Kalte Hitze von HellyKitto ================================================================================ Kapitel 4: Mathe macht sexy Teil 2 ---------------------------------- Nach weiteren sieben Stunden, in denen Jack so gar nicht er selbst war, und auch die zahllosen Versuche von Bunny, ihn auf andere Gedanken zu bringen, keine Wirkung zeigten, war der Schultag vorbei. Nach dem Sportunterricht, den sie zum Glück in der Sporthalle abgehalten hatten, ließ er sich extra viel Zeit beim Duschen. Zwar war Jack nicht mehr ganz so mies gelaunt wie noch vor ein paar Stunden, aber der strahlende Sonnenschein war er auch nicht gerade. Er konnte einfach nicht glauben, dass ihn Ms Winters am Samstag zum Nachsitzen kommen ließ! Und so etwas gleich an ihrem ersten Tag, damit machte sie sich nicht sehr beliebt, nicht nur bei ihm. Er hatte die Jungen in der Umkleidekabine reden gehört. Jeder schien sie wohl im Laufe des Tages im Unterricht gehabt zu haben, aber niemand hatte irgendetwas richtig Spannendes zu berichten gehabt. Anscheinend war er der Einzige, mit dem sie aneinandergeraten war. Auf diesen Sonderstatus hätte er auch verzichten können. »Also scharf ist die Winters ja schon«, hatte einer gesagt. Viele hatten zugestimmt. »Die guckt nur voll gruselig.« Auch da stimmten viele zu. »Ja, als ob sie uns gleich töten wollte.« »Ihr hättet sie mal bei uns sehen sollen!« Das war einer, der den gleichen Mathekurs besuchte wie Jack. Wenn er sich recht erinnerte, saß auch er in der ersten Reihe. »Die wäre fast explodiert, als sich Overland weigerte, sich Schuhe anzuziehen! Da hat echt nicht mehr viel gefehlt!« »Die hat bestimmt ’ne ordentliche Portion Leidenschaft zu bieten.« »Aber ihre Haare ... Wieso ausgerechnet dieses blond? Das schreit doch schon danach.« »Nach was?« »Bist du dumm, oder so? Na, das Fick-mich-blond! Dieses wasserstoffblond, was extrem billig aussieht! Das schreit doch schon danach. Viel kann in ihrer Birne wohl nicht drin sein, wenn sie sich so ’ne Frisur macht.« »Alter, die is' ’ne Mathelehrerin, die is' automatisch klug! Nur weil sie scheiß Haare hat, muss das ja nich' heißen, dass sie blöd is'.« »Verknallt, oder was?« »Ach, halt’s Maul, lass uns gehen.« Damit hatte sich die Gruppe aus dem Raum entfernt und Jack war mit Bunny zurückgeblieben, damit sie in Ruhe duschen konnten. Jack drehte die Dusche heiß auf und blieb so lange unter ihr stehen, bis sein Körper krebsrot wurde. Es hatte ihm nicht gefallen, wie diese Kerle über Ms Winters geredet hatten. Auch, wenn er selber kein großer Fan von ihr war - eigentlich war er das schon, aber im Moment war er immer noch stinkig, weil er den Samstag mit Nachsitzen verbringen musste -, zog er noch lange nicht so über sie her, als sei sie ein Objekt ohne Leben und Gedanken. Andererseits war es völlig normal, dass die Jungs über so etwas redeten, denn jedes Wesen, welches zwei schlagende Argumente mit sich herumtrug und sich in den Radius pubertierender Jungs begab, musste damit rechnen, dass über sie geredet wurde. Sowohl positive Dinge, als auch negative. Jack war nur froh, dass die Typen ihr Gespräch so bald beendet hatten, denn wenn das so weitergegangen wäre und sie noch abfälliger geworden wären, dann wäre bei ihm mit Sicherheit eine Sicherung durchgebrannt. Seufzend ließ er seinen Kopf gegen die kalte Fliesenwand sinken. Heute war echt nicht sein Tag, es wurde Zeit, dass er nach Hause kam. Also drehte er die Dusche nun auf kalt, biss sich auf die Zunge, als der Temperaturwechsel sein Hirn erreichte und er schreien wollte, wartete, bis er total abgekühlt war, und drehte dann die Dusche aus. Bunny war schon längst fertig und zog sich gerade seine Jacke an, während Jack sich gemütlich abtrocknete. Nachdenklich wurde er dabei von seinem Freund beobachtet, dem die miese Stimmung auf den Zeiger ging. Hatte er sich doch alles selber zuzuschreiben! Jack wusste, dass Bunny so dachte. »Guck nicht so«, keifte er ihn deswegen an, denn dieses Starren brachte ihn auch nicht weiter. Bunny hob abwehrend die Hände. »Komm runter«, murrte er. »Du weißt, dass du selber schuld bist, also reg dich ab.« Ja, natürlich wusste er das, aber er gab es nicht zu und starrte weiterhin düster vor sich hin, während er sich abtrocknete und sich schließlich anzog. Schweigend verließ er die Umkleidekabine, gefolgt von Bunny, der ebenso schwieg. Einzelne Schüler suchten noch ihren Weg über den Schulhof, entweder um noch einmal das Gebäude zu betreten, oder um in der entgegengesetzten Richtung zum Parkplatz zu gelangen. Vereinzelt ließen sich auch Lehrer blicken, schlurften über den großen Hof hinüber zum Parkplatz oder in Richtung Innenstadt, um die öffentlichen Verkehrsmittel zu benutzen. Auch Jack schlug automatisch diesen Weg ein, wurde aber von Bunny zurückgehalten. »Hey, Keule. Wir haben noch AG. Heute ist Donnerstag.« Das hatte Jack vollkommen vergessen und genervt stöhnte er auf. Blöde AGs! Warum hatte er sich freiwillig dazu gemeldet? Ach ja, weil es Pflicht gewesen war und weil er sonst massive Probleme bekommen hätte. Zweimal in der Woche trafen sich die verschiedenen AGs am Nachmittag, und heute war einer dieser beiden Nachmittage. In dem ganzen Aufruhr hatte Jack das total verpennt. »Kann ich das nicht sausen lassen?«, fragte er wenig hoffnungsvoll und sah Bunny flehentlich an, doch der zuckte nur mit den Schultern. »Ist nicht mein Problem, wenn du Ärger kriegst.« Er kickte einen Stein, der vor seinen Füßen lag, quer über den Schulhof. »Wenn du keinen Bock hast, fein, mach, was du willst. Ich bin nicht dein Aufpasser.« Bunny drehte sich um und marschierte los in Richtung Schulgebäude. Jack fuhr sich seufzend durch die Haare. Hatte er denn überhaupt eine Wahl? Nein, natürlich nicht. Als Jugendlicher hatte man die selten. Ergeben folgte er seinem Freund, der natürlich gewusst hatte, dass Jack ihm folgen würde. Sie hatten dieses Gespräch beinahe jede Woche. Nur heute fühlte er sich wirklich so, als sollte er den Nachmittag sausen lassen. »Das mit den Hasenohren zahle ich dir übrigens noch heim.« Bunny sah sich nicht zu ihm um und sprach nicht anders als sonst, trotzdem konnte Jack die leise Wut hören. Das brachte ihn immerhin zum Schmunzeln. »Komm doch, wenn du dich traust, Känguru.« »Verlass dich drauf.« Jack und Bunny betraten das Gebäude und gingen durch die verlassenen Gänge. Auf halbem Weg trennten sich ihre Wege, Bunnys Weg führte ihn in das Untergeschoss und Jack musste bis fast ganz nach oben. Im vorletzten Stock, direkt unter dem Kunstraum, lagen das Lehrerzimmer und gegenüber das Sekretariat und das Büro des Rektors. Weiter den Gang hinunter befanden sich außerdem der Computerraum, den die Zeitungs-AG am Nachmittag benutzte, und ein kleinerer Raum, der vollgestellt war mit Stühlen, Tischen und Tafeln. Das alles war ausgemustertes Zeug, weil es alt und kaputt war. Dieser Raum, der wohl früher als Klassenzimmer gedient hatte, war heute der Ort, an dem sich seine AG traf: die Jahrbuch-AG. Die kleine Gruppe Schüler, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, das alljährliche Jahrbuch zu entwerfen, zu gestalten, zu füllen und zu drucken. Dass das eine Höllenarbeit war, hatte er letztes Jahr schon mitbekommen, als die Mitarbeiter der AG gegen Ende des Schuljahres extrem unter Stress standen, weil plötzlich gar nichts mehr weiterging und die Druckerei, die für den Druck verantwortlich war, sich plötzlich geweigert hatte die Bücher zu drucken. Der Rektor hatte zwar versucht zu helfen, aber was auch immer er getan hatte, am Ende hatten sie sich eine andere Druckerei suchen müssen. Anscheinend hatte der gute Mann nicht gerade viel bewirken können. Dieses Jahr war er selber Teil des Teams, weil die Vertrauenslehrer ihn dazu gedrängt hatten. Jeder Schüler musste an einer der AGs teilnehmen, um den Zusammenhalt untereinander zu verstärken. Für Jack war das zwar Quatsch gewesen, denn nach der High School gingen sowieso alle eigene Wege, aber er musste sich schließlich beugen, weil so ein Regelverstoß gegen eine Regel vom Rektor selber sehr unangenehme Folgen haben konnte. Als Jack den Raum betrat, waren alle schon fleißig am Diskutieren. Sein Kommen bemerkte niemand und so hielt er sich im Hintergrund und folgte nur halbherzig der Diskussion. Er hatte sich auf einen der Tische gesetzt und sich ans Fenster gelehnt, während er nach draußen sah. Der Schulhof war wie ausgestorben, keine Menschenseele war mehr zu sehen. Es war kurz nach vier, die Sonne war schon fast hinter den Häusern verschwunden. Bis er zuhause war, war es mit Sicherheit schon dunkel. Er fragte sich, ob seine Mutter heute wohl etwas früher von der Arbeit kommen würde, weil sie heute keine Nachricht hinterlassen hatte, rechnete aber nicht wirklich damit. Sich Hoffnung zu machen, brachte nichts, das hatte er schon bald verstanden. Manchmal wünschte er sich, er hätte etwas von Bunnys unerbittlicher Hoffnung in sich. Bunny verzagte nie, er gab nie auf, weil er immer Hoffnung hatte. Sein Freund war so viel erwachsener als er selber. Aber leider auch manchmal viel zu ernst. Unten auf dem Schulhof tat sich etwas. Zwei Menschen kamen aus dem Schulgebäude. Sein Körper erkannte die Frau eher als sein Gehirn und sein Herz setzte wieder einen Takt aus. Ihre blonden Haare schimmerten im Glanz der untergehenden Sonne. Neben ihr lief der Geschichtslehrer, Mr Westergard. Jack beugte sich etwas vor. Was wollte denn eine Frau wie Ms Winters von so einem wie Mr Westergard? Er fand seinen Geschichtslehrer nicht gerade berauschend, aber er war ja auch ein Junge. Die Mädchen jedenfalls waren ganz hin und weg von ihm, also schien er doch recht gut auszusehen. Und dass Ms Winters gut aussah, musste man gar nicht zur Frage stellen. Aber ausgerechnet ein Geschichtslehrer? Jack fragte sich wirklich, was sie von diesem Typen wollte. Und dann fragte er sich, warum ihn das kümmerte. Sollte ihm doch egal sein, was seine Lehrer trieben. Wahrscheinlich waren Lehrer sowieso nur für ihresgleichen richtig attraktiv. Jack wandte seinen Blick ab, gerade als er seinen Namen hörte. Er hatte irgendwann aufgehört auf seine Kollegen zu achten und wusste dementsprechend auch nicht, worum es ging. Einzig der Satz »das kann doch Jack übernehmen!« hatte ihn hellhörig werden lassen. Was konnte er machen? Die Leiterin der AG, ein bildhübsches, schwarzhaariges Mädchen mit dem Namen Stacy, klatschte vergnügt in die Hände und wandte sich an Jack. Wann hatte sie mitbekommen, dass er auf dem Tisch saß? »Ja! Jack! Das ist eine fabelhafte Idee!« Sie funkelte ihn irrwitzig an und Jack bekam es mit der Angst zu tun. Was für eine Idee? Stacy musste wohl ahnen, dass er keine Notiz von dem bisherigen Gespräch genommen hatte, denn sie erklärte es ihm. »Jack, du übernimmst die Lehrerseite.« So viel zum Thema erklären. »Was?«, fragte er verständnislos. »Die letzten Jahre haben wir den Lehrern im Jahrbuch kaum Beachtung geschenkt und der Rektor will, dass sich das ändert. Er hätte gerne auch eine Seite über die Lehrer. Und die wird deine Aufgabe werden. Mit allem, was dazugehört, natürlich. Interview, Foto, Signatur, persönliche Widmung ... Das Ganze eben.« »Und warum soll ich das machen? Wo mich die Lehrer doch so lieben?« Stacy zuckte mit den Schultern. »Wir sind schon alle so beschäftigt genug. Dieses Jahr gibt es viel, worüber berichtet werden muss und die Abschlussklasse ist dieses Jahr doppelt so groß wie sonst, was die Arbeit verdoppelt. Sei froh, dass du nur die Lehrer hast, die halten sich ja noch in einem überschaubaren Rahmen. Bei über fünfhundert Absolventen sieht das da schon etwas anders aus.« Jack verfluchte sich, sein Leben, die Schule, Stacy und das Schicksal. Er hasste es. Er hasste alles. Der Tag wurde nicht besser, er hatte doch gewusst, dass er besser nicht zur AG gegangen wäre. Jetzt hatte er den Salat. Was sollte er denn bitte mit den Lehrern anfangen? Keiner konnte ihn wirklich leiden, bis auf Mrs Black, die nun fort war, und vielleicht Ms Tooth, die ab und an auch ein Späßchen mit ihm machte. Das war es aber auch schon gewesen. Die restlichen zwanzig Lehrer konnte er in die Tonne hauen. Zumal er auch nur sieben davon selber im Unterricht hatte. Wie er mit den anderen dreizehn zusammenkommen sollte, war ihm ein Rätsel. Aber Stacy schien seine Gedanken zu lesen, denn sie meinte: »Keine Sorge, die Lehrer werden innerhalb der nächsten Woche darüber Bescheid kriegen und sich nacheinander bei dir melden, damit da nichts durcheinandergerät.« Jack nickte nur und sagte nichts. Das Gespräch nahm wieder an Fahrt auf und wieder beteiligte sich Jack nur halbherzig daran. Er lehnte sich wieder zurück und sah wieder aus dem Fenster. Der Schulhof war leer. Stacy und die anderen waren fleißig und arbeiteten einen kurzen Fragebogen aus, den die Lehrer beantworten sollten. Jack nahm ihn entgegen und musterte die Standardfragen. Voller Name, Geburtsdatum, Herkunft, Größe, Augenfarbe, Haarfarbe, Hobbys, Familie, Unterrichtsfach, Macken, wie sie an die Schule gekommen waren ... Standardfragen eben. Stacy hatte auch schon ein grobes Layout für die Interviewseiten und hatte es auf die Rückseite gemalt. So in etwa stellte sie es sich vor, aber sie meinte auch ausdrücklich, dass Jack jede Seite individuell gestalten konnte. Ob das Bild nun links oben oder rechts unten war, ob der Hintergrund nun weiß oder schwarz war, ob die Schrift normal oder kursiv sein sollte ... Da sollte er ganz allein entscheiden. Nur die Übersichtsseite mit den ganzen kleinen Fotos und Namen der Lehrer war einheitlich zu dem Rest. Da hatte er also nichts mitzureden, aber das interessierte ihn im Moment auch herzlich wenig. Er faltete das Papier zusammen und stopfte es in seine Hosentasche. Dabei warf er einen Blick aufs Handy und stellte erfreut fest, dass es in wenigen Sekunden klingeln würde und der Schultag für heute beendet war. Das Handy landete wieder in seiner Tasche und er erhob sich. Die fragenden Blicke seiner Kollegen ignorierend legte er die Hand auf die Türklinke, gerade als es läutete und schon war er aus dem kleinen Raum verschwunden und machte sich auf den Weg nach unten. Unterwegs wurde er von Bunny und Sandy aufgegabelt, mit denen er sich auf den Weg zur U-Bahnstation machte. Sandy wollte unbedingt das Foto von Bunny sehen, welches Jack am Morgen gemacht hatte, doch unter dem extrem bösen Blick von Bunny wollte er das nicht tun, denn wenn Bunny das Handy in die Hand bekam, war das Foto schneller gelöscht, als er gucken konnte. Also vertröstete er Sandy darauf, dass er es ihm schicken würde, sobald er Bunny losgeworden war und der blonde Junge strahlte breit. Die Fahrt über schwieg Jack und starrte aus dem Fenster, auch wenn er nichts anderes sah als ihre Reflexionen. Er hatte seinen Freunden noch nichts von seiner Aufgabe für das Jahrbuch erzählt und ihm war auch nicht wirklich danach, davon anzufangen. Sandy stieg als Erstes aus und verabschiedete sich wild winkend von den beiden, und Jack und Bunny fuhren weiter bis zur Endstation. Hier verabschiedeten sich die beiden und gingen ihres Weges. Jack stieg in den Bus um, setzte sich weit hinten auf einen leeren Platz und starrte für den Rest der Fahrt aus dem Fenster. Die Lichter der Stadt waren so hell, dass der dunkle Himmel über ihnen kaum noch zu erkennen war. Alles war beleuchtet, doch es verschwamm vor seinem Blick und er nahm die Lichter nur als grobe Punkte wahr, die an ihm vorbei rauschten. Der Bus leerte sich, je weiter sie sich in die Randbereiche bewegten, und dann kam seine Haltestelle, an der Jack ausstieg. Gemütlich schlenderte er den Weg entlang und ab und zu ließ er seinen Blick zum Himmel wandern. Der Mond war zu sehen, aber er war klein und unspektakulär in dieser Nacht. Sterne konnte er keine sehen, er vermisste es, sie stundenlang zu beobachten. In der Stadt sah man so selten die Sterne und nachts kam er nur sehr selten aus der Stadt heraus, weshalb es ein ganz seltenes Vergnügen war, die Sterne zu sehen. Nebel legte sich auf die Stadt nieder und Jack beeilte sich nun, nach Hause zu kommen. Dort angekommen schloss er die Tür auf. Innen war es stockdunkel, also war noch niemand da. Natürlich nicht. Er und Emma waren die meiste Zeit die einzigen Bewohner hier. Er schmiss seinen Rucksack in eine Ecke, wo er für den Rest des Abends liegen bleiben würde. Er machte sich überall Licht und ging in die Küche, um in den Kühlschrank zu sehen. Die Auswahl war nicht wirklich berauschend, also entschied er sich für eine Fertigpizza. Die war zwar nicht die Crème de la Crème, aber für ihn war das in Ordnung. Er heizte den Ofen an und ging dann die Treppe nach oben, um nach seiner Schwester zu sehen. Leise klopfte er an die Tür und öffnete sie, nachdem er keine Antwort erhielt. Sein Herz blieb stehen, als er das Zimmer leer vorfand. »Emma?«, fragte er überflüssigerweise in den leeren Raum, natürlich bekam er keine Antwort. Wo war sie? Um die Zeit müsste sie doch schon längst daheim sein ... Während er grübelnd die Treppe hinunterlief und in der Küche die Packung der Pizza aufriss, fiel es ihm plötzlich ein und ihm wurde eiskalt. Die Pizza fiel ihm aus der Hand. Er hatte sie nicht von der Schule mitgenommen! Wahrscheinlich war sie noch immer in ihrem Schulgebäude und wartete darauf, dass er sie abholen kam. Seine Gedanken hatten ihn so eingenommen, dass er gar nicht mehr an Emma gedacht hatte. Er hatte seine Schwester vergessen. Was war er für ein fürchterlicher Bruder! »Scheiße!«, brüllte er und wirbelte herum, riss im Vorbeigehen den Schlüssel vom Schlüsselbrett und riss die Tür auf. Er stolperte nach draußen und gerade, als er das Gartentor erreichte, hielt einige Meter neben ihm ein schwarzes Auto. Die Beifahrertür ging auf und heraus kam seine Schwester. Jack war so überrascht, dass er über seine eigenen Beine stolperte und fast das Gleichgewicht verlor. »Emma!« Das Mädchen lächelte dem Fahrer des Fahrzeugs zu, der daraufhin Gas gab und davon fuhr. Emma kam auf ihn zu und lächelte. Es brach Jack das Herz. Er hatte sie vergessen. Wie konnte das passieren? Er kniete sich vor ihr hin, um auf Augenhöhe mit ihr zu sein und schloss sie dann fest in seine Arme. »Es tut mir leid, dass ich dich nicht abgeholt habe!« Er konnte ihr nicht sagen, dass er sie vergessen hatte. »Mir ist etwas dazwischen gekommen, ich war gerade auf dem Weg zu dir, als du ... Wer hat dich hergefahren?« Emma tätschelte seinen Kopf und schüttelte den ihren. »Kein Problem, dafür habe ich meine Hausaufgaben schon alle gemacht. Und das ... das war ein Mann gewesen.« Jack wurde hellhörig und schob sie ein Stück von sich weg. »Ein Mann? Was für ein Mann? Ein Lehrer? Ein Bekannter?« Emma schüttelte wieder den Kopf und wich seinem Blick aus. »Ich kenne ihn nicht«, gab sie leise zu und wappnete sich innerlich gegen den Ausbruch ihres Bruders. »Was?«, rief er und stand auf, »Du fährst mit einem Fremden mit? Emma Overland! Hatte ich dir nicht gesagt, du sollst nie zu Fremden ins Auto steigen? Und erst recht nicht zu Männern? Wenn dir nun etwas passiert wäre, wenn er dich entführt hätte! Mein Gott, Emma, so etwas ist gefährlich! Du machst so etwas nie wieder, hast du mich verstanden?« Emma war ganz klein geworden unter der Wut von Jack und das schlechte Gewissen stand ihr ins Gesicht geschrieben. Mit ihren großen, braunen Augen sah sie zu Jack auf und Tränen schimmerten in ihnen. »Bitte sei mir nicht böse! Ich verspreche, dass ich das nicht mehr machen werde! Aber du bist einfach nicht gekommen und es war schon dunkel und der Hausmeister wollte schon die Türen abschließen ... Warum warst du nicht da?« Jetzt kullerte eine dicke Träne über ihre Wange und Emma rieb sich die Augen. Jack tat es augenblicklich leid, dass er Emma so angefahren hatte, und kniete sich wieder zu ihr, um sie in den Arm zu nehmen. »Ich bin dir nicht böse«, stellte er klar, »ich bin nur wütend auf so einen Mann, der ein kleines Mädchen in sein Auto lockt.« »Er kannte mich«, erzählte Emma und schniefte leise. »Er wusste, wie ich heiße, und wo ich wohne.« »Und er war sicher nicht aus deiner Schule?« Als sie das verneinte, machte sich ein mulmiges Gefühl in seiner Brust breit. Ein Fremder wusste den Namen und den Wohnort seiner zehnjährigen Schwester. Das war höchst seltsam, wenn nicht sogar unheimlich. Er musste in Zukunft alle beiden Augen auf seiner Schwester behalten, denn das war ihm nicht geheuer. »Na, komm, ich mach dir eine Pizza. Und dann denken wir nicht mehr daran. Aber du musst mir wirklich versprechen, dass du das nicht noch einmal tust. Der Mann kann sonst was mit dir anstellen. Ok?« Emma nickte. »Versprich du mir, mich nicht noch einmal zu vergessen.« Sie hatte ihn durchschaut. Natürlich. »Ich schwöre es dir.« Er hob Emma auf seinen Arm und gemeinsam betraten sie die Wohnung. Nach dem Essen hatte er Emma auf das Sofa verfrachtet und nun schaute sie irgendeine Kindersendung an, über die sie laut lachte. Jack war im Flur und reparierte das Schlüsselbrett, welches er vorhin aus der Wand gerissen hatte. Unter ihm klingelte das Telefon, was er auf den Boden geschmissen hatte, nachdem ihm das Brett einmal aus der Hand gefallen war. Weder er noch seine Schwester machten Anstalten, den Hörer in die Hand zu nehmen, und so sprang nach kurzer Zeit der Anrufbeantworter an. »Hey, das ist der Anrufbeantworter der Familie Overland. Wir sind grad nicht da oder zu faul, um ranzugehen, also hinterlasst doch eine Nachricht!« Die Stimme seiner Mutter klang mechanisch aus dem kleinen, schwarzen Gerät neben dem Telefon. Es war ein Mann, der nun sprach. »Hallo, Olivia, hier ist Dan. Ich ...«, der Mann druckste herum und Jack fragte sich, was das für ein komischer Typ war. Er kannte keinen Dan. »Ich wollte ... Also, der Abend gestern mit dir ... Ich wollte nur, dass du weißt, dass ... Es war der schönste seit langem und ... Wie eigentlich alle anderen mit dir ... ich hoffe, du bist der gleichen Meinung ... Also ... Wenn die Chance besteht, dass wir uns noch einmal treffen können ... Niemand passt so gut in mein Bett wie du und ich ...« Vor Schreck ließ Jack den Hammer fallen, der auf dem Anrufbeantworter landete. Die Stimme von Dan verstummte und Jack starrte auf das schwarze Gerät. Der Abend gestern mit dir? Wie alle anderen mit dir? Niemand passt so gut in mein Bett wie du und ich? Was ging denn da ab? Ihre Mutter hatte einen Macker und das wohl nicht erst seit ein paar Tagen, so wie der klang, kannten sie sich schon länger. Und gestern, als sie so spät kam und keinen Pfifferling darum gegeben hatte, zu ihm zu kommen, sondern gleich im Badezimmer verschwunden war ... Er war verletzt. Warum hatte sie das nicht erzählt? Wie lange ging das schon? Ist Dan der Grund, warum sie seit einiger Zeit nur noch selten daheim war? Das konnte er nicht glauben. Sein Herz stach unangenehm in seiner Brust. Er war verletzt. Sehr verletzt. Er ließ das Schlüsselbrett Schlüsselbrett sein und kehrte zu seiner Schwester ins Wohnzimmer zurück. Sie hatte von dem Anruf nichts mitbekommen, sondern lachte noch immer über die Sendung. Jack setzte sich zu ihr, sagte kein Wort, reagierte nicht, als ihn Emma fragend ansah. Wortlos drückte sie sich eng an ihn und sie ahnte nicht, wie sehr ihm das gerade half. Einige Stunden später hatte er Emma ins Bett gebracht und ihr eine Geschichte vorgelesen. Gerade, als er die Tür leise schloss, ging unten die Haustür auf. Seine Mutter war heute etwas früher dran als gestern. Es war erst kurz nach neun Uhr. Er ging die Treppe nach unten, um seine Mutter zu begrüßen. »Hallo.« Seine Stimme klang kalt, er bemühte sich, seine Gefühle zu verstecken. »Oh, hallo Jack. Was für ein Tag!«, seufzte sie geschafft und ließ sich auf das Sofa fallen. Zögerlich setzte sich Jack auf den Sessel, der schräg neben dem Sofa stand. Während er sie ansah, versuchte er Zeichen eines Liebhabers zu erkennen. Wie erkannte man einen Liebhaber? Das wusste er nicht. Bisher musste er sich mit solchen Sachen nicht beschäftigen. »Schläft Emma schon?« Falsches Thema. Er spürte Wut in ihn hochkommen. Sie wagte es, sich nach Emma zu erkunden? »Ja. Gerade eingeschlafen.« Die Frau sah ihren Sohn lächelnd an, aber Jack konnte es nicht erwidern. Ihm war nicht nach Lächeln zumute. »Was ist los, Junge? Du guckst so angestrengt.« »Ich gucke nicht angestrengt, Mutter.« Jack fragte sich, wann er das letzte Mal Mum zu ihr gesagt hatte. Hatte er sie überhaupt jemals so genannt? »Ich mache mir Sorgen.« Jacks Mutter sah ihn an und lächelte wieder. Wie konnte sie da lächeln? »Du musst dir keine Sorgen machen, Jacky. Es geht mir gut!« Jack zog seine Augenbrauen zusammen, sowohl wegen seinem Spitznamen als auch wegen der Annahme, er würde sich tatsächlich um die Frau sorgen, die mehr ab- als anwesend war. Wegen einem Dan. Gereizt fauchte er: »Nicht um dich! Dir geht es ja offensichtlich gut!« Das war vielleicht etwas zu direkt, aber der ganze Haufen an Gefühlen, die er den ganzen Tag mit sich herumgeschleppt hatte, platzte nun aus ihm heraus. Bei irgendjemandem musste er einfach die Luft rauslassen. Seine Mutter war die einzige Person, auf die er noch mehr Hass verspürte als auf sich oder auf Ms Winters. »Um Emma, verdammt!« Seine Mutter schwieg und sah ihn betroffen an. Sie war so einen Gefühlsausbruch von ihm nicht gewohnt. Aber darauf nahm er keine Rücksicht. »Wusstest du, dass sie mit fremden Männern im Auto durch die Stadt fährt? Wusstest du das?!« Er begann zu schreien und er legte alles in diesen Moment. Es tat gut, es befreite ihn. »Was? Nein, ich ...«, weiter kam sie nicht, denn Jack redete schon wieder. Oder schrie. »Nein! Natürlich nicht! Du bist ja nie da! Himmel, ihr hätte sonst was passieren können! Und wo wärst du gewesen? Bei deinem Lover im Bett! Sag mal, merkst du eigentlich noch was? Du hast Kinder, verdammt! Scheiß auf mich, ich hab mich dran gewöhnt, aber Emma nicht! Sie braucht dich, kapierst du es nicht? Wie konnte es dazu kommen, dass sie in ein fremdes Auto steigt?« Jack ließ außen vor, dass das nicht geschehen wäre, wenn er sie nicht vergessen hätte, aber sein schlechtes Gewissen war in einen hinteren Teil seines Hirnes verbannt worden. »Sei still«, flüsterte seine Mutter, der Tränen über die Wange liefen. Jack stimmte das nicht milde, es machte ihn nur noch wütender. Er verstand nicht, warum sie jetzt heulte. Sie hatte kein Recht dazu! »Du hast keine Ahnung, wie-« »Nein, verdammt, ich hab keine Ahnung, was für ein toller Stecher dein neuer Macker ist, dass er dich sogar deine eigenen Kinder vergessen lässt!« Die Ohrfeige kam schnell, hart und unvorhergesehen. Ein knallroter Abdruck zeichnete sich auf Jacks Wange ab und paralysiert wanderten seine Finger sacht über die taube Stelle. Eigentlich sollte er jetzt Schmerzen verspüren, aber er war leer und ausgelaugt. Er fühlte gar nichts mehr, weder Erleichterung, noch Zorn, noch Schmerz. Nichts. Seine Mutter starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Sie schien langsam zu realisieren, was sie getan hatte. »Oh, mein Gott ...«, flüsterte sie und ging einen Schritt auf ihn zu, doch Jack wich zwei Schritte zurück. »Fass. Mich. Nicht. An«, sagte er betont langsam und leise, sah sie emotionslos an und drehte sich dann um. In dem Regenschirmständer im Flur befand sich sein liebster und treuester Begleiter: Ein Stab, dessen eines Ende nach innen gebogen war. Diesen schnappte er sich und verließ das Haus, rannte los, bis er nicht mehr konnte, bis er fast zusammenbrach, und er fand sich weit außerhalb der Stadt wieder, so weit außerhalb, dass er sie endlich sehen konnte: Sterne. Dutzende, Hunderte, Tausende, Millionen von ihnen. Und den Mond, der plötzlich viel größer erschien und der einzige war, der ihm im Moment Trost spendete. Er presste seinen Stab an seine Brust und stützte sich darauf ab. Seine Schuld. Ja, es war seine Schuld. Alles war seine Schuld. Dass seine Schwester sich fremden Männern aussetzen musste, dass seine wunderschöne, neue Mathelehrerin ihn hasste, dass seine Mutter ihn geschlagen hatte ... Alles war seine Schuld. Der Schmerz kam nun, in hundertfacher Stärke, und brach über ihn herein. Er krümmte sich und stützte sich noch mehr auf seinen Stab. Schnell wurde es in seinem Inneren zu viel, der Schmerz ließ seinen Körper anschwellen. Er würde platzen, wenn er ihm keinen Platz machte, also konzentriere er all seinen Schmerz auf sich selber, auf seine Kräfte, denen er durch den Stab freien Lauf lassen konnte. Er spürte die Explosion aus Schmerz, die in eine Explosion der Macht überging und mit einem Schrei entlud sich alles auf einmal. Aus seinem Stab stoben Unmengen an Eis und Schnee und verteilten sich in einem großen Radius um Jack herum. Er schrie sich die Seele aus dem Leib, spürte, wie der Schmerz nachließ und das Gefühl der Macht sich steigerte. Sie überwältigte ihn, zerriss ihn noch mehr als der Schmerz und als es schließlich abebbte, war alles um ihn herum völlig vereist. Er spürte sein Handy in der Hosentasche vibrieren, doch er hatte keine Kraft mehr, um es zu nehmen, er wollte sich nur noch hinlegen und nie wieder aufstehen. An Ort und Stelle kippte er um wie ein nasser Sack und blieb liegen. Die Kälte umarmte ihn liebevoll und er ließ sich auf sie ein. Bei ihr fühlte er sich wohl und Zuhause. Sie ließ ihm nie im Stich. Er lag auf dem Rücken und sah nach oben zu den Sternen. Er hatte sie schon lange nicht mehr gesehen. Er war zu erschöpft, um sich aufzukämpfen und nach Hause zurückzukehren, also schloss er einfach die Augen und wartete, bis der Schlaf ihn holen würde. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)