Allein zu zweit… von Nightprincess (…oder doch zu dritt?) ================================================================================ Kapitel 1: An Tagen wie heute ----------------------------- ~~~~~ 1. An Tagen wie heute ~~~~~ Ich sitze an meinem uralten Laptop und erledige etwas Papierkram und es ist wieder einer dieser Tage, an denen ich meiner Tochter nicht in die Augen schauen kann. Ihre hellblauen Augen irritieren mich zu sehr. Sie kann nichts dafür, dass sie nicht meine leibliche Tochter ist, es ist nicht ihre Schuld, dass Mai sich in einer einzigen Nacht nicht an ihr Treueversprechen gehalten hat. Eine Nacht, die für uns alle Folgen hatte, die wir nicht einkalkuliert hatten, als wir uns verlobten und Pläne für die Hochzeit machten. Eine Nacht, die alles veränderte, einfach alles. An Tagen wie heute fühle ich mich hilflos und allein, traurig und irgendwie ausgepowert. „Papa? Geht es Dir nicht gut?“ Joanne. Meine jetzt 6jährige Tochter, mein Lebenssinn und mein Fluch. „Ist schon gut, Joanne, ich hab nur wieder diese Kopfschmerzen, geht gleich wieder vorbei. Ist Mama schon wieder zurück?“ Es ist schwer, sie anzulügen, jeden Tag, wenn ich an ihren Vater denke, an ihren leiblichen Vater. Aber ich muss es tun, ich hab es Mai versprochen, ich hab es ihr versprochen und ich bin ein Mann, der seine Versprechen immer hält, ganz egal, was für einen Preis ich dafür zahlen muss. „Ja, sie ist grade gekommen, ich soll Dich zum Abendessen holen, es gibt Tiefkühlpizza.“ Wir sind nicht sehr reich und doch kommen wir immer irgendwie zurecht. Tiefkühlpizza aus dem Supermarkt ist für uns schon purer Luxus. Irgendetwas Positives muss passiert sein, dass Mai sich für eine Tiefkühlpizza zum Abendessen entschieden hat, sonst gibt es immer nur etwas Toastbrot mit Wurst und etwas Tee zum Runterspülen. „Sag ihr, dass ich in wenigen Augenblicken dort bin.“ Joanne nickt lächelnd und gibt mir einen kleinen Kuss auf die Wange. „Aber nicht mehr traurig sein, ja?“ Ich streich ihr kurz durch ihre langen, blonden Haare. „Geh jetzt, ich bin gleich soweit.“ Sie geht und ich seufze leise, während ich den alten Laptop herunterfahre. Irgendwie weiß Joanne immer ganz genau, wann es mir schlecht geht, sie hat dieses gewisse Etwas, mit dem sie direkt in mein Herz und durch meine Lügen sehen kann. Ich werfe einen kurzen Blick auf die Papiere auf meinem kleinen Schreibtisch. Rechnungen, Mahnungen, Schulden in Massen und kein Ende in Sicht. Selbst meine kleine Firma kann uns nicht aus den roten Zahlen ziehen. Ich bin ein Versager, so wie meine Mutter ständig behauptet hat. Ein Versager wie mein Vater, der zum Trunkenbold geworden ist, bevor er sich mit seinem alten Auto auf der Autobahn mit 180 Sachen überschlagen hat und gegen die Leitplanke gedonnert ist. Ohne Mai und ihrem gut bezahlten Job im Casino Domino Black Jack würden wir längst auf der Straße sitzen, denn von den Einnahmen meines Ein-Mann-Computer-Notdienstes können wir uns nicht mal die Miete für diese 3 1/2-Zimmer-Wohnung leisten. Ich seufze niedergeschlagen. Warum Mai mich noch nicht verlassen hat, ist mir ein einziges Rätsel, sie könnte doch jeden Typen haben den sie will, bestes Beispiel dafür ist doch Joanne. Warum hat sie sich nicht für Joannes leiblichen Vater entschieden, warum ist sie bei mir geblieben, wo ich ihr doch überhaupt nichts bieten kann? Ob es an seiner damaligen Frau gelegen hat? Wahrscheinlich. Mich hatte damals schon gewundert, dass er ungefähr zu der Zeit als Mai schwanger wurde, die Scheidung eingereicht hat, so dass aus seiner Frau plötzlich seine Ex-Frau wurde. Die Presse hat damals verkündet, dass sie ihn betrogen hat, dabei war es doch wohl eher umgekehrt, oder beruhte der Betrug etwa auf Gegenseitigkeit? Hat sie ihn ebenfalls betrogen und war sein Betrug die Rache für ihren Betrug? Das werde ich wohl nie erfahren, weil ich ihn nie danach fragen werde, denn sonst müsste ich ihm erzählen, dass ich seit 6 Jahren sein Kind großziehe. Mit einem Kopfschütteln gehe ich in Richtung Küche, wo ich eine aufgeregte Joanne und eine lächelnde Mai vorfinde. „Ich hab gehört, es gibt Pizza, gibt es irgendwas zum Feiern?“ Mai dreht sich lächelnd zu mir um und nickt hocherfreut. „Ich wurde befördert! Ich darf jetzt an dem Spieltisch der ganz Reichen arbeiten und ich verdien fast doppelt soviel.“ Ich blinzle erstaunt. „Das ist ja großartig!“ Das ist es wirklich, also warum spüre ich so ein schmerzhaftes Stechen in meiner Brust? Ob es die Tatsache ist, dass ich dann einen noch viel größeren Abstand zu Mai habe? Welcher Mann lässt sich schon gerne von seiner erfolgreichen Frau haushalten? „Ist irgendwas, Schatz?“ Ich schüttle grinsend den Kopf. „Nein, was soll sein? Ich freu mich für Dich, gratuliere. Du hast es verdient.“ Mai lächelt wieder und nickt. „Ja, das hab ich tatsächlich. Nicht jeder bekommt die Chance, den Spieltisch der Superreichen zu bedienen. Da spielen nur Leute wie Devlin und Kaiba.“ Bei dem Namen Kaiba zieht sich mein Herz erneut zusammen und Mai verstummt augenblicklich und hält sich die Hand vor den Mund. Wahrscheinlich hat sie vergessen, was sie mir angetan hat, vor gerade mal 6 Jahren. Sie hat mir nie erzählt, mit wem sie ein Verhältnis hatte, aber sie ist nicht dumm, sie weiß sicher, dass ich so meine Vermutung habe. „Ich hab noch zu tun, esst ohne mich.“ Mit schnellen Schritten verlasse ich die Küche wieder und achte nicht auf Joannes traurigen Blick. Mai kommt mir hinterher. „Joey…“ „Schon gut, Mai, lass uns nicht drüber sprechen, ich hab’s versprochen, dann halte Dich in Zukunft bitte auch dran und erwähne diesen Namen nicht mehr in meiner Gegenwart.“ Mai seufzt leise, nickt und geht zurück zur Küche, während ich mich zurück auf dem Weg in mein kleines Arbeitszimmer mache, um mich dort für die ganze Nacht einzuschließen. ~~~~~ Kapitel 2: Geschichten ---------------------- ~~~~~ 2. Geschichten ~~~~~ Seit zwei Stunden starre ich wütend auf die Uhr und laufe unruhig durch das Wohnzimmer. Mai wollte vor mehr als 2 Stunden zuhause sein. Dass sie manchmal später nachhause kommt, ist nichts Ungewöhnliches, denn manchmal können sich die Gäste des Casinos nicht von den Spieltischen losreißen, weil sie gerade eine Glücksträne haben, oder unbedingt noch eine Runde spielen wollen, um wieder alles zurückzugewinnen, was sie verloren haben. Aber in solchen Fällen ruft Mai immer bei mir an, damit wir uns keine Sorgen machen, nur dieses Mal warte ich schon seit 2 Stunden vergeblich auf einen Anruf. Ich habe versucht sie zu erreichen, leider ohne Erfolg. Ihr Handy klingelt zwar, aber es hebt niemand ab. Wo zum Teufel ist sie? „Papa?“ Barfuß und mit zerzausten Haaren steht Joanne in der Tür zum Kinderzimmer. In der Hand ihren kleinen schwarzen Drachen, den ich ihr zu ihrem zweiten Geburtstag geschenkt habe. „Süße, Du sollst doch schlafen.“ Ich nehm sie in meine Arme und trag sie zurück ins Zimmer. Schläfrig sieht sie mich an. „Ist Mama schon zurück?“ Ich seufze verzweifelt. Was soll ich ihr sagen? „Sie wird sicher gleich kommen. Und morgen früh macht sie Dir wie immer Dein Frühstück und bringt Dich in die Schule. Aber damit Du morgen auch pünktlich und putz munter aufstehen kannst, musst Du jetzt wirklich schlafen. Okay, mein Schatz?“ „Erzählst Du mir noch eine Geschichte?“ Ich fahre mir etwas unsicher durch die Haare. Geschichten erzählen war sonst immer Mais Job. Ich leg Joanne in ihr Bett zurück und nicke. „Deck Dich erstmal ordentlich zu, dann werd ich mal schaun, was mir einfällt. Es wird aber nur eine kurze Geschichte. Ja?“ Joanne lächelt erfreut und zieht sich die Bettdecke bis unter das Kinn. Ich zieh mir ihren kleinen Holzstuhl ans Bett und beginne zu erzählen. „Es war einmal ein kleiner schwarzer Drachen…“ „So wie dieser hier?“ Joanne zieht ihren schwarzen Drachen unter der Bettdecke hervor. „Genau, so wie dieser. Es war also einmal ein kleiner schwarzer Drachen. Der hatte so furchtbaren Hunger, doch es gab weit und breit nichts Brauchbares zu Essen für ihn. Nur Steine und Bäume und Gras. Drachen sind keine Vegetarier musst Du wissen…“ „Was sind Vege- … ich kann das Wort nicht aussprechen.“ Ich lächle ein wenig und streich meiner Tochter durch die Haare. „Vegetarier. Das sind Leute, die kein Fleisch essen, sondern nur Gemüse und Obst.“ „Ach so, also wie ein Hase.“ „Genau, wie ein Hase. Der kleine schwarze Drachen ist aber kein Hase, er mag also keine Bäume oder Gras und Steine würden ihm wahrscheinlich nur schwer im Magen liegen. Es ist also nichts Essbares für ihn dabei. Seit Wochen hat sich niemand mehr in seine Nähe getraut, keine Vögel, keine Mäuse, nicht einmal die sonst so fleißigen Bienen summen um ihn herum.“ „Haben denn alle Angst vor ihm?“ Ich überlege kurz. „Vielleicht. Er ist immerhin ein Drache, noch dazu ein schwarzer. Vielleicht haben wirklich alle Angst vor ihm.“ „Aber er ist doch soooo niedlich!“ Joanne knuddelt ihren schwarzen Drachen einmal kräftig. „Das ist ja auch nur ein weiches Kuscheltier! Stell Dir doch mal einen echten Drachen vor. Hättest Du vor dem nicht auch Angst?“ Meine Tochter schaut mich an und schüttelt dann energisch den Kopf. „Niemals! Ich hab vor gar nichts Angst!“ Ich versuche ein Lachen zu unterdrücken. „Das ist meine Tochter! Tapfer und stark wie ihr Vater!“ Und das ist noch nicht einmal gelogen, auch wenn der Vater nicht ich bin. Ich seufze und denke den Gedanken nicht weiter. „Es ist also niemand da und der Drache hat Hunger. Und gerade als er überlegt, ob es nicht doch besser wäre, wenn er ein paar Blätter vom Baum rupfen sollte, um sie zu essen, hört er ein leises Wimmern. Er schaut sich um und entdeckt an einem kleinen Bach ein kleines Mädchen.“ „Mit langen blonden Haaren?“ Joanne sieht mich erwartungsvoll an. „Ja. Ein sehr hübsches Mädchen mit langen blonden Haaren.“ Sie nickt zufrieden und kuschelt sich tiefer in ihr Kissen. „Der kleine schwarze Drache fliegt langsam zu dem kleinen Mädchen und weiß nicht so recht, was er tun soll. Er hat noch nie einen Menschen gesehn und daher weiß er auch nicht, ob sie essbar sind.“ Joanne keucht erschrocken auf und hält sich die Hand vor den Mund. Ich lächle beruhigend. „Das kleine Mädchen entdeckt den Drachen und flüstert panisch: ‘Bitte, lieber Drache, bitte friss mich nicht!‘ Der kleine Drache landet direkt neben dem kleinen Mädchen. ‘Ich werde Dich nicht fressen, aber nur wenn Du mir sagst, warum Du weinst.‘ Das Mädchen schnieft laut und vergräbt ihr Gesicht in ihre Hände. ‘Meine Mama ist so gemein, sie will einfach nicht verstehen, dass ich kein Fleisch essen will! Ich mag Salat und Tomaten und Äpfel und Schokolade und Torte und Möhren, aber sie sagt immer ich soll auch Würstchen essen und Hähnchenbrust und Frikadellen und Leber, aber ich will das nicht essen! Papa ist auch gemein, der sagt nur, ich soll auf Mama hören und groß und stark werden wie er!‘“ Meine Tochter nickt zustimmend, sieht aber sehr müde dabei aus. Sicher wird sie gleich einschlafen. „Der kleine schwarze Drache überlegt einen kurzen Moment. ‘Ich habe eine sehr gute Idee! Wieso nimmst Du mich nicht mit zu Dir nachhause und wenn es wieder Fleisch bei euch zum Essen gibt, dann kannst Du mir das doch geben. Ich mag Fleisch und ich habe solchen Hunger!‘ Das kleine blonde Mädchen schaut auf. ‘Aber Du bist doch viel zu groß, ich könnte Dich niemals vor meinen Eltern verstecken.‘ Der Drache lacht. ‘Das ist gar kein Problem. Ich bin kein gewöhnlicher Drache.‘ Und dann wird der kleine Drache noch viel, viel kleiner und ist am Ende nicht größer als ein kleines Kuscheltier. ‘Jetzt kannst Du mich überall mit hinnehmen und keiner wird irgendetwas merken.‘ Das kleine Mädchen lacht hocherfreut, nimmt den ganz kleinen Drachen in den Arm und geht mit ihm nachhause. Und sie lebten dort glücklich und zufrieden und vielleicht leben sie noch heute.“ Joanne schläft tief und fest, ihren kleinen schwarzen Drachen fest umklammert und mit einem süßen Lächeln im Gesicht. „Gute Nacht, meine Süße.“ „Gute Nacht, liebster Papa.“ ~~~~~ Kapitel 3: traurige Mitteilung ------------------------------ ~~~~~ 3. traurige Mitteilung ~~~~~ Es ist das Ende einer langen, schlaflosen Nacht, 7 Uhr morgens laut meiner Küchenuhr und Mai ist noch immer nicht zurück. Ich habe im Casino angerufen, dort wurde mir versichert, dass Mai fast pünktlich Feierabend gemacht hat. Ich habe es erneut mehrmals auf ihrem Handy versucht, es nahm niemand ab. Ich habe auch ein paar Bekannte von uns angerufen, in der Hoffnung sie dort anzutreffen, ohne Erfolg. Ich habe auch überlegt, bei Seto Kaiba anzurufen, weil ich kurzzeitig die böse Vermutung hatte, Mai wäre bei ihm. Ich hab es mir dann aber doch anders überlegt. Mai würde nicht noch einmal so weit gehen. Hoffe ich. Und selbst wenn, hätte sie mich vorher angerufen, um mir zumindest eine Ausrede zu liefern, warum sie nicht nachhause kommen kann. Und das hat sie nicht. Das Klingeln an meiner Wohnungstür lässt mich erschrocken zusammenzucken und eine Faust scheint sich um mein Herz zu krallen. Dieses Gefühl hatte ich zum letzten Mal, als mein Vater eines Nachts nicht nachhause gekommen ist. Damals stand am nächsten Morgen die Polizei vor meiner Tür. Ich spüre, wie meine Hände zittern. Schweißperlen sammeln sich auf meiner Stirn, als ich mit schnellen Schritten zur Tür eile und sie öffne. „Mister Joseph Wheeler?“ Ich atme auf. Es ist nicht die Polizei, es ist ein Mann in einem schwarzen Geschäftsanzug, Marke teuer. Vermutlich wieder irgendein Gerichtsvollzieher. „Ja?“ Der Mann räuspert sich und sieht irgendwie unsicher aus, was irgendwie merkwürdig ist. Ich mein, immerhin hat er den teuren Anzug an und ich steh hier nur in Jeans und T-Shirt. „Mein Name ist Robert Maynard und ich muss Ihnen eine traurige Mitteilung machen. Darf ich vielleicht hereinkommen?“ Mein Herz rutscht mir in die Hose und ich halte ihm unsicher die Tür auf. „Bitte, immer geradeaus ins Wohnzimmer.“ Der Anzugträger namens Maynard nickt und geht an mir vorbei, eine schwarze Aktentasche in der Hand. Ich schließe gedankenverloren die Tür und folge ihm. „Setzen Sie sich ruhig.“ Ich deute auf das alte Sofa in der Ecke. Herr Maynard setzt sich und kramt in seiner Aktentasche herum. Er schaut auf. „Sie sollten sich ebenfalls setzen, Herr Wheeler.“ Ich schüttle den Kopf. „Danke, ich stehe lieber.“ Innerlich bereite ich mich gerade auf das Schlimmste vor, hoffe aber, dass der Typ doch nur ein Gerichtsvollzieher ist. „Es geht um ihre Frau. Bitte, setzen Sie sich.“ Es sagt es so eindringlich und ruhig, dass ich seiner Bitte nun doch stumm folge leiste und mich auf einem kleinen Sessel niederlasse. Herr Maynard zieht aus seiner Aktentasche einen roten Hefter heraus, schlägt ihn auf und seufzt niedergeschlagen. „Gestern Nacht zwischen 22:30 und 23:00 Uhr hatte ihre Frau Mai Valentine-Wheeler einen folgenschweren Autounfall.“ Ich merke, wie ich erbleiche. Da sind sie, die Worte die ich schon einmal in ähnlicher Form gehört habe und die ich kein zweites Mal hören wollte. „Eine Gruppe äußerst leichtsinniger Jugendliche…“ Er spricht das so verbittert aus, dass ich mich frage, wie oft er schon solche Nachrichten überbringen musste. „…hat ihrer Frau auf der Stadtautobahn beim Fahrspurwechsel die Vorfahrt genommen, so dass sie beim versuchten Ausweichmanöver gegen die Leitplanke fuhr, sich in Folge dessen mit dem Auto überschlug und auf dem Dach zum Liegen kam.“ Sie ist mit Sicherheit also ziemlich schwer verletzt und liegt irgendwo in einem Krankenhaus. „Das an sich wäre vermutlich nicht wirklich dramatisch, sie war zu diesem Zeitpunkt definitiv noch am Leben.“ Moment mal! „Was meinen Sie mit war?“ Herr Maynard schaut mich mitleidig an. „Im Moment des Unfalls hat ein LKW versucht einen anderen LKW zu überholen und ist trotz sofortigem Bremsmanöver frontal in das liegende Auto gekracht. Ihre Frau hat diesen Zusammenstoß leider nicht überlebt, sie war sofort tot. Wiederbelebungsmaßnahmen waren leider erfolglos…“ Mein Herz pocht unnatürlich schnell, in meinen Ohren rauscht es unangenehm. „…Es hat eine Weile gedauert, bis die Identität ihrer Frau festgestellt werden konnte, am Unfallort herrschte ein ziemliches Chaos, was unter diesen Umständen nicht verwunderlich ist. Wir bedauern, dass wir Sie also erst jetzt informieren konnten.“ Bevor ich irgendetwas sagen oder tun kann, höre ich wie sich leise Schritte nähern. „Papa?“ Joanne. Jetzt ist es Herr Maynard, der erbleicht. „Sie haben eine Tochter?“ Ich nicke, zu mehr bin gerade nicht in der Lage, als ich mich mit pochendem Herzen erhebe und meine Tochter in die Arme schließe, als sie auf mich zukommt. „Guten Morgen, meine Süße. Hast Du gut geschlafen?“ Ich versuche ganz normal zu lächeln, ich weiß nicht, ob mir das gelingt. „Ja! Ich hab von schwarzen Drachen geträumt, da waren ganz viele. Große und kleine und sogar ganz winzige.“ Sie strahlt und freut sich, als gäbe es keine schlimmen Dinge auf dieser Welt. Als gäbe es keine leichtsinnigen Jugendliche, keine Leitplanken, keine LKWs und vor allem … keine tote Mama. „Mach Dich fertig für die Schule, ich mach Dir gleich Dein Frühstück.“ Ich wuschle durch ihr blondes Haar und setz sie auf dem Boden ab. Sie schaut fragend an mir hoch. „Wo ist Mama? Ich dachte, sie macht das Frühstück?“ Ich schlucke und schließe sekundenlang die Augen. „Mama hatte einen…“ Ich werfe einen kurzen Blick auf Herr Maynard, der noch immer so blass aussieht, wie ich mich fühle. „…wichtigen Termin, deshalb musste sie heute Morgen schon sehr früh weg, deswegen werde ich Dir heute das Frühstück machen und Dich in die Schule bringen. Ist das okay für Dich?“ Joanne strahlt mich an, ihre hellblauen Augen scheinen zu funkeln. „Ja! Papa bringt mich in die Schule!“ Hüpfend und lachend macht sie sich auf dem Weg zurück in ihr Zimmer und ich sinke tieftraurig in den Sessel zurück. Sie weiß nicht, dass ich sie ab heute jeden Tag in die Schule bringen werde, weil ihre Mama es nie wieder tun kann. „Wie soll ich ihr das nur erklären?“ ~~~~~ Kapitel 4: Tag danach --------------------- ~~~~~ 4. Tag danach ~~~~~ Es ist Samstagmorgen. Es ist der Tag danach. Der Tag nach dem Tag, an dem mein Leben zum dritten Mal in Schutt und Asche gelegt wurde. Das erste Mal hat mich meine Mutter verlassen und hat meine Schwester mitgenommen, das zweite Mal hat mich mein Vater verlassen und dieses Mal ist es meine Frau, die mich verlassen hat. Meine Mutter und meine Schwester kann ich wiedersehn, wenn ich es will, meinen Vater und meine Frau jedoch nicht. Schweigend sitze ich vor dem Bett meiner Tochter und streiche ihr beruhigend durchs Haar. Ihre Augen sind gerötet und Tränen sammeln sich in den Augenwinkeln, sie schnieft leise vor sich hin und murmelt immer wieder: Mama und jedes Mal bricht es mir fast das Herz. Als ich sie gestern von der Schule geholt habe und sie erneut nach ihrer Mama fragte, hab ich die schwerste Entscheidung meines Lebens getroffen. Ich hab ihr die Wahrheit gesagt. Dass ihre Mama tot ist und dass sie nicht mehr zurückkommen wird. Dass sie nie wieder die Möglichkeit hat, ihre Mama wiederzusehen. Joanne kannte den Tod nicht nur aus Geschichten und aus den Nachrichten. Im letzten Jahr ist unsere Nachbarin gestorben, eine Frau Ende 70. Damals hat meine Tochter mich gefragt, was tot sein bedeutet, nachdem sie ein Gespräch zwischen zwei weiteren Hausbewohnern mitangehört hatte. Damals war es Mai, die versucht hat, Joanne den Tod zu erklären. Wir haben es uns dann zur Aufgabe gemacht mit unserer Tochter zu reden, wenn jemand aus unserem Bekanntenkreis verstarb oder wir tote Tiere bei unseren Spaziergängen fanden. Es war keine einfache Zeit, weil Joanne immer Fragen stellte wie: Kommen gute Menschen wirklich in den Himmel? Wohin kommen die toten Igel? Können Bäume sterben? Wir haben immer versucht auf jede ihrer Fragen eine ehrliche aber kindgerechte Antwort zu geben, sie hat jedes Mal genickt und wenn wir wieder ein totes Tier fanden, dann war sie auch traurig und hat uns gebeten, das Tier zu beerdigen und Blumen auf das Grab zu legen. Aber ihr zu erklären, dass nun auch ihre Mama beerdigt werden muss, war für mich dennoch nicht einfacher. Joanne hat mich erst völlig verständnislos angeschaut und den Kopf geschüttelt, dann ist sie durch die Wohnung gerannt und hat nach Mai gerufen, sie wollte auch aus der Wohnung laufen, um im Hausflur weiterzusuchen. Ich hielt sie noch rechtzeitig davon ab und nahm sie in den Arm. Als Antwort hat sie mein Gesicht zerkratzt und in meinen rechten Oberarm gebissen. Sie hat mich angeschrien, mir irgendwelche Schimpfwörter entgegen gebrüllt, die sie wohl von irgendwelchen Leuten aufgeschnappt hatte und dessen Bedeutung sie mit Sicherheit nicht kannte. Eine halbe Stunde dauerte ihr Wutausbruch, erst danach hat sie geweint und sich in völliger Verzweiflung an mich geklammert. Und erst dann brach auch ich in Tränen aus. Als ich gestern Vormittag Mais Leichnam identifizieren musste, habe ich nicht geweint, ich fühlte mich einfach nur leer. Mais Anblick war schrecklich. Ihre blonden Haare waren teilweise rot von ihrem Blut. Ihr Gesicht war seltsam entstellt. Ich war froh, dass der Rest ihres Körpers von einem weißen Laken bedeckt war. Herr Maynard war bei mir und erklärte mir, dass die nötigen Vorkehrungen für die Beerdigung vom Casino übernommen werden, da es sich beim Unfall um einen sogenannten Wegeunfall handelt, da sich Mai auf dem direkten Weg von ihrer Arbeitsstelle nachhause befand. Er erklärte mir außerdem, dass er für das Casino arbeitet, um eben solche Dinge in die Wege zu leiten und sich um zurückgebliebene Angehörige ihrer verstorbenen Angestellten zu kümmern, sollten diese es wünschen. Ich fragte nicht, warum ein Casino es für nötig erachtet, einen Angestellten wie Herrn Maynard zu beschäftigen. Ich konnte mir denken, dass es vermutlich Leute gab, die sich an den Angestellten rächen wollten, für ein verlorenes Spiel oder Ähnliches. Das war mit ein Grund, warum ich erfreut darüber war, dass Mai befördert wurde, um am Spieltisch der Superreichen zu arbeiten, dort würde sich vermutlich keiner dafür rächen wollen, wenn mal etwas Geld beim Spiel verloren wurde. Ein leises Wimmern lässt mich zusammenzucken. Joanne bewegt sich unruhig in ihrem Bett. „Ssshhht. Ist schon gut. Papa ist da.“ Ich streiche wieder beruhigend durch ihr Haar. Ich bin froh, dass heute kein Schultag ist. Ich bin auch froh, dass in einer Woche die Sommerferien anfangen und ich es geschafft habe, Joanne für die restliche Zeit vom Unterricht zu befreien. Ihr Zeugnis für die 1. Klasse schickt uns Joannes Klassenleiterin mit der Post. Sie war sehr verständnisvoll und hat ihre Hilfe angeboten und mir einige Telefonnummern von Therapiegruppen gegeben, für den Fall, dass Joanne oder ich psychologische Unterstützung benötigen. Dafür war ich sehr dankbar. Die nächste Zeit wird nicht einfach für uns, denn ich muss nicht nur damit fertig werden, dass Mai nicht mehr da ist. Ich werde mich auch damit anfreunden müssen, für uns eine neue, kleinere Wohnung zu suchen, die ich mir als nun alleinerziehender Vater leisten kann. Ganz kurz habe ich mit dem Gedanken gespielt, zu Kaiba zu gehen und ihn um Hilfe zu bitten, dafür dass ich seine Tochter großziehe, aber ich habe den Gedanken schnell wieder verdrängt. Kaiba bekäme es fertig, mir das Sorgerecht für Joanne zu entziehen, wenn er erfährt, dass sie seine leibliche Tochter ist und nicht meine. Und das könnte ich nicht ertragen! ~~~~~ Kapitel 5: Beerdigung --------------------- ~~~~~ 5. Beerdigung ~~~~~ Eine Woche ist vergangen seit Mais Unfall. Eine schwere Woche voller Tränen und Wutausbrüche, voller Kratz- und Bisswunden. Es ist Mais Beerdigung und obwohl es bei Beerdigungen angeblich immer regnet, strahlt heute die Sonne mit dem riesigen Trauerkranz hinter Mais noch offenem Grab um die Wette. Ich stehe ziemlich steif am Fuß des Grabes und habe Joanne in meinem Arm. Sie weint nicht, sondern schnieft nur leise und vergräbt ihr Gesicht in meinen Haaren. Um uns herum stehen die anderen Trauergäste. Freunde, Bekannte und Unbekannte. Meine Schwester Serenity ist ebenfalls gekommen, meine Mutter jedoch nicht. Sie hat Mai nie als Schwiegertochter akzeptieren wollen und auch Joanne sieht sie nicht als Enkeltochter, wobei sie ja nicht einmal so Unrecht hat, da Joanne ja nicht mein leibliches Kind ist. Ich schaue nach links zwischen ein paar Trauergäste hindurch und mein Blick fällt auf Seto Kaiba, der mit Duke Devlin weiter entfernt steht. Ich weiß nicht warum er hier ist, er kannte Mai doch so gut wie kaum und ich glaube nicht, dass er meinetwegen hier ist, dafür haben wir uns einfach zu lange nicht gesehn. Oder denkt er noch immer an Mai? War sie nicht nur ein simpler One-Night-Stand für ihn? Oder fühlt er sich nur verantwortlich, weil sie in der Nacht ihres Unfalls ausgerechnet an seinem Spieltisch gearbeitet hat und sie seinetwegen ein paar Minuten länger blieb als sonst, weil er noch eine letzte Runde Roulette spielen wollte? Wäre Mai ein paar Minuten früher die Stadtautobahn entlang gefahren, wäre sie vermutlich den Jugendlichen nicht begegnet, die ihr die Vorfahrt nahmen und auch nicht dem LKW, der schließlich ihren Tod herbeiführte. Aber ich bin der Letzte, der Kaiba dafür Vorwürfe machen würde, Mai würde das nicht wollen und das weiß ich. „Liebe Angehörige, werte Trauergemeinde. Wir haben uns heute hier versammelt, um uns von einem geliebten Menschen zu verabschieden, Mai Valentine-Wheeler. Bemerkenswerte Angestellte, liebenswerte Kollegin, aufrichtige Freundin, geliebte Ehefrau und liebevolle Mutter. Ihr Verlust reißt ein tiefes Loch in unsere Mitte. Wir haben einen wertvollen und lebensfrohen Menschen verloren. Wir trauern. Wir weinen. Wir vermissen. Aber wir sind nicht allein. Wir nehmen gemeinsam Abschied, wir trauern gemeinsam. Diese Trauer verbindet uns und lässt uns den Schmerz besser verstehen. Der Schmerz wird mit der Zeit nachlassen, doch der Verlust bleibt ein Leben lang. Mai war als Lebenskünstlerin bekannt, sie hat viel gesehen und viel erlebt. Sie war aber auch eine gute Ehefrau und eine noch bessere Mutter. Sie hinterlässt einen trauernden Ehemann und eine sehr traurige Tochter, doch in unseren Herzen wird sie ewig leben. Lasst uns nun für eine Weile schweigen und in Stille Abschied nehmen von unserer geliebten Mai.“ Joanne schluchzt leise auf und vergräbt ihr Gesicht noch tiefer in meinen Haaren, ich drücke sie an mich, um ihr zu zeigen, dass ich da bin. In meiner rechten Hand hab ich zwei hellblaue Rosen, die ich nachher auf Mais Sarg werfen werde. Jeder der hier Anwesenden hat so eine Rose. Das Casino hat sich gut um alles gekümmert, alles ist perfekt. Die Trauerfeier, die Trauerrede, der Trauerkranz, die Trauergäste. Mai würde es hassen, könnte sie es sehen. „Es erklingt nun das Lied: November Rain von Guns N`Roses. Ich bitte alle Trauergäste nun persönlich an das Grab heranzutreten und auf ihre eigene Weise Abschied zu nehmen von Mai Valentine-Wheeler.“ Das Lied hab ich ausgesucht. Es ist zwar nicht November und es regnet auch nicht, aber Mai hat dieses Lied geliebt und immer gesagt, dass sie gerne mit diesem Lied ihre letzte Ruhe antreten möchte. Ich hatte nicht gedacht, dass ich ihr diesen Wunsch so früh würde erfüllen müssen. Als ich als Erster an Mais Grab herantrete, zuckt Joanne auf meinem Arm zusammen, schaut aber nicht auf. „Möchtest Du Mama auch eine Rose schenken?“ Joanne sieht mich an und schüttelt den Kopf. „Mama hasst Rosen!“ „Aber nur die roten. Die hier sind hellblau, die wird sie mögen.“ „Wirklich?“ Ich nicke aufrichtig. „Die Rosen haben die Farbe Deiner Augen, natürlich wird Mama sie mögen.“ Ich halte ihr eine Rose hin und Joanne nimmt sie. „Und jetzt wirf die Rose in das Grab zu Mama und sag, dass Du sie liebst.“ Joanne wirft die Rose auf den Sarg und schnieft leise. „Ich liebe Dich, Mama. Sei nicht besorgt um mich, ich hab ja noch Papa und ich komm Dich auch bestimmt ganz bald wieder besuchen. Versprochen. Und ich bring Dir immer hellblaue Rosen mit, Papa sagt, dass Du sie magst, weil meine Augen auch diese Farbe haben. Ich vermiss Dich, Mama, aber ich will so stark sein wie Papa und nicht mehr so viel weinen. Aber sei nicht böse, wenn ich doch mal weine, wenn ich traurig bin, ja? Ich muss jetzt gehen, aber morgen komm ich wieder, versprochen. Ich liebe Dich, liebste Mama.“ Hinter mir höre ich ein schnaubendes Geräusch, als sich Tea die Nase putzt, neben mir wischt sich Yugi ein paar Tränen aus den Augen. Joannes kleine Ansprache hat alle, die es gehört haben, mehr zu Tränen gerührt als die Grabrede und auch ich muss mir ein paar Tränen wegwischen. „Das hast Du schön gesagt.“ Ich küsse meiner Tochter auf die Stirn und werfe meine eigene Rose zu Mai ins Grab. „Ich liebe Dich, Mai. Keine Sorge, wir kommen schon zurecht. Ich werd mich gut um Joanne kümmern. Und wie sie schon gesagt hat, kommen wir Dich ganz bald wieder besuchen und bringen Dir blaue Rosen mit. Versprochen.“ Ich werfe noch einen letzten Blick auf den weißen Sarg in dem Mais Leichnam liegt und versuche nicht daran zu denken, wie ihr Gesicht nach dem schrecklichen Unfall ausgesehen hat. Mit einem Seufzen wende ich mich ab und trete ein paar Schritte beiseite, um den anderen Trauergästen einen persönlichen Abschied zu ermöglichen. Einige bleiben wie wir einen Moment stehen, um etwas zu sagen, aber die meisten gehen schweigend am Grab vorüber und werfen ihre Rosen auf den Sarg. Als auch der letzte Trauergast am Grab vorbeigegangen ist und uns sein Beileid ausgedrückt hat, wird das Grab langsam mit Erde gefüllt. Ich wende den Blick ab und drücke Joanne fester an mich. Jetzt ist es endgültig. Mai ist fort. Für immer. Und ich ziehe ein Kind groß, dass nicht mein eigenes ist, während der leibliche Vater nicht einmal weiß, dass er eine Tochter hat. ~~~~~ Kapitel 6: hohes Fieber ----------------------- ~~~~~ 6. hohes Fieber ~~~~~ Es ist Samstag, der 6. Dezember, Nikolaustag, 5 Uhr morgens und ich fülle gerade Joannes, von ihr persönlich geputzten, Winterstiefel mit Schokoladenweihnachtsmännern, Schokoladenchristbaumkugeln, Schokoladenlebkuchen und Schokoladenengeln, in der Hoffnung, dass meine Tochter noch tief und fest schläft und nicht merkt, dass ich den Nikolaus spiele. Sie glaubt nämlich noch fest daran, dass es einen Nikolaus gibt und einen Weihnachtsmann und Weihnachtsengel. Und ich weiß auch, dass Joanne sich zu Weihnachten nur wünscht, dass ihre Mama wiederkommt und mit ihr Weihnachten feiert, wie jedes Jahr. Die letzten Monate waren sehr schwer für uns. Wir haben Beide viel geweint und Joanne hatte öfters Wutanfälle, besonders als ich ihr erzählen musste, dass wir in eine kleinere Wohnung umziehen müssen. Sie hat sich nach den Sommerferien geweigert, wieder in die Schule zu gehen. Ich hab darauf bestanden, was zur Folge hatte, dass ich mehrmals in die Schule zitiert wurde, weil Joanne den Unterricht dermaßen gestört hat, dass eben kein vernünftiger Unterricht mehr stattfinden konnte. Die Lehrer und Mitschüler waren zwar nachsichtig mit ihr in Anbetracht der Umstände, aber so ging das definitiv nicht weiter. Ich sah mich gezwungen einen Kinderpsychologen aufzusuchen, der Joanne und mir vielleicht dabei helfen könnte, dieses ganze Problem in den Griff zu bekommen. Es hat eine ganze Weile gedauert, aber seit ungefähr zwei Monaten geht Joanne wieder gerne in die Schule und fängt auch wieder von selbst an zu erzählen, was sie denn alles gelernt hat. Und sie lacht auch wieder dabei, was mich unglaublich freut. Allerdings wirkt sie seit ein paar Tagen seltsam müde und kraftlos. Sie hatte Donnerstagnacht auch ziemlich hohes Fieber, was zum Glück schnell wieder sank, so dass sie Freitag ganz normal in die Schule gehen konnte. Mit den nun gefüllten Nikolausstiefeln schleiche ich leise in Richtung Schlafzimmer, das gleichzeitig auch Joannes Kinderzimmer ist und öffne ganz vorsichtig die Tür. Es ist noch alles dunkel und kein Geräusch dringt an meine Ohren, Joanne schläft also noch ganz friedlich in ihrem Kinderbett. Ich schleiche auf das Bett zu und stell ihre beiden Winterstiefel neben das Fußende ihres Bettes. Ich will mich gerade umdrehen und das Zimmer wieder leise verlassen, als ich ein leises Wimmern höre. Besorgt gehe ich ans Kopfende des Bettes, um nach meiner Tochter zu sehen. Vermutlich hat sie wieder einen Alptraum, aber was ich sehe, macht mich erst richtig besorgt. Joannes Haare sind ganz nass und verklebt, Schweißperlen glitzern im schwachen Licht, das durch die geöffnete Tür ins Zimmer dringt. Ich lege meine Hand auf ihre Stirn und seufze niedergeschlagen. Schon wieder hohes Fieber. Und ausgerechnet am Wochenende, am Nikolaustag. Der Kinderarzt hat heute geschlossen, auch mein Hausarzt hat Urlaub. „Papa?“ Joanne klingt müde. „Ja, Süße? Tut Dir was weh?“ Sie schüttelt ganz leicht den Kopf. „Mir ist nur ganz heiß. Und ich hab Durst.“ „Ich hol Dir etwas Tee und einen kalten Waschlappen, dann geht es Dir sicher gleich wieder besser.“ Ich streiche ihr eine nasse Haarsträhne aus dem Gesicht und verlasse seufzend das Zimmer, um Tee und Waschlappen zu holen, damit ich Joannes Fieber senken kann. Wenn das nicht besser wird, werde ich heute mit ihr ins Domino General Hospital gehen. Vielleicht ist es ja was Ernstes. Eine Viruserkrankung oder Ähnliches. Vielleicht sind es aber auch nur die ersten Anzeichen einer leichten Grippe, das hatte sie schon ein paar Mal. Mai war bisher diejenige, die sich bestens mit sowas auskannte und Joanne immer recht schnell wieder gesund gepflegt hatte. Fast zwei Stunden lang sitze ich an Joannes Bett und versuche ihr Fieber zu senken, doch ohne Erfolg. „Papa, meine Arme tun weh. Und mein Kopf.“ „Wo genau tut es weh?“ Gelenkschmerzen? Kopfweh? Sind das Anzeichen einer normalen Erkältung? „Ich weiß nicht, überall.“ Vermutlich wäre es jetzt doch sinnvoll ins Krankenhaus zu fahren, ich fühl mich jedenfalls im Moment ein wenig überfordert. „Komm, meine Süße, wir ziehen Dir jetzt etwas Warmes an und dann fahren wir ins Krankenhaus, die Ärzte dort können Dir sicher besser helfen als ich.“ „Ich mag Ärzte nicht, die geben immer Spritzen.“ Ich seufze. „Ich weiß, aber die Impfungen sind wichtig, weißt Du? Damit Du keine Kinderkrankheiten bekommst, wie Masern oder Windpocken. Die Ärzte geben Dir keine Spritze um Dich zu ärgern, sondern nur um Dir zu helfen, damit Du gesund bleibst oder wieder gesund wirst.“ Ich nehm Joanne in die Arme und drücke sie fest an mich. Sie ist furchtbar heiß und sie jammert leise. „Ich helf Dir beim Anziehen.“ Eine halbe Stunde später sitze ich mit meiner Tochter im Warteraum der Notaufnahme vom Domino General Hospital und fülle den Patientenbogen aus, den mir eine Dame am Empfang gegeben hat. Was die alles wissen wollen! Mögliche Allergien, bestehende Krankheiten, durchgeführte Operationen, letzte Impfungen. Die Hälfte der Fragen kann ich nicht einmal beantworten. „Mister Joseph Wheeler?“ Ich schaue auf. „Ja?“ Eine Krankenschwester steht im Eingang des Warteraumes und lächelt mich freundlich an. „Sie können jetzt mit ihrer Tochter zum Herrn Doktor Sigand, wenn Sie mir bitte folgen würden?“ „Natürlich.“ Ich erhebe mich und folge ihr. Joanne auf meinem Arm wimmert leise. „Alles wird gut, meine Kleine.“ Beruhigend streiche ich durch ihr nassgeschwitztes Haar. „Alles wird wieder gut, versprochen.“ Auch wenn ich ein ziemlich mulmiges Gefühl habe, wenn ich sehe, wie sehr meine kleine Joanne leidet. Was hat sie nur? ~~~~~ Kapitel 7: Diagnose ------------------- ~~~~~ 7. Diagnose ~~~~~ Unruhig tiger ich vor dem Arztzimmer des Doktor Sigand hin und her. Joanne wurde vor einer Stunde auf die Kinderstation in ein Krankenzimmer gebracht, sie muss eine Weile im Krankenhaus bleiben, so die Anordnung des Doktors. Er hat meiner Tochter Blut abgenommen und die Probe sofort ins krankenhauseigene Labor geschickt. Ich weiß nicht, wie lange die Untersuchung der Blutprobe dauert und ich würde jetzt viel lieber bei meiner Tochter sein, als hier vor dem Arztzimmer hin und her zu laufen. Aber ich möchte auch wissen, was meiner Joanne nun eigentlich fehlt. Außerdem kann ich jetzt ohnehin nichts anderes tun, meine Tochter schläft, weil sie ein paar Medikamente bekommen hat gegen das Fieber und die Schmerzen. Die Tür zum Arztzimmer wird geöffnet und ein leicht betrübt wirkender Doktor Sigand kommt auf mich zu. „Mister Wheeler? Der Laborbefund liegt nun vor.“ „Und wie lautet ihre Diagnose?“ Er seufzt, legt seine Hand auf meine Schulter und zeigt in Richtung Arztzimmer. „Es wäre besser, wenn Sie sich erstmal setzen, dann erkläre ich Ihnen alles.“ Ich hab Herzschmerzen. Das letzte Mal, als mir jemand gesagt hat, ich solle mich besser setzen, musste ich meine Frau zu Grabe tragen! Doch ich sage nichts und folge Doktor Sigand in sein Arztzimmer. Er schließt hinter mir die Tür und setzt sich hinter seinen Schreibtisch, während ich auf einem bequemen Stuhl davor Platz nehme. „Wie lautet nun die Diagnose?“ Meine Hände spielen unruhig mit dem Saum meines Pullovers. „Es fällt mir äußerst schwer Ihnen zu sagen, was wir anhand der Laboruntersuchung herausgefunden haben, in Anbetracht der Tatsache was Sie bereits ertragen mussten.“ Ich nicke. „Ist schon okay, sagen Sie es ruhig, was immer es ist, ich werd damit schon fertig.“ Denke ich zumindest. Schlimmer kann es ohnehin nicht mehr werden. Doktor Sigand verknotet seine Hände auf seinem Schreibtisch und sieht mich ernst und traurig an. „Ihre Tochter hat Leukämie,…“ Es kann nicht mehr schlimmer werden? „…genauer gesagt, chronische myeloische Leukämie, die bei Kindern eigentlich äußerst selten vorkommt…“ Meine Hände krallen sich in meine Oberschenkel. „…Die häufigste Form der Leukämie bei Kindern ist normalerweise die akute lymphatische Leukämie, diese wird hauptsächlich mit Chemotherapie behandelt…“ Mein Kiefer verkrampft sich. „…bei der chronischen myeloischen Leukämie kommt jedoch auch eine Knochenmark- oder Blutstammzelltransplantation in Frage…“ Meine Beine zittern. „…besonders bei jüngeren Patienten und Patienten bei denen enge Familienangehörige als potentielle Spender in Frage kommen können…“ Mein Herz scheint sich zu überschlagen. „…In diesem Fall wären Sie als leiblicher Vater natürlich ein idealer Spender,…“ Mein Hals fühlt sich trocken an. „…wir müssen also nicht erst nach einem kompatiblen Spender im Spenderregister suchen, was häufig mehrere Monate dauern kann...“ Ich schließe verzweifelt meine Augen. „Ich bin nicht der leibliche Vater.“ Es ist nur ein leises Flüstern, das mir über die Lippen kommt. Ich fühl mich gebrochen und leer. „Was sagten Sie?“ „Ich bin nicht der leibliche Vater.“ Ich schaue Doktor Sigand verloren an. „Meine verstorbene Frau hatte ein Verhältnis, genauer einen, wie sie mir versichert hat, einmaligen Ausrutscher. Joanne ist das Ergebnis.“ Doktor Sigand senkt mitfühlend den Blick und notiert sich etwas in Joannes Krankenakte. „Kennen Sie den leiblichen Vater und wissen Sie wie man ihn erreichen kann?“ Ich streiche mir mit einer überaus verzweifelten Geste durch die Haare. „Ja und ja.“ Er schaut auf und mich erwartungsvoll an. Ich wende den Blick ab. „Sie haben doch so etwas wie eine ärztliche Schweigepflicht, dass Sie keine Informationen weitergeben dürfen außer an die, die es persönlich betrifft?“ „Selbstverständlich. Alle Informationen werden überaus vertraulich behandelt. Wir werden den leiblichen Vater persönlich benachrichtigen, ansonsten wird niemand sonst davon erfahren.“ Ich wende mich wieder Doktor Sigand zu und schau ihn eindringlich an. „Ich möchte den Vater gerne selbst darüber informieren, ich kenne ihn persönlich und weiß, dass es ihm sehr unangenehm sein wird, wenn ein völlig Fremder ihn mit dieser Situation konfrontiert. Ginge das in so in Ordnung?“ Doktor Sigand überlegt einen Moment, nickt aber dann. „Darf ich den Namen des Vaters dennoch erfahren?“ „Nur unter der Bedingung, dass der Name in keiner Akte erscheint, ich möchte, dass er als anonymer Spender gelistet wird.“ Er zieht eine Augenbraue nach oben. „Das ist zwar äußerst ungewöhnlich, ließe sich aber einrichten.“ Ich nicke, wisch mir über die Augen und eine kleine Träne weg. „Der leibliche Vater ist…“ Ich seufze niedergeschlagen und spreche das aus, was ich seit über 6 Jahren mit mir herumtrage und nie gewagt habe, laut auszusprechen. „…Seto Kaiba.“ ~~~~~ Kapitel 8: die Wahrheit ----------------------- ~~~~~ 8. die Wahrheit ~~~~~ Seit 5 Minuten stehe ich vor dem Tor der Kaiba Villa und traue mich nicht, die Sprechanlage zu betätigen. Meine kleine Tochter Joanne liegt im Krankenhaus, während Tea bei ihr ist und sich um sie kümmert. Ich habe Tea nicht gesagt, dass ich zu Kaiba wollte, ich hab nur gesagt, dass ich einen sehr wichtigen Termin hätte, den ich unmöglich absagen konnte. Ich habe es nicht über mich gebracht, ihr die Wahrheit zu sagen. „Junger Mann?“ Ich schrecke aus meinen Gedanken und schau durch die Gitterstäbe des Eisentors. Ein Anzugträger steht dahinter, scheinbar sowas wie ein Bodyguard. „Haben Sie einen Grund, warum Sie hier stehen?“ Ich seufze niedergeschlagen und nicke. „Mein Name ist Joseph Wheeler und ich muss dringend mit Seto Kaiba sprechen.“ Der Anzugträger zieht seine Augenbrauen zusammen. „Haben Sie einen Termin?“ Ich schüttle den Kopf. „Nein, aber im Hauptgebäude der KC sagte man mir, dass Kaiba hier wäre. Könnten Sie mich bei ihm anmelden?“ „Herr Kaiba empfängt niemanden ohne Termin.“ Ich ziehe mürrisch meine Augenbrauen zusammen. „Es ist wirklich wichtig! Könnten Sie ihm wenigstens mitteilen, dass ich vor seinem Tor stehe und ihn sprechen will?“ Der Anzugträger schaut mich kurz an und zieht dann ein kleines Funkgerät aus seiner Tasche. „Boss? Hier ist ein gewisser Joseph Wheeler, der Sie in einer, wie er sagt, dringenden Angelegenheit sprechen möchte.“ Kurze Zeit ist es still, dann höre ich Kaibas Stimme durch das Funkgerät. „Bringen Sie ihn in mein Büro.“ „Jawohl, Sir.“ Der Anzugträger steckt das Funkgerät wieder in die Tasche, schaut mich kurz an und öffnet mir dann das Tor, um mich zu Kaiba in sein Büro zu bringen. 5 Minuten später stehe ich vor Kaibas Schreibtisch und weiß nicht, wo ich anfangen soll. Ich habe mir auf dem Weg hierher eine wirklich gute Rede einfallen lassen, doch jetzt wo ich hier stehe, kriege ich kein Wort über meine Lippen. „Was ist so wichtig, dass Du mich unbedingt heute sprechen wolltest?“ Ich knete nervös meine Hände und schaue Kaiba unsicher an. Seit Mais Beerdigung hab ich ihn nicht mehr gesehen oder mit ihm geredet. Ich denke an damals, als wir noch jung waren und unsere Welt sich um Duell Monsters drehte und Bösewichte, die wir zusammen bekämpft haben. Damals war alles noch viel einfacher, unkomplizierter. Ich beiße mir auf die Unterlippe, seufze niedergeschlagen und platze dann einfach mit der einen wichtigen Frage raus, die mir seit mehr als 6 Jahren auf der Seele lastet. „Hattest Du im Mai 2007 einen One-Night-Stand mit meiner damaligen Verlobten Mai Valentine?“ Es ist eine verdammte Ironie, dass mir Mai ausgerechnet im Monat Mai untreu geworden ist, aber ich hab es mir genau ausgerechnet. Joanne wurde am 9. Februar 2008 geboren und ist mittlerweile fast 7 Jahre alt. Ihr ausgerechneter Geburtstermin war allerdings schon am 22. Januar 2008, sie kam also ein bisschen zu spät auf die Welt. „Wovon redest….“ Kaiba bricht seine Frage ab und seine Augen weiten sich schockiert. Anscheinend hat er sich gerade an etwas erinnert. „Und? Hattest Du?“ Ich bin nicht sauer deswegen. Wirklich nicht. Aber ich muss die Antwort auf diese Frage wissen, bevor ich Kaiba die bittere Wahrheit entgegenschleudern kann. „Das war eine einmalige…“ Mit einer etwas zu heftigen Handbewegung bringe ich ihn zum Schweigen. „Eine einmalige Sache. Total unüberlegt. Absolut untypisch für Dich. Ich versteh schon.“ Ich ziehe die Augenbrauen zusammen und verschränke meine Arme. „Was ich nicht verstehe, ist die Tatsache, dass der großartige Seto Kaiba, der nie etwas Unüberlegtes tut und mit Sicherheit nie irgendetwas vergisst, ausgerechnet bei einem One-Night-Stand mit einer, wie ich anmerken möchte, fast verheirateten Frau, die Verhütung völlig außer Acht lässt.“ „Aber wir haben…“ Wieder bricht Kaiba ab, ohne den Satz zu vervollständigen. Und wieder weiten sich seine Augen schockiert. „Das Kondom. Es ist damals…“ „…gerissen.“ Vervollständige ich seinen Satz. Er nickt und wendet den Blick von mir ab. „Joanne?“ Ich knirsche mit den Zähnen. Wenn ich könnte, würde ich mich jetzt einfach umdrehen und gehen, ohne ihm zu antworten. „Ist das Ergebnis dieser Fehlentscheidung.“ „Aber…“ Ich bringe ihn erneut mit einer Handbewegung zum Schweigen. „Ich wäre nicht hier, wenn ich es nicht müsste. Ich habe mehr als 6 Jahre geschwiegen, weil ich es Mai versprochen hatte. Sie hat mir nie gesagt, wer der leibliche Vater ist, aber ich hab es dennoch gewusst. Ich hab es in Joannes Augen gesehn.“ Ich nehm mir meinen Rucksack von den Schultern und hole die Unterlagen raus, die mir Doktor Sigand mitgegeben hat. Mit einem verzweifelten Seufzen reiche ich Kaiba die Papiere und wende den Blick von ihm ab. „Joanne liegt im Domino General Hospital auf der Kinderstation Zimmer 201.“ Ich höre ein erschrockenes Einatmen von Kaiba. „Leukämie?“ Ich schließe niedergeschlagen meine Augen und geh an Kaibas Schreibtisch vorbei zum Fenster, um meinen Kopf gegen die kühle Scheibe zu legen. „Ja. Und ich kann ihr kein Knochenmark spenden, da ich nicht ihr Vater bin und nicht einmal dieselbe Blutgruppe besitze, der einzig lebende Verwandte bist Du, ihr leiblicher Vater.“ „Aber wenn die…“ „Die Presse wird nichts davon erfahren, auch in Joannes Akte wird Dein Name niemals auftauchen, dafür habe ich bereits gesorgt. Du wirst als anonymer Spender gelistet. Sollten Fragen auftauchen, warum ich nicht selber gespendet habe, werde ich einfach sagen, dass ich irgendeine Krankheit habe und als Spender ungeeignet bin.“ „Weiß sonst noch…“ „Nur der behandelnde Arzt Doktor Sigand kennt die Wahrheit und der wird schweigen. Sonst weiß niemand davon, außer Du und ich.“ „Was erwartest…“ Ruckartig drehe ich mich um und funkle Kaiba böse an. „Ich erwarte gar nichts von Dir, rette einfach nur das Leben meiner Tochter und dann kannst Du Dich wieder um Deine eigenen Angelegenheiten kümmern, so wie Du es sonst auch getan hast.“ Kaiba zuckt bei meinen Worten leicht zusammen und ich kann sehen, dass es in seinem Gehirn zu Rattern beginnt, als er die Vor- und Nachteile abwägt. „Willst Du ihr…“ „Irgendwann werde ich meiner Tochter die Wahrheit sagen müssen, ja. Irgendwann.“ Kaiba seufzt. „Tust Du mir einen Gefallen?“ „Der wäre?“ Er dreht sich zu mir um und mustert mich irritiert. „Würdest Du bitte aufhören, meine Gedanken zu lesen und meine Fragen zu beantworten, bevor ich sie ausgesprochen habe?“ Obwohl mir nicht danach zumute ist, grinse ich ihn an und schüttle den Kopf. „Ich kenn Dich halt gut genug, um zu wissen, was Du fragen willst. Du hast Dich nicht verändert und das macht Dich berechenbar.“ Kaiba schaut wieder auf die Papiere in seiner Hand und kommt dann auf mich zu. „Also schön. Ich helfe Dir, ihr. Über das andere Problem muss ich noch nachdenken. Wenn sie wirklich meine Tochter ist…“ „…ist das ein verdammt großes Problem. Ich weiß.“ „Kann ich sie sehn?“ Ich starre an Kaiba vorbei zur Tür seines Büros und nicke leicht. „Ja. Wann immer Du willst. Ich stelle nur eine einzige Bedingung.“ „Welche?“ Ich fixiere Kaiba mit einem äußerst ernsten Blick. „Nimm sie mir nicht weg.“ Kaiba zögert nur den Bruchteil einer Sekunde, bevor er mir die Hand entgegen streckt und nickt. „Abgemacht.“ Und ich brauche nicht zu zögern, bevor ich seine Hand ergreife, da ich weiß, dass ein Handschlag mit Kaiba mehr wert ist als jeder notariell beglaubigte Vertrag. „Abgemacht.“ ~~~~~ Kapitel 9: Erklärungen ---------------------- ~~~~~ 9. Erklärungen ~~~~~ Es ist Montag, der 8. Dezember 2014, 9 Uhr morgens und ich sitze seit zwei Stunden in Joannes Krankenzimmer an ihrem Bett, Besuchszeit ist zwar eigentlich nicht, aber Kaiba hat seine Beziehungen spielen lassen und es mir ermöglicht, meine Tochter jederzeit besuchen zu dürfen und zu bleiben solange ich will. Er selbst ist gerade unten bei Doktor Sigand und lässt einige Tests machen, um zu sehen, ob er als Knochenmarkspender für Joanne in Frage kommen kann. Er hat sich bisher noch nicht getraut, Joanne hier zu besuchen, vermutlich wird es eine Weile dauern, bis er sich mit dem Gedanken, eine Tochter zu haben, anfreunden kann. Ich kann es ihm nicht einmal übel nehmen. Es hat bei mir ebenfalls lange gedauert, bis ich mich damit anfreunden konnte, dass Joanne nicht meine leibliche Tochter ist. Ich habe sie trotz allem ins Herz geschlossen und ich könnte sie niemals aufgeben. Ich habe mich ein wenig mit den Vorgängen einer Knochenmarktransplantation befasst und bin ziemlich schockiert. So einfach, wie ich gedacht habe, scheint es gar nicht zu sein. Bei der Knochenmarktransplantation wird das Knochenmark des Patienten durch gesundes fremdes Knochenmark ersetzt. Dazu muss zunächst das Knochenmark des Patienten durch hochdosierte Chemotherapie mit oder ohne begleitende Strahlentherapie zerstört werden, was sich ziemlich schrecklich anhört. Joanne werden dabei vermutlich ihre schönen blonden Haare ausfallen. Ansonsten muss der Spender wirklich mit dem Empfänger kompatibel sein, weil sich sonst die bei der Transplantation mitübertragenen Immunzellen des Spenders gegen den Empfänger richten und eine schwere immunologische Abwehrreaktion auslösen. Verläuft die Transplantation erfolgreich, hat der Patient allerdings Aussicht auf dauerhafte Heilung, was mich schon ein wenig beruhigt. Allerdings erschreckt mich die Prozedur der Knochenmarktransplantation ein wenig. Das gesunde flüssige Knochenmark des Spenders wird dem Empfänger über eine Nadel oder einen Katheter wie eine Infusion in die Blutbahn übertragen und ersetzt das vorher zerstörte Knochenmark des Patienten. Die Stammzellen der Blutbildung finden von selbst ihren Weg in die Markhöhlen der Knochen, siedeln sich dort an und beginnen, neue funktionstüchtige Blutzellen zu bilden. Wie soll das nur gut gehen, wo Joanne schon bei kleinen Spritzen zurückschreckt? „Papa?“ Ich schau auf meine kleine Tochter hinab, die mich aus müden Augen anblinzelt. „Was ist, meine Kleine? Hast Du wieder Schmerzen?“ Sie schüttelt müde den Kopf. „Nein, aber ich will nachhause. Hier gefällt es mir nicht.“ Ich seufze leise. „Das geht leider nicht, meine Süße. Du bist schwer krank und wirst eine ganze Weile hier bleiben müssen, damit Du wieder gesund wirst.“ Vermutlich sogar ein halbes Jahr oder länger, je nachdem wie schnell die hochdosierte Chemotherapie anschlägt und das neue Knochenmark übertragen werden kann. Am Samstag hat Doktor Sigand noch Knochenmark von Joanne entnommen, was ihr gar nicht gefallen hat. Er hat es untersucht und seine erste Diagnose einer chronischen myeloischen Leukämie bestätigt, sich aber gefreut, dass ich Kaiba überreden konnte, Joanne zu helfen. Im Grunde hat es mich nicht sonderlich überrascht, dass Kaiba zugestimmt hat, schließlich ist er kein Unmensch und ich habe ja dafür gesorgt, dass es für ihn keinen Nachteil geben wird, da er ja nicht einmal als leiblicher Vater in Joannes Krankenakte auftaucht oder sonst irgendwie mit Joanne in einen Zusammenhang gebracht wird. Wenn rauskommt, dass er ein uneheliches Kind hat, das auch noch bei einem anderen Mann aufgewachsen ist, wird die Presse ihn vermutlich in der Luft zerreißen. „Kann ich nicht zuhause behandelt werden?“ Ich schüttle traurig den Kopf. „Auch das geht leider nicht. Was ist denn, wenn sich Dein Zustand verschlechtert? Ich werde Dir nicht helfen können.“ „Heißt das, wenn ich jetzt nachhause gehe, könnte ich sterben? So wie Mama?“ Tränen sammeln sich in meinen Augen und ich nicke leicht. „Ja. Das könntest Du. Aber wenn Du hierbleibst, dann können die Ärzte Dich retten und alles wird wieder gut.“ „Ich will nicht sterben. Wenn ich also hierbleiben muss, dann mach ich das. Aber weine bitte nicht, ja? Ich will nicht, dass Du weinst, Papa.“ Ich wisch mir die Tränen aus den Augen und lächle ein wenig. „Du bist ganz schön stark, meine Kleine. Hast Du denn gar keine Angst?“ Joanne schüttelt energisch den Kopf. „Nein! Ich habe vor gar nichts Angst! Außer vielleicht davor, dass Du ganz alleine bist, ohne Mama und … ohne mich.“ Ich zieh sie in meine Arme und drücke sie fast verzweifelt an mich. „Meine kleine Joanne. So ein tapferes Mädchen.“ Ein leises Räuspern lässt mich kurz zusammenzucken und nach rechts blicken. Kaiba steht in der Tür zu Joannes Krankenzimmer und wirkt irgendwie ein wenig nervös, fast schon schüchtern. „Hallo. Ich hab geklopft, aber ihr habt mich wohl nicht gehört. Störe ich?“ Ich drücke Joanne ein wenig von mir weg und wische mir noch ein paar Tränen aus den Augenwinkeln, bevor ich Kaiba zunicke. „Komm rein. Du störst keineswegs. Wie liefen die Untersuchungen?“ Er kommt auf uns zu, schließt hinter sich die Tür, zieht sich einen Stuhl an Joannes Krankenbett, legt ein Bein über das andere und verschränkt die Arme. „Hervorragend. Übereinstimmung von 100 Prozent, ich bin also tatsächlich…“ Er räuspert sich kurz, wendet den Blick von uns ab und lässt den Satz unvollendet. „…Sobald die Chemo Wirkung gezeigt hat, kann die Knochenmarkspende erfolgen. Ich hoffe nur, dass es während der Chemo oder der Knochenmarkübertragung keine Komplikationen geben wird. Ich hab mich am Wochenende eingehend damit befasst und bin wirklich schockiert, was Joanne hier zugemutet wird. Andererseits ist diese Art der Behandlung vermutlich eher von Erfolg gekrönt als eine langwierige Therapie, wo die Krankheit eher unterdrückt, als vollständig geheilt wird.“ „Was ist eine Chemo? Und was ist eine Knochenmarkspende?“ Ich blinzle Joanne an und werfe Kaiba einen wütenden Blick zu. „Musste das sein? Du kannst doch nicht so offen über sowas reden, Joanne ist erst 6, sie wird das gar nicht alles verstehen.“ „Korrektur, sie ist schon 6 und wenn wir ihr es genau erklären, wird sie es sehr wohl verstehen. Du kannst sie nicht vor allem beschützen, Wheeler. Und das weißt Du.“ „Genau, Papa! Der Onkel hat Recht, außerdem will ich das wissen! Ich will auch wissen, was ich denn für eine Krankheit habe, dass ich im Krankenhaus bleiben muss und nicht nachhause darf, weil ich da vielleicht sterben könnte.“ Seufzend fahre ich mir durch die Haare. Na klasse. Jetzt ergreift meine eigene Tochter schon Partei für Kaiba und fängt an, mit mir zu diskutieren. Wie der Vater, so die Tochter, oder was? Da merkt man, dass sie doch noch mehr von ihm geerbt hat, als man auf den ersten Blick sieht. „Na schön. Erklär ich Dir halt alles, was ich über die Krankheit weiß und was ich nicht weiß, kann Dir sicher der Onkel da erklären. Der ist ja so ein großes Genie.“ Auch wenn er vermutlich von Kindererziehung wenig Ahnung hat, obwohl er ja auf eine gewisse Art und Weise ja Mokuba die Eltern ersetzt und ihn somit auch großgezogen hat. Gozaburo war jedenfalls kein guter Vater, wenn man ihn dann als solchen überhaupt bezeichnen kann. „Also, als allererstes hast Du Leukämie, so nennt sich die Krankheit, die Du hast. Die genaue Bezeichnung wäre chronische myeloische Leukämie, aber den Namen musst Du Dir nicht unbedingt merken, ist vielleicht zu schwierig. Bei dieser Krankheit kommt es zu einer starken Vermehrung von weißen Blutkörperchen im Blut und im Knochenmark. Bei einem gesunden Menschen beträgt das Verhältnis von roten und weißen Blutkörperchen 700 zu 1, das heißt auf 700 rote kommt nur ein weißes Blutkörperchen. Bei Dir sieht das Verhältnis jedoch ganz anders aus. Du hast zwar noch genügend rote Blutkörperchen, da Deine Krankheit noch im Anfangsstadium, der sogenannten chronischen Phase, entdeckt wurde, aber deine weißen Blutkörperchen sind stark vermehrt. Das heißt, dass jetzt auf 700 rote Blutkörperchen schon ungefähr 5 weiße kommen, also 5mal so viel, wie bei einem gesunden Menschen.“ Joanne schaut mich mit großen Augen an. „Und wie kann man das wieder rückgängig machen?“ „Mit einer Chemotherapie und einer Knochenmarkspende. Eine Chemotherapie ist eine Behandlung mit starken Medikamenten, die einer vermehrten Bildung von weißen Blutkörperchen entgegen wirken. Dein Immunsystem wird dabei sehr stark belastet, bzw. sogar zerstört, damit später eine Knochenmarkspende nicht abgestoßen wird. Das flüssige Knochenmark wird dabei von einem geeigneten Spender, in Deinem Fall von dem Onkel hier, entnommen und in den Blutkreislauf des Patienten, also von Dir, übertragen. Wie lange es nun tatsächlich dauert, bis Du wieder gesund bist, kann ich Dir leider nicht sagen, aber es wird vermutlich eine ganze Weile dauern.“ „Hm. Hört sich sehr kompliziert an.“ Ich seufze und nicke Joanne zu. „Ist es auch. Deshalb wollte ich Dich eigentlich nicht damit belasten.“ Sie lächelt mich an und schüttelt den Kopf. „Ist schon gut, Papa. Auch wenn ich nicht alles verstanden habe, ist es doch gut, dass Du mir erzählst, was mit mir los ist oder was die Ärzte mit mir machen, dann muss ich wirklich keine Angst haben und kann mich ganz darauf konzentrieren, wieder gesund zu werden, damit ich wieder nachhause kann.“ Ich zieh Joanne wieder in meine Arme. „Du hast eine verdammt starke Tochter.“ Ich schau Kaiba an, der irgendwie etwas melancholisch zu lächeln scheint und dabei den Blick nicht von Joanne losreißen kann. „Sie ist so stark wie ihr Vater.“ Er schaut mich direkt an, mit einem Blick, den ich nicht deuten kann. Irgendwie traurig, vielleicht auch etwas hoffnungsvoll, dennoch auch ein wenig distanziert und abweisend. „Ja. Wie ihr Vater.“ ~~~~~ Kapitel 10: Leiden der Wheelers ------------------------------- ~~~~~ 10. Leiden der Wheelers ~~~~~ Zwei Wochen ist es jetzt her, seit ich Kaiba erklärt habe, dass er eine leukämiekranke Tochter hat, die seine Hilfe braucht. Es ist der 20. Dezember und in 4 Tagen ist Weihnachten. Joanne wird diesen Tag, und auch die folgenden, vermutlich im Krankenhaus verbringen müssen. Traurig schau ich auf meine schlafende Tochter hinab und wünsche mir, ich könnte mit ihr tauschen und die ganzen Schmerzen von ihr nehmen. Sie weint erstaunlicherweise nie oder zumindest tut sie es nicht in Gegenwart anderer Personen. Sämtliche Krankenschwestern beschreiben Joanne als aufgewecktes, fröhliches Mädchen, das sogar andere Kinder tröstet, die sich hier auf der Station befinden. Und auch ich sehe sie immer nur lächelnd, wenn ich die Tür zu ihrem Zimmer öffne oder friedlich schlafend, wenn ich zu früh erschienen bin und sie noch nicht wach ist. Ich habe meine kleine Firma aufgegeben und mir stattdessen einen Job bei einer Tankstelle in der Innenstadt von Domino City besorgt, wo ich nachts arbeite, damit ich tagsüber bei Joanne sein kann. Schlafen tu ich in den frühen Morgenstunden, meist von 2:00 bis 6:00 und manchmal fallen mir hier die Augen zu, wenn Joanne ihren Mittagsschlaf hält. Manchmal wird sie vor mir wieder wach und weckt mich mit einem kleinen Kuss in meine blonden Haare oder auf meine Stirn. Manchmal werde ich aber auch durch ein Klopfen geweckt, wenn Kaiba zu Besuch kommt oder sich eine Krankenschwester ankündigt. Kaiba kommt jeden Tag, allerdings immer zu unterschiedlichen Zeiten, wenn er sich zwischen seinen ganzen Terminen etwas Zeit freischaufelt, um nach Joanne zu sehen. Meistens bin ich auch hier, wenn er vorbeikommt, aber manchmal schafft er einen Besuch erst sehr spät am Abend, wenn ich gerade auf dem Weg zu meinem Job oder schon lange dort bin. In diesem Fall höre ich später von Joanne oder einer Krankenschwester von seinem, meist kurzen, Besuch. Meine Freunde kommen auch oft, allerdings nicht jeden Tag, aber wenn sie kommen, kommen sie zu den ganz normalen Besuchszeiten, anders als Kaiba oder ich selbst. Vermutlich würde das Krankenhauspersonal es nicht so gut finden, wenn plötzlich alle Besucher eine Sondergenehmigung verlangen würden. Kaibas regelmäßige Besuche im Krankenhaus blieben der Presse natürlich nicht lange verborgen. Letzte Woche Montag war ein Gerücht im Umlauf, Kaiba wäre schwerkrank und liege vermutlich schon bald auf dem Sterbebett. Er hat das natürlich sofort dementiert und ausgesagt, dass er sich bester Gesundheit erfreue und auch in den nächsten Jahrzehnten nicht die Absicht habe, auf irgendeinem Sterbebett zu liegen. Er würde seine Firma niemals vorzeitig irgendwelchen Dilettanten überlassen oder seinen kleinen Bruder damit belasten. Das mit seinem Bruder hat er natürlich nicht gegenüber der Presse ausgesprochen, sondern nur mir gegenüber, aber das spielt keine Rolle. Auf die Frage hin, warum er so oft das Krankenhaus aufsuchen würde, hatte er gegenüber der Presse ausgesagt, er würde jemanden besuchen, aber den Namen dieser Person unter gar keinen Umständen preisgeben und er würde jeden verklagen, der es wagen würde, weitere Nachforschungen anzustellen. Danach war Ruhe und in den Zeitungen wurde wieder über wichtigere Dinge berichtet. Naja, wer legt sich schon gerne mit Kaiba an? Ich selbst bin unwichtig genug, dass es der Presse scheinbar noch nicht aufgefallen ist, dass ich ebenfalls regelmäßig dieses Krankenhaus aufsuche, oder sie sehen darin einfach gar keinen Zusammenhang, was mich nicht sonderlich verwundert. Und Yugi kommt selten genug, dass es scheinbar wirklich nicht großartig auffällt, wenn er hier ist. Tea und Tristan sind der Presse scheinbar unwichtig genug, dass sie meistens einfach ignoriert werden, selbst als sich am Dienstagvormittag unten am Eingang eine Horde Presseleute versammelt hatte, nur weil irgendwer Kaiba in der Eingangshalle gesehen haben will, was an diesem Tag gar nicht der Fall gewesen sein kann, denn der kam erst später am Nachmittag. Nun ja, nach Kaibas Kommentar zu dieser Sache hat sich die Presse nicht mehr blicken lassen, aber wer weiß, vielleicht schleicht sich ja trotzdem der eine oder andere Pressefutzi hier heimlich herum und stochert in Kaibas Privatsphäre, wundern würde es mich jedenfalls nicht. Mittlerweile ist es 18:30 Uhr und ich muss mich so langsam auf dem Weg zur Tankstelle machen, meine Schicht beginnt um 19:30 und ich wollte noch kurz zu mir nachhause, um zu schauen, ob ich noch etwas einkaufen muss, bevor ich anfange zu arbeiten. Sanft streiche ich Joanne über den Kopf und gebe ihr einen Kuss auf die Stirn, sie öffnet müde ihre Augen. „Musst Du wieder arbeiten?“ Ich nicke ihr zu. „Ja. Ich bin morgen früh wieder hier. Schlaf gut, meine Kleine. Vielleicht kommt der Onkel Kaiba heute noch vorbei und schaut nach Dir, scheinbar hat er wieder ein paar wichtige Termine und hat es nicht früher geschafft.“ „Ist gut. Bis morgen, Papa.“ „Ja. Bis morgen, mein Engel.“ Ich geb ihr noch einen Kuss auf die Stirn, verlasse leise ihr Zimmer und wisch mir eine Träne aus dem linken Auge. Ich hasse es, sie hier alleine zu lassen, aber die Miete für meine Wohnung und die anderen Kosten bezahlen sich leider nicht von selbst. Ich bin wahnsinnig froh, dass Kaiba mir angeboten hat, die Kosten für Joannes Behandlung zu übernehmen, ich hätte nicht gewusst, wie ich das je hätte bezahlen sollen. Allerdings habe ich darauf bestanden, zumindest die Hälfte der Kosten in Raten bei ihm abzubezahlen, schließlich ist Joanne auch meine Tochter, wenn auch nicht meine leibliche. Ich bin nicht gerne auf andere Leute angewiesen und schon gar nicht auf Leute wie Seto Kaiba, aber in diesem Fall hatte ich gar keine andere Wahl, die Kosten für die Behandlung sind einfach enorm hoch. Eine Krankenschwester lächelt mir im Krankenhausflur freundlich zu und verabschiedet mich mit einem „Bis morgen“, als ich an ihr vorbeigehe. Draußen ist es schon dunkel und verdammt kalt. Sicher wird es bald schneien. In 4 Tagen ist Weihnachten. Und Joanne liegt im Krankenhaus. Und Mai ist nicht mehr da. Was für ein trauriges Weihnachten wird das werden? Ich unterdrücke die aufkommenden Tränen mit purer Willenskraft, beiße die Zähne zusammen, vergrabe meine Hände in den Taschen meiner dicken Winterjacke und schlurfe zum Krankenhausparkplatz, um kurz darauf in meinen alten schwarzen Ford Fiesta Baujahr ´94 zu steigen, den ich sehr preisgünstig vor zwei Jahren erworben habe und der zum Glück bisher kaum nennenswerte Mängel aufwies, trotz seines Alters. Ich muss zur Arbeit und dennoch habe ich gerade nur einen Gedanken in meinem Kopf: In 4 Tagen ist Weihnachten und alles was Joanne sich wünscht, ist eine Feier zuhause mit ihrer Mutter und mir… ~~~~~ Kapitel 11: Wie es dazu kam --------------------------- ~~~~~ 11. Wie es dazu kam ~~~~~ Ich stehe seit einer Stunde in der Tankstelle hinter dem Tresen, mein Kollege ist vor einer halben Stunde gegangen. Um 22:00 Uhr beginnt die Nachtschicht, dann schließ ich die Eingangstüren ab und öffne den Nachtschalter. Um 1:30 Uhr ist dann Feierabend. 6 lange Stunden, jeden verdammten Tag. Und noch immer denke ich an Joanne. An ihr bleiches Gesicht in diesem Krankenbett. An ihre traurigen Augen, in denen man nur einen einzigen Wunsch lesen kann. Was soll ich nur tun, um ihr dennoch ein fröhliches Weihnachten zu ermöglichen? „Die Nummer 2 bitte und einen schwarzen Kaffee zum Mitnehmen.“ Ich schrecke aus meinen Gedanken und starre in Kaibas Gesicht, der mich mit seinen blauen Augen anfunkelt. „Wah?“ „Wo bist Du mit Deinen Gedanken, Wheeler?“ Ich runzle leicht die Stirn. „Bei meiner Tochter, wo denn sonst?“ „Du meinst wohl, meiner Tochter.“ Ich kann ein wütendes Knurren nicht verhindern. „Wenn schon, dann ist es unsere Tochter.“ Er zieht seine rechte Augenbraue nach oben und lächelt spöttisch. „Du redest noch immer erst bevor Du nachdenkst.“ Und ich erkenne erst jetzt, was ich da eigentlich gesagt habe. Erschrocken schüttle ich den Kopf und hebe abwehrend die Hände. „So war das jetzt nicht gemeint! Wir sind schließlich kein Paar und eine Frau bist Du auch nicht!“ „In der Tat. Aber wenn wir ein Paar wären, dann wärst Du definitiv die Frau, damit das klar ist! Und jetzt will ich endlich bezahlen. Die Nummer 2 und einen schwarzen Kaffee zum Mitnehmen.“ Ich blinzle verwirrt und schüttle dann seufzend den Kopf. „Ich bin definitiv zu müde, um mich jetzt mit Dir darüber zu streiten, wer die Frauenrolle übernimmt, sollten wir jemals sowas wie eine Beziehung führen, das könnte sonst sehr missverstanden werden, immerhin sind wir beide Männer und Homobeziehungen sind hier in Japan noch immer nicht gerne gesehen, auch wenn es sie tatsächlich gibt, redet kaum jemand öffentlich darüber. Fakt ist jedenfalls, dass Joanne Deine leibliche Tochter ist, daran gibt es nichts zu rütteln, aber ich zieh sie groß und das lass ich mir von Dir nicht kaputt machen, wir sollten uns also damit anfreunden, dass sie tatsächlich unsere Tochter ist, auch wenn Du Dich wohl nie in der Öffentlichkeit zu ihr bekennen wirst, weil es sonst Deinem guten Ruf schaden könnte.“ „Wenn das eine versteckte Andeutung darauf sein sollte, dass ich schwul bin, nur weil ich mich seit meiner Scheidung nicht mehr auf Frauen eingelassen habe, dann muss ich Dich enttäuschen. Ich hatte lediglich keine Lust auf Frauen, die nur hinter meinem Geld oder meinem Ansehen her sind. Wenn mir die richtige Frau über den Weg läuft, schnapp ich sie mir. Was Joanne angeht. Ich habe nicht gesagt, dass ich mich nie zu ihr bekennen werde, es ist momentan nur recht ungünstig für mich, da ich gerade in wichtigen Verhandlungen mit der EU stecke und mir derzeit keine Skandale erlauben kann.“ „Wenn Dir die richtige Frau über den Weg läuft, schnappst Du sie Dir? So wie Du Dir Mai geschnappt hast, obwohl Du wusstest, dass sie mit mir zusammen war? Und was soll das heißen, Du kannst Dir derzeit keine Skandale erlauben? Schämst Du Dich etwa, dass Du eine Tochter hast?“ „Das mit Mai war nicht geplant. Ich war…“ Kaiba beißt sich auf die Unterlippe und weicht meinem Blick aus. „Du warst was?“ „…betrunken.” Ich starre ihn ungläubig an. „Betrunken? Aber Du trinkst doch nie wirklich viel, eben weil Du Dir keine Skandale erlauben kannst.“ Er seufzt leise und schüttelt müde den Kopf, als müsse er negative Gedanken aus seinem Kopf vertreiben. „An dem Abend bin ich etwas früher aus der Firma in die Villa gefahren, weil ich Mokuba überraschen wollte, der von einer Klassenfahrt zurückkehren sollte. Ich hatte nicht damit gerechnet, meine Frau mit einem anderen Mann in einem Bett zu finden.“ Oh… „Sie hatte nicht einmal den Anstand, es wenigstens in einem der vielen Gästezimmer zu tun, es musste natürlich ausgerechnet mein eigenes Bett sein und natürlich war es auch noch einer meiner jungen Geschäftspartner, über den sie hergefallen ist.“ Ohje… „Ich habe beide aus der Villa geworfen und bin kurz darauf ins Casino gefahren, um mich dort abzulenken, dabei habe ich dann etwas zu viel getrunken und war nicht mehr in der Lage, selbst nachhause zu fahren und mein Chauffeur befand sich gerade in seinem wohlverdienten zweiwöchigen Urlaub. Mai bot mir an, mir ein Taxi zu rufen, doch ich weigerte mich, in einem einfachen Taxi nachhause gefahren zu werden, während ich betrunken bin. Also fuhr sie mich selbst nachhause und brachte mich in mein Schlafzimmer. Der Anblick meines zerwühlten Himmelbettes ließ mich dann irgendwie austicken. Mai teilte mir später schriftlich mit, dass ich sie nicht vergewaltigt habe, immerhin hatte ich meine Sinne noch soweit zusammen, dass ich mir ein Kondom übergezogen habe, außerdem soll ich wohl ständig den Namen meiner Frau gerufen haben, während stetig die Tränen über meine Wangen liefen. Am nächsten Morgen fand ich einen Zettel auf meinem Nachtschränkchen mit der Nachricht von Mai, in der sie mir auch mitteilte, dass sie über diesen Vorfall schweigen würde und dass ich mich von meiner Frau scheiden lassen sollte, wenn sie mir solche Schmerzen bereiten konnte. Später kamen mir Erinnerungsfetzen in den Sinn, die ich aber schnell in den Hintergrund drängen konnte.“ „Zumindest bis ich Dich mit der Sache erneut konfrontiert hatte.“ „Ja. Mir ist nie in den Sinn gekommen, dass Joanne meine Tochter sein könnte, denn Mai hatte nie irgendwelche Andeutungen gemacht und diesen Vorfall auch nie wieder mit einem Wort erwähnt. Ich reichte die Scheidung ein und vergaß die Sache einfach. Es ist aber nicht so, dass ich mich dafür schäme, eine Tochter zu haben. Ich schäme mich lediglich dafür, wie es überhaupt dazu kam, dass ich eine Tochter habe. Wie soll ich ihr das erklären? Wie soll ich ihr erklären, dass sie kein Wunschkind ist, sondern nur ein Unfall, weil ich mich nicht unter Kontrolle hatte? Wie soll ich ihr erklären, dass ich eine fast verheiratete Frau im betrunkenen Zustand verführt habe, nur weil mich meine eigene Frau betrogen hat?“ Ich beuge mich ein wenig über den Tresen in seine Richtung und lege ihm meine Hände auf die Schultern. „Ganz genauso wie Du es mir erklärt hast. Sie würde es verstehen. Es zwingt Dich natürlich niemand, ihr irgendetwas zu sagen. Wenn Du für sie auch weiterhin der gute Onkel sein willst, der ihr Leben rettet, dann ist das Deine Entscheidung. Sei Dir aber gewiss, dass ich Dir den Rücken freihalte, falls Du ihr irgendwann doch die Wahrheit sagen willst. Wenn ich Dich nicht dafür verurteile, was Du getan hast, dann wird es unsere Tochter erstrecht nicht tun, dessen kannst Du Dir sicher sein.“ „Seit wann redest Du so erwachsen daher, Wheeler?“ Ich zucke mit den Schultern. „Was erwartest Du? Mai ist tot, Joanne liegt im Krankenhaus und Du siehst so aus, als hättest Du seit Tagen vor lauter Gewissensbisse kaum geschlafen. Einer von uns muss doch erwachsen sein und die Verantwortung übernehmen, meinst Du nicht?“ Er lächelt müde. „Hhm. Ich hätte nur nie gedacht, dass Du mal die Zügel in die Hand nehmen würdest.“ „Und ich hätte nie gedacht, dass ich mal ein so umfangreiches Geständnis von Dir hören würde, noch dazu mitten in der Nacht und in einer Billigtankstelle. Das macht übrigens 11138 Yen (umgerechnet ca. 82 Euro), Kaffee kommt sofort, Du siehst aus, als würdest Du den wirklich dringend brauchen.“ Er nickt und legt einen 10000- und zwei 1000-Yen-Scheine auf den Tresen, während ich ihm am Automaten schwarzen Kaffee in einen Pappbecher laufen lasse. „Behalt den Rest, ich hasse es, Kleingeld mit mir rumzuschleppen.“ Ich nicke nur kommentarlos, reiche ihm den gefüllten Becher mit Deckel und pack das Geld in die Kasse. Kaiba geht mit dem Kaffee in Richtung Tür, dreht sich aber kurz vorher noch einmal um. „Danke. Fürs zuhören, Wheeler.“ „Joseph. Oder fällt Dir das zu schwer? Seto?“ „Tze. Wie Du willst. Bis später. Joseph.“ Er wendet sich nun endgültig von mir ab und geht hinaus und zu seinem Auto, um nur kurze Zeit später das Tankstellengelände zu verlassen, während sich meine Mundwinkel zu einem Grinsen verziehen. In 4 Tagen ist Weihnachten und wenn ich es richtig anstelle, dann kann ich Joanne doch noch ein ziemlich angenehmes Weihnachten verschaffen, dazu benötige ich allerdings erstmal die Zustimmung der Ärzte und dann von Kaiba, oder besser gesagt von Seto. Ein Versuch ist es allemal wert. ~~~~~ Kapitel 12: Erlaubnis des Arztes -------------------------------- ~~~~~ 12. Erlaubnis des Arztes ~~~~~ Es ist 7 Uhr morgens und noch 3 Tage bis Weihnachten. Ich warte auf den Doktor, um ihn zu fragen, ob ich Joanne wenigstens am 24. Dezember aus dem Krankenhaus nehmen kann, wenn es ihr soweit gut geht. Wenn er es erlaubt, bin ich schon ein ganzes Stück näher an meinem Ziel, Joanne ein glückliches Weihnachten zu ermöglichen, auch ohne ihre Mutter. Ich hoffe, dass nichts schief geht. „Mr. Wheeler?“ Ich dreh mich im Flur um und erblicke eine von Joannes Krankenschwestern. „Ja?“ „Der Doktor erwartet Sie, wenn Sie mir bitte folgen würden?“ Ich nicke ihr zu. „Natürlich.“ Sie dreht sich um und ich folge ihr den Flur entlang bis zu einer Tür, die halb offen steht. „Bitte, treten Sie ein.“ „Danke.“ Ich gehe durch die Tür und sehe Doktor Sigand an einem Schreibtisch sitzen, vermutlich ist das hier sein normales Büro. Die Tür wird hinter mir geschlossen und Doktor Sigand hebt seinen Blick, der bisher noch auf seinen Akten gelegen hat. „Mr. Wheeler. Guten Morgen. Ich habe gehört, dass Sie mich in einer dringenden Angelegenheit sprechen wollten. Bitte, nehmen Sie Platz. Was kann ich für Sie tun?“ Ich setze mich vor seinen Schreibtisch auf einen bequemen Stuhl und atme einmal tief durch. „Guten Morgen, Doktor Sigand. Tut mir leid, dass ich Sie schon am frühen Morgen belästige, obwohl Sie noch gar keinen Dienst haben.“ „Kein Problem, wenn es dringend ist, können Sie mich auch mitten in der Nacht stören. Das Gemecker meiner Frau sollten Sie dann aber freundlicherweise überhören.“ Ein Lächeln zieht an meinen Mundwinkeln. „Nicht doch. So dringend war mein Anliegen nun auch wieder nicht. Ich wollte lediglich fragen, ob es möglich wäre, dass meine Tochter den 24. Dezember außerhalb dieses Krankenhauses feiern könnte, wenn die medizinische Versorgung dennoch gewährleistet werden kann.“ Doktor Sigand mustert mich eine Weile schweigend und nickt dann seufzend. „Ich kenne Ihre Beweggründe, Mr. Wheeler und ich verstehe Sie vollkommen. Das erste Weihnachten ohne ihre Mutter sollte Joanne wirklich nicht im Krankenhaus verbringen. Darf ich fragen, was Sie geplant haben und wie Sie Joannes medizinische Versorgung sicherstellen wollen?“ Ich streich mir unruhig durch die Haare. „Wirklich geplant habe ich noch nichts, bisher ist es nur eine Idee, die ich habe. Aber wenn alles so klappt, wie ich es mir wünsche, dann wird sich hoffentlich der leibliche Vater um die Versorgung kümmern, vorausgesetzt natürlich, dass alles klappt, was ich als Idee im Kopf habe.“ Er nickt und lächelt ein wenig. „Ich verstehe. Er scheint sich ja schon gut um seine Tochter zu kümmern, auch wenn er es noch immer geheim hält, dass er eine Tochter hat, die zudem auch noch schwerkrank ist.“ „Nun ja. Er hat seine Gründe.“ „Oh, das bezweifle ich nicht, das war auch kein Vorwurf. Ich war nur erfreut darüber, dass er nicht nur Knochenmark spendet, sondern auch persönlichen Kontakt sucht. Das hätte ich so nicht erwartet.“ Ich grinse leicht. „Da sind wir schon zwei, Doktor.“ „Wie lange kennen Sie ihn denn schon?“ Seufzend verschränke ich die Arme und denke an damals. „Seit der High School, also etliche Jahre.“ „Verstehe. War sicher nicht immer leicht mit einem Mann wie ihm.“ Ich kann mir ein lautes Lachen nicht verkneifen. „Oh, Sie ahnen ja gar nicht, wie schwer es war, mit ihm auszukommen. Er hat eigentlich immer alle Leute ignoriert, die er nicht mochte oder die keinen Nutzen für ihn hatten. Allerdings hat er aus mir unbekanntem Grund ständig auf mir rumgehackt, obwohl es für ihn keinen Nutzen hatte und er mich ganz offensichtlich überhaupt nicht ausstehen konnte. Warum also hat er mich nicht wie alle anderen einfach nur ignoriert?“ „Haben Sie ihn mal gefragt?“ Ich schüttle hektisch den Kopf. „Um Gottes Willen, bloß nicht! Nachher krieg ich noch als Antwort, dass ich so hassenswert bin, dass er mich einfach nicht ignorieren konnte. Nein Danke, darauf verzichte ich!“ Ganz ehrlich, ich will schon wissen, was in Seto Kaibas Kopf vorgeht, wenn er mich sieht, aber irgendwie hab ich auch Angst davor. Was ist, wenn er mich wirklich abgrundtief hasst? „Nun ja. Von meiner Seite aus spricht nichts dagegen, wenn Joanne den 24. Dezember außerhalb des Krankenhauses verbringt, solange sie gut versorgt ist und es ihr trotz der bereits begonnenen Chemotherapie soweit gut geht. Sie sollte aber innerhalb von 24 Stunden ins Krankenhaus zurückkehren und wenn sich ihr Zustand verschlechtern sollte, muss sie sofort zurück. Das sind meine Bedingungen.“ Ich nicke dankend. „Vielen Dank, Doktor Sigand! Sie haben mir wirklich sehr geholfen. Vielen Dank!“ ~~~~~ Kapitel 13: Überredungskünste ----------------------------- ~~~~~ 13. Überredungskünste ~~~~~ Um 9 Uhr morgens stehe ich in Seto Kaibas Büro der Kaiba Corporation. Seto sitzt an seinem Schreibtisch und starrt mich an, als wäre ich ein grünes Alien vom Mars und hätte ihm gerade eröffnet, ich wolle die KC an mich reißen und auf den Mars transportieren. Nun ja, ich bin kein grünes Alien vom Mars, aber meine Forderung, die ich von ihm mehr oder weniger freundlich erbeten habe, ist genauso ungeheuerlich, wie eine feindliche Übernahme der KC. Dabei handelt es sich nur um eine einfache Weihnachtsfeier. In der Kaiba Villa. Für Joanne. Und all ihren Schulkameraden. Plus deren Familien. Okay, wenn man es genau betrachtet, ist meine Forderung schlimmer als eine feindliche Übernahme der KC. Seto wird nie darauf eingehen. Niemals! „Du glaubst doch nicht allen Ernstes, dass ich sowas auch nur in Erwägung ziehen würde, oder?“ Ich zucke mit den Schultern. „Es ist für Joanne.“ Er zieht eine Augenbraue hoch. „Und?“ Ich seufze und scharre unruhig mit den Füßen auf der teuren Auslegware. „Deiner Tochter.“ Seine Augen verengen sich ein Stück und seine Stirn legt sich in Falten. Erwidern tut er allerdings nichts. „Die außerdem im Krankenhaus liegt.“ Er starrt mich weiterhin aus zusammengekniffenen Augen an, sagt aber noch immer nichts. Ich starre abwartend zurück und verschränke meine Arme. Letztendlich liegt die Entscheidung bei ihm. Entweder er gibt sein Okay oder eben nicht. „Nur eine Weihnachtsfeier?“ Er sieht nicht glücklich aus. Ich nicke nervös. „Eine Weihnachtsfeier, deren Dauer Du selbst bestimmen kannst. Außerdem möchte ich, dass Joanne bei den Vorbereitungen helfen darf, sofern ihr das möglich ist, sprich Tannenbaum schmücken, Geschenke für ihre Schulkameraden einpacken, Plätzchen backen und so weiter.“ „Wie lange darf sie das Krankenhaus verlassen?“ „24 Stunden, wenn sie gesundheitlich fit ist und auch bleibt.“ Nachdenklich sieht er mich an. „Wäre sie fit genug für einen Besuch auf dem Domino City Weihnachtsmarkt? Sie könnte dort unter anderem auch den Tannenbaum aussuchen.“ Ich lächle ein wenig. „Wenn wir sie warm genug einpacken und nicht zu lange bleiben, sollte es gehen, denke ich zumindest.“ Er reibt sich kurz die Nasenwurzel und nickt dann zustimmend. „Okay. Ich werde Mokuba und Roland bitten, die Villa für die Weihnachtsfeier herzurichten. Kümmere Du Dich bitte um die Gästeliste und reiche sie an Roland weiter. Ich selbst werde keine Zeit haben für irgendwelche Vorbereitungen, wenn ich mir den 24. Dezember komplett freihalten muss. Sprech den offiziellen Beginn der Feier mit Roland ab und teile mir rechtzeitig mit, wann genau Du Joanne aus dem Krankenhaus holen willst, damit wir den Besuch auf dem Weihnachtsmarkt, das Plätzchenbacken, Tannenbaumschmücken und Geschenkeeinpacken genau planen können, bevor die eigentliche Weihnachtsfeier beginnt. Ich werde meinen persönlichen Hausarzt in die Villa bestellen, der sich um Joannes medizinische Versorgung kümmern soll, bis sie wieder ins Krankenhaus zurückkehrt. Ich hoffe, dass es in Deinem Sinne ist, wenn ich ihre Krankenakte an meinen Hausarzt weiterreiche. Ich kann Dir versichern, dass er sorgsam damit umgehen wird und äußerst diskret und vertrauenswürdig ist.“ Ich nicke dazu nur. „Das bezweifle ich nicht. In Deiner Position ist ein vertrauenswürdiger und diskreter Arzt sicher äußerst wichtig.“ „In der Tat. Zumal sich mein Hausarzt auch um Mokuba kümmert. Nicht auszudenken, was ihm passieren könnte, wäre der Arzt ein Stümper oder jemand, der sich von meinen Feinden bestechen ließe.“ „Verständlich. Nun gut. Ich werde Dich dann nicht weiter von Deiner Arbeit abhalten. Ich danke Dir, dass Du meinem Wunsch, Joanne ein halbwegs schönes Weihnachten zu ermöglichen, nachkommst und mir dabei hilfst.“ Er runzelt mürrisch die Stirn. „Ich mach das nicht für Dich, Wheeler...“ „Joseph.“ „...Joseph. Ich mach das für...“ „Ich weiß schon. Du machst das nur für Joanne. Ist okay. Das genügt mir vollkommen. Wirklich. Mir ist vollkommen klar, dass Du mich noch immer nicht ausstehen kannst, auch wenn wir mittlerweile alt genug sind, um uns nicht gegenseitig mit Beleidigungen niederzumachen. Aber vielleicht können wir uns auf einen Waffenstillstand einigen? Joanne zuliebe?“ Seto mustert mich skeptisch, runzelt etwas die Stirn und schüttelt dann seufzend den Kopf. „Du bist ein Idiot, Joseph.“ „Wieso bin ich ein Idiot?“ Er schüttelt erneut den Kopf. „Schon gut. Vergiss was ich gesagt habe. Ich habe mit Sicherheit wichtigere Dinge zu tun, als Dir Beleidigungen entgegenzuschleudern, ein Waffenstillstand ist also ganz in meinem Sinne. Aber erwarte nicht, dass wir jetzt Freunde sind, verstanden?“ Ich nicke ein wenig enttäuscht. „Wie Du meinst. Waffenstillstand, aber keine Freundschaft. Abgemacht.“ „Gut. Und jetzt raus aus meinem Büro, ich habe zu tun.“ Er wendet den Blick von mir ab und sieht das Gespräch zwischen uns anscheinend als beendet an. Ich seufze leise, dreh mich um und marschiere zur Bürotür. Bevor ich sie jedoch öffnen kann, hält mich seine Stimme noch einmal zurück. „Glaubst Du, dass Mai damit einverstanden wäre, wenn ich mich um Joanne kümmere? Immerhin hat sie mir all die Jahre verschwiegen, dass sie mein Kind auf die Welt gebracht hat.“ Ich muss lange über diese Frage nachdenken, bevor ich ihm antworten kann. „Um ehrlich zu sein, weiß ich es nicht. Ich kenne ihre Gründe nicht, warum sie mich gebeten hat, Dir nichts von Joanne zu sagen oder sie zu fragen, wer überhaupt der Vater ist. Wir haben nie über dieses Thema geredet, haben versucht es totzuschweigen, auch wenn ich wusste, oder zumindest ahnte, dass Du etwas mit dieser Sache zu tun hattest. Vielleicht wollte Mai Dir einfach nur keine Schwierigkeiten machen oder sie hatte mir gegenüber zu große Gewissensbisse. Ich denke allerdings, dass es sie freuen würde, wenn wir uns beide um Joanne kümmern. Zwei Väter können eine Mutter zwar nicht ersetzen, aber sie können es zumindest versuchen, meinst Du nicht?“ Ich werfe ihm über die Schulter noch ein kleines Lächeln zu und verlasse sein Büro. Ich höre seine Antwort bevor ich die Bürotür hinter mir schließe. „Ja, vielleicht hast Du Recht, Joseph.“ ~~~~~ Kapitel 14: Vorbereitungen -------------------------- ~~~~~ 14. Vorbereitungen ~~~~~ Es ist der 24. Dezember, 10 Uhr morgens und ich sitze neben Joannes Bett im extra für sie eingerichteten Gästezimmer. Die Fahrt vom Krankenhaus zum Weihnachtsmarkt, das Aussuchen des Tannenbaumes und das Schmücken des Baumes haben sie ziemlich erschöpft, so dass ich sie hierher tragen musste, damit sie sich ausruhen kann. Ich hab die Überwachungsmonitore angeschlossen, damit wir ihre Vitalwerte besser im Auge behalten können. Setos Hausarzt ist im Zimmer nebenan und kann notfalls sofort reagieren, wenn irgendetwas nicht in Ordnung sein sollte. Nachdenklich betrachte ich das blasse Gesicht meiner Tochter, während ich dem gleichmäßigen Piepen der Geräte lausche. Sie ist zuhause, ohne es zu wissen. Sie ist im Haus ihres leiblichen Vaters, ohne auch nur die geringste Ahnung davon zu haben. Seto hatte sichtlich Spaß daran, Joanne die Vorzüge und Nachteile der einzelnen Tannenbäume aufzuzählen, die auf dem Weihnachtsmarkt zum Verkauf bereitstanden. Und Joanne war eine aufmerksame Zuhörerin und fing sogar an mit Seto zu diskutieren, wie groß oder breit denn der Tannenbaum sein muss, um ein guter Tannenbaum zu sein. Am Ende bekam Joanne ihren Wunsch erfüllt, den größten und breitesten Tannenbaum mitzunehmen, der zur Verfügung stand. Eine 3,5 Meter hohe Koreatanne mit dem wunderschönen Beinamen „Silberlocke“. Ein Klopfen lässt mich zusammenzucken und ich schaue auf die nur angelehnte Tür, die gerade aufgeschoben wird. Ich erwarte Seto zu sehen, es ist allerdings Mokuba, der seinen Kopf durch den Türspalt schiebt. Sein mittlerweile kurzhaariger Wuschelkopf bringt mich zum Grinsen, doch bevor ich meinen Kommentar dazu abgeben kann, kommt er mir zuvor. „Ich weiß, ich weiß. Ich sehe aus wie ein Pudel, haha. Mit Joanne alles okay?“ Ich werfe wieder einen Blick auf meine schlafende Tochter, streiche ihr ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht und erhebe mich dann aus meiner knienden Position. „Sie schläft jetzt ruhig. Lass uns mit den Vorbereitungen weiter machen, damit alles fertig ist, bevor die Gäste kommen. Wir wecken Joanne später, damit sie noch die Geschenke für ihre Freunde einpacken kann.“ Ich verlasse hinter Mokuba das Gästezimmer, lasse die Tür aber einen Spalt breit offen, damit meine Tochter weiß, dass sie nicht eingesperrt ist, wenn sie aufwacht. Mit gemischten Gefühlen folge ich Mokuba durch den Gang und durch die große Saaltür. Ich bewundere den geschmückten Saal, in dem nachher die Weihnachtsfeier stattfinden soll, wir haben wirklich gute Arbeit geleistet. Der große Weihnachtsbaum steht in der Mitte des Saals, an den Wänden stehen Büffettische, von denen einige schon gut gefüllt sind, rechts vom Saal an der großen Fensterfront stehen Tische mit leerem Geschirr, Teller, Gläser, Besteck. Überall im Saal verteilt stehen runde Stehtische und was ich besonders witzig finde, sogar Stehtische für Kinder. Seto steht neben der Koreatanne auf einer Stehleiter und bringt gerade die Tannenbaumspitze an, einen hellblau leuchtenden Stern. „Und ich hätte schwören können, dass Du einen weißen Drachen als Tannenbaumspitze benutzt.“ Neben mir höre ich Mokuba kichern. „Das wollte er, ich fand es aber etwas übertrieben.“ Seto wirft seinem Bruder einen vernichtenden Blick zu. „Den Kindern hätte es gefallen!“ Ich nicke bestätigend. „Joanne hätte sich auf jeden Fall gefreut, sie liebt Drachen.“ Seto zeigt mit dem Finger auf mich und grinst Mokuba triumphierend an. „Siehst Du! Joanne liebt Drachen!“ Mokuba seufzt. „Na schön, Du hast gewonnen! Ich hole Deinen Drachen. Weil Joanne Drachen liebt. Also wirklich.“ Mit einem letzten Seufzen und einem Kopfschütteln verlässt er den Saal, ich schau ihm nach. „Weiß er...?“ Ich schlucke nervös, unfähig, den Satz zu beenden. „Dass Joanne seine Nichte ist? Ja, er weiß es. Ich habe ihn am selben Tag angerufen und es ihm erklärt. Mir klingeln noch heute die Ohren wegen seiner Standpauke. Er hat sich ebenfalls für heute Zeit freigeschaufelt und ist schon gestern aus Amerika angereist, sonst wäre er erst heute Abend gekommen, um mit mir zu feiern.“ Ich nicke seufzend. „Verstehe. Ich hoffe, er war nicht sauer auf mich, weil ich ihm nicht selbst von der Existenz seiner Nichte berichtet habe.“ Seto schüttelt den Kopf. „Er macht weder Dir noch Mai irgendwelche Vorwürfe. Er hatte im Übrigen genau dieselbe Erklärung wie Du für das Verhalten von Mai. Dass sie mir keine Unannehmlichkeiten bereiten wollte. Ich hatte damals ja schon genug mit meiner Scheidung zu tun. Ein uneheliches Kind wäre zu diesem Zeitpunkt keine gute Publicity für die Kaiba Corporation und für mich persönlich gewesen.“ „In der Tat.“ Aber ob es heute besser ist? Wäre es nicht viel schlimmer für ihn, wenn die Geschichte jetzt nach all den Jahren ans Licht kommt? Wird es überhaupt je den richtigen Zeitpunkt geben, Joanne als seine leibliche Tochter in der Öffentlichkeit vorzustellen? Theoretisch ist Joanne ein Miterbe der Kaiba Corporation, sollte ihrem Vater etwas zustoßen und sogar Haupterbe, sollte Mokuba ebenfalls versterben, da er selbst noch keine Kinder hat. Praktisch sieht die Sache leider etwas anders aus, da Joanne selbst nichts davon weiß und ihr Erbe nicht einmal einfordern könnte, im Fall der Fälle. „Wärst Du schon bereit, Joanne die Wahrheit zu sagen?“ Seto schaut stumm auf mich hinab und schüttelt nach langem Zögern dann den Kopf. „Lass mich warten, bis Joanne das Krankenhaus wieder verlassen kann. Ich will sie nicht unnötig belasten, solange es ihr so schlecht geht.“ Ich nicke verständnisvoll. „Ja. Lass uns damit warten, bis Joanne halbwegs wieder in Ordnung ist.“ Ich hoffe, dass es nicht zu lange dauert. Ich will, dass Joanne schnell wieder gesund wird, das ist alles was ich mir wünsche. ~~~~~ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)