Steven von Drachenprinz ================================================================================ Kapitel 1: Didn't we meet...? ----------------------------- Disclaimer: Steven und Spider gehören Alice Cooper (genauer gesagt stammen sie von den Konzept-Alben 'Welcome to my nightmare' bzw. 'Welcome 2 my nightmare' und 'Along came a Spider'), ich verdiene hiermit kein Geld, und so weiter und sofort. ^^  Kapitel 1: Didn't we meet...? Bis vor Kurzem war alles in Ordnung gewesen. Normal. So normal wie es eben nur sein konnte. Nichts Außergewöhnliches. Doch in wenigen Minuten hatte sich dieser scheinbar so normale und sorglose Tag in einen absoluten Albtraum verwandelt. In einen düsteren, blutigen, hektischen Albtraum. Warum war es so gekommen? Die Frage war nicht schwer zu beantworten - weil immer alles in einem Albtraum endete. Sein Leben war ein einziger Albtraum, unterbrochen von wenigen schönen Momenten, die sich wie Träume aus Porzellan manchmal dazwischen schlichen und dann in tausend Teile zerbrachen, als wären sie nie da gewesen. So war es immer. Es war nicht anders zu erwarten gewesen. Eigentlich hatte er sich bloß einen schönen Abend machen wollen. Einfach nur einen schönen Abend, der ihm die Gelegenheit bot, all die Dinge, die ihn normalerweise beschäftigten, kurzzeitig zu vergessen und ein wenig zu entspannen. Aber das war anscheinend zu viel verlangt. Seit fast drei Monaten wohnte er jetzt bei Spider, einem kaltblütigen Killer, der ihn bei sich aufgenommen und sich um ihn gekümmert hatte, mit dem Versprechen, seine Albträume würden ein Ende nehmen, würde er mit ihm mitkommen. Aus welchem Grund er das alles für ihn tat, das blieb sein Geheimnis. Er wusste es nicht, aber es hatte irgendwann auch keine Rolle mehr gespielt. All die ewigen Fragen nach dem Grund, aus dem die Dinge so waren, wie sie waren... Sie waren nicht mehr wichtig gewesen. Seit er bei Spider war, hatte er das Gefühl, wenigstens ein bisschen Licht in seinem sonst so düsteren Leben gefunden zu haben. Egal, was er tat, getan hatte oder noch tun würde, was andere Leute von ihm hielten und was er von anderen Leuten hielt - zu ihm war er nett, völlig egal, aus welchem Grund. Er konnte ihm vertrauen; er war der Einzige, dem er vertrauen konnte, denn sonst hatte er niemanden. Genauso schien es umgekehrt zu sein. Sie waren wie Seelenverwandte, die sich ewig gesucht und endlich gefunden hatten und nun zusammen lebten. Es war, als hätte er die einmalige Chance erhalten, nach all der Zeit ein neues Leben anzufangen und vielleicht sogar glücklich zu werden. Es war selbstverständlich, dass er diese Chance nutzte und versuchte, normale Dinge zu tun, die jeder andere Mensch auch tat. Am heutigen Abend - es war bereits ziemlich spät gewesen - waren sie wie zwei ganz normale Menschen zusammen ins Kino gegangen und hatten sich amüsiert. Spider hatte ihn eingeladen und ihm später, als die Vorstellung zuende gewesen war und sie sich langsam wieder auf den Rückweg gemacht hatten, seine Jacke und Handschuhe geliehen, weil es mittlerweile doch recht kalt geworden war. Manchmal war er so extrem um sein Wohl bemüht, dass es ihm beinahe so vorkam, als wolle er irgendetwas wiedergutmachen. Diesen Gedanken hatte er allerdings immer als Spinnerei abgetan. Was hatte er schon bei ihm gutzumachen? Für die etwas grobe Art und Weise, auf die er ihn vor drei Monaten zu sich geholt hatte, hatte er sich bereits entschuldigt und er hatte es ihm längst verziehen. Aber vielleicht bildete er sich das alles auch bloß ein und Spider behandelte ihn einfach aus purer Freundlichkeit so...? Bevor sie den Heimweg eingeschlagen hatten, der ein Weilchen gedauert hätte, hatte Spider Lust auf einen Drink bekommen, weshalb sie kurz bei einem kleinen Shop mit allerlei Kleinigkeiten vorbeigeschaut hatten. Sie hatten den Laden nicht verlassen, ohne dass Spider sowohl ein Getränk für sich als auch ein niedliches Plüsch-Figürchen für ihn gekauft hatte. Er wusste von seiner Vorliebe für Stofftiere und machte sich nicht einmal darüber lustig. Das Figürchen, das er ihm geschenkt hatte, sah aus wie ein kleiner Fuchs mit großen, lieben Augen. Vielleicht war es auch ein Hund. Spider hatte es ihm in die Hand gedrückt mit den Worten „Schau mal, er freut sich auf seinen neuen Besitzer“ und den plüschigen Schwanz der Figur bewegt, als würde sie fröhlich wedeln. Das hatte ihn zum Lachen gebracht und er hatte sein Geschenk nicht aus der Hand gegeben, seit sie wieder gegangen waren. Es hätte ein so harmonischer Abend sein können, verdammt, ein gemütlicher Weg nach Hause bei Nacht als Abschluss eines perfekten Tages - wären nicht diese beiden geschminkten Püppchen gewesen, die zufällig ihren Weg gekreuzt hatten... und es nicht geschafft hatten, ihre bösen Lästerzungen unter Kontrolle zu halten, als sie ihn ansahen. „Ooh, hat der Kleine seinen Spielgefährten dabei?“, hatte eine von beiden gekichert, woraufhin die Andere ihn und Spider im Vorbeigehen mit einem abfälligen Blick bedacht hatte. „Den hat er bestimmt von seinem Sugar-Daddy bekommen“, war ihr Kommentar dazu gewesen, ebenfalls begleitet von einem lauten Kichern. Für einen Moment hatte Spider innegehalten, sich umgedreht und ihnen hinterhergestarrt. Offenbar hatten die Beiden sich genau in diesem Moment auch noch einmal umgewandt, um die Objekte ihres Gespötts erneut zu betrachten. „Ich bin nicht sein Sugar-Daddy“, hatte sein Begleiter ihnen zugerufen und, bevor er ihnen wieder den Rücken zugekehrt hatte, grinsend hinzugefügt: „Aber dass ihr zwei hirnlosen Aufblas-Puppen das nicht erkennt, wundert mich nicht.“ Irgendetwas hatten die beiden Frauen sich daraufhin zugeflüstert. Aber das schien nicht weiter von Bedeutung, sie würden die Zwei ohnehin nicht wiedersehen... das hatte er zumindest gedacht. Dass sie kurz darauf noch einmal hinter ihnen auftauchen würden, hatte er nicht unbedingt erwartet. „Hey, du Freak! Wie hast du uns genannt?“ „Aufblasbare Barbie-Puppen, ja? Ich an deiner Stelle würde meine Klappe nicht so weit aufreißen!“ Als Spider und er sich ihnen im Licht der Laternen zugewandt hatten, standen sie ganz schön dicht vor ihnen. „Ich sagte 'Hirnlose Aufblas-Puppen', aber wie auch immer. Und wenn ich mich nicht irre, wart ihr die ersten, die ihre Klappe aufgerissen haben.“ „Scheiße, die sehen ja beide gleich aus!“, hatte die Eine gesagt und sie angestarrt als wären sie eine seltsame Attraktion, während die Andere sich in der Gegend umgeschaut hatte. „Ob's hier noch mehr von denen gibt? Seid ihr so 'ne Art Zombies oder so?“ „Ja. Genau das sind wir“, hatte Spider augenrollend geantwortet. „Und jetzt kümmert ihr euch besser wieder um euren eigenen Kram, bevor wir euch zerfleischen und auffressen.“ Dummerweise hatten die Beiden wohl immer noch nicht genug und schienen mächtig Spaß daran zu haben, sich mit wildfremden Leuten zu streiten. „Hat der Andere da eigentlich nichts zu sagen? Oder kann der nicht sprechen?“ „Wo ist denn überhaupt seine Mama? Die findet's bestimmt nicht gut, wenn er so spät noch hier draußen rumläuft. Was, wenn er sein Spielzeug verliert und ein böser Mann ihn mitnimmt?“ Er hatte sehen können, wie sein Begleiter langsam aber sicher die Geduld verlor und ein wütender Ausdruck sich auf sein Gesicht legte. „Okay... Wenn ihr euch schon mit jemandem anlegen wollt, dann von mir aus. Müllt mich mit euren dämlichen Beleidigungen voll... ganz wie ihr meint. Aber lasst ihn aus dem Spiel!“ „Lass gut sein, Spider. Ist schon in Ordnung...“, hatte er versucht, ihn zu beschwichtigen. Allerdings wurde dieser Versuch von einem schrillen Gelächter unterbrochen. „Spider! Hast du das gehört, er hat ihn Spider genannt...!“ „Jetzt hab' ich aber wirklich Angst! Hoffentlich beißt die böse Spinne uns nicht!“ „Eines hat der Typ aber wirklich mit den Viechern gemeinsam: Er ist genauso hässlich!“ „Na, was für'n ekliges Viech bist du denn? Eine Tarantel? Oder 'ne Schwarze Witwe?“ Die spöttischen Bemerkungen der Beiden hatten keine Grenzen gekannt. Sie hatten nicht aufgehört und immer weitergemacht, begleitet von ihrem ekelhaft schrillen Gekicher, während sie sich über Spider lustig gemacht hatten wie bei einem Wettstreit. Ganz instinktiv hatte Stevens rechte Hand den Weg in seine Jackentasche gefunden und, unbemerkt von den Anderen, etwas herausgezogen. „Sind deine Eltern auch Spinnen? Oh, jetzt weiß ich! Deine Mama hat deinen Papa bestimmt aufgefressen, nachdem sie dich fabriziert haben, oder?“ „Jetzt reicht es...“ Ein abgrundtiefer Hass hatte sich langsam in ihm aufgebaut und die letzten Worte hatten das Fass eindeutig zum Überlaufen gebracht. Als wäre bei ihm eine Sicherung durchgebrannt, hatte er die elende Hure in Sekundenschnelle gepackt und mit dem Messer, das vorher in der Jacke vor der Außenwelt verborgen gewesen war, auf sie eingestochen. Er hatte nichts weiter gespürt als das Verlangen danach, dieses Mundwerk für immer zum Schweigen zu bringen. Und dann war alles viel zu schnell gegangen, als dass er irgendetwas von dem Folgenden überhaupt richtig hatte wahrnehmen können. Schreie. Die verbliebene Frau hatte versucht, wegzurennen, doch Spider hatte sie daran gehindert und schließlich war auch von ihr nichts als ein lebloser Körper auf einem dunklen Bürgersteig übrig geblieben. Spider hatte ihr kurzerhand den Mantel abgestreift und ihn sich selbst angezogen - er hatte etwas von Spuren auf dem Stoff erklärt, da er seine Handschuhe ja nicht mehr trug - und das Letzte, an das er sich erinnern konnte, war, wie sie schnellstmöglich den Ort des Geschehens verlassen hatten. Sie waren gelaufen; ziellos, da er in diesem Moment nicht die nötige Ruhe besessen hatte, einen klaren Gedanken zu fassen. Letztendlich waren sie auf einem Spielplatz gelandet, versteckt hinter einem großen Klettergerüst, abgelegen von der Stelle, an der sie die Ermordeten zurückgelassen hatten. Völlig außer Atem saß er dort, die Beine eng angezogen, um sich so klein wie möglich zu machen, im Schatten des Gerüstes und starrte den Mond an. Er war nur eine dünne, leuchtende Sichel, die langsam hinter einer grauen Wolke verschwand und genauso langsam wieder auftauchte, als diese vorbeizog. „Wir hatten Glück, dass niemand uns gesehen hat... Wirklich verdammt großes Glück...“, hörte er Spider mit leiser Stimme sagen, als die nächste Wolke an der Mondsichel vorbeizog. Diesmal war es eine größere Wolke und es dauerte länger, bis das Leuchten wieder zu erahnen war. „Warum hast du das getan, Steven?“, zischte sein Gegenüber, noch immer bemüht, leise zu sprechen. „Warum hast du sie umgebracht?“ Verwirrt blickte er zu ihm auf, nachdem der Andere sich vor ihm hingekniet hatte und ihn mit einem scheinbar vorwurfsvollen Ausdruck in den Augen musterte. „Sie... Sie haben... über dich hergezogen... Was sie gesagt haben, war... so unfair und gemein... Das konnte ich doch nicht einfach hinnehmen!“, stammelte er bei dem Versuch, sein Werk zu rechtfertigen. Aber warum musste er das vor Spider überhaupt tun? Ausgerechnet vor ihm, der doch selbst kein Unschuldslamm war, ganz im Gegenteil... Warum musste er sich jetzt vor ihm rechtfertigen...? Steven wich seinem Blick aus, doch als er seine gebrochene Stimme hörte, so schwach und untypisch für seinen sonst so selbstsicheren Freund, zwang er sich, ihn wieder anzusehen - und der vorwurfsvolle Ausdruck in seinen Augen war etwas anderem gewichen. Etwas Warmem und gleichzeitig unheimlich Traurigem. „... Du sollst nicht so werden wie ich, Steven! Bitte, werde nicht so wie ich...“, flüsterte er, und Steven erschauderte aus einem Grund, den er selbst nicht kannte. Spider legte ihm eine Hand auf die Schulter und fischte mit der Anderen etwas aus seiner Hosentasche. Es war der kleine Plüsch-Fuchs, den er ihm vorhin in dem Shop gekauft hatte. Der Grund, weshalb die beiden Frauen überhaupt erst auf ihn aufmerksam geworden waren. „Du hast ihn bei deinem Gefecht verloren, und ich konnte ihn nicht dort liegen lassen... Bitte nimm ihn zurück und pass gut auf ihn auf“, sagte er und hielt ihm die Figur hin, die ein wenig dreckig geworden, aber sonst unverändert geblieben war. „Es ist egal, was Andere sagen... Du bist in Ordnung, so wie du bist! Und um mich brauchst du dir auch keine Gedanken zu machen. Vergiss die blöden Aufblas-Puppen...! Die waren es überhaupt nicht wert... Was sie gesagt haben, war einfach nur dummes Gerede, weil ihnen... was weiß ich, weil ihnen langweilig war und sie jemanden zum Streiten brauchten... Du darfst dich über solche Leute nicht aufregen, hörst du, das darfst du nicht...! Du darfst nicht so werden wie ich...!“ Immer wieder sagte er das und langsam glaubte Steven, er würde die Fassung verlieren. So aufgelöst hatte er Spider noch nie gesehen; es war, als hätte bei ihm jemand einen Schalter umgelegt. Er fühlte sich schlecht, weil er genau wusste, dass er selbst dafür verantwortlich war. Aber da war noch etwas anderes. „Es tut mir leid, Spider...“ Unbeholfen griff er nach seiner Hand und nahm sein Plüschtier wieder an sich. Und plötzlich überkam ihn das unglaublich absurde Gefühl, diese Szene schon einmal erlebt zu haben. Eine eigenartige Starre erfasste ihn, gegen die er sich nicht zu wehren vermochte, und er glaubte, sich an etwas zu erinnern. Wie bei einem verblassten Traum, der Stück für Stück in sein Bewusstsein zurückkehrte, setzten sich dunkle Fetzen längst vergessener Erinnerungen zusammen und bildeten ein schleichend immer deutlicher werdendes Ganzes. Ich will, dass es dir gut geht, Steven. Du hast genug durchgemacht, findest du nicht? Du bist ein Teil von mir, Steven. Irgendwann wirst du verstehen, wie ich das meine. Die Worte, die Spider einmal zu ihm gesagt hatte, als er ihn mehr denn je gebraucht hatte, fielen ihm wieder ein - und auf einmal ergab alles einen Sinn. Alles, was ihm bisher unbegreiflich gewesen war, ergab mit einem Mal Sinn. Wie hatte er das nur nicht früher erkennen können? „Du... Du bist...“ Er sah das Gesicht des Anderen trotz der Dunkelheit klar und deutlich vor sich, dessen vertraute Züge ihm augenblicklich einen inneren Stich versetzten - seine eigenen Züge. „Oh Gott, du bist es wirklich...!“ „Ja... Erkennst du mich endlich...?“ Spider schaute ihn ungläubig an; eine erwartungsvolle Stille breitete sich aus. Steven traute sich nicht, etwas zu sagen. Nichts schien ihm in diesem Moment angemessen, alles schien gleichzeitig richtig und falsch zu sein und er wagte es nicht, die Stille in irgendeiner Weise zu durchbrechen. Mehr als ein zaghaftes Nicken brachte er nicht zustande, aber mehr als das war auch nicht nötig. Im nächsten Augenblick fand er sich in einer innigen Umarmung mit seinem Gegenüber wieder, die alles andere, was an diesem Abend geschehen war, unwichtig werden ließ. Dieser Moment war mehr als er sich je hätte erträumen können, und er fühlte sich seit einer Ewigkeit das erste Mal wieder vollkommen. „... Das hat ja ganz schön gedauert, Steven“, ergriff Spider nach einer Weile des Schweigens das Wort. „Aber ich habe die ganze Zeit gewusst, dass du früher oder später darauf kommen würdest... Du kannst nicht jeden Tag Zeit mit mir verbringen, ohne auch nur irgendetwas zu merken.“ Wie wahr es doch war, was er sagte... Lange hatte er sich gefragt, warum er einem Fremden überhaupt derart blind vertraut und ihm alles ohne Zweifel geglaubt hatte, was er ihm sagte. Wo diese starke Vertrautheit herkam und was wirklich hinter all dem steckte, das hatte ihn die ganze Zeit über nicht losgelassen. Und jedes Mal, wenn er ihn angesehen hatte, schien die Antwort so offensichtlich - wäre da nicht dieses seltsame Etwas in seinem Kopf gewesen, das es ihm nicht erlaubte, diese Antwort zu akzeptieren und sie jedes Mal aufs Neue aus seinem Gedächtnis verbannte. Nur dieses Mal... Dieses Mal hatte es nicht funktioniert. „Ich weiß nicht... was ich sagen soll... Es tut mir so unendlich leid! Natürlich weiß ich, wer du bist! Wie könnte ich dich nur jemals vergessen...? Aber in den letzten Jahren ist... viel passiert... Manchmal dachte ich, ich wüsste nicht einmal mehr, wer ich selbst bin... Ich hoffe, du verzeihst mir...!“ Auch ohne ihn anzusehen, wusste er, dass Spider ihm verziehen hatte. Der feste Griff, mit dem er ihn tröstend in seinen Armen hielt, verriet es ihm. „Ich glaube, wir haben uns einiges zu erzählen, hm...?“ Kapitel 2: The nightmare returns -------------------------------- „... ja, und genau deshalb haben wir uns kurzerhand entschlossen, mal wieder einen kleinen Ausflug zusammen zu unternehmen. Schaut mal, was für schönes Wetter wir heute haben! Also... Ich hoffe, ihr amüsiert euch schön. Wir geben euch ein bisschen Kleingeld mit, dann könnt ihr erst mal hingehen, wo ihr wollt. Euer Vater und ich haben... noch etwas zu besprechen. Gut. ... Ach, und Stanley! Pass gut auf deinen Bruder auf! Ihr könnt nachher hierher zurückkommen, dann gehen wir gemeinsam weiter. Sagen wir... in einer Stunde? Ja? Schön, dann... viel Spaß!“ Nur vage drang die leise Stimme seiner Mutter zu ihm vor. Hintergründig konnte er sie hören, aber die vielen Eindrücke, die alle gleichzeitig auf ihn einschlugen, nahmen seine volle Aufmerksamkeit in Anspruch. So viele Menschen. So viele Geräusche. So viele verschiedene Gerüche. So viel Fröhlichkeit. Wann hatte er das letzte Mal so etwas gesehen? Es musste ewig her sein... Hatte er überhaupt jemals so etwas aus der Nähe gesehen? „Was ist los, Häschen? Träumst du?“ Wieder vernahm er die sanfte Stimme, diesmal etwas lauter, und spürte, wie er leicht in die Seite gestupst wurde. „Nein, Mommy. Ich habe mich nur ein bisschen umgeschaut“, antwortete er, noch immer schwer beeindruckt von der schillernden Umgebung. „Gefällt es dir hier? Wir haben genug Zeit, uns alles in Ruhe anzusehen. Los, geh schon! Dein Bruder wartet!“ Bevor er die Gelegenheit dazu hatte, länger herumzustehen, hatte dieser sich bereits seinen Arm gegriffen und zog ihn aufgeregt hinter sich her. „Komm, Steven! Worauf wartest du?“, rief er, als er mit ihm mitten in das bunte Getümmel stürmte. Vorsichtig trat Steven hinter ihm her. Fast wäre er gestolpert, so hastig zerrte sein Bruder ihn mit sich. Ihm blieb nicht einmal Zeit, all die Eindrücke auf sich wirken zu lassen. Allerdings war es fast immer so, dass Stanley es aus irgendwelchen Gründen eilig hatte, während er Dinge meist lieber etwas ruhiger anging. Das war wohl der größte Unterschied zwischen ihnen. „Hm... Bist du sicher, dass es okay ist, wenn wir so weit weg gehen? Was, wenn wir nicht mehr zurück finden?“, fragte er unsicher und schaute noch einmal nach hinten über die Schulter, als sie kurz stehengeblieben waren. Der Anblick des riesigen Jahrmarktes war überwältigend. „Ach, was. Natürlich finden wir zurück. Mom hat gesagt, sie warten am Eingang auf uns. Ich weiß auch nachher noch, wie wir wieder dahin kommen. Ist doch toll, wenn wir hier alleine rumlaufen dürfen. Sei nicht so ein Spielverderber, Steven!“ „Na gut... Und wo sollen wir als erstes hingehen?“ „Da vorne! Ich glaube, da kann man Dosen werfen!“ „Echt? Wieso wirft man denn mit Dosen...?“ „Äh... Nein, man wirft mit einem Ball... nach aufgestapelten Dosen. Glaube ich. Komm einfach mit, ich zeig's dir!“ Schon war er wieder losgerannt und Steven blieb nichts anderes übrig, als ihm hinterherzulaufen. Er stellte sich dicht neben seinen Bruder und hielt sich an ihm fest, weil der große Menschenandrang vor dem Stand ihm ein wenig Angst machte. Erst als Stanley an der Reihe war, ließ er ihn wieder los und wich ein Stück zur Seite, um ihm nicht im Weg zu sein. Fasziniert sah er ihm dabei zu, wie er zielsicher mit dem Ball der Reihe nach fast alle Dosen traf, die laut scheppernd zu Boden fielen, und er sich danach aus einer Auswahl einiger Stofftiere einen Gewinn heraussuchte. Er entschied sich für einen Hasen mit langen, flauschigen Schlappohren und grinste breit, als er ihn entgegennahm. „Das war echt cool! Ich will auch mal!“ „Gut, du kannst es ja mal versuchen. Aber du musst mit viel Schwung werfen, sonst klappt das nicht!“ „Ja, mache ich.“ Mit aller Kraft versuchte er, so viele Treffer wie möglich zu landen. Nur leider wollte ihm das wohl nicht richtig gelingen, sodass er sich schließlich bloß einen Trostpreis aussuchen durfte. Neidisch blickte er zu dem niedlichen Hasen hinüber, den Stanley voller Stolz im Arm hielt. „Oh, schade... Wie hast du das gerade gemacht?“, fragte er. „Hm, einfach feste geworfen. Aber mach dir nichts draus. Du bist eben noch nicht so stark wie ich. Irgendwann kriegst du das bestimmt auch hin“, sagte Stanley und tätschelte ihm den Kopf. Manchmal führte er sich auf wie der große Bruder, der alles besser konnte als sein kleines Geschwisterchen. Dabei war er nur sieben Minuten älter. „Wie gemein! Du wirst schon sehen, dass ich das genauso gut kann wie du!“, rief er und startete einen neuen Versuch, nur um noch einmal genauso kläglich zu scheitern wie beim ersten Mal. Stans blöde Erklärungen darüber, dass er nicht einfach blind drauf los werfen dürfe, ignorierte er beleidigt. Anschließend gingen sie zu einem anderen Stand und kauften sich Zuckerwatte, die sie recht schnell aufgegessen hatten, bevor Steven seinen Bruder dazu überredete, mit ihm eine Runde Karussell zu fahren. Wie immer fühlte er sich dazu wieder einmal zu alt und beschwerte sich die ganze Fahrt über darüber, was für ein Kindergartenkram das doch sei. Er ließ nicht locker bis Steven sich schließlich dazu breitschlagen ließ, mit ihm als nächstes 'etwas viel Cooleres' zu unternehmen, das er diesmal vorschlagen dürfe. Dass sein nächstes Ziel ausgerechnet eine Geisterbahn sein sollte war für ihn gar kein Grund zur Freude. „Warum muss es denn eine Geisterbahn sein...?“, fragte Steven, während er skeptisch das große, dunkle Gebäude beäugte, vor dem sie nun standen. „Du weißt genau, dass ich Geister nicht mag... Das ist echt fies von dir!“ „Stell dich doch nicht so an. Wir haben abgemacht, dass wir jetzt etwas machen, das mir Spaß macht. Gerade habe ich immerhin auch diese öde Karussellfahrt ausgehalten, weil du ja unbedingt wolltest.“ „Das ist was ganz anderes! Davor hattest du wenigstens keine Angst, sondern hast dich nur gelangweilt! Außerdem... dürfen wir hier, glaube ich, gar nicht rein, ohne unsere Eltern...“ „Dann lass uns doch einfach zurückgehen und sie fragen, ob sie uns begleiten“, schlug Stanley vor und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. „Die Stunde ist sowieso fast um. Zehn Minuten nur noch.“ „Na gut... Wenn du meinst“, gab er sich geschlagen und folgte dem Anderen auf dem Weg zurück zum Eingang, wo sie erwarteten, ihre Eltern stehen zu sehen. Doch seltsamerweise war dort keine Spur mehr von ihnen. „Komisch... Wo sind sie denn?“ „Weiß auch nicht... Mommy-“ „Psst! Bleib ruhig. Die kommen schon wieder.“ Stan ging ein paar Schritte und blieb vor einem bunt gemusterten Zelt stehen, das ganz in der Nähe aufgebaut war. „Vielleicht sind sie irgendwo reingegangen. Lass uns einfach wieder gehen. Wenn die Stunde vorbei ist, sind sie bestimmt wieder da.“ „Aber...“ „Komm einfach.“ Es dauerte nicht lange und sie standen wieder vor dem großen, furchteinflößenden Gebäude. Steven starrte wie gebannt die verzerrten Fratzen an, die von oben mit einem hinterhältigen Grinsen auf ihn herabblickten. Als er sich endlich von dem gruseligen Anblick losreißen konnte, stand sein Bruder nicht mehr neben ihm. Bevor er sich allerdings fragen konnte, wo er auf einmal abgeblieben war, fand er ihn etwas abseits in der Menge stehend, wo er mit einer jungen Frau redete. „Sag mal, was machst du da...?“, wollte er von ihm wissen und lief auf ihn zu, woraufhin er sich von der Frau und dem Typen, der bei ihr stand, abwandte und sich fröhlich zu ihm vorbeugte. „Die nette Lady und ihr Freund werden mit uns reingehen!“, sagte er zwinkernd und warf den Beiden einen gespielt lieben Blick zu. „Was...? Aber wir kennen die doch gar nicht!“ Seine Einwände ignorierend lief er voraus, gefolgt von dem jungen Paar, das sich anscheinend ziemlich wenig um ihn scherte, weil es nur Augen füreinander hatte, und bezahlte seinen Teil, so tuend, als würden sie alle zusammengehören. Gezwungenermaßen schloss er sich ihnen an und betrat das Gebäude, das auf ihn alles andere als einladend wirkte. Es war stockfinster als sie den ersten Raum betraten, während das schwere Tor, durch das sie gekommen waren, sich langsam hinter ihnen schloss. Bei dem lauten Geräusch, das dadurch zustande kam, durchlief ihn ein kalter Schauer. „Hey...! Stan...!“, flüsterte er und schaute neben sich, obwohl er in der Dunkelheit ohnehin so gut wie nichts sehen konnte. „Was denn?“, hörte er seinen Bruder dicht an seiner Seite antworten. Die anderen Beiden konnte er nirgendwo mehr ausmachen. „Ich dachte... das hier wäre eine Geisterbahn... Aber das sieht ja ganz anders aus...“ „Dann ist es eben ein Geisterhaus, keine Ahnung. Bleib locker, Steven.“ Stille. Das einzige, was noch zu hören war, war das leise Gemurmel der anderen Leute, die mit ihnen hier eingeschlossen waren. Es war solange nichts weiter zu hören, bis die Wände, die Decke und der Boden des Raumes plötzlich anfingen zu beben, unterstrichen von dem erschrockenen Kreischen vereinzelter Personen. Schwaches Licht drang von irgendwo herein und erleuchtete die Nebelschwaden, die im nächsten Moment aufzogen und sich ausbreiteten. Steven erkannte die Umrisse eigenartiger Kreaturen, die sich aus der Dunkelheit erhoben und langsam immer näher kamen. Er zwang sich, ruhig zu bleiben, als er sich von ihnen umzingelt sah, ohne auch nur irgendeinen Ausweg. Es wurden immer mehr. Finstere, gehörnte Kreaturen, die noch dazu die bedrohlich stöhnenden Geräusche eines Untoten von sich gaben, waren überall um ihn herum. Sie begannen zu lachen. Er tastete nach seinem Bruder und drehte sich nach hinten um - doch was er fand, war nicht sein Bruder. Sondern eine gigantische, behaarte Monsterspinne, die offenbar im Begriff war, ihn anzuspringen. Ihm war so sehr danach zumute, laut loszuschreien, wie noch nie zurvor, doch außer einem jämmerlichen Winseln brachte er nichts heraus. Er war wie gelähmt. Das Lachen der Kreaturen um ihn herum schien noch lauter zu werden, lauter und wahnsinniger. Er konnte sich nicht bewegen. Erst, als eine bisher versteckte Tür sich öffnete, stürmte er hinaus, ungeachtet der Anderen, die ebenfalls hier waren und ihm nach und nach durch die Tür folgten. Er wusste nicht, ob sie sich amüsierten, ob sie sich über ihn amüsierten und es lustig fanden, was hier vor sich ging - er wusste nur, dass er es nicht tat. Er fühlte sich verloren in der Menge, allein zwischen fremden Menschen und bösen Ungeheuern. Nicht einmal sein Bruder war bei ihm. Er war ganz allein. Er war ein Angsthase und er war ganz allein. „Bitte, lass es vorbei gehen...“, war alles, was er denken konnte, und so bekam er vom Rest der Höllenschau auch nicht viel mit. Die Vorstellung zog an ihm vorüber wie ein eisiger Luftzug, der einen kurz erstarren ließ, und er rannte so schnell er konnte nach draußen, als er realisierte, dass sie zu Ende war. Noch immer sah er die riesige Spinne vor seinen Augen und musste sich selbst beruhigen, indem er sich immer wieder sagte, dass sie ihn mit Sicherheit nicht bis hierher verfolgt hatte und ihm mit Sicherheit auch nichts tun wollte, weil sie in Wirklichkeit harmlos und nur ein einfacher Teil des Geisterhauses war; ein Teil des Jahrmarktes, der dazu da war, ängstliche Kinder wie ihn zu erschrecken. Ja, so war es. Sie war nicht echt und auch nicht gefährlich, auch wenn sie so aussah. Trotzdem fühlte er sich elend. Wieder stand er alleine da, während sich wahrscheinlich alle hinter seinem Rücken über ihn lustig machten, weil er so schreckhaft war. Wo sein Bruder sich jetzt aufhielt, wusste er auch nicht. Bestimmt hatte er ihn vergessen und sich jemand anderen gesucht, mit dem er sich nun vergnügte. Die Beiden, die mit ihnen in das Geisterhaus gegangen waren, waren jetzt sicher bei ihm, oder er war schon zurück zu ihren Eltern gelaufen. Wie sehr er sich doch jetzt wünschte, in den Armen seiner Mutter zu liegen, die ihm sagte, dass alles gut sei und er keine Angst haben müsse... „Steven...!“ Fast hätte er die Stimme überhört, die, gefolgt von raschen Schritten, besorgt nach ihm rief. Überrascht drehte er sich um und blickte geradewegs in zwei graue Augen, die ihn voller Erleichterung musterten. „Da bist du ja! Mann, ich hab' dich überall gesucht...! Ich dachte schon, du wärst ohne mich weitergegangen... Wieso bist du denn weggelaufen?“ Mit gemischten Gefühlen sah er Stanley an, der ihm gegenüberstand und verständnislos dreinschaute. „Ich... Die Spinne... Und es war so dunkel...“, versuchte er, es ihm zu erklären, was ihm nicht recht gelang. „Es war so unheimlich da drin... Ich will da nie wieder rein!“ „Oh, diese Spinne... Ja, die war echt gruselig“, hörte er seinen Bruder leise sagen und traute seinen Ohren kaum. „Du hast Angst vor Spinnen...?“, fragte er. „Ich dachte immer, du hättest vor nichts Angst?“ „Das wäre schön... Naja, ich... Ich tue manchmal so, als hätte ich keine Angst. Weil ich dachte, dass du mich dann cool finden würdest... Blöd, ich weiß. Aber ich will eben nicht, dass du mich für ein Weichei hältst!“, antwortete er unsicher lächelnd. „Uh... Ich bin ein schlechter Bruder...“ „Was...? Warum?!“ „Mom hat gesagt, ich soll auf dich aufpassen. Und jetzt bist du wegen mir abgehauen... Ich hab's voll vermasselt...“ Steven schaute seinen Bruder mitleidig an. Er wollte nicht schuld daran sein, dass Stan ein schlechtes Gewissen hatte. „Ich bin nicht wegen dir abgehauen! Sondern wegen der Spinne... und den anderen fiesen Monstern... Du kannst ja nichts dafür, dass ich so ein Feigling bin“, sagte er an den Boden gewandt. „Du bist kein Feigling! Hör auf, sowas zu sagen! Du bist in Ordnung, so wie du bist, Steven!“, antwortete sein Gegenüber mit absoluter Überzeugung, dann wurde seine Stimme wieder etwas leiser. „Versprich mir, dass du mit niemandem darüber sprichst, was ich dir jetzt sage...! Du bist mir sehr wichtig. Ich glaube, du bist mir viel wichtiger als irgendwer sonst... und ich mag es, auf dich aufzupassen. Wenn ich auf dich aufpassen kann, habe ich... das Gefühl, stark zu sein. Obwohl ich das manchmal gar nicht bin. Wenn du nicht bei mir bist, bin ich... nur ein kleiner Schwächling...“ Nur für einen kurzen Augenblick hörte er auf, ihn anzusehen, und blickte nachdenklich zum Himmel hinauf. Dann redete er überschwänglich weiter, als wäre nichts gewesen. „Pass auf, ich weiß was! In Zukunft musst du dir keine Sorgen mehr machen, dass irgendwer dich erschreckt und gemein zu dir ist. Ich werde dich nämlich ab jetzt vor jedem beschützen, der dir blöd kommt! Auch vor... ekligen Spinnen. Du kannst dich auf mich verlassen!“ „Ist das... dein Ernst?“, fragte Steven kleinlaut. „Aber wie willst du das machen...?“ „Das wird schon. Mach dir um mich keine Gedanken, ich schaffe das! Ich werde dich nie wieder enttäuschen oder im Stich lassen. Glaub mir einfach!“ Die Worte seines Bruders lösten in ihm ein Gefühl aus, das er in diesem Ausmaß noch nie zuvor verspürt hatte. Er war glücklich. Glücklich darüber, dass er doch nicht so allein war, wie er dachte. Selbst, wenn kein Anderer da war und sich um ihn kümmerte - sein Bruder würde immer bei ihm sein, ihm zuhören und ihn beschützen. „Was ist los, Steven...? Warum weinst du?“, hörte er Stan auf einmal fragen. „Tue ich doch gar nicht...“ „Doch, das tust du... Ah! Warte...“ Verwundert sah er ihm dabei zu, wie er seinen Rucksack absetzte, ihn öffnete und etwas herauszog - etwas Flauschiges. „Hier! Schenke ich dir!“, sagte er, lächelte ihn an und streckte ihm den Stoffhasen entgegen, den er vorhin beim Dosenwerfen gewonnen hatte. „Nimm ihn ruhig. Du kannst ihn haben!“ Steven zögerte einen Moment, bevor er das unerwartete Geschenk annahm, besah sich den Hasen einmal von Nahem und drückte ihn an sich. „Danke!“, grinste er und konnte einfach nicht anders als Stan in seine Arme zu schließen. Er war so froh, ihn zu haben, dass er sein unangenehmes Erlebnis in dem Geisterhaus schon fast vergessen hatte. Selbst, als er ihm den Kopf tätschelte, wie er es immer tat, wenn er sich besonders erwachsen fühlte, ärgerte er sich nicht. Vielleicht war es doch nicht so schlecht, einen großen Bruder zu haben. „Wir sollten langsam mal zu unseren Eltern zurückgehen“, bemerkte Stanley, als sie sich aus ihrer Umarmung gelöst hatten. „Die Stunde ist schon längst um. Bestimmt warten sie schon die ganze Zeit auf uns.“ „Du hast Recht. Also, gehen wir!“, sagte er fröhlich, während er durch das weiche Fell seines neuen Spielkameraden strich. Dass seine Eltern in Wahrheit noch gar nicht lang auf ihn warteten und etwas mit ihnen nicht stimmte, ahnte er zu diesem Zeitpunkt noch nicht... Es war still, als sie den Eingang erreicht hatten. Ihre Eltern standen dort, wie vereinbart, nebeneinander. Steven war sich nicht sicher, ob seine Mutter ihn bemerkt hatte. Sie sagte nichts und starrte nur geradeaus, als wäre sie in Gedanken versunken. Sein Vater hingegen warf ihm und Stanley ein ungewohnt heiteres Lächeln zu, als er sie auf sich zukommen sah. „Hallo, Jungs!“, rief er, wandte sich dann ihrer Mutter zu und sagte etwas zu ihr, das er auf die Entfernung nicht verstehen konnte. Wahrscheinlich hatte er sie auf sie beide aufmerksam gemacht, denn nun schaute sie direkt in ihre Richtung und winkte zaghaft. „Sorry, dass wir so spät sind. Wir... hatten so viel Spaß, dass wir die Zeit vergessen haben“, log Stan und Steven war dankbar, dass er nichts von dem kleinen Zwischenfall erwähnte. „Ach, nicht weiter schlimm. Eure Mutter und ich hatten auch großen Spaß... nicht wahr, Liebling?“ Der heitere Ausdruck auf dem Gesicht seines Vaters schien sich zu verstärken, als er der stumm lächelnden Frau an seiner Seite einen Arm um die Schultern legte. Stanley schnappte erschrocken nach Luft. Fragend sah er ihn an, weil er nicht begriff, was ihn so erschreckt hatte, doch er schien es überhaupt nicht mitzubekommen. Sekundenlang starrte er das Bild ihrer Eltern vor seinen Augen an und rührte sich nicht - und das wirklich Merkwürdige daran war, mit welchem Entsetzen er sie anstarrte. Steven konnte sich ausnahmsweise nicht einmal im Ansatz erklären, was in seiner anderen Hälfte vorging. Doch noch bevor er die Gelegenheit hatte, länger darüber nachzudenken, führten sie ihren Gang über den Jahrmarkt fort. Nachdem sie bei zwei weiteren Schießbuden vorbeigeschaut hatten, war ihr nächstes Ziel das Riesenrad. Obwohl es ein ganz normaler Familien-Ausflug zu sein schien und er sich noch immer über sein Geschenk freute, lag etwas Seltsames in der Luft. Er wusste nicht, was es war, aber es bereitete ihm Unbehagen. Anfangs hatte er gedacht, er würde es sich einbilden und versucht, dieses Gefühl beiseitezuschieben. Doch als sie gemeinsam in die Gondel einstiegen - seine Mutter und Stan gegenüber ihm und seinem Vater - und er sah, wie abwesend sein Bruder zur Seite schaute, wusste er, dass es keine Einbildung war. Das Rad kam in Bewegung und er saß nur stillschweigend da und blickte in die Tiefe. Völlig starr. „Geht es dir gut, Stanley...?“, hörte er seine Mutter leise fragen, während er sich nicht entscheiden konnte, wo er hinsehen sollte. Dessen gemurmelte Antwort, dass mit ihm alles okay sei, war gerade so laut, dass er sie verstehen konnte. Stevens umherschweifender Blick blieb an seinem Vater hängen, der sich ihm, als er ihn bemerkte, halb zuwandte, die Augen wachsam auf sein Gesicht gerichtet, und ihm mit rauer Stimme, kaum hörbar, etwas zuflüsterte: „Na, mein Sohn?“ Irritiert wandte er sich um und fühlte sich schlagartig wahnsinnig unwohl, als er die schockierten Blicke seiner Mutter und seines Bruders registrierte, die auf ihm und seinem Vater lasteten. Das reichte ihm aus, um zu wissen, dass er keine Sekunde länger in dieser Gondel sitzen wollte, und er war der Erste, der übereilig wieder ausgestiegen war, dicht gefolgt von Stanley, als die Fahrt beendet war. Den Rest des Tages über hatte er Mühe, seine Gedanken zu ordnen, und er vermied es, seinen Eltern über den Weg zu laufen. Der Ausflug hatte ihn in mehrfacher Hinsicht aufgewühlt und am Ende des Tages brauchte er lange, bis er es schaffte, einzuschlafen. Er kuschelte sich an seinen neuen Spielkameraden und träumte von einem gehörnten Ungeheuer, das ihn bei der Hand nahm und ihn zu einem gigantischen Riesenrad zerrte. Die Wochen verstrichen und seit den Ereignissen auf dem Jahrmarkt war nichts Außergewöhnliches mehr vorgefallen. Steven und Stanley hatten seitdem fast jede Minute miteinander verbracht; sie waren unzertrennlich geworden. Was sie auch taten, sie taten es zu zweit - bis auf eine Sache. Stanley hatte diese merkwürdige neue Leidenschaft entwickelt, der er unverzüglich seine Zeit widmete, sobald Steven einmal mit etwas anderem beschäftigt war: Spinnen. Hatte er vor nicht allzu langer Zeit noch behauptet, sie würden ihm Angst machen, so war er jetzt ganz fasziniert von den Tieren. Immer öfter fand er ihn dabei vor, wie er sie aufmerksam beobachtete, wann immer er die Gelegenheit dazu hatte, oder in Sachbüchern nach irgendwelchen Informationen über sie suchte. Ständig sprach er davon, was für interessante Wesen sie doch seien und dass er überhaupt nicht mehr wisse, weshalb er sich früher so vor ihnen geekelt hatte. Er schien regelrecht besessen von ihnen. Steven hatte den Verdacht, dass er das alles nur tat, um seine Angst vor Spinnen zu überwinden, damit er vor ihm nicht wie ein Feigling dastand, wenn ihnen eine über den Weg krabbelte. Das schien ihm wohl mehr als gelungen zu sein. Schon bald feierten sie ihren neunten Geburtstag, allein zuhause mit ihrer Mutter - ihr Vater war auf einer längeren Geschäftsreise und konnte nicht anwesend sein. Allerdings störte sie das eher wenig. Ihre Mutter tat alles, um einen schönen Tag mit ihnen zu verbringen. Sie bekamen Geschenke, spielten Spiele und hatten Spaß. Es gab nichts, das sie vermissten. Sie waren auch auf die anderen Kinder in der Schule nicht neidisch, weil sie in großen Gruppen feierten und zusammen Dinge unternahmen. Nein. Ihre Mutter hatte ihnen bereits vor längerer Zeit verboten, jemanden zu sich nach Hause einzuladen. Aber davon abgesehen gab es auch niemanden, der sich mit ihnen treffen wollte. Das war in Ordnung. Sie waren es nicht anders gewohnt. Vier Tage später und somit einen Tag zu spät kehrte ihr Vater zurück - und damit war der Spaß vorbei. Warum war er so spät nach Hause gekommen? Wo war er die ganze Zeit abgeblieben? Und wieso war er so anders als sonst? Steven verstand es nicht. Und noch weniger verstand er, warum seine Mutter es einfach so akzeptierte. Warum sie nicht einmal sauer war und ihn danach fragte, was er die ganze Zeit getrieben hatte, sondern es ohne Weiteres hinnahm, wie es war. Er verstand die Erwachsenen einfach nicht, egal, wie sehr er es auch immer versucht hatte. Doch mittlerweile war er sich nicht mehr sicher, ob er sie überhaupt verstehen wollte. Ob er wirklich wissen wollte, warum die Stimme seines Vaters sich heute so fremdartig anhörte. Und warum er manchmal so laut war, und sie so leise, wenn es den Anschein machte, dass sie eine Meinungsverschiedenheit hatten. An manchen Abenden lag er in seinem Bett und konnte es hören, wenn sie einen Konflikt hatten. An diesem Abend war es besonders schlimm. Lange lag er wach, versuchte, es zu ignorieren und an etwas anderes zu denken. Nach fast zwei Stunden gab er die Hoffnung auf, in dieser Nacht noch Schlaf zu finden, und beschloss, seinem Bruder einen Besuch abzustatten. Müde schlich er in den dunklen Flur, sein Lieblingskuscheltier fest im Arm haltend, und klopfte leicht an die Tür des Zimmers, das neben seinem Eigenen lag. Stanley schien ihn gehört zu haben - er vernahm ein zögerliches „Ja...?“ von drinnen, öffnete die Tür und trat ein. Stan schien erleichtert, als er ihn sah. Er saß aufrecht auf seinem Bett im schwachen Licht der Nachttischlampe und es sah so aus, als hätte er einen kleinen Zeichenblock auf seinem Schoß. „Hey, Steven... Kannst du auch nicht schlafen?“, fragte er leise. Steven schloss die Tür hinter sich und machte ein paar Schritte auf ihn zu. „Nein“, seufzte er zur Antwort und versuchte, einen Blick auf den Block zu erhaschen. „Was machst du da?“ „Ach... nichts Besonderes“, murmelte Stan und betrachtete das obere Blatt Papier prüfend, auf dem Steven aus der Entfernung nur dünne Linien erkennen konnte. Er beugte sich etwas vor, war sich jedoch noch immer nicht sicher, was es darstellen sollte. „Darf ich mal sehen?“, fragte er. „Klar. Setz' dich doch einfach“, antwortete sein Bruder, rutschte ein Stück zur Seite und klopfte neben sich auf die Bettdecke. Freudig kam er seiner Aufforderung nach und gesellte sich zu ihm, zusammen mit seinem flauschigen Hasenfreund. „Das ist... Wie soll ich das erklären... Erst sollte es ein Superheld werden, aber jetzt ist es eher eine Art... Rächer oder so geworden“, sagte Stan, während er auf das Bild deutete, das er gezeichnet hatte. Aus der Nähe konnte er deutlich besser erkennen, was es zeigte. Zu sehen war eine große, in dunkle Kleidung gehüllte Figur, daneben eine Mutantenspinne, die allerdings selbst in seinen Augen eher niedlich als gruselig wirkte - was nicht unwesentlich an dem Schleifchen lag, das sie auf dem Rücken trug - und etwas unscheinbarer im Hintergrund eine Frau mit langen, im Wind wehenden Haaren. „Das hier“, er deutete auf die Spinne, „ist sein Haustier und treuer Begleiter. Habe ich mir letztens ausgedacht, als mir langweilig war.“ Neugierig besah er sich das Werk seines Bruders genauer, als ihm etwas ins Auge stach, das ihn ein wenig erschreckte. „Das da in seiner Hand... Ist das ein Messer?“, fragte er. „Will er die Frau etwa ermorden...?“ Stanley lächelte schwach. „Nein, das will er nicht. Er liebt diese Frau. Aber sie ist sehr zerbrechlich... Deshalb bringt er jeden um, der ihr etwas antun will.“ Sein Blick war noch immer auf das Bild gerichtet und doch schien er es nicht wirklich anzusehen. Es war, als wäre er überhaupt nicht mehr anwesend, sondern ganz woanders, obwohl er in Wirklichkeit direkt neben ihm saß. Mit einem Mal war es ganz still. „Und... hat dein Rächer auch einen Namen?“, unterbrach Steven das Schweigen nach einer Weile. Er mochte es nicht, wenn niemand etwas sagte. Wenn es um ihn herum ruhig war, glaubte er manchmal, seltsame Stimmen zu hören, die von überall her kamen und durcheinander undeutliche Dinge flüsterten. „Noch nicht“, antwortete Stan. „Mir ist noch keiner eingefallen. 'Spiderman' ist ja leider schon vergeben.“ Sie lachten beide, dann wurde es wieder still. Steven fragte sich, ob seine Eltern inzwischen schlafen gegangen waren, weil er sie nicht mehr hören konnte. Um sicherzugehen, stand er auf, ging zur Tür und lauschte. Nichts. „Stan...?“ „Ja?“ „Meinst du... Mommy und Daddy vertragen sich wieder? Sie vertragen sich doch immer, oder...?“ Erwartungsvoll sah er seinen Bruder an, nachdem er sich wieder zu ihm gesetzt hatte. Eine Antwort bekam er nicht. Verunsichert schaute er nach oben und betrachtete die Decke, als würde die Antwort sich dort versteckt halten. Er rechnete fast nicht mehr damit, irgendeine Reaktion auf seine Frage zu bekommen, als Stan leise das Wort ergriff. „Steven...“ „Hm?“ „Ich muss... dir etwas verraten. Aber du darfst nicht mit unseren Eltern darüber reden! Das darfst du auf keinen Fall tun, okay...?“ „Versprochen.“ „Unser Dad... ist böse. Wenn wir nachts alleine in unseren Zimmern sind, macht er... schlimme Sachen mit Mom... Ich habe es gesehen“, flüsterte er. „Einmal habe ich sie gehört, bin aufgestanden und habe mich... zu ihnen geschlichen.“ „Was... Was meinst du...?“ Steven stellte seinem Bruder diese Frage, obwohl er große Angst vor der Antwort hatte. Am liebsten hätte er sich aufgelöst oder wäre aus dem Fenster gesprungen und losgerannt; egal wohin - Hauptsache weit weg von zu Hause. Aber das konnte er nicht. Er konnte nur da sitzen und entsetzt mitansehen, wie sein Bruder langsam immer mehr die Fassung verlor. „Er... Er hat sie...“, stammelte er, brachte es jedoch nicht fertig, den Satz zu Ende zu sprechen. Seine Stimme versagte, weil er gegen den Gefühlsausbruch, der ihn überkam, nicht ankämpfen konnte. Er zitterte und er war besorgniserregend bleich geworden. „Sie haben... mich nicht gesehen... Ich hätte ihr helfen sollen... Aber ich habe nur dagestanden und zugesehen... Ich hätte ihr helfen sollen!!“ Verzweiflung und Wut spiegelten sich in seinen Augen, solange er sie sehen konnte. Als er sich gänzlich abwandte und sein Gesicht hinter den Armen verbarg, die er angespannt auf seinen angewinkelten Beinen abstützte, sah er nur noch aus wie ein Häufchen Elend. Er war nicht mehr der starke Beschützer, der er immer sein wollte. Er war, genau wie er selbst, nur ein Junge. Ein Junge, der etwas Schreckliches gesehen hatte... Steven wusste nicht, was er sagen sollte. Er wusste in diesem Moment gar nichts mehr. Das einzige, was er wusste, war, dass er irgendetwas tun musste, um ihn zu beruhigen. Er konnte es nicht ertragen, ihn so zu sehen und ihm war klar, dass er nun ausnahmsweise derjenige war, der seinen Bruder trösten musste. Sanft legte er ihm eine Hand auf den Rücken und schluckte, als Stan ihn daraufhin ansah. Er war so blass, dass er beinahe wie ein Geist aussah. Es fiel ihm schwer, zu begreifen, was er in dieser Nacht gesehen haben musste - seine kindliche Unschuld drohte zu zerfallen, wenn er länger darüber nachdachte. Doch so sehr er sich auch bemühte, der Gedanke ließ ihn nicht los und er fürchtete, dass er ihn bis in alle Ewigkeit verfolgen würde. „Steven...“ Der Klang seines Namens war so weich, wenn Stan ihn sagte. Niemand sagte ihn so wie er. „Ich weiß was. Was hältst du davon... wenn wir zusammen abhauen? Nicht jetzt. Aber irgendwann mal...“ Er sah ihn an, mit einem Lächeln, das absolut rein und ehrlich war, jedoch auch unsicher wirkte. „Nur du und ich. Wir würden für immer zusammen bleiben... und nichts könnte sich zwischen uns stellen. Dann könnten wir alles tun, was wir wollen...! Wir beide als Team. Wir sind doch ein tolles Team... findest du nicht?“ Lange schaute er ihm in die Augen. Er war sich nicht sicher, wie Stanley sich das vorstellte. Hatte er ihre Mutter schon vergessen? Was sollte aus ihr werden? Wenn es stimmte, was sein Bruder ihm erzählt hatte, konnten sie ihre Mutter doch unmöglich allein zurücklassen... Trotzdem war es eine schöne Vorstellung. Nur er und Stan irgendwo da draußen, frei von jeglichen Sorgen und Zwängen, frei von allem. Es war beinahe zu schön, um wahr zu sein. Er konnte ihm diesen Wunsch einfach nicht abschlagen. Vielleicht war es nur ein hoffnungsvoller Traum, den sie sich von nun an teilten - doch auch Träume konnten wahr werden. „Ja, das sind wir“, sagte er und erwiderte sein Lächeln. „Wir sind ein tolles Team... Und ich bin auch dafür, dass wir es so machen.“ „Wirklich? Gut, dann... gib mir deine Hand darauf!“ Er zögerte nur kurz, bevor er einschlug und Stanley damit anscheinend unendlich glücklich machte. „Danke...! Danke, Steven!“, sagte er. Er hörte nicht auf zu grinsen vor Freude. „Danke... Du bist der Beste!“ „Ich... äh, ja“, stotterte er ein wenig verlegen. Es war bereits das zweite große Versprechen, das sie sich jetzt gegeben hatten. Sein Bruder würde für immer bei ihm bleiben und ihn beschützen, egal, was noch passieren würde. Keiner konnte ihm nehmen, was ihm am wichtigsten war. Niemals. Draußen wurde es langsam hell, als sie nach einer langen Nacht endlich eingeschlafen waren. Von diesem Tag an verbrachte Steven viele Nächte im Zimmer seines Bruders, in denen sie Pläne schmiedeten für ihre Zukunft. Große Pläne, die sie ohne Zweifel in die Tat umsetzen würden. Irgendwann, wenn sie alt genug waren... Kapitel 3: The nightmare goes on -------------------------------- „... Und jetzt schlagt bitte eure Bücher auf. Wir fangen ein neues Thema an. Das nächste, was wir...- Ach, Himmel, was gibt es denn so Dringendes, Stanley?“ „Ich fühle mich nicht gut... Mir ist irgendwie komisch.“ „Dir ist in letzter Zeit häufiger 'irgendwie komisch'. Kannst du mir vielleicht etwas Genaueres dazu sagen?“ „Nein, ich weiß auch nicht, was mit mir los ist...“ „Herrje... Gut, wenn es dir hilft, geh auf den Schulhof an die frische Luft. Ich nehme an, du möchtest, dass dein Bruder dich wieder begleitet?“ „Ja, genau.“ „In Ordnung. Aber viel länger werde ich das in meinem Unterricht nicht mehr dulden. Wenn sich das nicht bessert, Stanley, rate ich dir, einen Arzt aufzusuchen. Ihr beide könnt nicht andauernd fehlen!“ „Ich weiß...“ „Also, raus mit euch. Gute Besserung.“ Die Blätter der Bäume bewegten sich sanft im Wind, während vereinzelte Sonnenstrahlen warm durch das dichte Geäst drangen. Ein hübsches Fleckchen war es, etwas abgelegen vom Hof des Schulgebäudes. Mittlerweile waren sie des Öfteren hier gewesen, zur selben Zeit, aus demselben Grund. „Hehe... Die blöde Schnepfe ist schon wieder reingefallen!“ Stanley saß auf seiner Jacke, die er zuvor auf dem Boden ausgebreitet hatte, lässig an eine niedrige Mauer gelehnt und biss genüsslich in sein Pausenbrot. „Die lernt es nie. Mit der kann man echt alles machen, die ist viel zu weich“, murmelte er mit vollem Mund. Steven nickte bestätigend und blickte durch halb geschlossene Augen in den blauen Himmel. „Stimmt. Aber wir sollten aufpassen. Ich glaube, langsam merkt sie was.“ „Ach, was... Die redet doch nur. Was glaubst du denn, sollte sie machen?“ „Ich weiß nicht. Aber fällt es nicht auf, wenn wir ständig in ihrer Unterrichtsstunde plötzlich nach draußen rennen...?“ „Wir tun es ja nicht nur bei ihr. Und wenn ich sage, dass ich frische Luft brauche, weil mir nicht gut ist... Was sollen die schon dagegen machen?“ „Ich hoffe, du hast Recht und wir kriegen nicht irgendwann großen Ärger mit den Lehrern...“ „Das sind doch alles Flaschen! Ich pfeif auf die Lehrer!“, motzte Stan, bevor er sich einen weiteren Bissen seines Pausenbrotes einverleibte. „Wir gehen ja nachher wieder rein. Aber jetzt gönnen wir uns erst mal 'ne Auszeit. Hier!“ Mit einem Griff in seine am Boden liegende Jackentasche holte er einen Bleistift und ein kleines Notizbuch hervor. Steven nahm es entgegen und klappte es an der Stelle auf, an der sie zuletzt etwas eingetragen hatten. Es war nicht bloß ein einfaches Notizbuch. Es war ihr persönlichster Besitz, in dem sie all ihre Ideen aufbewahrten, damit sie nie verloren gingen. Ihre genauen Zukunftspläne, die Produkte ihrer grenzenlosen Fantasie - all diese Dinge waren bis ins kleinste Detail in diesem Buch, sicher vor der Außenwelt. Sie gehörten nur ihnen. Zuletzt hatten sie angefangen, sich zu Stanleys namenlosem Rächer eine Geschichte auszudenken, in der dieser umherzog und der Frau, die er liebte, überallhin folgte, um sie vor bösen Schurken zu schützen. Allerdings sollte er nun nicht mehr mit seiner Hausspinne allein sein bei seiner Mission. Steven hatte sich ebenfalls eine heroische Figur überlegt - einen Helden, der die unglaubliche Macht besaß, Kuscheltiere zum Leben zu erwecken - , die, zusammen mit einem kleinen Hasen, den dunklen Rächer auf seiner Reise begleitete. „Ich wünschte, wir hätten auch Superkräfte“, seufzte Steven, während er eine Skizze betrachtete, die er einen Tag zuvor von seiner Figur angefertigt hatte. „Dann könnte uns keiner was anhaben... Wir wären die Stärksten.“ „Wir sind die Stärksten!“, sagte Stanley überzeugt. „Guck dir die Idioten aus unserer Klasse doch mal an! Die meinen vielleicht, sie wären was Besseres. Aber gegen uns... sind die doch nichts.“ Er schaute verträumt in die Baumkrone und wandte sich wieder ab, als die Sonnenstrahlen ihn blendeten. „Hey, weißt du was? Später, wenn wir groß sind... werden wir echte Helden. Und dann retten wir zusammen die Welt!“ „Ja, gute Idee, Stan. Das machen wir“, antwortete er lachend, ohne den Blick von seiner Skizze abzuwenden. „Das ist mein Ernst! Glaubst du etwa nicht, dass wir das Zeug dazu haben?“ Steven sah seinen Bruder schräg an und lächelte skeptisch. „Bis dahin müssen wir aber noch viel üben, wenn wir die Welt retten wollen. Was ist, wenn sich uns ein schreckliches Monster in den Weg stellt?“ „Kein Monster kann es mit uns aufnehmen, wenn wir erst einmal groß sind“, sagte er, wie selbstverständlich, und deutete hektisch auf das Notizbuch. „Los, du musst das da reinschreiben!“ „... Was denn?“ „Na, zu unseren Zukunftsplänen. Schreib einfach dahin: 'Helden werden'.“ „Gut, okay... Wenn du das sagst.“ In dicken Buchstaben schrieb er es hinein, nachdem er die richtige Seite aufgeschlagen hatte, und schüttelte grinsend den Kopf, als er sich die Seite erneut besah. „Wir haben wirklich viel zu tun, wenn wir all unsere Ziele erreichen wollen...“ „Ja, das haben wir“, gab Stan ihm Recht. „Trotzdem schaffen wir das. Alleine wäre es vielleicht zu schwer, aber zu zweit...“ Er stockte, als Steven sich ruckartig umdrehte und mit geschocktem Gesichtsausdruck hinter sich in die Leere starrte. Fragend blickte er abwechselnd ihn und die Stelle an, die er fixierte. „Mann, Steven, du hast mich erschreckt... Ich dachte schon, jemand hätte uns gefunden! Was hast du denn auf einmal?“, fragte er verständnislos. Steven blinzelte ein paar Mal, um sich zu vergewissern, dass dort wirklich nichts war, und atmete erleichtert auf. „Sorry... Ich dachte, ich hätte einen Schatten gesehen“, sagte er. „Habe ich mir wohl eingebildet...“ „Ist auch alles in Ordnung mit dir?“ Stan klang ein wenig besorgt, also versuchte er, ihn wieder zu beruhigen. „Ja, alles klar... Hab' heute nur nicht so gut geschlafen“, antwortete er, und es stimmte. Er hatte einen furchteinflößenden Traum gehabt und wurde schon den ganzen Morgen über das Gefühl nicht los, von irgendwem - oder noch schlimmer: irgendetwas - verfolgt zu werden. „Bestimmt liegt es daran. Mach dir keine Sorgen, ja?“ Zum Glück nahm Stan es so hin, wie er es sagte, und fragte nicht weiter nach. Er wollte vor ihm nicht wie ein Verrückter dastehen, und das wäre sicher der Fall, wenn er ihm etwas von Verfolgungswahn erzählte. Eine Weile lang saßen sie noch dort, genossen den schönen Ausblick und tauschten sich darüber aus, was ihre beiden Figuren als nächstes Aufregendes in ihrer Geschichte erleben könnten, bevor sie beschlossen, wieder in die Schule zurückzugehen, weil man sie sonst vermissen würde. Die restlichen Unterrichtsstunden vergingen schleichend langsam und sie waren unverzüglich von ihren Plätzen aufgesprungen, sobald die Glocke das letzte Mal für diesen Tag ertönte. Sie packten ihre Rucksäcke und verließen schnellstmöglich das Gebäude. Auf dem Heimweg hatten sie noch keine Ahnung, dass sorglose Tage wie dieser schon bald der Vergangenheit angehören würden und sie es vorgezogen hätten, sich in der Schule einzuschließen, hätten sie gewusst, was sie zu Hause erwartete... Eine unheilvolle Stille lag in der Luft, als sie die Wohnung betraten. Für gewöhnlich wurden sie um diese Zeit mit einem Lächeln von ihrer Mutter begrüßt oder konnten es zumindest hören, wenn sie sich in der Küche aufhielt und für sie kochte. Doch nichts davon traf heute zu. Es war beunruhigend leise. Ein Blick ins Wohnzimmer ließ Steven zusammenzucken. Entgegen seiner Annahme, dass niemand zuhause war, sah er seine Mutter und seinen Vater in einem skurril wirkenden Abstand zueinander in einer angespannt abwartenden Haltung auf der Couch sitzen. Wobei sich die angespannte Haltung auf seine Mutter beschränkte - sein Vater saß einfach nur dort, mit dem gleichen berechnenden Blick, den er üblicherweise hatte, wenn er ihn und Stanley anschaute, und war die Ruhe selbst. „Wen haben wir denn da?“, sagte er gespielt freundlich, ohne sich von seinem Platz zu rühren. Steven sah seinen Bruder irritiert an, der jedoch ebenso wenig zu wissen schien, was das Ganze zu bedeuten hatte. „Wie war euer Schultag?“, fragte er weiter, als würde er eine normale Unterhaltung mit ihnen führen wollen, aber Steven wusste, dass mehr als das dahinter stecken musste. Und dieser Gedanke sollte sich bald bestätigen. Da weder ihm noch Stanley eine wirklich gute Antwort auf die Frage einfiel, nickten sie nur mit den leise gemurmelten Worten „Ganz nett“ und versuchten, ihren Vater nicht anzusehen. „Ganz nett also...“ Gemächlich erhob er sich von der Couch, blieb aber davor stehen, während seine Frau noch immer unbeweglich da saß. „Und denkt ihr... es gibt irgendetwas, das ihr mir zu sagen habt?“ Steven hatte ein ungutes Gefühl. Es war nahezu dasselbe Gefühl, das er vor wenigen Stunden verspürt hatte, als er sich eingebildet hatte, von etwas verfolgt zu werden. Aber warum? „Stanley!“ Der Angesprochene blickte verstört auf. „Ja...?“ „Gibt es etwas, das du mir zu sagen hast?“, wiederholte ihr Vater seine Frage betont langsam. „Ich... Ich weiß nicht...“ „Du weißt es nicht... Aber ich weiß es“, sagte er und musterte seinen Sohn abschätzig. „Deine Schulnoten werden immer schlechter. Du hast nur Flausen im Kopf. Aber damit ist jetzt Schluss. Ich werde nicht mehr zulassen, dass du deinen Bruder da mit reinziehst.“ Verwirrt wandte Steven sich seinem Vater und dann Stanley zu. Konnte es sein, dass er...? „Wenn du den Unterricht schwänzst, ist das schlimm genug. Aber dass du Steven dazu bringst, deinen Unfug mitzumachen... Dafür gibt es keine Entschuldigung.“ „Woher weißt du das...?“, fragte er dazwischen, obwohl er sich beinahe sicher war, es schon zu wissen. Der Schatten, den er gesehen hatte, und die Geräusche, die er den ganzen Morgen über geglaubt hatte, sich einzubilden... Er war nicht verrückt. Er wurde wirklich verfolgt. Das Gesicht seines Vaters machte ihm Angst, als er sich ihm zuwandte und etwas flüsterte, das er gerade eben verstehen konnte: „Ich habe meine Augen und Ohren überall, mein Sohn.“ Er erkannte sein einzig und allein an ihn gerichtetes Lächeln, während er das sagte. Und gerade das beunruhigte ihn. Es war kein warmes Lächeln wie das seiner Mutter, wenn sie ihn begrüßte oder mit ihm spielte - es war absolut kalt. „Jedenfalls... kann das so nicht weitergehen“, sprach er, wieder an Stanley gewandt, weiter. „Und deshalb haben wir uns etwas überlegt, das für uns alle das Beste wäre. Sag' du es ihnen, Liebling!“ „Stanley“, hörte er zum ersten Mal, seit sie nach Hause gekommen waren, die Stimme seiner Mutter, in der er keinerlei Gefühlsregungen ausmachen konnte; ebenso wenig, wie in ihren starr geradeaus gerichteten Augen. „Du wirst ab sofort strenger unterrichtet werden, und zwar getrennt von deinem Bruder. In einem Internat.“ Nein, war das Erste, was ihm durch den Kopf ging, als er die Worte vollständig verarbeitet hatte. Nein, das könnt ihr nicht machen! Der unsichere Ausdruck in Stans Gesicht wich schlagartig purer Fassungslosigkeit. Sie beide schienen ein und dasselbe zu denken: „Das kann nicht euer Ernst sein!“ Doch keiner von ihnen sprach es aus. Zu entsetzt waren sie über die Skrupellosigkeit ihrer Eltern. Wie lange hatten sie es hinter ihrem Rücken schon besprochen? Warum ließen sie ihnen nicht einmal die Gelegenheit, in Ruhe darüber zu reden und ihre Fehler wiedergutzumachen? Selbst ihre Mutter, die sich sonst immer sanft und verständnisvoll zeigte, schien nicht mit sich reden zu lassen. Der Entschluss stand fest. Stanley rührte sich nicht vom Fleck, er stand wie angewurzelt und in tiefes Schweigen gehüllt mitten im Raum, bevor Steven hörte, wie er leise das Wort ergriff. „Ihr seid so gemein...“, sagte er mit schwacher Stimme, die er danach unerwartet zu einem wütenden Schreien erhob. „Ich hasse euch!!“ Ausdruckslos sahen ihre Eltern ihm nach, als er in den Flur stürmte und vermutlich in seinem Zimmer verschwand. Steven verspürte den starken Drang, seinem Bruder hinterherzulaufen, die Türe zu schließen und sich für immer von den beiden fernzuhalten, die ihnen das antaten. Aber er konnte sich nicht bewegen. Genau wie damals in dem Geisterhaus war er einfach erstarrt und verfluchte sich selbst dafür, nichts gegen das Urteil seiner Eltern ausrichten zu können. Da waren sie, im selben Raum wie er, und doch schienen sie meilenweit entfernt. Es gab nichts mehr, das sie in diesem Moment miteinander verband. „Wie könnt ihr nur so grausam sein...“, flüsterte er, als er sich wieder dazu in der Lage befand. „Wie könnt ihr so grausam sein, mir meinen Bruder wegzunehmen...?“ „Wir nehmen ihn dir nicht weg, Steven“, sagte sein Vater. „Wir passen nur darauf auf, dass niemand einen schlechten Einfluss auf dich ausübt. Wir, als deine Eltern, müssen dafür Sorge tragen.“ „Ihr seid nicht mehr meine Eltern!“, rief er und sah dem Mann, der ihm gegenüberstand, so direkt ins Gesicht, wie er es lange nicht mehr getan hatte. „Ganz besonders du nicht!“ „Das wollen wir doch mal sehen...“, war das Letzte, was er ihn sagen hörte, bevor Steven sich für den Rest des Tages in seinem eigenen Zimmer verschanzte, ohne ein weiteres Wort zu sagen, etwas zu essen oder zu schlafen oder sonst irgendetwas zu tun, außer die ganze Welt abgrundtief zu hassen. Wenige Tage später waren die Vorbereitungen für Stanleys Schulwechsel abgeschlossen und ihnen blieb nichts anderes übrig, als sich voneinander zu verabschieden. Seine Sachen waren gepackt und schweren Herzens hinterließ er Steven ihr gemeinsames Notizbuch - unter der Voraussetzung, dass er es hütete, wie einen Schatz. Er versicherte ihm, selbstverständlich gut darauf Acht zu geben. Im Gegenzug gab Stanley ihm sein Ehrenwort, dass er ihm schreiben und ihn besuchen würde, wann immer er die Gelegenheit dazu hatte und dass sie ihre großen Pläne natürlich trotz allem irgendwann verwirklichen würden, wenn er eines Tages wieder zu ihm zurückkam. Daran bestand kein Zweifel. Auf sein Wort war Verlass und Steven schwor sich, auf ihn zu warten, was auch geschehen würde. Ein letztes Mal lagen sie sich in den Armen, bevor sie sich gezwungenermaßen für eine lange Zeit trennten. Eine Zeit voller Ungewissheit, was sie ohne den Anderen erwarten würde. „Mach's gut, Steven“, waren seine letzten Worte, bevor er endgültig von der Bildfläche verschwand und ihn mit einem wehmütigen Lächeln allein zurück ließ. Solange er in seiner Nähe gewesen war, während sie Abschied nahmen, hatte er sich stark gefühlt. Er war sich sicher gewesen, auch ohne ihn zurechtkommen zu können, wenn er sich Mühe gab und sich nicht wie ein heulendes Kleinkind aufführte. Schließlich war er nicht aus der Welt - er war nur an einem anderen Ort. Doch kaum, dass Steven den ersten Schultag ohne seinen Bruder zu bewältigen hatte, wusste er, dass es nicht so war. Niemand war mehr an seiner Seite. Niemand, mit dem er in den Pausen lachen konnte. Niemand, der sich schützend vor ihn stellte, wenn einer seiner Klassenkameraden sich wieder einmal einen Spaß daraus machte, auf ihm herumzuhacken. Niemand, der bei ihm war, wenn er sich auf den Heimweg machte und der bei ihm blieb, wenn er zuhause war. Niemand, mit dem er sein Leben teilen konnte. Er war allein; egal, was er tat. Egal, ob es ihm schlecht ging. Wenigstens mit seiner Mutter hatte er sich inzwischen versöhnt. Sie war wie ausgewechselt gewesen, als sie ihre Entscheidung verkündet hatte. Doch jetzt, da Stanley gegangen war und sie tagsüber die einzige war, mit der er sich umgab, verhielt sie sich wieder genau wie früher - wie eine liebevolle Mutter, die sich um ihn kümmerte und sorgte, vielleicht sogar noch hingebungsvoller als vorher. Erst abends, wenn sein Vater nach Hause kam, wurde sie plötzlich zurückhaltender und Steven glaubte, langsam zu begreifen, was vor sich ging. Sein Vater musste dämonische Kräfte besitzen, mit denen er es irgendwie schaffte, seine Mutter unter seine Kontrolle zu bringen. Eine andere Erklärung für ihre seltsame Veränderung wollte ihm nicht einfallen. Warum sonst bekam sie diesen leeren Blick und benahm sich ganz anders, sobald er in ihrer Nähe war, und brachte es nicht auch nur einmal fertig, sich gegen ihn zu wehren, wenn er sie wie Dreck behandelte? Jeden Abend sah er ihn, wenn er am Wohnzimmer vorbeikam oder durch das Schlüsselloch spähte, falls die Tür geschlossen war. Es war immer das gleiche Bild: Er saß auf der Couch, in der einen Hand eine Flasche, die andere erhoben, während er seine Mutter herumkommandierte wie ein Dienstmädchen. Gern wäre er dazwischen gegangen und hätte etwas getan, irgendetwas, damit es ein Ende nahm. Aber was sollte er schon tun? Er hatte Angst, sein Vater würde ihn ebenfalls einer Gehirnwäsche unterziehen, würde er sich ihm in den Weg stellen. Also hielt er sich aus der grotesken Beziehung seiner Eltern heraus und versuchte, seinem Vater aus dem Weg zu gehen, solange er die Wahl hatte. Das Problem war, dass diese Wahl ihm schon bald nicht länger blieb. Es war bereits stockfinster, als Steven eines Abends in seinem Zimmer vor dem Fenster saß, ein kleines Licht zu seiner Rechten, welches sein Notizbuch beleuchtete, in dem er wieder einmal versunken war, weil er nicht schlafen konnte. Er fürchtete, etwas unsagbar Schlimmes könnte passieren, während er schlief. Meist übermannte ihn die Müdigkeit doch nach einer Weile, aber bis dahin gab er sich die größte Mühe, wach zu bleiben und sich abzulenken - was allerdings gar nicht so leicht war, denn in der Stille der Nacht wurden die Stimmen in seinem Kopf zunehmend lauter und aufdringlicher. Obwohl er nicht verstand, was sie sagten, war er ganz sicher, dass es nichts Gutes war. Konzentriert sah er sich zum wiederholten Male die Bilder an, die sein Bruder und er von ihren selbsterfundenen Helden auf die leeren Seiten gezeichnet hatten. Er rechnete nicht damit, um diese Zeit noch Besuch zu bekommen. Das leise Klopfen an seiner Tür ließ darauf schließen, dass es sich bei der Person auf der anderen Seite um seine Mutter handelte, daher zögerte er nicht lange, sie hereinzulassen. Er ließ vor Schreck beinahe sein Buch fallen, als er erkannte, dass es nicht seine Mutter war, die da gerade in sein dunkles Zimmer trat. „Hi, Steven“, hörte er die raue Stimme seines Vaters und vergaß von einem Moment auf den anderen die wirren Stimmen, die ihn bis vor Kurzem noch heimgesucht hatten. Sie klangen nahezu harmlos im Vergleich zu Seiner. „Was liest du denn da?“ „Gar nichts“, sagte er und ließ Stanleys Hinterlassenschaft reflexartig unter seinem Bett verschwinden. Seine Eltern sollten nichts von ihren gemeinsamen Plänen erfahren. „Ach, Junge...“ Die Art, wie sein Vater seufzte, als er auf ihn zu kam, klang befremdlich. Als wäre er in dieser Familie derjenige, der es schwer hatte. „Sei doch nicht so abweisend zu mir...“ „Abweisend?! Du... Was willst du überhaupt so spät noch...?“, platzte es aus ihm heraus, und wenige Sekunden später bereute er es, in diesem Ton mit dem Mann geredet zu haben, der ihn nun mit einem Blick anstarrte, der in der Dunkelheit mehr als unheimlich wirkte. „Ich will etwas Zeit mit meinem Sohn verbringen. Ist das denn so abwegig?“, fragte er in einem schon fast gekränkten Tonfall. „Wir haben uns in letzter Zeit ziemlich auseinandergelebt, findest du nicht?“ Überlege mal, woran das liegt, dachte er, sagte jedoch nichts. Die Situation war so absurd, dass er sich fragte, ob er vielleicht bereits träumte. „Steven...“ Langsam ließ sich der Andere, der sich wie eine düstere Gestalt aus den Schatten zu erheben schien, neben ihm nieder. „Es tut mir leid.“ „Was...?“ Ungläubig blickte er zu ihm auf. Hatte sein Vater sich gerade wirklich entschuldigt? „Die Sache mit Stanley... Es tut mir leid für dich. Du fühlst dich sicher sehr einsam, nicht wahr...?“ „I-Ich... äh...“ Eine solche Frage hatte er nicht erwartet. Nicht von ihm. Überfordert schaute er zur Seite und fixierte die Bäume vor seinem Fenster. Was sollte er ihm darauf antworten? Lang brauchte er nicht zu überlegen. Bevor er etwas erwidern konnte, bemerkte er, wie der Mann, der ihm wie ein Fremder vorkam, näher rückte und einen kräftigen Arm um ihn legte. „Schon gut. Du musst nicht mit mir darüber reden, wenn du nicht willst“, hörte er ihn leise sagen. „Aber wenn ich irgendwas für dich tun kann, lass es mich wissen.“ „Äh... ja...“ Steven wagte es nicht, sich auch nur einen Milimeter zu bewegen. Obwohl der Andere freundlich mit ihm sprach, fühlte es sich falsch an. Es war, als läge er in den Fängen seines Entführers, der ihn fest in seinem Griff behielt, um ihn ja nie wieder gehen zu lassen. Sollte sich die Umarmung eines Vaters wirklich so anfühlen? Noch dazu spürte er seinen kalten Blick auf sich und kam sich immer mehr vor, wie das Beutetier in den Klauen eines Wolfes. Eine Weile lang sagte er nichts, weil er sich nicht traute, auch nur irgendetwas von sich zu geben. Nicht viel später hielt er das Schweigen nicht mehr aus. „Warum... schaust du mich so an, Dad...?“ Unmittelbar nachdem er diese Frage gestellt hatte, wünschte er sich, er hätte sie für sich behalten. Wie in Trance schien die Antwort seines Vaters und jagte ihm unwillkürlich einen eisigen Schauer durch den Körper. „Ach, es ist nur... Du hast die gleichen zierlichen Arme wie deine Mutter. So... zerbrechlich.“ Steven schluckte. Wenn das hier ein Traum war, dann fing er allmählich an, zu einem Albtraum zu werden. Zu einer seltsamen Art von Albtraum, die ihm auf ihre eigene subtile Weise furchterregender erschien, als alles bisherige. Mit einem Mal wurde ihm klar, dass er hier nicht länger verharren und nichts tun konnte. „Dad... Ich wäre jetzt lieber wieder allein“, sagte er vorsichtig, bedacht, die richtigen Worte zu wählen. „Lass mich bitte los...“ „Aber warum denn? Du bist doch viel zu oft alleine. Wenigstens jetzt-“ „Lass mich los!“ Ohne es zu wollen, hatte er seinen Vater angeschrien. Einfach so. Er wusste selbst nicht, warum, aber es schien Eindruck hinterlassen zu haben - er hatte ihn tatsächlich losgelassen, ihn einen Moment lang überrascht angesehen und war dann ohne ein weiteres Wort aufgestanden, um sein Zimmer zu verlassen. Im ersten Augenblick noch erleichtert darüber, wieder seine Ruhe zu haben, packte ihn kurze Zeit später das schlechte Gewissen. Was, wenn sein Vater bloß hatte nett zu ihm sein wollen und er nur zu misstrauisch war? Nein, das konnte nicht sein. Nie im Leben wollte er nur nett sein. Er war böse. Wenn es danach aussah, als wäre er nett zu jemandem, dann war es bloß ein Spiel; seine persönliche Fassade, um seine wahren Absichten zu verschleiern. Genauso war es. Trotzdem ließ das schlechte Gewissen ihn nicht los und er fand die ganze restliche Nacht über keinen Schlaf. Am Tag darauf wechselten sie beide kein Wort miteinander. Selbst zwischen seinen Eltern war es erstaunlich ruhig. Alles schien verhältnismäßig normal zu sein. Aber er schaffte es einfach nicht, sich darüber zu freuen. Irgendetwas sagte ihm, dass diese Normalität nicht von langer Dauer sein würde. Das wäre zu schön, dachte er - und leider sollte er Recht behalten. Hatte er schon jetzt bereits manchmal das Gefühl gehabt, in einem Albtraum gefangen zu sein, so lehrte ihn der nächste Tag völlig neue Dimensionen des Schreckens, die bisher weit außerhalb seiner Vorstellungskraft gelegen hatten. Auch wenn er es nicht gern zugeben wollte: Er hatte sich immer gefragt, wie es wohl wäre, das Leben eines der Kinder aus seiner Klasse zu führen. Wie es wohl sein musste, ein gewöhnliches Leben zu führen, sich mit Freunden zu treffen, ausgelassen und glücklich zu sein? Von nun an wusste er, dass er es niemals herausfinden würde. Denn dies war der Tag, an dem seine Kindheit endete. Sie war vorbei, und niemand konnte sie ihm zurückgeben. Sie war für immer verloren. Die herrischen Schreie seines Vaters, während er wieder einmal seiner Mutter befahl, was sie zu tun hatte, hatte er noch ignorieren können. Er hatte sich einreden können, dass es vorbeigehen und irgendwann still sein würde. Aber das wurde es nicht. Im Gegenteil. Als er die Stimme seiner Mutter vernahm, laut und ungewohnt energisch, gefolgt von einem schrillen Scheppern, merkte er, dass etwas anders war, als sonst. Nur einen Augenblick, nachdem das Geräusch zerspringenden Glases verklungen war, schien sein Vater vollkommen die Beherrschung zu verlieren. Er hörte ihn abwechselnd lachen und Dinge rufen, die er nicht richtig verstehen konnte, was zum Einen an der Entfernung und zum Anderen an seiner undeutlichen Sprache lag. Eines erkannte er jedoch definitiv: Seinen Namen. Zwischen vereinzelten Wortfetzen, die entweder zu schmutzig waren, als dass er sie selbst jemals hätte wiederholen wollen, oder deren Bedeutung er nicht einmal kannte, hörte er ihn immer wieder. „... Steven! Ich werde zu Steven gehen!“, erfasste er nun vollständig die Worte seines Vaters, als dessen Stimme mit jedem wütenden Schritt, den er machte, lauter wurde. Er näherte sich seinem Zimmer, während er wie gelähmt in der hintersten Ecke des Raumes saß, nicht fähig, sich zu bewegen. Jedes Mal, wenn ihn etwas erschreckte, erging es ihm so. „STEVEN!“ Brutal hämmerte der Andere von außen gegen seine Tür; es hörte sich an, als würde er sie jeden Moment einschlagen. „Steven, dein Daddy will mit dir reden...!“ Er hatte nichts gesagt. Er hatte ihn nicht hereingebeten. Natürlich war er trotzdem in sein Zimmer gekommen. Es hatte ihn nicht gekümmert, ob er wollte oder nicht. Er hatte einfach hinter ihnen die Tür abgeschlossen und sämtliches Licht gelöscht, bevor er ihm auf grausamste Weise etwas genommen hatte, das er niemals auch nur ansatzweise wiedererlangen konnte. Etwas, das ungreifbar und durch nichts in der Welt zu ersetzen war. Dunkelheit war das einzige, das zurückgeblieben war. Endlose Dunkelheit, mit der er am liebsten verschmolzen wäre, für den Rest seines erbärmlichen Lebens. Nachdem er einige Minuten lang geglaubt hatte, nie wieder etwas anderes als Abscheu empfinden zu können, wurden ihm jegliche Empfindungen, alles, was einmal gewesen war, zu anstrengend, und er spürte, wie sich eine vernichtende Leere in ihm ausbreitete. Nichts als Leere. „Warum...“, sagte er tonlos zu seinem Stoffhasen, den er fest an seine Brust presste, während er auf dem Boden kauerte. Er wusste nicht, wie lange er dort schon saß. Es spielte auch keine Rolle. Es war genauso egal wie alles andere. Genauso egal wie es die Stimmen waren, die zischend miteinander sprachen, mal lauter, mal leiser, und sich dann wie unsichtbare Nebelschwaden in der Dunkelheit verflüchtigten, bis er sie nicht mehr wahrnahm - bis er nichts mehr wahrnahm. Die nächsten zwei Tage über kam er zu spät zur Schule, weil er verschlafen hatte. Der Schlafmangel setzte ihm so sehr zu, dass er es selbst im Unterricht nur mit großer Mühe fertig brachte, sich wachzuhalten. Am liebsten wäre er gar nicht erst zum Unterricht erschienen, sondern in seinem Bett geblieben, bis ihn irgendetwas dazu zwang, aufzustehen. Allerdings würde das für ihn bedeuten, die Nähe seines Vaters ertragen zu müssen, denn er war zuhause und wartete wahrscheinlich nur darauf, ihn zu sehen. Allein der Gedanke daran löste in ihm eine widerliche Mischung aus Hass und Panik aus. Er ist nicht mein Vater, sagte er immer wieder zu sich selbst. Er ist ein Monster. Aus zwei Tagen wurden zwei Wochen und aus zwei Wochen wurden schließlich zwei Monate, die er damit verbrachte, Tag für Tag dasselbe zu tun. Alles drehte sich im Kreis. Jeden Morgen führte er einen unerbittlichen Kampf gegen die schwere Müdigkeit, die jedes Mal über ihn herfiel, sobald er sich auf seinem Platz im Klassenzimmer niedergelassen hatte. Noch dazu musste er sich mit seinen unsensiblen Mitschülern herumschlagen, die ihn jedes Mal aufs Neue beinahe dazu brachten, ihnen einen so harten Tritt zu verpassen, dass sie hochkant aus dem Fenster flogen. Leider blieb es bloß eine seiner Träumereien, denn er war nicht einmal stark genug, sich mit einem dieser Vollidioten anzulegen. Zumindest hatte er nicht vor, es zu riskieren. Nach der Schule blieb er meist eine Zeit lang auf dem Schulhof oder ging in den Park in der Nähe seines Hauses. Zwar hatte ihn seine Mutter früher immer davor gewarnt, alleine dort herumzustreunen, aber was machte es schon? Gefährlicher als zu Hause konnte es nicht sein. Es machte keinen Unterschied. Abends musste er ohnehin heimkehren, ihm blieb nichts anderes übrig. Er wollte seine Mutter nicht noch mehr enttäuschen, das konnte er ihr nicht zumuten. Sie war zu schwach, um eine solche Enttäuschung zu verkraften. Manchmal verglich er sie mit einem Schmetterling - ein zartes und wunderschönes Geschöpf, aber eben auch winzigklein und verletzlich... und machtlos, wenn jemand drohte, es zu zerquetschen. Ihm war klar, dass ein Schmetterling sich nicht mit einem großen Ungeheuer messen konnte. Deshalb war er ihr auch nicht böse, dass sie nicht versuchte, etwas dagegen zu unternehmen, wenn das Ungeheuer in manchen Nächten bei ihm vorbeischaute, um mit ihm zu spielen. Ein Held, kam es ihm plötzlich in den Sinn, würde gegen ein fieses Ungeheuer kämpfen und nicht darauf warten, gerettet zu werden. Ein echter Held gibt sich nicht geschlagen, sondern stellt sich seinen Feinden und besiegt sie! Oh ja... Beinahe hatte er vergessen, was er sich vorgenommen hatte. Stanley und er - sie hatten sich geschworen, irgendwann einmal Helden zu werden. Es war einer ihrer Pläne gewesen, einer ihrer großen Zukunftspläne, die sie in die Tat umsetzen wollten, wenn sie alt genug waren. Stanley... Wie es ihm wohl ging? Der Tag, an dem sie sich zuletzt gesehen hatten, kam ihm vor, als läge er eine Ewigkeit zurück. Wie lange war es her, wie viele Wochen waren seitdem vergangen? Oder waren es Monate? Jahre? Seit ihrem Abschied hatte er nichts mehr von ihm gehört. Es war, als existierte er nicht mehr; als hätte ihn jemand mit einem Mal aus seinem Leben gestrichen. Ausradiert. Gelöscht. „Du wolltest mir doch schreiben, Stan... Du hast gesagt, du würdest mir schreiben...!“, sagte er und sah zum Himmel hinauf, der eine ungewöhnlich dunkle Farbe angenommen hatte. Er war fast schwarz. „Aber Steven“, hörte er auf einmal eine vertraute Stimme. „Wozu soll ich dir denn schreiben? Ich bin doch hier!“ Perplex drehte er sich um und schaute in alle Richtungen. „Stan...? Bist du es?“ „Natürlich bin ich es. Wer sollte es denn sonst sein?“, kam die Antwort klar und deutlich, doch sehen konnte er seinen Bruder nirgends. Das einzige, das er weit und breit entdeckte, war ein zerknülltes, von Tinte verschmiertes Blatt Papier, das auf dem Boden vor seinen Füßen lag. „Wo bist du?“, rief er und versuchte angestrengt, irgendwo eine Person ausmachen zu können. „Du hast mich doch schon längst gefunden!“, ertönte seine Stimme abermals. „Hier unten!“ „Wie...?“ Verwirrt blickte er erneut zu Boden und blieb an dem Zettel hängen, der dort lag, als hätte ihn jemand achtlos dorthin geworfen, weil gerade kein Mülleimer in der Nähe gewesen war. Er hob ihn auf, klappte ihn auseinander und stockte, als er las, was darin stand: '- Von zuhause weglaufen - Eine tolle Geschichte erfinden und zu Papier bringen - Reich werden - Zusammenziehen - Ein Kaninchen und eine Spinne kaufen und als Haustiere halten -Vielleicht auch noch einen Hund und einen Vogel -HELDEN WERDEN !!!' „Das... Das ist...“, stammelte er und sah sich jedes der auf das Papier geschriebenen Worte genau an. Seine Schrift. Und doch stimmte etwas damit nicht. Die Tinte schien noch frisch zu sein, sie schimmerte in einem eigenartigen Licht, dessen Quelle er nirgendwo erkennen konnte. „Richtig, Steven“, sagte die Stimme seines Bruders mit einem merkwürdigen Unterton. „Das sind unsere gemeinsamen Pläne... die du einfach weggeworfen hast.“ „Was...?!“ Schockiert starrte er die Buchstaben an. Sie begannen, langsam ineinander zu verlaufen. Immer mehr, bis die ursprüngliche Schrift nicht mehr zu lesen und nur noch ein herabtropfendes Gewirr aus dunkler Farbe übrig war. Schuldgefühle überkamen ihn. „Aber... Ich habe das nicht weggeworfen...! Ich weiß nicht, wie der Zettel hierhergekommen ist, ehrlich... Ich war das nicht...!“ „Doch, Steven“, antwortete Stanley. „Aber das ist in Ordnung. Wir müssen unsere Pläne nicht verwirklichen, wenn du nicht willst. Ich habe meine Meinung sowieso geändert.“ Fassungslos stand er dort, inmitten von gähnender Leere, und konnte nicht glauben, was er da hörte. „Was redest du da, Stan...? Was meinst du damit, du hast deine Meinung geändert?“ Ein Lachen. „Mir geht es hier gut. Es geht mir besser als je zuvor!“, sagte er voller Freude. „Warum sollte ich also zu jemandem wie dir zurückkommen?“ Das konnte nicht sein. Das konnte einfach nicht wahr sein. „Armer Steven...“, ertönte die Stimme wieder, doch diesmal klang sie anders. Näher, dafür aber verzerrter. „Bist du jetzt traurig?“ Die flüssige Tinte rann noch immer über den Zettel, den er stocksteif in seinen Händen hielt. Unaufhörlich liefen die einstigen Linien ineinander und bildeten etwas Neues. Was erst wie ein verschwommenes Muster aussah, stellte sich bald als ein ihm nur allzu bekanntes Augenpaar heraus. „Stan...“ Düster und vorwurfsvoll funkelten die Augen ihm entgegen, ohne ein einziges Mal den Blick von ihm abzuwenden. Plötzlich erklang eine andere Stimme aus dem Nichts, die er sofort als die seiner Mutter erkannte. „Nein, Steven“, sagte sie sanft. „Stan ist nicht mehr da. Das weißt du doch.“ „Aber... Die Augen...!“ Kaum hatte er es ausgesprochen, beobachtete er, wie der Ausdruck in ihnen sich veränderte, schärfer und härter wurde, bis er mit dem vorherigen Bild nicht mehr viel Ähnlichkeit hatte. Steven zuckte zusammen. „Stanley ist nicht hier. Aber da ist jemand anders, der gern mit dir sprechen würde“, war das letzte, was er die Stimme seiner Mutter sagen hörte, bevor sie in einem tief grollenden, zunehmend lauter werdenden Gelächter unterging. „STEVEN!“ Sein Name hallte durch den Raum, zerschmetternd wie ein Donnerschlag. „Dein Daddy will mit dir reden!“ „Nein...“ Er hatte das Gefühl, sein Herz würde jeden Moment stehen bleiben. Während zwischen dem irren Gelächter unzählige Male in den verschiedensten Tonlagen sein Name fiel, schienen die Tintenaugen ihn mit ihrem stechenden Blick zu durchbohren. Ein dämonisches Leuchten flackerte in ihnen auf und er ließ reflexartig den Zettel los, wich verängstigt drei Schritte zurück und sah dabei zu, wie das Papier in der Dunkelheit verschwand, nachdem es zu Boden gesegelt war. Das Lachen nahm kein Ende. Er fürchtete ernsthaft, verrückt zu werden, wenn er es nur ein paar Sekunden länger ertragen musste. Er fühlte sich seiner Kraft beraubt und konnte rein gar nichts dagegen tun. Wo er auch hinsah, er konnte nichts erkennen, nicht einmal mehr Umrisse. Er sah nicht, wo das Lachen herkam. Nichts. Taumelnd, wie ein Blinder in der endlosen Schwärze, blieb er abrupt stehen, als er glaubte, etwas in seinem Nacken zu spüren. Ein kalter Hauch, der in ein kaum hörbares Flüstern überging: „Ich bin hinter dir...!“ Und dann löste sich alles auf, zerbröckelte und riss ihn gnadenlos mit sich in die Tiefen der Leere. „Steven!“ Ein Schreien. War er selbst es, den er so verzweifelt schreien hörte? Noch immer vernahm er schallendes Gelächter und eine Stimme, die nach ihm rief, aber beides war nicht mehr dasselbe wie vorher. Außerdem war es heller geworden. Desorientiert blinzelte er ein paar Mal und blickte dann geradewegs in das besorgte Gesicht einer Frau. Das Gesicht seiner Lehrerin, wie er bei längerem Betrachten feststellte. „Bist du endlich wach, Steven?“, fragte sie, und er schaute beschämt zu Boden, als er registrierte, in was für einer Lage er sich gerade eigentlich befand. Es war nur ein Traum gewesen. Ein furchtbarer Traum... An sich war es nichts Außergewöhnliches. Er war es mittlerweile beinahe gewohnt, von derartigen Träumen gequält zu werden. Bloß die Umstände, unter denen er geträumt hatte, waren dieses Mal noch etwas ungünstiger. „Ich... Es... tut mir leid“, versuchte er, sein Missgeschick zu entschuldigen, obwohl er sich fast sicher war, dass es damit nicht getan war. Er rechnete fest mit einer Strafe und wäre am liebsten sofort aus dem Raum gestürmt. Dass die anderen Kinder nicht aufhörten zu lachen, machte die Sache nicht besser. „Ruhe jetzt!“ Auf einen Schlag verstummte das Gelächter und Steven sah seine Lehrerin überrascht an. So ernst hatte er sie noch nie erlebt. Sie räusperte sich, bevor sie sich ihm wieder mit mütterlich-besorgter Miene zuwandte. „Steven... Ich würde gern nach der Stunde unter vier Augen mit dir sprechen. Geht das in Ordnung?“, fragte sie leise, während sie sich auf seinem Tisch abgestützt zu ihm vorbeugte. Unsicher, ob ihn das erleichtern sollte oder nicht, versuchte er, ihrem Blick auszuweichen. „Das geht in Ordnung...“ Erwartungsvoll schaute sie zu ihm herüber, während die Anderen sich gegenseitig überholend nach draußen rannten und sich auf die Pause freuten, als gäbe es nichts Großartigeres auf der Welt. Einer nach dem nächsten verschwanden sie aus dem Klassenraum, bis nur noch er und seine Lehrerin übrig blieben. Schüchtern trat er auf sie zu. „Sie wollten... mit mir sprechen?“, fragte er, woraufhin sie ihm bedeutete, näher heranzukommen. Offenbar wollte sie sichergehen, dass niemand etwas von ihrem Gespräch mitbekam. Mit einem leicht unwohlen Gefühl kam er ihrer Aufforderung nach und hörte ihr zu, als sie erklärte, worum es ging. „Steven... Mir ist schon seit Längerem aufgefallen, dass du in letzter Zeit oft... abwesend bist“, sagte sie, allerdings wirkte es keinesfalls, als würde sie ihm deswegen Vorhaltungen machen. Eher machte sie einen sehr sanften Eindruck. „Wegen dieser Sache vorhin bin ich dir nicht böse. Aber ich mache mir Sorgen um dich. Nicht nur, dass du ständig müde bist... Ich will mich wirklich nicht in dein Leben außerhalb der Schule einmischen, wenn dir das zu weit geht, aber... Du siehst sehr krank aus, Steven. Und da habe ich mich gefragt, was mit dir los ist und ob du... vielleicht darüber reden möchtest.“ Er schluckte. Aus irgendeinem Grund fühlte er sich ertappt, obwohl seine Lehrerin doch überhaupt nicht wissen konnte, was bei ihm zuhause vor sich ging. Viel lieber wollte er sich darüber freuen, keinen Ärger von ihr zu bekommen, wie er es zuerst angenommen hatte. Warum also konnte er nicht einfach erleichtert sein? „Ist es wegen deinem Bruder?“, fragte sie, als sie von ihm auf das Gesagte keine Antwort bekam. „Ja... Ja, das ist es“, sagte er, froh, etwas anderes gefunden zu haben, auf das er das Thema lenken konnte. „Ich vermisse ihn...“ Schließlich stimmte es auch. Es war nicht so, dass er sie anlog. „Das kann ich mir vorstellen“, entgegnete sie mitfühlend. „Ihr wart immer zusammen. Ich hatte es manchmal wirklich schwer mit euch beiden, aber es war auch schön zu sehen, wie gut ihr euch verstanden habt. Es war sicher nicht leicht für dich, als Stanley die Schule gewechselt hat, nicht wahr...?“ Er schwieg, weil er sich nicht imstande fühlte, ihre Frage richtig zu beantworten. Natürlich war es nicht leicht gewesen. Es war alles andere gewesen als das. Er dachte an die Tage zurück, in denen er mit Stanley nicht weit von hier im Schatten der Bäume herumgelungert hatte, ohne daran zu denken, dass er eines Tages nicht mehr bei ihm sein könnte. Einen Augenblick lang verspürte er nichts als den starken Wunsch danach, die Zeit zurückdrehen zu können und zu verhindern, dass er ging. Es war einfach nicht fair. „Geht es dir gut, Steven?“ Die Stimme seiner Lehrerin holte ihn zurück in die Realität und er bemühte sich, so gut es ging, sich nichts anmerken zu lassen. „Ja, alles okay.“ „Ich kann dich gut verstehen, was deinen Bruder betrifft“, sagte sie ruhig. „Aber... das ist nicht alles, oder? Da ist noch mehr, das du verschweigst, habe ich Recht?“ „Ich... weiß nicht, was Sie meinen. Es ist alles in Ordnung, mehr gibt es nicht zu sagen... Wirklich!“ Wahrscheinlich wirkte er nicht sehr überzeugend. Trotzdem hoffte er inständig, sie würde nicht weiter nachfragen. Es schien einfach nicht richtig, mit irgendwem über diese Dinge zu reden; erst recht nicht mit einem seiner Lehrer. Niemand sollte wissen, was er wusste. Niemand... „Na gut“, seufzte sie. „Du kannst gehen. Ach, weißt du... Du hast für heute frei. Du solltest dich erholen. Pack deine Sachen zusammen.“ „Echt? Aber-“ „Ist schon okay. Ruh dich aus.“ Sie lächelte. Wenn er sie so anschaute, glaubte er fast, seine Mutter dort stehen zu sehen. Diese Wärme, die sie ausstrahlte, erinnerte ihn daran, wie sehr er sie liebte und was er darum geben würde, sie wieder einmal auf diese Art lächeln zu sehen. „Danke!“, sagte er, warf sich seinen Rucksack über die Schultern und ging mit einem gewissermaßen befreiten Gefühl Richtung Tür. „Ach, und Steven...“ Mit fragendem Blick drehte er sich noch einmal zu ihr um. „Wenn dir jemand Probleme macht, musst du dir das nicht gefallen lassen. Auch nicht, wenn es ein Erwachsener ist. Merke dir das.“ Überrascht sah er ihr nach, als sie durch den Raum ging, ein Fenster öffnete und auf den Schulhof herabblickte. Woher weiß sie...?, dachte er, brach den Gedanken aber ab. Sie konnte nichts wissen, es war sicher nur ein gut gemeinter Rat von ihr, mit dem sie zufällig ins Schwarze getroffen hatte. Steven machte sich auf den Weg zum Ausgang. Die letzten Worte seiner Lehrerin gingen ihm nicht aus dem Kopf und eines wurde ihm immer klarer, je länger er darüber nachdachte: Sie hatte Recht. Sie hatte absolut Recht. Die Erkenntnis traf ihn schlagartig und er war dieser Frau unendlich dankbar dafür, dass sie es ihm bewusst gemacht hatte. Laub bedeckte den Boden, als er über den Hof schlenderte, bemüht, sich unsichtbar zu machen und möglichst von keinem seiner Mitschüler gesehen zu werden. Er wollte nur schnell von hier verschwinden, sich an einen Ort zurückziehen, an dem er seine Ruhe hatte, und nachdenken. Nichts weiter. Leider schien diese Rechnung nicht aufzugehen. Beinahe hatte er das Gelände verlassen, da bemerkte er jemanden neben sich. „Na, Steven? Willste dich aus dem Staub machen?“ Genervt versuchte er, den Anderen zu ignorieren. Einfach weitergehen, sagte er sich, den Blick strikt geradeaus gerichtet. Bloß nicht beachten. „War ganz schön peinlich, was du da vorhin abgezogen hast, findest du nicht?“ Nicht beachten!, sagte er lauter zu sich selbst, was jedoch schwierig wurde, da der andere Junge sich ihm derart in den Weg drängte, dass es unmöglich war, ihn zu übersehen. Er saß in der Klasse einen Tisch rechts von ihm und hatte es offensichtlich schon seit Längerem auf ihn abgesehen. „Hey!“, rief sein Mitschüler jetzt. „Ich rede mit dir!“ „Ist mir gar nicht aufgefallen“, antwortete er, in dem Wissen, dass er sich womöglich auf dünnes Eis begab. Aber das Risiko war er gewillt, einzugehen. Er hatte keine Lust mehr, sich von Allen für dumm verkaufen zu lassen. „Ooh... Bist ja heute richtig mutig, Steven!“, spottete sein Gegenüber grinsend. „Vorhin hat das noch anders ausgesehen!“ „Halt die Klappe und geh mir aus dem Weg...! Ich habe frei für heute.“ „Ach ja? Hast dich wohl bei der Alten eingeschleimt, bis du gehen durftest?“ „Ich habe mich nicht bei ihr eingeschleimt. Sie hat es mir eben einfach erlaubt. Frag sie doch, wenn du mir nicht glaubst!“ „Vergiss es. Ich komme nicht heulend bei irgendwelchen Lehrern angekrochen, so wie du. Ich bin nämlich kein blödes Baby, so wie du.“ „Das stimmt doch überhaupt nicht, was du da sagst!“ „Du hast dich eingenässt vor Angst und nach deiner Mama geschrien, du Baby! Was hast du geträumt? Dass du aus deinem Sandkasten fällst? Oder von einem bösen Dackel gebissen wirst?“ „Halt endlich deine dämliche Klappe!!“ Begleitet von einem jämmerlichen Quietschen ging der Andere zu Boden. Es hatte ein fieses, dumpfes Geräusch gemacht, als Steven ihm einen harten Schlag mitten in seine dreckige Visage versetzt hatte. Ein herrliches Geräusch. „Du hast ja keine Ahnung, wovon du da redest! Wenn du so über mich denkst, bitte. Wir können ja gerne mal tauschen. Mal sehen, ob dir dann immer noch nach Lachen zumute ist!“ Keine Antwort. Schmerzerfüllt sah der Junge, der ihm gegenüber sonst immer große Töne spuckte, ihn an. Und da lag noch etwas anderes in seinem Blick. Er sah aus, als würde er die Welt nicht mehr verstehen. „Oh, hat es dir die Sprache verschlagen? Ist echt peinlich, sich einfach von einem 'blöden Baby' umhauen zu lassen, hm?“ Noch immer kam seinem zu seinen Füßen knienden, ach so starken Klassenkameraden kein Wort über die Lippen. Ein vollkommen neues Gefühl der Kontrolle erfasste ihn, das Gefühl, Macht über die Situation zu haben und sich einmal nicht fügen zu müssen. Noch nie hatte er den Spieß umgedreht und auf einen seiner Mitschüler herabgeblickt wie jetzt. Es war unbeschreiblich. Er konnte nicht leugnen, dass er es in vollen Zügen genoss. Langsam beugte er sich zu dem Jungen herunter und begab sich auf gleiche Höhe mit ihm, nur um wenigstens für einen kurzen Moment den leidenden Ausdruck in seinen Augen besser sehen zu können. Wut war in seinen Augen, vermischt mit einer gewissen Art von Furcht und Ungläubigkeit. Als wäre es nicht der kleine Steven, der da vor ihm hockte und ihn lächelnd beäugte, sondern ein absolut Wahnsinniger, der jede Sekunde völlig den Verstand verlieren und etwas unsagbar Grausames mit ihm tun könnte. Genauso kam er sich auch vor. Wie ein Wahnsinniger, berauscht von dem Anblick seines hilflosen Opfers. An dieses Gefühl hätte er sich gewöhnen können. Doch anstatt sich das Elend länger anzusehen, entschloss er sich, aufzustehen und die Schule für heute endlich hinter sich zu lassen, bevor ihn noch jemand am Rand des Geländes erwischte. „Mach's gut“, sagte er, rückte seinen Rucksack wieder zurecht, der sich bei dem Ganzen etwas verschoben hatte, und ging. Der Wind war kühl und wirbelte die von den Bäumen gefallenen Blätter auf, sodass sie wie ein buntes Durcheinander durch die Luft schwebten und an ihm vorbeizogen. Hier war sein Lieblingsplatz. Hier, zwischen all dem kahlen Gestrüpp und all den vorbeigehenden Menschen, die er noch nie zuvor gesehen hatte. Manchmal blieb einer stehen und starrte ihn an oder fragte ihn, ob mit ihm alles okay sei und ob er ganz allein wäre. Manchmal übersahen sie ihn auch und spazierten einfach weiter, ohne ihn zu beachten. Gern beobachtete er sie, die fremden Leute im Park, und stellte sich Fragen über sie: Wer waren sie? Wohin gingen sie? Heute allerdings interessierten ihn die fremden Menschen nicht. Nein. Heute war es anders. War dieser Ort für ihn seit geraumer Zeit wie ein geheimes Versteck gewesen, eine Zuflucht vor dem grauenvollen Alltag, den er sonst hätte ertragen müssen, so war er für ihn jetzt wie ein eigenes Reich, das nur ihm gehörte. Diesmal war er nicht hier, um sich zu verkriechen, weil er Angst hatte. Er hatte keine Angst mehr. Vor Niemandem. Die Tage, in denen er feige vor allem weglief, waren vorbei. Er hatte es satt. Wenn mir jemand Probleme macht, muss ich es mir nicht gefallen lassen, rief er sich die Worte seiner Lehrerin ins Gedächtnis. Wie hatte er nur so lange brauchen können, um das zu erkennen? Keiner hatte das Recht, je nach Belieben mit ihm umzuspringen. Keiner hatte das Recht, ihn wie eine verdammte Puppe zu behandeln; weder seine Mitschüler, noch... Ich werde das nicht länger mitmachen, dachte er still für sich und spürte plötzlich eine innere Ausgeglichenheit, wie er sie lange nicht mehr verspürt hatte. Ich spiele das nicht mehr mit. Ich bin ein Held und Helden lassen sich nicht unterkriegen, egal, mit wem sie es zu tun haben. Ich werde dich vor ihm retten, Mommy. Oh ja, ohne Zweifel würde er das tun. Er hat mich nicht manipuliert. Das kann er gar nicht. Er kann machen, was er will, ich bin immer noch ich selbst. Obwohl... War er das wirklich? Und solange ich noch weiß, wer ich bin, werde ich nicht mehr hinnehmen, was er mit uns macht. Ich muss mir das nicht gefallen lassen. Ich muss es nicht und ich werde es auch nicht mehr. Jetzt ist Schluss damit. Er würde dem Albtraum ein Ende setzen. Nicht heute. Diese Nacht würde er noch durchhalten. Doch dann, dann würde er von Neuem beginnen, dann würde alles gut werden. Für ihn und für seine Mutter. Er würde dafür sorgen. Dafür sorgen, dass der Schmetterling endlich wieder seine Flügel ausbreiten konnte und das Ungeheuer beseitigt war. Diesmal bist du derjenige, der sich verabschieden muss, Daddy...! Kapitel 4: Escape ----------------- Die Sonne ging auf und tauchte den Himmel in mattes Licht. Kein Geräusch wagte es, die frühmorgendliche Stille zu durchdringen. Steven saß an die Wand gelehnt auf seinem Bett und sah aus dem Fenster. Er war bereit. Bereit, seinen Plan in die Tat umzusetzen. Wie viele Pläne hatten er und Stanley gemeinsam geschmiedet, große Pläne, die nun keine Rolle mehr spielten und einfach zu Staub zerfallen waren, als hätte es sie nie gegeben? Aber dieser Plan würde nicht zu Staub zerfallen. Ihn zu schaffen hatte nur einen Moment gedauert und doch konnte niemand diesen Plan zerstören. Der Tag war gekommen, an dem er demjenigen, der ihm alles genommen hatte, alles zurückzahlen würde. Denn eines hatte er ihm nicht genommen: Seinen Stolz. Das hatte er am gestrigen Tage begriffen. Es war bereits alles fertig für seinen großen Auftritt, der ihm kurz bevor stand. Seine Mutter war nicht mehr in der Wohnung; er hatte gehört, wie sie die Haustüre hinter sich geschlossen hatte. Leise, aber er hatte es gehört. Es war schwierig gewesen, sie davon zu überzeugen, an diesem Morgen noch vor Sonnenaufgang aufzustehen, sich unbemerkt davonzuschleichen und erst nach ein paar Stunden zurückzukommen. Mehr als schwierig war es gewesen. Natürlich hatte sie von ihm wissen wollen, warum sie das tun sollte und es hatte erst so ausgesehen, als könne er sie in diesem Leben nicht mehr dazu bringen, ihm diesen Gefallen zu tun. Verständlich. Trotzdem hatte er es irgendwie doch noch geschafft, sie zu überzeugen. Obwohl er ihr nichts Genaueres von seinem Vorhaben erzählt hatte - das Einzige, was er gesagt hatte, war, dass er alles im Griff hatte und für sie beide in Zukunft alles gut werden würde, wenn sie tat, was er sagte - schien er damit irgendetwas in ihr ausgelöst zu haben, dass sie ihm vertraute, ohne weiter nachzufragen. Vielleicht war es ihre mittlerweile eins mit ihr gewordene Hoffnungslosigkeit, die ihr sagte, dass es ohnehin nicht schlimmer werden konnte, egal, was sie tat. Vielleicht war es der Gedanke, dass es besser war, irgendetwas zu tun, als weiterhin jeden Tag das Gleiche durchzumachen und nichts zu unternehmen. Egal, was sie dazu bewogen hatte - sie war weg. Und er war mit seinem Vater alleine. Jetzt konnte er vorerst nur warten. Die ganze Nacht über hatte er gewartet. Zum Schlafen war er viel zu aufgeregt gewesen. Aber das war überhaupt kein Problem, denn er war kein bisschen müde. Er war voller Tatendrang. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass es nicht mehr lange dauern konnte, bis sein Vater aufstehen würde. Es war nur noch eine Frage der Zeit. Für einen kurzen Moment war sein Tatendrang, den er sich stundenlang konstant bewahrt hatte, komplett verschwunden und er war sich tatsächlich auf einmal nicht mehr sicher, ob es richtig war, es zu tun. Es war, als würde der unschuldige Teil in ihm sich melden, der schwache Teil, den er so mühevoll versucht hatte, beiseitezuschieben. Das kannst du nicht machen! Er ist dein Vater!, schien er ihm sagen zu wollen. Aber er hatte Unrecht. Er war nicht sein Vater, sondern ein Monster. Ein noch viel bösartigeres Monster als die, die ihn manchmal in seinen Träumen heimsuchten oder jene Kreaturen, die ihm damals auf dem Jahrmarkt einen Schrecken eingejagt hatten. Er war das böseste Monster, das er sich nur vorstellen konnte, deshalb war es an ihm, endlich das Richtige zu tun, indem er es endgültig besiegte. Jetzt oder nie! Leise schlich er in die Küche, genau darauf achtend, keinen verräterischen Laut zu verursachen. Er wunderte sich selbst darüber, wie rasch er sich wieder in den Griff bekommen hatte. Tausende von Gedanken und Gefühlen waren ihm eben noch durch den Kopf geschwirrt, gepaart mit den üblichen Stimmen, die ebenfalls durcheinander auf ihn einredeten. Doch jetzt, da es soweit war, war seine Unsicherheit reiner Entschlossenheit gewichen. Er durfte jetzt nicht mehr kneifen. Ein Geräusch ließ ihn in der Bewegung verharren. Konnte es sein, dass sein Vater schon aufgewacht war? Angestrengt versuchte er, ein weiteres Anzeichen zu erkennen, dass er mit seiner Vermutung richtig lag. Und wenn er sich nicht täuschte, konnte er in der Tat undeutlich gemurmelte Worte verstehen. Mit einem Mal war die Nervosität, die er bereits vor wenigen Minuten verspürt hatte, zurückgekehrt. Allerdings aus einem anderen Grund. Was, wenn er es nicht schaffte? Wenn er nicht stark oder nicht schnell genug war oder wieder vor Angst erstarrte? Nicht drüber nachdenken!, sagte er sich, so gut es ging bemüht, seine Sorgen zu verdrängen. Er schaute sich in der Küche um, doch als er Schritte hörte, wusste er, dass ihm keine Zeit blieb, lange zu überlegen. Mit einer zittrigen Bewegung griff er nach dem Gegenstand, der am nächsten in seiner Reichweite lag - einer Schere - und hielt das Werkzeug fest in der Hand, während er an all die Dinge dachte, die er und seine Familie wegen dieses Mannes durchlebt hatten. Selbstverständlich hasste er es, daran zu denken. Aber genau dieser Hass war es, den er jetzt am meisten brauchte. Deshalb war es wichtig, dass er sich noch einmal ganz genau in allen Einzelheiten ins Gedächtnis rief, was dieser Mann ihnen angetan hatte. Ihm, seiner Mutter und... ja, auch seinem Bruder. „Wo bist du, Liebling? Du weißt, dass ich es nicht leiden kann, wenn du dich vor mir versteckst!“ Ja, such nur nach ihr...! Heute wirst du sie nicht mehr finden!, dachte er halb verbittert, halb amüsiert. „Scha-atz! Komm schon her! Du willst mich doch nicht verärgern, oder?“ Du wirst dir wünschen, du wärest netter zu uns gewesen...! Es war früh am Morgen und auf den Straßen schien es friedlich, während dort draußen alles seinen gewohnten Lauf nahm. Normalerweise wäre er um diese Zeit auf dem Weg zur Schule gewesen oder würde noch in seinem Bett liegen und von surrealen Szenarien träumen, je nachdem, was für ein Tag es war. Stattdessen stand er im Türrahmen, hasserfüllt, ohne auch nur ein bisschen Platz für jegliche andere Emotionen, und wartete. Er wartete auf seine Beute. Denn diesmal war er der Wolf, der auf die Jagd ging und keine Gnade kannte. „Liebling...?“ Da war er. Mit dem Rücken zu ihm stand er im Flur auf der Schwelle des Wohnzimmers, Ausschau nach seiner Frau haltend, unwissend, dass hinter ihm im Kücheneingang sein eigener Sohn auf ihn lauerte. Ein Lächeln huschte ihm über die Lippen. Es gab kein Zurück mehr. „Hi, Daddy!“, sagte er, und bevor Daddy die Gelegenheit hatte, sich in irgendeiner Weise darauf vorzubereiten, stürmte er auf ihn zu, den Moment der Überraschung nutzend, und warf ihn mit aller Kraft zu Boden. „Steven...! Was...“ Noch nie hatte er sich so stark gefühlt. Es war wie im Traum, einem wunderbaren Traum, von dem er nie zu hoffen gewagt hätte, er könne Wirklichkeit werden: Sein Vater am Boden, erschrocken zu ihm aufblickend, während er selbst auf dessen Brustkorb kniete und ihn mit seiner neu gewonnenen Kraft -wo auch immer er sie plötzlich hernahm- an Ort und Stelle festhielt - und all das in nur einem einzigen, kurzen Augenblick, den er leider nicht so lange auskosten konnte, wie er es gern getan hätte. Schließlich war der, mit dem er es zu tun hatte, viel größer und stärker als er. Seine Stimme klang gebrochen, als er ihn bei seinem Namen nannte. Weitersprechen konnte er allerdings nicht, weil seine Worte, sobald er die Schere über seinem Gesicht entdeckte, zu einem angsterfüllten Schreien wurden, das sich schnell in ein schmerzerfülltes Schreien verwandelte, als Steven die Klingen mit voller Wucht hinabsinken ließ. Gut genug gezielt hatte er, dass der Mann unter ihm sich wohl nie wieder an dem Leiden eines Anderen erfreuen konnte. Diese Augen konnten niemanden mehr leiden sehen. Genau genommen konnten sie wahrscheinlich gar nichts mehr sehen. Immer wieder stach er auf ihn ein, immer fester, bis die Klingen voller Blut waren. Blut, für das er verantwortlich war, er allein, und es fühlte sich gut an, so gut, dass er nicht aufhören konnte. Die Schreie waren wie Musik in seinen Ohren. „Gefällt dir das, Daddy? Du hörst dich an, als würde dir das gefallen...!“ Nicht einmal mehr den widerlichen Geruch, der von dem Anderen ausging, nahm er wahr. Den Geruch von dem Zeug, das er sich jeden Tag herunterkippte und das ihn zu einem noch größeren Mistkerl machte, als er es ohnehin schon war. Nichts nahm er mehr wahr, außer dem Rausch, dem Triumph, dem einzigartigen Gefühl, etwas vollbracht zu haben, das alles ändern würde. Als die Schreie aufgehört hatten, starrte er den Körper unter sich eine Weile lang an, um sich das Bild vor seinen Augen möglichst detailgetreu einzuprägen, bevor er wieder von ihm herunterstieg. Das einzige, was der Mann noch von sich gab, war ein gelegentliches Zucken, und kurze Zeit später hatte auch das aufgehört, sodass nur noch ein entstelltes, von seinem eigenen Blut besudeltes Ding übrig blieb, das kein Zeichen des Lebens mehr aufwies. Steven beugte sich über den reglosen Körper, legte sein Gesicht an dessen Brust und wartete einige Atemzüge, ob er noch etwas hören konnte. Stille. Kein einziger Herzschlag war zu vernehmen. Er war tot. Die Erkenntnis kam langsam, erst Stück für Stück wurde ihm bewusst, was er gerade eigentlich getan hatte. Er hatte seinen Vater umgebracht. Er hatte es tatsächlich geschafft. Einen unwirklichen Moment lang saß er bloß neben der Leiche auf dem Boden, die Schere noch immer mit einer Hand umklammert, und konnte nicht glauben, was eben geschehen war. Er dachte an das, was ihm vor Kurzem bei dem Anblick seines wehrlosen Peinigers durch den Kopf gegangen war. Es war wie im Traum. Was, wenn es wirklich nur ein Traum war? Wenn er bald aufwachte und alles wieder genauso war wie vorher? Der Gedanke, dies hier könnte in Wahrheit gar nicht die Realität sein und er würde möglicherweise in der Wirklichkeit noch in seinem Bett liegen, ebenso schwach wie sonst auch, wühlte ihn plötzlich ungemein auf. Vielleicht lag er auch gar nicht in seinem Bett, sondern war wieder im Klassenzimmer eingeschlafen und würde nach dem Aufwachen erneut dem unerträglichen Gespött seiner Mitschüler ausgesetzt sein. Es würde kein Ende nehmen. Woher sollte er wissen, ob er träumte oder nicht? Die Umgebung wirkte auf einmal unheimlich blass, wie ein Abbild ihrer Selbst, im Kontrast zu dem Grauen, das der tote Körper dort ausstrahlte. Er passte nicht ins Gesamtbild. Das hier konnte nicht echt sein! Einem plötzlichen Impuls folgend sprang er auf und lief in sein Zimmer. Er musste sich vergewissern, dass dort alles an seinem Platz stand. Dass es noch so aussah, wie er es zurückgelassen hatte. Wenn das hier ein Traum war, konnte es schließlich sein, dass es sich in irgendeiner Weise verändert hatte. Aber das hatte es nicht. Zumindest nicht auf den ersten Blick, das konnte er sicher feststellen. Trotzdem - es war kein Beweis dafür, dass seine Situation real war. Und wenn er darüber nachdachte, war er sich nicht einmal mehr sicher, ob er überhaupt wollte, dass sie real war. Wie sollte es jetzt weitergehen? Was sollte er tun? Egal, ob es ein Traum war oder nicht - er begann, sich wieder schwach zu fühlen. Wie der hilflose, kleine Junge, der sich, wenn es unangenehm wurde, zwischen seine Stofftiere flüchtete. Der kleine Junge, der er sein ganzes Leben lang gewesen war und der er niemals wieder sein durfte, wenn er in der harten Welt zurechtkommen wollte. Er durfte es nicht, aber es war so verdammt schwierig, es gerade jetzt nicht zu sein. Er war nunmal nur ein Junge. Und er hatte jemanden umgebracht! Nein, dachte er. NEIN...! Er hatte es verdient! Er hatte es absolut verdient... Ich habe nichts Falsches getan! Nein, er durfte nicht zulassen, dass er schwach wurde. Er musste es verhindern. Reflexartig glitt sein Blick zu dem kleinen Spalt unter seinem Bett. Ob es noch dort war...? Vorsichtig kniete er sich an der entsprechenden Stelle hin, streckte einen Arm aus und tastete nach dem Gegenstand, den er immer dort aufbewahrt hatte. Aus irgendeinem Grund hatte er das Gefühl, dabei leise sein zu müssen, obwohl doch niemand in der Wohnung war, der ihn hörte. Nachdem er erfühlt hatte, wonach er suchte, zog er es unter dem Bett hervor, sah es sich an, klappte es auf und seufzte. Das Notizbuch, das er wie einen Schatz hüten sollte. Er hatte es versprochen, sein Ehrenwort hatte er gegeben. Lange hatte er es nicht mehr angerührt. Es war total eingestaubt, wie ein echter Schatz, den er nach einer Ewigkeit wiedergefunden hatte und nun in Händen hielt, voller Erinnerungen an die Tage der Vergangenheit, deren fester Bestandteil dieses kostbare Stück gewesen war. Und was war es jetzt? Wertlos. Er war nicht der Einzige, der etwas versprochen und sein Ehrenwort darauf gegeben hatte. Im Gegenzug hatte er ebenfalls ein Versprechen bekommen. Du wolltest mir schreiben und mich besuchen. Du hast gesagt, wir würden unsere Pläne irgendwann in die Tat umsetzen. Aber du hast NICHTS getan. Du hast mich im Stich gelassen, Stan... Angespannt hielt er das Buch fest; die Seite, auf der sie ihre Zukunftsträume notiert hatten, war aufgeschlagen. Ich habe mein Versprechen gehalten. Ich hätte jedes Versprechen für dich gehalten, Stan. Wieso konntest du es nicht auch...? Die Anspannung verstärkte sich bis zu einem Punkt, an dem es nicht mehr auszuhalten war. Er musste irgendetwas tun, und da er nicht vor hatte zu schreien, riss er das Papier, das er selbst einmal beschriftet hatte, auseinander. Erst diese eine Seite, die ihn andauernd verfolgte, dann die nächste. Eine Seite nach der anderen riss er aus dem Buch heraus, ehe er es vollends entzwei teilte und frustriert zu Boden schmetterte. Was für einen Sinn hatte es noch, jetzt, wo ohnehin alles kaputt war? Gab es überhaupt noch etwas, das Sinn hatte? Steven sank erschöpft in sich zusammen und schloss für ein paar Minuten die Augen. Zu viele Fragen schwebten im Raum, auf die er keine Antwort wusste. Er brauchte Ruhe, wenn auch nur kurz. Ein paar wenige Minuten, in denen er an nichts dachte und frei war von sämtlichen Fragen, die sich unaufhörlich in sein Bewusstsein brannten. Als er das Gefühl hatte, wieder ruhiger geworden zu sein, öffnete er seine Augen. Dämmriges Licht drang durch das Fenster in sein Zimmer, das Notizbuch lag zerfetzt in der Ecke. Anscheinend war er noch immer nicht aus seinem eigenartigen Traum erwacht. Schön, was machte das schon? Er stand auf, ging Richtung Badezimmer, das Chaos, das er im Flur angerichtet hatte, ignorierend, und wusch sich das inzwischen eingetrocknete Blut von der Haut. Dann ging er in seine eigenen vier Wände zurück und zog sich ein sauberes Shirt und darüber eine Jacke an, damit er nicht mehr allzu offensichtlich nach dem aussah, was er nun war - ein Mörder. Ja, er war ein Mörder. Bisher hatte er nur im Fernsehen hin und wieder von Morden gehört. Jetzt hatte er selbst einen begangen, noch dazu auf eine mehr als skrupellose Weise. Kurz überlegte er, was er nun am besten tun sollte, bevor er sich entschied, das Wohnzimmer aufzusuchen und seiner Mutter eine Nachricht zu hinterlassen. Es stand außer Frage, dass er hier nicht bleiben konnte. Ein Mörder suchte immer das Weite, nachdem er seine Tat vollendet hatte, und verweilte nicht am Ort des Geschehens. Er musste weg. Weg von hier. Schnell hatte er einen Stift und einen Zettel vor sich auf dem Tisch liegen, auf den er in gut lesbaren Buchstaben schrieb: „Ich habe uns beide vor dem Ungeheuer gerettet. Es tut mir leid, dass ich nicht hier bleiben kann. Ich hoffe, du wirst jetzt glücklich, Mommy. Hab dich lieb. Steven“ Prüfend betrachtete er die Nachricht noch einmal, dann zog er sich seine Schuhe an, verließ die Wohnung und ging, vollkommen ruhig und gelassen, ohne eine Spur von Reue, Angst oder anderen hinderlichen Gefühlen, durch die Straßen, kein bestimmtes Ziel vor Augen. Er ging dorthin, wohin es ihn zog, befreit von jeglicher Last, die er sonst mit sich trug. Er hatte nichts mehr zu verlieren. In der Stadt war nicht viel los. Wenige Menschen kreuzten seinen Weg, nicht ohne ihm gespielt mitleidige oder erstaunte Blicke zuzuwerfen, vermutlich weil sie sich wunderten, wo denn seine Eltern abgeblieben seien, obwohl es sie in Wirklichkeit wahrscheinlich kein bisschen kümmerte. Von ein paar Münzen, die er zufällig in seiner Jackentasche gefunden hatte, kaufte er sich etwas zu essen, als er im Laufe des Tages hungrig wurde. Er fragte sich, wohin seine Mutter am Morgen wohl gegangen war und wie es ihr jetzt ging. Ob sie schon zuhause war? Eine Weile lang versuchte er, diese Gedanken zu verdrängen. Er war gegangen, um sein altes Leben hinter sich zu lassen und von Neuem anzufangen. Bereits am Abend musste er jedoch feststellen, dass das gar nicht so einfach war, wie er in seiner anfänglichen Euphorie angenommen hatte. Eigentlich hatte er bloß einen Spaziergang machen wollen, doch wie es aussah, war er, ohne dass es ihm aufgefallen war, wieder zum Ausgangspunkt zurückgekehrt. War er zu sehr in Gedanken versunken gewesen, um zu bemerken, dass er geradewegs auf sein Haus zulief ? Unschlüssig schaute er hinüber zu dem Gebäude, das er aus guten Gründen verlassen hatte, und hatte auf einmal seine Zweifel, ob es eine gute Idee war, so überstürzt abzuhauen. Er wollte nicht wieder hineingehen, aber er konnte auch nicht ohne Geld und ohne Schlafplatz hier draußen bleiben. Echt toll, Steven, dachte er. Hättest du deinen Plan von Anfang an ein bisschen besser durchdacht, hättest du jetzt nicht dieses Problem. Nachdenklich starrte er in die vertraute Gegend. Sollte er noch einmal zurückgehen oder nicht? Wenn er es tat und seiner Mutter begegnete, würde sie ihn mit Sicherheit nicht wieder gehen lassen. Aber so, wie er war, hier zu bleiben, wäre Wahnsinn. Ihm blieb keine andere Wahl... Während er seinen Schlüssel hervorkramte, näherte er sich dem Eingang, öffnete die Tür und trat schließlich ein. Etwas stimmt hier nicht, war das Erste, das ihm durch den Kopf ging, als er in der Wohnung eintraf. Er wusste nicht, was genau ihn zu der Ansicht brachte, aber es war eindeutig, dass irgendetwas nicht so war, wie es sein sollte. Als er weiter in den Flur hineinging, hätte er beinahe einen gewaltigen Schrecken bekommen, wegen dem, was er dort vorfand - oder viel eher: wegen dem, was er nicht vorfand. Die Leiche seines Vaters... Sie hatte hier gelegen. Sie konnte sich doch nicht aufgelöst haben... Oder war er am Ende überhaupt nicht tot gewesen und war mittlerweile wieder aufgestanden? Nein, das war unmöglich. Nicht einmal die Leichen, die er im Fernsehen gesehen hatte, hatten so tot ausgesehen wie er, als er ihn zurückgelassen hatte. Niemals war dieses Ding noch am leben. Ein einleuchtender Gedanke kam ihm plötzlich in den Sinn und erleichterte ihn ungemein. Sicher hatte seine Mutter den leblosen Körper beiseite geschleift, damit sie den ekelhaften Anblick nicht den ganzen Tag ertragen musste. Natürlich. Es lag auf der Hand. Wer würde denn auch ein blutverschmiertes Mordopfer einfach in seinem Flur liegen lassen? Steven lachte innerlich über sich selbst. Darauf hätte er wirklich auch früher kommen können, anstatt den lächerlichen Einfall zu haben, sein Vater könne wieder aufgestanden sein. Bestimmt saß seine Mutter längst im Wohnzimmer auf der Couch und war damit beschäftigt, zu realisieren, dass es nun keinen mehr gab, der sie umherscheuchen und andere abscheuliche Dinge mit ihr tun würde, während er selbst sich daran erfreute, sich von ihr bedienen zu lassen. Wahrscheinlich konnte sie ihr Glück noch gar nicht fassen. Er lächelte. Vielleicht war die Aussicht, hier, bei ihr, zu bleiben, doch nicht so verkehrt. Der Entschluss, alleine von zuhause abzuhauen, war genauso schnell wieder verschwunden, wie er ihn gefasst hatte. Wer sagte, dass er von jetzt an nicht ein ganz normales, besseres Leben führen konnte, indem er hier blieb, bei der einzigen Person, die er noch hatte und die nun, da das Übel aus der Welt geschafft war, sogar für ihn da sein konnte, wie jede andere Mutter auch? Er musste doch gar nicht fort von hier. Eigentlich gab es dafür keinen Grund. Und dann sah er im Wohnzimmer etwas, das nicht nur seine gerade eben geschöpften Hoffnungen, sondern alles, restlos alles, zunichte machte. Tik. Tak. Tik. Tak. Tik. Tak. Das Klicken des Sekundenzeigers der großen Wanduhr war das einzige Geräusch, das den Raum erfüllte. Steven wollte etwas sagen, aber die Worte wollten sich nicht formen. Die Stille schien sämtliche Worte in seinem Geist zu verschlingen, bevor er sie auch nur ansatzweise herausbringen konnte. Dort lag sein Vater, mitten im Zimmer, unverändert, abgesehen davon, dass er seinen rechten Arm zur Seite ausgestreckt und das Gesicht in die gleiche Richtung gewandt hatte. Daneben lag seine Mutter - in seinem Arm, das Gesicht ebenfalls ihrem Mann zugewandt, ein glückliches Lächeln auf den Lippen. In ihrer Brust klaffte eine furchterregende Wunde, in ihrer Hand lag lose ein blutiges Messer. Sie sahen aus wie ein verliebtes Ehepaar, das soeben gemeinsam diese Welt verlassen hatte. Zusammen, sowohl im Leben als auch im Tod. Lange konnte Steven seinen Blick nicht von den Beiden abwenden. Erst als das Ticken der Uhr gefühlt mehrere hundert Mal im Raum verklungen war, zog die Nachricht, die er seiner Mutter da gelassen hatte, seine Aufmerksamkeit auf sich. Sie lag nicht mehr an derselben Stelle, an der er sie verfasst hatte, und es sah so aus, als würde außerdem einiges mehr auf dem Zettel stehen, als die Zeilen, die er am Morgen geschrieben hatte. Stumm nahm er den Zettel an sich und las, was darauf stand: „Steven... Wo auch immer du bist: Ich weiß, dass du zurückkommen und diese Zeilen lesen wirst. Ich weiß eigentlich gar nicht genau, was ich schreiben soll. Aber ich wollte dich wissen lassen, dass ich dich immer lieben werde und dir sehr dankbar bin, für alles, was du mir gegeben hast. Anscheinend bin ich ein genauso schreckliches Ungeheuer, wie es dein Vater gewesen ist... Es tut mir furchtbar leid, mein Häschen. Aber ich kann weder mit ihm noch ohne ihn leben, das ist mir jetzt klar geworden. Ich hoffe, du kannst mir irgendwann verzeihen, was ich getan habe, auch wenn du es jetzt vielleicht nicht verstehst. Lebe wohl, deine Mommy.“ Drei Mal las er den Zettel, bevor er ihn wieder auf den Tisch legte. Es waren die letzten Worte seiner Mutter, ihr Abschiedsbrief, der nun ihm gehörte. Das Letzte, was ihm von ihr geblieben war. Scheinbar gab es Dinge, die einfach nicht zu erklären waren, egal, wie lange man darüber nachdachte. Trotz allem, was dieser Mann ihr angetan hatte... Sie hatte ihn geliebt. Wieder sah er sich die Beiden an, wie sie miteinander da lagen. Das Monster und der Schmetterling - bis in alle Ewigkeit vereint. Wenigstens konnte sie jetzt glücklich werden. Ihr Lächeln verriet es ihm. Es war wie ein letztes Geschenk, sie noch einmal auf diese Art lächeln zu sehen. Es war das, was er sich so sehnlichst gewünscht hatte. Jetzt hatte sich sein Wunsch erfüllt, und er konnte das klaffende Loch in ihrer Brust beinahe gänzlich ausblenden. Sie war so schön wie niemals zuvor. Eine volle Stunde lang, vielleicht auch länger - er war sich nicht sicher - hatte er damit verbracht, ihr Gesicht zu betrachten. Dann beschloss er ein zweites Mal, zu gehen. Und dieses Mal würde er keinen Rückzieher machen. Es war bereits Nacht, als er ziellos in die Dunkelheit hinauslief. Das Einzige, was er mit sich trug, war der Zettel, den er kurzerhand eingesteckt hatte, bevor er aus der Wohnung verschwunden war. Er brauchte nichts weiter; weder etwas zu essen noch einen Schlafplatz oder sonst irgendetwas. Was jetzt mit ihm passierte, war völlig egal. Ob er im Dreck schlafen, irgendwann verhungern oder in der Kälte erfrieren würde, machte keinen Unterschied. Seine Eltern waren tot und sein Bruder wollte offenbar nichts mehr mit ihm zu tun haben. Er hatte nichts mehr, nichts und niemanden. Hätte er gewusst, wie dieser grausame Tag enden würde, wäre er gar nicht erst aufgestanden. Es wäre alles beim Alten geblieben, hätte er nicht diesen Tag auserwählt, um auf eigene Faust Schicksal zu spielen und über das Leben Anderer zu entscheiden. So entschlossen hatte er sich gefühlt, als er auf das Erscheinen seines Vaters gewartet hatte, damit er dessen ungerechten Taten ein Ende setzen konnte. Zwischendurch war er unsicher geworden, dann war es blanker Hass gewesen, der sein Handeln bestimmt hatte. Als nächstes hatte seine übliche Schwäche die Oberhand gewonnen, dann Wut, bis schließlich die inzwischen allzu vertraute Leere in ihm zurückgekehrt war. Mit dieser Leere hätte er leben können. Es wäre in Ordnung gewesen. Doch jetzt, da er erkannte, dass er alles verloren hatte, fühlte er nichts als erschlagende Einsamkeit. Trauer und Einsamkeit. Er war machtlos, alleine gegen den Rest der Welt. Und trotzdem lief er, rannte er so schnell er konnte, als würde es irgendetwas an seiner Lage ändern. Als könne er auf diese Weise der düsteren Realität entkommen; und nicht nur ihr - auch seinen Verfolgern, die zwar nicht real waren, ihn aber ebenso mit ihren scharfen Klauen in die Finsternis reißen konnten wie Geschöpfe aus Fleisch und Blut. Ihm blieb nichts anderes übrig, als davonzulaufen, wie immer die Flucht zu ergreifen vor den Kreaturen, die er selbst erschaffen hatte. Deshalb rannte er, lange, solange bis seine Beine unter ihm nachgaben und er auf den Knien im Gras landete. Während einiger tiefer Atemzüge wurde ihm schwarz vor Augen, und er musste sich mit den Händen auf dem Boden abstützen, um sich zumindest einigermaßen aufrecht halten zu können. Als er wieder klar sehen konnte, besah er sich seine Umgebung ein wenig genauer und versuchte, sie irgendeiner Erinnerung zuzuordnen. Aber es gab keine Erinnerung, die er mit diesem Ort verband. Er war das erste Mal hier. Sieh an, Steven... So weit bist du gelaufen, dass du noch nicht einmal weißt, wo du gelandet bist, sagte eine Stimme in seinem Kopf, die seiner eigenen verdächtig ähnelte. Eines muss man den Feiglingen dieser Welt lassen: Sie können rennen, als gäbe es kein Morgen mehr. Menschenleere Wiesen waren das Einzige, das er weit und breit ausmachen konnte. Er hatte keine Vorstellung davon, wie spät es sein mochte, ob die meisten Menschen bereits schliefen und er deshalb niemanden sah, und wie weit er eigentlich wirklich gelaufen war. All diese Dinge schienen unwichtig geworden zu sein und verschwammen miteinander, wie Wasserfarben, die man nicht mehr auseinanderhalten konnte. „Dann bin ich eben ein Feigling“, antwortete er der Stimme, noch immer außer Atem. „Was soll ich anderes tun, als wegzurennen? Ich habe kein Recht mehr auf... auf...“ Du hast JEDES Recht, und zwar auf alles, was du willst!, wurde er von seiner eigenen Stimme unterbrochen. Willst du dich wirklich verkriechen und dich geschlagen geben, nur weil etwas nicht so gelaufen ist, wie du es geplant hast? Wie WIR es geplant haben? Ich dachte, die Zeiten, in denen du dich wie ein hilfloses, kleines Kind vor allem versteckst, wären vorbei! Ich dachte, du würdest endlich einmal zurückschlagen, wenn das Leben dich unfair behandelt! „Ich habe zurückgeschlagen! Und was habe ich nun davon...? Meine Mutter hat sich umgebracht, weil ich so egoistisch war, ihr ihren Mann wegzunehmen... ohne darüber nachzudenken, ob ich ihr damit überhaupt einen Gefallen tue... oder nicht...“ Ehrlich?, erwiderte die Stimme fassungslos. Ist das dein Ernst? Jetzt hör mir mal gut zu: Nicht DU warst egoistisch. Sondern SIE war es! Welche Mutter überlässt ihren Sohn einfach sich selbst und verschwindet mir nichts dir nichts von der Bildfläche? Sie hatte es nicht leicht. Natürlich nicht. Aber du hattest es auch nicht leicht, Steven. Es ist egal, ob du ihr damit einen Gefallen getan hast. Hättest du dich etwa lieber weiterhin von diesem Mistkerl demütigen lassen? Dich benutzen und aussaugen lassen wie ein verdammtes Insekt im Netz einer Spinne? Ist es das, was dir lieber gewesen wäre? „Im Netz... einer Spinne“, wiederholte er leise die eben gesagten Worte und musste dabei unweigerlich an den Rächer mit seiner Hausspinne denken, den Stanley sich ausgedacht hatte. Damals war er noch bei ihm gewesen. Ständig. Er war immer an seiner Seite gewesen, jeden Tag. Doch jetzt hatte er das beklemmende Gefühl, als wären diese gemeinsamen Tage bloß eine schöne Illusion gewesen, als hätten sie in Wirklichkeit nie existiert, sondern sich nur in den Tiefen seiner kranken Seele abgespielt. Die Erinnerungen an seinen Bruder schienen sich Stück für Stück aufzulösen. Wenn er darüber nachdachte, konnte er sich weder an Bilder von ihm erinnern, die er zuletzt in der Wohnung hätte sehen müssen, noch an etwas anderes, das davon zeugte, dass er nicht bloß ein Teil seiner Einbildung gewesen war. Es war nichts mehr da, das seine Existenz unter Beweis stellte. „Nein... Jetzt drehe ich komplett durch“, sagte er zu sich selbst. „Stanley war echt! Ich habe mir doch meinen Bruder nicht eingebildet!“ Zweifelsohne hatte es ihn gegeben, nicht nur in seiner Fantasie. Und es gab ihn auch jetzt noch! Stan war an einem anderen Ort, weit weg von hier. Aber er war nicht tot. Er lebte, auch wenn er ihn nicht sehen und nicht hören konnte und nicht wusste, wie es ihm ging... oder? Steven schloss die Augen und dachte an den Jahrmarkt, in dem sie, zusammen mit ihren Eltern, gewesen waren - der letzte Familienausflug, den sie unternommen hatten. Er stellte sich vor, wie er dort auf dem Boden kniete, anstatt hier, an diesem verlassenen Platz, und wie er Stan auf sich zukommen sah, der überall nach ihm gesucht hatte, nachdem er aus dem Geisterhaus gekommen war. Anfangs noch verschwommen sah er es nun deutlich vor sich. „Stan...! Ich... Ich wusste, du würdest kommen!“ Ein Fünkchen Hoffnung flammte in ihm auf, als sein Bruder ihm direkt gegenüberstand und ihm seine ausgestreckte Hand hinhielt. Als er jedoch danach greifen wollte, um aufzustehen, zog er sie sogleich wieder weg, lächelte ihn spöttisch an, drehte sich um und ging. „Nein, bitte geh nicht! Stan, du darfst nicht gehen...! Nimm mich mit!“, rief er, aber es war zu spät. Stan war schon wieder fort; er beobachtete, wie seine Silhouette stetig kleiner und dunkler wurde, bis sie schließlich mit den Schatten in der Umgebung verschmolz und nicht mehr zu erkennen war. Zitternd krallten sich seine Hände ins Gras, während der Wind eiskalt und gnadenlos über ihn herfiel. Er fühlte sich, als hätte er nicht das Notizbuch, sondern sich selbst auseinandergerissen und würde jetzt in seinen eigenen Einzelteilen quälend langsam hier draußen verrotten. Sogar in seiner Vorstellung ließ er ihn alleine. Er konnte nicht einmal mehr an ihn denken, ohne enttäuscht zu werden... Hast du es jetzt endlich kapiert?, meldete sich die Stimme in seinem Inneren wieder. Ja, Steven, er hat dich allein gelassen. Und er wird auch nicht mehr zurückkommen. Es ist sinnlos, dir immer wieder neue Hoffnungen zu machen. Vergiss Stanley! „Das... kann ich nicht...!“, wimmerte er schwach. Du MUSST es!, schrie die Stimme eindringlich. Wie oft willst du dir selbst noch weh tun mit deinen falschen Hoffnungen und Erwartungen? Sieh endlich ein, dass niemand mehr kommen wird, um dich zu retten! Weder er noch irgendwer sonst! Aber du brauchst auch niemanden. Du bist stark, Steven. Wenn du willst, kannst du sehr stark sein. Anstatt dich selbst aufzugeben, vergiss einfach die Anderen. Vergiss deine Eltern, deinen Bruder und die idiotischen Typen aus deiner Schule... und jetzt steh auf und zeig mir, dass du KEIN erbärmlicher Jammerlappen bist! Zögerlich kam er wieder auf die Beine, als er sich dazu in der Lage fühlte. Er wollte kein Jammerlappen sein. Sehr gut. Greif in deine Hosentasche. Auch dieser Aufforderung kam er nach, zog den Zettel hervor, den er eingesteckt hatte, kurz bevor er gegangen war, und sah sich die traurigen Zeilen, die darauf standen, erneut schuldbewusst an. Wenn du deine Familie vergessen willst, dann darfst du diesen Zettel nicht mit dir herumtragen. Du musst ihn vernichten. „Nein... Das kannst du nicht von mir verlangen! Er ist das letzte, was mir von meiner Mutter geblieben ist!“ Und genau deshalb darfst du ihn nicht behalten! Wie willst du über sie hinwegkommen, wenn du dauernd etwas mit dir herumschleppst, das dich an sie erinnert? Es ist nur zu deinem Besten. Zerreiße ihn, genau wie die Seiten aus dem Buch. Das konntest du doch auch. „Nein, das werde ich nicht tun! Das wäre, als würde ich sie nochmal töten...! Ich kann ihren Abschiedsbrief nicht einfach wegschmeißen... Auf keinen Fall!“ Schön. Du willst ihn also unbedingt behalten. Dann schluck ihn runter. „Was...?!“ So trägst du ihn bei dir, ohne ihn sehen zu müssen. Du hast deinen Abschiedsbrief ganz für dich alleine, keiner kann ihn dir mehr nehmen... Und trotzdem ist er dir nicht mehr im Weg. Verstört von der Vorstellung, den Zettel auf solch eine Weise zu beseitigen, blickte er sich ein weiteres Mal um, um sicherzustellen, dass auch wirklich niemand in der Nähe war. „Warum sollte ich eigentlich tun, was du mir sagst? Wer bist du überhaupt?“, fragte er und kam sich lächerlich vor, weil er seinen Gesprächspartner nicht ansehen konnte. Die Stimme lachte leise. Wer ich bin... Spielt es denn eine Rolle, wer ich bin? Ich helfe dir und das ist das Einzige, worauf es ankommt. Wenn du mich nicht hättest, wärst du jetzt verloren. Deshalb würde ich dir raten, auf mich zu hören. Steven schwieg zur Antwort. Einen Moment lang dachte er nach, bis er zu dem Schluss kam, dass der Andere Recht hatte. Er brauchte ihn, wenn er von Neuem anfangen wollte. Wenn er ihm vertraute, konnte immer noch alles gut werden. Langsam zerknüllte er das Papier in seiner Hand und verzog kurz angewidert das Gesicht, bevor er es verschwinden ließ, genau wie der Unbekannte es ihm aufgetragen hatte. Brav, Steven!, hörte er ihn daraufhin sagen, während er damit beschäftigt war, zu verarbeiten, was er gerade abartiges getan hatte. Und jetzt... Lass uns gehen! Wie ein willenloses Spielzeug hatte er sich in dieser Nacht leiten lassen, sich von jemandem führen lassen, dessen Namen er nicht einmal kannte - sofern der Andere so etwas wie einen Namen überhaupt besaß. Dank seiner Hilfe hatte er es fertig gebracht, sich auf den Beinen zu halten und weiterzulaufen, ohne zurückzuschauen auf das, was hinter ihm lag. Später hatte er sich ein Stück von einer jungen Autofahrerin mitnehmen lassen, die glücklicherweise scheinbar selbst von der rebellischen Sorte war und ihn daher ohne Weiteres gehen ließ, anstatt ihn wie einen dummen, kleinen Jungen zu behandeln, der nicht für sich allein entscheiden konnte. Im Nachhinein war er sich nicht mehr so sicher, ob diese Tatsache wirklich von Vorteil für ihn gewesen war oder nicht. Noch in derselben Nacht hatte er mitten auf dem Bürgersteig das Bewusstsein verloren und war erst am nächsten Tag in einer fremden Wohnung wieder zu sich gekommen. In diesem Fall konnte er jedoch tatsächlich von Glück sprechen, dass er von einem fürsorglichen, älteren Ehepaar gefunden worden war, das sich um ihn gekümmert hatte, bis er in einer anderen Bleibe untergekommen war. Es war ein anstrengendes Hin-und-Her, und, obwohl er am liebsten bei dem netten, alten Paar geblieben wäre, war er froh, als er letztendlich wieder ein festes Zuhause hatte, in dem er wohnte - oder zumindest etwas, das ansatzweise dieser Bezeichnung gerecht wurde. Seinen zehnten Geburtstag verbrachte er zwischen etwa gleichaltrigen Kindern, von denen keines besonders viel für ihn übrig hatte, was allerdings auf Gegenseitigkeit beruhte. Wenigstens ließen sie ihn die meiste Zeit über in Ruhe und das machte sie wiederum ein wenig sympathischer als seine ehemaligen Mitschüler, die keine Gelegenheit ausgelassen hatten, sich provokant über ihn lustig zu machen. Aber das war jetzt nicht mehr wichtig. Schon bald hatte er ihre Namen sowie ihre Gesichter vollkommen aus seinem Gedächtnis gelöscht. Jedem, der ihn danach fragte, erzählte er, er habe keine Erinnerung mehr daran, wo oder wer er gewesen war, bevor es ihn hierher verschlagen hatte. Es war eine Lüge, die er irgendwann sogar selbst glaubte, weshalb es ihm zunehmend leichter fiel, die Vergangenheit zu verdrängen, als wäre sie nie da gewesen. Es gab nur noch das Hier und Jetzt; die Erwachsenen, die alle Hände voll damit zu tun hatten, den Alltag im Heim einigermaßen im Griff zu behalten, und die Kinder, die entweder viel zu laut miteinander spielten, sich rauften oder - zu seiner Freude- lernten und sich dabei ausnahmsweise ruhig verhielten. Die Zeit verging, er vergaß immer mehr von dem, was hinter ihm lag, und er gewöhnte sich an sein neues Leben. Es war nicht das, was er sich immer schon gewünscht hatte, aber es war auch bei Weitem nicht das Schlechteste. Es war schlichtweg normal. Zumindest konnte er sich das lange Zeit einreden. Seine Jugend verlief normal, er wurde erwachsen, wie ein ganz normaler Mensch, lernte eine normale Frau kennen und heiratete sie, absolut normal. Sein ach so perfektes Leben verlief so normal, dass er keinen Gedanken mehr daran verschwendete, was früher einmal gewesen war. Es war weit außerhalb seines Bewusstseins gerückt und er genoss das scheinbar harmonische Zusammenleben mit seiner Frau - solange, bis seine Albträume wiederkehrten. Anfangs hatte er es ignorieren können. Jeder hatte schließlich manchmal Albträume, oder nicht? Doch als sie nicht aufhörten, fing er an, über sie nachzudenken. Ihre Bedeutung. Was sagten diese Träume über ihn aus? Warum waren es immer die gleichen Kreaturen, die ihn heimsuchten, wenn es dunkel wurde? Und warum wurde er das Gefühl nicht los, dass zwischen all diesen merkwürdigen Figuren jemand auf ihn wartete, der jede Nacht nach ihm rief, ohne ihn jemals wirklich erreichen zu können? Die Fragen beschäftigten ihn und je länger er sich mit ihnen auseinandersetzte, desto weniger hatte er das Gefühl, seine eigenen Gedanken zu verstehen. Er fühlte sich wie ein kleiner Junge, der zu seiner Mutter ins Bett kroch, weil er fürchtete, ein Monster könne sich in seinem Zimmer versteckt halten. Alles hatte er versucht, um seiner Frau und dem Rest der Welt, vor allem aber sich selbst zu beweisen, dass es ihm gut ging. Dass er ein echter Mann war. Vergebens. Er hatte versucht, seinen Kummer mit verschiedenen Hilfsmitteln zu betäuben. Nichts hatte funktioniert und irgendwann, als er sich sicher war, wahnsinnig geworden zu sein, hatte er im Traum eine vertraute Stimme gehört. Steven, hatte sie gesagt. Du bist nicht wahnsinnig. Die Anderen sind es. Wenn du glaubst, du wärest schuld an der Hölle, durch die du gehst, dann liegst du falsch. Niemand versteht dich, nicht wahr? Armer, kleiner Junge... Das musst du dir nicht gefallen lassen! „Ja... Du hast Recht“, hatte er geantwortet. „Das muss ich mir nicht gefallen lassen...!“ Dann hatte er dem Wahnsinn wie ein echter Mann ein Ende gesetzt, und das letzte, was er sah, war rot... bevor alles schwarz wurde. Schwarz und kalt. Kapitel 5: I am the spider -------------------------- Ein schwaches Quietschen, das alle paar Sekunden in einem gleichmäßigen Takt ertönte, und das gelegentliche Rauschen vorbeifahrender Autos erfüllten die Nacht. Abgesehen davon war es so gut wie still. Vage spürte er den Blick des Anderen, der auf ihm ruhte, dann verstummte das Quietschen und er sah zögerlich zu ihm herüber. „Wow...“, war alles, was Spider leise hervorbrachte, nicht mehr als ein Hauchen, das für einen kurzen Moment die Stille durchbrach. Eine Weile lang sagten sie beide nichts und saßen nur in einem nicht allzu großen Abstand voneinander auf der Schaukel des kleinen Spielplatzes - wie in frühesten Kindertagen - bis Spider vorsichtig wieder das Wort ergriff. „Es tut mir so leid, Steven... Die ganze Zeit über dachte ich, ich hätte es schwer gehabt. Aber du... Damals habe ich mich aufgeführt wie ein großer, starker Beschützer, der vor nichts Angst hat. Dabei bist du viel stärker als ich. Ich weiß nicht, was ich an deiner Stelle getan hätte...“ Steven schaute betreten zu Boden. Es war ein so seltsames Gefühl, in seiner Nähe zu sein, jetzt, wo er wusste, wer er war. Monatelang hatte er darauf gehofft, ihn wiederzusehen, hatte an seiner Hoffnung festgehalten, bis er schließlich keine Kraft mehr dazu besessen hatte. Dann hatte er die Erinnerung an ihn jahrelang von sich ferngehalten, ihn vergessen und nicht mehr an ihn gedacht. Sein ganzes Leben lang hatte er sich etwas vorgemacht, weil er den Gedanken an ihn einfach nicht länger hätte ertragen können. Und jetzt saß er plötzlich neben ihm und hatte sich im Grunde kein bisschen verändert. Es war ein so eigenartiges Gefühl, dass er keine Ahnung hatte, was er sagen sollte. Ein Blick zur Seite verriet ihm, dass Spider genauso abwesend den Boden fixierte, wie er selbst es bis eben noch getan hatte. „Es tut mir ehrlich leid“, flüsterte er. „Du musst mich jetzt wohl... wirklich hassen...“ Erschrocken ließ er von der Kette ab, die den Sitz der Schaukel in der Luft hielt. „Warum sollte ich dich denn hassen...?“ „Weil ich... ein furchtbarer Mensch bin“, antwortete Spider verbittert. „All die leeren Versprechen, die ich dir gegeben habe und nicht einhalten konnte... Die Jahre, in denen du allein warst und ständig von Albträumen geplagt wurdest... Das ist alles meine Schuld. Wäre ich bei dir gewesen und hätte auf dich aufgepasst, wäre es vielleicht nicht so gekommen. Aber ich war nicht bei dir... Ich war nur mit mir selbst und meinen eigenen abnormen Träumen beschäftigt, während du-“ Er brach mitten im Satz ab und stockte, bevor er weitersprach. „Ich habe dich im Stich gelassen, als du mich gebraucht hast...“ Einsam saß er dort in der Dunkelheit und machte sich Vorwürfe, so wie er es schon immer getan hatte. Noch immer trug er den Mantel, den er vor ihrer Flucht hierher der streitsüchtigen Fremden abgestreift hatte, während er schweigend in die Leere starrte. Es war ein trauriger Anblick. Steven stand auf, machte ein paar Schritte auf ihn zu und kniete sich, ihm gegenüber, in den Sand. Spider sah ihn an. Er kannte diesen Ausdruck in seinen Augen, er kannte ihn nur zu gut. „Damals... ist einiges schief gelaufen“, sagte er ruhig. „Vielleicht wäre es nicht so gekommen, wenn wir irgendetwas anders gemacht hätten. Vielleicht aber auch nicht. Du kannst nichts dafür, was passiert ist... Und es ist jetzt auch egal. Das ist lange her, wir haben beide schlechte Erfahrungen gemacht. Aber jetzt haben wir uns wieder! Auch wenn es etwas gedauert hat...“ „Du... Du hasst mich also nicht...?“ „Natürlich nicht!“, antwortete er fassungslos. „Für wen hältst du mich? Du bist... mein Bruder!“ Die Worte schienen den Anderen ungemein zu erleichtern. Er lächelte und Steven erwiderte sein Lächeln. So lange es auch gedauert hatte bis zu ihrem Wiedersehen - in diesem Augenblick kam es ihm vor, als wäre die Zeit dazwischen einfach stehengeblieben. „Weißt du...“, begann Spider. „Ich habe die ganze Zeit an dich gedacht. Auf dem Internat ist kein einziger Tag vergangen, an dem ich mir nicht gewünscht habe, zu dir zurückzukommen. Du warst der einzige Grund, aus dem ich wieder nach Hause gewollt hätte. Ansonsten hätten mich keine zehn Pferde dahin zurückgeholt...“ Er machte eine kurze Pause und schien zu überlegen. „Du hast doch gesagt... du hättest seit meinem Schulwechsel keinen Brief von mir bekommen... oder?“ „Ja, richtig. Das habe ich nicht“, sagte Steven und dachte daran zurück, wie betrogen er sich als Kind deswegen gefühlt hatte. „Jetzt wird mir alles klar... Das war dieser Dreckskerl!“, murmelte er wütend. „Ich habe dir geschrieben, Steven! Das musst du mir glauben! Ich wette, es ist nur deshalb nichts bei dir angekommen, weil... unser sogenannter Vater die Briefe abgefangen und sie dir nie gegeben hat! Dass er mich von zuhause weggeschickt und uns auseinander gebracht hat... Das war alles geplant! Wahrscheinlich, weil er nicht wollte, dass ich ihm dazwischen funke bei seinen ekelhaften Spielchen...“ Steven schluckte. Diese Möglichkeit hatte er ernsthaft nie zuvor in Betracht gezogen. Zu blind war er zu diesem Zeitpunkt gewesen, um zu erkennen, wie die Dinge wirklich waren. Dabei wäre diesem elenden Psychopathen alles zuzutrauen gewesen. „Dann... war er es wahrscheinlich auch, der die Fotos von uns beiden weggeräumt hat... Er wollte selbst dafür sorgen, dass ich dich vergesse! Das glaube ich einfach nicht...“ „Er hat versucht, dich komplett von mir zu isolieren, weil er Angst hatte, sein schmutziges, kleines Geheimnis könnte durch mich an die Öffentlichkeit gelangen, wenn du Kontakt zu mir hältst... Unfassbar. Was für ein krankes Hirn muss man haben, seiner eigenen Familie so etwas anzutun?“ „Wer weiß... warum er diese Dinge getan hat...“ „Sag mal, verteidigst du ihn jetzt auch noch oder was?!“, fragte Spider entsetzt. „Nein, das nicht...“, seufzte Steven. „Es ist nur so... Ich habe mir immer geschworen, niemals so zu werden wie er. Ich konnte nie verstehen, wie man so grausam sein kann, aber... am Ende war ich keinen Deut besser. Und das merke ich erst jetzt...“ Quälend deutlich fielen ihm Bilder ein, die er am liebsten genauso verdrängt hätte, wie die vielen anderen Erinnerungen, die er einfach aus seinem Bewusstsein verbannt hatte - wie Wörter auf einer Liste, die man so lange durchstrich, bis sie nicht mehr zu lesen waren. „Ich habe sie so mies behandelt. Sie hätte etwas viel Besseres verdient als mich. Und dann habe ich sie auch noch umgebracht...“ „Du redest von deiner Frau... oder?“, hörte er sein Gegenüber vorsichtig fragen. „Du sagtest, du wärest schlafgewandelt, als du es getan hast.“ „Ja, so war es. Aber das rechtfertigt es noch lange nicht! Sie war so lieb zu mir und ich habe sie nur benutzt... Wäre sie doch gar nicht erst an jemanden wie mich geraten, sondern hätte einen Mann geheiratet, der sie wirklich hätte glücklich machen können...“ „Du kannst es nicht mehr ändern, Steven. Wir alle machen Fehler. Sieh doch nur mich an!“ Er lachte, während er das sagte. „Manchmal handeln wir eben wie verbohrte Egoisten, weil wir die Augen vor der Wahrheit verschließen, und später bereuen wir, was wir getan haben. Das ist menschlich. Sicherlich hast du nicht immer alles richtig gemacht, aber deshalb bist du noch lange nicht wie er!“ „Das sagst du so leicht. Wir reden hier aber nicht von kleinen Fehlern, die jeder macht, sondern von Mord. Und du vergisst, dass sie nicht die Einzige ist, die ich ermordet habe. Heute habe ich es schon wieder getan. Was ist, wenn ich es immer wieder tue und es mir irgendwann überhaupt nichts mehr ausmacht...?“ „Dann“, seufzte Spider langgezogen, „wärst du so, wie ich. Aber das bist du nicht, also brauchst du dir darum keine Sorgen zu machen.“ „Wirklich? Na, wenn du das sagst...“ Lange saßen sie bloß nebeneinander im Sand und schauten zum Himmel hinauf, wie damals, als sie, nicht weit vom Schulgebäude entfernt, zusammen an der Mauer gelehnt und ihre gemeinsamen Pläne geschmiedet hatten, anstatt im Klassenzimmer zu sitzen und ihrer Lehrerin zuzuhören. Die Wolken hatten sich inzwischen verzogen und gaben den Blick auf die Sterne frei, die in dieser Nacht zahlreich ihre Umgebung erleuchteten. Viele, viele Sterne... Und dazwischen der Mond, der, umringt von einem gelben Schein, hell und klar am Himmel stand. Unwirklich, war das erste Wort, das Steven in diesem Moment in den Sinn kam. Den nächtlichen Ausblick zu genießen, ungestört, alleine mit seinem Bruder, war eigentlich zu schön, um real zu sein. Konnte es sein, dass er wieder einmal träumte? Dass er ausnahmsweise einen Traum hatte, in dem er nicht von bizarren Gestalten umhergejagt wurde? Nachdenklich sah er zu Spider, der sichtlich zufrieden wirkte, während er neben ihm ruhig die Sterne betrachtete. Wenn das hier ein Traum war, durfte er niemals enden. „Was ist los, Steven? Warum schaust du mich so an?“, wurden seine Gedanken von der Stimme des Anderen unterbrochen. „Ich... habe mich nur gerade gefragt, ob du auch... echt bist“, antwortete er und lachte verlegen. Immer hatte er das gleiche Problem. Entweder hatte er Wahnvorstellungen oder er wusste nicht, ob er schlief oder wach war. Kein Wunder, wenn Andere ihn für verrückt hielten. Vermutlich war er es wirklich. Spider lächelte nur und wandte sich ihm so zu, dass sie sich direkt ansahen. „Ich bin vielleicht eine skurrile Erscheinung mit einem komischen Namen... Aber du kannst mir trotzdem glauben, dass ich echt bin.“ Ein wenig irritiert ließ Steven es zu, dass Spider nach seinem Arm griff und ihn sich an die Brust legte. Durch den Stoff seines Oberteils konnte er überraschend deutlich seinen Puls spüren. „Ich weiß selbst, dass ich im Laufe der Zeit zu einem... unausstehlichen, kaltherzigen Etwas geworden bin. Aber an meinem Wunsch, meine Versprechen doch noch irgendwann zu erfüllen und dich wiederzusehen, hat das nie etwas geändert“, sagte er leise. „Merkst du das? Anscheinend habe ich trotz allem, was ich mittlerweile getan habe, immer noch ein Herz. Vielleicht kannst du darauf aufpassen, dass es mir nicht... vollständig verloren geht.“ Einige Sekunden lang verharrten sie auf diese Weise, bevor Spider ihn wieder losließ, kurz zu überlegen schien und dann mühevoll etwas aus seiner Hosentasche fischte. Hatte ihm eben schon auf die Bitte seines Gegenübers keine passende Antwort einfallen wollen, so war er jetzt erst recht sprachlos, als er erkannte, was Spider in der Hand hielt. Es war ein zusammengefaltetes Blatt Papier, im ersten Moment unscheinbar, doch bei näherem Betrachten konnte er feststellen, dass er es sehr lange aufgehoben haben musste - die Jahre waren dem Stück eindeutig anzusehen - und als er es aufklappte, offenbarte sich ihm ein Bild, von dem er bei Weitem nicht erwartet hatte, es noch einmal zu Gesicht zu bekommen. Zu sehen war eine dunkel gekleidete Figur, die von einer nicht besonders angsteinflößenden Mutantenspinne begleitet wurde. An ihrer Seite befand sich außerdem eine zweite Figur mit wehendem Umhang, ebenfalls begleitet von einer Art heroischem Haustier - einem pelzigen Hasen, der auf zwei Beinen ging - und weiter entfernt im Hintergrund eine Frau, die den beiden Hauptfiguren anerkennend hinterherblickte. „Es ist leider ein bisschen verschmiert... Ich hätte es wohl besser aufbewahren sollen. Stattdessen habe ich es immer mit mir herumgetragen, aber das ist gut. Sonst hätte ich es dir jetzt nicht zeigen können.“ „Das ist...“, murmelte Steven und starrte ungläubig das Papier vor seinen Augen an. „Du hast es wirklich seit damals pausenlos bei dir getragen...?“ Spider lachte, aber es klang anders als die letzten Male, die er ihn hatte lachen hören. Es war kindlicher. „Das habe ich“, sagte er und deutete auf die Figur mit dem Umhang und ihren kleinen Gefährten. „Ich glaube, als du das Bild zuletzt gesehen hast, waren die Beiden hier noch nicht mit drauf. Ich habe sie hinzugefügt, als ich in der Schule alleine auf meinem Zimmer war. Errätst du, wer das ist?“ „Da muss ich gar nicht raten: Das ist der Superheld, den ich erfunden habe, stimmt's?“ „Ganz genau! Ich habe dieses Bild immer gemocht und habe es immer noch so gern, dass ich es nicht weglegen kann. Naja, obwohl ich kein sonderlich begabter Künstler bin...“ Er grinste, während er sein Werk betrachtete, als ob er es eben erst gezeichnet hätte. War es wirklich so lange her, dass er mit ihm auf dem Bett gesessen und sich die ganze Nacht lang spannungsgeladene Geschichten ausgedacht hatte? Es war schwer zu glauben, wenn er ihn so ansah, wie er, vertieft in ein Stück aus ihrer Vergangenheit, auf dem Boden saß. Spider, der gefährliche Serienkiller, der seine ahnungslosen Opfer erst ins Netz lockte und dann über ihr Leben richtete, wenn sie ihm hilflos ausgeliefert waren. Spider, der ihn zu sich geholt hatte, um ihn zu beschützen. Der Tag, an dem er ihm vor drei Monaten in die Arme gelaufen war, erschien vor seinem inneren Auge, und ihm drängte sich unweigerlich eine Frage auf. „... Spider?“ „Hm?“ „Wie hast du es eigentlich nach all den Jahren geschafft, mich zu finden? Ich meine... Ich hätte überall sein können!“ Mit einem Ausdruck, als hätte er ihn bei etwas Fragwürdigem ertappt, wandte der Andere sich zur Seite, faltete das Papier ordentlich in die vorherige Form und steckte es wieder ein. „Das verrate ich dir lieber nicht“, lachte er nervös. „Sonst hast du nachher doch noch Angst vor mir...“ „Ich hätte niemals Angst vor dir, egal, was du mir jetzt erzählst.“ „Also... Sagen wir es mal so“, setzte er schließlich doch zu einer Antwort an, „... ich habe intensive Recherchen betrieben und hatte Glück, dass die Gegend, in die du gezogen bist, in der Nähe unseres alten Hauses war. Der Rest ist... nicht wichtig.“ „Dann nehme ich an, unsere Begegnung im Park war reiner Zufall?“ „Ja. So ist es. Absolut zufällig waren wir beide gleichzeitig in dem Park.“ Spider stand auf, klopfte sich den Sand von der Kleidung und schlich mit wachsamem Blick zum Eingang des Spielplatzes. „Wo gehst du hin?“, fragte er ihn, verwundert über sein plötzliches Verschwinden. „Es wird langsam Zeit, nach Hause zu gehen, findest du nicht?“, antwortete Spider und drehte sich zu ihm um, nachdem er die nähere Umgebung auf eventuelle Passanten untersucht hatte. „Komm mit, ich kenne eine Abkürzung. Ich hoffe, du bist noch nicht müde?“ „Nicht wirklich... Dazu bin ich zu aufgekratzt. Wieso fragst du?“ „Wir haben noch viel vor“, grinste sein Beschützer, als Steven seinem Beispiel folgte und sich Richtung Eingang bewegte. „Wir wollten Helden werden, schon vergessen?“ „Wie könnte ich das vergessen“, erwiderte er mit demselben Grinsen, innerlich lachend über die beißende Ironie dieser Worte, bevor sie sich gemeinsam auf den Heimweg machten. Eine Ewigkeit war er auf der Suche gewesen, auf der endlosen Suche nach dem Unbekannten, nach sich selbst und nach der Erlösung, die ihn von seinen Albträumen befreien würde. Und so verkehrt dieser Abend auch gelaufen war... Er hätte nicht besser ausgehen können. Denn, egal, was von jetzt an passieren würde - er wusste, dass seine Suche nun beendet war und dass er endlich seinen verdienten Frieden finden konnte. Er und Spider. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)