Steven von Drachenprinz ================================================================================ Kapitel 5: I am the spider -------------------------- Ein schwaches Quietschen, das alle paar Sekunden in einem gleichmäßigen Takt ertönte, und das gelegentliche Rauschen vorbeifahrender Autos erfüllten die Nacht. Abgesehen davon war es so gut wie still. Vage spürte er den Blick des Anderen, der auf ihm ruhte, dann verstummte das Quietschen und er sah zögerlich zu ihm herüber. „Wow...“, war alles, was Spider leise hervorbrachte, nicht mehr als ein Hauchen, das für einen kurzen Moment die Stille durchbrach. Eine Weile lang sagten sie beide nichts und saßen nur in einem nicht allzu großen Abstand voneinander auf der Schaukel des kleinen Spielplatzes - wie in frühesten Kindertagen - bis Spider vorsichtig wieder das Wort ergriff. „Es tut mir so leid, Steven... Die ganze Zeit über dachte ich, ich hätte es schwer gehabt. Aber du... Damals habe ich mich aufgeführt wie ein großer, starker Beschützer, der vor nichts Angst hat. Dabei bist du viel stärker als ich. Ich weiß nicht, was ich an deiner Stelle getan hätte...“ Steven schaute betreten zu Boden. Es war ein so seltsames Gefühl, in seiner Nähe zu sein, jetzt, wo er wusste, wer er war. Monatelang hatte er darauf gehofft, ihn wiederzusehen, hatte an seiner Hoffnung festgehalten, bis er schließlich keine Kraft mehr dazu besessen hatte. Dann hatte er die Erinnerung an ihn jahrelang von sich ferngehalten, ihn vergessen und nicht mehr an ihn gedacht. Sein ganzes Leben lang hatte er sich etwas vorgemacht, weil er den Gedanken an ihn einfach nicht länger hätte ertragen können. Und jetzt saß er plötzlich neben ihm und hatte sich im Grunde kein bisschen verändert. Es war ein so eigenartiges Gefühl, dass er keine Ahnung hatte, was er sagen sollte. Ein Blick zur Seite verriet ihm, dass Spider genauso abwesend den Boden fixierte, wie er selbst es bis eben noch getan hatte. „Es tut mir ehrlich leid“, flüsterte er. „Du musst mich jetzt wohl... wirklich hassen...“ Erschrocken ließ er von der Kette ab, die den Sitz der Schaukel in der Luft hielt. „Warum sollte ich dich denn hassen...?“ „Weil ich... ein furchtbarer Mensch bin“, antwortete Spider verbittert. „All die leeren Versprechen, die ich dir gegeben habe und nicht einhalten konnte... Die Jahre, in denen du allein warst und ständig von Albträumen geplagt wurdest... Das ist alles meine Schuld. Wäre ich bei dir gewesen und hätte auf dich aufgepasst, wäre es vielleicht nicht so gekommen. Aber ich war nicht bei dir... Ich war nur mit mir selbst und meinen eigenen abnormen Träumen beschäftigt, während du-“ Er brach mitten im Satz ab und stockte, bevor er weitersprach. „Ich habe dich im Stich gelassen, als du mich gebraucht hast...“ Einsam saß er dort in der Dunkelheit und machte sich Vorwürfe, so wie er es schon immer getan hatte. Noch immer trug er den Mantel, den er vor ihrer Flucht hierher der streitsüchtigen Fremden abgestreift hatte, während er schweigend in die Leere starrte. Es war ein trauriger Anblick. Steven stand auf, machte ein paar Schritte auf ihn zu und kniete sich, ihm gegenüber, in den Sand. Spider sah ihn an. Er kannte diesen Ausdruck in seinen Augen, er kannte ihn nur zu gut. „Damals... ist einiges schief gelaufen“, sagte er ruhig. „Vielleicht wäre es nicht so gekommen, wenn wir irgendetwas anders gemacht hätten. Vielleicht aber auch nicht. Du kannst nichts dafür, was passiert ist... Und es ist jetzt auch egal. Das ist lange her, wir haben beide schlechte Erfahrungen gemacht. Aber jetzt haben wir uns wieder! Auch wenn es etwas gedauert hat...“ „Du... Du hasst mich also nicht...?“ „Natürlich nicht!“, antwortete er fassungslos. „Für wen hältst du mich? Du bist... mein Bruder!“ Die Worte schienen den Anderen ungemein zu erleichtern. Er lächelte und Steven erwiderte sein Lächeln. So lange es auch gedauert hatte bis zu ihrem Wiedersehen - in diesem Augenblick kam es ihm vor, als wäre die Zeit dazwischen einfach stehengeblieben. „Weißt du...“, begann Spider. „Ich habe die ganze Zeit an dich gedacht. Auf dem Internat ist kein einziger Tag vergangen, an dem ich mir nicht gewünscht habe, zu dir zurückzukommen. Du warst der einzige Grund, aus dem ich wieder nach Hause gewollt hätte. Ansonsten hätten mich keine zehn Pferde dahin zurückgeholt...“ Er machte eine kurze Pause und schien zu überlegen. „Du hast doch gesagt... du hättest seit meinem Schulwechsel keinen Brief von mir bekommen... oder?“ „Ja, richtig. Das habe ich nicht“, sagte Steven und dachte daran zurück, wie betrogen er sich als Kind deswegen gefühlt hatte. „Jetzt wird mir alles klar... Das war dieser Dreckskerl!“, murmelte er wütend. „Ich habe dir geschrieben, Steven! Das musst du mir glauben! Ich wette, es ist nur deshalb nichts bei dir angekommen, weil... unser sogenannter Vater die Briefe abgefangen und sie dir nie gegeben hat! Dass er mich von zuhause weggeschickt und uns auseinander gebracht hat... Das war alles geplant! Wahrscheinlich, weil er nicht wollte, dass ich ihm dazwischen funke bei seinen ekelhaften Spielchen...“ Steven schluckte. Diese Möglichkeit hatte er ernsthaft nie zuvor in Betracht gezogen. Zu blind war er zu diesem Zeitpunkt gewesen, um zu erkennen, wie die Dinge wirklich waren. Dabei wäre diesem elenden Psychopathen alles zuzutrauen gewesen. „Dann... war er es wahrscheinlich auch, der die Fotos von uns beiden weggeräumt hat... Er wollte selbst dafür sorgen, dass ich dich vergesse! Das glaube ich einfach nicht...“ „Er hat versucht, dich komplett von mir zu isolieren, weil er Angst hatte, sein schmutziges, kleines Geheimnis könnte durch mich an die Öffentlichkeit gelangen, wenn du Kontakt zu mir hältst... Unfassbar. Was für ein krankes Hirn muss man haben, seiner eigenen Familie so etwas anzutun?“ „Wer weiß... warum er diese Dinge getan hat...“ „Sag mal, verteidigst du ihn jetzt auch noch oder was?!“, fragte Spider entsetzt. „Nein, das nicht...“, seufzte Steven. „Es ist nur so... Ich habe mir immer geschworen, niemals so zu werden wie er. Ich konnte nie verstehen, wie man so grausam sein kann, aber... am Ende war ich keinen Deut besser. Und das merke ich erst jetzt...“ Quälend deutlich fielen ihm Bilder ein, die er am liebsten genauso verdrängt hätte, wie die vielen anderen Erinnerungen, die er einfach aus seinem Bewusstsein verbannt hatte - wie Wörter auf einer Liste, die man so lange durchstrich, bis sie nicht mehr zu lesen waren. „Ich habe sie so mies behandelt. Sie hätte etwas viel Besseres verdient als mich. Und dann habe ich sie auch noch umgebracht...“ „Du redest von deiner Frau... oder?“, hörte er sein Gegenüber vorsichtig fragen. „Du sagtest, du wärest schlafgewandelt, als du es getan hast.“ „Ja, so war es. Aber das rechtfertigt es noch lange nicht! Sie war so lieb zu mir und ich habe sie nur benutzt... Wäre sie doch gar nicht erst an jemanden wie mich geraten, sondern hätte einen Mann geheiratet, der sie wirklich hätte glücklich machen können...“ „Du kannst es nicht mehr ändern, Steven. Wir alle machen Fehler. Sieh doch nur mich an!“ Er lachte, während er das sagte. „Manchmal handeln wir eben wie verbohrte Egoisten, weil wir die Augen vor der Wahrheit verschließen, und später bereuen wir, was wir getan haben. Das ist menschlich. Sicherlich hast du nicht immer alles richtig gemacht, aber deshalb bist du noch lange nicht wie er!“ „Das sagst du so leicht. Wir reden hier aber nicht von kleinen Fehlern, die jeder macht, sondern von Mord. Und du vergisst, dass sie nicht die Einzige ist, die ich ermordet habe. Heute habe ich es schon wieder getan. Was ist, wenn ich es immer wieder tue und es mir irgendwann überhaupt nichts mehr ausmacht...?“ „Dann“, seufzte Spider langgezogen, „wärst du so, wie ich. Aber das bist du nicht, also brauchst du dir darum keine Sorgen zu machen.“ „Wirklich? Na, wenn du das sagst...“ Lange saßen sie bloß nebeneinander im Sand und schauten zum Himmel hinauf, wie damals, als sie, nicht weit vom Schulgebäude entfernt, zusammen an der Mauer gelehnt und ihre gemeinsamen Pläne geschmiedet hatten, anstatt im Klassenzimmer zu sitzen und ihrer Lehrerin zuzuhören. Die Wolken hatten sich inzwischen verzogen und gaben den Blick auf die Sterne frei, die in dieser Nacht zahlreich ihre Umgebung erleuchteten. Viele, viele Sterne... Und dazwischen der Mond, der, umringt von einem gelben Schein, hell und klar am Himmel stand. Unwirklich, war das erste Wort, das Steven in diesem Moment in den Sinn kam. Den nächtlichen Ausblick zu genießen, ungestört, alleine mit seinem Bruder, war eigentlich zu schön, um real zu sein. Konnte es sein, dass er wieder einmal träumte? Dass er ausnahmsweise einen Traum hatte, in dem er nicht von bizarren Gestalten umhergejagt wurde? Nachdenklich sah er zu Spider, der sichtlich zufrieden wirkte, während er neben ihm ruhig die Sterne betrachtete. Wenn das hier ein Traum war, durfte er niemals enden. „Was ist los, Steven? Warum schaust du mich so an?“, wurden seine Gedanken von der Stimme des Anderen unterbrochen. „Ich... habe mich nur gerade gefragt, ob du auch... echt bist“, antwortete er und lachte verlegen. Immer hatte er das gleiche Problem. Entweder hatte er Wahnvorstellungen oder er wusste nicht, ob er schlief oder wach war. Kein Wunder, wenn Andere ihn für verrückt hielten. Vermutlich war er es wirklich. Spider lächelte nur und wandte sich ihm so zu, dass sie sich direkt ansahen. „Ich bin vielleicht eine skurrile Erscheinung mit einem komischen Namen... Aber du kannst mir trotzdem glauben, dass ich echt bin.“ Ein wenig irritiert ließ Steven es zu, dass Spider nach seinem Arm griff und ihn sich an die Brust legte. Durch den Stoff seines Oberteils konnte er überraschend deutlich seinen Puls spüren. „Ich weiß selbst, dass ich im Laufe der Zeit zu einem... unausstehlichen, kaltherzigen Etwas geworden bin. Aber an meinem Wunsch, meine Versprechen doch noch irgendwann zu erfüllen und dich wiederzusehen, hat das nie etwas geändert“, sagte er leise. „Merkst du das? Anscheinend habe ich trotz allem, was ich mittlerweile getan habe, immer noch ein Herz. Vielleicht kannst du darauf aufpassen, dass es mir nicht... vollständig verloren geht.“ Einige Sekunden lang verharrten sie auf diese Weise, bevor Spider ihn wieder losließ, kurz zu überlegen schien und dann mühevoll etwas aus seiner Hosentasche fischte. Hatte ihm eben schon auf die Bitte seines Gegenübers keine passende Antwort einfallen wollen, so war er jetzt erst recht sprachlos, als er erkannte, was Spider in der Hand hielt. Es war ein zusammengefaltetes Blatt Papier, im ersten Moment unscheinbar, doch bei näherem Betrachten konnte er feststellen, dass er es sehr lange aufgehoben haben musste - die Jahre waren dem Stück eindeutig anzusehen - und als er es aufklappte, offenbarte sich ihm ein Bild, von dem er bei Weitem nicht erwartet hatte, es noch einmal zu Gesicht zu bekommen. Zu sehen war eine dunkel gekleidete Figur, die von einer nicht besonders angsteinflößenden Mutantenspinne begleitet wurde. An ihrer Seite befand sich außerdem eine zweite Figur mit wehendem Umhang, ebenfalls begleitet von einer Art heroischem Haustier - einem pelzigen Hasen, der auf zwei Beinen ging - und weiter entfernt im Hintergrund eine Frau, die den beiden Hauptfiguren anerkennend hinterherblickte. „Es ist leider ein bisschen verschmiert... Ich hätte es wohl besser aufbewahren sollen. Stattdessen habe ich es immer mit mir herumgetragen, aber das ist gut. Sonst hätte ich es dir jetzt nicht zeigen können.“ „Das ist...“, murmelte Steven und starrte ungläubig das Papier vor seinen Augen an. „Du hast es wirklich seit damals pausenlos bei dir getragen...?“ Spider lachte, aber es klang anders als die letzten Male, die er ihn hatte lachen hören. Es war kindlicher. „Das habe ich“, sagte er und deutete auf die Figur mit dem Umhang und ihren kleinen Gefährten. „Ich glaube, als du das Bild zuletzt gesehen hast, waren die Beiden hier noch nicht mit drauf. Ich habe sie hinzugefügt, als ich in der Schule alleine auf meinem Zimmer war. Errätst du, wer das ist?“ „Da muss ich gar nicht raten: Das ist der Superheld, den ich erfunden habe, stimmt's?“ „Ganz genau! Ich habe dieses Bild immer gemocht und habe es immer noch so gern, dass ich es nicht weglegen kann. Naja, obwohl ich kein sonderlich begabter Künstler bin...“ Er grinste, während er sein Werk betrachtete, als ob er es eben erst gezeichnet hätte. War es wirklich so lange her, dass er mit ihm auf dem Bett gesessen und sich die ganze Nacht lang spannungsgeladene Geschichten ausgedacht hatte? Es war schwer zu glauben, wenn er ihn so ansah, wie er, vertieft in ein Stück aus ihrer Vergangenheit, auf dem Boden saß. Spider, der gefährliche Serienkiller, der seine ahnungslosen Opfer erst ins Netz lockte und dann über ihr Leben richtete, wenn sie ihm hilflos ausgeliefert waren. Spider, der ihn zu sich geholt hatte, um ihn zu beschützen. Der Tag, an dem er ihm vor drei Monaten in die Arme gelaufen war, erschien vor seinem inneren Auge, und ihm drängte sich unweigerlich eine Frage auf. „... Spider?“ „Hm?“ „Wie hast du es eigentlich nach all den Jahren geschafft, mich zu finden? Ich meine... Ich hätte überall sein können!“ Mit einem Ausdruck, als hätte er ihn bei etwas Fragwürdigem ertappt, wandte der Andere sich zur Seite, faltete das Papier ordentlich in die vorherige Form und steckte es wieder ein. „Das verrate ich dir lieber nicht“, lachte er nervös. „Sonst hast du nachher doch noch Angst vor mir...“ „Ich hätte niemals Angst vor dir, egal, was du mir jetzt erzählst.“ „Also... Sagen wir es mal so“, setzte er schließlich doch zu einer Antwort an, „... ich habe intensive Recherchen betrieben und hatte Glück, dass die Gegend, in die du gezogen bist, in der Nähe unseres alten Hauses war. Der Rest ist... nicht wichtig.“ „Dann nehme ich an, unsere Begegnung im Park war reiner Zufall?“ „Ja. So ist es. Absolut zufällig waren wir beide gleichzeitig in dem Park.“ Spider stand auf, klopfte sich den Sand von der Kleidung und schlich mit wachsamem Blick zum Eingang des Spielplatzes. „Wo gehst du hin?“, fragte er ihn, verwundert über sein plötzliches Verschwinden. „Es wird langsam Zeit, nach Hause zu gehen, findest du nicht?“, antwortete Spider und drehte sich zu ihm um, nachdem er die nähere Umgebung auf eventuelle Passanten untersucht hatte. „Komm mit, ich kenne eine Abkürzung. Ich hoffe, du bist noch nicht müde?“ „Nicht wirklich... Dazu bin ich zu aufgekratzt. Wieso fragst du?“ „Wir haben noch viel vor“, grinste sein Beschützer, als Steven seinem Beispiel folgte und sich Richtung Eingang bewegte. „Wir wollten Helden werden, schon vergessen?“ „Wie könnte ich das vergessen“, erwiderte er mit demselben Grinsen, innerlich lachend über die beißende Ironie dieser Worte, bevor sie sich gemeinsam auf den Heimweg machten. Eine Ewigkeit war er auf der Suche gewesen, auf der endlosen Suche nach dem Unbekannten, nach sich selbst und nach der Erlösung, die ihn von seinen Albträumen befreien würde. Und so verkehrt dieser Abend auch gelaufen war... Er hätte nicht besser ausgehen können. Denn, egal, was von jetzt an passieren würde - er wusste, dass seine Suche nun beendet war und dass er endlich seinen verdienten Frieden finden konnte. Er und Spider. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)