Der Wolfsprinz von Mad-Dental-Nurse (Wenn das kälteste Eis zu schmilzen beginnt) ================================================================================ Kapitel 6: Blut ist dicker als Wasser ------------------------------------- Rene rannte durch den mit Schneebedeckten Wald. Alles wirkte wie verschwommen. Die Bäume und die Wurzeln schienen von einem Moment zum anderen hin und her zu wandernd und erschwerten es Rene weiterzulaufen. Stolpernd und nach allen Seiten tastend suchte er nach einem Weg aus dem Wald. Komischerweise hatte er das Gefühl schon mal durch diesen Wald gerannt zu sein. Nur war es dieses Mal anders. Es war Nacht und er konnte kaum etwas sehen. Der Mond, der voll und rund über ihm am Himmel stand, warf sein blasses Licht auf den Schnee nieder und ließ ihn gespenstisch aufleuchten. Es wirkte alles irgendwie unwirklich. Wie in einem Traum. Es fühlte sich aber echt an. Die Kälte, der Schnee, in dem seine Beine versanken und…das Hecheln, das hinter ihm erklang und immer näher kam. Es lief ihm kalt den Rücken hinunter und er wagte es nicht, sich um zu drehen. Er wusste auch so, dass der Wolfsdämon hinter ihm war. Er konnte es spüren. Die Bedrohung, die er ausstrahlte und der Hunger, der ihn erfüllte. Hunger nach seinem Fleisch, schoss es ihm durch den Kopf und ließ ihn schneller zu laufen. Doch mit jedem Schritt, den er tat, schien der Schnee tiefer zu werden und sich in Schlamm zu verwandeln, der zäh an seinen Beinen klebte. Irgendwann gab es aber kein Vorrankommen mehr, da der Schnee so hoch stand, dass er mit seiner Hüfte darin versank und stecken blieb. Dennoch versuchte er sich aus dem Schnee frei zu kämpfen. Pflügte sich förmlich durch den weißen Alptraum und spürte wie seine Muskeln nach und nach zu schmerzen begannen und drohten ihren Dienst zu versagen. Doch Rene machte weiter. Wollte so gut es ging den Abstand zwischen sich und dem Wolfsdämon vergrößern, wobei er deutlich spüren konnte, dass er ihm immer näher kam. Irgendwann aber konnte er nicht weiter. Lag es an seinen ermüdeten Kräften oder an dem Schnee, der ihn nun wie Stein eingeschlossen hatte und ihm am weiter gehen hinderte. Renes Atem ging stoßweise und stieg in dampfenden Wolken auf. Sein ganzer Körper zitterte vor Erschöpfung. Ein Schwindel erfasste ihn, da er nicht genug Luft bekam und schloss für einen kurzen Moment die Augen. Wartete bis der Schwindel verging und öffnete wieder die Augen. Und er hatte das Gefühl als würde sein Innerstes zu Eis erstarren. Vor ihm stand der Wolfsdämon und blickte ihn aus kalten Augen an. Starr, unfähig sich zu rühren blickte Rene den Dämon und wagte es nicht zu atmen. Es war genauso, als er ihm das erste Mal im Dorf gegenüber stand. Nur war er nun wenige Zentimeter von ihm entfernt und Rene konnte den heißen Atem des Dämons auf seinem Gesicht spüren. Dennoch fror er. Dann näherte sich der Wolf ihm. Instinktiv wollte Rene vor ihm zurück weichen, doch da erinnerte er sich, dass der Schnee ihn umschlossen hatte und ihn daran hinderte. Ohne etwas dagegen tun zu können, sah er wie der Wolf immer näher am, bis seine Schnauze nur wenige Zentimeter von seinem Gesicht entfernt war. Sein weißer, pelziger Schädel füllte Renes gesamtes Gesichtsfeld aus und seine blauen Augen schienen sich wie Dolche in die seinen zu bohren. Drangen bis tief in seine Seele. Rene war unfähig den Blick zu senken. Ohne dass er es sich erklären konnte, hielten ihn diese Augen wie in einem Bann gefangen, aus dem er sich nicht mehr befreien konnte. Sein Kopf fühlte sich taub an, als sei er mit Watte gefühlt. Was machte dieser Dämon mit ihm? Ein letztes Mal versuchte er sich von seinem Bann und aus dem Schnee zu befreien. Ein schwacher Versuch, der im Nichts endete. Als habe der Wolfsdämon sein Vorhaben gespürt, legte er die Ohren an und bleckte die Zähne. „Du entkommst mir nicht!“, hörte er ihn in seinem Kopf sagen und das Knurren aus seiner Kehle. „Dein Leben gehört mir!“ Mit einem Schrei erwachte Rene aus diesem schrecklichen Fiebertraum und wusste zunächst nicht wo er war, aber dann sah er die vertrauten Holzwände, der Schreibtisch, mit dem Stuhl, über dessen Lehne seine Kleider hingen. Der Schrank. Er war wieder in seinem Zimmer. Im Haus seiner Eltern. Wie war er hierhergekommen? Er war doch im Wald gewesen? Schwer verletzt von den Wölfen und kaum noch am Leben? Wie also kam er hierher? Da ging die Tür auf und Flora kam herein gestürmt. Unter ihren Augen waren dunkle Schatten und ihr Haar war zu einem Zopf geflochten, aus dem sich einige Strähnen herausgelöst hatten. Sie sah abgehetzt aus. „Rene!“, rief sie außer sich und eilte zu ihm. Wie als fürchtete sie, dass er verschwinden würde, sprang sie auf sein Bett und umfasste sein Gesicht mit ihren Händen. „Ich…ich dachte schon…du…du wachst nie mehr auf!“, keuchte sie und ihre Stimme zitterte. In ihren Augen schimmerten Tränen. Rene konnte sich gut vorstellen, was für Ängste sie durchgelebt hatte. Sanft entzog er sein Gesicht ihren Händen. „Jetzt bin ich ja wach!“, beruhigte er sie. Doch Flora sah ihn an, als habe sie schon längst mit seinem Ableben gerechnet. Rene seufzte. Sah sich, um das Thema zu wechseln, sich um. „Wie…wie bin ich überhaupt hierhergekommen?“ „Vater und Mutter haben irgendwann gemerkt, dass du dich rausgeschlichen hast und wollten nach dir suchen!“, erklärte Flora nur, da er sich den Rest denken konnte. „Ist denn mit dir alles in Ordnung?“, fragte Rene nun und sah seine Schwester forschend an. „Mir fehlt nichts. Aber du…diese Bestien…sie haben…es war einfach entsetzlich!“, begann Flora und schlug die Hände vors Gesicht. Rene umarmte sie. Drückte sie fest an sich. „Ganz ruhig. Jetzt ist es ja vorbei. Es ist vorbei!“ Flora schluchzte und löste sich dann von ihm. Sie schaute ihn lange an und in ihren Augen lag Kummer. „Was hat dich nur glauben lassen, ihn was entgegen zu setzen?“, fragte sie dann und war wieder die große Schwester. Rene musste erstmal selber überlegen. Verflogen war der jugendliche Übermut, der ihn zu diesem Entschluss gebracht hatte und kam ihm selbst wie ein schlechter Scherz vor. „Ich konnte doch nicht zulassen, dass er dich bekommt!“, sagte er. „Aber jetzt wird er dich bekommen!“, flüsterte Flora mit ängstlicher Stimme. Rene presste die Lippen aufeinander. Dann schüttelte er den Kopf. „Die Hauptsache ist doch, dass du sicher bist!“, sagte er. Wollte nicht, dass sie sich wegen ihm sorgte. Vielmehr sollte sie froh sein, dass sie weiterleben konnte. Da war sein Ende ein geringer Preis. „Wo sind unsere Eltern?“, fragte er dann weil er nicht länger darüber reden wollte. Außerdem fand er es seltsam, dass nur Flora sein Erwachen bemerkt hatte. Flora wischte sich über die Augen. Sei es aus Müdigkeit oder um die neuen Tränen weg zu wischen. „Sie ruhen sich aus. Die letzten Tage waren zu viel für sie gewesen!“ „Tage? Wie lange habe ich geschlafen?“ „Sechs Tage. Und geschlafen kann man es nicht nennen. Immer wieder hast du gestöhnt und geschrien. Um dich geschlagen. Es war schrecklich dich in diesem Zustand zu sehen. Mutter weinte ununterbrochen. Wollte dich aus diesem Schlaf reißen, aber es war einfach nicht möglich. Der Arzt sagte, dass es keinen Sinn hätte und dass wir warten sollten, bis du aus dem Fieberschlaf aufwachst!“, erklärte Flora und ihre Stimme wurde heiser. „Wir dachten schon du…!“ „Flora, beruhige dich doch wieder!“ „Wie soll ich mich beruhigen? Nach dem ganzen Grauen, was geschehen ist!“ Rene musste ihr Recht geben. Es war leichter gesagt als getan. Immerhin hatte er ihr erzählt, was alles passiert ist und sie hatte gesehen, wie die Wölfe ihn beinahe getötet hätten. Von ihr zu verlangen, sich zu beruhigen, war einfach absurd. „Ich weiß. Du hast ja Recht. Tut mir leid!“, sagte er. „Ruhe dich auch nun etwas aus. Ich glaube Schlaf kann jeder von uns gebrauchen!“ Flora lächelte. Wohl das erste Lächeln seit langem. „Du klingst schon wie Mutter!“, sagte sie. Rene brachte nur ein schwaches Lachen hervor. „Kann ich dich wirklich alleine lassen? Oder brauchst du noch was?“, fragte Flora. Rene winkte ab. „Nein, ich brauche nichts weiter und ich denken, dass ich den Rest der Nacht auch alleine überstehe. Geh ruhig schlafen!“ Flora sah ihn noch einige Minuten an und wollte wiedersprechen. Sie würde den Teufel tun und sich ins Bett legen, wo doch ihr Bruder aus seinem Delirium erwacht war und sie sich um ihn kümmern wollte. Aber Rene hob die Hand. „Es bringt nichts, wenn du die ganze Nacht mich bemutterst und selbst am nächsten Morgen dich kaum noch auf den Füßen halten kannst!“, wiedersprach er ihr und wurde nun ernst. Flora wollte ihm Widersprechen, doch ein Gähnen strafte ihre Worte Lügen. „Nagut. Ich gehe schlafen. Aber wenn was ist…!“, begann Flora und Rene lächelte. „Werde ich dich rufen. Versprochen!“ Flora sah ihn noch einen kurzen Moment an, dann ging sie. Rene war sich sicher, dass Flora tief und fest schlief. Sie war erschöpft von der Sorge um ihn und sicherlich würde ihr etwas Schlaf gut tun. Aber er würde sicherlich nicht mehr schlafen können. Die Angst wieder diesen Traum zu haben, in dem er sich dem Wolfsdämon gegenüber sah, war zu groß. Außerdem musste er sich überlegen, wie es nun weiterging. Bestimmt hatten die anderen Bewohner des Dorfes mitbekommen, dass Flora noch lebte und würden sicher bald Fragen stellen. Was sollte er ihnen sagen? Dass er einen Pakt mit dem Wolfsdämonen geschlossen hatte? Nein, der Wolfsprinz hatte sich klar und deutlich ausgedrückt. Kein Wort zu den anderen, sonst war seine Familie verloren. Also was blieb ihm noch für eine Erklärung? Vielleicht sollte er behaupten, dass er mit ihm gekämpft hatte und es ihm gelungen war, ihn zu besiegen. Gekämpft hatte er ja mit ihm. Es entsprach also ein wenig der Wahrheit. Nur das Ende müsste er ein wenig umändern. Ihm war nicht wohl dabei, weil er ein miserabler Lügner war. Aber andererseits…wer sollte seine Lüge aufdecken? Nur Flora wusste davon und sie würde ihn sicher nicht verraten. Also eigentlich alles in allem halb so schlimm. Nur musste Flora mitspielen. Er würde mit ihr gemeinsam nochmal genauer reden und sich absprechen müssen, damit es keine Ungereimtheiten gab. Rene schlief bis zur Mittagsstunde des nächsten Tages. Aber es fühlte sich so an, als habe er gerade wenige Minuten und er wollte noch weiterschlafen. Doch da hörte er aufgebrachte Stimmen. „Wie konntest du das zulassen?“ „Er hat darauf bestanden!“ „Du hättest ihm das ausreden sollen!“ „Er ist dein Bruder!“ Rene erkannte dass es sich bei den Stimmen um Flora und Jaque handeln musste. Offensichtlich hatte Flora herausgefunden, woher er den Doch hatte und machte Jaque nun die Hölle heiß. Mit wackeligen Beinen kletterte er aus dem Bett und lief hinaus auf den Flur und die Treppe hinunter. Flora und Jaque waren in der Wohnstube und es war deutlich eine angespannte Stimmung zwischen den beiden. „Das mag zwar sein. Aber dennoch hättest du ihm dieses verdammte Ding nicht schmieden sollen!“, warf sie ihm gerade vor. „Er wollte dich doch nur beschützen!“, wandte Jaque hilflos ein, versuchte sie zu beruhigen. Doch Flora dachte nicht daran. Ihr war anzusehen, dass sie über Jaques Mithilfe alles andere als erfreut war. Da zumal jeder darüber Bescheid wusste, was alles passieren konnte, wenn man sich mit dem Wolfprinzen anlegte. Mit Rene würde sie ebenso nochmal ein ernstes Wort reden müssen. Zwar verstand sie warum er so gehandelt hatte. Sie hätte es an seiner Stelle ebenso gewagt, aber nun hatte er damit alles schlimmer gemacht. Flora wollte etwas darauf erwidern und Rene fürchtete schon, dass sie es verraten würde, aber stattdessen schloss sie wieder den Mund und schaute finster zu Boden. Jaque stand für einige Minuten nur da und sah sie an, dann aber machte er einen Schritt auf sie zu und wollte sie tröstend in die Arme nehmen. Doch Flora wich ihm aus und schüttelte den Kopf. „Ich glaube, ich will dich erstmal für eine Weile nicht mehr sehen!“, sagte sie nur und Jaque glaubte, sein Herz würde zerspringen. Kraftlos ließ er die Arme sinken und in seinem Gesicht spiegelte sich Schmerz. Rene konnte nicht zulassen, dass das Band zwischen Flora und Jaque so zerriss, nicht wegen ihm und seiner Dummheit. „Jaque hatte ja versucht mich abzuhalten, aber ich wollte es so!“, sagte Rene schnell und ging dazwischen. Flora sah in diesem Moment zu ihm und ihre wütenden Augen blieben nun auf ihm haften. „Ich kann es immer noch nicht glauben!“, sagte sie dann mit leiser Stimme. Mit langsamen Schritten ging sie auf ihn zu und blieb dicht vor ihm stehen. „Weißt du eigentlich, dass das auch anders hätte ausgehen können?“ Eine überflüssige Frage, wie Rene fand. Dennoch nickte er. Flora sah ihn noch einige Minuten an. Dann wandte sie sich ab und zog sich ihren Mantel an. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, ging zur Tür und riss sie mit einem Ruck auf. „Wohin gehst du?“, fragte Rene und war erschrocken, wie schwach seine Stimme war. Flora drehte sich halb herum. „Ich gehe zu Mutter und Vater. Sie werden sicher Hilfe in der Bäckerei brauchen…und außerdem wollte der Bürgermeister wissen, was geschehen ist, wenn du wieder aufwachst!“ Dann warf sie die Tür mit einem lauten Knall. Rene und Jaque zuckten zusammen. Minuten lang sahen sie zur Tür und jeder ahnte, dass das noch üble Folgen haben würde. Jaque war der erste, der es aussprach. Mit einem schweren Seufzen, fuhr er sich durch das Haar. „Ohje, ich glaube das wird noch Ärger geben. Für uns beide!“ Rene schluckte. Das war ihm ebenso bewusst. Keiner aus dem Dorf würde es darauf beruhen lassen, dass er für seine Schwester sein Leben aufs Spiel gesetzt hatte und dennoch es überlebt hatte. Nein, das würde erst Recht für Wirbel sorgen und auch für einige unangenehme Fragen. Und das auch Jaque ins Visier geriet, behagte ihm gar nicht. Ihn wollte er da nicht mitreinziehen. Da er zumal eigentlich keine Schuld hatte, sondern Rene allein. „Es tut mir leid, dass ich dich da reingezogen habe. Ich wollte das nicht. Ich weiß, wie gern du sie hast und sie dich…Und jetzt denkt sie, dass du sie hintergangen hast…nur wegen mir!“, sagte Rene schwach. Jaque lächelte und klopfte ihm auf den Rücken. „Mach dir deswegen keinen Kopf. Ich bin ja auch selber daran schuld. Ich hätte auch einfach nein sagen können!“, sagte er. „Oder dir eine Kopfnuss verpassen können, damit du wieder zu Vernunft kommst!“ Der Hauptsaal der Stadthalle war erfüllt von dem Stimmengewirr der dort versammelten Menschen und es fiel dem Bürgermeister schwer, die Menge zur Ruhe zu bewegen. Nur eine kleine Gruppe von Menschen redete nicht. Nämlich Rene und seine Familie. Und auch Jaque schwieg. Mit sorgenvoller Miene blickten sie auf den Boden und versuchten die Blicke der anderen nicht zu beachten, die ihnen zugeworfen wurden. Dennoch spürten sie, das Entsetzen, den Unwillen und auch die stille Spur von Bewunderung, die in diesen lagen. Nur einmal wagte es Rene den Blick zu heben und ausgerechnet traf er den des Bürgermeisters. Darin sah er deutlich einen stillen Vorwurf. Und die dazu gehörende, nahende Strafe. Rene schluckte und senkte daraufhin den Kopf. Zum zehnten Mal ließ der Bürgermeister seinen hölzernen Hammer auf das Pult donnern und verlangte erneut um Ruhe. Nur langsam versiegte der Redefluss und machte nun einer schweren Stille Platz. Kurz ging der stechende Blick des Bürgermeisters über alle Anwesenden, um sicher zu sein, dass auch wirklich nun jeder schwieg. Als er sich sicher war, dass keiner mehr die Stimme erheben würde, wandte er sich an Rene. „Rene, steh auf!“, verlangte er bellend und Rene zuckte zusammen. Nur mühsam erhob er sich und trat nach vorne. Er fühlte sich wie ein Verbrecher, den man nun sein Vergehen anlasten würde. Sogleich begannen die Versammelten wieder zu tuscheln. „Was hat er sich nur dabei gedacht?“ „Wie konnte er den Wolfsprinzen angreifen?“ „Jetzt werden wir alle dafür büßen müssen!“ „Nur wegen seinem Egoismus!“ Rene versuchte diese Anschuldigen zu ignorieren. Doch innerlich schrie es ihm danach, sich umzudrehen und die Leute, die hinter vorgehaltener Hand über ihn sprachen, als feigen Haufen zu beschimpfen. Aber er ließ es. Es würde nur noch mehr die Menge anheizen und das alles noch schlimmer machen. Als er schließlich vor dem Bürgermeister stehen blieb, wartete er, bis er ihn aufforderte zu sprechen. „Rene! Du hast trotz dem Wissen, das wir niemals gegen Handel verstoßen dürfen, es dennoch gewagt und einen Dolch gegen den Wolfsprinzen erhoben. Ist dir klar, in welche Gefahr du uns alle gebracht hast?“ Rene sagte erstmal nichts. Sondern hielt es für das Beste zu schweigen. Zum einen weil er nach den richtigen Worten suchen wollte und zum anderen, weil er den Eindruck erwecken wollte, dass er sich der Tragweite seines Fehlers bewusst war. Als dann für ihn genug Zeit vergangen war, hob er den Kopf und begann mit fester Stimme zu sprechen:„ Das ist mir bewusst und es tut mir leid. Ich wollte kein Unglück über das Dorf bringen. Aber ich…!“ Nun versagte seine Stimme und dies nutzte der Bürgermeister um sich vor zu beugen und ihn aus finsteren Augen anzublitzen. „Aber was?“ „Ich konnte nicht zulassen, dass…das er sich Flora holt!“, sagte er und wandte sich dann an die Menschen hinter ihm. „Ganz im Gegensatz zu manch anderen!“ Für einige Minuten herrschte Stille. Dann aber hagelte es wilde Beschimpfungen und Anschuldigen. Den Bürgermeister kostete es einiges an Mühe, die aufgebrachte Menge wieder zur Ruhe zu bringen. Als die lauten Stimmen versiegten, wandte er sich an Rene und sah ihn nun scharf an. „Woher nimmst du dir das Recht, uns so zu verurteilen?“, kam es leise von ihm und er beugte sich drohend vor. Rene fürchtete in einem kurzen absurden Moment, dass er gleich vornüber kippen und auf seine Nase brechen würde. Beinahe wollte er schon darüber grinsen. Ließ es aber. Sein Schweigen deutete der Bürgermeister als ein Zeichen von Trotz. „Jeder hier hätte ebenso gehandelt, wie du. Aber jeder hier weiß auch, was das es für Folgen haben kann!“ Für Rene klang es schon wie ein Zugeständnis, dass sie sich zu sehr davor fürchteten, als das sie es jemals versuchen würden. „Es sind schon genug Menschen vor dir in den Wald gegangen, um dem Wolfsprinzen Einhalt zu gebieten und mussten dafür mit ihrem Leben bezahlen!“, tadelte er weiter. „Aber ich lebe noch!“, wandte Rene ein. Er verstand einfach nicht auf was der Bürgermeister hinaus wollte. Das Gesicht von diesem verfinsterte sich. „Ja, aber ich mag mir nicht vorstellen, was das für das Dorf bedeutet!“, schnaubte der Bürgermeister. „Also frage ich dich nochmal: Was hast du dir dabei gedacht?“ Rene spürte wie ein nie für möglich gehaltenes Gefühl von Wut in ihm hochkochte. Der Bürgermeister tat so, als sei es das erste Mal, dass einer es wagte gegen den Handel zu verstoßen. Und er begriff auch nicht wieso dieser Mann ständig darauf herum ritt, dass er es als erster und wohl als einziger überlebt hatte. Dennoch wählte er seine Worte mit Bedacht und sagte fest und eindringlich:„ Nach allem, was ich all die Jahre mitbekommen und auch gehört habe, soll der Wolfsprinz sehr mächtig und grausam sein. Und trotz dass es vor mir andere gab, die den Mut aufbrachten in den Wald zu gehen, wurde das Dorf noch nie von ihm aus Rache angegriffen. Da frage ich mich wieso!“ Diese Worte verfehlten ihre Wirkung nicht, denn für einige Minuten wurde dem Bürgermeister der Wind aus den Segeln genommen und in seinen Augen spiegelte sich absolute Ratlosigkeit. „Wieso sollte es bei mir anders sein?“ „Müssen wir wirklich darüber diskutieren? Wieso schmeißen wir diesen Bengel nicht einfach ins Gefängnis und peitschen ihn dann aus!“, schrie plötzlich ein Mann. „Lieber sollte man ihm die Zunge abschneiden!“, ereiferte sich dafür ein altes Weib. Es lief Rene kalt den Rücken hinunter. Ihm war schon bewusst, dass sein Handeln nicht jeder guthieß, aber dass man nun über ihn richten wollte, wie ein Schwerverbrecher, war in seinen Augen mehr als grausam. Er konnte sich nicht erinnern, dass die Angehörigen der anderen Männer jemals so behandelt wurden. Aber vielleicht war das nur, weil die Männer starben und nicht heil zurückkamen. „Nein, auspeitschen. Fünfzig Hiebe!“, verlangte wieder der erste. „Hundert Hiebe!“ Man schien sich förmlich überbieten zu bieten wollen. Und es waren nicht nur die Männer, die solche Ausrufe von sich gaben. Auch die Frauen, zumindest die alten, mischten sich ein, wobei sie Rene giftige Blicke zu warfen. „Widerliche alte Hexen!“, dachte er voller Abscheu. Zwar hatte man ihm beigebracht, dass er ältere Menschen achten und respektieren sollte, aber im diesen Moment dachte er genauso wie seine Großmutter. Er schaute zu ihr, sah die gleiche Abscheu in ihren Augen, die er gerade empfand. Bat sie aber auch um Hilfe. Denn er glaubte nicht, dass er allein gegen diese Anfeindungen ankommen konnte. Mit einem wütenden Aufschrei sprang seine Großmutter auf und stellte sich schützend an seine Seite. Sah die Versammelten wütend an. „Was ist nur in Euch gefahren?“, herrschte sie sie an. „Mein Enkel hat das getan, wofür Ihr viel zu feige seid! Er hat es aus dem richtigen Grund getan, während die anderen…!“ „Es reicht Martha!“, erscholl die Stimme des Bürgermeisters. Als habe er sie herausgefordert, drehte sich seine Großmutter herum und sah nun den Bürgermeister funkensprühend an. „Gerade du musst reden, Gerold. War es nicht dein Vater, der das Unglück über unser Dorf brachte!“, zischte sie und wandte sich wieder an die Menschen. „Und waren es nicht eure Vorväter, die ein unschuldiges Mädchen aus dem Dorf trieben, nur weil ein einziger gegen sie gehetzt hatte?“ Wo einige vorher noch mit voller Inbrunst darauf bestanden hatten, das Rene die schlimmste Strafe erhielt, waren sie nun ganz still geworden und schauten mit beschämten Blicken auf den Boden. Jeder hier erinnerte sich an die alte Geschichte und jeder wusste, dass seine Familie ebenso Schuld daran hatte. Martha sah dies mit kalter Genugtuung. „Ihr tut so, als hättet Ihr eine weiße Weste, aber eigentlich seid Ihr nicht besser als Aasgeier!“, sagte sie eisig. „Immer auf einen drauf. Hauptsache Ihr steht in einem guten Licht da!“ Dann wandte sie sich wieder an den Bürgermeister. „Also? Was nun, Gerold? Wirst du meinen Enkel für etwas strafen, was jeder hier getan hätte…oder lässt du Milde walten?“ Für einen langen Moment schwieg der Bürgermeister und schien sich schwer dran zu tun, die richtige Entscheidung zu treffen, geschweige denn auszusprechen. Sein Blick wanderte von Martha zu Rene, dann zu den Menschen hinter ihm und dann zu Martha zurück, in dessen Augen er deutlich die Warnung las, dass er ja nichts Falsches sagen sollte. Mit einem schweren Schlucken, strafte er die Schultern und sagte dann mit bemüht fester Stimme:„ Da du deiner Schwester das Leben retten wolltest und es selbst überlebt hast, sehe ich keinen Grund, dich dafür zu betrafen!“, sagte er und die Menschen auf ihren Bänken schnappten entrüstet nach Luft. Der Bürgermeister ignorierte dies. Setzte dann aber mit einem ernsten Ton hinzu:„ Aber sei dir bewusst, dass du damit uns alle in großer Gefahr gebracht hast!“ Rene nickte nur, wogegen der Blick seiner Großmutter finster wurde. Mit dem Schlagen des Hammers auf dem Pult, verkündete der Bürgermeister das Ende der Versammlung und die Menschen strömten hinaus. Dabei ließen sie es sich nicht nehmen, Rene und seiner Familie finstere Blicke zu zuwerfen. Martha erwiderte diese. Als sie Zuhause waren, fühlte sich Rene seltsamerweise erleichtert. Ihm fiel sämtlicher Druck, der bei der Versammlung auf ihm gelastet hatte, ab. Er war auch froh gewesen, dass er nichts von seinem Ausflug in den Wald erzählt hatte, denn das hätte noch mehr Ärger verursacht. Und er hatte auch eigentlich gedacht, dass es damit erledigt sei. Doch kaum dass sein Vater die Tür hinter sich zugezogen hatte und Rene Anstalten machte hinauf in sein Zimmer zu gehen, packte er seinen Jungen an der Schulter. „Nicht so schnell, junger Mann!“, sagte er mit seiner tiefen Stimme und bugsierte ihn zum einen der Stühle. Rene kam sich vor, als sei er wieder ein kleiner Junge, den sein Vater beim Unfug machen erwischt hatte. „Was gibt es denn noch?“, fragte er unwillig und ließ sich auf den für ihn bestimmten Stuhl plumpsen. „Ganz einfach. Weißt du eigentlich, dass du noch großes Glück gehabt hattest?“, fragte sein Vater. „Vater, bitte du nicht auch noch!“, jammerte Rene. Er hatte gehofft, dass zumindest seine Eltern ihm eine Predigt ersparen würden. „Doch, ich auch noch!“, herrschte er ihn an. „Willst du mir etwa auch vorwerfen, dass ich mein Leben für das von Flora riskiert habe. Dabei müssten du und Mutter es doch am besten wissen!“ Sein Vater sah ihn mit einer Mischung aus Enttäuschung und Sorge an. Er seufzte. „Natürlich, tun wir das…!“, sprach nun seine Mutter mit belegter Stimme. „Dann hört auf, mir daraus einen Strick zu ziehen!“ „Das wollen wir doch nicht. Aber sei dir im Klaren, dass jeder im Dorf nun einen Groll auf dich haben wird!“, sagte seine Mutter. „Ach, diese falschen Hunde…!“, murrte Martha und winkte ab. „Die würden ihn noch verurteilen, wenn er nur noch einen Arm hätte…!“ „Und du musst gerade reden, Mutter. Was hat dich nur dazu getrieben, den Bürgermeister unter Druck zu setzen?“, fuhr nun seine Mutter die ihrige an. „Jemand musste Euren Sohn doch in Schutz nehmen, wenn Ihr schon schweigt!“, konterte ihre Mutter scharf und Elsa biss sich verkniffen auf die Lippe. „Was hätten wir denn tun können?“ Ihre Mutter schnappte erschüttert nach Luft. „Was ihr hättet…Seit wann lasst Ihr Euch von der Angst dieser…Feiglinge anstecken?“ „Das stimmt doch gar nicht. Wir…wir hatten nur die Sorge, dass man danach nichts mehr bei uns kaufen will!“, gestand Elsa kleinlaut. Nun war sie wohl wieder ein Kleinkind. Ihre Mutter sah sie für einige Minuten an, als habe sie einen Geist gesehen, dann wurde ihr Gesicht bitterernst. „Elsa! Das ist dein Sohn. Es sollte dir egal sein, ob danach einer noch was bei Euch kauft!“, herrschte sie sie an. „Und was wenn wir danach alle verhungern? Oder unser Haus verlieren?“, wandte seine Mutter wütend ein. Dann sprach wie weiter und in ihren Augen schimmerte es. Sie konnte sich schon denken, was nun ihre Mutter über sie dachte, weil sie selber ihrem Sohn nicht zur Seite gestanden hatte. Und sie war selbst wütend auf sich. „Für mich war es auch schlimm, zu hören, wie sie Rene strafen wollten und ich hätte jeden einzelnen dafür schlagen können. Aber was dann? Die Dorfbewohner hätten dann nicht mehr ihr Brot bei uns geholt und der Bürgermeister hätte uns aus unserem Haus geworfen…uns womöglich noch aus der Stadt gejagt!“ „Dann hättet ihr ihm zuvor kommen können. Überall hättet Ihr es besser, als hier in diesem Dorf voller Heuchler. Und außerdem: Diese Dummköpfe wären selber schuld, wenn sie Euch vertreiben. Ihr seid die einzigen Bäckersleute hier…!“, sagte Martha abfällig. „Und was ist mit dir?“, fragte Elsa mit bebender Stimme. Sie bezweifelte nicht, dass sie es woanders besser haben würden. Aber was war mit ihrer Mutter. Das nächste Dorf war Tage, wenn nicht sogar Wochen entfernt. Sie würde solch eine lange Reise nicht überstehen. Selbst wenn sie das Dorf verlassen müssten, warum auch immer. Sie konnte und wollte sich nicht vorstellen, ihre Mutter hier allein zu lassen. Martha lächelte nun milde. „Darüber mach dir keine Gedanken!“, sagte sie nur. Und regte dann ihre Arme. „Es ist spät. Ich werde mich dann mal auf den Heimweg machen. Ihr solltet Euch ausruhen. Es war ein anstrengender Tag!“ Keiner wandte etwas dagegen ein. „Ich bringe dich heim. Nicht das dieser wütende Mob auf die Idee kommt, dir auf zu lauern!“, sagte Elsas Mann dann. Martha lachte. „Gerne, Ramon!“ „Bleib nicht zu lange draußen!“, bat Elsa ihren Mann dennoch. Trotz dass er ein großer stämmiger Mann war, fürchtete sie, dass es einige der Männer versuchen würden und ihn mit Knüppeln und ähnlichem zu Leibe rücken. „Ich werde mich beeilen!“, sagte Ramon und küsste seine Frau auf die Stirn. Dann begleitete er seine Schwiegermutter nachhause. „Und ihr beide geht ins Bett!“, wies ihre Mutter sie knapp an. Keiner der beiden schien irgendwelche Einwände zu haben. Gehorsam gingen sie die Treppe hoch. Doch bevor Flora auf ihr Zimmer gehen konnte, hielt Rene sie zurück. „Flora, warte mal!“, sagte er. „Was gibt es denn noch?“ „Wegen der Sache mit Jaque…!“, begann er. Flora seufzte. „Kann das nicht bis morgen warten?“ „Nein!“, sagte Rene aufgebracht und auch einige Oktaven zu laut. Schnell dämpfte er die Stimme und flüsterte dann. „Jaque trifft keine Schuld. Ich war es, der ihn dazu gedrängt hat!“, sagte Rene. Er wollte nicht, dass Jaque und Flora wegen seinem Leichtsinnig getrennt werden. Flora sah ihn nur an. Rene fürchtete, dass sie nicht seine Bitte erhören würde und versuchte es weiter. „Und er wäre ein ziemlicher Idiot, wenn er es riskiert, dich zu verlieren!“, sagte er. Flora musste daraufhin etwas lächeln. „Ja, das wäre er!“, sagte sie und schwieg eine Minute. Schien nach zu denken wobei sich Rene fragte, worüber man da noch überlegen sollte. Dann sagte sie mit einem Seufzen:„ Also gut!“ Rene atmete erleichtert auf. War froh, dass er zumindest etwas retten konnte. „Aber dafür machst du eine Woche meine Hausarbeit!“ Dann war sie auch schon in ihrem Zimmer ehe er etwas sagen konnte. Rene stand mit heruntergeklappter Kinnlade vor der Tür seiner Schwester und wusste zunächst nicht was er dazu sagen sollte. Dann stieg typisch, brüderlicher Ärger in ihm hoch. „Das…das ist nicht gerade der Dank, den ich mir verhofft habe!“, rief er gegen die Tür und glaubte ein Kichern zu hören. Beleidigt stapfte er davon, in sein Zimmer und warf laut die Tür ins Schloss. Die Meinung über Renes Heldentat hätte gespaltener nicht sein können. Während die älteren Dorfbewohner immer noch über Renes Tat einfach nur wütend und entsetzt den Kopf schütteln konnten, war er für die jüngeren ein wahrer Held. Besonders für die kleinen Kinder und auch für die Mädchen. Wann immer er an ihnen vorbeiging oder sie in die Bäckerei kamen und ihn trafen, warfen sie ihm schmachtende Blicke zu und schmierten ihm Honig ums Maul. So wie auch heute. „Oh, hallo! Rene! Mir ist gar nicht aufgefallen, was für schöne Augen du hast!“, schwärmte Maria. Eines der wenigen Mädchen, die mit Fug und Recht behaupten konnten, dass sie mal ein perfektes Leben führen würden. Sie lebte mit ihrer Mutter und ihrem Vater, der ein gutverdienender Kaufmann war, in einem der edelsten Häuser des Dorfes. Bisher hatte sie Rene keine Beachtung geschenkt. Weil er der Sohn eines Bäckers war. Aber jetzt schien sie ihre Meinung geändert zu haben. Flora, die ebenfalls in der Bäckerei half, bekam das natürlich und rollte die Augen. Rene versuchte sein Erstaunen nicht zu zeigen. „Äh, danke. Maria!“ „Ich fand es wirklich heldenhaft, wie du dein Leben für das deiner Schwester riskierst hat!“, säuselte sie und zwinkerte ihm zu. Noch bevor Rene etwas darauf antworten konnte, stieß ihn seine Schwester von hinten mit dem Tablet mit frischgebackenen Broten an und warf ihm einen mürrischen und Maria einen finsteren Blick zu. „Hey, hier gibt es noch was zu tun, du großer Held!“, sagte sie dann und machte eine Kopfbewegung zum Sack Mehl, den er in die Backstube tragen sollte. Wortlos nahm er diesen und trug ihn in die Backstube. Flora sah ihrem Bruder nach, dann schaute sie Maria giftig an. „Müsstest du nicht beim ältesten Sohn des Bürgermeisters sein? Deinem Verlobten?“, fragte sie mit einem bissigen Ton. Maria rümpfte nur die Nase. Drehte sich dann um und sagte über die Schulter:„ Grüß mir deinen Bruder!“ Dann ging sie. „Mit Sicherheit nicht!“, raunte sie. Rene ging am Nachmittag, als die Arbeit getan war, zu seiner Großmutter. Seine Mutter gab ihm einen Korb mit Brot, einem leckeren Kuchen und einer Flasche Kräutertee mit. Auf dem Weg zu seiner Großmutter warfen ihm auch andere Mädchen schmachtende Blicke zu. Rene war das mehr als nur unangenehm. Er zog den Kopf zwischen die Schultern und versuchte die Blicke der Mädchen zu ignorieren. Der Weg zu seiner Großmutter war eigentlich nicht weit. Höchstens zehn Minuten, aber nun kam ihm der Weg dreifach solang vor. Und mit jedem Schritt wurden die Blicke der Mädchen und auch die finsteren Blicke der älteren immer schlimmer, bis sie sich förmlich in seinen Rücken zu bohren schienen. Als er endlich ankam, atmete er erleichtert auf und klopfte an. Seine Großmutter öffnete und lächelte ihn an. „Oh! Rene! Schön, dass du mich besuchst!“ „Mutter hat etwas für dich mitgegeben!“, sagte er und hob den Korb hoch. Die Augen der alten Frau strahlten. „Ohhh! Elsa!“, schwärmte sie, klatschte in die Hände und nahm ihm den Korb ab. „Darf ich denn eintreten oder schickst du mich wieder weg, nachdem du die Leckereien bekommen hast?“, fragte Rene und legte einen schmollenden Ton in seine Stimme. „Natürlich, was denkst du denn?“, kam es von seiner Großmutter entrüstet. „Komm rein. Bevor dich die Blicke dieser Schakale in den Boden versinken lassen!“, setzte sie noch hinzu, als sie einen Blick über seine Schulter nach hinten warf. Rene setzte zu einer Antwort an, doch seine Großmutter ergriff ihm am Ärmel und zog hinein. In dem Haus seiner Großmutter war es schön warm. In der Kochstelle loderte ein kleines Feuer und darüber hing ein Kessel, aus dem würziger Rauch sich emporkringelte. „Setz dich!“, sagte sie und ging zur Kochstelle. Nahm aus einem Schrank zwei Tassen aus einfachem Ton und eine Schöpfkelle. Vorsichtig tauchte sie diese ein und goss etwas, von der kochenden Flüssigkeit in die beiden Tassen. „Hier, etwas Tee gegen die Kälte!“, sagte sie und setzte sich ihm gegenüber. Sie nahm einen vorsichtigen Schluck. Rene tat es ihr gleich und schmeckte den würzigen aber auch süßen Geschmack von Früchten und Gewürzen. Sein Lieblingstee! „Wusstest du, dass ich komme?“, fragte er mit gehobenen Brauen und schaute sie über den Rand seiner Tasse an. Er wusste, dass dieser Tee eine Zeit brauchte, bis er fertig war und er konnte sich nicht vorstellen, dass sie diesen einfach so gekocht hatte. Und seine Mutter hatte ihr auch nicht gesagt, dass er kommen würde. Seine Großmutter hob die Schultern. „Vielleicht! Ich habe mir gedacht, dass du mich besuchen würdest. Nach allem was passiert ist, hast du sicher einige Fragen!“ Rene stutzte. Fragen? Er war eigentlich aus einem ganz anderen Grund gekommen. „Ich wollte mich eigentlich bei dir bedanken. Dafür dass du mir den Rücken freigehalten hast!“ Seine Großmutter winkte ab. „Das war nur allzu selbstverständlich!“, sagte sie. „Diese falschen Hunde sollten sich erstmal lieber selbst strafen, für das, was ihre Vorväter getan haben!“ Rene biss sich auf die Unterlippe. Schon bevor er in den Wald ging, hatte seine Großmutter sowas erwähnt. Und sie hatte sich bisher auch irgendwie ausgeschwiegen. Nun aber wollte er genau wissen, was da vor all den Jahren geschehen war. „Großmutter, du hast mir mal erzählt, was die Dörfler damals getan haben!“, begann er. Seine Großmutter nickte. „Weißt du wirklich nicht, wer dieser getötete Wolf war?“ „Nein! Leider. Und ehrlich gesagt: Ich will es auch nicht wissen!“ „Und was meintest du mit diesem Mädchen, was aus dem Dorf gejagt wurde?“ Die Augen Marthas nahmen einen traurigen Ausdruck an. „Dieses Mädchen war eine sehr gute Freundin von mir!“, begann sie und ihre knorrigen Hände zitterten. „Sie war die Tochter eines Schneidermeisters. Ich erinnere mich sehr genau an die schönen Tage, die wir hatten. Wir trafen uns immer auf einem kleinen Hügel unter einem Baum und machten ein Picknick. Sie war verrückt nach meinem Orangenzimtkuchen!“ sagte sie und musste lächeln. „Sie hätte ein so schönes Leben gehabt. Aber…dann geriet sie an diesen Schürzenjäger vom Sohn des damaligen Richters!“ Nun wurde ihr Blick zornig. „Dieser Sittenstrolch hatte ihr allesmögliche versprochen, nur um…!“, kurz versagte ihr die Stimme und sie biss sich auf die Unterlippe. Rene konnte es sich schon denken. „Mehr als einmal habe ich sie davor gewarnt, sich mit diesem Taugenichts einzulassen. Aber sie war verliebt bis über beide Ohren. Als sie dann irgendwann, Gott sei es gedankt, genug von diesem Versteckspiel hatte und von ihm forderte, hinter ihr zu stehen, bekam er Angst, dass sie seine Verlobung mit der Bürgermeistertochter, der Schwester des jetzigen Bürgermeisters, gefährden und damit seine hohe Stellung im Stadtrat zunichtemacht. Also tischte er seinem Vater eine infame Lüge auf, in der er meine Freundin als Verführerin hinstellte und ihr vorwarf, ihn und seine Familie ins Unglück zu stürzen. Ihm fiel es nicht schwer, die Dörfler auf seine Seite zu ziehen. Die wenigen, die dennoch zu ihr hielten, setzte er entweder unter Druck oder bestach sie mit so viel Geld, dass sie ihre Freundschaft zu ihr im Nu vergaßen!“ „Aber du nicht!“, sagte Rene und in seinen Augen war Bewunderung zu sehen. Das war typisch für seine Großmutter. Sie gab einen feuchten Dreck auf das, was sie anderen dachten. Das hatte sie deutlich bei der Anhörung bewiesen. Seine Großmutter machte ein beleidigtes Gesicht. „Natürlich, was denkst du denn?“ Rene hob beschwichtigend die Hände. „Das sollte kein Vorwurf sein!“ „Wie lange ist das her?“ „Vierzig Jahre!“ „Und seitdem werden die Mädchen geholt?“ „Nein. Das passierte erst nach wenigen Monaten. Als der Vater des Bürgermeisters den Wolf erlegte!“ „Wieso hat er das getan?“, fragte Rene. Für ihn ergab das keinen Sinn. Wieso diese lange Zeit? Seine Großmutter wirkte nun auf einmal sehr müde und sie rieb sich die Augen. „Ich kann mich nur schwach daran erinnern. Aber einige Dörfler glaubten meine Freundin gesehen zu haben. Im Wald. Damals gingen sie noch hinein um Holz zu holen. Einer der Holzfäller sah sie bei einer Lichtung. In Gesellschaft eines großen weißen Wolfes. Er erzählte, dass sie sehr vertraut miteinander waren. Natürlich fürchteten nun einige Bürger, dass sie den Wolf gegen das Dorf aufhetzen würde, um sich zu rächen. Der vorherige Bürgermeister nahm sich vor, die Bürger zu beschützen und den Wolf zu töten. Was ihm auch gelang!“ „Und dann forderte der Wolfsprinz als Gegenleistung die Mädchen!“, murmelte er vor sich hin. Seine Großmutter nickte. Jetzt wo er die ganze Wahrheit kannte, konnte er den Groll, den seine Großmutter den Dörflern gegenüber empfand gut verstehen. Denn er spürte den gleichen nun in sich selber hochkommen. Was manche Menschen taten, um ihren guten Ruf zu bewahren, dachte er grimmig. Oder sich in ein besseres Licht rücken wollten. „So langsam verstehe ich, wieso du so bissig den anderen gegenüber bist!“, sagte er dann. „Mein Mitleid für sie habe ich schon lange verloren. Sie sind selber schuld. Aber anstatt etwas dagegen zu tun, sich womöglich zu besinnen, jammern sie lieber rum und gehen auf die los, die sich was trauen!“ „Danke nochmals. Ich weiß nicht, wie ich dir das danken soll!“ „Das musst du nicht. Blut ist schließlich dicker als Wasser!“ Daraufhin musste Rene lächeln. Er blieb noch einige Stunden bei seiner Großmutter, als er dann nachhause ging. Auf dem Heimweg drehte er sich immer wieder um. Trotz dass seine Großmutter deutlich gemacht hatte, vom ihm die Finger zulassen, hatte er dennoch das ungute Gefühl, dass hinter irgendeiner Ecke ein oder mehrere Männer lauerten und nur darauf warteten, ihm eins über den Schädel zu ziehen. Er konnte es förmlich spüren. Verstohlene Blicke, die ihn auf Schritt und Tritt im Verborgenen verfolgten und die bösen Gedanken. Fast schon hätte er gelacht. Nie hätte er gedacht, dass er sich vor den Menschen hier mehr fürchtete, als zuvor noch vor dem Wolfsprinzen. Aber dennoch beeilte er sich nachhause zu kommen. Er bog gerade um die Ecke und sah auch schon, dass er gleich zu Hause war, als ihn eine Hand grob an der Schulter packte. „Hey, was soll…!“, wollte er rufen, doch eine Hand legte sich auf seinen Mund und erstickte seinen Aufruf. Weitere Hände griffen nun nach ihm und rissen ihn in eine dunkle Seitengasse. „Haben wir dich!“ Mehrere Männer hatten sich auf die Lauer gelegt und ihn gepackt. Nun drängten sie ihn mit dem Rücken gegen die Wand. Zwei hielten ihn fest, während die anderen beiden drohend die Fäuste ballten. „Was soll das? Lasst mich los!“, forderte Rene und kassierte einen harten Schlag in den Magen. Rene keuchte und er spürte, wie seine Knie nachgaben. „Erst wenn wir mit dir fertig sind!“, knurrte der eine Mann. Rene kannte ihn nicht. Aber was spielte das auch für eine Rolle. Sie wollten ihn verprügeln. Da spielte es keine Rolle, wer das alles ist. Sie würden jegliche Schuld von sich weisen und jeder würde ihnen das abkaufen. Er konnte nur hoffen, dass seine Familie merken würde, das was nicht stimmte. Bis dahin musste er auf Zeit spielen. „Ich dachte, ich bin nochmal begnadigt worden?“, fragte er trocken. Die Männer lachten. Es waren sowohl Jüngere als auch ältere. Sicher Väter und Söhne oder auch Brüder. In dem dämmrigen Licht versuchte Rene nun doch zu erkennen, wen er da vor sich hatte. Doch das konnte er aufgeben. „Nur weil diese alte Hexe von deiner Großmutter dem Bürgermeister in den Hintern getreten hat, heißt das nicht, dass du aus dem Schneider bist!“, grunzte ein zweiter. „Oh, verstehe. Wollt Ihr mich nun auspeitschen oder mir Zunge rausschneiden, so wie es einige in der Versammlung es verlangt haben?“, fragte Rene und ihm wurde die Kehle trocken. „Nein, das dauert zu viel Zeit und wir sollten keine vergeuden. Dich windelweich zu prügeln, wird reichen müssen!“, sagte nun wieder der erste. „Ach, und Ihr denkt, dass das nicht auffällt?“ „Zumindest keinem, der nicht mit dir verwandt ist!“, lachte nun ein dritter. Der, der ihn links festhielt. Renes Magen verkrampfte sich. Ihm war bewusst gewesen, dass seine Heldentat nicht jeder gut finden würde. Aber nie hätte er gedacht, dass sie ihn so in die Mangel nehmen wollten. Offensichtlich waren sie nicht nur verlogen, sondern auch feige. Rene suchte hektisch in seinem Kopf nach einer Möglichkeit die Kerle abzulenken und dann zu fliehen. „Aber es wird man mir ansehen. Ihr kennt doch meinen Vater? Der wird Euch ungespitzt in den Boden rammen!“, sagte er und hoffte, dass diese kleine Drohung reichen würde, damit sie ihn doch noch gehen ließen. Und tatsächlich. Für einige Minuten schauten sie sich unsicher an. Doch dann lachten sie wieder. „Das nehmen wir gerne in Kauf!“, brummte der Anführer dieser hinterhältigen Bande wieder und gab seinem Kumpanen ein Zeichen, an zu fangen. Dieser ging auf Rene zu und holte mit der Faust aus. Rene glaubte von einem Pferd getreten zu werden, als die Faust sei Gesicht traf und seinen Kopf zur Seite schleuderte. In seinem Kopf explodierten tausend Lichter und in seinen Ohren klingelte es. Rene schüttelte den Kopf, um den darauf folgenden Schwindel los zu werden und schaute wieder zu den Männern. Nun war der Anführer dran. Sein Schlag ging dieses Mal wieder in Renes Magengrube. Dieser Schlag war heftiger, als der erste und trieb ihm die Luft aus den Lungen. Rene sackte in die Knie und wäre vornüber auf den Boden gekippt, doch der Griff der Männer hielt ihn aufrecht. Eine Hand grub sich in sein Haar und riss seinen Kopf brutal zurück. Rene stöhnte schmerzerfüllt auf. Das schien die anderen Männer zu freuen, dass er sichtlich Schmerzen hatte und spornte sie wohl noch mehr an, fester und brutaler zuzuschlagen. Sein Kopf flog von einer Seite zur nächsten und sein Magen und seine Brust wurden so stark mit Faustschlägen bearbeitet, so dass er glaubte seine Knochen und seine Organe würden zu einer Masse zusammen geknetet werden. Und er drohte das Bewusstsein zu verlieren. Als sie dann irgendwann fertig mit ihm waren, ließen sie ihn los und Rene fiel wie ein nasser Sack in den mit Schneebedeckten Boden. Rene blieb zu nächst liegen, rührte sich nicht, weil er fürchtete, dass seine Peiniger wieder anfangen würden, sobald er nur einen Muskel bewegte. Doch irgendwann, als die Kälte in seine Kleidung, in sein Fleisch und in seine Knochen kroch, raffte er seine restliche Kraft und seinen Mut zusammen und stemmte sich gegen die Erde. Mühsam rappelte er sich auf die Beine und versuchte schwankend sein Gleichgewicht zu halten. In seinem Mund schmeckte er einem widerlich süßlich-metallischen Geschmack und spuckte aus. Blut spritzte auf den weißen Boden. Als er das Blut sah, sein Blut, wurde ihm übel. Doch er kämpfte gegen diese an und machte einen Schritt nachvorne. Wollte aus der Gasse und so weit weg von den Schuften, wie nur möglich. Er hätte eigentlich erwartet, dass sie ihn aufhalten und wieder zusammenschlagen würden. Aber nichts dergleichen passierte. Sie machten ihm sogar noch Platz. Ohne ein zutun standen sie da, hielten aber den Blick auf ihn gerichtet. Wie ein geprügelter Hund, schlich er dahin und war schon fast aus der Gasse getreten, doch da sprang einer der Halunken nachvorne und trat ihm brutal in den Rücken. Rene wurde nachvorne geschleudert, kämpfte darum auf den Beinen zu bleiben und stolperte. Fiel auf die Knie und spürte, wie sich der harte Boden in deren Fleisch schnitt. Als er aufstand, rann warmes Blut über seine Schienenbeine. Seine Hose war aufgerissen und Blut sickerte aus den Rissen hervor. Sein Rücken schmerzte und es fühlte sich an, als sei seine Wirbelsäule gebrochen. „Das hat ihm den Rest gegeben!“, lachte derjenige, der ihm den Ritt gegeben hatte und die anderen fielen in sein Lachen ein. „Was ist denn da los?“, fragte plötzlich eine fünfte Stimme und der Schein einer Fackel wurde auf den Weg vor ihnen geworfen. Das Lachen brach ab und nun schienen sie sich nicht mehr so stark zu fühlen. Rene wiederum hätte an ihrer Stelle gelacht, wenn ihm nicht alles wehgetan hätte. Er kannte die Stimme. Es war die seines Vaters. Jetzt seid ihr fällig, dachte er schadenfroh. Und kaum dass er das dachte, kam sein Vater auch schon und die Männer stoben auseinander, wie panische Hühner. Als der Schein seiner Fackel auf sie fiel, donnerte der Vater wütend: „Was habt Ihr mit meinem Jungen gemacht?“ Noch ehe er auf sie losgehen und sie dafür strafen konnte, rannten die Kerle, feige wie sie waren, davon. Ramon wollte ihnen hinterher, doch als er seinen Sohn, sich vor Schmerzen krümmend auf dem Boden lag, sah, besann er sich eines Besseren und half seinem Sohn auf. Ohne ein Wort zu sagen, trug er ihn nachhause. Kaum dass er durch die Eingangstür kam, sprangen Flora und Elsa erschrocken auf. Renes Anblick ließ ihnen beiden die Farbe aus dem Gesicht weichen und auf die beiden zustürzen. „Rene…um Gottes Willen!“, rief seine Mutter bestürzt. „Was ist passiert?“ Die Frage wandte sie an ihren Mann, der mit grimmiger Miene dreinschaute und Rene auf einen der Stühle bugsierte. „Flora, bring deinem Bruder heißes Wasser und kümmere dich um seine Verletzungen!“, sagte er knapp. Flora nickte und eilte, um das Geforderte zu bringen. Elsa sah ihren Sohn mit Entsetzen an und strich ihm zärtlich über das Gesicht. „Wer hat das nur getan?“, fragte sie mit erstickter Stimme. „Gustave und sein Bruder. Sie hatten noch zwei Freunde mitgebracht!“, erklärte ihre Mann und in seinen Augen blitzte es zornig. „Die sollen mich kennenlernen!“ „Was wirst du tun?“ „Ihnen nach gehen und es ihnen mit gleicher Münze heimzahlen!“ „Oh nein, Ramon! Lass das! Das würde alles nur noch schlimmer machen!“, flehte seine Frau ihn an. Ramon wirkte, als wollte er auf ihr Bitten nicht hören und seinen Worten Taten folgen lassen. Aber dann sah er wieder seinen Sohn an und musste erkennen, dass seine Frau Recht hatte. Was sie ihm angetan hatten, war nur ein Denkzettel. Wenn er nun aber selbst zur Gewalt griff, würden sie Rene womöglich schlimmeres antun. Oder sogar sich an Flora vergreifen. Nein, er durfte Gewalt nicht mit Gegengewalt bekämpfen. Aber so leicht sollten sie ihm dennoch nicht entwischen. „Na gut, aber ich werde sie dennoch nicht so leicht davonkommen lassen!“, knurrte er. Flora kam wieder zurück, mit einer Schale dampfendem Wasser und einigen Tüchern. Vorsichtig begann sie damit sein Gesicht abzutupfen und es zu reinigen. Rene verbiss es sich schmerzlich zusammen zu zucken, als das heiße Wasser seine Wunden berührte und Flora lächelte milde. Dann aber wurde ihr Gesicht tiefbetrübt. „Wieso haben die das getan?“ Rene hob ratlos die Schultern. „Sie dachten wohl, weil die anderen mich schon nicht…angemessen bestraft haben, müssten sie es tun. Der Gerechtigkeit wegen!“ Flora schnaubte. „Gerechtigkeit! Was soll das für eine Gerechtigkeit sein, einen wehrlosen Jungen an zu greifen und ihn halbtot zu prügeln?“ „Aber es hätte schlimmer können!“, sagte Rene. „Wie schlimmer?“, fragte Flora erschüttert. Sie mochte sich nicht vorstellen, wie schlimme es hätte noch kommen sollen? Dass er so zugerichtet wurde, war schon schlimm genug. „Sie hätten dich anstatt meiner Stelle erwischen können!“, sagte er und Flora lief es kalt den Rücken hinunter. Da war was Wahres dran. Sie und auch Rene wussten, dass es noch glimpflich gelaufen ist. Aber sie wollten sich nicht vorstellen, was passiert wäre, wenn sein Vater nicht aufgetaucht wäre. Daher schwiegen sie nun, während Flora sich weiterhin um seine Verletzungen kümmerte. Ramon sollte bald Gelegenheit haben, sich für die hinterhältige Attacke auf seinen Sohn zu rächen. Zwei Tage später kam Gustaves Frau, in Begleitung von zwei anderen, in die Bäckerei und trat an die Theke. „Ein Laib Brot bitte!“, sagte sie. Ramon nickte, drehte sich um zu den Broten, die hinter ihm in den Regalen lagen. Doch statt eines davon zu nehmen, holte er eines hervor, was unter der Theke gelegen hatte und alles andere als genießbar aussah. Es war vollkommen verkohlt und deformiert. Das fand auch die Frau. Angewidert rümpfte sie die Nase. Den anderen beiden Frauen erging es nicht anders. „Was soll das?“, fragte sie dann außer sich und schob das Brot angewidert weg. „Willst du mich vergiften, Ramon?“ „Nachdem was dein Mann getan hat, kannst du froh sein, dass ich Euch überhaupt was verkaufe, Giselle!“, knurrte er. Giselle hob verwirrt die Brauen. „Was soll mein Mann denn getan haben?“, fragte sie schließlich. Ramons Gesicht verfinsterte sich nun noch mehr. „Er, dein Schwager und zwei seiner Freunde, zu denen ihr da hinten gehört, habt meinem Jungen aufgelauert und beinahe totgeprügelt!“ Daraufhin sagten weder Giselle noch die anderen beiden etwas, sondern sahen ihn an, als habe sie der Schlag getroffen. Dann aber schien Giselle sich seiner Worte bewusst zu sein. Ihr Gesicht wurde blass und sie schüttelte fassungslos den Kopf. „Niemals! Mein Gustave tut so was nicht!“, rief sie. „Hat er! So wahr ich hier stehe! Wenn er was anderes behauptet, ist er nicht nur ein Feigling, sondern auch ein Lügner!“, grollte er. „Hast du etwa einen Beweis?“, fragte nun einer der beiden Frauen hinter ihm herausfordernd. Ramon verzog keine Miene, sondern drehte sich halb herum und rief:„ Rene! Kommst du mal bitte!“ Rene gehorchte seinem Vater und kam aus dem hinteren Raum. Bei seinem Anblick stockte allen dreien der Atem. Wo sie vorher gedacht hatten, dass Ramon log, wurden sie nun eines besseren belehrt. Auf seinen Augen prangten je dunkle violette Flecken, dazu waren seine Augen geschwollen, sodass es an ein Wunder glich, dass er überhaupt etwas sehen konnte. Seine rechte Wange war ebenso dunkelviolett und zerschrammt. „Der Rest seines Körpers sieht genauso aus!“, erklärte Ramon anklagend. „Dein Mann und die Euren haben ganze Arbeit geleistet!“ Keine der Frauen sagten nun etwas, sondern sahen Rene fassungslos an, als sei er ein Geist. Rene war es sichtlich unangenehm, dass er so vorgeführt wurde. Verlegen schaute er zu Boden. „Kann ich wieder nachhinten gehen? Weiter aufräumen?“ Ramon entließ ihn mit einem knappen Nicken. Rene schlich von dannen. „Also? Denkt Ihr immer noch, dass ich lüge?“, fragte er nun wieder um herausfordernd. Während die beiden hinter Giselle sich unwohl anschauten, suchte Giselle sichtlich nach einer Erklärung dafür. „Sicher…sicher war er einfach nur ungeschickt und ist gestolpert. Die Treppe hinunter gefallen und jetzt wollt ihr das meinem Mann in die Schuhe schieben!“ „Noch ein Wort aus deinem Mund und ich jage dich persönlich aus der Bäckerei!“, kam es plötzlich von Elsa. Sie hatte, von den anderen verborgen hinter einem Regal gestanden und das Ganze mit angehört. Dass Ramon ihnen ein Brot verkaufen wollte, hatte sie zugegeben überrascht. Nach dem was passiert war, hatte sie erwartet, dass er sie sogleich aus der Bäckerei werfen würde, wenn sie auch nur einen Fuß über die Schwelle setzten. Aber vermutlich hielt es für eine passendere Strafe, ihnen ein verbranntes Brot zu geben, als gar keines. Es hätte sie auch nicht gewundert, wenn Giselle erstmal alles abgestritten hätte. Doch als sie es immer noch tat, obwohl sie Rene gesehen hatte und es nun keinen Zweifel daran gab, platzte nun auch ihr der Kragen. Zornig trat sie aus ihrem Versteck. Giselle wurde auf einmal ganz klein. „Was fällt dir ein, deinen verbrecherischen Mann in Schutz zu nehmen, nach dem er meinen Sohn das angetan hat und das nun auf Ungeschicktheit schiebst?“, zischte sie und baute sich vor sie auf. „Und was fällt dir ein, sowas zu behaupten. Ich kenne Gustave sehr gut. Er kann und würde sowas nie tun!“ „Genau und meiner auch nicht!“ „Meiner auch nicht!“ Elsa sah die beiden Frauen vernichtend an und machte so unmissverständlich klar, dass sie ja den Mund halten sollten. Dann wandte sie sich wieder Giselle zu. „Nimm das Brot und verschwinde von hier!“ Giselle wollte noch etwas sagen, doch dann besann sie sich eines Besseren, griff in ihre Tasche warf einige Taler auf die Theke, schnappte sich das Brot und eilte davon. Ihre Begleiterinnen taten es ihr nach, ohne dass sie jäh den Wunsch nach einem Brot geäußert haben. Als die Tür hinter ihnen ins Schloss fiel, trat Ramon neben seine Frau und sah sie mit einer Mischung aus Erstaunen und Anerkennung an. „Holla, was ist denn in dich gefahren? So kenne ich dich nicht, Liebling!“, gab er glucksend zu. Elsa jedoch war alles andere als lächeln zu mute. „Es hat mich einfach wütend gemacht, wie dieses Weib über unseren Sohn redet und womöglich auch denkt. Dabei ist es ihr Mann, der eigentlich Schuld hat!“ „Ich dachte schon, du schnappst dir einen der Holzscheite und ziehst es ihr über den Schädel!“ „Noch ein paar Worte mehr aus ihrem Mund und ich wäre soweit gewesen!“, gab sie finster zu. Ramon legte ihr den Arm um die Schulter und küsste sie auf die Wange. „Ich muss zugeben, es hat etwas, dich so wütend zu sehen!“, sagte er. „Ich kann nur hoffen, dass du niemals so wütend auf mich sein wirst!“ Nun lächelte Elsa doch. „Solange du mir keinen Grund dafür gibst, wird es auch nicht passieren!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)