das Display wieder verdunkelt. Es ist eine unglaublich schlechte Idee. Ich sollte es wirklich nicht tun. Trotz dieser Gedanken kippt mein Daumen zurück auf die glatte Oberfläche und das Display leuchtet auf. Dann bestätige ich den Anrufbutton. Es klingelt. Ich atme ein. Es klingelt ein zweites Mal. Ich atme aus. Eine männliche Stimme meldet sich. „Miers.“ Kapitel 30: Die Mauern, die nicht fallen ---------------------------------------- Kapitel 30 Die Mauern, die nicht fallen Ich schweige, weil sich in nur einer Sekunde mein Hals zu schnürt. Die Stimme lähmt meinen Verstand, jeden Muskel und doch ist jede Faser meines Körpers hellwach. Auch dadurch bleibt für mich kein Zweifel zurück. Die Stimme. Sie ist es. Sie verfolgt mich seit Wochen. Sie ist Teil meiner Albträume, selbst am Tag. Er ist es wirklich. Jaron Miers. Die Sicherheit darüber ist so klar und greifbar, dass es mir Angst macht. Sie ist so gewiss, dass ich mich hilfloser und wütender fühle als zuvor. Rasch schweige ich, weil mich das Bedürfnis kitzelt, es ihm gleich zu tun. Ihm ein Stück dieses Albtraums zurückzugeben. Sei es nur für diesen Augenblick. „Hallo?“, fragt Jaron schnaufend, fahrig und ich atme aus, schwer und gehaltvoll, da ich erst jetzt bemerke, dass ich die Luft angehalten habe, „Hallo? Wer ist da?“ Ungeduldig. Die Stille breitet sich aus. Gerade ist sie meine Waffe. Sie ist scharf und schwer. Ich genieße es, die Unruhe zu hören, die sich bei ihm durch ein schneller werdendes Sprachtempo äußert. Die Verunsicherung, die Furcht, die mitschwingt. Sie ist bittersüß. Wir alle spüren sie in solchen Momenten. Wegen Jaron fühle ich sie seit Wochen. Ich sage auch weiterhin nichts, atme aber laut aus, sodass er es hören muss und stelle mir vor, wie er in diesem Moment das Telefon vom Ohr nimmt und die Nummer betrachtet, die auf seinem Bildschirm erscheint. Ob er sie erkennt? Ob er es versteht? Ich höre lediglich das leise Rascheln. „Verdammt, was soll das?“, bellt er. Seine Stimme färbt sich mit Ärger und Zorn. Dennoch, scheinbar ahnt er etwas, denn er legt nicht auf. „Wie fühlt es sich an?“, erfrage ich leise und erwarte keine Antwort darauf. Auf der anderen Seite der Leitung höre ich, wie der Angerufene schnaufend ausatmet. „Na sieh mal an, Eleen de Faro.“ Mein Name klingt wie ein Schimpfwort, so wie er ihn betont. Kein Wundern. Kein Leugnen. Alles fühlt sich eiskalt an. „Du hast dich nicht verändert, Jaron, kein bisschen. Spielst immer noch Spielchen nach deinem Belieben…fühlst dich überlegen, denn du glaubst mit allem im Recht zu sein. Genauso wie damals“, sage ich ruhig und bin doch ein wenig erstaunt, dass er noch immer nicht den geringsten Versuch unternimmt, die Situation zu relativieren. „Es hat sich wohl keiner von uns beiden verändert, denn du denkst ja nach wie vor, dass dich keine Schuld trifft. Allerdings hätte ich nicht gedacht, dass du den Mumm hast, hier anzurufen. Woher hast du die Nummer? Wie bist du darauf gekommen?“ Er klingt amüsiert und herablassend. Ich fühle meinen inneren Tumult wachsen. Wie er sich ausbreitet und mich mehr und mehr vereinnahmt. Es ist wie ein bleibendes Kitzeln in meinem Nacken. „Ich verstehe es nicht. Wieso tust du das? Was versprichst du dir davon? Glaubst du wirklich, dass Richard es gutheißt, was du tust?“, versuche ich abzulenken, denn ich möchte keineswegs mehr preisgeben als nötig oder jemand anderen mit hineinziehen. „Nein, sicher nicht, aber Richard hat keine Ahnung und das ist das Problem! Er ist blind, wenn es um dich geht. Er war es schon immer.“ „Und deswegen mimst du den zigarettenrauchenden Rächer und versuchst mich zu terrorisieren? Bist du noch ganz bei Trost? Mit welchem Ziel?" „Ihm ging es besser ohne dich. Er hat jetzt eine Familie. Eine kleine Tochter. Er hätte eine gute Frau. Deine Taten haben mehr zerstört, als du denkst und jetzt fährst du unbeirrt damit fort, unsere Leben kaputt zu machen“, klagt er mich weiter an und weicht meiner Frage aus. „Hast du jemals Richard gefragt, was er will? Du weißt überhaupt nicht, wovon du redest.“ „Oh doch, das weiß ich sehr wohl. Denn ich war in den letzten Jahren an seiner Seite. Mir hat er sein Herz ausgeschüttet. Und ich habe die Gerichtsaufzeichnung studiert, die Akten gelesen. Jede einzelne und ich habe an vorderster Front mitbekommen, was alles zerbrochen ist.“ „Für wen hältst du dich eigentlich?“, entgegne ich schwachen Herzens, „Ich saß im Gefängnis und…“ „Und du saßt nicht annähernd lange genug!“, unterbricht er mich lautstark, „Eine Jugendstrafe für einen Mord! In welcher Welt ist das gerecht?“ Ein schnaufendes Lachen entflieht seinen Lippen. Danach höre ich, wie ein Feuerzeug entzündet wird, „Sag schon, woher hast du diese Nummer?“ Er klingt durch den herausströmenden Rauch blechern, bis zum Schluss nur noch der Spott den Ton einfärbt. „Du musst damit aufhören…“ „Und du hättest in deinem Kaff bleiben sollen.“ Damit legt er auf. Seine Worte hallen wie ein Echo durch meinen Kopf und eine Gewissheit entblättert sich unwillkürlich. Ich habe zu lange über die Realität hinweggesehen. Habe zu lange versucht zu hoffen, zwecklos, wo ich doch den Mauern niemals entkommen bin. Als meine Bewährungsphase einsetzte, hatte ich genau zwei Möglichkeiten. In das Dorf zu zurückzukehren, in dem ich aufgewachsen bin oder in die Stadt zugehen und in der Anonymität zu verschwinden. Keine schwere Wahl. Ich wollte die wissenden, richtenden Blicke nicht spüren. Wollte nicht hören, was ich nicht hören sollte, weil es trotz all der Zeit stetiger Konsens des allgegenwertigen Getuschels blieb. Keine der mir gegebenen Optionen hätte mich weitgenug fortgebracht, um den Erinnerungen zu entrinnen. Keine davon hätte mir mein altes unbeschwertes Leben zurückgebracht. Ein stetiger Kontakt zu meiner Familie war dennoch als Auflage anzusehen, damit ich mich nicht heimlich absetze. Dabei hätte ich über sowas niemals nachgedacht. Wohin hätte ich auch gehen sollen? Ich war 21 Jahre alt, mit der Lebenserfahrung eines 17-jährigen, der hinter Gefängniswänden erwachsen wurde. Dennoch fand der Übergangsbewährungshelfer das Jobangebot bei Barson Immobilien Management GmbH. Das Vorstellungsgespräch verlief widererwartend gut. Ich fand eine Wohnung. Schneller als gedacht. Mein Leben setzte sich fort, als wäre das alles nur das dunkle Kapitel einer Lebensgeschichte, wie sie jeder hat. Mit der Anonymität, nach der ich mich damals sehnte, hatte ich zunächst wahrhaftig das Gefühl, entwachsen zu können. Ich plante nicht wiederzukommen oder dort anzuknüpfen, wo mein Leben ins Wanken geriet. Gleichwohl sehnte ich mich nach ihm, mit jedem Tag, mit jeder Stunde und in jeder Sekunde. Wahrscheinlich ist es mein Schicksal. Der Raum für Möglichkeiten bestand zu jeder Zeit. Hätte ich es gewollt. Ich habe mich so sehr danach gesehnt, ihn wieder zusehen, aber ich hätte es mir niemals erlaubt. Jarons Vorwurf ist falsch. Unfair. Gemein. Denn nichts davon habe ich gewollt. Meine Finger sind mittlerweile eisig kalt und mein Telefon fällt bei dem Versuch, es zu verstauen, zu Boden. Ich klaube es schwerfällig auf, drehe es umher. Ein kleines Stück des Rahmens ist abgeplatzt. Der Akku hat sich gelöst und fällt beinahe raus. Der Seufzer ist tonlos und ich spüre ihn einzig durch das feine Kitzeln des Luftzugs, der über meine Lippen flieht. Das Ganze macht mich wahnsinnig. Ich sollte meinen Bewährungshelfer nach therapeutischer Unterstützung fragen. Doch was sollte ich einem Therapeuten sagen, ohne mich selbst in die Bredouille zu bringen? Was würde es bringen, wenn ich nicht ehrlich sein kann? Nach einem Blick in den dunklen Himmel, der mir keine Antworten auf meine Fragen schenkt, schaffe ich es, das leicht ramponierte und ausgefallene Handy in die Tasche zustecken. Obwohl ich ausgelaugt und geschafft bin, verspüre ich keinerlei Wunsch, in die Wohnung zufahren. Ich steige etliche Stationen vorher aus und laufe durch die angeregten Straßen bis ich an dem kleinen, unscheinbaren Kino vorbeikomme. Bereits im Eingangsbereich rieche ich die buttrige Sensation von Popcorn und schokoliertem Karamell. Witzigerweise denke ich dabei nie an meine Kindheit, so wie es andere tun. Die süßen, klebrigen Speisen interessieren mich nicht und die Qual der Entscheidung wird mir zusätzlich genommen, da in diesem Augenblick nur ein einziger Film läuft. Ein Horrorfilm und es geht um Geister, verfluchte Orte. Es fühlt sich seltsam passend an, auch wenn meine Geister keine übernatürlichen Phänomene sind, sondern schlicht und einfach menschliche Unzulänglichkeiten. Doch beides kann einen heimsuchen. Beides kann einem den Verstand rauben. Ist es eigenartig, dass ich mir fortwährend wünschte, dass es auch in meinem Fall spukende Geister wären? Ihnen würde ich vielleicht entkommen können, denn die Realität und die damit einhergehenden Konsequenzen und Wahrheiten sind etwas, aus dem ich nicht fliehen kann. Aus einem dringenden Fluchtbedürfnis heraus, kaufe ich eine Karte und sitze letztendlich einzig, mit drei weiteren Personen in dem kleinen Kinosaal. Der Film hat bereits begonnen und ich lasse mich von dem unspektakulären Szenenbild einsaugen, wie flüchtendes, scheues Wild von der Abenddämmerung. Ich habe nicht viel Erfahrung mit Gruselfilmen. Doch das andauernde Rauschen der brechenden Wellen in der Bucht haben für mich eher etwas beruhigendes, was nicht mal der panische Schrei aus der Anfangsszene bricht. Ein verfluchter Leuchtturm. Das tragische Ende eines Familienmitglieds. Ich wäre ein guter Leuchtturmwächter. Der Film ist zu gradlinig, um ansatzweise spannend zu sein. Eher fade und platt. Dennoch war er eine gute Ablenkung und ich spüre für einen Moment Frieden, als ich das Kino verlasse. Die Straßen sind ruhiger, aber nicht menschenleer. Der kühle Wind auf meiner Haut hat etwas heilsames und ich gerate erst wieder in den Strudel meiner schwelenden Gedanken, als ich mich mit den Einschlägen in meiner Wohnungstür konfrontiert sehe. Ich muss der Hausverwaltung schreiben und den Schaden melden. Wahrscheinlich müssen sie die Tür ersetzen und es werden Kosten für mich übrigbleiben. Ich krame den alten Laptop heraus, denn ich von Ewan bekommen habe und tippe einen kurzen Text zusammen. Ich verfasse zusätzlich eine E-Mail, hänge das Schreiben und die Bilder aus meinem Handy mit ran und schicke das Ganze zu meiner Vermietungsfirma. Da ich keinen eigenen Drucker besitze, ziehe ich die Datei auf einen USB-Stick und hoffe, dass ich morgen dazu komme, es auszudrucken. Nach einer Dusche gehe ich zu Bett und schlafe bis zum Morgen durch. Den gesamten Vormittag bin ich am neuen Standort und erhalte Zugang zu den restlichen Unterlagen, die im Lager im Keller abgelegt sind. Auch hier finde ich ein heilloses Durcheinander vor. Zwar sind die Ordner beschriftet, aber sie sind überwiegend unvollständig und längst nicht mehr aktuell. Die Aufbewahrungsfrist für buchungsrelevante Unterlagen liegt bei 10 Jahren. Diese hier sind alle älter und teilweise so verblichen, dass ich die Buchstaben und Zahlen kaum erkennen kann. Gegen 12 Uhr fahre ich zurück. Den Kopierer, den wir nutzen können, ist defekt. Also suche ich nach Kaley und erfahre, dass sie bis zum Nachmittag mit Barson zusammen in Meetings sitzt. Ich bitte ihre Kollegin ihr mitzuteilen, dass ich hier war und lasse letztendlich noch eine kurze Notiz da, in der ich ihr mitteile, dass ich zum Feierabend draußen auf sie warte. Ich lege auch den USB-Stick dazu und bitte sie darum, mir einen Ausdruck von dem Schreiben zu machen. „Na, bist du bereit für den ultimativen Sushi-Rausch?“, ruft mir die schöne Assistentin entgegen, als sie enthusiastisch das Bürogebäude verlässt und beschwingt auf mich zu kommt. Sie sieht heute wieder zauberhaft aus, trägt eine schwarz-weiß karierte Hose und eine schlichte mintgrüne Bluse mit auffälligen Stoffgewabbel im Frontbereich. Nennt man das Rüschen? Ich habe keine Ahnung, aber steht ihr ausgesprochen gut. Ihr langer Mantel ist offen, als könnte sie mit ihrer inneren Wärme jeder Kälte trotzen. Kaleys Lächeln schmilzt unumstößlich die Polkappen. Schlecht für die Pinguine und Eisbären. Gut für mich. „Wenn du damit eine überraschende Nacht über der Kloschüssel meinst, dann nicht… Wollten wir nicht Suppe essen?“, erfrage ich skeptisch und bereue meinen schlechten Scherz direkt. Kaley zieht eine Schnute, die durch ihre schönen vollen Lippen viel einnehmender wirkt, als bei jedem anderen, den ich kenne. „Ich verspreche dir, dass nichts von deinen voreingenommen Horrorklischee eintreten wird. Der Laden, in dem wir essen, ist Top Tier. Spitzenqualität.“, versichert sie mir. „Und ja, wir wollten eigentlich Ramen essen. Das werden wir auch.“ Ich würde ihr alles glauben. Gleichwohl beruhigt es mich, dass sie mir die Option auf Suppe bestätigt. „Brauchen wir ein Taxi?“ „Wir können laufen.“ „Bist du sicher?“, erkundige ich mich nach einem Blick auf ihre hohen, unbequem wirkenden Schuhe, mit denen sie mehr oder weniger Richards Größe erreicht. Das leichte Aufblicken ist mir damit seltsam vertraut. „Pff, ich könnte einen Marathon auf diesen Schuhen laufen…“, entgegnet sie gewitzt und selbstsicher, „Was allerdings voraussetzt, dass ich einen Marathon durchhalten könnte.“ Ihr hübschen braunen Augen formen sich zu Halbmonden und sie kichert., ehe sie richtig lacht. Kaleys herzliches, tiefes Lachen wärmt mich wie eine kuschelige Decke in einer kühlen Winternacht. Sie greift nach meinem Arm und hakt sich unten. „Können wir?“, fragt sie schmunzelnd, „Wir müssen die Straße runter und irgendwann links abbiegen.“ Wir brauchen etwas länger, weil das Linksabbiegen eigentlich rechts meinte. Also durchlaufen wir zwei Blöcke mehr. Es erklärt sich damit, dass sie beim vorigen Mal von der anderen Seite der Stadt kam. Ich störe mich an keiner dieser zusätzlichen Minuten, denn Kaley füllt sie mit spannenden kleinen Anekdoten über einen Mädelsabend, den sie vor einer Woche mit ihren ehemaligen Kommilitonen hatte. Ich habe zu keinen meiner ehemaligen Klassenkameraden Kontakt und wäre vermutlich auch nicht der Mensch, der in solchen Momenten eine angenehme Erfahrung erkennt. Aber ihr zuzuhören, macht mir Spaß. Ihre funkelnden Augen zu beobachten, wenn sie sich weiten, verdrehen oder hin und her rollen, während ihre schlanken Hände passende Gesten vollführen. Kaley redet mit ihrem gesamten Körper und das macht mir große Freude. Im Restaurant bekommen wir einen schönen Platz am Fenster. Es riecht nach Sojasoße und vielen anderen Aromen, die ich nicht sofort identifizieren kann. Aus der offenen Küche kommen Unmengen an Geräuschen. Das Klacken von Messern auf Holz, stark erhitztes Öl, welches brutzelt. Es ist berauschend und allein vom Zuhören bekomme ich großen Appetit. Auf dem Tisch stehen kleine Keramiken mit der Aufschrift Sesam, Mirin und Chili. Eine Phiole mit Sojasoße. Die Einrichtung des Restaurants ist schlicht, mit dunklen Holztönen und beigen Akzenten. Reduziert und ästhetisch. Der Boden unserer Sitzecke und auch der, der anderen Plätze, ist mit festen Strohmatten ausgelegt. Kaley zieht direkt die Schuhe aus, ehe sie sich setzt. Ich schaue ihr interessiert und ohne spezifischen Gedanken dabei zu. „In den meisten ost- und südasiatischen Ländern zieht man sich die Schuhe aus, bevor man das Haus oder die Wohnung betritt“, klärt sie mich auf, „Das hat also ganz und gar nichts damit zu tun, dass mir die Füße wehtun.“ Es ist nur eine gemurmelte Feststellung, die erst durch das Zwinkern zum Geständnis wird. „Wäre mir nie in den Sinn gekommen“, gebe ich schuldfrei von mir. Ein Kellner begrüßt uns mit sanfter, leiser Stimme und verteilt die Karten. Ein älterer Herr mit feinem Akzent und einem stetigen Lächeln auf seinen Lippen. Die Speisekarte besteht aus nur wenigen Seiten, was mich überrascht, bis mir Kaley erklärt, dass es für Sushi noch eine gesonderte Karte gibt. Trotz der übersichtlichen Seitenanzahl scheint Ramen höchst komplex zu sein. Es beginnt schon bei der Wahl der Brühe. Er erklärt es uns mit der Geduld einer zengeerdeten, jahrhundertealten Kiefer. Ich entscheide mich für eine Variante, die Miso als Grundlage hat. Kaley bestellt eine Sorte deren Name ich nach zehn Sekunden vergessen habe, dazu Edamame und Algensalat. Ich lasse mir von ihr den Rest erklären und sie besteht darauf, dass ich alles koste. Unsere Suppen kommen mit Stäbchen und ich bin für einen Augenblick komplett irritiert. So lange bis uns der Kellner erklärt, dass man sie direkt aus der Schüssel schlürft. Die Stäbchen nutzt man für die Einlage und die Nudeln. Auch Kaley braucht einen Moment, bis sie das Holzbesteck korrekt und stabil hält. Ich bin beruhigt, dass auch sie ihre Probleme damit hat, sie zu benutzen. „Herrje, er hat ihm tatsächlich eingeredet, dass die Heizungen frühstens im November aktiviert werden, dass er das Wochenende durchalten muss, statt ihm zusagen, dass die externe Monteurfirma unfähig ist, die Ersatzteile für die veraltete Heizung aufzutreiben. Eine Heizung, die längst hätte ausgetauscht werden müssen. Kannst du dir das vorstellen? Alles Verbrecher.“ „Ist dir eigentlich bewusst, dass du auch in einem Haus voller Straftäter arbeitest? Im mehrfachen Sinn." „Wenn du wüsstest“; erwidert sie und rollt mit den schönen dunklen Augen, „Und tatsächlich weiß ich, dass ... Barson Immobilien Management ist an einer Kooperative beteiligt, die jungen Straftätern die Eingliederung in den Arbeitsalltag erleichtern soll. Ich höre häufiger, wie Gerald mit Bewährungshelfern telefoniert und er ist an den Bewerbungsprozessen der Mitarbeiter beteiligt." „Das wusste ich nicht“, erkläre ich überrascht, „Wieso das?“ Kurzum, mein Bewährungshelfer hat mir nichts dergleichen mitgeteilt. Vielleicht damit ich keine voreiligen Schlüsse ziehe. Ich war schon eingeschüchtert genug. „Barsons ältester Sohn ist sehr früh mit dem Strafvollzug in Kontakt gekommen. Er hatte viele Jugendstrafen, saß mehrfach im Gefängnis und kam dort mit Drogen in Kontakt. Es war sehr schwer für ihn, aus dem Kreislauf auszubrechen und dann wurde er überall abgelehnt.“ „Hatte?", hake ich irritiert nach. „Ja, er starb vor 5 Jahren an einer Überdosis und deswegen hat Barson eine Möglichkeit gesucht, jungen Menschen mit solch einem Hintergrund eine Chance zu geben. Er hat auch mit dir persönlich gesprochen, oder?“ Sofern ich mich recht erinnere, kam Kaley erst ein paar Monate nach mir in das Unternehmen. „Ja, aber er war damals noch nicht in der Chefposition. Ehrlich gesagt kann ich mich kaum an das Gespräch erinnern.“ Ich weiß als einziges noch, dass er mich gefragt hat, was meine Ziele sind und ich antwortete, dass ich einzig ein ganz normales ruhiges Leben führen will, dass ich meine Arbeit gut machen will. Das gilt auch heute noch. Doch der Grund, aus dem ich mich daran erinnere, ist, dass er daraufhin sagte, dass ich durchaus mehr von meinem Leben erwarten darf. Er war sehr freundlich zu mir gewesen, aufgeschlossen und ohne Berührungsängste. Die Firma wurde damals noch von Gerald Barson Senior geleitet. Ihm bin ich nie begegnet. Es erklärt aber, wieso auch Steven einen Fuß in der Firma fassen konnte. Steven. Allein sein Name verringert meinen Appetit erheblich und mit einem Mal perlt sich die Angst hervor, dass er seine dumme Obsession auch auf Kaley übertragen könnte. Sie hat ihm schon mehrfach Paroli geboten. Sie hat seinen Ausschluss aus der Firma initiiert. Das Beben in meiner Magengegend ist erschütternd und die Unruhe bricht nun auch formuliert hervor. „Hey, du wurdest nicht weiter von Steven belästigt, oder?" „Nein, du etwa?“, fragt sie erschrocken zurück und vergisst dabei den Happen Algensalat, den sie sich gerade in den Mund geschaufelt hat. Ein schwarzes Sesamkorn bleibt an ihrer Oberlippe kleben und obwohl ihre Zunge dreimal ihren Mund entlang streicht, verschwindet er nicht. „Nein, gesehen habe ich ihn nicht.“, antworte ich wahrheitsgemäß. Nur seine unangenehme Präsenz habe ich gespürt, doch das sage ich nicht. „Kai meinte, er hat ihn vor dem Gebäude stehen sehen. Vielleicht hat er nur noch etwas abgeholt... Ich weiß nicht. Aber ich mache mir Sorgen, dass er dir zu nahekommt. Bitte, versuch nicht, mit ihm zu argumentieren, wenn du ihn siehst, okay?“, flehe ich fast. Sie mustert mein Gesicht eindringlich, sucht und findet meine Gewissheit. „Hat das was mit dem Schreiben zu tun, was ich für dich ausdrucken sollte?“ Sie greift in ihre Tasche, holt einen unverschlossenen Briefumschlag hervor und reicht ihn mir. „Ich habe noch mal drüber gelesen. Reine Gewohnheit“, rechtfertigt sie sich beschämt. Ich bin ihr nicht böse. Ich hätte nur gern verhindert, dass sie die richtigen Schlüsse zieht. „Er hat deine Wohnungstür demoliert? Ernsthaft? Wie krank ist der Typ? Und woher, um Himmelswillen, weiß er, wo du wohnst?“ „Er hat irgendwann meine Personalakte geklaut“, sage ich schlicht. Mich rauszureden würde nichts bringen, also lasse ich es. „Eleen, das hättest du melden müssen.“ Ich fische mit den Stäbchen nach etwas Fleisch und zucke resigniert mit den Schultern. Zu meinem Erstaunen fällt das geangelte Stück nicht zurück in die Suppe. Dennoch esse ich es nicht. „Es hätte Aussage gegen Aussage gestanden. Ich hatte doch keine Beweise, dass er es war. Nur eine Vermutung. Was hätte es also gebracht?“, erwidere ich, „Zumal ich zu dem Zeitpunkt nicht wusste, warum er es macht. Ich dachte, er ist einfach nur ein dummes Arschloch.“ Was ohne Frage zutrifft, egal, mit welcher Motivation er es letztendlich getan hat. Unweigerlich wandern meine Gedanken zu Jaron. Jaron Miers. Ich verstehe noch immer nicht, wie Steven und Jaron miteinander in Verbindung stehen, aber sie tun es. Steven ist in das Polizeiarchiv eingebrochen. Er hat mich während der Arbeit terrorisiert. Hat er meine Personalakte für Jaron besorgt? Macht Steven für Jaron die Drecksarbeit? Wahrscheinlich ist er in Jarons Auftrag bei mir in die Wohnung eingebrochen und hat meine Sachen durchwühlt. Den Schauer, der sich über meinen Körper zieht, spüre ich sogar in den Zähnen. „Wo bist du mit deinen Gedanken?“, fragt Kaley und justiert die Stäbchen in ihrer Hand. „Überall und nirgends…“, umschreibe ich und hoffe, dass sie es nicht als beleidigend auffasst, weil ich ihr nicht meine gesamte Aufmerksamkeit zukommen lasse. „Tut mir leid.“ „Wieso entschuldigst du dich? Dafür, dass du ein Mensch bist, dem im Moment viel auferlegt ist? Das ist wirklich unnötig. Möchtest du darüber reden?“ „Es ist nicht unbedingt einfach, die richtigen Worte zu finden, weißt du?“ „Du kannst es aber versuchen…“ Kaley sieht mich eindringlich aber mit sanftem Blick an. Ich halte nicht stand und suche einen anderen Punkt, zu dem ich hinschauen kann. „Ja, ich mache in der letzten Zeit nichts anderes, als zu versuchen...“, perlt es bitter über meine Lippen. Ich versuche zu funktionieren, versuche zu verstehen und versuche nicht daran zu zerbrechen. Nur weiß ich langsam nicht mehr, wie viele Versuche ich noch habe. „Weißt du, manchmal möchte auch ich einfach nur laut schreien…“ „Und tust du es dann auch?“, frage ich mehr spaßig als ernst. Ich schaffe es zur selben Zeit ein Stück Möhre mit den Stäbchen zu erwischen. Auch ich kenne das Gefühl, laut schreien zu wollen. So lange zu brüllen, bis einem die Lunge brennt, nur um zu spüren, dass man lebt. „Darauf kannst du wetten!“ Kaleys energischer Ausruf sorgt dafür, dass die Karotte zurück in die Suppe plumpst. „Meistens brülle ich in mein Kopfkissen. Manchmal jedoch gehe ich abends noch schwimmen und schreie Unterwasser. Aber ich habe mich einmal ganz schrecklich verschluckt und danach da gehangen, wie ein Kugelfisch. Nun bin ich vorsichtig.“ Nun ist es an mir, zu lachen. Ich habe vor Jahren mal Kugelfische im Aquarium gesehen. Es war herrlich. „Du solltest besser aufpassen, das kann gefährlich werden“, kommentiere ich, nachdem ich mich endlich beruhigt habe und sehe sie besonnen lächeln. Kaley wirkt zufrieden. „Was? Hab ich mich bekleckert?“ Sie schüttelt sogleich ihren Kopf, während ich alle offensichtlichen Stellen checke und letztendlich mit der Hand über die untere Gesichtspartie wische. Nur für alle Fälle. „Nein, nein… ich mag es einfach, wenn du lachst“, sagt sie schlicht, widmet sich wieder ihrer Suppe und summt leise. Eine vertraute Melodie, die ich jedoch nicht zuordnen kann. Es ist auch nicht wichtig, denn einzig das Gefühl, welches es erzeugt, ist von Bedeutung. Ich fühle mich wohl. „Danke, Kaley.“ „Wofür?“, fragt sie lächelnd. „Dafür, dass du mir Gründe zum Lachen gibst.“ „Immer gern.“ Kaley lechzt nach einem Dessert, nachdem unsere Schüsseln geleert sind und ich zusätzlich zu meiner Suppe noch ihre Beilagen verspeist habe. Die grünen Bohnen mag ich, der Algensalat ist grenzwertig. Trotz der Mengen fühle ich mich nicht überfressen. So willige ich ein und wir durchforsten die Speisekarte nach Süßspeisen. Es gibt Eis, Frittiertes und Gebackenes. Kaley quietscht freudig auf, als sie etwas Bestimmtes auf der Karte entdeckt, was mir, wie alles andere auch, nichts sagt. Doch wer bin ich, ihr diesen Spaß auszureden. „Wow, ich bin so satt. Ich hätte die Mochis nicht mehr essen dürfen“, ächzt sie, während ich ihr in den Mantel helfe und nach ihr auf die Straße trete. Sie sieht aus, als würde sie es beim nächsten Mal genauso machen. Ich fand die Dinger auch toll, obwohl mir nicht klar ist, woraus sie bestehen. Die Konsistenz war sonderbar und dann seltsam anziehend. Klebrig. Wir haben jede Sorte auf der Karte probiert und geteilt. Ich mochte besonders den Grünen, der mit Schokosahne gefüllt war. Er war leicht herb und nicht allzu süß. „Reisen wir das nächste Mal nach Südamerika? Brasilianisch vielleicht. Lass uns Trés leches- Kuchen essen.“ „Erst beim nächsten Mal?“, frage ich schmunzelnd. Wir laufen gemeinsam Richtung Hauptstraße zurück. „Ja, natürlich, aber man darf doch schon träumen. Ich habe viel Spaß dabei, neue Dinge mit dir zu probieren. Wusstest du, dass wir auch einen kleinen Streetfoodmarkt haben? Jeden zweiten Samstag. Lauter asiatische Leckerei und auch vieles anderes. Da müssen wir unbedingt mal zusammen hingehen.“ „Sehr gern.“ Ich bleibe an einem der Taxipoints stehen und sehe mich nach einem Taxi um. Doch es ist keines zusehen. Ohne abzuwarten, wählt Kaley die abgebildete Nummer und mein Blick fällt auf einen huschenden Körper, der auf der gegenüberliegenden Straßenseite in den Schatten verschwindet. Vielleicht nur Einbildung. Nur wieder Gespenster. Trotzdem merke, ich wie der raue Stoff meines Pullovers deutlicher über meine Arme kratzt. „Hey?“ Erst Kaleys warme, tiefe Stimme reißt mich aus dem Gedanken und dann spüre ich schon, wie sie mir kurz den Kopf streichelt. Es ist eine außerordentlich sanfte Geste, voller Zuneigung und Verständnis. Aber sie zeugt auch von Mitleid. Nicht mehr als eine Nuance, ein feiner Wink und doch legt es sich an die Oberfläche. Das Taxi fährt vor. Kaley steigt ein, nachdem wir uns voreinander verabschieden und ich ihr versichere, dass wir beim nächsten Mal Kuchen essen. Ich winke meiner schönen Kollegin zum Abschied. Danach fällt mein Blick zurück zu der Stelle, an der ich eben noch den Schatten wähnte. Es ist niemand zu sehen. Die Nachricht einer unbekannten Nummer taucht auf meinem Display auf und ich bleibe auf der Stelle stehen. Ort. Datum. Zeit und die schnellen Worte: Treff mich dort. Kein Name. Ich fühle, wie sich die nebulöse Schwere einer bevorstehenden Entscheidung in meiner Magengegend manifestiert, wie ein rostiger, stumpfer Dolch. Als ich die Adresse im Handy eingebe, wird mir die Bar ausgegeben, in der mich einmal mit Rick getroffen habe. Ein Zufall? Absicht? Jaron wird die Bar sicher kennen. Vielleicht waren er und Richard gemeinsam dort gewesen. Das macht mich alles fertig und jeder Nerv in meinem Körper schreit danach, das Ganze zu ignorieren, nicht mehr daran zu denken. Der nächste Tag läuft ab wie das blinde Wandeln im Nebel. Der Dunst ist dick und schwer, betäubt meine Wahrnehmung und manchmal, nur für einen Augenblick lang, fehlt mir die Kraft zu atmen. Dennoch erledige ich all die Dinge, die schon seit Wochen auf meiner To-Do-Liste stehen. Einkaufen. Aufräumen. Ich putze die halbe Wohnung und auch noch mal den Treppenabsatz, um die letzten weißen Rückstände zu tilgen. Ich gebe mein Bestes, nicht nachzudenken, versuche nicht in der Starre der Ereignisse zu verweilen. Doch als ich das schmutzige Wasser in die Toilette schütte, denke ich an die Nachricht der unbekannten Nummer. Als ich die Kühlschranktür schließe, nachdem ich die letzten der gekauften Lebensmittel darin verstaue, gehe ich automatisch das Telefonat mit Jaron durch. Wort für Wort. Als ich die zweite Waschmaschine ausräume, weiß ich, dass nur zwei Stunden übrig sind, bis das Treffen stattfindet. Ich weiß, dass es eine dumme Idee ist, während ich meine Schuhe zubinde, denn das ungute Gefühl in meinem Bauch wird zu einem festgezurrten Knoten. Vor dem Lokal bleibe ich stehen. Dark Orange. Hier haben Rick und ich uns getroffen, kurz nachdem ich nicht so zufällig Rahel über den Weg gelaufen bin. Sie gibt mir die Schuld daran, dass ihre Beziehung mit Richard nicht hielt. Jaron sagt im Grunde das Gleiche. Der Kerl und Bekannte von Rick, der schon beim letzten Mal hier gewesen ist, inspiziert gerade ausgiebig einen der Bierhähne. Als er ihn betätigt, entsteht schäumender Wust und der Kompressor grunzt und fiept. Das deutet auf die Dichtungen hin. Ricks Bekannter flucht. Ich erinnere mich nicht an seinen Namen. Die Musik in der Bar wird lauter und beinahe überhöre ich den Anruf. Ein Blick auf das Display zeigt mir Detektive Moores Telefonnummer. Ich bahne mir einen Weg zum Ausgang und gehe kurz bevor ich nach draußen komme erst ran. Die laute Musik hallt nach und ich muss mich erst ein paar Schritte entfernen, um Moore verstehen zu können. „Na endlich. Eleen, hörst du mich? Wieso ist es so laut… Wo bist du?“, fragt der ältere Mann unnötig aufgebracht und gleichbleibend genervt. Ich verdrehe die Augen, aber die freche Antwort bleibt mir im Halse stecken, als ich bei dem Versuch, eine halbwegs ruhige Stelle zu finden, den Bürgersteig entlang blicke. „Ich kann jetzt nicht“, sage ich nach kurzem Zögern ins Telefon und fixiere die Gestalt, die auf mich zu kommt. Es ist nicht Jaron und ich erstarre. „Wehe, du legst auf, de Faro. Hör mir zu, dein alter Kollege wurde neben Körperverletzung und Diebstahl auch mehrfach wegen Stalking angezeigt. Es konnte ihm nicht ein einziges Mal 100-prozentig nachgewiesen werden, da immer Aussage gegen Aussage stand. Doch was ich gelesen habe, zeichnet ein klares Bild. Er ist gefährlich. Halte dich von ihm fern. Verstehst du mich?“ „Verstehe“, erwidere ich schwach und stehe Steven direkt gegenüber. Kapitel 31: Der Funken Wahrheit in jeder Lüge --------------------------------------------- Kapitel 31 Der Funken Wahrheit in jeder Lüge Ich lasse das Handy sinken, ohne den Anruf des alten Detectives zu beenden und behalte es in der Hand, sodass das Display nach hinten zeigt. Ich hoffe inständig, dass Moore dranbleibt und den Wink versteht. „Steven“, bemerke ich absichtlich laut, schaffe es aber nicht, den aufgeregten Hüpfer aus meiner Stimme zu verbannen. Auch nicht, das eruptive Beben meiner Hände zu unterdrücken. Als er die letzten Schritte tilgt, verbraucht es auch den übrigen Rest meiner Fassung und ich bleibe nur stehen, weil mich die Angst lähmt. „Ellen… Elien… Eileen… oh warte, Lee oder? So war es doch, nicht wahr? Ich bin neugierig. Ist dieser Richard der Einzige, der dich so nennt? Geht dir dabei einer ab?“, faselt Steven freimütig vor sich hin, beugt sich leicht vor und ich rieche dieses penetrante Eau de Toilette an ihm, welches einem nachts Albträume beschert. Jeder Muskel in meinem Körper reagiert darauf, spannt sich an, zuckt und schreit. Ich frage nicht, woher er es weiß, antworte auf keine seiner Fragen, sondern beobachte ihn mit Obacht. Jedes Wort ruft ein Beben der furchterfüllten Abscheu hervor. „Hat´s dir die Sprache verschlagen? Wie schade, aber was solls, wir haben gleich genug Zeit zum Plaudern. Aber es gibt noch eine kleine Planänderung.“ Steven zieht einen Schlüsselbund hervor und lässt diesen klimpern. Ich erkenne ein paar der Schlüssel wieder. „Wurdest du jetzt zum Lieferjungen degradiert?“, spotte ich vollkommen deplatziert, „Ach nein, was sag ich, das Botenäffchen warst du ja schon vorher.“ „Fuck you, de Faro!“, bricht es in einem kurzen Anflug von Wut aus ihm heraus, die jedoch sogleich wieder abflaut und als ein Grinsen im schmalen Gesicht des anderen Mannes verbleibt. Er erinnert mich an einen Geier, der sich euphorisch auf das vor ihm liegende Aas stürzt. Nun fügt sich auch der unangenehme Gestank an ihm ins Bild ein. „Dann war die Nachricht von dir? Du hast mich zum Dark Orange gelockt? Jaron hat rausbekommen, dass ich mich hier schon mal mit Richard getroffen habe und er hat´s dir erzählt?“, frage ich laut und öffentlich deutlich, sodass Moore es mitbekommt. Steven grinst und wiegt seinen Kopf hin und her, ohne eindeutig zu antworten. „Kannst du dir vorstellen, Jaron denkt wirklich, ich habe geplaudert. Ich! Weißt du, nach all den Gefallen, die ich ihm getan habe, sollte er es doch besser wissen.“ Gefallen. Er nennt es Gefallen. Das Eindringen in meine Privatsphäre. Die Torturen. Die Angst. „Na na na, du bist nicht der verfickte Moralapostel, der du vorgibst zu sein. Du hast es verdient, das wissen wir beide.“ „Und warum hast du es getan? Hat es dir nicht gereicht, mich auf Arbeit zu nerven? Was bringt es dir? Geld? Das kann nicht alles sein.“, frage ich zögerlich und doch mit nervenzerrender Neugier, denn genau das verstehe ich nicht. Das Warum. Die Motive. Strenggenommen gilt es für beide, Jaron und Steven. „Würde es dich verwundern, wenn es nur das Geld ist? Nichts weiter?“ Ich glaube ihm nicht. „Genug geplauscht. Lauf schon los, sonst kommen wir zu spät zu unserem Dreier“, verlangt er mit wachsender Ungeduld und weicht so meinen Fragen aus. „Nein“, sage ich ruhig. Im Inneren schreie ich es laut aus und balle als einzigen Hinweis meine freie Hand zu einer Faust. Ich will nicht mit ihm gehen, will keine Sekunde länger mit ihm allein sein. Alles in mir weigert sich. Die gestaltlose Vorahnung voller Dunkelheit ist wie ein unangenehmes Beben auf meiner Haut. Das Wanken einzelner Härchen, welches zum tobenden Kaventsmann wird, je länger meine Vorstellung arbeitet. „Nein? Du wirst“, mahnt er an und kein Körnchen Scherz bleibt zurück. Seine Stimme gleicht einer Lawine, deren Druck meinen Schädel spaltetet. „Sag mir erst, wohin es geht.“ Als er erneut anfängt, mischt sich gespielte Ruhe in seinen Tonfall. Das alarmiert mich nur noch mehr. „Eine Bar ist doch kein Ort, um sich in Ruhe zu unterhalten, findest du nicht auch? Zu viele Leute. Zu Laut. Vorwärts!“ Er stößt mich nach vorn und ich stolpere ein paar Schritte voran. Daraufhin bleibe ich stehen, spüre ihn noch im selben Moment dicht am Rücken und wie er meinen Arm packt. Es zwiebelt bis in meine Fingerspitzen und vorsichtig schiebe ich mein Handy in die Jackentasche. „Denk nicht mal daran, irgendeinen Scheiß zu machen. Du weißt, dass nicht lange diskutiert wird bei Verstößen gegen die Bewährungsauflagen. Eins, zwei und du bist wieder im Knast und diesmal wirst du gefickt, dafür würde ich sorgen“, droht er ruhig, „Weißt du, das Witzige ist, in unseren Personalakten stehen auch die Namen unserer Bewährungshelfer. Glaub es oder nicht, aber ich war überrascht als ich feststellte, dass wir auch das gemeinsam haben. Ich könnte überaus interessante Bilder mit ihm teilen. Gleich hier und jetzt. Also, ein letztes Mal. Geh! Sonst werde ich ungemütlich.“ Die Bilder beweisen, dass ich mehrfach grob gegen die Auflagen verstoßen habe. Richard zu sehen, ist ein schwerwiegender Verstoß, der einen Widerruf der Bewährung zur Folge hätte. Für die vier ausgesetzten Jahre müsste ich dann zurück ins Gefängnis. Es fühlt sich langsam wie ein unausweichliches Schicksal an. Nichtsdestotrotz gehorche ich, laufe los und bin erleichtert, als ich zwischen mir und Steven mehr Entfernung bringen kann. Allein seine Nähe ist ein Hagelschauer an Bitternis und Angstgefühl. Abwechselnd und gleichzeitig. Immerwährend. „Wohin gehen wir?“, erfrage ich erneut. „Falls es dir noch nicht aufgefallen ist, der neue Firmensitz ist hier in der Nähe.“ Es ist mir nicht bewusst, denn sonst komme ich von der anderen Seite der Stadt. „Da sollte man doch meinen, dass man sich verbessert und nicht verschlechtert, wenn man die Firma in den Finanzdistrikt umziehen lässt, aber … egal. Dort haben wir zu mindestens unsere Ruhe und zum Glück weiß ich, dass seit einer Woche einige der Wirtschaftshallen leer stehen. Was für ein Zufall! Diese dekadenten Scheißkerle in der Chefetage kriegen den Hals nicht voll“, bellt er zynisch von einem Moment auf den nächsten. Ein Passant dreht sich zu uns um. Dieser ständige Wechsel zwischen ruhigem Flüstern und lautem Wahn macht es immer unangenehmer. Ich schaue einfach gerade aus und lasse den anderen Mann reden. Ihm habe ich auch nichts zu sagen und ich hoffe, dass er nicht mitbekommt, dass ich den Anruf zu Moore noch immer aufrechterhalte. Hoffe ich zu mindestens. „Weißt du warum Barson solche wie uns einstellt? Wir sind so schön billig und es gibt einen Eingliederungszuschuss. Geldsäcke kriegen noch mehr Geld. Noch dazu kann er uns einfach feuern, wenn er uns nicht mehr will oder braucht. Ganz einfach. Hochrisikoangestellte nennt Barson das. So ein scheiß Heuchler.“ „Er hat dich nicht einfach gefeuert. Du hattest mehrere Abmahnungen und…“ „Tze, hat dir das diese Schlampe Kaley erzählt?“ Ich bleibe abrupt stehen, doch sofort spüre ich Stevens Hände, die sich hart in meinen Rücken stoßen. „Wow, Kaley bringt dein Blut zum Brodeln? Wie süß. Schade für sie, dass dir Schwänze lieber sind.“ „Halt einfach deine Klappe!“, knurre ich. Zu dem panischen Zittern mischt nun noch Wut, die meine Stimme ungewöhnlich rau klingen lässt. Er soll ihren Namen nie wieder in den Mund nehmen. Nicht mal an sie denken. „Oh, wird der kleine Lee endlich bissig? Hat was. Weißt du, was ich mich die ganze Zeit frage?“ „Ich wills nicht wissen.“ Wieder spüre ich, wie mich seine Hand heftig im oberen Rücken trifft und nach vorn stößt. Beinahe verliere ich das Gleichgewicht vollständig, schaffe es aber, meinen Sturz mit der Hand abzufangen. Meine Handinnenfläche trifft auf den porösen Stein eines am Straßenrand stehenden Pollers und ich bemerke sofort, wie die dünne Haut dort aufreißt. Der plötzliche Schmerz wird pochend und verweilt im Hintergrund, als ich mich wieder in Bewegung setze, ohne die Miene zu verziehen oder ein verräterisches Geräusch von mir zu geben. „Wo bleiben denn deine Manieren?“ „Die habe ich gerade in der Faröerstraße abgegeben“, presse ich hervor und bin für einen Moment froh, dass wir bereits an der richtigen Adresse angekommen sind. Ich bete dafür, dass Moore noch immer in der Leitung ist und dass er es gehört hat. Was auch immer er tun kann. Die Gestalt, die vor der Lagerhalle steht, tippt aufgebracht auf einem Smartphone herum, während sie zusätzlich eine angezündete Zigarette hält. Das orangefarbene Glimmen leuchtet auffällig in den dunklen Schatten, als er einen schnellen Zug nimmt. Der entlassene Qualm verschwimmt mit dem Dunst des dämmernden Lichtes. Er schreitet unruhig hin und her, bis er sich das Handy ans Ohr hält und es in Stevens Hosentasche zu klingeln beginnt. Erst als wir näherkommen und er den lautdröhnenden Song vernimmt, legt er wieder auf. Jarons Gesichtsausdruck spricht Bände. „Verdammt Pfennig, was soll der Scheiß?“, fragt Richards Freund aufgebracht, läuft auf meinen ehemaligen Arbeitskollegen zu und packt ihn am Kragen der Jacke. Steven grinst, lässt sich heranziehen, ohne sich gegen ihn zu wehren. „Du solltest dich zurückhalten. Verdammt noch mal. Was will der hier? So war das nicht geplant.“ Den letzten Teil zischt er und beinahe hätte ich es nicht gehört. Erst jetzt wendet sich Jaron mir zu. Er hätte direkt vor mir stehen können und ich hätte ihn nicht als den Jugendfreund von Richard erkannt. Wahrscheinlich hat er das in den letzten Wochen sogar ein paar Mal und es war mir nicht bewusst. Einzig der unverkennbare Geruch von Zigaretten aktiviert die Erinnerungen bei mir und es sind wahrlich keine guten. Der Moment vor dem U-Bahnhof. Beim Kino. „Ich tue euch nur einen Gefallen und hab meinen Spaß“, sagt Steven mit diesem unterschwelligen arroganten Ton und deutet in meine Richtung. „Hier ist der perfekte Ort. Schreit euch an, so laut ihr wollt! Macht euch fertig. Niemand wird euch hören oder sehen. Wir sind ganz unter uns. So wolltest du ihn doch haben, ausgeliefert und blank.“ Mir läuft es eiskalt den Rücken runter und die zunehmende Anspannung lässt mich kaum mehr atmen. Jaron entlässt Stevens Jacke, stößt ihn leicht zurück und weicht selbst ein paar Schritte zurück. „Das wird hier keine Piepshow, Pfennig“, knurrt Jaron dem anderen Mann entgegen. Er sieht sich mit Missfallen um und ich achte auf jede ihrer Bewegungen. Ich bemerke das kurze Zögern und sehe den Seitenblick, den Jaron in Stevens Richtung wirft. Als würde er selbst gegen eine Unsicherheit ankämpfen. „Scheiße.“ Er flippt die Zigarette davon. „Nicht so schön, wenn man die Kontrolle im eigenen Spiel verliert“, presse ich hervor und spüre diesen kühlenden Hauch der Genugtuung, als ein Funken Zorn über Jarons Gesicht flackert wie Blitze im faradayschen Käfig. Den Drang, etwas zu erwidern, wird durch sein Handy unterbrochen und seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, erheitert ihn der Anruf keineswegs. Jaron flucht. Leise, aber dringlich. Er wirft uns einen warnenden Blick zu, ehe er rangeht. „Richard. Hey.“ Richard. Sein Name allein zwingt mich zur vollen Aufmerksamkeit und unwillkürlich mache ich einen Schritt auf Jaron zu. Er stoppt mich mit einer einfachen Handbewegung. „Ja, entschuldige, ich verspäte mich. Ja… ich… Geh schon mal in die Bar. Bestell uns eine Runde Moscow Mule, hörst du.“ Das beständige Echo in meiner Brust wird stärker. Neben der angespannten Furcht und Obacht mischt sich augenblicklich Sorge hinzu. Meine Hände ballen sich zur Faust, als sich Ricks Freund von uns abwendet und seine nächsten Worte durch die Stadt weggetragen werden. „Was?“, sagt er plötzlich laut, „Hey, what the hell, Richard. Shit…dieser sture Bastard.“ Fluchend quetscht Jaron das elektronische Rechteck zurück in die Hosentasche und dreht sich zu uns um. Ich sehe, wie sein Kiefer arbeitet, wie sich seine Zähne vermutlich knirschend aufeinander bewegen. Doch hören kann ich es nicht. „Das ist doch alles ein schlechter Scherz.“ Er flucht erneut. „Das denke ich mir schon seit Wochen“, entflieht es mir zwischen mehreren Fucks und Shits und während ich Jarons flatterige Anspannung beobachte. Er hatte schon immer nur eine große Klappe, aber keinerlei Substanz. „Und was wird das jetzt hier?“, frage ich in die spannungsangereichte Luft und richte es an beide. Jarons Kiefer zuckt und sein Blick huscht zu Steven, ebenso wie meiner. Seinem Blick halte ich nicht lange stand, denn er dringt so tief in mich ein, dass es mich fast aushöhlt und nichts als eisiger Schauder zurückbleibt. „Ich kann mich jetzt nicht damit befassen…“, verkündet Jaron unruhig. Er ist ein feiger Mitläufer, war er immer gewesen. Die Beschimpfung liegt mir auf der Zunge, doch ich sage es nicht, weil Steven erneut anfängt zu lachen. Er ist der einzige, dem das hier Freude bereitet. Ich fürchte mich davor, erneut allein mit ihm zurückzubleiben. Also mache ich aus meiner Not eine Chance, in der Hoffnung, dass Moore auf dem Weg ist. „Aber du bist mir Antworten und Erklärungen schuldig“, lasse ich verlauten und sehe mit Genugtuung, wie seine Schultern sich anspannen. „Ich schulde dir gar nichts. Du bist ein…“ Jaron stoppt. „Was bin ich?“ Er knurrt, statt zu antworten. „Ja, zieh den Schwanz ein. Wie früher. Ich weiß, was du bist… Ein feiger Idiot.“ „Halt die Klappe!“, brüllt er mir zu. Seine Worte sind harsch und hastig. In einem Anflug puren Zorns tritt er auf mich zu und bleibt doch mit genügend Abstand zu mir stehen. „Nein, all diese Vermutung, aber bist du kein einziges Mal auf die Idee gekommen, zu fragen, was Richard dazu zu sagen hat! Woran liegt es wohl, hä? Du bist ein verdammter Narr.“ „Ich weiß, was Richard sagen und tun würde. Er nimmt dich in Schutz. Er nimmt dich schon immer in Schutz. Warum hätte ich ihn fragen sollen, damit er mir genau diesen Unfug bestätigt?“ „Du hast also nicht den Mumm, ihn wirklich zu fragen“, wettere ich zurück und Steven beginnt, ekstatisch zu klatschen. „Oh ja, es wäre so viel besser, wenn er auch hier wäre. Vielleicht bestellst du ihn her. Immerhin wartet er eh schon auf dich“, schlägt Steven vor und mir läuft es bitterkalt den Rücken hinab, wenn ich daran denke, dass vermutlich zwischen seiner und meine Ankunft im Dark Orange nur wenige Minuten lagen. „Nein, nein… wir halten ihn da raus“, bitte ich prompt, stolpere über meinen hektischen Gedankenkreisel. Steven lacht. „Ach fuck you, Steven, das hier ist schlicht und einfach eine Farce. Was mischt du dich überhaupt ein, du hast gefälligst nur…“, wettert Jaron los, Wut ungefiltert. Er bedient sich diesem despektierliche Augenrollen, aber er schafft es nicht, seinen Satz zu Ende zu bringen. Mit schnellen Schritten tilgt Steven den Abstand zwischen ihm und Jaron. Es ist so überraschend, dass Richards Freund nur fahrig reagiert, als der andere Mann ihn am Kragen packt und im nächsten Moment das Handy aus seiner Tasche zerrt. Auch ich spüre, wie mein Puls zu beben beginnt, als mein Blick bei dieser Aktion zufällig auf das Messer an seiner Hose fällt, welches hinter der Jacke hervorblitzt. Es gab solche Situationen auch im Gefängnis. Nicht oft, aber es gab sie. Die Spannung war zu spüren, flimmerte durch den Raum wie Kohlenmonoxid. Still und tödlich. „Hol ihn her“, wiederholt er leise, bedrohlich. Ohne die Warnung zu formulieren. Die Starre breitet sich in mir aus, obwohl er es nicht an mich richtet. Doch auch Jaron nimmt den Ernst wahr und das, was ich in seinem Gesicht sehe, gibt mir kaum Hoffnung. Steven ist gefährlich und das scheint auch er zum ersten Mal wirklich zu begreifen. Das hier ist kein Spiel mehr. Jaron reißt ihm sein Handy aus der Hand und tippt eine Nachricht. Danach starren sie sich an, bis das Handy ein einzelnes Geräusch von sich gibt. Eine Nachricht. Jaron schluckt und wendet seinen Blick ab. „Er ist in 10 Minuten hier“, sagt Jaron und ich schließe entmutigt die Augen. Es sind die härtesten Minuten meines Lebens und als ich die vertraute Stimme vernehme, versagt es mir, all den Schmerz herausschreien. Ich bleibe still, spüre die gesammelte Schuld stetig in mir wachsen. „Jaron, was für einen verdammten Zirkus veranstaltest du?“, fragt Richard, als er näherkommt. Ich will nicht, dass er hier ist. Doch ehe ich etwas sagen kann, ihnen warnen kann, ergreift Richard erneut das Wort. „Was zur Hölle ist hier los?“ Seine Stimme ist fordernd und er schaut mit steinernem Blick zu seinem besten Freund, flackert zu Steven und erdet sich schlussendlich bei mir. Es dauert, bis die Kälte gänzlich verschwunden ist. Doch dann macht sie einer tiefsitzenden Sorge Platz. Er will Antworten. Ich möchte sie auch. Rick hält sich zurück, doch ich bemerke die kleinsten Andeutungen, die unscheinbaren Zuckungen in meine Richtung. Jaron scheinbar auch, denn er stellt sich mit wenigen Schritten zwischen uns. Ich schiele vorsichtig in Stevens Richtung. „Dann ist es also wahr? Du steckst hinter dieser ganzen Scheiße hier?“ „Spielt keine Rolle“, entgegnet sein bester Freund mit knirschenden Zähnen, „Und das ist auch nicht das Thema.“ „Okay, was ist dann das Thema, Jaron? Was, um alles in der Welt, denkst du dir dabei?“ „Ich versuche nur, dich zu beschützen und für Gerechtigkeit für den Tod deines Vaters zu sorgen.“ „Bist du verrückt geworden?“, pfeffert mein Kindheitsfreund bei der Erwähnung Renard Paddocks los, „Jaron, ist das dein Ernst? Bist du vollkommen bescheuert? Wie verdammt nochmal soll das, was du tust, irgendwas davon bewerkstelligen?“ Richard baut sich vor ihm auf und lässt keinen Zweifel daran, was er von alldem hier hält. „Du bist so blind, Richard.“, spottet Jaron, „So verbohrt und naiv.“ „Naiv? Ich bin mir ziemlich sicher, dass du nicht annährend in der Position bist, so etwas zu sagen. Er und ich sind die einzigen, die wirklich wissen, was damals alles geschehen ist. Und niemand anderen geht es etwas an. Dich nicht. Wer auch immer der da ist. Niemand. Nur mich und Eleen.“ „Und das ist dein Fehler. Das ist es schon die ganz Zeit. Deine verbohrte und völlig falsche Einschätzung. Mich geht es ebenso etwas an.“ „Ich bitte dich“, wirft ihm Richard verächtlich zu. „Siehst du, du behauptest immer, du wärst nicht wie dein Vater und doch stehst du hier und lässt mich eiskalt abblitzen. Wir sind zusammen aufgewachsen, Richard. Ich habe diesen ganzen Scheiß hautnah mitbekommen. Dir war es nie wichtig, aber für mich war er wie ein Vater, denn ich hatte nie einen. Ich will Gerechtigkeit, denn zu mir war er immer gut.“ „Wow, im Ernst? Reiß dich mal zusammen oder willst du mir als nächstes weißmachen, dass du davon überzeugt bist, mein lang verheimlichter Bruder zu sein.“ „Es wäre doch gut möglich, immerhin wusste jeder in dieser verdammten Firma, dass er mit meiner Mutter eine Affäre hatte“, brüllte Jaron Richard mitten ins Gesicht. Ich habe sie früher bereits streiten sehen. Doch diesmal ist es anders. Es ist rauer. Die Emotionen in ihren Gesichtern sind roh und messerscharf. Sie werden sich nicht zurückhalten, denn dafür gibt es keinerlei Grund mehr. Richard seufzt laut und genervt auf. „Mein Vater war ein arrogantes Arschloch und dieser Fakt ist nichts neues. Aber das hier, das ist alles kompletter Unsinn.“ „Wie kannst du dir so sicher sein? Alles passt.“ „Warum ich sicher bin? Du Depp, es existiert ein Testresultat.“ „Was?“ „Es gibt einen DNA-Test, Jaron, der eindeutig ausschließt, dass wir miteinander verwandt sind. Meine Mutter hat Bescheid gewusst, okay? Sie wusste von all den Affären und Scherereien. Glaubst du wirklich, dass sie nach seinem Tod nicht geprüft hat, ob es irgendwelche unehelichen Kinder gibt? Lass uns gemeinsam in die Firma fahren und dann zeige ich es dir.“ Richard streckt energisch die Hand aus und verdreht erschüttert die Augen. „Du wusstest es die ganze Zeit?“ „Natürlich, aber mir war nicht klar, dass du und deine Mutter es scheinbar nicht wussten. Hast du dir deswegen all diesen Mist ausgedacht?“ Richard stößt Jaron mit beiden Händen heftig gegen die Brust und er taumelt. Für ihn ist es eine Überraschung, seinen Freund so zu sehen. Es ist eine Farce. Was hat er erwartet? Jaron vergrößert den Abstand zwischen ihnen nicht, sondern schließt direkt wieder zu Richard auf. „Warum bist du nicht zu mir gekommen? Warum verdammt nochmal willst du der Sohn dieses Mistkerls sein. Haben dich meine beschissenen Erfahrungen mit ihm nicht zur Genüge abgeschreckt? Was ist dein verdammtes Problem?“, brüllt Rick kontrolliert und packt seinen Freund danach am Kragen. Stoff reißt und eine Naht platzt, so viel Wucht steckt in Richards Griff. Plötzliche sehe ich Renard Paddock erneut fallen, höre den dumpfen Aufschlag durch den hohen Raum hallen. „Er ist mein Problem. Er hat ihn getötet. Er war selbstsüchtig und eigennützig und auch wenn er nicht mein Vater war, war auch unser Leben von dieser verdammten Firma abhängig“, wettert Jaron inbrünstig zurück. Die Härte seiner Stimme und die absolute Kälte darin lässt mich zurückzucken. Er ist so voller Wut und unendlichem Zorn. „Eine simple Jugendstrafe? Bewährung? Er ist ein kaltblütiger Mörder und du siehst dabei zu. Schlimmer noch, gehst auch noch mit ihm ins Bett“, spuckt er in Richards Richtung und schaut zu mir. „Herrje, Jaron, halt einfach die Klappe!“, gibt Richard mit zusammengebissenen Zähnen von sich. Er kämpft. „Er hat alles kaputt gemacht, höre endlich auf, ihn in Schutz zu nehmen. Verdammt Richard, wie verblendet bist du eigentlich? Wie konntest du das alles zulassen?“, brüllt Jaron aufgebracht. „Zulassen? Du begreifst gar nicht, wovon du redest! Du hast doch überhaupt keine Ahnung, was mein Vater uns zugemutet hat“, kontert Rick ebenso energisch. Diesmal ist die Schärfe deutlicher zu spüren. Das letzte Mal, als ich ihn die Stimme erheben hörte, war es dieser eine Tag. Die Vergangenheit holt uns ein und trifft uns mit ebensolcher Härte. Richards Hände sind zu Fäusten geballt. „Aber ich weiß es! Und ich denke, wir sollten uns schleunigst alle beruhigen.“ Detective Moores Stimme lässt mich zusammenzucken, auch wenn seine plötzliche Präsenz eine unerwartete Erleichterung mit sich bringt. Wir sehen alle drei zu ihm. Sein Gang ist zurückhaltend, als er auf uns zu schreitet. Schritt für Schritt tastet er sich heran, wie an einen am Abgrund stehenden Springer. Ich fühle den Luftzug, der einen weiteren Schwall Vergangenheit mit sich bringt und eine Briese Hoffnung. Sein rechter Arm ist dezent angewinkelt und seine Hand streicht über die Seite seiner Jacke, in der Polizisten normalerweise ihre Pistolenholster haben. Mir wird angst und bange, obwohl ich weiß, dass der Detective nicht mehr im aktiven Dienst ist und keine Waffe bei sich tragen wird. Was er jedoch nicht weiß, ist, dass Steven bewaffnet ist. „Moore“, stellt Richard bitterkalter Ruhe fest, „Wieso überrascht es mich nicht, Sie hier zusehen?“ „Wer ist das?“, fragt Steven scharf und ablehnend. Auch seine Haltung ändert sich. „Niemand. Er tut nichts zur Sache“, beantworte ich schnell, ehe einer der anderen Parteien etwas Verdächtiges äußern kann. Ich vermute, dass Steven auf die Anwesenheit eines Polizisten nicht sonderlich gut reagieren wird. „Schön wär´s. Wollen Sie weiteres Öl ins Feuer gießen, Moore? Dann los, es brennt eh schon lichterloh“, stichelt Rick gegen den alten Detective. „Das schafft ihr ganz allein, wie es mir scheint. Also, wenn ihr mich fragt, wäre es besser, wenn wir jetzt alle unserer Wege gehen.“ „Dich fragt niemand, alter Mann“, bellt Steven Moore barsch an. Beide machen einen Schritt aufeinander zu. „Du hast von allen am Wenigsten das Recht, dich einzumischen. Wer bist du überhaupt?“, harscht Richard in Stevens Richtung und ich tilge die kurze Entfernung, die zwischen uns liegt. Ich strecke meine Hand nach ihm aus, greife seinen Ärmel. Es ist nur eine Armlänge zu ihm. „Nicht“, flüstere ich und schüttele, ohne ihn anzusehen, den Kopf. „Lee, was…“, setzt Rick an und seine Stimme stolpert über die im Raum stehenden Fragen, wie ein Blinder über löchrigen Asphalt. „Du begreifst es immer noch nicht, oder?“ „Steven, halt die Klappe!“, fordert Jaron. „Warum, jetzt ist der perfekte Moment gekommen, deinen Masterplan zu offenbaren. Du hast so viel Energie und Zeit hineingesteckt.“ „Sei still…“ Schwach. Es ist kaum mehr übrig als ein Flüstern des einstigen Stolzes. „Wieso? Willst du nicht, dass alle erfahren, dass sie es dir zu verdanken haben, dass ihr überhaupt ein Wiedersehen feiern konnten?“ „Was?“, frage ich verwundert. Rick scheint es schneller zu verstehen. „Jaron hat der Firma den Auftrag vermittelt, wegen dem ich die zwei Wochen U-Bahn gefahren bin. Deswegen sind wir uns… Er hat mich an dem Tag sogar aufgehalten, sodass ich genau diese Bahn nehmen musste…“, erklärt Richard. Sein Blick ist die meiste Zeit starr auf Jaron gerichtet, doch beim letzten Teil sieht er zu mir. Der Schmerz in seinem Blick sitzt tief. „Wieso hast du…“ „Ich habe das Schreiben der Anwälte über seine Entlassung bei dir gefunden. Und ein paar Tage später hast du diese verfluchten Briefe rausgeholt. So viel Zeit ist vergangen und du kommst einfach nicht von ihm weg. Dann hast du dich von Rahel getrennt und… das hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Ich war so enttäuscht von dir, also begann ich zu recherchieren.“ „Recherchieren?“, wiederholt er ungläubig, „Ich kann einfach nicht fassen, dass du die ganze Zeit so eine verfickte Show abgezogen hast und auch noch die Frechheit besitzt, dich regelmäßig für ein Bier bei mir einzuladen und so zu tun, als würdest du mich unterstützen. Jaron, das ist dermaßen armselig. Du kriegst dein eigenes Leben nicht auf die Reihe und gibst nun Lee die Schuld? Wie kannst du es wagen?“ „Ach komm, also ob es in deinem Leben besser aussieht. Was hast du denn getan, außer im Mitleid zu schwelgen und deine Entscheidungen damit zu entschuldigen, dass es deine Mutter gesagt hat. Wärst du so mutig, wie du es darstellst, dann hättest du ihr längst die Stirn geboten. In mehr als einer Situation“, erwidert er mit Nachdruck. Richard ballt seine Fäuste und die Sehnen an seinem Hals treten hervor. Es folgt die nächste Salve an Schuldzuweisungen und Vorwürfen. Ich spüre, wie langsam, aber sicher etwas in mir verdorrt. „Hört auf“, flüstere ich in das Stimmengewirr hinein, doch keiner der Anwesenden scheint mich wahrzunehmen. „Du elender Mistsack, ich hatte keine wirkliche Wahl und das weißt du ganz genau“, pfeffert Richard Jaron entgegen. Es wird noch schlimmer, als auch Moore einsteigt. „Himmelherrgott, begreift ihr nicht, euer verdammtes Lügengespinst ist es, das jetzt alles eskalieren lässt…“ „Keiner von euch begreift, was passiert ist“, hält Richard dagegen und seine Fäuste zucken, als er Moores Einwurf unterbricht. „Das ist längst nicht mehr der Fall, Richard. Ich weiß schon lange, dass ihr gelogen habt. Ich weiß, dass Eleen nicht für den Tod deines Vaters verantwortlich ist.“ Beide Männer funkeln sich gegenseitig an. Ich kann sehen, wie Rick mit seinen Gefühlen kämpft, wie sein Kiefer arbeitet. Zuerst aus ablehnender Furcht. Dann aus verzweifeltem und reuevollem Verzehren. Er würde Detective Moore so gern Recht geben, doch das lasse ich nicht zu. Die Schuld in seinem Gesicht sucht mich nicht nur in meinen Träumen heim. „Was?“, entflieht es Jaron entgeistert, als Moore die Scharade offenbart. „Eleen hat Renard Paddock nicht getötet. Er hat nur die Schuld auf sich genommen, weil er noch nicht volljährig war. Aber Richard hier, hat zugelassen, dass Eleen für ihn ins Gefängnis geht“, klärt der Detective mit Deutlichkeit auf und spricht damit ein Teil der Wahrheit aus. „Ist es nicht so?“ „Du warst auch dort? An dem Abend? Ist das wahr?“ Mit diesen Worten, die so viel Anschuldigung und Wut in sich tragen, sehe ich, wie Richard weiter in sich zusammenfällt. Seine Schultern sacken ab und seine Lippen beben unkontrolliert, bis er sie zusammenpresst. „Ich wollte nie, dass ...“, setzt er an. „Es war…“ „Hört auf!“, rufe ich. Ein verzweifelter Versuch, noch irgendwas zu verhindern, doch es ist zu spät. „Du hast es aber zugelassen, obwohl du wusstest, dass dich die Anwälte deiner Familie niemals hätten ins Gefängnis gehen lassen. Du hast zugelassen, dass er die Schuld für den Tod deines Vaters auf sich nimmt“, brüllt Moore ungehalten und schonungslos. In seiner Stimme schwingen die angesammelten Frustrationen der vergangenen Jahre. Rick schließt wissend seine Augen und beißt die Zähne zusammen. „Scheiße, das habe ich und ich hasse mich dafür. Ich hasse mich seit sieben Jahren dafür und würde alles geben, um es ändern können.“ Seine Worte hängen im Raum und verweilen, wie der bittere Geschmack von Grapefruits. „Rick, nicht. Es ist meine Schuld. Wegen mir kam es zum Streit und… ich war es“, sage ich in die Stille hinein und Richards traurig schimmernde Augen sehen zu mir. „Das ist nicht wahr. Es war ein Unfall. Ein beschissener Unfall. Um Himmelswillen, Eleen, sie haben damals ein Exempel an dir statuiert und viel zu sehr auf die Aussagen meiner Mutter gehört. Hätte ich bereits damals gewusst und schneller begriffen, wohin es führen wird, dann hätte ich dich niemals dort zurückgelassen.“ Er macht ein paar Schritte auf mich zu, doch ich blocke ihn ab und weiche zurück. „Nein, Rick.“ „Hör mir doch zu...“ „Nein, hör mir endlich zu!“, sage ich eindringlich, „Ich war nicht ehrlich zu dir.“ Richard hatte darum gebeten, als wir vor einer Weile zusammen auf der Couch saßen. Doch ich konnte es damals nicht. Ich konnte es ihm nicht sagen. Ich wollte es nur vergessen. Seine Aufmerksamkeit ist mir nun gewiss und ich wünschte, ich müsste es nicht tun. „Dein Vater hat noch gelebt, als du gingst.“ Ich klinge gefasst, doch in dem Moment, in dem die Worte meinen Mund verlassen, fegt ein Monsun voller Schuld, Furcht und Trauer über mich hinweg. Kapitel 32: Was der Vergangenheit folgt --------------------------------------- Kapitel 32 Was der Vergangenheit folgt „Stopp… bitte… Wovon redest du da?“, erkundigt sich Richard schwach. Ich schaffe es nicht, aufzusehen und selbst wenn ich es könnte, würde ich sein Gesicht nicht klar erkennen können. „Eleen?“ Er sagt meinen Namen und ich schließe die Augen, setze die Tränen endgültig in Gang, indem ich sie über die Dämme hinausschiebe. „Als du weg warst, da…“, beginne ich flüsternd, „er... ich wusste nicht, was ich machen sollte“ Meine Stimme schwächelt und alles in meinem Kopf ist plötzlich ein absolutes Chaos, so, wie in diesem Moment damals. „Dein Vater... er ist wieder aufgewacht... und er hat ganz schrecklich geröchelt und gestöhnt... Ich... Ich... Er hat mich angestarrt. Es hat mir solche Angst gemacht... Ich wusste, dass er dafür sorgt, dass ich dich nie wiedersehe und... Und...meine Familie mit hineingezogen wird." Sein Blick, richtend und zornig, hat mich verfolgt, unzählige Nächte lang. Immer dann, wenn die Stille nach mir griff und ich ihr nicht entkommen könnte. „Oh nein, du dummer Junge, was hast du getan?" Meine ohnehin schon instabile Ausdrucksfähigkeit wird durch ein weiteren Tränenschwall gestoppt, als ich Moores vorwurfsvollen Ton vernehme. „de Faro!", harscht er mich an. Mein Blick geht zurück zu Richard, der mich ungläubig anblickt. „Er hörte nicht auf und da habe ich … ich wollte das er schweigt und er.... er." Obwohl es keine Worte waren, hörte ich ihn laut in meinem Kopf. Seine Stimme. Die Vorwürfe. Jeder Streit. Jede Diskussion, die er mit Richard führte, echote durch meinen Schädel wie bedrohlicher Donner. Laut und eindringlich. Ich fühlte die Verzweiflung in jeder Zelle meines Seins und sie schrie, auch wenn ich selbst stumm blieb. Das Resultat ist uns allen wohlbewusst, also spreche ich es nicht aus. Ich sah, wie das Leben aus seinen Augen verschwand. „Es tut mir leid…“ Meine Stimme bricht. Ich kann mich nicht dazu bringen, aufzusehen. Nicht einmal, als ich das heftige Klagen höre, welches Moore ausstößt oder das pfeifende Raunen, welches Steven in den Raum entlässt. Genauso wenig schaffe ich es, dem Zittern meiner Hände zu entgehen, welches sich auf meinen gesamten Körper überträgt, wie ein lauer Windstoß, der erst eines und dann alle Blätter zum Wanken bringt. All das, was ich seit Jahren versuche zu verarbeiten und zu verstehen, liegt offen da. Wie ein blanker, freigelegter Nerv, dessen bloße Existenz puren Schmerz verursacht. Ich wollte nicht, dass Richard es erfährt, weil ich mir selbst nicht eingestehen konnte, dass ich dazu in der Lage gewesen war. „Es tut mir so leid“, wiederhole ich flüsternd, so leise, dass ich nicht sicher bin, ob Richard es hören kann. Schluchzend rinnt Richards Name ein paar Mal über meine Lippen wie ein bitteres Gebet um Vergebung. Meine größte Angst war stets, dass Richard erkennt, dass ich es nicht wert bin. Ich ertrug es, von ihm getrennt zu sein, solange ich wusste, dass sich sein Bild von mir nicht trübt. Aber das ist nun vorbei. „Das wird ja immer besser“, höre ich Steven spotten, spüre sein Lachen auf meiner Haut wie saurer Regen und merke, wie sich der Knoten in meiner Magengegend weiter zuschnürt. Warum haben wir nicht einfach in Ruhe Leben dürfen? Einfach vergessen dürfen? „Eleen, hör zu. Eleen!“ Moores Stimme dringt nur wage zu mir durch. „Sein Genick war gebrochen und seine Lunge punktiert. Er ist an seinem eigenen Blut erstickt, das hat die Autopsie bewiesen“, erklärt Moore, nachdem er mehrmals geräuschvoll ein und ausatmet. Ich schüttele den Kopf. Seine Worte ändern nichts an der Tatsache, dass ich ihm bewusst die Chance genommen habe, es zu überleben. In den vergangenen Jahren habe ich oft darüber nachgedacht. Die gesamte Situation zerlegt und wieder zusammengesetzt. Wir hätten vieles anders machen können, vieles anders machen müssen. Doch damals wusste ich nicht, was ich heute weiß. Wir waren Kinder. Wir hatten Angst, denn alles wirkte aussichtslos. Aber es war meine größte Furcht, dass das Überleben seines Vaters unsere Situation verschlimmerte. Mehr als sein Tod. An etwas anderes hatte ich nicht denken können. Das Blut rauschte laut in meinen Ohren. Meine Hände zitterten, so, wie jetzt. Ich habe das Gefühl, komplett betäubt zu sein und von der Schwere all der Gefühle erdrückt zu werden. Richards warme Hand an meiner Wange ist das Einzige, was mich davon abhält, endgültig zu zerbersten. Als ich es endlich schaffe, aufzublicken, hockt er vor mir. In seinen Augen zeigt sich der Film unseres Lebens gefüllt mit tiefsitzender Emotion. Trauer, Wut und Liebe. Ich wünschte nicht zum ersten Mal, ich wäre nur ein Statist darin. Eine Fußnote im Abspann, die im Getümmel der Gesichter Bedeutungslosigkeit erfährt. Auch Richards Wangen sind feucht und bevor ich auch nur einen Ton hervorbringe, zieht er mich in seine Arme. Die Umarmung umfängt mich mit einem Mantel des Vergessens, als die stoische Verwunderung bröckelt und ich mir erlaube, es zu spüren, ihn zu spüren. Selbst wenn es nur für einen Flügelschlag ist, einen Atemzug. Trotzdem schenkt er mir Leben, wie er es immer getan hat. Meine Dämme brechen bis zur Quelle und all die Jahre des Verdrängens spülen blanke Gier hervor. Ist es zu viel verlangt, in dieser Sphäre verweilen zu wollen? Nur er und ich. Alles anderen ist egal. Alles sonstige ist vergessen. Richard hält mich fest in seinen starken, alles ertragenden Armen. Ich verharre in der Wärme und in dem Versprechen, dass nichts Schlechtes geschehen wird oder das schlechte Geschehene keine Bedeutung hat. „Lee, es ändert nichts für mich. Gar nichts, hörst du…“, flüstert er. Ich höre es, vernehme seine Worte, doch ich kann sie nicht glauben. Mein Schweigen hat auch ihm jahrelangen Schmerz bereitet, Schuldgefühle beschert, weil er dachte, dass ich unverschuldet im Gefängnis war. Dass er an allem schuld war. Doch so war es nicht. Ich bin schuld an Renard Paddocks Tod und bin es immer gewesen. Ich lebe mit den Konsequenzen, selbst wenn sie bedeuten mögen, auf das Einzige zu verzichten, was mich mit Leben erfüllte. Ich wusste es in dem Moment, in dem ich zustimmte, die Schuld auf mich zu nehmen und ich war mir allem gewiss, als ich entschied, schuldig zu sein. „Kannst du mir jemals verzeihen?“, schluchze ich hilflos, klammere mich an den Versuch, wie ein Ertrinkender an den Sekundenbruchteil der Gewissheit. Meine Finger krallen sich so stark in seine Jacke, dass ich merke, wie sich meine Fingernägel verbiegen, wie sich das raue Material tief in meine Papillen drückt und nach und nach meine Identität auslöschen. „Lee, da gibt es nichts zu verzeihen, nicht für mich“, flüstert er, sodass nur ich es hören kann. „Kannst du mir vergeben, dass ich dich in diese Situation brachte?“, fragt mich Rick flehend und das löst bei mir einen weiteren Tränenfluss aus. „Aber deine Familie…“, setze ich an, klinge mittlerweile heiser. „Nein, … Lee… nicht. Tu das nicht.“ Obwohl es kaum mehr ein Hauch ist, als ich seine Lippen an meiner Schläfe spüre, fühle ich etwas Kraft zurückkehren. Rick unterbricht ein erneutes Schluchzen mit dieser sanften Geste der Zuneigung. „Mein Vater sagte auch immer, ich solle mich lieber auf die Familie konzentrieren. Doch er hat nie verstanden, dass du ein wesentlicher Teil meiner Familie bist. Der Teil, den ich mir ausgesucht habe und für den ich mich immer wieder entscheiden würde." „Urks!“, würgt Steven hervor, „Scheiße, ich kann verstehen, was du meintest. Die beiden sind wirklich unerträglich abartig“, grölt er uns zu und ich sehe zu dem zutiefst unangenehmen Individuum von ehemaligen Arbeitskollegen. „Halt die Schnauze, wer auch immer du bist. Du hast hier nichts Sinnvolles beizutragen“, wettert Richard ungehalten. Wir richten uns beide auf und ich reibe mir die Tränen von den Wangen. „Scheiße Jaron, all die Drohungen, all die verstörenden Machenschaften. Was hast du dir dabei gedacht? War das alles nötig? Wofür?" Ich sehe, wie sein Freund zusammenzuckt. Ich bin mir sicher, dass es nicht das erste Mal ist, dass sie streiten, doch etwas in Jarons Blick sagt mir, dass er diese anhaltende Intensität nicht kennt. Die Änderungen in seinem Gesicht sind subtil und schnell, durchlaufen einen Zirkel von Scham und Entrüstung, zurück zur Wut. Alles in einer Endlosschleife. „Für die Wahrheit.“, antwortet Jaron ad hoc. „Welche Wahrheit? Du hast doch keine Ahnung, was die Wahrheit überhaupt ist. Ich habe meinen Vater die Treppe runtergestoßen, nicht er. Ich konnte mich nicht kontrollieren, weil er uns… ihm das Leben zu Hölle machen wollte. Und du tust ihm die ganze Zeit wegen deiner fahrlässigen Fehleinschätzung das Gleiche an“, brüllt Rick zornig die Wirklichkeit heraus. Es so klar und deutlich aus seinem Mund zu hören, ist keine Erleichterung. „Aber er…“ „Kein aber, Jaron!“ „Er hat es zugegeben, vielleicht zu Anfang, aber…er… es ist unterlassene Hilfeleistung und und…“ Jaron kommt ins Straucheln. „Er musste erfahren, was er alles kaputt gemacht hat. Du hast ihn doch gehört. Er hat deinen Vater krepieren lassen, weil er nicht wollte, dass er sich weiter einmischt. Komm schon, dass ist perfide und falsch.“ „Du hast nichts verstanden, oder?“, bellt Rick zurück. „Oh doch, das habe ich. Deswegen die Bilder und die Anrufe. Er sollte begreifen, welche anderen Leben er zerstört hat. Richard, du solltest dir langsam eingestehen, dass du nicht der Einzige bist, auf den das Auswirkungen hatte. Kaya. Rahel… wie kannst du nur glauben, sie aus dieser Rechnung raushalten zu können?“, bellt Jaron spottend zurück, gibt seiner Stimme zum Schluss eine unerschütterliche Lautstärke. „Du verdammter…“, knurrt Richard. Ich halte ihn zurück, als er einen schnellen Schritt nach vorn macht und auf die beiden Delinquenten losgehen will. Der Griff um sein Handgelenk ist fest und eindeutig. Ich spüre, wie er zögert, ohne sich zu mir umzudrehen. „Es waren nicht nur Bilder und Anrufe, Jaron. Du hast mich terrorisiert. Mich gestalkt! Wochen lang. Du bist bei mir eingebrochen, hast Dinge gestohlen. Du hast ihn gegen mich aufgehetzt“, mische ich mich ein und deute in Stevens Richtung, „Er hätte mich auf Arbeit fast… verletzt! Das sind verdammte Straftaten! Steht das auf deiner Rechnung?“ Die Verleugnung und Herabsetzung seiner Taten verursachen Fassungslosigkeit bei mir. Er verharmlost alles, was er getan hat und glaubt noch immer, im Recht damit zu sein. „Moment, wovon redest du da?" Aus ihm spricht Verwunderungen. Sie ringt so hell, wie hunderte kleine Glöckchen am Firmament. Dazu gesellt sich das Lachen des anderen Mannes, der sich ausgesprochen bedeckt gehalten hat. Richards Freund begreift sofort, worum es geht. „Was hast du getan? Was hast du hinter meinem Rücken für ein verdammtes Spiel gespielt?", wendet sich Jaron Steven zu. Doch dieser zuckt lediglich mit den Achseln. „Ich tat, was du wolltest!", perlt es lachend und zäh wie heißer Teer über Stevens Lippen. „Du solltest nirgendwo einbrechen, stehlen oder ihn in irgendeiner Form verletzen." „Ach komm, du wolltest ihm einen Denkzettel verpassen und das habe ich getan", rechtfertigt Steven seine ausufernden Maßnahmen und ich begreife immer mehr, warum es sich ab einem gewissen Punkt persönlicher und abartiger angefühlt hat, als es durch Jaron initiiert war. Wir waren nie nett zueinander, aber es gab Grenzen. Steven hat es als Fingerzeig des Schicksals gesehen und so, wie ich ihn mittlerweile kennengelernt haben, sind Grenzen für ihn nur eine Hülle. „Ihn verunsichern, solltest du, nicht das…das habe ich dir nicht aufgetragen. Ihr müsst mir glauben, ich wollte Hinweise streuen und ja, dich zum Aufgeben zwingen… aber…", verteidigt Jaron seine Intensionen. Steven schnaubt. „Und wenn schon, es war nicht nötig, dass du es sagst und ich wollte auch etwas Spaß. Ich habe es echt genossen.“ Augenblicklich habe ich das Bild vor Augen, wie er in meinem Bett lag, wie er stinkenden Zigarettenrauch in die Luft blies. Wie er sich in meinen Spind erleichterte. Noch vieles weitere, was in meinem gesamten Körper eine Welle des Ekels auslöst. Ich spüre Richards Blick auf mir, spüre, wie er seine Hand nach mit ausstreckt und mit den Fingerspitzen die Knöchel meiner Hand berührt. „Richard, dass es so eskaliert, das wollte ich nicht“, verteidigt sich Jaron. „Fuck you, Jaron. Du hast zugelassen, dass dieser Freak Eleens Leben auf den Kopf stellt, egal, ob du es in dem Ausmaß wolltest oder nicht.“ Richards Worte hängen schwer in der Luft, füllen den Raum mit Vorwurf und Tadel. „Scheiße, Pfennig, was hast du für einen Mist abgezogen?“, wendet sich Jaron nun an seinen ehemaligen Handlanger, der lange zuvor seine eigenen Ziele hatte. Dann durchbricht Stevens Gelächter die angespannte Stimmung und ich halte unweigerlich die Luft an. Er ist das präsente Übel. Er hat es geschafft, in den letzten Minuten zum Hintergrund zu werden und sich an dieser ausufernden Absurdität zu ergötzen. Ihn nun Lachen zu hören, macht es umso deutlicher. Zwar wurde die fehlgeleitete Spirale von Jaron in Gang gesetzt, doch Steven ist der Grund, aus dem sie letztendlich eskalierte und das nur, weil er es so wollte. „Was seid ihr nur für ein beschissener Haufen! Es ist so lachhaft“, spuckt Steven uns entgegen, nachdem er das hysterische Gelächter abrupt erstickt. Er fixiert uns abwechselnd mit seinem Blick und das, was ich darin sehe, zeigt puren Wahn. Mit schnellen Schritten tilgt er die Entfernung, die er im Laufe dieser Diskussionen unbemerkt zu uns aufgebaut hat und zieht das Messer. Wir weichen alle zurück und ziehen scharf die Luft ein. „Ihr habt nichts Besseres zu tun, also ununterbrochen Ausflüchte für eure Dummheit zu finden und die Schuld anderen zu zuschieben, nur nicht euch selbst. Aber was soll man von privilegierten Sunnyboys auch anderes erwarten“, setzt mein ehemaliger Arbeitskollege hysterisch fort, zeigt mit der scharfen Spitze des Jagdmessers abwechselnd in Richards und Jarons Richtung. „Und du…“ Nun deutet er auf mich. Ich weiche unwillkürlich zurück, während Rick im selben Moment versucht, mich abzuschirmen. „Mister Saubermann, heulst und jammerst. Die beiden haben dich gefickt, echt gefickt, verdammt noch mal!“, brüllt er laut in die Nacht, spuckt es mir förmlich vor die Füße, „Und du kriechst bettelnd zu ihm zurück, wie das brave kleine Haustier, das du bist. Fucking Märtyrer. An deiner Stelle hätt ich nen Teufel getan. Er schubst Daddy die Treppe runter, gut, nur so schafft man sich Nervsäcke aus dem Weg und ehrlich, … ihm wäre nichts passiert, so wie allen anderen privilegierten Säcken och.“ Stevens Stimme ist derartig hektisch, dass er teilweise die Wörter verschluckt und vernuschelt. Doch die Botschaft geht nicht verloren. „Steven…“, mahnt Jaron an, wirkt fast hilflos und selbst ein wenig erschüttert über die plötzliche Wendung. Mich überrascht es weniger. Auch Moore wird von Minute zu Minute wachsamer, lässt die Spannung in seinem Körper wachsen. „Was? Ist es nicht das, was du wolltest. Die Wahrheit ist raus, Hurra! Aber sie gefällt dir und nun ziehst du den Schwanz ein?“, bellt er seinen vormaligen Komplizen entgegen und wedelt gefährlich mit dem Messer umher, als wäre es nur eine Attrappe. „So war es nie geplant…“, setzt Jaron erneut an, doch als Steven ruckartig und drohend in seine Richtung tritt, bricht er wieder ab. „Wir sollten uns alle beruhigen“, steigt Moore in die hitzige Konversation ein. Ich sehe, dass seine Hände keineswegs die Ruhe ausstrahlen, die seine Worte vermitteln sollen. Ich spüre es auch. Das Lodern in der Luft, welches durch einen winzigen Funken zur Feuerbrunst heranwachsen kann. „Shit, was sind sie eigentlich für ein Kunde und wieso sind sie hier?“, ächzt er zurück und festigt seinen Griff um das Messer. „Ich bin nur hier, um zu verhindern, dass diese Idioten da weiteren Mist bauen, okay?“, erklärt Moore und deutet auf Rick und mich. „Was bist du, ihr Babysitter?“ „Nein, ich bin der Kerl, der durch das Theater der beiden beim ersten Mal aufs Glatteis geführt wurde und ich werde diesmal mit Sicherheit dafür sorgen, dass sich das alles endlich aufklärt.“ Moores Worte lassen meinen Puls steigen. Doch ich wende meinen Blick nicht von dem alternden Detective ab. „Moore, verdammt, was…“, schreitet Rick verärgert ein, doch ich packe seinen linken Arm und zwinge ihn so, sich zurückzuhalten. Richard greift nach meiner Hand, drückt sie leicht. Im Gegensatz zu den anderen ist mir klar, dass er der Einzige ist, der alles richten kann und auch derjenige ist, der die Möglichkeiten hat, es zusammenfallen zu lassen. Er hat die Beweise. Er kann mehr oder weniger objektiv bezeugen, was in den letzten Wochen geschehen ist. Beweise, von denen Richard nichts weiß. Ich muss ihm vertrauen, darauf bauen, dass seine Taten der vergangenen Wochen keine Irreführungen waren, sondern echte Anteilnahme. Ich muss. „Ist es das, was du willst, dass wir uns stellen und unsere Strafen absitzen?“, frage ich zurückhaltend und anstatt Ricks Blick zu erwidern. Stevens Motivationen sind mir noch immer unklar. „Ach, wo bleibt denn da der Spaß? So ist es viel besser.“ „Du tust es nur, um die Leute zu verletzten, oder?“, frage ich, meine nicht die potenzielle Gefährdung, die von dem Messer ausgeht. Statt mir zu antworten, formt sich Stevens Mund zu einem schiefen, bestätigenden Lächeln und dann zucken seine Schultern, als wäre es vollkommen harmlos, was er tut. Ein Spiel. Ein morbides Spiel. „Du beschissener Psychofreak. Was für eine Scheiße läuft bei dir schief?“, meldet sich Jaron aufgebracht zu Wort und tilgt den Abstand, den er zuvor zwischen sie gebracht hat. „Das hättest du dich vielleicht vorher fragen sollen, bevor du ihn auf Lee hetzt“, entgegnet Rick wütend und kassiert von Jaron einen schuldvollen Blick. „Es war eine Fügung des Schicksals…“, kontert Steven mit einem Lachen, „denkst du nicht auch? Dass du mich angesprochen hast. Dass ich dir so nützlich sein konnte mit allem. Er hatte eigentlich nur deine Akte und ein paar Informationen gewollt.“ Steven lässt seine Hände sinken und widmet sich voll und ganz Jaron. Für ihn ist das alles ein hohler Witz und ich bezweifele, dass es für ihn jemals eine Rolle gespielt hat, dass er damit Leben ruiniert oder wie viel Schaden er anrichtet. „Nützlich?“, wiederholt Ricks langwieriger Freund mit absoluter Fassungslosigkeit. „Geilt dich das auf? Du hast völlig allein gehandelt und benutzt mich jetzt als Anstifter?“ „Nein, warte, warte, warte… gibst du mir jetzt die Schuld an allem? An deinem fanatischen und ebenso absurden Racheplan? Werd erwachsen. Dein nicht-Daddy ist krepiert. Und? Sie habens beide getan und jetzt stehst du dumm da. Das ist es!“ Wieder dieses Lachen. Lauter und dröhnender hallt es durch die Nacht im Sinne blanken Hohnes. Es wird abrupt durch ein heftiges Knurren Jarons durchdrungen und der schlagartigen Vorwärtsbewegung. Er packt Stevens Handgelenk mit der einen Hand und den Kragen der Jacke mit der anderen. Es ist wie eine sichtbare Abwärtsspirale der Eskalation. Steven packt den Griff seines Messers fester, während Jaron alles versucht, um es von sich fernzuhalten. Ein einziges Mal gab es so einen Moment auch im Gefängnis. Es war ein selbstgebautes Messer und es ging nicht gut aus. Ich höre Moore mehrmals irgendwas Brüllen. Vernehme Jarons Stimme und auch Stevens. Das Ächzen und Raunen. Alles überschlägt sich und mein Blick fesselt sich an das glänzende Metall der Messerklinge. Immer wieder blitzt sie im fahlen Licht auf, wie ein unheilvoller Countdown, der im lauten Stimmenwirrwarr höhnend schreit. „Hört auf…!“ „Lass das verdammte Messer fallen, Pfennig.“ „Fick dich! Lass los!“ „Seid ihr wahnsinnig!“ „Scheiße…“ „Was...“ „Argghnn…“ Der Knall ist markerschütternd. Richard reißt mich runter. Ich verliere den Halt und meine rechte Hand trifft hart auf den rauen Boden auf. Meine ohnehin schon verletzte Haut reißt weiter auf und sendet sofort ein Alarmsignal durch meinen Kopf. Der Schuss kam von Moore und ging in die Luft. Trotzdem ist ein Ausruf des Schmerzens zu hören und mein Blick fällt sofort zurück zu Jaron und Steven. Mit Entsetzen sehe ich dabei zu, wie das linke Bein von Steven seitlich einknickt. Er lehnt gegen Jaron, rutscht etwas tiefer, bis er vollkommen zu Boden sinkt. Aus seinem inneren Oberschenkel ragt das Jagdmesser. „Scheiße, du hast mir das verfickte Messer ins Bein gerammt“, ächzt Steven Jaron laut entgegen. Seine Stimme zittert hörbar. Mit einem Ruck zieht er den scharfen Gegenstand raus, ehe jemand von uns eingreifen kann. Jaron strauchelt in eine aufrechte Position und Steven lässt das blutgetränkte Messer zu Boden fallen. Es scheppert über den Asphalt und ich starre entsetzt auf die rotleuchtende Wunde. Das Blut drückt sich durch seine Fingerzwischenräume und langsam bildet sich eine deutliche Lache am Boden. Es ist so viel Blut. Verdammt viel Blut. Der menschliche Körper hat 4,5 bis 6 Liter in seinem Kreislauf, geht mir im gleichen Moment durch den Kopf. Das sind 6-8% des eigenen Körpergewichtes. Ich las es vor etlichen Jahren in der Gefängnisbibliothek in einem alten, zerfledderten Anatomiebuch, aber auch heute noch ist die Menge unvorstellbar für mich. „Fuck...du, verdammter Dreckskerl… du…“ Stevens Fluch durchbricht die angestaute Stille. Er bricht mittendrin ab und erst jetzt wird mit klar, dass ich die Luft angehalten habe. Jaron schweigt. Es ist Moore, der als erstes reagiert. Fluchend eilt er auf die beiden Männer zu und reißt sich den Schal vom Hals. Er bindet ihn mit schnellen Handgriffen um den Oberschenkel, hustet bitterlich und zieht ihn mit zittrigen Fingern zu. Danach streckt er seine Hand nach dem Messer aus und schiebt dieses unter seinen Schuh. Steven ächzt laut auf vor Schmerz und das löst den Rest meiner Starre. Auch ich wanke ihnen entgegen, doch Richard stoppt mich. Er schüttelt den Kopf und hält mich eisern zurück. „Fuck you… fickt euch alle, ihr verdammten Mistschweine…fuck…“, meckert mein ehemaliger Arbeitskollege laut auf, nachdem er seine Stimme wiedergefunden hat. „Ich werde wegen euch nicht draufgehen! Shit…“ Es ist deutlich zu erkennen, wie er immer stärker zu zittern beginnt. Sein Blick wird fahrig und unkonzentriert. Moore ruft mehrmals Jarons Namen. Doch der reagiert nicht, also unternehme ich einen neuen Versuch, löse mich aus Richards Griff und hocke mich zu Moore und dem Verletzten. „Er verliert massiv Blut, drück hierauf. So fest du kannst… Richard stopp!!“ Moores alarmierter Ausruf lässt mich zusammenfahren und aufschauen. Rick hält sein Handy in der Hand, wahrscheinlich, um den Notruf zu wählen. „Wir brauchen einen Notarzt!“ „Ja und ich werde ihn rufen. Aber du wirst vorher verschwinden. Sofort!“ „Was? Nein, das werde ich ganz sicher nicht!“, weigert er sich prompt und sein entsetzter Blick flackert über all die beteiligten Gesichter. „Verdammt Paddock, es ist der falsche Zeitpunkt, Edelmut auszupacken.“ „Gott, was ist ihr Problem…“ „Hör auf, zu diskutieren. Mach endlich ne Fliege, Paddock, denn du darfst keinesfalls hier sein, wenn die Polizei eintrifft. Begreifst du es nicht oder willst du wirklich, dass alles auffliegt?“ In Ricks Gesicht offenbart sich ein Schauspiel an Emotionen. Der Wut folgt die Irritation, die durch überraschtes Verständnis abgelöst wird. Ich höre Steven neben mir vor Schmerzen stöhnen und sehe, wie Moore endlich die Nummer des Notrufs wählt. Ich nehme Moore den Schal ab und drücke ihn mit beiden Händen fest auf die blutende Wunde. Moore bellt Richards vollen Namen und ich sehe über die Schulter hinweg zu dem Mann, den ich seit jeher liebe und der sofort verschwinden muss. Seine Anwesenheit würde alles verschlimmern und viel zu viele Fragen öffnen. Auch sage ich seinen Namen, nutze aber unsere Koseform. Es perlt über meine Lippen, wie ein stilles Versprechen und er reagiert. „Geh!“, sage ich leise in Richards Richtung, „Geh endlich!“ Die zweite Aufforderung belege ich mit deutlichem Nachdruck, als er sich nicht rührt. Es ist ein Déjà-vu der schlimmsten Sorte und ich schaffe es kaum, genug Druck auf die Wunde auszuüben, weil meine Hände heftig zittern. „Verdammt, das darf nicht passieren. Ich wollte es diesmal richtig machen“, erklärt Rick, drückt meine Schulter und drückt mir zitternd einen Kuss auf das Haupt. „Scheiße, bringen Sie ihn mir zurück, hören Sie, Moore. Bringen Sie das irgendwie in Ordnung.“ Den letzten Teil richtet er mit scharfem Ton an den alten Detective, ehe er meine Hand loslässt und in der Nacht verschwindet. Längst schildert Moore der Notrufzentrale das Geschehene. Seine Stimme ist fest. Seine Worte ohne Zweifel. Als er die Adresse nennt, sieht er zu mir und ich nicke ihm bestätigend zu, auch wenn es quasi nur ein Rauschen ist, welches in meinem Kopf besteht. Mein Blick schweift zu Jaron, der mit völligem Entsetzen noch an derselben Stelle verweilt, wie zuvor. Seine Lippen beben und die Hände zittern. Sie heben sich deutlich von der dunklen Jeans ab, die er trägt. Auch Moore folgt meinem Blick und ich bin mir sicher, dass er das Gleiche denkt, wie ich, denn schon im nächsten Augenblick steht er auf, packt Jaron am Arm und zieht diesen, ohne abzuwarten, in eine sitzende Position. Er spricht ihn an und es dauert Ewigkeiten, bis sich Jarons Augen wirklich auf Moore fixieren. Dann übergibt er sich, während in der Ferne die Sirenen des Krankenwagens immer lauter werden. „Hey, Eleen, du nicht auch noch… reiß dich zusammen.“ Moore greift mir fest an die Schultern, „Sieh mich an“, fordert er mich ruhig auf. Ich nehme sofort den leicht sauren Geruch an ihm wahr. „Mir geht’s gut“, sage ich automatisch. Es klingt so hohl, wie ich mich fühle. „Das wage ich zu bezweifeln, drück fester“, höre ich ihn sagen, doch es klingt auf einmal weitentfernt. Ich schaue zu der Stelle, an der eben noch Rick gestanden hat und löse mich erst, als Moore erneut fordert, ihn anzusehen. Das matte Blau meines Gegenübers verankert mich im Hier und Jetzt. „Hör mir zu. Wenn die Polizei eintrifft, dann wirst du ihnen im Detail schildern, was Pfennig und Miers getan haben. Wie sie dich hergelockt haben. Was sie dir angetan haben, um sich an dir zu rächen. Du erwähnst Richard mit keinem Wort. Du sagst ihnen, wie ich dir gefolgt bin, weil du den Anrufkanal offengelassen hast. Gut gemacht, übrigens. Verstanden?“ Ich reagiere mit einem minimalen Nicken. „Hast du mich verstanden?“, fragt er erneut. Diesmal lauter. „Ja“, erwidere ich, reibe mir mit dem Handrücken über die feuchten Wangen. Steven ist mittlerweile verstummt. Das leise Wimmern von Jaron wird schnell durch das stetige Rattern der Fahrtrage der Sanitäter übertönt. Ich fühle mich hilflos. Genauso, wie damals. Vergangenheit. Gegenwart. Zukunft. Sie können niemals getrennt voneinander betrachtet werden. Kapitel 33: Epilog ------------------ Epilog Der laue Windhauch ist kühl und füllt meine Lunge mit frischem Leben. Ich atme tief, spüre das Freudenfeuer in meinem Körper tanzen. Ich fühle mich frei, unbefangen und zufrieden, mit jedem Atemzug mehr. Der urbane Dunst fällt von mir ab, als ich die unbefestigte Zufahrt hinauflaufe und die Stadt auch gedanklich hinter mir lasse. Die Zitterpappeln am Ufer des Sees machen ihrem Namen alle Ehre und ein Windstoß lässt die wankenden Blätter förmlich singen. Ich ziehe den Schlüsselbund aus der Tasche und begleite die natürliche Geräuschkulisse mit leisem Summen, während ich auf das alte Holzhaus zugehen. In all den Jahren hat sich hier kaum etwas verändert. Der morsche Baumstumpf neben dem Schuppen dient noch immer als Werkzeughalter und das mittlerweile unvollständige Windspiel aus Perlen und Muscheln weht ohne Klang. Das Holz der Veranda ist morsch, der stetigen Witterung ergeben. Gleichwohl erfüllt es mich mit einem konstanten Wohlgefühl. Hier kann ich die Vergangenheit riechen, sehen und hören. Der Duft von Lavendel, der trotz all der Jahre noch in den Textilien hängt. Die Spuren im Holz. Das Lachen im Gras. Als ich den Schlüssel im Schloss drehe, ist dieser winzige Widerstand zu spüren. Es ist wie das sekundenschnelle Zögern, welches mich weiterhin in vielen Situationen begleitet. Ich notiere Scharnieröl auf meiner gedanklichen To-Do-Liste, gebe der Tür einen eindringlichen Stoß und sie öffnet sich mit einem knarzenden Ruf. Der Geruch von Staub und muffigen Potpourri weht mir entgegen. Einst war es der Lavendel, der hinter dem Haus wuchs und im Sommer jedes Duftsäckchen unnötig machte. Letzte Woche habe ich ihn neu gepflanzt. Ich stelle die Tasche und den Rucksack auf dem Küchentisch ab, ehe ich in den einzelnen Räumen die Fenster öffne. In den Zimmern ist nach wie vor viel zu tun und ich freue mich darauf, alles wieder schön herzurichten. In den letzten Wochen habe ich die Elektrik auf Vordermann gebracht und abdichtende Reparaturen am Dach und an den Böden vorgenommen. Trotzdem sind die Spinnenweben schneller wieder da, als ich sie wegbekomme. In der Küche, mitten im Fensterrahmen, hat eine Spinne ihr Netz gebaut. Ich sehe es durch Zufall, als die Sonne es gegen Mittag um die Zitterpappel herum geschafft hat und die feinen Webstränge glitzern und glühen. Es ist nahezu perfekt und spannt seine Fäden in den vier Ecken des abgeblätterten Rahmens. Ich lege den Hammer zur Seite, den ich in einem der Schlafzimmer benutzt habe, um Ausbesserungen am Boden vorzunehmen, fülle mir ein Glas mit Wasser und gehe dichter heran. Es schimmert und ich erkenne, wie es durch die kleinsten Bewegungen zu schwingen beginnt. Es dauert nicht lange, bis ich auch die dazugehörige Kreuzspinne in einer leicht versteckten Ecke sitzen sehe. Ich habe immer bewundert, wie die kleinen Wesen der Natur diese fantastischen Kunstwerke erschaffen können. Kaum eine Woche hat sie dafür gebraucht, ihre Existenz zu erschaffen. Mehr als ein Jahr dauerte es bei mir. Mehr als ein Jahr ist es her, dass der einst vorübergehend geflickte Scherbenhaufen meines Lebens erneut in Trümmern lag. Es fühlte sich endlos an, da er nur langsam wieder begann, zusammenzuwachsen. Ständig lösten sich neue Splitter und öffneten alte Wunden. Es war fast wie damals. Aber mit einem Unterschied. Diesmal war ich nicht allein. Moore unternahm alles, um zu verhindern, dass sich das Geschehene negativ auf meine Bewährung auswirkte. Auch Ewan schaltet sich ein und sagte als Zeuge aus, berichtet von den Einbrüchen und Schäden, die in meiner Wohnung durch Steven entstanden waren. Jaron gestand. Kaley sprach unentwegt mit Barson, um zu verhindern, dass ich entlassen werde. Sie schaffte es, ihn zu überzeugen und nach zweimonatiger Suspendierung durfte ich meinen Dienst wieder aufnehmen. Und Richard… er schwieg, wie vereinbart und zog die Anträge zurück, die das generelle Kontaktverbot anfechten sollten. Seit zwei Monaten ist meine Bewährungszeit offiziell vorüber. Draußen schlägt die Tür eines Autos zu und ich schaue von meinem Glas Wasser auf. Die Haustür ist nur angelehnt und es fühlt sich richtig an. Es ist in Ordnung, weil die Angst etwas nachgelassen hat. Trotzdem sind die Mauern noch da und werden vermutlich niemals vollkommen verschwinden. Doch im Gegensatz zu früher, habe ich verstanden, dass ich Menschen um mich herumhabe, die mir helfen, sie einzureißen, wenn es nötig wird. Denen ich mein Vertrauen schenken kann, die es aber nicht vorrausetzen. Steven hat es nicht geschafft. Der Blutverlust war zu groß und er verstarb noch auf dem Weg ins Krankenhaus. Obwohl ich keine Schuld daran trage, schwebt sein Tod als erinnernde Wolke über mir. Mit dem charakteristischen Knarzen öffnet sich die Tür und ein freudiges Kichern löst es ab. Ich stelle das Glas zur Seite, als ein herzliches Lachen folgt. In diesem Moment stolpern mir zarte blonde Locken entgegen. Kurze, aber kräftige Arme schlingen sich um meine Beine und erneut ertönt das wundervolle Kichern. Ich hocke mich hin und wir schauen uns an. Kayas rosige Wangen unterstreichen die glücklich glänzenden Kulleraugen. Sie schnauft geschafft von den hohen Treppenstufen, die sie meistern musste, um die Hütte zu erklimmen. Kaya hüpft und wirft sich mir vollends entgegen, drückt ihren kleinen Lockenkopf sachte gegen meine Schulter. „Hallo, Wirbelwind.“, begrüße ich sie. Ich streichele ihr zärtlich eine lockige Strähne hinters Ohr und lächele. In diesem Moment kommt auch Richard durch die Tür. Er schnauft laut, stellt die vollgepackten Beutel neben der Tür ab. Kaya wuselt sich aus meinen Armen und ich richte mich auf, um ihm entgegen zu gehen und etwas abzunehmen. Sie zischt zwischen uns hindurch in eines der anderen Zimmer. Irgendwas geht direkt zu Boden. Es scheppert und rumst, doch weder Richard noch ich reagieren darauf, als danach beruhigendes Kichern ertönt. Wir schauen uns einfach nur an, bis ich fragend eine Augenbraue hebe und er die letzte Entfernung tilgt. Mein Kindheitsfreund führt mich in eine Umarmung und haucht mir einen Kuss auf die Lippen, die ihn sehnsüchtig willkommen heißen. Die ersten Berührungen fühlen sich leicht an, zeugen von Vermissen und Sehnsucht. Sie sind warm, wie die Sonnenstrahlen eines frühen Sommertags. Sie schmecken frisch, wie Erdbeeren und nach süßesten Erinnerungen. Sie versprechen mir mehr. Sie geben mir alles, also lasse ich ihn das spüren. Ich intensiviere den Kuss, nippe und necke an seiner Unterlippe, sodass sich sein Mund öffnet. Rick entflieht ein tiefes Raunen. Mit einem Mal packt er mich mit beiden Händen an der Hüfte und setzt mich auf der Küchenanrichte ab. Ich kann nicht anderes, als überrascht laut loszulachen, murmele seinen Namen, wie ein plötzlicher Sommerschauer. Rick stiehlt sich ungescheut weitere Küsse, benetzt mein Gesicht mit flatternden Flügelschlägen von Liebe. „Wie war dein Dinner-Date gestern?“, fragt er schmunzelnd, nachdem er jede Stelle mindestens einmal getroffen hat und ich mich wieder beruhige. Er streichelt meinen Oberschenkel entlang und macht es mir schwer, mich zu konzentrieren. „Interessant, lecker und auch… eigenartig? Ergibt das Sinn?“ „Durchaus, wenn du mit Kaley wirklich bei dem Mexikaner warst, der Insekten serviert.“ Schon beim letzten Mal hob er seine Augenbraue im Unverständnis. Diesmal wieder. „Heuschrecken in Chipotle-Jalapeño-Pulver gewälzt. Vorzüglich. Für den Nachtisch waren sie schokoliert. War echt gut.“ „Auch scharf?“ „Auch scharf…“, bestätige ich lachend, „Sehr lecker, wenn man nicht darüber nachdenkt, dass man gerade Insektenbeinchen verzehrt.“ Rick verzieht das Gesicht. „Gut zu wissen. Ich befürchte nur, dass ich sie in der Wildnis nirgendwo mit Schokoüberzug finde, wenn ich mich mal verlaufe.“ „Eher unwahrscheinlich“, stimme ich zu. „Welch verrückte Landesküche erkundet ihr beim nächsten Mal?“, fragt mein Kindheitsfreund amüsiert und ich weiß, dass er ein kleines bisschen eifersüchtig ist, weil ich ihm erklärt habe, dass das etwas ist, was ich mit Kaley allein machen möchte. Er versteht es. „Sie hat ein haitianisches Restaurant entdeckt und ist Feuer und Flamme.“ „Kling gut! Auch wenn ich keine Ahnung habe, was typisches haitianisches Essen ist “, bekundet er lächelnd. Ich weiß es auch nicht, aber ich lasse mich gern überraschen. „Und wie war die Therapiesitzung?“ „Intensiv… aufschlussreich und voranbringend“, berichte ich. Richard nickt, murmelt ein paar Guts vor sich hin. Diesmal lächele ich, wische seine verweilende Sorge mit einem Kuss davon. Es ist gut. Jeden Tag wird es besser und diese Momente sind die Besten. Mit seiner warmen Hand in meinem Nacken bin ich mir sicher, immer weiter voranzuschreiten und alles überwinden zu können. Richard ist und bleibt mein Sommer. Er zieht mich in einen sanften Kuss. Die Süße seiner Lippen schenkt mir Liebe und das zauberhafte Kinderlachen im Nebenzimmer schenkt mir Glückseligkeit. Die letzten Jahre waren voller Entbehrungen. Sie nahmen viel, aber sie gaben mir alles. Jetzt bin ich endlich zu Hause. ~ Ein neuer Sommer bringt Sonnenstrahlen voller Sünd, heiß und wild, das Versprechen, was ich dir einst gab, ich niemals künd. Liebe heißt verstehen und verzeihen. Und täglich neu sein Herz verleihen. Darum versprech ich, mit aller Vernunft. Dich will ich lieben. Dich will ich halten. Auf EWIG. ~ Ende ------ Ende. Oh man. Ich bin gerade ganz furchtbar emotional. 🥺🥺 Ich fühle mich gerade mächtig überrollt. Ich habe wirklich lange an der Geschichte von Eleen und Richard geschrieben und ihnen nun endlich auch ein Ende gegeben zu haben, ist wahnsinnig intensiv für mich. Sie haben mich so oft weinen lassen, auch jetzt, und ich bin mir nicht sicher, ob ich allem gerecht werden konnte. Die Welt ist chaotisch. Sie kann einen überfahren. Niemand ist perfekt und man kann es niemals allen recht machen, aber ich habe meine Geschichte erzählt. Ich bedanke mich von ganzem Herzen bei allen, die mich bei dieser intensiven Geschichte begleitet, mich unterstützt und angefeuert haben. Habt großen Dank für eure Geduld und Liebe für Lee und Rick. ❤ Ich werde jetzt ein Eis essen und danach noch eine Runde weinen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)