Machina Mundi von Ixtli ================================================================================ 2. Satz : Marge de manœuvre ---------------------------       Der Schneehaufen, den Garma gerade erst zusammengeschoben hatte, flog in weitem Bogen auseinander, als ihn Chars Fuß traf. Wie ein Meteoritenschauer regnete er auf Garma hinab, der von dem umherfliegenden Schnee unbeeindruckt bereits den nächsten Schneeball fertig hatte und Richtung Char warf. Nur knapp sauste der Schneeball über Chars Kopf hinweg. Char spürte den Luftzug auf seinem Gesicht, den die weiße Kugel im Vorbeiflug erzeugte, so fest warf Garma. Zum Glück war dieser daneben gegangen.   "Du legst es heute echt drauf an, was, Zabi?"   Und ob er es darauf anlegte! Garma grinste bloß und statt einer Antwort flog kurzerhand der nächste Schneeball. Dieses Mal traf er sogar.   Chars Blicke folgten den Schneeballresten, die mitten auf seiner Brust klebten.   "Das", Char holte einmal tief Luft und wollte langsam bis Drei zählen, ehe er weiter sprechen konnte. Er kam bis Zwei, als ihn der vierte Schneeball an der linken Schulter traf. "Das tut dir noch leid, Zabi...", presste Char zwischen den Zähnen hervor.   "Ich denke nicht", kam die gelassene Antwort. "Du willst ja nicht, dass man sich bei dir entschuldigt."   "Du wirst noch betteln, du elender-"   "5 : 0!", jubelte Garma und riss die Arme triumphierend in die Höhe, während sich Char die Stelle rieb, an der ihn der aktuellste Schneeball getroffen hatte. Rachepläne schmiedend, wie er Garma jeden einzelnen Schneeball zurückzahlen würde, stürmte Char auf Garma los, der auch schon den nächsten Schneeball fertig hatte. Allerdings zu spät. Im nächsten Moment lag Garma auch schon auf dem Rücken im Schnee. Char hatte ihn mit Leichtigkeit zu Fall gebracht. Jetzt stürzte er sich auf ihn und rieb ihm zwei Hände voll Schnee ins Gesicht.   "Los, winsel schon um Gnade, Ratte!" Eine weitere Ladung Schnee stürzte aus Chars Händen auf Garma hinab, der sich abwechselnd hustend und lachend unter Char wand, dessen Knie sich fest in Garmas Brustkorb bohrte und ihm kaum Handlungsspielraum gewährte.   "Das ist für die Niederlage mit dem Zaku!" Die Handvoll Schnee traf Garmas Gesicht, der allerdings immer noch nicht bereit war, klein beizugeben, obwohl die Kälte bereits auf seinen Wangen brannte. Seine Hände zerrten an Chars Jackenärmeln, was nicht viel nutzte, außer dass Char nun mit einer Hand Garmas Arme auf Abstand hielt und mit der anderen wahllos so viel Schnee wie möglich zusammen schob, wie es ihm mit seiner einzigen freien Hand möglich war.   Garma schloss die Augen, als die Schneeflut über ihm zusammenbrach.   "Und das ist dafür, dass du dich entschuldigt hast!"   Mit jeder Handvoll Schnee, die ihm Char mit Genugtuung ins Gesicht rieb, lernte Garma dazu. Char war vielleicht in der besseren Position, aber Garma besaß etwas weitaus Effektiveres: den Mut der Verzweifelten. Und Char wurde vor lauter Eifer unvorsichtig. Er ließ Garmas Hände los und schob wieder beidhändig allen Schnee zusammen, den er erreichen konnte.   Die dritte Ladung ging schon daneben und noch ehe Char den Grund für die vierte Ladung aussprechen konnte – "Das ist dafür, dass du mich nie ausreden lässt!" - schrie er heiser auf und stand innerhalb weniger Sekundenbruchteilen wieder auf seinen eigenen Füßen.   Heilfroh über die zurückgewonnene Freiheit, normal atmen zu können, lachte Garma lauthals über den unfreiwilligen Tanz, den Char gerade vor ihm aufführte.   Fluchend schüttelte sich Char den Schnee aus den Kleidern, den ihm Garma unter den Pullover geschoben hatte. Doch die eiskalten Klumpen rutschten nur noch tiefer in seine Kleidung hinein. "Ich dreh dir deinen dürren Hals um, wenn ich dich kriege!", schrie Char hinter dem flüchtenden Garma her, der ein paar Schritte davongelaufen war und sich dann wieder zu ihm umdrehte, die Hände in die Taille stützte und Char herausfordernd ansah. "Brauchst du dafür erst den Zaku oder schaffst du es ohne?"   "Du Aas!", brüllte Char und stürzte sich auf Garma, der ihm geschickt auswich, während er selbst auf einer eisigen Stelle unter dem Schnee den Halt verlor.   "Genauso sah das eben auch aus", spielte Garma lachend auf Chars fehlgeschlagenes Manöver mit seinem Zaku an, als der Suit wegrutschte, noch ehe er seinen Gegner treffen konnte.   Char spürte, wie die Wut und Scham über den widerspenstigen Zaku und seine missglückte Taktik wieder in seinem Bauch zu rumoren begannen, doch dieses Mal fing er sich schneller. "Schön, du hast gewonnen, Zabi."   Garma lächelte matt und erweiterte vorsorglich den Abstand zwischen ihnen beiden, um ein paar Schritte. "Als ob ich darauf reinfallen würde."   "Du doch nicht..." Chars breites Grinsen entblößte seine Zähne. Vorsichtig wie eine Katze setzte er sich in Bewegung und schlenderte möglichst gelassen auf Garma zu, in dem die Zweifel an Chars geänderter Strategie nagten. 'Wenn man dir nicht immer alles im Gesicht ablesen könnte, wärst du der perfekte Soldat', dachte Char an Garma adressiert, dessen Blicke zwischen Chars Händen, die er vor Garmas Blicken hinter seinem Rücken verborgen hielt, und dessen nun mildem Lächeln hin und her huschten. Seine Hände waren leer und wenn Garma mal ein paar Sekunden nachdachte, wüsste er, dass Char überhaupt keine Zeit oder die Gelegenheit gehabt hatte, Schnee für einen Schneeball zu sammeln. Aber so war es natürlich unterhaltsamer. Für Char.     "Gehen wir zurück?" Chars Frage klang zittrig. Es war mittlerweile dunkel geworden und sie standen unter einer der Lampen, die den Vorplatz des Hangars mit ihren sterilen grellweißen Lichtern überfluteten. "Ist das ein Friedensangebot?" Lachend strich sich Garma die nassen Haarsträhnen aus dem Gesicht. Seine Wangen waren eiskalt und kribbelten taub, aber das war ihm der Spaß gerade wert gewesen. "Allerhöchstens Waffenruhe", knurrte Char heiser. "Ist mir auch recht." Garma bückte sich und zog einen seiner steifgefrorenen Handschuhe aus dem Schnee, den er während ihres kleinen, völlig undisziplinierten Gefechts verloren hatte. Er klopfte den Schnee ab und blickte sich auf dem Vorplatz um. Hoffentlich schneite es heute Nacht wieder. Wenn nicht, würde man sich morgen früh sicher über die ganzen Spuren im Schnee um den Hangar herum wundern. Garma grinste, als er an das Schlachtfeld dachte, das sie beide hier hinterließen. Ein Schlachtfeld aus Fußspuren, die sich in großen und kleinen sich kreuzenden Zirkeln durch den Schnee zogen, als wäre eine ganze Armee verwirrt im Kreis umher gewandert, ohne zu wissen, wohin sie mussten. "Komm schon, Zabi, schlaf nicht ein." Ein Schlag gegen seine Schulter riss Garma aus den Gedanken.   Garma schlang beide Arme um seine Brust und rieb sich den unterkühlten Körper unter seiner völlig durchnässten Kleidung. Langsam, als würden sie gerade erst aus dem Tiefschlaf erwachen, wich die Kälte aus seinen Armen und ein unangenehmes Kribbeln trat an deren Stelle. Müde trottete er neben Char in Richtung Haupthaus her.   Char hatte Schneeklumpen in den hellblonden Haaren, die in der Kälte zu eisigen Brocken gefroren waren. Seine Ohren waren nahezu nicht mehr existent. Jedenfalls spürte er sie nicht mehr. Dafür war die Wunde auf seiner Wange wieder aufgerissen und blutete, wie er an dem sachten Kitzeln merkte, das seine Wange hinab tänzelte. Ohne eine Miene zu verziehen, wischte er mit dem Handrücken den störenden Blutstropfen weg.   Garma zwang sich dazu, den Blick geradeaus zu halten. Er hatte sehr wohl Chars Handbewegung aus dem Augenwinkel heraus bemerkt, mit der er sich über die verletzte Wange gestrichen hatte, aber ein zweites Mal würde er nicht den Fehler machen, sich dafür zu entschuldigen, auch wenn es ihm fast den Hals zuschnürte.     Die langen tristen Flure des Wohnheims lagen wie ausgestorben vor ihnen. Die meisten Schüler der Zeon-Militärakademie waren bereits für die nahenden Feiertage zu ihren Familien aufgebrochen und würden vor Silvester auch nicht mehr hierher zurückkehren. Auf ihrer Etage waren Char und Garma der klägliche Rest übriggebliebener Schüler. Die drei anderen waren heute morgen abgereist.   Ihre nassen Schuhe quietschten auf dem auf Hochglanz polierten Linoleum. Die letzten Schneeklumpen lösten sich von ihren Sohlen und hinterließen bestens sichtbar zwei Spuren, die, wenn man ihnen folgte, direkt zu ihrer Unterkunft führen würden. Wäre noch jemand vom Lehrpersonal oder einer der älteren Schüler auf ihrem Stock, hätten sie dafür schon längst eine Rüge kassiert. Inklusive Wischmopp, um den Schmutz auf der Stelle zu entfernen. "Hallo!" Char zuckte kurz zusammen, als Garma neben ihm so plötzlich in die Todesstille rief. "Spinnst du?", zischte er seinen grinsenden Nebenmann an, der nun die Hände wie einen Trichter um seinen Mund legte. "Wir sind viel zu spät zurück!" Garmas amüsierte Stimme wurde dumpf von den schmucklosen Wänden zurückgeworfen. "Und der Flur könnte auch mal wieder gewischt werden!" Spätestens jetzt hätten sich während des Normalbetriebs bereits zehn Türen geöffnet und aus mindestens acht hätte man ihnen irgendwelche Disziplinarmaßnahmen angedroht. Doch alles blieb wie ausgestorben. Char schüttelte den Kopf und schwieg. Garma tat es ihm gleich, aber er wirkte nur äußerlich so still, was Char mit jedem Meter, den sie nun wieder schweigend nebeneinander zurücklegten, nervöser machte. Garma machte den Eindruck, als ob er ihm etwas sagen wollte. Ständig sah er heimlich unter den langen Strähnen seiner Haare zu Char hinüber, öffnete kurz den Mund und überlegte es sich dann doch wieder anders. So ging das, bis sich die Tür ihrer Unterkunft mit einem Zischen öffnete und hinter ihnen schloss. Es ließ erst nach, als Char in ihrem winzigen Badezimmer verschwand.     Die kaltweiße Lampe über dem Waschbecken ließ Chars Konturen seltsam verwischt und überblendet aussehen. Er sah aus wie er sich heute fühlte: wie ein Geist. Alles war bleich an ihm, angefangen bei den Haaren, seiner Haut, bis hin zu den blauen Augen, die ausdruckslos sein Spiegelbild anstarrten. Bis auf die dünne, dunkle Linie auf seiner Wange, die wie eine in der Kälte zu Eis erstarrte Tränenspur wirkte und das gespenstisch bleiche Gesamtbild durchbrach. Char reckte den Hals, um zu sehen, wohin das getrocknete Rinnsal führte. Er zupfte am Kragen seines Pullovers, der dort, wo das Blut hineingelaufen war, steif von dem verkrusteten Blut war. Das kalte Wasser, das sich Char mit beiden Händen ins Gesicht schöpfte, löste das Blut auf und nach ein paar Sekunden war nichts mehr davon übrig. Das erste Mal sah er die nun gesäuberte Wunde, die darunter zum Vorschein kam. Dünn zog sie sich über seinen Wangenknochen. Eine hellrot glänzende Schlucht inmitten seines blassen Gesichts. Die hatte er verdient, dachte Char unbeeindruckt. Wer so unvorbereitet in einen Kampf ging und denkt unverwundbar zu sein, nur weil der zur Übung zugeteilte Gegner jemand war, mit dem man sich gut verstand, hatte es einfach nicht anders verdient, als so sichtbar geschlagen zu werden. Eine ungehaltene Falte bildete sich nun wie ein Graben zwischen seinen Augenbrauen. Ein Graben, der mit jedem Wiederholen des Geschehenen immer tiefer wurde. Und Char wusste, was am Grunde dieses Grabens im Dunkeln lauerte: Garma. Garma und dessen Auffassung von Freundschaft, die so verwirrend altruistisch war und nichts von dieser militärisch taktischen Loyalität besaß, die man ihnen hier einzutrichtern bemüht war und die Char wegen ihrer kühlen, aber gut zu berechnenden Distanz so schätzte. Char wandte die Blicke von seinem eigenen Spiegelbild ab. Hoffentlich schlief Garma schon, wenn er ins Bett ging.     Garma lag bäuchlings auf seinem Bett. Die Arme unter seinem Kopfkissen ruhend, sah er still zu, wie Chars schwarze Silhouette nahezu lautlos aus dem Bad kam und zu seinem Bett hinüber schwebte. Die Matratze seufzte leise, als sich Char auf ihr niederließ. Ohne auch nur einen einzigen Blick in Richtung Garma zu werfen, drehte er diesem direkt den Rücken zu und zog sich die Decke bis zu den Schultern hoch.   Garma schloss die Augen. Es war so einfach, alles auszublenden. Mit geschlossenen Augen sah man wenigstens nicht mehr diese furchtbar kahle Umgebung, die auf das Nötigste beschränkt war, wie man es an einem Ort, an dem Disziplin gelehrt wurde, auch erwarten sollte. Am Anfang war ihm die Eingewöhnung hier richtig schwer gefallen. Alles stand im krassen Gegensatz zu seinem bis dahin gewohnten Umfeld. Hier hatte er sich alles, was er haben oder sein wollte, erkämpfen und verdienen müssen. Die Begegnung mit Char war damals das beste, was ihm passieren konnte. Char war wie eine Konstante in dieser neuen Umgebung. Und er war ehrgeizig und stur und vor allem schlau genug, sich an jede Situation blitzschnell anzupassen, wenn sie ihm sinnvoll erschien. Und er selbst schaffte es nicht einmal, eine simple Frage zu stellen. Garma vergrub das Gesicht in seinem Kissen und seufzte in dessen dichtes Gewebe.   Char, der kurz davor gewesen war, endlich einzuschlafen, öffnete wieder seine Augen und horchte in die Stille ihres Zimmers, die kurz davor von Garmas kaum hörbarer Frage durchbrochen worden war. "Ob ich was kann?", hakte Char verwirrt nach. "Meine Familie gibt zu Weihnachten einen Empfang." "Deine Familie feiert Weihnachten?", spottete Char, bei dem nun alle Müdigkeit verflogen war. Er musste zugeben, ehrlich überrascht zu sein. Bemüht, seiner Stimme einen einigermaßen festen Klang zu geben, stellte Garma auch den Rest seiner Bitte. "Kommst- also kommst du? Ich kann die echt nicht alleine ertragen." Char ließ die Frage unbeantwortet. Er lag auf seiner verletzten Seite, einen Arm unter seinem Kopf und sah aus dem Fenster. Es hatte wieder zu schneien begonnen. Unhörbar von hier drinnen, rieselten draußen die Schneeflocken zu Boden und bedeckten ihre Fußspuren vor dem Hangar. Außer ihnen beiden würde nie jemand anderes von diesem kurzen Moment von so etwas wie unbekümmerter Freiheit erfahren. Die Wunde auf Chars Wange pochte in einem Rhythmus, der ihn davon abhielt, Garma zu ignorieren und einfach einzuschlafen, und auch seine malträtierten Rippen meldeten sich, dass er sich doch bitte auf die andere, die unverletzte Körperseite legen möge - doch dann musste er Garma anschauen, dessen verzweifelte Blicke er ohnehin schon in seinem Rücken spüren konnte. Er konnte Garmas Familie auch nicht ertragen...   Still sah Garma auf den bewegungslosen Schemen seines Freundes. War Char eingeschlafen? "Es ist nichts offizielles", setzte Garma entschuldigend an. "Sie feiern nur sich selbst und erwarten, dass ich das mitspiele." Es sollte heiterer klingen, als es das in Wirklichkeit tat. "Wenn du kommst, falle ich weniger auf." Der Schemen im Nachbarbett bebte, als würde Char lachen. Garma verbuchte das als Erfolg. Zumindest war es keine Niederlage. "Außerdem könntest du dann meinem Vater gleich selbst sagen, dass du ihn als Hund und mich als seinen Hundesohn bezeichnest." Es sollte wie ein Witz klingen, doch Char verstand sofort und er war froh, dass sie sich dabei nicht bei Tageslicht gegenüber standen. Das war das ehrlichste, was Garma seit langem von sich gegeben hatte. Er hatte es geschafft, Char zu überrumpeln. Ganz ohne Zaku.   Garmas leises Lachen kroch wie ein Raubtier aus dem Schatten auf Char zu, dem noch immer schockiert der Atem stockte. Char drehte sich auf seine unverletzte Körperseite, was sich augenblicklich angenehmer anfühlte. Selbst im Dunkeln konnte er Garmas triumphierendes Grinsen erkennen. "Hörst du endlich auf zu quatschen, wenn ich Ja sage?" "Klar", kam die prompte Antwort. "Schön", murmelte Char ausdruckslos. Er drehte sich auf den Rücken und schloss die Augen. Er legte sicher keinen Wert auf das nahende Weihnachten oder die Zabis. Und die sicher nicht auf ihn. Alle anderen Gedanken über seine Beweggründe verbat er sich. Erst recht den, es vielleicht doch für Garma zu tun. Vielleicht, um den Nachhall der heutigen Schneeballschlacht noch ein bisschen länger am Leben zu halten. Den Zaku absichtlich deaktivieren, um seinen Gegner in falscher Sicherheit zu wiegen? Char konnte nicht anders, als Garmas, wenn auch falsche Vermutung eine gewisse Anerkennung zukommen zu lassen. Auf die Idee hätte er wirklich selbst kommen können.     Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)