Machina Mundi von Ixtli ================================================================================ 4. Satz : La Terre vue du ciel ------------------------------     Chars Hände umklammerten verkrampft die Armlehnen seines Stuhls. Die Nerven in seinen Beinen zuckten, bereit, zu flüchten, nur seine eiskalten Finger wollten noch nicht gehorchen und weigerten sich beharrlich, die antike Stuhllehne loszulassen. Das hier war ein Alptraum. Nur dass hier kein blasses Licht den Notausgang markierte. Char lachte innerlich auf. Genau! Das hier war nichts anderes als ein Manöver. Es war das gleiche, wie damals, als er in seinem deaktivierten Suit gesessen hatte, ohne zu wissen, was außen vor sich ging. Und da hatte er noch weniger gesehen, als jetzt, wo er seine Gegner alle gut sichtbar vor sich hatte. Char spürte, wie sich seine Kehle entspannte und der Luftstrom seine Lungen mit frischem, wohltuenden Sauerstoff füllte.   "Ja, das stimmt", bestätigte Char Garmas Erklärung zu dem fehlgeschlagenen Übungsmanöver. Er sah Degwin fest in die Augen. "Und Garma hat gewonnen." Das erste Mal blinzelte der Alte. Er wandte sich seinem jüngsten Sohn zu, ein leichtes, zufriedenes Lächeln auf den Lippen. "Tatsächlich?" Garma spürte, wie das Blut in seine Wangen schoss. Er sah Chars amüsierten Gesichtsausdruck, der froh war, die Aufmerksamkeit von sich abgelenkt zu haben. Dafür hatte Garma jetzt alle gespannten Blicke auf sich gerichtet. Er nickte. "Die Verletzungen hätten wir nicht, wenn die Zakus nicht schon schrottreif wären." Das war nur die halbe Wahrheit und sie beide, er und Char, wussten das. Der Einzige, der wenn überhaupt irgendwelche Wunden davon getragen hätte, wäre Garma gewesen. Er hatte Chars Griff gesehen, als der versucht hatte, das Maschinengewehr des Zakus zu ziehen. Garma sah zu Char, der ihm schräg gegenüber saß und innerhalb weniger Sekundenbruchteilen die, wenn auch winzige Veränderung in der Mimik des jüngsten Zabis bemerkte. Im Gegensatz zu den anderen, die darauf warteten, dass er die Anekdote weiter ausführte. Das knisternde Feuer des Kamins hauchte Chars heller Haut ein bisschen Leben ein, auch wenn er sich alles andere als lebendig fühlte, und das hatte er Garma zu verdanken. Garmas seltsam abwesend wirkenden Blicken, die ihn kurz streiften und gleich weiter wanderten. Char setzte sich etwas auf.   Ein kalter Schauer lief Garmas Rücken hinab, als er in das milde dreinschauende Gesicht seines Vaters blickte. Wären die Zakus tatsächlich mit Waffen voll ausgerüstet gewesen, wären nach ihrem Übungsmanöver von ihm nur noch blutige Fetzen übrig geblieben. Garmas Magen zog sich schmerzhaft eng zusammen, als sich diese Erkenntnis in ihm manifestierte. Es wäre nichts weiter als verbranntes Fleisch und ein paar blutige Knochensplitter von ihm mehr übrig, die irgendein armes Schwein hätte einsammeln und an seine Familie schicken müssen. Und sie würden hier heute auch keinen Empfang zum anstehenden Weihnachtsfest feiern - Nein! Das hier wäre beinahe seine Beerdigung geworden. Eigentlich war er ein Toter, der unter Lebenden saß - und Char wäre dafür verantwortlich gewesen. Ein gequälter Laut entwich Garmas Kehle. Wäre sein Körper nicht so verkrampft, hätte er laut gelacht. Die Geräusche um ihn herum vermischten sich zu einem alles übertönenden statischen Rauschen, das unangenehm in seinen Ohren zu schmerzen begann. Degwin, der nichts von dem ahnte, was im Kopf seines Jüngsten vor sich ging, nickte nun zu ihrem Gast hin, der sich bis jetzt höflich im Hintergrund gehalten hatte. "Elliot kann das sicher gut verstehen", erklärte das Oberhaupt der Zabis. Seine Hand schwenkte zu dem Zeonic-Ingenieur hin, der bestätigend nickte. Alle bis auf Char lauschten nun Elliot Rem, der über seine eigenen, ganz und gar nicht eleganten Testmanöver mit den ersten Zakus berichtete, was die Runde mehr als einmal erheiterte.   Char sah zu Garma, der ihn noch immer reglos anstarrte, ohne wirklich auf etwas fokussiert zu sein. Ganz so, als würde er durch ihn hindurchschauen - oder in ihn hinein, was ihm langsam unangenehm wurde. "Habt ihr irgendwelche Verbesserungsvorschläge?" Char brauchte kurz, bis er verstand, dass Elliot Rem ihn und Garma direkt angesprochen hatte. "Die Gurte", sprach Char das erste an, was ihm in den Sinn kam. "Die Gurte könnte man vielleicht noch mal überarbeiten. Die sind wohl eine Schwachstelle." Wäre er nicht aus dem Sitz gerutscht und gegen die Konsole geknallt, wer wusste, wie das Duell dann ausgegangen wäre... "Ist notiert", erwiderte Elliot Rem zur Belustigung aller - oder fast aller. "Seid dankbar, dass ihr überhaupt die Möglichkeit habt, in einigermaßen funktionierenden Suits zu üben; wenn auch nur am Boden." Kycilias spitze Bemerkung riss Garma endlich aus seiner Trance. Seine Mundwinkel hoben sich zu einem Lächeln, wie Char fast schon erleichtert bemerkte, wenn dieses Lächeln nicht gerade wie das gefletschte Gebiss eines Raubtiers gewirkt hätte. "Sind wir doch", entgegnete Garma in einem so spöttischen Tonfall, bei dem Kycilias Lippen immer schmäler wurden. "Wirklich entschieden wurde das Manöver ja sowieso am Boden. Mit Schneebällen." Char lachte ungewollt auf und bemühte sich gleich, es wie ein Husten klingen zu lassen, bis ihm die Tränen in die Augen stiegen und er sich von Garmas breitem Lächeln abwenden musste. Kycilia verdrehte die Augen und beschloss, ab sofort ihren kleinen Bruder zu ignorieren.   Die Unterhaltung wurde zunehmend politischer und bald darauf entbrannte eine Diskussion, die schließlich von jemandem mit den Worten unterbrochen wurde, dass dafür auch noch nach dem Essen Zeit wäre.     Mit Entsetzen sah Char auf die Servierplatte, die man vor ihm auf dem übertrieben pompös gedeckten Tisch abstellte. In kauernder Stellung lag dort ein goldbraun gerösteter Hase mitsamt Kopf in einem Bett aus frischem Salat. Er wirkte, als würde er im nächsten Moment aufspringen und davonrennen. Der verdammte Hase hatte sogar eine Karotte im Maul und man konnte die kleinen scharfen Zähne erkennen, die das orangefarbene Wurzelgemüse hielten. Mit leerem Blick starrte der arme Hase Char aus seinen eingesackten Augenhöhlen an. Char fielen die von der Decke hängenden Artgenossen des Hasen ein und ihm verging wie von Garma prophezeit der Appetit.   Einer der Bediensteten, der Chars Blicke zu dem Hasen wohl fälschlicherweise so deutete, dass er davon essen wollte, machte sich daran, ihm eine Keule abzutrennen. Widerstandslos glitt das Messer durch das feuchte Fleisch. Hellroter Bratensaft floss aus dem dampfenden rosa Fleisch und versickerte zwischen den Salatblättern. Char drehte es den Magen um, als er mit Horror daran dachte, dass er sich gleich eine Gabel von dem Fleisch in den Mund schieben sollte und so tun musste, als ob es ihm schmeckte. Vielleicht fiel es nicht auf, wenn er sich immer nur wenige Millimeter davon abtrennte und zusammen mit so viel Beilage wie möglich aß? Vielleicht könnte er die Keule auch aus Versehen vom Teller rutschen lassen? Hatten die Zabis Hunde? Katzen? Irgendwas? Char seufzte. Die Keule schwebte bereits von einer silbernen Zange gehalten über seinem Teller und ihm blieben noch exakt zwei Sekunden, bis sie auf seinem Teller landen würde. Erneut kam ihm Garma zu Hilfe, der flink seinen eigenen Teller über den von Char hielt, so dass die Hasenkeule darauf fiel. "Hast du kein Benehmen?", wurde der jüngste Zabi prompt von seiner Schwester gerügt. "Warte gefälligst, bis du an der Reihe bist!" "Tut mir leid, ich werde es mir merken", murmelte Garma gespielt reumütig. "Ich denke, er nimmt lieber etwas von dem Fisch", wies er den Bediensteten an, der sich entschuldigend daran machte, den Auftrag auszuführen.   Während sich alle nach dem Essen erneut auf den Weg ins Kaminzimmer machten, schlenderten Garma und Char lustlos hinter den Erwachsenen her. "Komm mit." Unbemerkt von seiner Familie schob Garma Char am Kaminzimmer vorbei.   Nachdenklich folgt Char Garma durch den langen dunklen Flur, dessen einziger Schmuck die holzvertäfelten Wände waren, die alles wie das Innere eines Sargs wirken ließen. Der Teppich schluckte ihre Schritte als existierten sie überhaupt nicht in dieser Welt und auf einmal fiel Char ein, was ihn die ganze Zeit schon an dem Haus störte. Es gab keinen Weihnachtsschmuck, wie man erwarten sollte. Alles war kühl und ablehnend, sowohl seinen Bewohnern, aber vor allem seinen Gästen gegenüber. Nichts deutete auf das kommende Weihnachtsfest hin. Keine frischen Tannenzweige in den hohen Vasen, keine von den unzähligen Kerzen, die im Keller gehortet wurden. Die Zabis feierten wohl tatsächlich nur sich selbst, genau wie Garma gesagt hatte. Das einzig festlich rote hier waren die blutigen Hasen im Keller.   Am Ende einer Treppe, die wohl nach oben in die privaten Räume führte, hielt Garma kurz an. "Ich bin gespannt, wie dir dein Zimmer gefällt." "Warte." Char hatte nach Garmas Hand gegriffen, der schon auf der untersten Stufe stand und sich nun zu ihm umwandte. Abwartend sah er zu Char herab, der am Fuße der Treppe stehengeblieben war und seinen Blicken auswich. Er hatte es schon geahnt, dass Char mit dem Theater, das seine Familie ständig um sich selbst veranstaltete, überfordert war. "Willst du schon gehen?", durchbrach Garma die angespannte Stille. Ohne aufzublicken schüttelte Char den Kopf. "Nur nach draußen." Garma lächelte erleichtert.       "Viel besser", erklärte Char fröhlich, als sie durch den verschneiten Garten des Anwesens gingen. Er nahm einen tiefen Atemzug der winterlich kalten Luft und stieß ihn gleich darauf wieder aus. "Wie hältst du das hier nur aus so lebendig begraben in dieser elenden Gruft?", neckte er Garma, der wusste, dass Char nicht unbedingt das Haus alleine meinte. "Ich kenne es nicht anders." Char legte den Kopf in den Nacken. Über ihnen war der Himmel klar und blau. Wenn er ehrlich war, liebte er die Erde, ihre Atmosphäre. Und auch wenn die Kolonien ihr immer ähnlicher wurden, sie blieben Imitationen von etwas, was die Natur von ganz alleine in vollkommener Perfektion erschaffen hatte. Nichts konnte die Faszination nachahmen, die er fühlte, wenn sie sich im Landeanflug auf diesen wunderschönen Planeten befanden, wenn sie die Wolkendecke durchbrachen und ein Kontinent sich unter ihnen ausbreitete, ohne dass man Spuren von Menschen sehen konnte, oder den Dingen, die sie sich gegenseitig antaten. Und er mochte ihre Gravitation. Ihm gefiel die Vorstellung dieser Anziehung als tatsächlich spürbar. Als würde die Erde einen bei den Händen nehmen und an sich heranziehen, wie man gute Freunde begrüßte. Char schloss die Augen und ließ einfach nur die Umgebung auf sich wirken, der leichte Wind, der über sein Gesicht strich und der schläfrige Abendgesang der Vögel. Das erste Mal an diesem Tag fühlte er sich wirklich befreit.   "Ich habe noch was für dich." Char hielt die Augen weiter geschlossen und versuchte Garma auszublenden. "Was?" "Ein Weihnachtsgeschenk, was sonst." Er hörte es neben sich rascheln und dann drückte ihm Garma etwas in die Hand. Char atmete entnervt aus und öffnete gezwungenermaßen die Augen. "Du erwartest jetzt hoffentlich nicht-" Der Rest des Satzes blieb ihm im Hals stecken, als er sah, was ihm Garma tatsächlich in die Hand gelegt hatte. Lachend wich Garma der Karotte aus, die er dem geschmorten Hasen aus dem Maul genommen, eingesteckt und Char als Geschenk überreicht hatte, und die nun von Chars Flüchen begleitet neben ihm im Schnee versank. "Ich bring dich um!", schrie Char und seine Stimme hallte im Duett mit Garmas lautem Lachen durch die kalte Winterluft.       Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)