Steven von Drachenprinz ================================================================================ Kapitel 2: The nightmare returns -------------------------------- „... ja, und genau deshalb haben wir uns kurzerhand entschlossen, mal wieder einen kleinen Ausflug zusammen zu unternehmen. Schaut mal, was für schönes Wetter wir heute haben! Also... Ich hoffe, ihr amüsiert euch schön. Wir geben euch ein bisschen Kleingeld mit, dann könnt ihr erst mal hingehen, wo ihr wollt. Euer Vater und ich haben... noch etwas zu besprechen. Gut. ... Ach, und Stanley! Pass gut auf deinen Bruder auf! Ihr könnt nachher hierher zurückkommen, dann gehen wir gemeinsam weiter. Sagen wir... in einer Stunde? Ja? Schön, dann... viel Spaß!“ Nur vage drang die leise Stimme seiner Mutter zu ihm vor. Hintergründig konnte er sie hören, aber die vielen Eindrücke, die alle gleichzeitig auf ihn einschlugen, nahmen seine volle Aufmerksamkeit in Anspruch. So viele Menschen. So viele Geräusche. So viele verschiedene Gerüche. So viel Fröhlichkeit. Wann hatte er das letzte Mal so etwas gesehen? Es musste ewig her sein... Hatte er überhaupt jemals so etwas aus der Nähe gesehen? „Was ist los, Häschen? Träumst du?“ Wieder vernahm er die sanfte Stimme, diesmal etwas lauter, und spürte, wie er leicht in die Seite gestupst wurde. „Nein, Mommy. Ich habe mich nur ein bisschen umgeschaut“, antwortete er, noch immer schwer beeindruckt von der schillernden Umgebung. „Gefällt es dir hier? Wir haben genug Zeit, uns alles in Ruhe anzusehen. Los, geh schon! Dein Bruder wartet!“ Bevor er die Gelegenheit dazu hatte, länger herumzustehen, hatte dieser sich bereits seinen Arm gegriffen und zog ihn aufgeregt hinter sich her. „Komm, Steven! Worauf wartest du?“, rief er, als er mit ihm mitten in das bunte Getümmel stürmte. Vorsichtig trat Steven hinter ihm her. Fast wäre er gestolpert, so hastig zerrte sein Bruder ihn mit sich. Ihm blieb nicht einmal Zeit, all die Eindrücke auf sich wirken zu lassen. Allerdings war es fast immer so, dass Stanley es aus irgendwelchen Gründen eilig hatte, während er Dinge meist lieber etwas ruhiger anging. Das war wohl der größte Unterschied zwischen ihnen. „Hm... Bist du sicher, dass es okay ist, wenn wir so weit weg gehen? Was, wenn wir nicht mehr zurück finden?“, fragte er unsicher und schaute noch einmal nach hinten über die Schulter, als sie kurz stehengeblieben waren. Der Anblick des riesigen Jahrmarktes war überwältigend. „Ach, was. Natürlich finden wir zurück. Mom hat gesagt, sie warten am Eingang auf uns. Ich weiß auch nachher noch, wie wir wieder dahin kommen. Ist doch toll, wenn wir hier alleine rumlaufen dürfen. Sei nicht so ein Spielverderber, Steven!“ „Na gut... Und wo sollen wir als erstes hingehen?“ „Da vorne! Ich glaube, da kann man Dosen werfen!“ „Echt? Wieso wirft man denn mit Dosen...?“ „Äh... Nein, man wirft mit einem Ball... nach aufgestapelten Dosen. Glaube ich. Komm einfach mit, ich zeig's dir!“ Schon war er wieder losgerannt und Steven blieb nichts anderes übrig, als ihm hinterherzulaufen. Er stellte sich dicht neben seinen Bruder und hielt sich an ihm fest, weil der große Menschenandrang vor dem Stand ihm ein wenig Angst machte. Erst als Stanley an der Reihe war, ließ er ihn wieder los und wich ein Stück zur Seite, um ihm nicht im Weg zu sein. Fasziniert sah er ihm dabei zu, wie er zielsicher mit dem Ball der Reihe nach fast alle Dosen traf, die laut scheppernd zu Boden fielen, und er sich danach aus einer Auswahl einiger Stofftiere einen Gewinn heraussuchte. Er entschied sich für einen Hasen mit langen, flauschigen Schlappohren und grinste breit, als er ihn entgegennahm. „Das war echt cool! Ich will auch mal!“ „Gut, du kannst es ja mal versuchen. Aber du musst mit viel Schwung werfen, sonst klappt das nicht!“ „Ja, mache ich.“ Mit aller Kraft versuchte er, so viele Treffer wie möglich zu landen. Nur leider wollte ihm das wohl nicht richtig gelingen, sodass er sich schließlich bloß einen Trostpreis aussuchen durfte. Neidisch blickte er zu dem niedlichen Hasen hinüber, den Stanley voller Stolz im Arm hielt. „Oh, schade... Wie hast du das gerade gemacht?“, fragte er. „Hm, einfach feste geworfen. Aber mach dir nichts draus. Du bist eben noch nicht so stark wie ich. Irgendwann kriegst du das bestimmt auch hin“, sagte Stanley und tätschelte ihm den Kopf. Manchmal führte er sich auf wie der große Bruder, der alles besser konnte als sein kleines Geschwisterchen. Dabei war er nur sieben Minuten älter. „Wie gemein! Du wirst schon sehen, dass ich das genauso gut kann wie du!“, rief er und startete einen neuen Versuch, nur um noch einmal genauso kläglich zu scheitern wie beim ersten Mal. Stans blöde Erklärungen darüber, dass er nicht einfach blind drauf los werfen dürfe, ignorierte er beleidigt. Anschließend gingen sie zu einem anderen Stand und kauften sich Zuckerwatte, die sie recht schnell aufgegessen hatten, bevor Steven seinen Bruder dazu überredete, mit ihm eine Runde Karussell zu fahren. Wie immer fühlte er sich dazu wieder einmal zu alt und beschwerte sich die ganze Fahrt über darüber, was für ein Kindergartenkram das doch sei. Er ließ nicht locker bis Steven sich schließlich dazu breitschlagen ließ, mit ihm als nächstes 'etwas viel Cooleres' zu unternehmen, das er diesmal vorschlagen dürfe. Dass sein nächstes Ziel ausgerechnet eine Geisterbahn sein sollte war für ihn gar kein Grund zur Freude. „Warum muss es denn eine Geisterbahn sein...?“, fragte Steven, während er skeptisch das große, dunkle Gebäude beäugte, vor dem sie nun standen. „Du weißt genau, dass ich Geister nicht mag... Das ist echt fies von dir!“ „Stell dich doch nicht so an. Wir haben abgemacht, dass wir jetzt etwas machen, das mir Spaß macht. Gerade habe ich immerhin auch diese öde Karussellfahrt ausgehalten, weil du ja unbedingt wolltest.“ „Das ist was ganz anderes! Davor hattest du wenigstens keine Angst, sondern hast dich nur gelangweilt! Außerdem... dürfen wir hier, glaube ich, gar nicht rein, ohne unsere Eltern...“ „Dann lass uns doch einfach zurückgehen und sie fragen, ob sie uns begleiten“, schlug Stanley vor und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. „Die Stunde ist sowieso fast um. Zehn Minuten nur noch.“ „Na gut... Wenn du meinst“, gab er sich geschlagen und folgte dem Anderen auf dem Weg zurück zum Eingang, wo sie erwarteten, ihre Eltern stehen zu sehen. Doch seltsamerweise war dort keine Spur mehr von ihnen. „Komisch... Wo sind sie denn?“ „Weiß auch nicht... Mommy-“ „Psst! Bleib ruhig. Die kommen schon wieder.“ Stan ging ein paar Schritte und blieb vor einem bunt gemusterten Zelt stehen, das ganz in der Nähe aufgebaut war. „Vielleicht sind sie irgendwo reingegangen. Lass uns einfach wieder gehen. Wenn die Stunde vorbei ist, sind sie bestimmt wieder da.“ „Aber...“ „Komm einfach.“ Es dauerte nicht lange und sie standen wieder vor dem großen, furchteinflößenden Gebäude. Steven starrte wie gebannt die verzerrten Fratzen an, die von oben mit einem hinterhältigen Grinsen auf ihn herabblickten. Als er sich endlich von dem gruseligen Anblick losreißen konnte, stand sein Bruder nicht mehr neben ihm. Bevor er sich allerdings fragen konnte, wo er auf einmal abgeblieben war, fand er ihn etwas abseits in der Menge stehend, wo er mit einer jungen Frau redete. „Sag mal, was machst du da...?“, wollte er von ihm wissen und lief auf ihn zu, woraufhin er sich von der Frau und dem Typen, der bei ihr stand, abwandte und sich fröhlich zu ihm vorbeugte. „Die nette Lady und ihr Freund werden mit uns reingehen!“, sagte er zwinkernd und warf den Beiden einen gespielt lieben Blick zu. „Was...? Aber wir kennen die doch gar nicht!“ Seine Einwände ignorierend lief er voraus, gefolgt von dem jungen Paar, das sich anscheinend ziemlich wenig um ihn scherte, weil es nur Augen füreinander hatte, und bezahlte seinen Teil, so tuend, als würden sie alle zusammengehören. Gezwungenermaßen schloss er sich ihnen an und betrat das Gebäude, das auf ihn alles andere als einladend wirkte. Es war stockfinster als sie den ersten Raum betraten, während das schwere Tor, durch das sie gekommen waren, sich langsam hinter ihnen schloss. Bei dem lauten Geräusch, das dadurch zustande kam, durchlief ihn ein kalter Schauer. „Hey...! Stan...!“, flüsterte er und schaute neben sich, obwohl er in der Dunkelheit ohnehin so gut wie nichts sehen konnte. „Was denn?“, hörte er seinen Bruder dicht an seiner Seite antworten. Die anderen Beiden konnte er nirgendwo mehr ausmachen. „Ich dachte... das hier wäre eine Geisterbahn... Aber das sieht ja ganz anders aus...“ „Dann ist es eben ein Geisterhaus, keine Ahnung. Bleib locker, Steven.“ Stille. Das einzige, was noch zu hören war, war das leise Gemurmel der anderen Leute, die mit ihnen hier eingeschlossen waren. Es war solange nichts weiter zu hören, bis die Wände, die Decke und der Boden des Raumes plötzlich anfingen zu beben, unterstrichen von dem erschrockenen Kreischen vereinzelter Personen. Schwaches Licht drang von irgendwo herein und erleuchtete die Nebelschwaden, die im nächsten Moment aufzogen und sich ausbreiteten. Steven erkannte die Umrisse eigenartiger Kreaturen, die sich aus der Dunkelheit erhoben und langsam immer näher kamen. Er zwang sich, ruhig zu bleiben, als er sich von ihnen umzingelt sah, ohne auch nur irgendeinen Ausweg. Es wurden immer mehr. Finstere, gehörnte Kreaturen, die noch dazu die bedrohlich stöhnenden Geräusche eines Untoten von sich gaben, waren überall um ihn herum. Sie begannen zu lachen. Er tastete nach seinem Bruder und drehte sich nach hinten um - doch was er fand, war nicht sein Bruder. Sondern eine gigantische, behaarte Monsterspinne, die offenbar im Begriff war, ihn anzuspringen. Ihm war so sehr danach zumute, laut loszuschreien, wie noch nie zurvor, doch außer einem jämmerlichen Winseln brachte er nichts heraus. Er war wie gelähmt. Das Lachen der Kreaturen um ihn herum schien noch lauter zu werden, lauter und wahnsinniger. Er konnte sich nicht bewegen. Erst, als eine bisher versteckte Tür sich öffnete, stürmte er hinaus, ungeachtet der Anderen, die ebenfalls hier waren und ihm nach und nach durch die Tür folgten. Er wusste nicht, ob sie sich amüsierten, ob sie sich über ihn amüsierten und es lustig fanden, was hier vor sich ging - er wusste nur, dass er es nicht tat. Er fühlte sich verloren in der Menge, allein zwischen fremden Menschen und bösen Ungeheuern. Nicht einmal sein Bruder war bei ihm. Er war ganz allein. Er war ein Angsthase und er war ganz allein. „Bitte, lass es vorbei gehen...“, war alles, was er denken konnte, und so bekam er vom Rest der Höllenschau auch nicht viel mit. Die Vorstellung zog an ihm vorüber wie ein eisiger Luftzug, der einen kurz erstarren ließ, und er rannte so schnell er konnte nach draußen, als er realisierte, dass sie zu Ende war. Noch immer sah er die riesige Spinne vor seinen Augen und musste sich selbst beruhigen, indem er sich immer wieder sagte, dass sie ihn mit Sicherheit nicht bis hierher verfolgt hatte und ihm mit Sicherheit auch nichts tun wollte, weil sie in Wirklichkeit harmlos und nur ein einfacher Teil des Geisterhauses war; ein Teil des Jahrmarktes, der dazu da war, ängstliche Kinder wie ihn zu erschrecken. Ja, so war es. Sie war nicht echt und auch nicht gefährlich, auch wenn sie so aussah. Trotzdem fühlte er sich elend. Wieder stand er alleine da, während sich wahrscheinlich alle hinter seinem Rücken über ihn lustig machten, weil er so schreckhaft war. Wo sein Bruder sich jetzt aufhielt, wusste er auch nicht. Bestimmt hatte er ihn vergessen und sich jemand anderen gesucht, mit dem er sich nun vergnügte. Die Beiden, die mit ihnen in das Geisterhaus gegangen waren, waren jetzt sicher bei ihm, oder er war schon zurück zu ihren Eltern gelaufen. Wie sehr er sich doch jetzt wünschte, in den Armen seiner Mutter zu liegen, die ihm sagte, dass alles gut sei und er keine Angst haben müsse... „Steven...!“ Fast hätte er die Stimme überhört, die, gefolgt von raschen Schritten, besorgt nach ihm rief. Überrascht drehte er sich um und blickte geradewegs in zwei graue Augen, die ihn voller Erleichterung musterten. „Da bist du ja! Mann, ich hab' dich überall gesucht...! Ich dachte schon, du wärst ohne mich weitergegangen... Wieso bist du denn weggelaufen?“ Mit gemischten Gefühlen sah er Stanley an, der ihm gegenüberstand und verständnislos dreinschaute. „Ich... Die Spinne... Und es war so dunkel...“, versuchte er, es ihm zu erklären, was ihm nicht recht gelang. „Es war so unheimlich da drin... Ich will da nie wieder rein!“ „Oh, diese Spinne... Ja, die war echt gruselig“, hörte er seinen Bruder leise sagen und traute seinen Ohren kaum. „Du hast Angst vor Spinnen...?“, fragte er. „Ich dachte immer, du hättest vor nichts Angst?“ „Das wäre schön... Naja, ich... Ich tue manchmal so, als hätte ich keine Angst. Weil ich dachte, dass du mich dann cool finden würdest... Blöd, ich weiß. Aber ich will eben nicht, dass du mich für ein Weichei hältst!“, antwortete er unsicher lächelnd. „Uh... Ich bin ein schlechter Bruder...“ „Was...? Warum?!“ „Mom hat gesagt, ich soll auf dich aufpassen. Und jetzt bist du wegen mir abgehauen... Ich hab's voll vermasselt...“ Steven schaute seinen Bruder mitleidig an. Er wollte nicht schuld daran sein, dass Stan ein schlechtes Gewissen hatte. „Ich bin nicht wegen dir abgehauen! Sondern wegen der Spinne... und den anderen fiesen Monstern... Du kannst ja nichts dafür, dass ich so ein Feigling bin“, sagte er an den Boden gewandt. „Du bist kein Feigling! Hör auf, sowas zu sagen! Du bist in Ordnung, so wie du bist, Steven!“, antwortete sein Gegenüber mit absoluter Überzeugung, dann wurde seine Stimme wieder etwas leiser. „Versprich mir, dass du mit niemandem darüber sprichst, was ich dir jetzt sage...! Du bist mir sehr wichtig. Ich glaube, du bist mir viel wichtiger als irgendwer sonst... und ich mag es, auf dich aufzupassen. Wenn ich auf dich aufpassen kann, habe ich... das Gefühl, stark zu sein. Obwohl ich das manchmal gar nicht bin. Wenn du nicht bei mir bist, bin ich... nur ein kleiner Schwächling...“ Nur für einen kurzen Augenblick hörte er auf, ihn anzusehen, und blickte nachdenklich zum Himmel hinauf. Dann redete er überschwänglich weiter, als wäre nichts gewesen. „Pass auf, ich weiß was! In Zukunft musst du dir keine Sorgen mehr machen, dass irgendwer dich erschreckt und gemein zu dir ist. Ich werde dich nämlich ab jetzt vor jedem beschützen, der dir blöd kommt! Auch vor... ekligen Spinnen. Du kannst dich auf mich verlassen!“ „Ist das... dein Ernst?“, fragte Steven kleinlaut. „Aber wie willst du das machen...?“ „Das wird schon. Mach dir um mich keine Gedanken, ich schaffe das! Ich werde dich nie wieder enttäuschen oder im Stich lassen. Glaub mir einfach!“ Die Worte seines Bruders lösten in ihm ein Gefühl aus, das er in diesem Ausmaß noch nie zuvor verspürt hatte. Er war glücklich. Glücklich darüber, dass er doch nicht so allein war, wie er dachte. Selbst, wenn kein Anderer da war und sich um ihn kümmerte - sein Bruder würde immer bei ihm sein, ihm zuhören und ihn beschützen. „Was ist los, Steven...? Warum weinst du?“, hörte er Stan auf einmal fragen. „Tue ich doch gar nicht...“ „Doch, das tust du... Ah! Warte...“ Verwundert sah er ihm dabei zu, wie er seinen Rucksack absetzte, ihn öffnete und etwas herauszog - etwas Flauschiges. „Hier! Schenke ich dir!“, sagte er, lächelte ihn an und streckte ihm den Stoffhasen entgegen, den er vorhin beim Dosenwerfen gewonnen hatte. „Nimm ihn ruhig. Du kannst ihn haben!“ Steven zögerte einen Moment, bevor er das unerwartete Geschenk annahm, besah sich den Hasen einmal von Nahem und drückte ihn an sich. „Danke!“, grinste er und konnte einfach nicht anders als Stan in seine Arme zu schließen. Er war so froh, ihn zu haben, dass er sein unangenehmes Erlebnis in dem Geisterhaus schon fast vergessen hatte. Selbst, als er ihm den Kopf tätschelte, wie er es immer tat, wenn er sich besonders erwachsen fühlte, ärgerte er sich nicht. Vielleicht war es doch nicht so schlecht, einen großen Bruder zu haben. „Wir sollten langsam mal zu unseren Eltern zurückgehen“, bemerkte Stanley, als sie sich aus ihrer Umarmung gelöst hatten. „Die Stunde ist schon längst um. Bestimmt warten sie schon die ganze Zeit auf uns.“ „Du hast Recht. Also, gehen wir!“, sagte er fröhlich, während er durch das weiche Fell seines neuen Spielkameraden strich. Dass seine Eltern in Wahrheit noch gar nicht lang auf ihn warteten und etwas mit ihnen nicht stimmte, ahnte er zu diesem Zeitpunkt noch nicht... Es war still, als sie den Eingang erreicht hatten. Ihre Eltern standen dort, wie vereinbart, nebeneinander. Steven war sich nicht sicher, ob seine Mutter ihn bemerkt hatte. Sie sagte nichts und starrte nur geradeaus, als wäre sie in Gedanken versunken. Sein Vater hingegen warf ihm und Stanley ein ungewohnt heiteres Lächeln zu, als er sie auf sich zukommen sah. „Hallo, Jungs!“, rief er, wandte sich dann ihrer Mutter zu und sagte etwas zu ihr, das er auf die Entfernung nicht verstehen konnte. Wahrscheinlich hatte er sie auf sie beide aufmerksam gemacht, denn nun schaute sie direkt in ihre Richtung und winkte zaghaft. „Sorry, dass wir so spät sind. Wir... hatten so viel Spaß, dass wir die Zeit vergessen haben“, log Stan und Steven war dankbar, dass er nichts von dem kleinen Zwischenfall erwähnte. „Ach, nicht weiter schlimm. Eure Mutter und ich hatten auch großen Spaß... nicht wahr, Liebling?“ Der heitere Ausdruck auf dem Gesicht seines Vaters schien sich zu verstärken, als er der stumm lächelnden Frau an seiner Seite einen Arm um die Schultern legte. Stanley schnappte erschrocken nach Luft. Fragend sah er ihn an, weil er nicht begriff, was ihn so erschreckt hatte, doch er schien es überhaupt nicht mitzubekommen. Sekundenlang starrte er das Bild ihrer Eltern vor seinen Augen an und rührte sich nicht - und das wirklich Merkwürdige daran war, mit welchem Entsetzen er sie anstarrte. Steven konnte sich ausnahmsweise nicht einmal im Ansatz erklären, was in seiner anderen Hälfte vorging. Doch noch bevor er die Gelegenheit hatte, länger darüber nachzudenken, führten sie ihren Gang über den Jahrmarkt fort. Nachdem sie bei zwei weiteren Schießbuden vorbeigeschaut hatten, war ihr nächstes Ziel das Riesenrad. Obwohl es ein ganz normaler Familien-Ausflug zu sein schien und er sich noch immer über sein Geschenk freute, lag etwas Seltsames in der Luft. Er wusste nicht, was es war, aber es bereitete ihm Unbehagen. Anfangs hatte er gedacht, er würde es sich einbilden und versucht, dieses Gefühl beiseitezuschieben. Doch als sie gemeinsam in die Gondel einstiegen - seine Mutter und Stan gegenüber ihm und seinem Vater - und er sah, wie abwesend sein Bruder zur Seite schaute, wusste er, dass es keine Einbildung war. Das Rad kam in Bewegung und er saß nur stillschweigend da und blickte in die Tiefe. Völlig starr. „Geht es dir gut, Stanley...?“, hörte er seine Mutter leise fragen, während er sich nicht entscheiden konnte, wo er hinsehen sollte. Dessen gemurmelte Antwort, dass mit ihm alles okay sei, war gerade so laut, dass er sie verstehen konnte. Stevens umherschweifender Blick blieb an seinem Vater hängen, der sich ihm, als er ihn bemerkte, halb zuwandte, die Augen wachsam auf sein Gesicht gerichtet, und ihm mit rauer Stimme, kaum hörbar, etwas zuflüsterte: „Na, mein Sohn?“ Irritiert wandte er sich um und fühlte sich schlagartig wahnsinnig unwohl, als er die schockierten Blicke seiner Mutter und seines Bruders registrierte, die auf ihm und seinem Vater lasteten. Das reichte ihm aus, um zu wissen, dass er keine Sekunde länger in dieser Gondel sitzen wollte, und er war der Erste, der übereilig wieder ausgestiegen war, dicht gefolgt von Stanley, als die Fahrt beendet war. Den Rest des Tages über hatte er Mühe, seine Gedanken zu ordnen, und er vermied es, seinen Eltern über den Weg zu laufen. Der Ausflug hatte ihn in mehrfacher Hinsicht aufgewühlt und am Ende des Tages brauchte er lange, bis er es schaffte, einzuschlafen. Er kuschelte sich an seinen neuen Spielkameraden und träumte von einem gehörnten Ungeheuer, das ihn bei der Hand nahm und ihn zu einem gigantischen Riesenrad zerrte. Die Wochen verstrichen und seit den Ereignissen auf dem Jahrmarkt war nichts Außergewöhnliches mehr vorgefallen. Steven und Stanley hatten seitdem fast jede Minute miteinander verbracht; sie waren unzertrennlich geworden. Was sie auch taten, sie taten es zu zweit - bis auf eine Sache. Stanley hatte diese merkwürdige neue Leidenschaft entwickelt, der er unverzüglich seine Zeit widmete, sobald Steven einmal mit etwas anderem beschäftigt war: Spinnen. Hatte er vor nicht allzu langer Zeit noch behauptet, sie würden ihm Angst machen, so war er jetzt ganz fasziniert von den Tieren. Immer öfter fand er ihn dabei vor, wie er sie aufmerksam beobachtete, wann immer er die Gelegenheit dazu hatte, oder in Sachbüchern nach irgendwelchen Informationen über sie suchte. Ständig sprach er davon, was für interessante Wesen sie doch seien und dass er überhaupt nicht mehr wisse, weshalb er sich früher so vor ihnen geekelt hatte. Er schien regelrecht besessen von ihnen. Steven hatte den Verdacht, dass er das alles nur tat, um seine Angst vor Spinnen zu überwinden, damit er vor ihm nicht wie ein Feigling dastand, wenn ihnen eine über den Weg krabbelte. Das schien ihm wohl mehr als gelungen zu sein. Schon bald feierten sie ihren neunten Geburtstag, allein zuhause mit ihrer Mutter - ihr Vater war auf einer längeren Geschäftsreise und konnte nicht anwesend sein. Allerdings störte sie das eher wenig. Ihre Mutter tat alles, um einen schönen Tag mit ihnen zu verbringen. Sie bekamen Geschenke, spielten Spiele und hatten Spaß. Es gab nichts, das sie vermissten. Sie waren auch auf die anderen Kinder in der Schule nicht neidisch, weil sie in großen Gruppen feierten und zusammen Dinge unternahmen. Nein. Ihre Mutter hatte ihnen bereits vor längerer Zeit verboten, jemanden zu sich nach Hause einzuladen. Aber davon abgesehen gab es auch niemanden, der sich mit ihnen treffen wollte. Das war in Ordnung. Sie waren es nicht anders gewohnt. Vier Tage später und somit einen Tag zu spät kehrte ihr Vater zurück - und damit war der Spaß vorbei. Warum war er so spät nach Hause gekommen? Wo war er die ganze Zeit abgeblieben? Und wieso war er so anders als sonst? Steven verstand es nicht. Und noch weniger verstand er, warum seine Mutter es einfach so akzeptierte. Warum sie nicht einmal sauer war und ihn danach fragte, was er die ganze Zeit getrieben hatte, sondern es ohne Weiteres hinnahm, wie es war. Er verstand die Erwachsenen einfach nicht, egal, wie sehr er es auch immer versucht hatte. Doch mittlerweile war er sich nicht mehr sicher, ob er sie überhaupt verstehen wollte. Ob er wirklich wissen wollte, warum die Stimme seines Vaters sich heute so fremdartig anhörte. Und warum er manchmal so laut war, und sie so leise, wenn es den Anschein machte, dass sie eine Meinungsverschiedenheit hatten. An manchen Abenden lag er in seinem Bett und konnte es hören, wenn sie einen Konflikt hatten. An diesem Abend war es besonders schlimm. Lange lag er wach, versuchte, es zu ignorieren und an etwas anderes zu denken. Nach fast zwei Stunden gab er die Hoffnung auf, in dieser Nacht noch Schlaf zu finden, und beschloss, seinem Bruder einen Besuch abzustatten. Müde schlich er in den dunklen Flur, sein Lieblingskuscheltier fest im Arm haltend, und klopfte leicht an die Tür des Zimmers, das neben seinem Eigenen lag. Stanley schien ihn gehört zu haben - er vernahm ein zögerliches „Ja...?“ von drinnen, öffnete die Tür und trat ein. Stan schien erleichtert, als er ihn sah. Er saß aufrecht auf seinem Bett im schwachen Licht der Nachttischlampe und es sah so aus, als hätte er einen kleinen Zeichenblock auf seinem Schoß. „Hey, Steven... Kannst du auch nicht schlafen?“, fragte er leise. Steven schloss die Tür hinter sich und machte ein paar Schritte auf ihn zu. „Nein“, seufzte er zur Antwort und versuchte, einen Blick auf den Block zu erhaschen. „Was machst du da?“ „Ach... nichts Besonderes“, murmelte Stan und betrachtete das obere Blatt Papier prüfend, auf dem Steven aus der Entfernung nur dünne Linien erkennen konnte. Er beugte sich etwas vor, war sich jedoch noch immer nicht sicher, was es darstellen sollte. „Darf ich mal sehen?“, fragte er. „Klar. Setz' dich doch einfach“, antwortete sein Bruder, rutschte ein Stück zur Seite und klopfte neben sich auf die Bettdecke. Freudig kam er seiner Aufforderung nach und gesellte sich zu ihm, zusammen mit seinem flauschigen Hasenfreund. „Das ist... Wie soll ich das erklären... Erst sollte es ein Superheld werden, aber jetzt ist es eher eine Art... Rächer oder so geworden“, sagte Stan, während er auf das Bild deutete, das er gezeichnet hatte. Aus der Nähe konnte er deutlich besser erkennen, was es zeigte. Zu sehen war eine große, in dunkle Kleidung gehüllte Figur, daneben eine Mutantenspinne, die allerdings selbst in seinen Augen eher niedlich als gruselig wirkte - was nicht unwesentlich an dem Schleifchen lag, das sie auf dem Rücken trug - und etwas unscheinbarer im Hintergrund eine Frau mit langen, im Wind wehenden Haaren. „Das hier“, er deutete auf die Spinne, „ist sein Haustier und treuer Begleiter. Habe ich mir letztens ausgedacht, als mir langweilig war.“ Neugierig besah er sich das Werk seines Bruders genauer, als ihm etwas ins Auge stach, das ihn ein wenig erschreckte. „Das da in seiner Hand... Ist das ein Messer?“, fragte er. „Will er die Frau etwa ermorden...?“ Stanley lächelte schwach. „Nein, das will er nicht. Er liebt diese Frau. Aber sie ist sehr zerbrechlich... Deshalb bringt er jeden um, der ihr etwas antun will.“ Sein Blick war noch immer auf das Bild gerichtet und doch schien er es nicht wirklich anzusehen. Es war, als wäre er überhaupt nicht mehr anwesend, sondern ganz woanders, obwohl er in Wirklichkeit direkt neben ihm saß. Mit einem Mal war es ganz still. „Und... hat dein Rächer auch einen Namen?“, unterbrach Steven das Schweigen nach einer Weile. Er mochte es nicht, wenn niemand etwas sagte. Wenn es um ihn herum ruhig war, glaubte er manchmal, seltsame Stimmen zu hören, die von überall her kamen und durcheinander undeutliche Dinge flüsterten. „Noch nicht“, antwortete Stan. „Mir ist noch keiner eingefallen. 'Spiderman' ist ja leider schon vergeben.“ Sie lachten beide, dann wurde es wieder still. Steven fragte sich, ob seine Eltern inzwischen schlafen gegangen waren, weil er sie nicht mehr hören konnte. Um sicherzugehen, stand er auf, ging zur Tür und lauschte. Nichts. „Stan...?“ „Ja?“ „Meinst du... Mommy und Daddy vertragen sich wieder? Sie vertragen sich doch immer, oder...?“ Erwartungsvoll sah er seinen Bruder an, nachdem er sich wieder zu ihm gesetzt hatte. Eine Antwort bekam er nicht. Verunsichert schaute er nach oben und betrachtete die Decke, als würde die Antwort sich dort versteckt halten. Er rechnete fast nicht mehr damit, irgendeine Reaktion auf seine Frage zu bekommen, als Stan leise das Wort ergriff. „Steven...“ „Hm?“ „Ich muss... dir etwas verraten. Aber du darfst nicht mit unseren Eltern darüber reden! Das darfst du auf keinen Fall tun, okay...?“ „Versprochen.“ „Unser Dad... ist böse. Wenn wir nachts alleine in unseren Zimmern sind, macht er... schlimme Sachen mit Mom... Ich habe es gesehen“, flüsterte er. „Einmal habe ich sie gehört, bin aufgestanden und habe mich... zu ihnen geschlichen.“ „Was... Was meinst du...?“ Steven stellte seinem Bruder diese Frage, obwohl er große Angst vor der Antwort hatte. Am liebsten hätte er sich aufgelöst oder wäre aus dem Fenster gesprungen und losgerannt; egal wohin - Hauptsache weit weg von zu Hause. Aber das konnte er nicht. Er konnte nur da sitzen und entsetzt mitansehen, wie sein Bruder langsam immer mehr die Fassung verlor. „Er... Er hat sie...“, stammelte er, brachte es jedoch nicht fertig, den Satz zu Ende zu sprechen. Seine Stimme versagte, weil er gegen den Gefühlsausbruch, der ihn überkam, nicht ankämpfen konnte. Er zitterte und er war besorgniserregend bleich geworden. „Sie haben... mich nicht gesehen... Ich hätte ihr helfen sollen... Aber ich habe nur dagestanden und zugesehen... Ich hätte ihr helfen sollen!!“ Verzweiflung und Wut spiegelten sich in seinen Augen, solange er sie sehen konnte. Als er sich gänzlich abwandte und sein Gesicht hinter den Armen verbarg, die er angespannt auf seinen angewinkelten Beinen abstützte, sah er nur noch aus wie ein Häufchen Elend. Er war nicht mehr der starke Beschützer, der er immer sein wollte. Er war, genau wie er selbst, nur ein Junge. Ein Junge, der etwas Schreckliches gesehen hatte... Steven wusste nicht, was er sagen sollte. Er wusste in diesem Moment gar nichts mehr. Das einzige, was er wusste, war, dass er irgendetwas tun musste, um ihn zu beruhigen. Er konnte es nicht ertragen, ihn so zu sehen und ihm war klar, dass er nun ausnahmsweise derjenige war, der seinen Bruder trösten musste. Sanft legte er ihm eine Hand auf den Rücken und schluckte, als Stan ihn daraufhin ansah. Er war so blass, dass er beinahe wie ein Geist aussah. Es fiel ihm schwer, zu begreifen, was er in dieser Nacht gesehen haben musste - seine kindliche Unschuld drohte zu zerfallen, wenn er länger darüber nachdachte. Doch so sehr er sich auch bemühte, der Gedanke ließ ihn nicht los und er fürchtete, dass er ihn bis in alle Ewigkeit verfolgen würde. „Steven...“ Der Klang seines Namens war so weich, wenn Stan ihn sagte. Niemand sagte ihn so wie er. „Ich weiß was. Was hältst du davon... wenn wir zusammen abhauen? Nicht jetzt. Aber irgendwann mal...“ Er sah ihn an, mit einem Lächeln, das absolut rein und ehrlich war, jedoch auch unsicher wirkte. „Nur du und ich. Wir würden für immer zusammen bleiben... und nichts könnte sich zwischen uns stellen. Dann könnten wir alles tun, was wir wollen...! Wir beide als Team. Wir sind doch ein tolles Team... findest du nicht?“ Lange schaute er ihm in die Augen. Er war sich nicht sicher, wie Stanley sich das vorstellte. Hatte er ihre Mutter schon vergessen? Was sollte aus ihr werden? Wenn es stimmte, was sein Bruder ihm erzählt hatte, konnten sie ihre Mutter doch unmöglich allein zurücklassen... Trotzdem war es eine schöne Vorstellung. Nur er und Stan irgendwo da draußen, frei von jeglichen Sorgen und Zwängen, frei von allem. Es war beinahe zu schön, um wahr zu sein. Er konnte ihm diesen Wunsch einfach nicht abschlagen. Vielleicht war es nur ein hoffnungsvoller Traum, den sie sich von nun an teilten - doch auch Träume konnten wahr werden. „Ja, das sind wir“, sagte er und erwiderte sein Lächeln. „Wir sind ein tolles Team... Und ich bin auch dafür, dass wir es so machen.“ „Wirklich? Gut, dann... gib mir deine Hand darauf!“ Er zögerte nur kurz, bevor er einschlug und Stanley damit anscheinend unendlich glücklich machte. „Danke...! Danke, Steven!“, sagte er. Er hörte nicht auf zu grinsen vor Freude. „Danke... Du bist der Beste!“ „Ich... äh, ja“, stotterte er ein wenig verlegen. Es war bereits das zweite große Versprechen, das sie sich jetzt gegeben hatten. Sein Bruder würde für immer bei ihm bleiben und ihn beschützen, egal, was noch passieren würde. Keiner konnte ihm nehmen, was ihm am wichtigsten war. Niemals. Draußen wurde es langsam hell, als sie nach einer langen Nacht endlich eingeschlafen waren. Von diesem Tag an verbrachte Steven viele Nächte im Zimmer seines Bruders, in denen sie Pläne schmiedeten für ihre Zukunft. Große Pläne, die sie ohne Zweifel in die Tat umsetzen würden. Irgendwann, wenn sie alt genug waren... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)