Weihnachtsfoto von Jaelaki (Seto & Joey | Puppyshipping) ================================================================================ Kapitel 1: Neun Jahre später ---------------------------- Als er den Umschlag vier Wochen vor Weihnachten, pünktlich vor dem ersten Adventswochenende, in die Hand nahm, hielt er inne und verdrehte die Augen. Weihnachtsengel flogen neben einem Weihnachtsbaum auf dem Briefpapier. Für seinen Geschmack zu viel. Zu viel von allem. In dem Umschlag steckten zwei Papiere. Ein Brief von Mokuba und ein Bild mit Wachsmalstifte gezeichnet. (Letzteres nicht von seinem kleinen Bruder – der gar nicht mehr klein war.) Zu viel Farbe, zu viel Engel, Gold und Silber, schnulzige Grüße auf der Vorderseite – einfach zu viel Weihnachten. Auf der anderen Seite verdeutlichte Mokuba – beziehungsweise dessen Tochter – ohne viel Worte (und das schätzte Seto trotz allem), was von ihm verlangte wurde. Ein Weihnachtsfest. Persönliches Erscheinen. Und einen Aufenthalt auf der Feier unter den anderen geladenen Gästen von mindestens zwei Stunden. Seto Kaiba lehnte sich in seinem breiten Bürostuhl zurück und legte die Finger aneinander. Seine Computer sirrten um ihn herum, draußen war es bereits spät und dunkel, aber hier in seinem Büro störte das nicht. Er verließ sich auf seine Arbeit, er konnte sich in ihr vergraben und so tun, als gäbe es nichts außer ihm und diesen Zahlen vor sich. Zahlen voller Macht und ihn, der ihnen diese Macht entlockte. Aber Mokuba verstand das nicht. Er glaubte ihm nicht, wenn er sagte, dass er zufrieden mit seinem Leben war – genau so, wie es momentan lief, so wie es all die vergangenen Jahre verlaufen war und so wie es, hoffentlich, auch in Zukunft verlaufen würde. Stattdessen versuchte er Zeit seines Lebens, ihm ein Leben mit sozialen Kontakten näher zu bringen. (Seto wusste, dass diese Umschreibung für Freunde von Mokuba eigens für ihn war, weil Seto jedes Mal bei dem eigentlichen Wort, seine Augen verdrehen musste.) Aber er hatte keine Freunde und er brauchte auch keine. Er hatte einen Haufen Vertragspartner, viele Angestellte, ein paar Kollegen, wenige Bekannte – genug soziale Kontakte, seiner Meinung nach. Mokuba sah das anders. Und wenn Seto auch sonst seine Meinung ohne Kompromisse durchzusetzen wusste – es gab diese verdammten Tage, da konnte er Mokuba sogar ein Fest mit sozialen Kontakten – mit Freunden – nicht abschlagen. Früher hatte er angenommen, dass diese Weihnachtssache irgendwann im Sand verlaufen würde oder – passend zu der Problematik – im Schnee, in der Zukunft, die sich – seiner Meinung nach – schon lange in Gegenwart gewandelt hatte (nämlich seitdem Mokuba erwachsen war). Sein kleiner Bruder war bereits viele Jahre selbstständig, lebte in einem eigenen Haus und ging mit seiner – inzwischen – Ehefrau dem unglaublich traditionellen Wunsch nach, eine eigene Familie aufzubauen – beziehungsweise war dem bereits nachgegangen. Die Erwachsenseinsache war eingetroffen – und trotzdem hatte sich kein Stück an Mokubas Weihnachtswahnsinn verändert. Jedes Jahr bekam er diese Einladung, pünktlich auf den Tag. „Hey, großer Bruder“, stand dort in Mokubas krakeliger Schrift. Seto verzog seinen Mund. Schon jetzt wusste er, dass er den Kampf um die Anwesenheit dieses Jahr verloren hatte. Wie jedes Jahr, wenn dieser Brief bei ihm auf dem Schreibtisch landete. Es war immerhin sein kleiner Bruder – egal, wie erwachsen der inzwischen auch war. Er las den Brief erneut und blieb an den letzten Zeilen wieder einmal hängen. Engste Freunde. Dieses Jahr, galt die Einladung nicht nur ihm, es sollte nicht nur eine intime, familiäre Runde werden. Nein – Freunde. Das verpönte Wort. „PS. Zeiten, in denen Du Dich nicht innerhalb der für das Fest vorgesehenen Örtlichkeiten aufhältst (Spaziergänge vor dem Haus mit oder ohne Handy, Arbeiten auf dem Laptop o.Ä. im Bad, …), werden nicht von dem Zeitkontingent abgezogenen. Wir erwarten eine kleine Runde engster Freunde.“ Sein Bruder wusste, wie man Verträge aufsetzte. Seto verfluchte in diesen Momenten, dass er Mokuba zu einem so gründlichen Geschäftsmann erzogen hatte. Er würde keine Ausrede, kein Schlupfloch, keine Nebenbeiarbeiterei auf dem Fest durchgehen lassen. Es gäbe keinen Fluchtort. Die eigentliche Problematik bestand nicht lokal – nein, Mokubas Haus und dessen Zimmer waren sehr gepflegt und stilvoll – sondern sozial. Freunde an Weihnachten waren schwer zu ertragen – noch schwerer als ohnehin schon Weihnachten zu ertragen war. Es würde ein langer, langweiliger Abend werden. Aber wenigstens würde er Lin mit der kritischen Frage konfrontieren können, warum sie ihn in ihrem Wachsmalstifegemälde mit blauem Gesicht dargestellt hatte. Vielleicht würde also doch ein interessantes Gespräch entstehen. Lin hatte ihn schon mehr als einmal positiv überrascht – obwohl ihr der Makel des Kindseins anhaftete. Andere Kinder hatte er noch nie gemocht, selbst nicht, als er selbst ein Kind gewesen war. Nur Mokuba hatte er Zeit seines Lebens geliebt, egal welchen Alters – vielleicht war das die Macht der Gene. Vielleicht erinnerte ihn Lin schlicht an Mokuba. Mit missmutig verzogenem Gesicht setzte er ein Antwortschreiben auf. Gut vier Wochen später schritt er mit Mantel und hochgestelltem Kragen zur Tür. Schneeflocken tanzten vom Himmel herab. Er verabscheute Schnee, dieses Wetter, doch vor allem den Anlass, hierher zu gehen. Weihnachten. Noch mehr würgte ihn nur die Abscheu, anderen Leuten hier begegnen zu müssen. Menschen außer Mokuba, dessen Tochter und höchstens noch seiner Frau. Er machte das nur für Mokuba, das wusste der und er selbst und hoffentlich auch alle, die anwesend sein würden. Seto kam sich vor, als gäbe er sich der Lächerlichkeit preis, wie er da im Eingang stand und zögerte zu klingeln. Schon länger war er nicht hier gewesen. Ein paar Monate auf jeden Fall. Er überlegte, ob es bereits ein halbes Jahr überschritten haben mochte. Ihn beschlich ein schlechtes Gewissen, genau jenes, das ihn immer bezüglich der Arbeit und seinem kleinen Bruder beschlichen hatte. Niemals hatte er beidem gerecht werden können, nicht zur selben Zeit. Wahrscheinlich war auch dieses Gefühl ein Motor seiner Anwesenheit heute. Der Versuch, etwas gut zu machen, was er sonst verpasste und aufschob, wofür er sich entschuldigen ließ und über der Arbeit verdrängte. Er war ein miserabler Bruder – die meiste Zeit. Heute sollte nicht dazu gehören. Er ließ seinen Blick schweifen. Mokubas Haus zeugte nicht von der Dekadenz wie die Villa, in der er ihn großgezogen hatte, aber zeigte den finanziellen Wohlstand seines kleinen Bruders auf subtile Art und Weise. Mokuba war nie ein protzendes Gör gewesen – nicht so wie er selbst. Verträumt dekorierende Lichterketten, wie Eiskristalle und Kerzen. Weihnachtsmusik wehte durch die Tür. Lachen drang an seine Ohren. Am liebsten hätte er die Geschenke vor der Tür gelassen und wäre umgekehrt. Das hier war nicht seine Welt, war es noch nie gewesen. Er würde sich den Abend über verklemmt vorkommen und unwohl fühlen zwischen all den Leuten und ihrem einfältigen Geschwätz. Und er würde sich langweilen, während sich in seinem Büro die Akten stapelten. Nur die Aussicht, seinen kleinen Bruder zu sehen, ließen seine Mundwinkel von ganz unten ein wenig hinauf wandern. Naiv genug, um zu glauben, sie hätten eine ruhige Minute, um zwischen dem dummen Geplapper der Anwesenden ein vernünftiges Gespräch zu führen, war er nicht. Er gab sich einen Ruck und drückte die Klingel. Zuerst glaubte er, dass das Geräusch durch den ganzen Krach, der die Geschmacklosigkeit von Weihnachten bewies, überhört wurde, doch dann zog jemand die Tür auf. „Hallo! Mokuba ist gerade –“ Die Worte verwehten in der Luft, die Sprachlosigkeit hinterließ eine – in seinen Augen – dümmliche Mimik. „Seto“, begrüßte Joey Wheeler ihn mit seinem Namen, als wollte er sich versichern, dass das noch immer sein aktueller war. Distanz und Kälte standen zwischen ihnen. Ein Umstand, der nicht auf räumliche Trennung oder das Wetter zurückzuführen war. „Wheeler“, entgegnete er und in seinem Ton lag genug Spott, um Besagtem ein Stirnrunzeln zu bescheren. So viel zur weihnachtlichen Bescherung, dachte er ironisch. Er musterte ihn aufmerksam. Aufmerksamer, als er es offen zugegeben hätte, denn seine desinteressierte Miene sollte dem Ausdruck genug verleihen, was er von dessen Anwesenheit hielt. Wheelers blondes Haar chaotisch wie eh und je, etwas kürzer, als er es in Erinnerung hatte, seine Augen so durchschnittlich braun wie gewohnt, seine Kleidung ließ auf einen festlichen Anlass schließen – zumindest teilweise, denn zu dem schwarzen Jackett trug er verwaschene Jeans. Um seinen Hals hing eine Kamera, was er als unwichtiges Detail einstufte. Sein Blick traf auf Wheelers, der – das sah er sofort – ihn nicht weniger desinteressiert musterte. „Inzwischen sollte selbst Ihr Gehirn in der Lage gewesen sein, die Information zu verarbeiten, dass ich hier stehe, um eingelassen – und nicht um mit dümmlichem Gesichtsausdruck angegafft zu werden.“ „Na, und? Inzwischen solltest du auch kapiert haben, dass wir uns schon vor Jahren geduzt haben – oder hat das so etwas wie Verjährung?“, fragte er ihn scharfzüngig, machte aber eine vage Geste und ließ ihn herein. „Inzwischen sind viele Jahre vergangen, seitdem wir die Ehre“, er dehnte das Wort höhnisch, „hatten“, entgegnete Seto trocken und ließ keinen Zweifel daran, dass ihm das völlig gleichgültig war. Wheeler zuckte die Schultern. „Manche Sachen ändern sich trotzdem nicht“, murmelte der und ging durch den Gang zurück ins Wohnzimmer. Seto schaute ihm hinterher, ohne die Geringschätzigkeit zu verbergen, während er sich seines durch den Schnee feuchten Mantels entledigte. Er betrachtete kritisch die drei Geschenke in seinen Händen, allesamt in Geschenkpapier verpackt, keine Engel, keine Weihnachtsbäume. Kein Weihnachten. Nur Geschenke. Vielleicht hätte er doch lieber Geld in einen Umschlag stecken sollen. Mit Geld lag man nicht falsch. Aber bei seinem kleinen Bruder, er musste bei dem Gedanken innerlich seufzten. Es war seiner Meinung nach nicht zielführend, einem reichen Mann Geld zu schenken. Allerdings empfand er es insgesamt nicht als zielführend, überhaupt etwas zu schenken. Ginge es nach ihm, säße er jetzt in seinem Büro – allein und mit Zahlen, die anderen das Fürchten lehren konnten. Mit Daten und Namen und Fakten und potenziellen Entwicklungen. Mit Ideen und Aktien und – Mokubas Grinsen riss ihn aus seinen Gedanken. Er trug seine kleine Tochter auf dem Arm und steuerte auf ihn zu. „Seto!“, begrüßte er ihn frotzelnd, „schau mal, Lin. Dein Onkel ist endlich da“, Mokuba schaute von seiner Tochter, die lächelte und Seto ihre Ärmchen entgegen streckte, zurück zu seinem Bruder, „ich hab schon gedacht, ich müsste dich persönlich abholen kommen.“ „Die wichtigen Leute kommen immer etwas später, nicht?“, erwiderte er trocken, musterte das Mädchen mit den dunklen Locken und wusste nicht, was es von ihm wollte. „Dementsprechend müsste Wheeler viel zu früh hier gewesen sein“, murmelte er und gestand sich nicht ein, dass dieser Kommentar lediglich seine Unsicherheit bezogen auf das Kind überspielen sollte – zumindest zu 70 Prozent, denn ganz inhaltslos war seine Aussage nicht. „Er war pünktlich. Na, schön.“ Noch ehe Seto etwas hätte kontern können, nahm ihm Mokuba die Geschenke aus der Hand und drückte ihm Lin in die Arme. „Was – soll das, Mokuba?“ Er wollte es nicht als Panik bezeichnen, das ihn gerade durchflutete, als ihn große, blaue Augen entgegenblickten und er seine Nichte in den Armen hielt. Den Geschenken beraubt, die er wie ein Schild vor der Brust gehalten hatte, fühlte er sich eigenartig ausgeliefert. „Du hast sie schon zwei Wochen nicht mehr gesehen und ich weiß, dass du gerne mit ihr - diskutierst“, Mokuba ließ sich nicht beirren, weder jetzt noch bei seinen Besuchen in Setos Büro. Wäre es nur nach Seto gegangen, hätte ihn die Kleine wohl inzwischen nicht mehr erkannt. „Aber – sie wird –“, zischelte Seto und sah sich schon mit einem heulenden Kind im Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit. Er musste erkennen, dass er nicht nur ein miserabler Bruder, sondern auch ein miserabler Onkel war. „Sie sieht dich beinahe jeden Tag im Fernsehen, Seto. Und wir haben dich fast jede Woche im Büro besucht. Und jedes Mal danach malt sie dich“, wandte Mokuba besonnen ein. „Immer blau?“ „Immer blau.“ Seto nickte, als hätte er sich gerade über vorhersehbare Entwicklungen von Aktien unterhalten. „Komm, Seto, wenn du willst, kannst du noch etwas essen. Es ist wie immer viel zu viel übrig.“ Mit einem nachsichtigen Blick fügte er hinzu: „Du kannst gerne auch in der Küche essen, wenn du möchtest.“ „Zählt das zu den zwei Stunden?“, fragte Seto. „Natürlich nicht“, entgegnete Mokuba trocken. Als wäre es das Natürlichste auf der Welt ein Kind in Setos Obhut zu lassen, trat Mokuba aus dem Gang in das Wohnzimmer, wo – Setos Meinung nach – das Grauen auf ihn wartete und überließ ihm selbst die Wahl – und Qual – den Zeitpunkt zu bestimmen, wann er dem ätzenden Abend in die Augen sehen wollte. Wobei von wollen keine Rede sein konnte. Er vernahm ununterbrochen das Gerede und Gelächter, die Weihnachtsmusik düdelte im Hintergrund vor sich her. Der Duft von deftigem Essen und Mandarinen und Plätzchen drang zu ihm und ließ ihn die Augen verdrehen. „Wenn du mich heute nicht im Stich lässt, dann kaufe ich dir später einmal ein Pony“, flüsterte er dem Mädchen zu und war sich unsicher, ob sie die Bedeutung schon erfasste. Aber sie musterte ihn so aufmerksam, dass er nicht überrascht wäre, sollte sie Jahre später mit genau jener Forderung auf ihn zukommen – immerhin war sie eine Kaiba. Mit durchgedrücktem Rücken betrat er das Wohnzimmer und rechnete mit dem Schlimmsten. Viele gaffende Menschen, die ihn zuckersüß anlächelten und im Chor Fröhliche Weihnacht sangen. Stattdessen trat das Zweitschlimmste ein, das er – als es geschah – auf den Platz des Schlimmsten hoch korrigierte. Wheeler musterte ihn – selbst mit einem Kind auf dem Arm – und grinste ihm debil zu. Um ihn herum saßen Altbekannte. Nur ein enger Kreis von Freunden. Muto neben der nervigen, brünetten Freundin des Kindergartens, der Typ, dessen Name er stets vergaß und eins, zwei, über die er nur gelangweilt seinen Blick schweifen ließ. Stattdessen betrachtete er lieber die Weihnachtsdekoration auf dem Tisch. Engel. Und kleine Weihnachtsbäume. Er rümpfte die Nase. Die Blicke, die ihm die Runde zuwarf, blieben ihm selbstverständlich nicht verborgen, aber er ignorierte sie. Das hatte er immerhin jahrelang perfektioniert. „Seto“, begrüßte ihn die Stimme seiner Schwägerin, die gerade aus der Küche kam. Er sah auf und nickte ihr zu. „Yukiko.“ „Wie ich sehe hat Lin dich bereits wieder erobert.“ Er versuchte sich an einem Lächeln, was – da war er sich sicher – eher einer gequälten Grimasse glich. Lin streckte die Ärmchen ihrer Mutter entgegen, die bereits auf sie beide zukam, den Tisch dabei umrundete und – lächelte. Was Seto bemerkte – und ihn gleichsam verwirrte – war die Tatsache, dass sie nicht nur ihre Tochter, sondern auch ihn mit einem aufrichtigen Lächeln bedachte. „Sie ist jedenfalls nicht das Geschenk, das ich zu überreichen gedachte“, meinte Seto trocken. Weil jemand daraufhin gluckste, starrte er grimmig in die Runde und sein Blick – wie hätte es anders sein können – blieb an Wheeler hängen, der verdächtig amüsiert zurückschaute. Jeder normale Mensch, jeder mitdenkende Mensch hätte bei seinem Blick den eigenen abgewendet und wäre ihm für den Rest des Abend – oder des Lebens, aber Seto war nicht so der dramatische Typ – aus dem Weg gegangen. Was ihn aber irritierte, waren die Blicke der anderen, die zwischen dem Köter und ihm selbst hin und her sprangen. Seto wollte die Sache nicht unnötig in die Länge ziehen, also entschied er sich gegen ein Essen in der Küche und setzte sich zu den anderen an den Tisch. Die gequälte Miene hinter dem perfektionierten Vorhang an Gleichgültigkeit verdeckt. Als er sein Smartphone aus der Hosentasche zog, traf ihn ein mahnender Blick seitens seines kleinen Bruders. Innerlich seufzend steckte er es nach ein paar Minuten wieder weg. „Wie war das eigentlich bei euch, Joey?“ Yukiko stieß Mokuba in die Seite. „Ich mein, ist – nicht so wichtig“, fügte er verlegen hinzu. Seto runzelte die Stirn. Um ihn herum tauschten die Leute geistloses Zeug aus. Sein Blick ruhte auf dem Adventskranz, der zentral auf dem Tisch platziert war. Das Licht der vier Adventskerzen flackerte. Was für eine Zeitverschwendung hier. Wheeler lächelte immer mal wieder, sagte ein paar Worte, aber seine große Klappe kam nicht zum Einsatz. Lin zog an Setos Hosenbein und forderte seine Aufmerksamkeit. „Du“, sie brabbelte etwas vor sich hin, was er akustisch nicht verstand, und zeigte auf das Bild. „Da Mama, Papa, da ich.“ Seto betrachtete das Bild, das bunte Kreise umfasste mit grinsenden Gesichtern – eines davon grinste nicht. Es war blau. Er lobte seine Nichte mental für ihre Beobachtungsgabe. Ja, er hatte ja hier auch wenig zu lachen. „Da du!“, verlangte sie und Seto schaute sich unauffällig um. Keiner schien ihn zu beachten. „Ja?“, fragte er. Lin drückte ihm das Bild in die Hände. „Mmmh“, brummte er, betrachtete das Gemälde nochmals kritisch und nickte ihr zu. Sie strahlte ihn an und trat zum Rückzug an. Seto runzelte genervt die Stirn, als das blonde Mädchen anfing zu quengeln. Wheeler nahm ihr die Reste des Keks aus den Fingern und ließ sie auf den Boden rutschen, dort wackelte sie sofort Richtung Lin. Seto versuchte das Geschwätz auszublenden und konzentrierte sich auf Mokuba. Immerhin war er seinetwegen hier. „Wie läuft das Geschäft?“, fragte er also an ihn gewandt. Sein Bruder zuckte die Schultern und grinste. „Alles super. Aber heute reden wir nicht über Geschäftliches, Seto.“ Für einen Moment verzog Seto sein Gesicht, als wollte er fragen, über was sie sonst reden sollten. „Alles gut mit –“, er schaute sich im Raum um, als suchte er ein Thema; sein Blick fiel auf die beiden Kleinkinder, die irgendwas vor sich hin brabbelten und Bilder malten, „mit Lin?“ „Ja, alles super. Wusstest du, dass sie in drei Jahren schon in die Vorschule geht?“ Seto wusste nicht, ob er eine Antwort erwartete oder ob es sich nur um eine rhetorische Frage handelte, denn er hatte davon keine Ahnung. „Yukiko sorgt sich darum, dass sich Lin dort langweilt. Sie ist verdammt clever.“ Der Stolz ließ Mokubas Augen strahlen. „Sie ist nun mal eine Kaiba“, stimmte Seto ernst zu. Seine Mundwinkel zuckten. Mokuba erzählte von seinem Plan mit seiner Familie einen Urlaub nach Europa zu machen. Seto stach es irgendwo in die Brust, als ihm klar wurde, dass er in dem Kontext nicht gemeint war. Urlaub und Familie. Seto hatte das Gefühl, dass er und sein Bruder in zwei verschiedenen Welten lebten. Nachdem Muto Mokuba und Yukiko in ein Gespräch verwickelt hatte – und Seto, allen Versuchen Mutos zum Trotz, nicht an dem Gespräch teilnahm – ließ sich Seto von Lin, die wieder an seinem Hosenbein gezogen hatte, zum Sofa führen, unweit des offen gestalteten Esszimmers, wo die Gäste zu Tisch saßen. „Dafür bekommst du eindeutig ein Pony von mir“, versprach er ihr leise. Er saß vor dem Weihnachtsbaum, trank einen Glühwein. Mehr Weihnachten konnte niemand von ihm verlangen, dachte er trocken, als er sein Smartphone aus der Tasche zog, um ein wenig von der Langeweile abzuschütteln, die ihn befallen hatte. Dann spürte er plötzlich Mokubas strengen Blick. Seto zuckte die Schultern und zeigte auf den Weihnachtsbaum. „Noch eine Stunde und zehn Minuten“, formte er lautlos mit seinen Lippen. Lin saß neben ihm, jedoch vor dem Sofa auf dem Teppich und malte geschäftig auf dem niedrigen Tisch. „So viel dazu. Du darfst arbeiten“, sprach er ihr zu, „und mir verbietet man es.“ Das blonde Mädchen malte geschäftig daneben. „Sie arbeitet doch nicht. Sie malt nur zum Vergnügen“, unterbrach Wheeler seine Gedanken. Natürlich Wheeler. Wer war dumm genug, sich ihm zu nähern und auch noch Worte an ihn zu richten – auf einem Fest – mit sozialen Kontakten? Das ungeschriebene Gesetz lautete, weder das eine, noch das andere zu tun. Aber das wäre ja nicht Joey Wheelers erster Konflikt mit Gesetzen. „Und wo schließt das eine das andere aus?“ Er erwartete Unverständnis, doch nach einem Moment, in dem Wheeler schwieg und sich scheinbar seine Worte nochmals durch den Kopf gehen ließ, nickte er. „Du hast recht. Tut es nicht.“ Plötzlich setzte er sich einfach neben ihn, als hätte er ihm nicht ganz deutlich signalisiert, dass er genau das nicht hatte tun sollen. „Wie lange warst du Gassi in den Vereinigten Staaten, Wheeler? Zehn Jahre? Und trotzdem setzt du dich wieder neben dein Herrchen.“ „Neun“, entgegnete Wheeler besonnen und innerlich ärgerte es Seto, dass sein Gegenüber kein bisschen auf seine Bemerkung einging – nicht so wie früher. „Und nach neun Jahren wird es mal Zeit, dass sich das Herrchen wieder kümmert“, fügte Wheeler provokant hinzu. Er warf ihm einen Blick zu, den er nicht genau einordnen konnte. Doch dann war der Moment vorbei, als Wheeler seine Tochter zurecht wies. „Karin! Nicht auf den Tisch malen! Nur auf das Papier!“ Das Mädchen warf ihm einen unschuldigen Blick aus großen, braunen Augen zu. Drei Minuten später malte sie erneut über den Rand des Papiers und Wheeler stöhnte, schimpfte mit ihr und legte mehr Zeitungen als Unterlage um das Papier herum. „Vielleicht würde sie ihrer Mutter folgen“, spottete Seto. „Ja. Bestimmt.“ Seto verengte seine Augen. Es war anders. Früher hätte ihm das Hündchen eine gepfefferte Antwort auf all seine Sticheleien gegeben. Jetzt schien es, als erwiderte ein müder Mann. In ihm bohrte ein Verdacht. Natürlich schaffte Wheeler es nicht, sein Leben in normale Bahnen zu lenken. Wahrscheinlich hatte sich die Frau von ihm getrennt, weil sie sein dämliches Geschwätz nicht mehr ertragen konnte. Eine Trennung kam heutzutage doch dauernd vor, selbst mit einem Kind. Das hieß schon lange nichts mehr. „Wie banal“, urteilte Seto und tippte weiter auf seinem Phone. Als Wheeler ihn schweigend musterte und diesen nervenden Blick einfach nicht von ihm abwenden wollte, sah er hoch. „Was?“, fragte Seto mit verengten Augen, als Wheeler einfach nicht den Mund aufmachte, sondern – im Gegenteil – noch die Lippen aufeinander presste. Nur kurz, aber er bemerkte es natürlich. Sicherlich war er noch nicht über die Trennung hinweg. „Leider ist sie gestorben – bei einem Autounfall. So – banal.“ Seto erstarrte. Wheeler schaute zur Seite, ihn an und schenkte ihm ein Lächeln, in dem Traurigkeit waberte. „Keine Sorge, ich brech' vor dir nicht in Tränen aus. Es war vor zwei Jahren ungefähr. Aber mir kommt es vor wie –“ „– gestern“, beendete Seto den Satz für ihn. Wheeler schaute ihn einen Moment an, als suchte er etwas in seinen Augen, dann schwenkte sein Blick wieder zu seiner Tochter. Trotzdem konnte er den Schmerz nicht aus seinen Gesichtszügen verbannen. Seto erkannte dieses Gefühl, denn er hatte es als Kind selbst erlebt. „Ja – genau so“, murmelte Wheeler, wie ein alter Mann. Abgestumpft, weil es anders nicht zu ertragen war und melancholisch, weil es ständig auf dem Herzen lastete, wie eine Last, die einem den Atem nahm. Etwas, das man den anderen verbarg, weil man es sonst selbst nicht schaffte, weiterzumachen. „Ja, ich weiß“, sagte Seto und sonst nichts; nicht, weil es dazu nicht mehr zu sagen gab, sondern weil Wheeler wusste, dass es so war. Stille breitete sich zwischen ihnen aus. Die beiden Kinder vor ihnen malten ohne Sorgen und Kummer. Setos Blick blieb an dem blonden Mädchen hängen. Wahrscheinlich bemerkte Wheeler das, andernfalls konnte sich Seto nicht vorstellen, wie der auf seine folgende Frage kam. „Hast du Kinder?“ Seto fixierte ihn einen Moment, als wäre es eine ungeheure Frechheit, auf so einen Gedanken zu kommen. Aber dann besann er sich. Er sah nichts Angreifendes in Wheelers Augen. Vielleicht war es nur der Versuch, die Stille zu überlisten. „Nein, immerhin habe ich –“ „– keine Roboterfrau?“, stichelte Wheeler. Setos Augen verengten sich. „Ein Unternehmen zu leiten.“ „Ich hab gelesen, dass –“ „Gelesen“, bemerkte Seto und sein Ton trug diese spöttische Note. Wheelers Mundwinkel zuckten. „Ja, wir entwickeln uns alle weiter, nicht? Jedenfalls – ich hab gelesen, du hast BWL und Jura studiert?“ „Du liest und dazu auch noch Zeitungen? Ich dachte, Hündchen geben den ganzen Tag nur Pfötchen“, provozierte Seto ihn und er spürte etwas in seinem Magen. Keine Schmerzen, sondern das Gefühl, wie wenn man auf den wachsenden Aktienindex sah. „Ich hab's in so ner Klatsch-Zeitung gelesen. Du bist übrigens nicht mehr der beliebteste Junggeselle“, stichelte Wheeler, „wahrscheinlich bist du denen inzwischen zu alt.“ „Ich dachte schon, du hättest das Wirtschaftsmagazin gelesen. Da wurde meine Biografie veröffentlicht. In der Reihe Die erfolgreichsten Geschäftsmänner. Ich denke, der Platz in der Reihe Beliebteste Junggesellen ist daher abkömmlich.“ Wheeler gluckste. „Dann ziehst du Jura und BWL also immer noch dem normalen Leben vor.“ „Ja, es war ein interessanteres Hobby.“ „Ein Hobby?“ „Das ist eine freiwillige Tätigkeit, die man betreibt, zum eigenen Lustgewinn und der Entspannung.“ „Ich weiß, was ein Hobby ist“, entgegnete Joey knurrend, ehe er sich durch sein Haar fuhr und schnaubte. „Geldsack.“ „Flohschleuder.“ „Eisschrank.“ „Fotograf.“ „Was?“, fragte Wheeler verwirrt. „Deine Ausbildung. Mokuba erwähnte es mal.“ „Mokuba redet mit dir über mich?“ „Er redet über alle möglichen soziale Kontakte, um mich von der Arbeit abzuhalten. Ich musste mir also die ein oder andere Hast du schon gehört-Sache geben“, erklärte Seto grimmig. Wheeler grinste ihn an und in diesem Moment hatte er das Gefühl, den Sechzehnjährigen neben sich sitzen zu haben, den er so viele Jahre gekannt hatte. Nicht den Mann, der ihm fremd geworden war. „Du warst ein professioneller Gamer. Ein – für deine Verhältnisse – erstaunlich erfolgreicher. Warum also plötzlich Fotografie?“ Wheeler schob den Mund vor, als schmollte er. „Tz. Für meine Verhältnisse, erstaunlich. Pf. Ich bin reich als Gamer geworden“, behauptete er, „so viel zu meine Verhältnisse, erstaunlich und erfolgreich.“ „Reich für deine Verhältnisse“, entgegnete Seto herablassend. „Wäre ich noch sechzehn, würde ich dir jetzt mein Kontoauszug zeigen.“ „Und was machst du jetzt, wo du so erwachsen bist?“ Wheeler winkte ab und zuckte die Schultern, nach einem Moment, in dem sie beide schwiegen, fuhr er fort, Setos ursprüngliche Frage zu beantworten. „Als Gamer musst du immer auf Zack sein. Immer die neuesten Spiele, immer – spielen. Es war total stressig, ich bin kaum noch vom Bildschirm weggekommen. Irgendwann hatte ich das Gefühl, ich verpass' das richtige Leben.“ Wheeler lehnte sich zurück, während er ein Auge auf die beiden Mädchen hatte. „Aber Dawn of the Dragon war gut“, meinte er nach einer Pause. Seto musterte ihn aus den Augenwinkeln. „Mmmh“, brummte er. „Vor allem, weil ich es kostenlos spielen durfte“, frotzelte Wheeler. „Die Entwicklung dauerte mehr als fünf Jahre –“ „Ja, du warst sehr langsam bei der Entwicklung von dem Spiel damals, Kaiba.“ Seto schnaubte. „Und du fandest es nur gut?“ Wheeler gluckste. Schon wieder. Irgendwie mochte Seto es, wenn er Wheeler diesen Laut entlocken konnte. Denn in diesen Momenten bröckelte die Fassade der Melancholie an diesem ab. Das Hündchen als abgestumpfter Mann von Welt. Das war nicht richtig. Das war schon er selbst. „Hey, ihr vier! Macht ihr heimlich schon die Geschenke auf?“ Seto hob die Augenbrauen, als seine Schwägerin ihn vom Essbereich aus angrinste und mit der Kamera vor der Nase ein Bild von ihnen knipste. Ihn – Seto Kaiba – zu bezichtigen, heimlich Geschenke auszupacken mit zwei Kleinkindern und Joey Wheeler grenzte nicht nur an eine provokante Unverschämtheit. Er erkannte in Yukikos Mimik, dass ihr das durchaus bewusst war. „Bescherung!“, rief sie über ihre Schulter und Seto stöhnte gepresst, was ihm einen amüsierten Blick seitens Wheeler einbrachte. „Freust du dich nicht, Geschenke auszupacken?“ „Alles, was ich als Geschenke könnte haben wollen, schenke ich mir kurzerhand selbst. Ein Hoch auf die finanzielle Unabhängigkeit.“ Wheeler grinste. „Darum geht’s doch bei der Bescherung gar net“, behauptete er. Worum es dann ginge, konnte Seto ihn nicht mehr fragen, denn um ihn herum machten erwachsene Menschen plötzlich einen Krach wie eine Kindergartengruppe, als sie sich um den Weihnachtsbaum versammelten und begannen Oh, Tannenbaum zu singen. Genervt verzog Seto sein Gesicht, doch als er sich umsah, die ganzen Leute, die Mokuba seine Freunde nannte, er mit seiner Frau und ihrer gemeinsamen Tochter, da beschlich ihn ein Gefühl, dem er sonst nur geringe Beachtung zollte. Erleichterung. Denn irgendwie war es auch sein Verdienst, wo Mokuba heute stand. Er hatte vielleicht doch nicht alles als großer Bruder falsch gemacht. Um ihn herum tauschten die Menschen Geschenke, die bisher unter dem Weihnachtsbaum auf ihren großen Moment gewartet hatten. Seto beobachte, wie Lin das Geschenk öffnete, das er ihr gemacht hatte. Einen Moment fürchtete er ihre Reaktion. Sollte sie anfangen zu heulen oder zu schreien oder – sie strahlte ihn an, als sie die Buntstifte in den Händen hielt. Sie schaute ihn mit ihren großen, blauen Augen an – eindeutig Mokubas Augen – und brabbelte aufgeregt. „Wie schafft sie das nur“, flüsterte ihm jemand zu. Wheelers Stimme. Er spürte, dass er ihn von der Seite aufmerksam betrachtete. „Wer hat was geschafft?“, hakte Seto desinteressiert nach. „Sie hat dich zum Lächeln gebracht.“ Als müsste er diesen Umstand durch einen besonders finsteren Blick ausgleichen, schaute er ihn bedrohlich an. Wheeler gluckste leise und Seto zwang sich, das Gefühl in seinem Magen zu ignorieren. Nachdem überall Geschenkpapier lag und Seto mit zusammengepressten Lippen Weihnachtsgrüße entgegengenommen hatte, behauptete Wheeler neben ihm, so dass nur er es hörte: „Dawn of the Dragon war deshalb nur gut, weil es ohne die Erweiterung keine Multiplayer-Funktion gab, in der man zusammen gegen die Drachen kämpfen konnte. Es gab nur die Möglichkeit gegeneinander zu spielen.“ „Ursprünglich war geplant, dass man als Drachen gemeinsam gegen die Menschen spielen kann.“ „Warum wurde die Idee nicht umgesetzt?“, hakte Wheeler nach und blickte ihn erwartungsvoll an. „Drachen kämpfen nicht gemeinsam. Sie sind Einzelgänger, sind von keinem abhängig. Ich verwarf die Idee.“ „Du glaubst jetzt, dich in ihnen wiederzuerkennen, nicht?“, spöttelte Wheeler grinsend und lehnte sich dann vor, um ihm ernst in die Augen zu sehen. „Dabei ist das totaler Blödsinn. Dein altes Deck beweist es.“ Seto runzelte die Stirn, hob eine Augenbraue. „Offensichtlich“, erwiderte er trocken, doch Wheeler ließ nicht nach. „Du checkst es echt nicht, oder?“ Seto warf ihm einen mahnenden Blick zu, doch Wheeler ließ sich davon nicht beeindrucken – das hatte er noch nie. „Deine drei Weißen sind das Sinnbild für den gemeinsamen Kampf von Drachen. Nicht erst, wenn sie fusionieren –“ Seto betrachtete Wheelers Mimik, seine funkelnden Augen, als erinnerte er sich an eine tolle Zeit, bemerkte den Ton dessen Stimme, der signalisierte, dass er bei dem Thema aufblühte. Seto verstand nicht, warum. Vielleicht fragte er deswegen spöttisch, ob Wheeler überhaupt wüsste, was ein Sinnbild ist. „Dir ist es doch nur peinlich, dass das, was ich sage, mehr Sinn macht, als das, was du so behauptet hast“, erwiderte Wheeler nonchalant. Seto öffnete den Mund, um etwas Kluges und Schlagfertiges zu entgegnen, aber in diesem Moment nahm Yukiko Lin von seinem Schoß, was er mit einem verstimmten Blick quittierte. „Sie muss langsam ins Bett“, entschuldigte seine Schwägerin mit einem Lächeln im Gesicht, als ob Seto eine Erklärung ihres Handelns gefordert hätte. Wheeler beobachtete das Geschehen und strich seiner Tochter, die mit einer neu erhaltenen Puppe spielte, über den Kopf. „Ich werde mich langsam auch auf den Weg machen“, warf er ein, „Karin wird unerträglich, wenn sie nicht rechtzeitig ins Bett kommt und ich muss noch gut eine halbe Stunde nach Hause fahren von hier aus.“ Die Runde verabschiedete sich. Seto war kurz davor, die Augen zu verdrehen, genervt zu schnauben, einen sarkastischen Kommentar von sich zu geben – oder alles drei – als sich Wheeler an ihn wandte, die freie Hand (auf dem anderen Arm trug er ja seine kleine Tochter) auf Setos Schulter legte und ihn angrinste. „Bis bald mal wieder.“ „Mmmhm“, brummte Seto und fühlte sich deplatziert. Als Ruhe einkehre und Mokuba die Tür schloss, grinste ihn sein kleiner Bruder vielsagend an. „Vier Stunden und siebenundfünfzig Minuten“, stellte er in den Raum. Setos Augenbraue fand den Weg instinktiv nach oben. „Bis?“, hakte er nach. „Nichts bis. Solange bist du bereits hier.“ Seto schaute ihn abwägend an. Doch obwohl er sicher war, dass ein Außenstehender niemals die Überraschung aus seiner Mimik und Gestik hätte herauslesen können, wusste er, dass seinem kleinen Bruder das mühelos gelang. „Und ist es dir nicht aufgefallen? Außerdem. Joey hat den ganzen Abend kein einziges Mal gelächelt, erst, als er mit dir –“ „So ein Unsinn“, unterbrach Seto seinen kleinen Bruder unwirsch. So ein haltloses Geschwätz musste er sich nicht geben – auch nicht von Mokuba. Er hörte der Stille einen Moment lang nach, die ihm schon beinahe bizarr in den Ohren klang, nachdem sie sich an den Lärm der Gäste gewöhnt hatten. „Endlich – damit haben wir Weihnachten wohl für dieses Jahr abgehakt. Ich verabschiede mich und wünsche euch noch einen schönen Abend.“ Seto nickte Mokuba zu, der es sich nicht nehmen ließ, ihn in eine Umarmung zu ziehen. Es würde Seto wohl sein Leben lang überraschen, dass Mokuba so groß war wie er selbst, denn in seinen Gedanken sah er immer noch den kleinen Jungen vor sich. Steif klopfte er seinem kleinen Bruder auf den Rücken, doch ein Lächeln legte sich auf seine Lippen. Nachdem Yukiko ihm noch Plätzchen aufgedrängt hatte und Mokuba ihn darauf aufmerksam gemacht, er solle seine Geschenke nicht vergessen, saß Seto endlich in seinem Auto und atmete durch. „Und jetzt – noch ein bisschen arbeiten, um den Abend ausklingen zu lassen.“ In den Büros der KC hing Ruhe und Dunkelheit. Letzteres verdrängte das Licht, als Seto den Schalter drückte. Die Plätzchen stellte er auf seinen Schreibtisch, die Geschenke legte er daneben und vergaß, sie zu öffnen. Denn er vergrub sich in die Dokumente auf seinem Bildschirm. Arbeit war verlässlich, er konnte sich in ihr vergraben und so tun, als gäbe es nichts außer ihm und diesen Zahlen vor sich. Zahlen voller Macht und ihn, der ihnen diese Macht entlockte. Aber Mokuba verstand das nicht. Er glaubte ihm nicht, wenn er sagte, dass er zufrieden mit seinem Leben war – genau so, wie es momentan lief, so wie es all die vergangenen Jahre verlaufen war und so wie es, hoffentlich, auch in Zukunft verlaufen würde. So wäre es wahrscheinlich auch, hätte nicht eine Woche später das Telefon bei ihm geklingelt. Seine Sekretärin leitete ihm weiter, dass ein Herr behauptete, einen Termin bei ihm zu haben, allerdings wäre nichts darüber im Kalender vermerkt. Deswegen hakte die Frau höflichst bei ihrem Vorgesetzten nach, was er zu tun gedachte. „Name?“, wollte Seto genervt wissen. Er hatte wirklich genug zu tun. Unangemeldete Geschäftspartner wies er gewöhnlich ab. „Joseph Wheeler steht auf seinem Ausweis.“ Seto ließ seinen Blick durch die Fensterfront seines Büros schweifen. Draußen reflektierten sich die Sonnenstrahlen in den Schneeflocken, die sich auf den Dächern und Straßen sammelten. Noch war der Schnee weiß, doch schon heute Nachmittag würde lediglich braunschwarzer Schlamm übrig bleiben. „Lassen Sie ihn durch. Ich erwarte ihn.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)