Mondscheinkinder von abgemeldet (Adventskalender Tag 18) ================================================================================ Kapitel 1: Mondscheinkinder --------------------------- Das Kendodojo der Familie Wakahisa, das Generation für Generation an den fähigsten Sohn weitergegeben worden war, befand sich außerhalb der nächsten Stadt in einer kleinen Talsenke. Man konnte den Weg dorthin gut finden. Die Straße war gepflastert und wies Spuren regelmäßiger Reparaturen auf. An Stellen, an denen man sich verfahren konnte, hatte ein weiser Mann Richtungsschilder angebracht, die mit verschiedenen Kendobegriffen geschmückt waren. Ansonsten besaß man immer noch die Möglichkeit, nach den Weg zu fragen. Felder säumten die Umgebung. Die Bauern waren größtenteils von herzlicher Natur. Sie freuten sich über Besuch in ihrer abgelegenen Ortschaft. Als Sharrkan abends von der Komiteesitzung seines Clubs nach Hause kam, wurde er auf dem Parkplatz vor dem Gebäude von etlichen Autos und Fahrrädern begrüßt. Er hatte gedacht, den Anblick mittlerweile gewohnt zu sein, schließlich begegnete er ihm zu jeder Trainingsstunde seit Anfang des Sommers und seit Eintreffen der Neuanmeldungen, trotzdem freute er sich jedes Mal aufs neue. Die Neulinge kamen regelmäßig – von Grundschülern über zu Erwachsenen, die im Alter eine Herausforderung suchten. Dieses Jahr lief es endlich wieder für das Dojo. Gutgelaunt warf er sein eigenes Fahrrad in eine Ecke, begrüßte den reich geschmückten Schrein für seinen ehrwürdigen Ur-Ur-Ur-Großvater am Eingang der Haupthalle und stürmte dann hinein. Allerdings nur, um sie zu seiner Enttäuschung verlassen vorzufinden. Der einzige, den er entdeckte, war der russische Austauschschüler Bogomolov Aljoscha, der bei ihnen wohnte und sich mit Feuereifer in die Lehren des Kendo gestürzt hatte. Seine Bemühungen waren zweifelhaft erfolgreich. Talent hatte er, Willen ebenfalls, aber ihm fehlten Geduld und Geschick. Sharrkan zog ihn gerne damit auf, er wäre schon als Vierjähriger besser gewesen. Vielleicht war er das sogar gewesen. Nicht umsonst würde er eines Tages den Dojo erben und war momentan Leiter des Kendoclubs seiner Schule. Er konnte sich lediglich nicht an sich selbst vor 13 Jahren erinnern, aber das hieß nicht, dass er nicht der Überflieger gewesen war, der er vorgab zu sein! Aljoscha hantierte an den Fenstern herum. Sharrkan vergrub die Hände in den Hosentaschen und kam näher, bevor er irritiert fragte: „Was machst du da?“ Seine Mundwinkel hoben sich, als er das Zusammenzucken bemerkte, das Aljoscha zu unterdrücken versuchte. Ein genervter Blick wurde ihm von der Seite zugeworfen, dann machte der andere mit seiner Tätigkeit weiter. Es sah aus, als würde er das Glas mit einer Schicht Wasser bedecken. Ein riesiger Fenstersticker ohne Motiv. Oder ein Fliegengitter, das allein durch seinen Gestank die Insekten vom Hereinfliegen hinderte. Allerdings roch Sharrkan nichts. Und dunkler wurde der Raum dadurch auch nicht. „Sensei hat mir befohlen, dieses Zeug anzubringen. Wir haben einen neuen Schüler aufgenommen. Er hat eine Krankheit oder sowas ähnliches. Sensei erklärt es den anderen gerade in der Vorhalle und stellt das neue Trainingsprogramm für diesen Monat vor.“ „Aha...“, erwiderte Sharrkan. Er gab Aljoscha einen aufmunternden Klaps auf dessen Rücken, weil seine Aussprache weiterhin wie rausgerotzt klang. Wortvielfalt, Grammatik und Schriftsprache – alles kein Problem. Aber in dem Versuch, seiner Aussprache die russische Schärfe und Kantigkeit zu nehmen, erreichte Aljoscha den Ohren zerfressenden Effekt einer schleimig-fließenden Ausdrucksweise. Sharrkans Mutter sagte immer, man müsse ihm helfen und nicht ihn aufziehen. Also tat Sharrkan das. Auf seine eigene Weise. Einen Augenblick noch stand er unschlüssig in der verwaisten Halle herum. Er könnte warten und Aljoscha etwas Arbeit abnehmen. Das Trainingsprogramm hatte er zusammen mit seinem Vater entworfen und kannte es dementsprechend auswendig. Allerdings war er neugierig auf den neuen Schüler. Welche Krankheit hatte er? Wie war er drauf? Konnte er schon ein bisschen was? Wie alt war er? Sharrkan fühlte sich manchmal verflucht. Jeder im Dojo war älter oder jünger. Gleichaltrige traten vermutlich lieber Schulclubs bei, aber ihm hätte das nicht gereicht. Hier war der Ort, an dem sein Talent seinen Anfang genommen hatte und hier würde es weiter wachsen. Mit schnellen Schritten rannte er auf die Verbindungstür zu. Die Stimme seines Vaters kam näher, während er wieder langsamer wurde und die Tür selbst ganz leise aufschob, um nicht zu stören. Die Schüler saßen in drei Reihen zu je sechs bis acht Leuten vor Sensei Wakahisa. Seine Stimme trug gleichmäßig über sie hinweg, als er das allgemeine Trainingsprogramm vorlas, verschiedene Schritte erläuterte und Fragen stellen ließ. Jeder hatte einen eigenen, auf ihn zugeschnittenen Plan bekommen, der erst später relevant werden würde, trotzdem gab es öfters jemanden, der bereits jetzt nachfragen wollte. Sensei Wakahisa wies dies streng und ein wenig barsch ab. Er war kein lockerer Kumpeltyp. Seine Schüler während einer Besprechung sitzen zu lassen, war für ihn vermutlich das höchste der Gefühle. Sharrkan brauchte nicht lange hinter dem Rücken seines Vaters vorbei zu schielen, um den neuen Schüler zu entdecken. Er saß am linken Ende der zweiten Reihe, die Beine angezogen, seinen Blick konzentriert auf den Sensei gerichtet. Dafür, dass er angeblich krank war, wirkte er ausgesprochen gesund. Nicht normal, aber gesund. Für die Normalität eines japanischen Schülers hatte er zu helle Haut, die nie dem Sonnenlicht ausgesetzt zu werden schien. Auch seine Haare waren ungewöhnlich. Ein weißblonder Ton, der sich eher ins Weiße neigte und der im Gegensatz zu Sharrkans Haaren, bei denen er mit der Geschwindigkeit eines Ninjas nachfärben musste, um den Ansatz zu verbergen, natürlichen Ursprungs zu sein schien. Dazu kam ein von Sonnensprossen gesprenkeltes Gesicht und dunkelblaue Augen. Sharrkan nahm es mit einiger Neugier im Geiste hin. Seit Aljoscha, dessen blonde Haare ebenfalls völlig ungefärbt waren, fühlte er sich wie ein Experte im Umgang mit Ausländern. Außerdem war er selbst nicht ganz Japaner. Gut, seine grünen Augen verdankte er Kontaktlinsen, aber eigentlich dienten Haare und Augen dazu, sein natürlich exotisches Aussehen zu unterstreichen, das er von seiner Mutter geerbt hatte. Ihre Eltern hatte es noch vor ihrer Geburt aus dem Iran hierher verschlagen und Sharrkan merkte man es mehr an als seinen Geschwistern. Ein paar Stunden in der Sonne sparten ihm ein Leben lang das Geld fürs Solarium. „Da bist du ja!“ Versunken in der Betrachtung des Neuen, erschreckte ihn die plötzliche Aufmerksamkeit seines Vaters. Mit einem aufgezwungenen Lächeln nickte er ihm zu und versuchte, nicht eingeschüchtert auszusehen. Zu spät kommen war okay, verängstigt sein weniger. „Wenn ich fertig bin“, sprach sein Vater an ihn gerichtet weiter“, hilfst du Yukimaru beim Anziehen der Trainingsrüstung und weist ihn ein. Verstanden?“ „Ja, Sensei.“ Sharrkan merkte sich den Namen desjenigen, zu dem er sich nun setzte. Er nahm sich einen Moment, um ihn ungeniert aus aller Nähe zu mustern. Der andere erwiderte die Geste ungerührt. Sharrkan lächelte und bekam als Dank ein eisgekühltes Nicken, bevor sie gemeinsam weiter zuhörten. Aus der Haupthalle erklang derweil ein Rumpeln, das sich nach einem von der Leiter fallenden Aljoscha anhörte. Da Sensei Wakahisa es ignorierte, rührte sich niemand. Nur Yukimaru rückte unruhig hin und her. Er warf einen Blick zur Haupthalle, aus dem unterschwelliges Unwohlsein sprach. Sharrkans Musterung wurde schärfer. Er wollte zu gerne mehr von ihm wissen. Kein Anfänger trug bei den Übungen die Trainingsrüstung. Sie schadete dem Lernprozess mehr als sie half. Dennoch musste man sich darauf verstehen, sie anzulegen. Sharrkan zeigte es Yukimaru unter viel Gefluche. Zu seinem Bedauern musste er feststellen, dass dieser null Erfahrung besaß. Er mochte ein schnelles Auffassungsvermögen sein Eigen nennen und er wirkte bereitwillig, sich einweisen zu lassen, aber das tröstete Sharrkan nicht über das Fehlen eines würdigen Konkurrenten hinweg. Immerhin hatte er jemanden in der unmittelbaren Nähe seines Jahrgangs gefunden, an den er sich vorsichtig heranzutasten versuchte. „Yuito-san, der da hinten mit den Handgelenkschonern, ist Student. Er gibt am Wochenende eine Party. Alkohol, ungebundene, weltoffene Weiber und keine Alten in der Nähe. Bock zu kommen, Yuki-kun?“ Er hatte das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben, obwohl Yukimaru mit einem höflichen „Nein, danke“ ablehnte. Er konnte sein Gesicht nicht sehen, weil er gerade an seinen Rücken einen Knoten band, aber der Tonfall sagte nichts Gutes aus. Er versuchte, die merkwürdige Reaktion zu überquatschen. „Ich bin übrigens Sharrkan. Wakahisa Sharrkan, aber das hast du wahrscheinlich schon geahnt. Und du, Yuki-kun?“ „Yukimaru.“ „Ich weiß“, erwiderte Sharrkan mit einer gewissen, aggressiven Irritation. „Hast du keinen Vornamen?“ „Jafar. Ich bezweifle allerdings, dass wir schon so weit sind.“ Schnaubend angesichts der unnötigen Zurechtweisung band er den nächsten Knoten fest genug, um ihn nur durch Aufschneiden wieder aufzubekommen und sagte angefressen: „Tut mir leid.“ Falls es Jafars Intention gewesen war, die Konversation zu ersticken, war ihm das für die nächste Zeit problemlos gelungen. Nachdem sie mit der Rüstung fertig waren, führte Sharrkan ihn durch die Haupthalle, die bereits gefüllt war mit dem Geräusch von Treffern und den begleitenden Kampfschreien. An einer Seite hingen die Übungsschwerter. Sharrkan ließ Jafar sein Shinai selbst wählen. Er beobachtete gerne, welches der nummerierten Übungsschwerter sich die Anfänger griffen. Nahmen sie beim nächsten Mal das gleiche, bestand Hoffnung für sie. Später schafften sich die meisten ein eigenes an. Nichts lag einen so gut in den Händen wie sein eigenes Shinai. Im letzten Augenblick, bevor sie Teil der Gemeinschaft in ihren Rücken wurden, hielt Sharrkan Jafar zurück und brach ihr Schweigen. Seine Miene verriet seine Neugier, als er fragte: „Aljoscha-chan, der dieses Zeug an die Fenster gehangen hat, meinte, du hättest eine Krankheit...?“ Natürlich war es nicht nur Neugier, sagte er zu sich selbst. Er musste wissen, wie viel er Jafar zumuten konnte, schließlich war er sein Senpai. Und wer wusste schon, was für Gefahren noch hinter dem unbestimmten Terminus „Krankheit“ lauerte? Jafar schien sich an der Frage nicht zu stören und leierte erstmal ein unaussprechliches Wort in einer fremden Sprache herunter, bevor er auf Sharrkans Verwirrtheit reagierte. „Mondscheinkrankheit. Wenn ich mich im Sonnenlicht befinde, kriege ich nicht nur schneller einen Sonnenbrand, sondern meine Haut verbrennt. Es... bilden sich Sachen auf der Haut und ich kann Krebs kriegen. Deshalb auch das Zeug, das dein Freund an den Fenstern angebracht hat. Es verhindert das Eindringen von UV-Strahlen.“ Später erfuhr er weitere Kleinigkeiten. Er sah die Sonnencreme Lichtschutzfaktor 60, die Jafar vor jedem Verlassen des Hauses auftrug, bemerkte den Unterschied zwischen seiner Kleidung und normaler Kleidung und half ihm dabei eine Kappe über den Kopf zu ziehen, die unter normalen Umständen urkomisch gewesen wäre. In diesem Moment war er jedoch voranging verblüfft, was für seltsame Krankheiten es auf der Welt gab. Zudem sah Jafar immer noch nicht krank aus. Wie jemand mit Asthma oder Diabetes, bei denen Sharrkan sich nicht erklären konnte, woher der dramatische Faktor der 'Krankheiten' kommen sollte. In Anbetracht ihrer vorherigen Unterhaltung verdrehte er die Augen heimlich und kein Kommentar verließ seine Lippen. Er nickte freundlich und mitfühlend. Nicht, dass es Jafar interessiert hätte. Nach seiner Erklärung war er schnurstracks zu einer freien Stelle gegangen, die sich in einem relativ dunklen Bereich der Halle befand. Sharrkan folgte ihm dahin. Aus Unlust, sein Shinai aus seinem Zimmer zu holen, hatte er sich ebenfalls eins der gebrauchten Übungsschwerter gegriffen. Für die Grundlagen und für Jafar reichte es allemal. Jafar Lerntempo war erstaunlich. Sharrkan kümmerte sich mehr um ihn, als er sollte. Es war die Faszination, die Jafars Dynamik in ihm auslöste. Für einen Anfänger punktete er in einer erstaunlichen Schnelligkeit, sowohl was seine Bewegungen als auch das Begreifen der Technik anging. Gelegentlich versuchte Sharrkan neben dem Kendo ein Gespräch zum Laufen zu bringen. Mal erzählte er von der Herkunft seines Namens aus der Geschichtensammlung 'Tausend und eine Nacht', die seine iranischen Großeltern hoch schätzen, da das heutige Iran der Mittelpunkt des früheren Persien gewesen war. Er hoffte, damit Kontakt zu Jafar knüpfen zu können, dessen Name genauso exotisch klang. Ein anderes Mal bekam Jafar lustige Geschichten zu hören. Über Aljoscha, der sich die ersten Tage in seinen Winterklamotten aus Russland totgeschwitzt hatte. Über den glorreichen Abend, als Sharrkan betrunken über ein Auto gesprungen war. Und, was natürlich auch nicht fehlen durfte, war Sharrkans Abschlussfeier in der Mittelstufe als er die Geiselnahme einer Mitschülerin durch einen fremden Jungen vereitelt hatte, der sie hinter die Sporthalle geschleift und ausgezogen hatte. Den Teil, in dem das Mädchen ihn anschrie anstatt ihren Entführer, verschwieg er bereits so lange, dass er ihn schon selbst vergessen hatte. Jafar entlockte das immerhin die Reaktion, ihn anzusehen, als wäre er ein Idiot und abweisend zu erwidern, er möge keinen Alkohol. Sharrkan reagierte ungläubig. Er verstand durchaus, etwas nicht zu mögen. Er selbst mochte kein Fleisch, allerdings gehörte Fleischessen zum Alltag, wie es dazu gehörte, mal feiern zu gehen, sich zu betrinken und sexuelle Erfahrungen zu sammeln. Sie kamen nicht wirklich auf einen gemeinsamen Nenner. Was sie irgendwann doch zusammenbrachte, war Kendo. Nachdem Sharrkan lange Jafars Fortschritte beobachtet hatte, war er sich sicher, die beiden Dinge erkannt zu haben, die Jafar fehlten. Stärke und – noch viel schlimmer – inneres Gleichgewicht. Jafar brachten die Übungen nicht zur Ruhe, sie heizten ihn auf. Innerlich jubelnd bugsierte Sharrkan ihn eines Tages in die Vorhalle und forderte ihn zu einen echten Kampf heraus, wie er es nannte. Er sparte sich die großen Worte. Das Ganze versprach viel zu viel Spaß, um es mit Reden zu verderben. Sie schafften fünf Kämpfe an diesem Tag. Zwar hatte Jafar keine Chance, doch dafür nahm Sharrkan sich ein wenig zurück. Es war weiterhin mehr eine Lehrstunde denn ein Kampf auf Leben und Tod. Was Jafars Gereiztheit ob seiner Verlierersträhne nicht senkte. Am Ende floss eine derbe Schimpftirade aus seinem Mund, die Sharrkan erst mal verkraften musste, bevor er losprustete. Er hatte schon gedacht, Jafar wäre mal eingefroren worden, ohne hinterher lange genug in der Mikrowelle gewesen zu sein, damit auch sein Innerstes auftauchte. Irgendwie war es ein netter Moment zwischen ihnen, an dem auch Jafars Flüche nichts änderten, die er kurz darauf an seinen Senpai richtete. „Du...“ - ein verkrampftes, hüstelndes Lachen unterbrach Sharrkans Sprachversuch - „verlierst ni... nicht gerne, hmmm? ... ahahaha...“ Womöglich lachte er ein bisschen zu laut, denn keine Minute später stand sein Vater mit einem beängstigenden Blick im Türrahmen. Jafar schien versucht, sich hinter Sharrkan zu ducken, aber letztendlich stand er seinen Mann. Sharrkan stammelte eine Erklärung, die er mit einem selbstbewussten Lächeln und mehreren Klopfern auf Jafars Rücken schmückte. Jafar lächelte mit. Es schien tatsächlich zu wirken. Als wäre nichts gewesen, gingen sie zurück in die Haupthalle und beendeten ihr Training. Der Schulclub nahm Sharrkan mehr in Anspruch, als er anfangs gedacht hätte. Seine Hausaufgaben, die er sowieso für abscheulich hielt, schluderten vor sich hin. Morgens rannte er zu seinem Fahrrad und vergaß, sein Essensgeld mitzunehmen. Abends kam er spät nach Hause. Abgesehen von den Trainingsstunden am Wochenende kam er zu jeder einzelnen zu spät. Sein Vater mochte mal ein Auge zudrücken, aber er tat es nicht immer. Es war ein schlechtes Licht auf ihn und die Disziplin im Dojo. Das war es auch, was er seinen Sohn Anfang des Herbstes barsch mitteilte und ihn komplett vom Training ausschloss, bis er seine schulischen Leistungen wieder in den Griff bekommen hatte. Für Sharrkan war es ein Schlag in den Magen. Die folgenden Tage verbrachte er mit Hausaufgaben, Lernstoff und den Spähen aus seinem Fenster, das ihm einen ungehinderten Ausblick auf das Dojo erlaubte. Spannend war es nicht. Er sah Silhouetten an den Fenstern vorbeihuschen, verfolgte Aljoscha dabei, wie er etwas aus dem Wohnhaus holte oder sah seinen Vater vor der Halle mit einem Schüler sprechen. Er versuchte, nicht wütend zu sein und die Grundsätze des Kendo zu beherzigen. Mit den Konsequenten seines Verhaltens hätte er längst rechnen müssen. Allerdings wäre es effektiver gewesen, eine Tube Wasabi zu essen und das Brennen seines Mundes zu ignorieren, als seine Verbitterung runter zu schlucken. Eigentlich wurde die Wut nur schlimmer, wenn er sie selbst verschuldet hatte. Eineinhalb Woche nach seinem Ausschluss war er fast froh darum. Sein Chemielehrer hatte einen bösartigen Test angekündigt und Sharrkan konnte sich nicht mehr erinnern, wie zur Verdammnis er die Prüfungen vor den Sommerferien bestanden hatte, ohne durchzufallen und die Sommerschule besuchen zu müssen. Sein Gedächtnis hatte sich komplett verabschiedet. Den zwei Jahre jüngeren Aljoscha, der ihm seine Hilfe anbot, fauchte er beleidigt an und die tadelnden Blicke seiner Mutter ignorierte er ausnahmsweise mal. Er redete sich ein, er müsse sich nur mehr hinter den Stoff klemmen und landete schließlich wieder beim Starren aus dem Fenster. Er sah nicht mal wirklich etwas. Sein Blick war in unerreichbare Fernen abgedriftet, während er Fieberträumen ähnliche Pläne für die Abschlussprüfungen schmiedete, damit sein Vater ihn nicht verstieß und enterbte. In einem solchen Moment erhaschte er in seinen Augenwinkeln das Aufblitzen eine Schneekugel. Nach einem Blinzeln stellte sich die wandelnde Schneekugel als Jafars Haarschopf heraus, der mit gesenkten Kopf zum Wohnhaus ging. Schnell warf Sharrkan einen Blick auf die Uhr – das Training hatte vor fünf Minuten geendet – und stürmte dann die Treppe hinunter zur Haustür. Jafar hatte weder Zeit zu klingeln noch zu klopfen. „Hi!“, sagte ein gehetzt wirkender Sharrkan. „Hi“, erwiderte ein halb lächelnder Jafar, der eine fehl platziert aussehende Regenjacke trug und sich seine Haare tief in die Stirn gestrichen hatte. „Was gibt’s?“ „Kann ich erst mal reinkommen? Du weißt schon, die Sonne...“ „Oh, natürlich!“ Sharrkan wusste nicht mehr. Das hatte er im Laufe der Zeit schlicht als unwichtig eingeordnet und vergessen. Aber Jafar selbst schien es keine einzige Sekunde lang zu vergessen. Er trat ins Haus, schloss die Tür hinter sich und mied jegliche, direkte Sonneneinstrahlung. Über seiner Schulter hing eine Sporttasche, allerdings hatte er sich noch nicht umgezogen und trug von seiner Straßenkleidung lediglich die Jacke. Einen kurzen Moment lang betrachtete er nervös seine leicht geröteten Hände. „Wakahisa?“ „Ja?“, antwortete Sharrkan neugierig. Er lehnte mit dem Hinterteil an einer Kommode und war froh, das Haus kurzzeitig für sich zu haben, während sein Vater noch im Dojo und seine Mutter arbeiten war. „Aljoscha meinte, du wärst in der Schule dumm wie Stroh.“ „Hey!“, empörte er sich, „Bist du nur gekommen, um mich zu beleidigen?“ Jafar warf ihm einen ungeduldigen Blick zu. „Nein, im Gegenteil. Er meinte zudem, dir stünde ein schwieriger Test bevor, deshalb wollte ich anbieten, dir zu helfen. Ich werde seit einigen Jahren von Privatlehrern unterrichtet, nehm aber trotzdem an den allgemeinen Vergleichstests teil. Also, wenn du magst...? Du hast mir hier anfangs viel geholfen.“ Kraft seiner angekratzten Würde hätte er jeden anderen vermutlich heraus geschmissen, besonders wenn das Angebot von einem Grünschnabel wie Aljoscha kam. Jafar hingegen war anders und wenn auch nur deswegen, weil Sharrkan zu überrascht war, um abzulehnen. Sein Mund erzeugte zweifelhafte Geräusche in der Luft, seine eine Hand drehte sich ein wenig um sich selbst und schließlich zuckten seine Schultern. Irgendwann könnte er ja ein Buch darüber schreiben. Wie man sich versehentlich einen Nachhilfelehrer angelt, der einen nicht mag von Wakahisa Sharrkan. Jafar blieb den Abend über. Zuallererst ließ Sharrkan ihn im Badezimmer umziehen, dann zeigte er ihn ausführlich sein Zimmer. Am interessantesten fand Jafar die Pokale und Auszeichnungen. Der Rest des Zimmer war ein kunterbunter Wirbel an Dingen, die nicht viel über Sharrkan aussagten. Einerseits schien er sich entfalten zu wollen, andererseits schien er bescheidene Zurückhaltung üben zu wollen. Sharrkan selbst nahm es nicht wahr. Wenn er sich umsah, fühlte er sich unheimlich erwachsen. Am nächsten Tag trafen sie sich in Sharrkans Schulbibliothek, nachdem die meisten Schüler schon nach Hause gegangen war. Es war das erste Mal, dass Sharrkan Jafar in seiner vollen Ausgehmontur sah. Jeden Zentimeter Haut bedeckende Kleidung, Kappe und Sonnencreme, die im Gesicht noch leicht nach glänzte. Er fand es faszinierend-gruselig. „Da würde ich tagsüber auch nicht gerne rausgehen“, scherzte er mit einem schiefen Lächeln, während sie Seite an Seite über Gelände gingen. Jafar schüttelte den Kopf. „Lieber tagsüber als nachts.“ „Wieso?“ „Weil ich fast für immer in der Nacht eingesperrt worden wäre.“ Sharrkan setzte zu einer weiteren Nachfrage an, aber wenn sie nicht gerade lernten, verfiel Jafar leicht in dieses ablehnende Schweigen und er hatte keine Lust, jedes Mal derjenige zu sein, der es durchbrach. Sollte Jafar eben erzählen oder nicht erzählen, wie er wollte. Er war interessiert, nicht besessen-neugierig. Also schwieg er und versuchte erfolglos, Jafar Schuldgefühle zu übermitteln. Ohne Biegen und Brechen stand eine Woche später ein B auf Sharrkans Testblatt. Seine Mutter kochte zur Belohnung sein Lieblingsessen. Sein Vater hingegen fragte ihn nach den Clubaktivitäten, wo er kleinlaut zugeben musste, dass er die Organisation kein bisschen in den Griff bekommen hatte. Es bedeutete,weiterhin kein Kendo im Dojo für ihn. Als er nach dem Abendessen in sein Zimmer verschwand, knallte er die Tür hinter sich zu und warf sich frustriert auf sein Bett. Jafar erzählte er nur von dem Erfolgserlebnis. Sie hatten sich für ein Eis verabredet, das Sharrkan ihm ausgab, obwohl er erst nicht wusste, ob es eine gute Idee war, so lange in der sonnigen Stadt herum zu laufen. Jafar schien es nichts auszumachen. Er lief in seiner ulkigen Kleidung herum und ignorierte alle Blicke. Deshalb beschloss Sharrkan, dass es ihm ebenfalls nichts ausmachte. Er erzählte blöde Witze, lachte darüber und legte bei einem Straßenmusiker eine Break Dance Show hin, die Jafar tatsächlich zum Lachen brachte. Jemand hatte wohl die Mikrowellenenergie höher gestellt. „Hast du das gesehen?! So eine alte Oma wollte mir einen Schein in den Gürtel stecken!“ „Du hättest ihn annehmen sollen, Baka.“ Jafar gab ihm die Eiswaffel zurück, die längst leer gesaugt worden war und die allmählich begann, in der Sonne auszutrocknen, aber Sharrkan bestand darauf, sie aufzuessen und Jafar hatte sich als echter Kumpel erwiesen, sie so lange für ihn zu halten. „Du bist merkwürdig“, warf Jafar ihm gespielt entsetzt vor. Etwas, das Sharrkan mit besten Gewissen erwidern konnte. „Du auch, Yuki-kun, du auch.“ „Danke.“ Sharrkan stupste ihn mit den Ellbogen an. Oder versuchte es zumindest. Er traf die Luft, derweil Jafar ihm ausgewichen war. Es war der zweite Lacher, den er ihm entlockte, weil sich der fiese Mistkerl köstlich über seinen verdutzten Gesichtsausdruck und seinen nutzlos angewinkelten Arm amüsierte. „Yuuuuk-“ „Nenn mich Jafar“, unterbrach dieser ihn. Die Hände in die Hüften gestemmt lächelte er spöttisch, aber das Angebot schien ernst gemeint. „Meine... Mutter hat mich so genannt. Sie wollte, dass mein Name etwas besonderes ist, das mir mein Leben lang Stärke verleiht.“ „Oh... cool. Ich bin Sharrkan.“ „Nein, wirklich?“ Der Tritt seines Fußes gegen Jafars Schienbein saß besser. Nebenbei knabberte er an seiner Waffel. Der Nachmittag verlief viel zu gut, um wahr zu sein. Er musste die Waffel essen, bevor er aufwachte und das Frühstück in unerreichbarer Ferne war. Blieb die Frage, was sie nach der Waffel und dem Straßenmusikanten machen sollten. Eine Weile liefen sie ziellos umher. Sharrkan blieb gerne vor Schaufenster stehen und ging in die Läden hinein, um sich alles anzusehen, während Jafar mit desinteressierten Blicken an allen vorbei lief, als müsste er ein vorherbestimmtes Ziel in einer festgelegten Zeitspanne erreichen. Einmal riss Sharrkan ihn genervt an der Kappe zurück und zog ihn in einen Laden hinein, der Mangas und Fanartikel verkaufte. Wie sich herausstellte, konnte sie beide nichts damit anfangen, aber Jafar erwarb ein kleines, rothaariges Magical Girl, das Sharrkan für scheußlich befunden hatte, weil es einem per Knopfdruck GANBATTE! ins Ohr quiekte. Irgendwann verliefen sie sich ins Kino und schauten eine Sciene-Fiction Komödie. Sharrkan konnte zwar keine Stimmen nachahmen, aber er konnte jeden Satz in eine Parodie umwandeln, selbst wenn die Szene bereits eine Parodie gewesen war. Manchmal wehrte Jafar sich gegen die Störung, manchmal lachte er mit. Sie behielten beide ihre Getränke und Snacks streng für sich und machten einen Wettbewerb daraus, wer dem anderen etwas klauen konnte. Jafar gewann. Sharrkan sah seine Aktionen nie kommen. Er merkte es praktisch erst, als sein letztes Körnchen Popkorn plötzlich verschwunden war. Hinter ihnen rauchte jemand. Sharrkan, der ihm die Zigarette abnahm, war ausgerechnet der, dem anschließend gedroht wurde, ihn wegen Ruhestörung aus dem Kino zu schmeißen. Jafar blieb eine miese Zecke und kitzelte ihn heimlich, sodass er sich vor den Augen der Aufsicht wand und loslachte, obwohl seine Rechtfertigung gerade noch so gut geklungen hatte. Bleiben durfte er nur, weil der anderen Partei des Streites das Handy klingelte und somit die Nerven des Aufpassers zum Durchbrennen brachte. „Oh, nein, das geht ja gar nicht! Ein Handy! Was für eine bodenlose Frechheit! Wenn ihr ungehobelten Kinder schon sowas besitzen müsst, dann stellt es wenigstens leise. Ich hasse diesen Beruf!“, murmelte Sharrkan vor sich hin, als er sich auf seinen Sitz zurechtrückte. Er hatte sich jedes Wort gemerkt. Die Kinoleinwand hatte Jafars Aufmerksamkeit endgültig verloren. Sie verbrachten den Rest des Films miteinander flüsternd und lachend. Mit dem Ende des Films erschien bereits der Mond am Himmel. Die Luft hatte sich ein wenig abgekühlt und Jafar machte sich nicht mehr die Mühe, seine Sonnenschutzlackierung zu erneuern. Sharrkan kam beim Anblick des Himmels eine Idee. Strahlend grinste er Jafar an. „Hey, ich kenn da einen wundervollen Platz, wo man -“ „Ich geh dann mal nach Hause. War nett heute.“ „Aber -“ „Sorry. Ein andermal, okay?“ Jafars Timing, ihn zu unterbrechen, war perfekt. Konnte man nicht anders sagen. Sharrkan runzelte genervt die Stirn und nickte. Schön. Wenn Jafar jetzt nicht wollte, würde er sich das Versprechen merken und ihn wieder daran erinnern. „Bis dann“, verabschiedete er sich murmelnd und blieb noch einen Augenblick stehen. Der Mond war ein großartiger Anblick. Er wurde mit jeder Minute seines Eroberungsfeldzugs am Himmel schöner. Heute schien er ganz nah und rund. Dunkle Flecken bedeckten seine Oberfläche, die Sharrkan gerne einmal aus der Nähe gesehen hätte. Ein Mondkrater war einfach cooler als eine Talsenke. Dann ging er ebenfalls nach Hause. Er besaß inzwischen Jafars Handynummer. Irgendwie würde sich das schon nutzen lassen. Er brauchte zwei Monate, um ihn tatsächlich in die Nacht zu entführen. Mit der Dunkelheit kam mittlerweile die Kälte und sie zog viel zu früh am Abend heran. Der Sommer wäre Sharrkan lieber gewesen, aber er durfte nicht wählerisch sein. Je näher er Jafar kam, umso besser verstand er ihn. Einerseits lachten sie mehr, andererseits fühlte sich ihr Schweigen besser an. Sie waren, mit der Geduld als Wegweiser, Freunde geworden. In besagter Nacht war Sharrkan zu Besuch gekommen, um Jafars neues Haustier zu bewundern. Es war ein edler, bläulich-schwarz Kater, den er Aladdin genannt hatte. Jafar und seine Katze konnten nicht viel miteinander anfangen. Aladdin lief gerne draußen herum und blieb auch mal ein paar Tage verschwunden. Jafar war bereits zufrieden, wenn er Aladdin fütterte und ihn ein wenig unterm Kinn kraulte. Der Kater war zu jedem gleich zutraulich, lediglich Aljoscha war er auf die Schulter gesprungen, als Sharrkan ihn zur ersten Bewunderung mitgenommen hatte. Bei der zweiten war er ohne Aljoscha erschienen, in der Hoffnung, Aladdin würde ihm dann mehr Beachtung schenken. Allerdings schien Aljoschas Abwesenheit nichts daran zu ändern, dass der Kater ihn eher neugierig als liebevoll betrachtete. „Du hättest dir einen Hund anschaffen sollen“, warf er Jafar vor und lümmelte sich auf dessen Bett herum, das bemerkenswert von Katzenhaaren verschont blieb, obwohl Aladdin gerne darauf schlief, wenn er tagsüber Zuhause war. „Nein, danke.“ „Ist es, weil du sonst abends mit ihm raus müsstest?“ Sharrkan kannte Jafars 'Du bist ein Idiot'-Blick. Gleichzeitig war eine Spur Unwohlsein darin zu erkennen. Anfangs war es nicht aufgefallen, dass er unbedingt vor Sonnenuntergang nach Hause wollte. Es war schließlich Sommer gewesen. Der Herbst und der herannahende Winter waren erbarmungsloser. Sharrkan ebenfalls. Er jagte dem Geheimnis hinterher. Jafar knackte mit den Fingern, bevor er antwortete: „Ich habe keine Angst vor der Dunkelheit.“ „Die Dunkelheit kann echt schön sein“, antwortete Sharrkan. „Ich weiß.“ Sharrkan grinste triumphierend, obwohl der Sieg noch über den nächsten Hügel entfernt lag. „Dann komm mit mir.“ „Wohin?“ „In die Nacht.“ Jafar seufzte. „Komm schon! Wir nehmen paar Dosen von diesen ekelhaften Instant-Kaffee mit, den du so gerne trinkst und dann zeige ich dir einen Ort, an dem die Sterne auf dich herab funkeln, als wärst du ihr Geliebter.“ „Wie poetisch. Hast du dir einen Dichter angetrunken?“ „Ja. Nur für dich. Jetzt beweg deinen Arsch und komm mit.“ Sie saßen sich gegenüber und sahen sich an. Wenn sie etwas gut konnten, dann das. Sie waren beide stur. Sharrkan versuchte innerlich mitzuzählen, wie lange es dauerte, bis seine Worte Erfolg hatten. Aber trotz seines festen Glaubens an sich selbst, war er überrascht, als Jafar nachgab. Er untermauerte seine Niederlage natürlich nicht mit Worten oder gab Sharrkan den Triumph einer angepissten Miene. Er stand auf und zog sich an, als hätte er das schon immer vor gehabt. Kurz danach tapsten sie wie Aladdin durch das nächtliche Viertel von Jafars Haus. Er und seine Eltern wohnten nah einer U-Bahn-Stelle, die sie jetzt nahmen. Es dauerte zwar, aber mit den Fahrrädern hätten sie länger gebraucht. Trotz aller Widerrede schien Jafar es zu genießen, sich den kühlen Wind durch die Haare wehen zu lassen, nachdem sie zu Fuß weiter wanderten. Sharrkan fühlte sich bei dem Anblick an ein Mädchen erinnert, an der er mal verliebt gewesen war, und musste über sich selbst lachen. Wahrscheinlich, überlegte er still amüsiert, hätte eine Beziehung mit Jafar sogar mehr Zukunft als es mit ihr gehabt hätte und das, obwohl sie beide Kerle waren. Sie hatten nur gestritten. Er hatte sich über ihre mangelnden, sportlichen Leistungen lustig gemacht, sie sich über seine Noten in allen anderen Fächern. Das hatte bei ihren ersten Treffen begonnen und war weiter gegangen, bis sie von ihren Eltern auf ein Internat geschickt worden war. Vielleicht hatte er sich deshalb an Jafar gehangen. Er vermisste jemanden, mit dem er streiten konnte. Das Ziel ihres Ausflugs lag auf einer Hügelkette. In der Nähe gab es eine größere Straße mit einer modernen, hohen Brücke. Sharrkan wusste nicht, ob mit der Straße einmal mehr geplant gewesen war. Soweit er es kannte, wurde die unter der Brücke gelegene Straße nur als Ausweichroute für andere Strecken verwendet, wenn auf diesen ein Stau entstand. Es war ein trauriges Schicksal für Brücke und Straße. Ersterer sah man langsam an, wie sie verschmutzte und die Straße hatte ein paar Schlaglöcher vom letzten Schneefall. Dafür waren die Hügel ruhig. Ohne störende Geräusche, Sicht versperrende Gebäude oder anderen, hässlichen Schund in der Umgebung konnte man das Panorama genießen. Sharrkan interessierte es heute herzlich wenig. Jafar leicht an seiner Jacke packend, zeigte er nach oben. Zum Mond. Zu den Sternen. Und zu dem Lichterzauber, den sie um die Umgebung und um die beiden kleinen Menschlein unter dem Baldachin des Himmels webten. „Jafar... was auch immer die Nacht dir angetan hat, sie hat auch ihre guten Seiten...“ „Ich weiß“, erwiderte Jafar erneut. Die Hand auf seinen Mund ließ ihn erstickt klingen. Er weinte nicht, aber der Himmel tat seine Wirkung. Sharrkan setzte sich aufs Gras nieder und ließ ihn schweigend den Anblick einatmen. Einamt und ausatmen. Einatmen und ausatmen, bis man meinte, das Licht das Sterne schmecken zu können und ein Teil davon zu werden. Als Jafar bereit war, zu reden, hörte Sharrkan ihm zu. Es war eine Selbstverständlichkeit. Irgendwie hatte er genau das gewollt, auch wenn er ein Zittern in sich spürte. Die Nacht war zu schön für Jafars Geschichte. Aber vielleicht musste sie so schön sein, damit den Rest verkraften konnte. Jafar erzählte, er hätte seine leiblichen Eltern nie kennengelernt. Seine Mutter hatte ihn direkt nach der Geburt zur Adoption freigegeben. Wieso wusste er nicht. Jahrelang hatte er sich selbst die Schuld gegeben. Es war schwierig, mit sich selbst Frieden zu schließen. Keine Woche später war er von einem jungen Ehepaar adoptiert wurden, die bereits eine Tochter hatten. Sie wollten ihr ein Geschwisterchen schenken, konnten es aber auf natürlichen Weg nicht mehr. Eigentlich war es perfekt gewesen. Jafar meinte, – obwohl er sich auch an sie nicht erinnern konnte – sie hätten ihn sehr gemocht. Aber dann waren Sonnenbrände und Geschwüre bei ihm aufgetreten. Sein Kinderbettchen stand direkt am Fenster. Es wurde immer schlimmer. Sie liefen von Arzt zu Arzt, bis sie die niederschmetternde Diagnose bekamen und ihn schweren Herzens ins Waisenhaus abschoben, weil sie sich der Aufgabe nicht gewachsen fühlten. Natürlich hatte ihn danach keiner mehr adoptieren wollen. Er war verdammt und er wusste es. Im Waisenhaus konnte er nur vor sich hin siechen. Die anderen Kinder isolierten sich von ihm, weil er tagsüber schlief und nachts munter wurde. Die Erzieher ließen ihn gewähren, aber niemand kümmerte sich nachts um ihn. Raus durfte er nicht. Spielen war zu laut. Fernsehgucken erst recht. Wenn er versuchte, tagsüber wach zu sein, musste er über kurz oder lang ins Krankenhaus. So wurde die Nacht sein Gefängnis und er lernte, die einsamen Stunden zu hassen. Mit 12 Jahren kam ein Ehepaar auf ihn zu, das ihn adoptieren wollte. Er war misstrauisch, selbst als sie ihm das neue Leben ermöglichten, das Sharrkan ihn hatte führen sehen. Sie statteten die Fenster mit lichtundurchlässigen Material aus. Er bekam spezielle Schutzkleidung aus den USA und lernte sich in der Sonne zu bewegen, als gehöre er dorthin. Er durfte raus, wann immer er wollte. Er musste nur vorsichtig sein und wieder kommen. Anfangs beschuldigte er sie, er wäre ihr Versuchskaninchen. Sie hatten zugegeben, beide Ärzte zu sein. Außerdem, spie er ihnen entgegen, würden sie ihn vergessen, sobald er erwachsen war und von ihnen weg ging. Sie würden sich ein besseres Kind suchen. Er wollte kein Leben leben, in dem er nur so lange gut genug war, wie er tat, was sie wollten. Sie wollten allerdings nichts von ihm. Ihre Zuneigung war ehrlich. Es dauerte Jahre, bis Jafar ihnen glaubte. Ein paar Dinge halfen. Sie ermöglichten ihm Kontakt zu seinen ersten Pflegeeltern, die ihm viel über die Zeit damals erzählten. Als sie ihn um Verzeihung baten, schaffte er es, diese anzunehmen. Zu einer normalen Schule wollte er nie. Die Angst vor Gleichaltrigen war zu tief verwurzelt, allerdings halfen ihm in dieser Sache gerade seine Hauslehrer, sich zu öffnen. Sie nahmen ihn an neue Orte mit und brachten ihn dazu, sich durch andere Aktivitäten zu Integrieren. Das Gute war, dass er die Kurse, die er besuchte und die Programme, an denen er teilnahm, jederzeit abbrechen konnte, wenn es ihm zu viel wurde. Besonders brachte ihn die Unterstützung eines Ersatzlehrers weiter, der ihm von seinen Abenteuern erzählte. Sensei Sin besaß eine Aura, die andere antrieb, über Berge zu springen, als wären es kleine Steinchen. Nach dem Unterricht entführte er Jafar in die Welt der verschiedenen Sportarten. Er rezitierte keine lahmen Sprichworte, wie dass in einem gesunden Körper ein gesunder Geist wohnt. Er bewies es Jafar einfach. Und als Sensei Sin wieder ging, hatte er sich verändert. Der Kendo-Dojo war der zweite Dojo, den er erkundete. Sharrkan hing die ganze Zeit über gebannt an Jafars Lippen. Es gab nicht viel dazu zu sagen. Stattdessen erzählte er stockend mehr von sich selbst. Von seiner fast-Freundin, seinem zu strengen Vater, seiner passiven Mutter und der Erkenntnis, dass er beide trotzdem liebte und ihnen gefallen wollte. Sie hörten einander zu, bis sie beschlossen, nach Hause zu gehen. Die Gegenwart des Mondes war tröstlich, aber verdammt, es wurde kalt. „Du kannst bei mir übernachten“, bot Jafar an. Sharrkan wiederum nahm das Angebot gerne an. Sein Haus war um diese Uhrzeit definitiv zu weit entfernt. Außerdem mochte er Jafars Adoptiveltern. Hätte er heute nicht eine andere Geschichte gehört, hätte er angenommen, sie wären von Anfang an da gewesen, um gemeinsam mit Jafar durchs Feuer zu gehen. „Meinst du, du kannst der Nacht verzeihen?“ Erneut blickte Jafar zum Sternenhimmel empor. Der Anblick war ungetrübt. Keine Wolke wollte sie stören. Nur den Vollmond hatten sie verpasst. Die Sichel war wieder schlanker geworden. Bald würde sie relativ unbeeindruckt sein, aber noch hatten sie Glück. Jafar lächelte. „Irgenndwann.“ Mit geballter Faust boxte er Sharrkan in den Rücken. „Weißt du... ich könnte jetzt auf die Brücke klettern, um den Himmel näher zu kommen. Dann würdest du mich anschreien, ich solle runterkommen und ich würde eingeschnappt herunter klettern, bis ich kurz vorm Boden bin. Aber dann würde ich mich fallen lassen, du würdest mich auffangen und ich könnte dir sagen, dass ich dich mag.“ „...Was?“ Sharrkan war schon zwanzig Worte zuvor stehen geblieben, weil die Verwirrung ihn überwältigte. Was? Wieso? Woher kam Jafar plötzlich auf die Idee, auf die Brücke klettern zu wollen? Irritiert blickte er von Jafar zu der Brücke und wieder zurück. „Schon gut. Ich sags dir einfach so.“ Kühle Finger griffen nach seine Händen. Jafar musste sich ein klein wenig auf die Zehenspitzen stellen, um mit ihm auf Augenhöhe zu sein. Es war eine unheimlich niedliche Geste, aber während ein Teil von Sharrkans Gehirn das registrierte, war der andere noch dabei, die Überforderung in den Griff zu bekommen. Er hatte im Moment kein Shinai in der Hand, mit dem er reagieren konnte und das merkte man ihm an. „Danke für heute. Ich mag dich, Sharrkan.“ Ihre Lippen kollidierten einen flüchtigen Moment lang. Es hätte durchaus ein Unfall sein können, bei dem Jafar die Kontrolle über seine Zehenspitzen verlor. Aber sein Lächeln sagte etwas anderes. Das Funkeln in seinen Augen ebenfalls. Plötzlich schwiegen sie wieder, mit ineinander verschränkten Händen und intensiven Blicken, die sich in den Augen des anderen wiederfanden. Die Sterne leuchteten sanft über ihnen. Sharrkan wünschte sich plötzlich, er müsste nie wieder etwas sagen. Für den Moment war ihr Schweigen genug. Das Kribbeln auf seinen Lippen schien für ein ganzes Leben zu reichen. Er schwieg, blinzelte zur Seite und lächelte. Was auch immer gerade zwischen ihnen geschah, es konnte leicht mit dem Lichterzauber des Himmels konkurrieren. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)