Wir waren zu jung von Javert ================================================================================ Kapitel 1: ----------- München, 1935 „Marco!“ Die Augen des Jungen verließen das Buch, das er fast beendet hatte. Was hatte ihn aufgeschreckt? Er war so vertieft gewesen, dass er sich nicht sicher war, ob wirklich jemand nach ihm gerufen hatte. Faul lag er auf der alten Couch, die jedes Mal Staub aushustete, wenn er sich bewegte. Orientierung suchend blickte er sich in dem altbekannten Zimmer um – das Wohnzimmer seiner Eltern. Grade noch war er auf einem Schiff aus Amerika gewesen. Sachte schüttelte er den Kopf und setzte sich auf. „Marco!“ Ah, gut, es war seine Mutter. Er legte „In achtzig Tagen um die Welt“ zur Seite und blickte auf die Uhr. Zwanzig nach fünf. Die Schule war schon seit mehr als drei Stunden zu ende. Warum hatten sie so lange gebraucht? „Marco, hörst du schlecht?! Deine Freunde sind hier!“ Seine Mutter wurde langsam ungeduldig. „Entschuldigung!“ Flott sprang er auf und eilte zur Tür hinaus und die Treppen hinunter. In der Eingangshalle stand Frau Bodt zusammen mit Jean Kirschstein, seinem besten Freund. „Was tust du denn die ganze Zeit da oben? Du bist jung, es tut jungen Burschen nicht gut, die ganze Zeit in der Stube zu hocken.“ „Deswegen bin ich ja hier“, grinste Jean. „Ich hole ihn zum Fußball spielen ab, wir treffen uns alle hinter dem Haus von Erens Familie.“ Frau Bodt schüttelte ihr dunkles Haar. „Eren Jäger? Warum müsst ihr immer mit den Unruhestiftern spielen?“ „So schlimm ist er auch nicht, Mum.“ Marco seufzte und schob sich an ihr vorbei. Schnell hatte er Jean am Arm gepackt und rannte davon. Noch etwas länger und ihre Schimpftirade hätte völlig eingesetzt. „Sei aber bitte daheim, bevor es dunkel wird!“ „Ja, Mum!“ „Du weißt, dass es sonst gefährlich wird!“ „Klar, Mum!“ Und weg waren sie. Jean lachte. „Gefährlich? Was soll schon passieren, sollen die Geister dich holen?“ Er war schneller als Marco und schon recht hoch gewachsen für einen Vierzehnjährigen, wodurch ihm die langen Beine noch mehr halfen. Halbherzig grinsend lief Marco hinterher, durch die matschigen Straßen der Stadt. Die Jägers wohnen etwas außerhalb Münchens, weswegen sie noch ein gutes Stück vor sich hatten. Aber dafür hatten sie auch genug Platz zum Fußball spielen. Schließlich ging ihnen die Puste aus und sie hielten vor einem kleinen Laden, der Schokolade verkaufte. Zusammen betraten sie den zugestellten Raum, an dessen Ende eine alte Frau in einer Zeitung blätterte. Auf der Titelseite war ein Bild des Führers, und Marcos Augen blieben wie immer daran hängen. Er wollte es nicht zugeben, vor allem nicht vor seinen Freunden, doch der Anblick machte ihm Angst. Die Frau an der Kasse sah schließlich auf. „Ach, der Bodt. Immer noch hier?“ Marco wusste, dass es seine Aufgabe war, für Ablenkung zu sorgen, also ließ er sich auf die griesgrämige alte Schachtel ein. „Klar, wo sollte ich sonst sein?“ Er schielte hinüber zu den Regalen, die Jean aufmerksam musterte. Er nahm mal dunklere, mal hellere Schokolade in die Hand und ließ sie immer wieder zurückgleiten. „Vielleicht da wo du herkommst? Du kommst doch von der Insel, was willst du überhaupt in dieser Stadt?“ Es lief immer so und er konnte sagen was er wollte, deswegen dachte er sich immer etwas anderes aus. „Meine Mutter liebt die deutsche Kuhmilch, deswegen sind wir damals hier hergezogen.“ „Deine Mutter ist Deutsche, Bürschchen, ich weiß das.“ „Dann war das wohl mein Vater. Einmal hatte er so viel Milch getrunken, dass es ihm aus den Ohren wieder herauskam.“ „Wird nicht frech!“ „Das ist nur die Wahrheit.“ Marco grinste, während Jean langsam den Laden verließ. Alles lief nach Plan, und Marco war ebenfalls schon halb draußen, als eine Tafel Schokolade aus Jeans Jacke fiel und auf den Boden krachte. Die alte Frau tobte, während Jean losrannte und Marco nach der Tafel griff. Sie war noch nicht mal um die Theke gekommen, da waren die beiden Jungen schon lachend davon gelaufen. Als sie außer Reichweite waren, ließen sie sich unter einer alten Buche nieder und öffneten die Schokolade. Sie lachten immer noch und hatten schon Seitenstiche. Schließlich beruhigten sie sich, nur das ein oder andere Kichern war noch zu hören. Jean lehne sich mit der Schulter an Marco und griff nach dem Riegel, den Marco ihm hinhielt. „Ich denke, wir müssen uns einen anderen Laden suchen“, sagte er schließlich und grinste den Jungen mit den Sommersprossen an. „Das wird noch Ärger geben“, meinte Marco und schüttelte sich. „Immerhin kennt sie meine Mutter.“ „Egal, jetzt haben wir erst mal Schokolade.“ Und so saßen sie nebeneinander, beide schweigend. Die Schokolade war köstlich, doch sie konnte Marco nicht ablenken. Den ganzen Tag schon hatte er es versucht – erst mit dem Buch, dann mit der Rennerei, doch die dunklen Gedanken kamen immer wieder zurück. Er sah hinüber zu Jean, der zufrieden mit seiner Situation zu sein schien und seufzte leise. Jean. Sein bester Freund seit Jahren. Als Marco aus Groß Britannien hergezogen war, war Jean der erste gewesen, der sich mit ihm angefreundet hatte. Marco konnte damals zwar schon etwas Deutsch, da er eine deutsche Mutter hatte, doch trotzdem hatten ihn die anderen Kinder wegen seiner Aussprache gehänselt. Eines Tages war es so schlimm gewesen, dass Marco überlegt hatte, einfach nicht mehr zur Schule zu gehen. Er war damals acht. Doch dann kam Jean und war nicht nur nett zu ihm, er hatte ihn auch noch verteidigt. Seitdem waren sie beste Freunde, und Marco war dem blonden Jungen Tag für Tag mehr dankbar. Keiner kannte ihn so gut und keiner interessierte sich mehr für ihn, und das tat gut. Mehr als gut. Seit einiger Zeit war es für Marco das schönste Gefühl überhaupt, in Jeans Nähe zu sein. Und das sah er ein, auch wenn es ihm manchmal selbst peinlich war. „Warum warst du heute nicht in der Schule?“ fragte Jean plötzlich und riss Marco damit aus seinen Gedanken. Marco seufzte erneut. Damit hatte Jean genau den wunden Punkt getroffen, aber es war ihm eh klar gewesen, dass diese Frage kommen würde. Erst mal blieb es still. Wie konnte er es Jean klar machen, ohne ihn zu verletzen? Ohne sich selbst allzu sehr zu verletzten? Jeans Blick wurde bohrender und so wurden es Marcos Gedanken, während die abendliche Sonne durch die Blätter schien und Muster auf ihre Gestalten zauberte. Schließlich überwand Marco sich. Er strich sich den dunklen Pony aus dem Gesicht und blickte in das Gesicht seines liebsten Menschen. „Meine Mutter will zurück.“ Das war alles. Mehr konnte er nicht herausbringen, ohne, dass er sich die Blöße gegeben hätte. Seine Stimme war so schon zittrig. Er wollte nicht immer der Schwächere von beiden sein, er wollte die Stärke, die er durch Jean hatte, auch nutzen. „Zurück.. wohin?“ fragte Jean leise, doch es war klar, dass er es bereits wusste. Seine Augen waren aufgerissen und er hatte sich von Marco weggelehnt. „Essex.“ Wieder war es ruhig. Die Sekunden verstrichen kaum, alles schien zäh und langsam zu sein. Irgendwo rief ein Kind nach den Eltern, im Wind wehte eine einsame Hakenkreuz-Flagge. Marco betrachtete sie traurig, während Jean sich nicht rührte. „Nächste Woche geht es los, sie hat mir nichts davon gesagt. Ich weiß es seit gestern. Sie will, dass wir bei Verwandten meines Vaters unterkommen. Es wird ihr hier angeblich zu heikel.“ Weiterhin rührte sich keiner der beiden, weiterhin brannte das Rot der Flagge in Marcos Augen. „Ich bin offiziell Engländer, Jean. Und jeder in unserem Viertel weiß das.“ Der blonde Junge stand auf. Er sah nicht hinab, viel mehr starrte er in die Ferne. „Dir kann nichts passieren“, murmelte er schließlich. „Nicht, wenn ich da bin. Ich beschütze dich.“ „Der beste Schutz ist die Entfernung.“ „Ich beschütze dich.“ „Weißt du noch, was mit Mikasa passiert ist?“ „Weißt du noch, wie Mikasa dann losgezogen ist und alle verprügelt hat?“ „Du bist nicht Mikasa.“ „Nein. Ich bin Jean Kirschstein. Und ich beschütze dich.“ „Vielleicht will ich deinen Schutz nicht mehr.“ Das hatte getroffen. Auch aus diesem Winkel konnte Marco Jeans Ausdruck sehen. Seine Stirn lag in tiefen Falten und er sah älter aus. Es war als hätte die Realität die beiden am Genick gepackt. Schließlich stand auch Marco auf. Seine Hand schnellte nach vorne, um Jean zu berühren – doch er hielt inne. Jean. Der Junge, der ihm alles bedeutete. Hatte er ihm das je gesagt? Dieser drehte sich um und sah Marco fest an. Es verstrichen Sekunden, Minuten. Irgendwann merkte Marco, dass seine Hand immer noch ausgestreckt war. Als er sie fallen ließ nahm Jean sie in seine. Und so standen sie da, für eine weitere Weile. Die Schokolade auf dem Boden hatten sie lange vergessen. Als sie sich schließlich losließen schien der Moment wie eine Blase geplatzt zu sein. „Die anderen warten“, meinte Jean. Kapitel 2: ----------- Draußen prasselte der Regen gegen das Fenster. Obwohl es noch Sommer war, war es erstaunlich kühl. Jean wischte sich mit dem Ärmel über die Nase. Gelangweilt lehnte er sich auf seine Stuhllehne und schaute den Tropfen zu, wie sie in feinen Linien die Scheibe hinab liefen. Ihm gegenüber in dem kleinen Wohnzimmer der Kirschsteins saßen seine Mutter und Karla Jäger, mit der sie gut befreundet war. Sie unterhielten sich gerade über die neusten Geschichten der Nachbarschaft. Obwohl er Frau Jägers Sohn Eren absolut nicht ausstehen konnte, mochte er sie doch ganz gerne. Ihr Mann war Doktor und so hatte sie immer interessante Geschichten zu erzählen, doch heute konnte sich Jean einfach nicht darauf konzentrieren. Mürrisch versuchte er das Gerede der beiden Frauen auszublenden. Er wusste, dass er unhöflich war, doch er konnte einfach nichts daran ändern. Morgen würde Marco fort gehen. Sein bester Freund, weg. Nach Groß Britannien. Würde er ihn bald wieder sehen? Vermutlich nicht. Seufzend riss er sich vom Anblick der Regentropfen los. Prompt handelte er sich einen tadelnden Blick seiner Mutter ein. „Jean“, sagte sie ruhig, doch er bemerkte den scharfen Unterton. „Wenn dir so langweilig ist, geh doch bitte in die Küche oder nach draußen. Aber so ein Benehmen will ich hier nicht sehen.“ Jean nickte und stand auf. „Entschuldigung“, murmelte er zerknirscht und bewegte sich zur Tür. Karla Jäger warf ihm einen mitleidigen Blick zu, der ihn nur noch mehr runter zog. Jeder wusste, dass die Bodts wegzogen und jeder wusste, dass Marco und Jean unzertrennlich waren. „Sei nicht so streng mit ihm“, sagte sie nur. „Es ist völlig verständlich, dass er schlecht drauf ist. Immerhin zieht sein bester Freund heute weg.“ Er war schon fast aus der Tür, als er das hörte. Abrupt blieb er stehen. „Heute?“, fragte er leise ohne sich umzudrehen. „Die Bodts ziehen erst morgen weg.“ Marco hatte ihm auf jeden Fall den Mittwoch genannt. Doch Frau Jäger sah das anders. „Nein, heute ist schon richtig“, meinte sie. „Woher wollen Sie das wissen?“, patze er und drehte sich nun schließlich doch im. Ihre Worte machten ihn nervös. „Jean, nicht in so einem Ton!“, rief seine Mutter, doch Frau Jäger wimmelte sie ab. „Ich habe vorhin Herrn Bodt getroffen, glaub mir, Jean.“ Mit ernsten braunen Augen sah sie ihn an. „Sie waren schon halb auf dem Weg zum Hauptbahnhof. Und ich hab mich schon gewundert, warum du noch hier bist, aber ich dachte, ihr hättet euch vielleicht schon verabschiedet…“ Mehr hörte er nicht mehr. Schon rannte er in den Flur, warf einen Stuhl um und eilte dann zur Tür hinaus. Mit schnellen Schritten ging er zu seinem Fahrrad und riss es vom Ständer weg. Dann war er unterwegs. So schnell er konnte trat er in die Pedale. Bis zum Hauptbahnhof brauchte er mindestens eine halbe Stunde, und er betete, dass Marcos Zug noch nicht abgefahren war. Immer wieder musste er sich das blonde Haar aus den Augen streichen. Wegen des Regens konnte er kaum etwas sehen. Hätte er doch bloß an eine Jacke gedacht! Er fror. Doch es war ihm egal. Warum hatte Marco ihm einen falschen Tag genannt? Hatte er sich vertan? Nein, das sah ihm gar nicht ähnlich. Dann.. vielleicht.. hatte er es absichtlich getan? Aber warum? Um den Abschied einfacher zu machen? Oder weil er sich auf sein neues Leben freute und mit seinem Alten hier in München schon abgeschlossen hatte? Und da gehörte Jean ja wohl ganz eindeutig zu.. Er fuhr und fuhr und war bald außer Atem. Vorbei ging es an Häusern, an Straßen, an Flaggen, die das neue Symbol Deutschlands zeigten. Er beachtete nicht mal das Rufen eines erzürnten Mannes, als er diesen fast umfuhr. „Verdammt!“, murrte er immer wieder, während die Panik in ihm hoch stieg. Wenigstens ein Mal wollte er Marco noch sehen. Wenigstens „Auf Wiedersehen“ sagen. Als er schließlich in das Bahnhofsgebäude trat fackelte er nicht lange und rannte los. Mit einem schnellen Blick fand er einen Zug, der passte. Ohne lange nachzudenken eilte er zu den Gleisen. Dort angekommen suchte er nach einem vertrauten Gesicht voller Sommersprossen. Doch er fand es nicht. Gerade wollte er aufgeben, da erblickte er es doch: In der Menschenmasse auf der anderen Seite der Schienen stand eine kleine Familie. Alle braunhaarig, Vater, Mutter und drei Kinder. Der Älteste von ihnen hielt eines der kleineren Kinder an der Hand. „Marco!“, schrie Jean, doch es war zu laut. Winkend versuchte er auf sich aufmerksam zu machen, doch Marco hatte sich zu seinem kleinen Bruder herunter gebückt um ihm die Schuhe neu zu schnüren. „Marco!“, rief Jean erneut und Panik überkam ihn. Er sah schon die Lichter des Zuges, der bald einfahren würde. Dann tat er etwas sehr, sehr Dummes: Er sprang auf die Schienen. Hinter ihm riefen Menschen, doch er ignorierte sie. Er brauchte nur wenige Sekunden um die Schienen zu überqueren und auf den Bahnsteig gegenüber zu klettern. Dann fuhr der Zug ein. Die Menschen um ihn herum sahen ihn erschrocken oder gar wütend an, doch er versuchte einfach nur, weiter zu kommen. Durch das Gedränge schaffte er es nur langsam, obwohl er sich einen Weg frei schubste und drängelte. Empörte Rufe hallten durch die Gegend, sogar einen Klaps auf den Hinterkopf bekam er – doch er ignorierte alles. Wo war er? Wieso fand er ihn nicht? Hätte er nicht schon längst bei ihm sein müssen? „Marco!“ Doch nirgends war die Familie zu sehen. Mittlerweile standen ihm die Tränen in den Augen. Die Türen des Zuges wurden geschlossen und ein greller Pfiff ertönte. Da sah er ihn endlich durch ein Fenster des Zuges. Gerade, als seine Faust gegen das Fenster knallte und Marco ihn ansah, setzte der Zug sich in Bewegung. Die Augen seines besten Freundes weiteten sich als er ihn erkannte. Er hörte noch ein dumpfes „Jean!“, dann war Marco verschwunden. Jean hatte nicht die Kraft, um dem Zug hinterher zu rennen. Er stand nur da, während der Bahnsteig sich endgültig leerte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)