Eurydike von Minato_March ================================================================================ Prolog: Prolog -------------- Das Mädchen saß barfuß am Boden vor dem Waschbecken. Sie atmete keuchend, die linke Faust an die Stirn gepresst, die Rechte umklammerte eine Pistole. Der Wasserhahn hinter ihr war aufgedreht, das laute Prasseln des Wassers erfüllte den Raum, das Licht der untergehenden Sonne tauchte ihn in ein mattes orange. Zitternd, mit weit aufgerissenen Augen, nahm sie die Waffe in beide Hände und positionierte sie an ihrer Stirn, zwischen Strähnen ihres brünetten Haares. Ihr Atem ging schwerer und sie begann zu schwitzen. Sie schluckte, Schweißtropfen liefen über ihre Wange und fielen hinab auf ihre Schuluniform und ihre pinke Weste. Ein letztes panisches Aufflackern in ihren hellbraunen Augen, ehe sie sie schloss und ihre zitternden Finger sich fester um den Abzug legten. Ihr Keuchen gerann zu einem Schluchzen, als sie die Hand senkte und die Pistole auf den Boden zu ihren Füßen fiel. Kapitel 1: Zermürbende Anreise ------------------------------ Erschrocken riss Yuki die Augen auf. Eben hatte sie noch einem blauen Schmetterling nachgejagt, was war plötzlich los? „Aufgrund einer technischen Störung hat sich der Fahrplan leider um einige Stunden verzögert. Wir entschuldigen uns vielmals bei allen Fahrgästen, die in Eile waren“ Beruhigt ließ sie sich wieder in ihren Sitz sinken. Sie befand sich nach wie vor im Passagierzug Anehazuru auf dem Weg nach Iwatodai und war lediglich eingeschlafen. Noch etwas schläfrig ließ sie den Blick aus dem Fenster schweifen und stellte fest, das es bereits Nacht war. Ihr müdes Spiegelbild blickte ihr entgegen, der rotbraune Pferdeschwanz völlig zerzaust und die ungewöhnlichen roten Augen noch schlaftrunken. Mit der rechten Hand versuchte sie das Haarchaos auf ihrem Kopf etwas zu bändigen, gab aber nach wenigen Minuten erfolglos auf. Sie würde damit wohl bis zu ihrer Ankunft im Wohnheim warten müssen. Stattdessen strich sie ihre neue Schuluniform glatt, die schwarze Jacke ebenso wie den schwarzen Rock. Wo schon ihre Haare sie im Stich ließen, musste wenigstens ihre Kleidung nicht zerknittert aussehen, der erste Eindruck war schließlich entscheidend. Im Abteil befanden sich außer ihr kaum noch Menschen, die meisten von ihnen sahen jedoch genauso müde aus wie sie. Hoffentlich war das Wohnheim nicht schon abgeschlossen wenn sie so spät ankam, abgemacht war, dass sie am späten Nachmittag eintreffen sollte. Sie kramte ihr Handy aus ihrer Reisetasche hervor um nach der Uhrzeit zu sehen. 23:43. Auweia. Mit einem Seufzen steckte sie es wieder zurück und holte stattdessen die Wegbeschreibung zum Heim heraus. Sie hatte sie in den letzten Tagen zwar praktisch auswendig gelernt, aber sicher war sicher. Je schneller sie dort ankam, desto höher war die Chance, dass sie noch jemanden erwischte, der ihr die Tür öffnete. Obwohl, um die Zeit machten ein paar Minuten mehr oder weniger wahrscheinlich auch keinen Unterschied mehr … In dem Moment sagte der Zugführer ihre Station an. Mit einem Ruck hob Yuki ihre Tasche hoch, stopfte die Beschreibung in ihre Rocktasche und stellte sich zur Tür. Mit ihrer freien Hand griff sie nach ihren geliebten roten Kopfhörern, die sie auch heute wie immer um den Hals trug, legte sie sich an die Ohren und drückte auf ihrem MP3 Player auf Play. Als die Musik begann, fühlte sie, wie sie sich entspannte. Der Zug hielt an und sie betrat den Bahnsteig. Etwas nervös machte sie ein paar Schritte nach vorn und unter der großen Uhr hindurch, die in der Mitte der Station hing. Laut ihr war es nun genau 24 Uhr. Plötzlich gingen sämtliche Lichter um sie herum aus, die Musik aus ihren Kopfhörern verebbte und alles wurde schwarz. Ein Stromausfall? Was für ein Zufall, dass genau im selben Moment die Batterien ihres MP3 Players den Geist aufgaben … Oder? Ein unangenehmes Gefühl beschlich sie, begleitet von der üblichen Paranoia, die sie immer überkam, wenn sie sich nach Sonnenuntergang noch draußen aufhielt. Gänsehaut breitete sich auf ihren Armen aus, während sie sich einredete, dass alles in Ordnung war, nur ein Stromausfall, nichts weiter. Trotzdem drehte sie langsam den Kopf um sich zu vergewissern, dass niemand hinter ihr war, es war wie ein innerer Zwang, der des nachts mit ihrem Verfolgungswahn einher ging. Im nächsten Moment wünschte sie sich, sie hätte es nicht getan. Auf den ersten Blick bemerkte sie nichts Auffälliges, keine Menschenseele war zu sehen. Doch als sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung über sich wahrnahm, lief ihr ein eisiger Schauer über den Rücken. Aus dem Rahmen der großen Uhr floss Blut. In einem langsamen Fluss bewegte er sich nach unten, über das Ziffernblatt zum unteren Rand hin. Das war genug. Sie umfasste den Gurt ihrer Tasche fester und eilte schnellen Schrittes zum Ausgang, dabei sah sie immer wieder nach hinten, als könnte jeden Moment ein Monster aus den Schatten springen und sie angreifen. Endlich konnte sie vor sich Licht erkennen und sie beschleunigte ihre Schritte, bis sie fast rannte. Als sie glaubte, hinter sich ein Geräusch zu hören, sah sie sich noch einmal hektisch um. Den Kopf immer noch nach hinten verdreht, verließ sie endlich die Station. Sie wollte schon aufatmen, als unter ihren Füßen ein komisches platschendes Geräusch ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Eine düstere Vorahnung machte sich in ihrer Magengegend breit, als sie stehen blieb und wie in Zeitlupe den Kopf nach unten wandte. Geistesgegenwärtig schlug sie beide Hände vor den Mund. Der gellende Schrei, der sich seinen Weg nach oben gebahnt hatte, blieb ihr im Halse stecken und zu hören war nur ein leises Gurgeln. Ihre weit aufgerissenen Augen starrten auf die Pfütze unter ihr, unfähig, auch nur zu blinzeln. Sie stand in einer riesigen Blutlache. Eine Mischung aus Panik, Hysterie und nackter Angst machte es ihr für einen Moment unmöglich, sich zu rühren. Ihr ganzer Körper zitterte, ihre Tasche rutschte herunter und blieb in der Kuhle ihres Ellenbogens hängen. Das war nicht einfach nur eine Pfütze, das war ein kompletter See! Bilder von abgeschlachteten Menschen blitzen vor ihrem inneren Auge auf, Mörder, die ihre Opfer mit Messern und Äxten malträtierten, geschützt durch die Dunkelheit, die auf magische Weise alles verschlungen hatte. Ihr wurde übel bei dem Gedanken und sie schloss die Augen, um ihn zu verdrängen. Tief ein und aus atmen, nur nicht die Beherrschung verlieren, sonst würde es ihr genauso ergehen wie den armen Kerlen, die .. Nein, nein, nur nicht zu Ende denken! Während sie so dastand, die Hände immer noch auf ihre Lippen gepresst und vertieft in ihre Atemübungen, bemerkte sie diesen schrecklichen Geruch: die Luft war erfüllt von Blutgestank, als hätte eben erst jemand eine Kuh vor ihren Augen geschlachtet und vergessen, hinter sich aufzuräumen. Ihr Magen rebellierte und zum ersten Mal an diesem Tag war sie froh, seit dem Frühstück nichts mehr gegessen zu haben. Trotzdem musste sie hier weg, sonst würde ihr Körper doch noch etwas finden, was er wieder hoch würgen konnte. Nicht ganz so angewidert, wie sie es in einer Situation wie dieser eigentlich hätte sein sollen, zog sie ihren Fuß aus dem Blut und bewegte sich hopsend, die Hände immer noch im Gesicht, um die Pfütze herum. Dabei schwang ihre Tasche fröhlich hin und her und drohte sie ein ums andere Mal aus dem Gleichgewicht zu bringen. Als sie endlich sicher auf der anderen Seite angekommen war, nahm sie die Hände runter, schob den Gurt wieder auf ihre Schulter und marschierte, nun etwas selbstsicherer, gen Heim davon. Ihre Augen wanderten dabei ständig von einer Häuserfront zur Nächsten, immer wachsam obgleich der Gefahren, die sich hier verstecken mochten. Zugegeben, sie war schon lange nicht mehr hier gewesen, aber so obskur hatte sie die Stadt nicht in Erinnerung. Blut an den Wänden und auf allen Straßen, grünes Licht und .. Moment, grün? Wieso fiel ihr das erst jetzt auf? Sie sah hoch zum Mond, der einzigen Lichtquelle, die ihrer Meinung nach in der Lage war, hier zu scheinen. Schließlich funktionierten hier weder MP3 Player, noch Handys oder Straßenlaternen. Tatsache, der Mond verbreitete grünes Licht. Aber nicht nur das, er war auch irgendwie viel größer als sonst. Als hätte ihn jemand mit einem Seil näher an die Erde heran gezogen ... „Autsch!“ Auch das noch, sie war im gehen gegen etwas gestoßen. Sie rieb sich die schmerzende Stirn und öffnete die Augen, um zu sehen, gegen was genau sie da gelaufen war. Vor ihr stand ein gewaltiger Sarg, mindestens Zwei Kopf größer als sie selbst. Ihr klappte die Kinnlade runter, aber diesmal hatte sie sich soweit unter Kontrolle, dass sie nicht versucht war, laut aufzuschreien wie ein verschreckter Teenager aus einem dieser low Budget Horrorfilme. Stattdessen schluckte sie die Furcht runter und machte einen vorsichtigen Schritt zurück, dann noch einen, und noch ein paar, bis sie gut eineinhalb Meter zwischen sich und das Ungetüm gebracht hatte. Jetzt fiel ihr auf, dass hinter dem ersten noch gut ein halbes Dutzend weitere Särge standen. Plötzlicher Verlust von Elektrizität und Licht, Blut überall und jetzt auch noch Särge? Yuki sog noch ein letztes Mal die stinkende Luft ein, dann begann sie sich vorsichtig an den Särgen vorbei zu schieben, bedacht darauf, bloß keinen von ihnen zu berühren. Als sie den letzten Sarg passiert hatte, sprintete sie los, als wäre der Teufel höchst selbst mit all seinen Dienern hinter ihr her. Kapitel 2: Der Junge mit dem Vertrag ------------------------------------ Yuki erreichte das Wohnheim völlig außer Atem und Schweiß durchnässt. Ihre weißen Kniestrümpfe waren bis zu den Knien mit Blut besprenkelt, vereinzelte Strähnen ihres roten Haares klebten an ihrem Gesicht. Sie hatte Seitenstechen und ihre Hüfte schmerzte an der Stelle, wo ihre Tasche beim Laufen permanent angestoßen war. Jetzt, wo sie direkt vor der Haustür stand, beugte sie sich vorn über und stützte sich an ihren Knien ab um Luft zu holen. Ihr Atem ging stoßweise und Schweißtropfen fielen von ihrer Stirn in die Tiefe. Es kam ihr merkwürdig vor, dass sie so geschafft war, in der Mittelschule hatte sie viel Sport getrieben und auch sonst war sie körperlich sehr fit. Selbst wenn man das zusätzliche Gewicht ihrer Sporttasche mit in Betracht zog, so schnell war sie normalerweise nicht aus der Puste … Sie wischte sich mit dem Handrücken über die verschwitzte Stirn und richtete sich wieder auf. Das Erste, was sie in ihrem neuen Zuhause machen würde, war eine heiße Dusche nehmen. Mit schnellen Schritten stieg sie die wenigen Stufen zur Haustür des Heims hoch. Bitte lass sie noch offen sein! Sie drückte die Klinke hinunter und stellte erleichtert fest, dass die Tür sich problemlos öffnen ließ. Mit einem letzten Blick nach links und rechts vergewisserte sie sich, dass ihr niemand gefolgt war, und trat ein. Auch hier war alles dunkel, nur das vage grüne Licht des Vollmondes erhellte einen kleinen Teil des Raumes. Sie stand in einer Art Lobby mit einem hölzernen Tresen auf der linken Seite. Auf der Rechten befand sich nahe der Wand eine gemütlich aussehende Sitzlandschaft mit einem langen Wohnzimmertisch, drum herum je zwei Couchsessel und zwei Dreisitzer, alle in einer dunklen Farbe, im irritierenden grünen Licht konnte sie nicht genau sagen welche, wohl braun oder grau. Direkt vor ihr konnte sie im Halbdunkel noch einen kleinen Fernseher in einer Holzfassung erkennen, außerdem noch eine hüfthohe Trennwand mit schmalen Goldsäulen oben drauf, die den Wohnbereich vom Eingangsbereich mit dem Tresen trennte. Nun in Sicherheit, nahm Yuki die Tasche von ihrer Schulter und stellte sie auf dem Teppichboden ab, als plötzlich .. „Willkommen“ Sie fuhr erschrocken herum und starrte in Richtung des Tresens. Wie aus dem Nichts war dort ein kleiner Junge mit wuscheligen schwarzen Haaren und blauen Augen aufgetaucht. Er trug eine schwarz-weiß gestreifte Hose und ein passendes Oberteil mit 3/4 Ärmeln und Knöpfen an der Brust, außerdem schwarze Schlappen ohne Socken. Bei seinem Anblick musste Yuki unwillkürlich an einen Sträfling aus einem dieser alten Filme denken. „Du bist spät dran. Ich habe eine lange Zeit auf dich gewartet“ Wie bitte? Mit einem Blinzeln wandte sie sich von seinen Schuhen ab und wieder seinem Gesicht mit den leuchtend hellblauen Augen zu. Oder nein, nicht hellblau, der Teil um die Pupille war wesentlich dunkler, er hob sich deutlich vom helleren Rand außen ab, als hätte jemand mit einem Zirkel gekennzeichnet, wo die beiden Blautöne sich trennen sollten. Unter seinem linken Auge konnte sie außerdem ein kleines Muttermal erkennen. Der Junge hob die Hand und deutete neben sich auf den Tresen. Dort lag eine schmale rote Mappe, die sich wie von Geisterhand öffnete und den Blick auf ein Dokument freigab. Es mochte hier drinnen ja wirklich ziemlich dunkel sein, aber Yuki war sich 100%ig sicher: die war gerade eben erst aufgetaucht! Ungerührt fuhr der Junge fort. „Wenn du fortfahren möchtest, dann unterschreibe bitte hier. Es ist ein Vertrag“ Natürlich, ein ominöser Vertrag von einem aus dem Boden wachsenden Jungen, in einer verrückten Stunde wo Blut von den Wänden tropft und Särge die Straßen säumen … Logisch! Es würde sie nicht wundern, wenn in dem Vertrag von ihrer Seele und dem Verkauf selbiger an irgendeinen Dämon die Rede war. Als hätte er ihre Gedanken erraten, setzte der Junge hinzu: „Es gibt keinen Grund sich zu fürchten. Er bindet dich lediglich daran, die volle Verantwortung für deine Taten zu übernehmen“ Er lächelte sie aufmunternd an und erwartete offensichtlich, dass sie unterschrieb. Von ihm mochte zwar keine direkte Gefahr ausgehen, aber unterzeichnen wollte sie diesen Zettel nicht. Wer weiß was dann noch passierte, neben Särgen würden sich vielleicht noch Mumien oder andere Monster zu ihrer kleinen Unterhaltung dazu gesellen. Da fiel es ihr wie Schuppen von den Augen: der Junge war neben ihr der einzige Mensch, der in dieser eigenartigen Parallelstadt zu existieren schien. Von wegen keine Gefahr, vielleicht war er es ja, vor dem sie sich wirklich fürchten sollte. Möglicherweise war er eine Art Ungeheuer in menschlicher Gestalt das nur darauf wartete, sie zu verspeisen, hier, wo es keine Zeugen gab. Sollte das der Fall sein, konnte sie seinen komischen Vertrag eigentlich genauso gut gleich unterschreiben, fressen würde er (oder es?) sie sowieso. Ohne den Jungen aus den Augen zu lassen ging sie langsam auf die Theke zu. Widerwillig löste sie ihren Blick von ihm, als sie die Stelle mit der Mappe erreichte. In schmalen, eleganten Lettern standen dort die Worte: „Ich erwählte dieses Schicksal aus meinem eigenen, freien Willen“ Neben der Mappe lag ein altmodischer Federkiel mit goldener Fassung. Ihr Unterbewusstsein sträubte sich, wollte ihn nicht anfassen, wollte am Liebsten wegrennen und diesen merkwürdigen Jungen und diese unheimliche Stadt weit hinter sich lassen. Aber wo sollte sie schon hin, ohne Strom und ohne einen Ort, an den sie zurück kehren konnte? Sie ignorierte das Stechen in ihrer Brust, welches der Gedanke in ihr hervorrief und griff nach der Feder, um mit ihrem Namen zu unterzeichnen: Yuki Nakamura. „Sehr gut“ Der Junge schien zufrieden zu sein, er nahm die Mappe in beide Hände und machte einen Schritt zurück, fort von ihr. „Zeit ist etwas, dem niemand entkommen kann. Sie geleitet uns alle zum selben Ende. Wünschen wird sie nicht einfach vertreiben“ Er sprach nicht wie ein Kind seines Alters, irgendwie .. älter. Was er sagte, klang wie ein Ratschlag, doch sie wurde das Gefühl nicht los, dass da noch mehr dahinter steckte. In seinen Augen lag etwas, dass sie nicht deuten konnte. Er nahm die Mappe in die rechte Hand und hielt sie vor sein rechtes Auge. „Du kannst nicht einfach deine Augen und Ohren vor ihr verschließen“ Mit diesen Worten drehte er die Mappe so, dass Yuki nur noch ihren Einbandrücken sehen konnte. Im nächsten Moment war sie verschwunden und er ließ die Hand wieder sinken. Also war er wirklich kein Mensch! Während sie ihn immer noch anstarrte, schien die Dunkelheit hinter ihm plötzlich nach ihm zu greifen, sie huschte nach vorne und hüllte ihn ein. Bevor sie ihn ganz in sich auf sog streckte er den Arm in ihre Richtung aus und murmelte: „Und so beginnt es ...“ Dann war er fort, als wären die Schatten mit ihm verschmolzen. Unschlüssig, was sie nun tun sollte, blieb sie stehen und versuchte, ihn im Dunkeln vor sich zu erkennen, obwohl sie irgendwie wusste, dass sie ihn nicht mehr finden würde. Was er auch war, er war fort und hatte sie wieder allein gelassen. Sollte sie das nun beruhigen oder … ? „Wer ist da?!“ Yuki zuckte zusammen. War der Junge doch noch nicht gegangen? Sie wandte den Kopf in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Doch es war nicht der mysteriöse Junge, der gerufen hatte. Die Person vor ihr war deutlich größer. Es war ein Mädchen. Ein Mädchen mit einer pinker Weste. Kapitel 3: Erschießt mich nicht ------------------------------- Wie aus dem Boden gewachsen stand sie da, das helle schulterlange Haar fiel ihr ins Gesicht. „Wie kannst du .. Aber es ist ..!“, stammelte das Mädchen irritiert, „Sag nicht ..“ Sie trug wie Yuki einen schwarzen Rock und Kniestrümpfe und an ihrem rechten Oberschenkel .. hatte sie dort einen dunklen Verband? Oder war das eine Tasche? Im Halbdunkel konnte Yuki es nicht genau erkennen. Während sie noch überlegte, ob sie froh oder beunruhigt darüber sein sollte, dass sie wieder Gesellschaft hatte, machte die Brünette eine hastige Handbewegung zu ihrem Oberschenkel und zog von dort etwas hervor. Als Yuki erkannte, was es war, setzte ihr Herz für einen Augenblick aus: das Mädchen hatte eine Pistole! So langsam wurde Yuki das alles zu viel, mehr und mehr hatte sie das Gefühl, in einem schrecklichen Albtraum gefangen zu sein, so viele verrückte Sachen konnte es doch gar nicht geben! Womöglich war sie am Bahnsteig einfach ausgerutscht und lag dort immer noch mit einer Platzwunde bewusstlos am Boden. Sie ertappte sich dabei wie sie hoffte, irgendjemand würde sie ohrfeigen, sodass sie zu sich kommen und das alles vergessen konnte. Der Atem der Brünetten ging jetzt stoßweise, sie riss die Pistole hoch, Yuki sah sie in Gedanken schon den Abzug drücken, gleich würde sie .. „Warte!“ Das Mädchen fuhr herum und Yuki schnappte erschrocken nach Luft. Mit einem Mal gingen sämtliche Lichter wieder an und aus den Kopfhörern in ihren Ohren drang erneut die Musik. Wie mechanisch fuhr Yukis Hand langsam in ihre Jackentasche und betätigte die Off-Taste ihres MP3-Players. Der schnelle Rhythmus und die kräftige Stimme der Sängerin hätten sie ein andermal bestimmt besänftigt, jetzt aber wollte sie durch nichts abgelenkt werden. Sie mochte fürs Erste gerettet sein, aber noch wog sie sich nicht in Sicherheit. Sie riskierte einen Blick auf die junge Frau, die hinter der Brünetten aufgetaucht war und mit ihrem Zwischenruf den Schuss verhindert hatte: volle, dunkelrote Locken ergossen sich über deren Rücken und linke Schulter, die Stirnfransen hingen ihr ins Gesicht und verdeckten ihr linkes Auge nahezu vollständig. Auch sie trug eine Schuluniform, allerdings hatte sie ihre ein wenig abgeändert: ihre Bluse war wesentlich eleganter und damenhafter geschnitten als Yukis, der schwarze Rock war etwas länger als ihr eigener und sie trug kniehohe Stiefel statt der braunen Lederschuhe, die standardmäßig beigelegt waren. Bei ihrem Anblick wäre jedes andere Mädchen vor Neid grün geworden: die langen schlanken Beine, die helle Porzellanhaut, die schmale Taille … Auch ohne an sich herab zu sehen wusste Yuki, dass sie selbst keinen sonderlich hübschen Anblick bot: von der vielen Rennerei sahen ihre Haare sicher aus wie ein Vogelnest, an ihre zerknitterten und schmutzigen Kleider wollte sie gar nicht erst denken. Obwohl sie nach außen hin ruhig blieb, tobten die Fragen nur so durch ihren Kopf: wer waren diese Mädchen und warum war eine von ihnen bewaffnet? War sowas in Japan mittlerweile normal, dass Schüler Pistolen besitzen durften? Wieso war das Licht plötzlich wieder an (nicht, dass sie sich darüber hätte beschweren wollen)? Und was hatte es mit diesem ganzen Blut und den Särgen auf sich? Hatten die beiden damit irgendetwas zu tun? Hing vielleicht das ganze Heim mit drin? Schließlich hatte Yuki auf dem Weg hierher weit und breit keine Menschenseele gesehen und nur in diesem Gebäude schien es vor Leben nur so zu wimmeln … Die Brünette schien sich mittlerweile wieder beruhigt zu haben, sie atmete erleichtert aus, senkte den Arm und schenkte der Rothaarigen ein Lächeln. Diese begann nun mit fester Stimme zu sprechen: „Ich dachte nicht, dass du so spät ankommen würdest. Mein Name ist Mitsuru Kirijo. Ich gehöre zu den Schülern die in diesem Wohnheim leben.“ Für eine Oberschülerin hatte ihre Art zu sprechen etwas sehr autoritäres und Yuki kam nicht umhin zu denken, dass man sie besser nicht wütend machte. Auch ihre Kleidung wirkte auf sie bei näherer Betrachtung mehr wie die einer strengen Lehrerin, das Mädchen in der pinken Weste sah ihr schon eher nach einer normalen Highschool Schülerin aus. Sofern man ein Mädchen, dass mitten in der Nacht eine Pistole spazieren führte, normal nennen konnte. Die Brünette wandte sich an das Mädchen namens Mitsuru: „Wer ist sie?“ „Sie ist eine Austauschschülerin. Es war eine Last-Minute Entscheidung, sie hier unterzubringen. Sie wird im Endeffekt einen Raum des normalen Wohnheims beziehen.“ Wie bitte, normal? Was sollte das denn heißen? Wenn das hier normal war, wie stellte sich diese Mitsuru dann erst Merkwürdig vor? Das andere Mädchen machte einen besorgten Eindruck als sie nach kurzem Zögern fragte: „Ist es okay für sie, hier zu sein?“ „Ich denke, das werden wir noch sehen“, Mitsuru wirkte aus irgendeinem Grund amüsiert, als sie das sagte. Yuki gefiel die Art, wie Mitsuru über sie sprach als wäre sie gar nicht anwesend, nicht. Ihre Nerven lagen mittlerweile ziemlich blank und sie wollte nur noch ins Bett und diesen unwirklichen Tag hinter sich lassen. Oder benommen am Bahnsteig aufwachen, was auch immer sich eher einrichten ließ. Unterdessen fuhr Mitsuru ungerührt fort: „Das ist Yukari Takeba. Sie wird eine Elftklässlerin dieses Frühjahr, genau wie du.“ Yukari wandte sich nun direkt an Yuki: „Hi, ich bin Yukari.“ Ha, so lief das also? Erst schießen, dann vorstellen? Na wunderbar, das konnte ja noch heiter werden, Yuki wollte gar nicht wissen, wie Yukari sie morgen grüßen würde .. Vielleicht sollte sie sicherheitshalber aus dem Fenster klettern, um ihr am Morgen nicht allein zu begegnen. Bei der Gelegenheit konnte sie sie eigentlich genauso gut gleich fragen, was das mit der Pistole überhaupt sollte. Yuki atmete noch einmal tief ein und aus ehe sie loslegte: „Wieso hast du eine Waffe?“ „Huh?“ Yukari sah erst sie, dann die Pistole in ihrer Hand erschrocken an als wüsste sie plötzlich nicht mehr, wie sie dorthin gekommen war. Sie wandte den Blick zur Seite als sie stotternd antwortete: „Ah, naja, das ist sowas wie ein Hobby ..“ Wenn dieses „Hobby“ darin bestand, Neuankömmlinge zu Tode zu erschrecken, dann dürfte sie heute Abend ja mächtig viel Spaß gehabt haben, dachte Yuki bei sich und starrte Yukari an, als hätte sie völlig den Verstand verloren. „Naja, nicht ein Hobby, aber ..“, fuhr Yukari nervös fort. Ja, was denn nun? Zufällig war diese Pistole wohl nicht an ihren Oberschenkel geraten. Im Licht der Lampen konnte Yuki nun erkennen, dass das, was sie früher noch für einen Verband gehalten hatte, in Wahrheit ein Waffengurt war. Also entweder Yukari hatte die bewundernswerte Fähigkeit, voll bekleidet und bewaffnet schlafzuwandeln oder sie spielte mitten in der Nacht mit sich selbst heimlich Splinter Cell. Yuki würde sich künftig dafür hüten, des nachts ihr Zimmer zu verlassen und überlegte, ob sie sicherheitshalber einen Stuhl unter die Türklinke klemmen sollte wenn sie schlief. Da mischte sich Mitsuru in die Unterhaltung ein: „Du weißt ja, wie es ist heutzutage … Sie ist zur Selbstverteidigung“, sie lächelte als sie fortfuhr, “Es ist selbstverständlich keine echte Pistole.“ „Es wird langsam spät. Du findest dein Zimmer im dritten Stock, deine Sachen sollten schon dort sein. Ich schlage vor du gehst für heute zu Bett“, beendete Mitsuru das Gespräch und damit schien das Thema fürs Erste erledigt. Yukari lächelte Yuki an und sagte auf einmal ganz fröhlich: „Oh, ich zeig dir den Weg. Folge mir!“ Yuki gab es auf, mit den beiden reden zu wollen, und fügte sich in ihr Schicksal. Auch wenn sie noch so viele Fragen hatte, sie hatte nicht das Gefühl, dass Mitsuru auch nur eine von ihnen beantworten würde. Das, und Yukaris plötzlich aufkeimende Fröhlichkeit, mit der sie wohl die ganze verkorkste Situation zu überspielen versuchte, waren für sie heute Abend nicht mehr tragbar. Sie hob ihre Tasche, die immer noch Boden lag, hoch und trottete Yukari schwerfällig hinterher. Als sie die Treppe erreichte, spürte Yuki ganz deutlich Mitsurus Blick in ihrem Rücken. Kapitel 4: Ein neues Zuhause? ----------------------------- Schweigsam folgte Yuki der Brünetten die Treppe hoch in den dritten Stock, vorbei an einer Ansammlung von Couchsesseln und Sofas links bis ans Ende des Korridors. Ihr neues Zimmer befand sich ganz hinten auf der rechten Seite, genau über dem Teil der Lobby, wo sie den Vertrag unterzeichnet hatte. Großartig, dachte sie bei sich und schon kam ihr die Tür ein klein wenig bedrohlicher vor. Yukari war stehen geblieben und sagte bemüht freundlich: „Das ist es. Ziemlich leicht zu merken, nicht? Schließlich ist es ganz am Ende des Flurs!“ Yuki fand, dass ihr Lächeln ein wenig gezwungen wirkte. Vielleicht hatte sie aber auch nur ein schlechtes Gewissen, weil sie sie vor Fünf Minuten noch erschießen hatte wollen. „So, irgendwelche Fragen?“ Mit leicht schräg gelegtem Kopf dachte Yuki kurz nach und entschloss sich schließlich für die Frage, die ihr am wenigsten verrückt vorkam: „Lebt dieser Junge auch hier?“ Zwar hätte sie auch gerne nach dem Vertrag oder der Stadt gefragt, aber sie wollte der schießwütigen Brünetten keinen Anlass geben, ihr zu misstrauen oder sie für komisch zu halten. Diese sah trotzdem nicht begeistert aus als sie antwortete: „Wovon redest du? Komm schon, das ist nicht witzig.“ Was sollte das denn nun wieder? Yuki hatte mit dem Burschen schließlich nur Minuten, bevor Yukari aufgetaucht war, gesprochen, sie musste ihn also zumindest gehört haben! Wieso tat sie jetzt so, als hätte sie nicht mehr alle Latten am Zaun? Irritiert und, zugegebenermaßen, ein wenig misstrauisch, fragte sie sich, wieso die Brünette sich dumm stellte. Irgendwoher musste der Bengel schließlich gekommen sein, er konnte ja schlecht in der Wand wohnen. Unterdessen war Yukari ganz in ihre eigenen Gedanken versunken und bemerkte Yukis forschende Blicke nicht. Das Gesicht abgewandt fragte sie unsicher: „Um … Kann ich dich etwas fragen? Auf deinem Weg von der Station hierher ... war da alles in Ordnung?“ Für einen Moment wurde Yuki trotz ihrer Müdigkeit hellhörig: hatte Yukari etwa auch etwas gesehen? War sie doch nicht die Einzige, die die ganzen Särge und das Blut bemerkt hatte? Sie wollte schon mit ihrer Antwort herausplatzen, als ihr ein Gedanke kam: die Frage konnte auch ganz anders gemeint sein. Sie war schließlich mehrere Stunden zu spät eingetroffen, genauso gut konnte es eine reine Höflichkeitsfloskel sein alá „Wie geht es dir?“ oder „Hattest du eine angenehme Reise“? Yuki biss sich auf die Unterlippe. Sie konnte unmöglich von Särgen und dergleichen anfangen, wenn Yukari nur ein einfaches „Ja, danke der Nachfrage“ erwartete. Andererseits … vielleicht wusste sie ja doch Bescheid? Wie sie es auch drehte und wendete, sie musste erst sicher sein, dass sie beide das Gleiche meinten ehe sie mit ihrer Geschichte für Verwirrung sorgte. Also fragte sie so unschuldig wie möglich: „Was meinst du?“ „Du weißt was ich .. Schon gut. Es scheint, als ginge es dir gut“, Yukari schenkte ihr wieder ihr freundliches „Alles-in-bester-Ordnung“-Lächeln ,“Tja, ich mach mich dann wohl mal besser auf den Weg.“ Mit diesen Worten drehte sie am Absatz um und ließ Yuki einfach stehen. Nach ein paar Schritten hielt sie noch einmal an und rief über die Schulter: „Um ...Ich bin sicher du hast noch andere Fragen, aber lass sie uns auf später verschieben, okay? Gute Nacht.“ Wie bestellt und nicht abgeholt stand Yuki im Flur vor ihrem neuen Zimmer, Yukaris Schritte auf der Treppe wurden langsam leiser, und in ihrem Kopf herrschte nur eine Frage: gab's auf dieser Etage eigentlich auch ein Klo? Fast war sie versucht, wieder nach unten zu gehen und die beiden danach zu fragen, aber das bisschen Restwürde, was ihr heute geblieben war, wollte sie dann doch nicht aufgeben. Also schob sie den Tragegurt ihrer Tasche wieder auf ihre Schulter, umfasste die Türklinke mit eisernem Griff und drückte sie entschlossen (und in der Hoffnung, dass sie nicht abgeschlossen war) nach unten. Gott sei Dank hatten Rotschopf und Schießstand-Yukari dran gedacht, ihr Zimmer offen zu lassen. Mit einem leisen Klick betätigte Yuki den Lichtschalter und sah zum ersten Mal ihr neues Zuhause. Es war ein gemütlicher Raum mit einem frisch bezogenen Bett, davor eine kleine Kommode samt Fernseher, einem Schreibtisch direkt vorm Fenster, ein paar Regalen an den Wänden und, links von ihr, einem eigenen Waschbecken mit Spiegel und Minikühlschrank. Hier konnte man sich durchaus wohl fühlen. Sie schloss leise die Tür hinter sich und stellte erleichtert fest, dass der Schlüssel innen im Schloss steckte. Man fühlte sich gleich so viel wohler, wenn man wusste, dass man potentielle Ruhestörer bei Nacht aussperren konnte. Der Anflug eines Lächelns hatte sich auf ihr Gesicht geschlichen, erlosch jedoch nun, da sie sich ihrer Lage bewusst wurde, schnell wieder. Sie war hier, umgeben von Menschen, die sie nicht kannte in einer Stadt, die ihr mal vertraut gewesen sein musste und die ihr nun so unendlich fremd und bedrohlich vorkam. Außerdem zweifelte sie langsam ernsthaft an ihrem Verstand. Waren die Dinge, die sie da draußen gesehen hatte, nun wirklich wahr? Oder lediglich ein Produkt ihrer Fantasie, gemischt mit Stress und ihrer üblichen Angst vor der Dunkelheit? Panikattacken bei Nacht waren für sie ja nichts Neues, aber Halluzinationen hatte sie noch nie gehabt. Wenn sie diese Furcht doch nur endlich abschütteln könnte, es war doch schon so lange her … Mit einem Mal brach die Müdigkeit über sie herein wie eine Welle und sie konnte die Augen kaum noch offen halten. Ihre Tasche glitt ihr von der Schulter und sie ließ zu, dass sie auf den Boden plumpste. Ihr Körper wurde schlaff, forderte seinen Tribut nach all den anstrengenden Ereignissen dieses Abends. Eigentlich hatte sie noch vorgehabt, über all das nochmal gründlich nachzudenken und für sich zu entscheiden, ob sie den Mädchen im Erdgeschoss trauen konnte, aber plötzlich schien nur noch eines wichtig zu sein: Schlaf, und zwar eine ganze Menge davon. Ihre Füße trugen sie wie mechanisch hinüber zum Bett. Voll bekleidet ließ sie sich einfach darauf fallen und streifte die Schuhe umständlich ab. Ungeduldig öffnete sie Jacke und Rock, schlüpfte aus ihnen heraus und warf beides achtlos von sich. Die Bluse ließ sie an, die Socken landeten am Fußende des Bettes am Boden. Mit einem zufriedenen Seufzen schloss sie die Augen und vergaß, dass sie ihre Tür eigentlich hatte absperren wollen. Kapitel 5: Ein turbulenter Morgen --------------------------------- Als Yukis Wecker sie am nächsten Morgen unsanft aus dem Schlaf riss, fühlte sie sich wie gerädert. Jeder einzelne Muskel ihres Körpers war total verkatert, als hätte sie die ganze Nacht wie verrückt trainiert. Mühsam stemmte sie sich auf die Ellenbogen, ihre rote Mähne fiel ihr zerwühlt ins Gesicht und über die Schultern. Soviel zu ihrem Pferdeschwanz, dieses Chaos aus Haaren, Gummis und Spangen wieder herzurichten würde dauern. Erneut machte sich ihr Wecker bemerkbar und mit einem resignierten Stöhnen warf sie die Decke zurück und schwang die Beine über die Bettkante. Auf geht’s, dachte sie wenig optimistisch und machte sich daran, ihre im ganzen Raum verstreuten Klamotten zusammen zu suchen. Gerade als sie ihren Rock vom Boden heben wollte, hörte sie erneut das monotone Klopfen ihres Weckers. Moment, klopfen? Seit wann klopften Wecker? Und wo sie schon dabei war: ließ sie sich nicht normalerweise von ihrem Handy aus den Federn klingeln? Sie hockte immer noch mit ausgestreckter Hand verwirrt am Boden, als sie eine schrecklich bekannte Stimme vernahm: „Hier ist Yukari, bist du wach?“ Entgeistert wurde ihr mit einem Schlag klar: das Klopfen, dass sie gehört hatte, kam von der Tür und wurde von niemand geringerem verursacht als dieser schießfreudigen Brünetten! Oh Gott, musste ihr erster Morgen in dieser Stadt wirklich mit ihr anfangen? Sie wollte ungern die Tür öffnen und wieder in den Lauf einer geladenen Pistole sehen, allein die Vorstellung jagte ihr einen Schauer über den Rücken. „Guten Morgen. Hast du gut geschlafen?“, Yukari klang erschreckend fröhlich, als hätte sie das Desaster der vergangenen Nacht komplett vergessen. „Mitsuru-Sempai hat mich gebeten dich zur Schule zu bringen. Bist du fertig zum Aufbruch?“ Auweia, in Unterwäsche, einer zerknitterten Bluse und mit verfilzten Haaren am Boden hockend konnte man wohl kaum ausgehfertig nennen! In Windeseile flitzte sie durchs Zimmer und sammelte die restlichen Teile ihrer Uniform ein, durchwühlte ihre Tasche nach frischen Socken und zog sich hektisch an. Wieso musste Yukari sie auch zur Schule begleiten? Konnte sie nicht einfach allein gehen, wenn sie angezogen und geduscht war? Vielleicht reichte es ja, wenn sie Yukari mit dem Zaunpfahl winkte? Während sie T-Shirts und Hosen aus der Tasche warf um an ihre Bürste zu kommen rief sie: „Ich komm schon allein klar.“ „Oh … Bist du sicher …?“, Yukari klang irgendwie enttäuscht und Yuki atmete erleichtert auf. Doch die Brünette machte es ihr nicht einfach: „Aber, du willst doch nicht riskieren an deinem ersten Tag zu spät zu kommen, oder?“ Oh oh, das klang nicht gut. Offensichtlich erkannte Yukari einen subtilen Wink nicht, möglicherweise verstand sie es ja, wenn Yuki es ihr …? „Komm schon, beeil dich und mach hinne!“ Oder auch nicht. Hastig fuhr Yuki sich mit der Bürste durch die Haare und band sie anschließend zu einem Pferdeschwanz zusammen. Die zu kurzen Strähnen steckte mit Klammern über ihrem linken Ohr fest, die Spangen bildeten die römische Ziffer 13, ihre Glückszahl. Mit ihr am Körper fühlte sie sich all dem Neuen zumindest ein bisschen besser gewachsen. Mit einem Mal wurde die Tür geöffnet und Yukari platzte ins Zimmer. Eine Minute früher und sie hätte Yuki unfrisiert und noch halbnackt erwischt, jetzt aber sah sie durchaus vorzeigbar aus. Naja, vom Zähne putzen mal abgesehen. Sie würde wohl oder übel mit Kaugummis vorlieb nehmen müssen, Yukari sah nicht so aus als würde sie die zwei, drei Minuten noch warten wollen. Die Zwei setzten sich in Bewegung und verließen gemeinsam das Wohnheim. Auf ihrem Weg zur Bahnstation plauderte Yukari munter vor sich hin und erzählte Yuki, wo man die schönsten Blumen bekam, wo man am Günstigsten essen konnte und welche Winkel man am Besten mied, wenn man keinen Ärger mit älteren Jugendlichen kassieren wollte. Yuki hörte ihr geduldig zu, nickte gelegentlich und verhielt sich ansonsten ruhig. Sie hatte die Sache von gestern noch nicht richtig verdaut und traute Yukari nach wie vor zu, die Knarre unter ihrem Rock am Schenkel zu verstecken. Es irritierte sie, dass Mitsuru-Sempai offenbar kein Problem darin sah, eine nervöse Brünette des nachts mit einer Pistole durchs Wohnheim laufen zu lassen. Wenn man mal um 23 Uhr auf die Toilette musste, wie hoch war da die Wahrscheinlichkeit, dass Yukari einen versehentlich erschoss, wenn sie einen am Gang traf? Mittlerweile hatten die beiden die Station erreicht und betraten mit vielen anderen Gekkoukan Schülern den Bahnsteig. Unwillkürlich huschte Yukis Blick dabei auf die große Uhr über ihren Köpfen. Bei Tageslicht kamen ihr die Ereignisse der gestrigen Nacht noch unwirklicher vor. Es waren kaum fünf Minuten vergangen als der Zug auch schon eintraf. Hätte Yukari Yuki nicht geweckt, wäre sie wirklich zu spät gekommen und hätte ihn versäumt. Gemeinsam mit den anderen stiegen sie ein und suchten sich einen Stehplatz nahe der Tür. Als der Zug wieder Fahrt aufnahm, bemerkte Yuki aus dem Augenwinkel, wie einige Mädchen sie mit großen Augen musterten und hinter vorgehaltener Hand tuschelten. Auch einige der Jungs warfen ihr neugierige Blicke zu. Sie tat, als würde sie es nicht bemerken und drehte ihnen wie zufällig den Rücken zu, den Oberkörper dem Fenster zugewandt, den Blick auf ihre Schuhe gerichtet. Yukari schien ziemlich beliebt zu sein, nicht wenig Schüler beobachteten sie mit unverhohlenem Interesse, allen voran die männlichen. Toll, damit war auch Yuki automatisch die doppelte Aufmerksamkeit sicher, als die „neue Freundin“ der Brünetten. Yukari riss sie einmal mehr aus ihren Gedanken: „Wir müssen die Bahn nehmen um zur Schule zu kommen. Wette deine letzte Schule war nicht so, huh?“ Ihre letzte Schule … Noch konnte Yuki nicht sagen, ob Gekkoukan so viel anders werden würde, das würde der heutige Tag erst zeigen. Sie konnte nur hoffen, dass es hier anders lief als damals in der Mittelschule. Die Erinnerung daran verursachte ein unangenehmes Gefühl in ihrer Magengegend. „Das ist meine Lieblingsstelle“, fuhr Yukari heiter fort ,„wenn es sich anfühlt als würdest du über das Meer gleiten.“ Yuki sah nun ebenfalls aus dem Fenster, und sie musste zugeben: Yukari hatte Recht. Der Zug war in eine Kurve gelangt und fuhr nun mehrere Meter über dem Ozean dahin, rechts und links von ihnen war nichts außer türkisblauem Wasser. Es war wirklich ein schöner Anblick, und Yukis Laune hellte sich tatsächlich ein bisschen auf. „Unsere Station ist Port Island Station am Ende der Strecke. Von dort gehen wir zu Fuß weiter“, sagte Yukari gerade. Sie richtete den Blick wieder auf Yuki als sie fortfuhr: „Hast du je von Tatsumi Port Island gehört?“ Yuki schüttelte den Kopf. „Es ist eine von Menschenhand geschaffene Insel. Sie haben unsere Schule genau in die Mitte gebaut. Oh, schau, du kannst sie jetzt sehen!“ Aufgeregt zeigte Yukari aus dem Fenster und Yuki sah sofort das mächtige Gebäude, das einen Großteil der Insel einnahm. Für eine gewöhnliche Schule war sie ganz schön beeindruckend, ein riesiger rechteckiger Klotz, sehr modern und in weiß gehalten. Der Zug wurde langsamer und hielt schließlich in Tatsumi Port Island an. Yukari stieg aus und Yuki folgte ihr auf dem Fuße, ausgelassenes Lachen und Geplauder erfüllten die Luft um sie herum, hie und da wurde Yukari von einigen Mitschülerinnen gegrüßt. Yuki konzentrierte sich ganz auf ihre Füße, hoffte, dass sie nicht zu viel Aufmerksamkeit erregte und hielt den Mund geschlossen. „Tja, hier wären wir …“ Yuki hob den Kopf als sie Yukaris Stimme hörte. „Willkommen in Gekkoukan High School!“, verkündete sie gerade feierlich ,„Du wirst es hier lieben!“ Zweifelnd schaute Yuki nach vorne und sah zum ersten Mal ihre neue Schule aus der Nähe. Der gesamte Campus war eingezäunt und blühende Kirschbäume säumten den breiten Eingangsbereich. Direkt vor ihnen erhob sich, höher als der Rest, der Mittelteil, ein gewaltiger Quader der nur aus Fenstern zu bestehen schien, mehrere breite Stufen führten zu drei Eingängen. Rechts und links erstreckte sich der dreistöckige rechteckige Körper des Gebäudes, alles wirkte durch die vielen Fenster freundlich und offen. Yukis Herz begann schneller zu schlagen. Jetzt war es so weit, dieser Tag hatte sie in den letzten Wochen einiges an Schlaf gekostet. Aufregung und Nervosität machten sich in ihr breit und ihr Mund wurde trocken. Zögernd folgte sie Yukari die Stufen hinauf und betrat das Gebäude. Am Liebsten hätte sie einfach umgedreht oder sich im Mädchenklo versteckt. Sie mochte es generell nicht, im Mittelpunkt des Interesses zu stehen, aber als „die Neue“ war sie mit Sicherheit spätestens am Ende der ersten Pause DAS Gesprächsthema der Schule. Schlimmer noch, sie würde die komische Fremde mit den roten Augen sein, das Mädchen, das mittendrin noch gewechselt hatte und in einen Haufen von Cliquen und besten Freunden platzte. In der 11. Klasse kannten sich schließlich schon alle, da war für einen Neuankömmling einfach kein Platz mehr. Ihr wurde übel wenn sie an all die fremden Gesichter dachte. Oh Gott, worauf hatte sie sich da nur eingelassen? Yukari war zwischen mehreren Reihen von Schließfächern stehen geblieben, die direkt nach dem Eingang platziert waren. Sie drehte sich zu Yuki um und fragte: „Du bist okay von hier an, nicht?“ Bei diesen Worten starrte Yuki sie entsetzt an. Wollte Yukari sich jetzt etwa verdrücken? Bevor sie irgendetwas erwidern konnte setzte Yukari hinzu: „Du solltest zuerst zu deinem Klassenvorstand gehen. Das Lehrerzimmer ist gleich hier links. Und das schließt unsere Tour! Hast du noch irgendwelche Fragen bevor ich gehe?“ Ja, und nicht nur eine! Yuki glotzte sie immer noch aus großen Augen an, sie konnte doch nicht einfach abhauen und sie hier allein lassen! Glaubte Yukari etwa, die Beschreibung „hier gleich links“ war ausreichend für Jemanden, der vollkommen neu an dieser Schule war? Sie versuchte, sich ihre Panik nicht anmerken zu lassen und fragte stattdessen mit krächzender Stimme: „Wo ist denn meine Klasse?“ Yukari sah sie mit hochgezogener Augenbraue an: „Ich denke sie haben die Klassenaufteilung ans schwarze Brett gehängt, aber ich hab selber noch nicht nachgesehen. Hey“, ihr Gesicht nahm einen besorgten Ausdruck an, „Wegen letzter Nacht … Sag niemandem was du gesehen hast, okay?“ Wie bitte? Als ob Yuki verrückt genug wäre, an ihrem ersten Tag mit einer Story wie dieser um die Ecke zu kommen! Sie hatte nicht vor, ein potentiell stattfindendes Gespräch mit einem ihrer Mitschüler mit den Worten „Yukari trägt ne Pistole unterm Rock“ zu beginnen. Mal ehrlich, sie musste ihnen nicht auch noch einen derart simplen Grund geben, sie für vollkommen irre zu halten, ihre Augenfarbe und ihr Charakter würden das schon früh genug selbst erledigen. Yukari grinste sie nun wieder breit an, rief noch ein „Man sieht sich später“ und spazierte dann schnellen Schrittes davon. Großartig, sie hatte keine Zeit, Yuki zu erklären, wo ihre Klasse war, aber eine Drohung brachte sie schon noch über die Lippen. Mit einem Mal fühlte Yuki sich total verloren und einsam unter all den fremden Menschen. Sie seufzte schwer. Es half ja doch nichts, wenn sie hier stehen blieb und Yukari Vorwürfe machte, es würde sie wohl keiner an der Hand nehmen und herum führen, schließlich war sie keine vier Jahre alt mehr. Also straffte sie den Rücken, reckte das Kinn in die Höhe und machte sich auf den Weg zum schwarzen Brett. Kapitel 6: Der erste Tag ------------------------ Ein wenig schüchtern betrat Yuki die Aula und sah sich um. Rechts von ihr unterhielt sich ein braun gebranntes Mädchen mit schwarzen, hochgesteckten Haaren mit einem Jungen im grauen Trainingsanzug. Scheinbar versuchte sie gerade, ihm diesen auszureden, allerdings mit mäßigem Erfolg. Dem Gespräch konnte Yuki immerhin entnehmen, wo sich das schwarze Brett befand. In Gedanken dankte sie den beiden dafür, als sie an ihnen vorbei ging. Das schwarze Brett war eigentlich nicht schwer zu finden, es hing an der rechten Wand gleich hinter den beiden, einige Schüler standen noch davor und suchten ebenfalls ihre Klassen. Yuki stellte sich zu ihnen und ließ den Blick über die vielen Listen schweifen. Sie musste zweimal hinsehen bis sie ihren Namen endlich fand: Yuki Nakamura, Klasse F. Yukaris Name stand ebenfalls unter F, sie würden sich künftig wohl noch öfter sehen. Yuki war sich nicht sicher, was sie davon halten sollte. Tja, ihr blieb wohl nur die Hoffnung, dass Yukari ihre Pistole wenigstens in der Schule nicht dabei hatte. Yuki ließ ihre Hand in ein Seitenfach ihrer Schultasche gleiten und zog eine Packung Kaugummi hervor. Während sie sich einen von ihnen auf die Zunge legte, drehte sie sich um und überlegte, wo „gleich links“ das Lehrerzimmer sein mochte. Rechts neben ihr führte eine Treppe nach oben und vor ihr gab es einen Schülerkiosk, an dem man allerlei Snacks kaufen konnte. Yuki schlenderte an ihm vorbei und blieb unschlüssig auf einem runden Mosaik in der Mitte des Raumes stehen. Links und rechts führte je ein Gang tiefer ins Gebäude. Yukaris Rat befolgend bog sie in den Linken ein und siehe da, sie hatte Glück. Gleich die erste Tür rechts war das Lehrerzimmer. All ihren Mut zusammennehmend klopfte sie erst und trat dann ein. Eine junge Lehrerin mit kurzen, hellbraunen Haaren, Yuki schätzte sie auf Mitte dreißig, bemerkte sie und fragte freundlich: „Oh, bist du die neue Schülerin? Yuki Nakamura … Elfte Klasse, richtig?“ Yuki nickte schüchtern. Die Lehrerin blätterte kurz in ihren Unterlagen und fuhr, mehr mit sich selbst als mit Yuki redend, fort: „Wow, du hast an vielen verschiedenen Orten gelebt … Mal sehen … In 1999 … Das war wann, vor zehn Jahren? Deine Eltern ...“ Noch bevor sie den Satz beendet hatte hielt sie keuchend die Luft an. Yuki konnte sich schon denken, an welcher Stelle ihrer Unterlagen sie jetzt angelangt war. Bemüht, ein neutrales Gesicht zu machen, wartete sie, bis die Lehrerin fortfuhr. Mit einem gequälten Ausdruck in den Augen wandte diese sich nun direkt an Yuki. „Es tut mir Leid … Ich war so beschäftigt, ich hatte keine Zeit deine Unterlagen vorher durchzulesen.“ Ein kurzes Stechen durchfuhr Yukis Brust, doch sie ließ sich nichts anmerken. 1999, das Jahr, in dem sie alles verloren hatte. Damals waren ihre Eltern bei einem tragischen Unfall ums Leben gekommen und mit ihnen ihr älterer Zwillingsbruder. Obwohl sie sich kaum daran erinnern konnte (schließlich war sie noch sehr klein gewesen) war sie für einen winzigen Moment wütend auf diese Frau, die es verabsäumt hatte, sich rechtzeitig über ihre familiäre Situation zu informieren. Wie schwer konnte es sein, diese paar Seiten zu lesen? Die Frau vor ihr unterbrach ihre Gedanken: „Ich bin Frau Toriumi, ich unterrichte Komposition. Willkommen an unserer Schule.“ Yuki verbannte ihre Gedanken in den hintersten Winkel ihres Kopfes und antwortete wohlerzogen: „Es freut mich sehr, Sie kennen zu lernen.“ Frau Toriumi schenkte ihr ein strahlendes Lächeln: „Na, bist du aber höflich? Mädchen wie du sollten ein gutes Beispiel für andere sein. Hast du die Klassenaufteilung schon gesehen?“ Hastig nickte Yuki. „Du bist in 2-F, das ist meine Klasse. Aber zuallererst müssen wir ins Auditorium. Die Willkommenszeremonie wird bald anfangen. Folge mir.“ Erleichtert, dass sie nicht selbst dorthin finden musste, folgte sie Frau Toriumi aus dem Lehrerzimmer. Ohne sie hätte Yuki noch nicht einmal gewusst, dass diese Zeremonie jetzt stattfand. Außerdem schien sie eine nette Person zu sein. Yukis Laune wurde wieder ein Stückchen besser und ihre Aufregung viel etwas von ihr ab. Auf ihrem Weg durch die Schule plauderten sie und Frau Toriumi über die verschiedenen AGs, das Angebot des Kiosks und allerlei Lehrer, die sie in andern Fächern haben würde. Sie erreichten den Saal und suchten sich unter all den Schülern einen Platz weiter vorne. Es dauerte nicht lang, da stieg ein untersetzter älterer Herr mit Schnurrbart und Brille die Stufen zum Podium hinauf. Er trug einen eleganten hellbraunen Anzug mit offenem Jackett, darunter konnte man einen gelben Pullover erkennen. Zu seinem weißen Hemd trug er eine rote Krawatte. Mit rauer Stimme begann der Schuldirektor zu sprechen: „Sowie ihr das neue Schuljahr beginnt, würde ich euch alle gern an das Sprichwort 'Wenn eine Arbeit es wert ist, gemacht zu werden, ist sie es wert, gut gemacht zu werden' erinnern. Verglichen mit dem Leben als Schüler, bedeutet das …“ Während der Direktor mit seiner Ansprache fortfuhr, wurden hinter Yuki Stimmen laut. „Ich hab gehört wir haben nen Austauschschüler.“ „Yep. Hab sie auch gesehen. Sie kam zur Schule mit Yukari.“ Yuki tat so, als könne sie das Geflüster hinter sich nicht hören und hoffte, sie würden bald damit aufhören. „Ich höre Getuschel.“ Ein männlicher Lehrer mit graubraunen Haaren und blauem Anzug hatte sich zu Wort gemeldet und sagte nun weiter mit gereiztem Unterton: „Ich glaube es ist jemand aus Frau Toriumis Klasse ...“ Frau Toriumi drehte den Kopf etwas nach hinten und flüsterte mit zusammengekniffenen Augenbrauen: „Shhh! Seid leise! Ihr bringt mich noch in Schwierigkeiten!“ Trotz der Schelte der beiden Lehrer ebbte das Gemurmel nicht ab. Für den Rest des Vortrags konzentrierte Yuki sich ganz auf den Direktor und blendete die Stimmen der anderen aus. Als er endlich geendet hatte, wurden die Schüler wieder in ihre Klassen geschickt, wo Frau Toriumi ebenfalls noch ein paar Worte an sie richten wollte. Sie teilte Yuki einen Platz rechts außen nahe der Tür zu und obwohl sie in der dritten Reihe saß verdrehten viele die Köpfe um einen Blick auf sie zu erhaschen. Als Yukari sich auf einen der Plätze hinter ihr setzte, wurde ihr Blick zwar kurz misstrauisch, aber als sie keinen Waffengurt an ihrem Schenkel sah beruhigte sie sich wieder. Die kurze Ansprache von Frau Toriumi beinhaltete im Grunde die gleiche Kernaussage wie die des Direktors: gebt euch Mühe und ihr werdet es einmal zu was bringen. Am Ende stellte sie der Klasse in wenigen Worten Yuki vor, worüber sie wirklich dankbar war. Sie hatte schon damit gerechnet, dass sie sich an die Tafel stellen und allen ihre Lebensgeschichte runterleiern musste. Das hätte sicher einiges an Fragen ergeben (Wo sind deine Eltern? Wieso lebst du in diesem Heim? Warum ausgerechnet hier?) und Yuki hatte keine sonderliche Lust, auch nur eine davon zu beantworten. Also saß sie stumm da, lächelte gelegentlich in die Runde wenn Frau Toriumi ihren Namen erwähnte und verhielt sich sonst unauffällig. Kaum war die Vorstellung vorbei, entließ Frau Toriumi die Klasse mit Glückwünschen für das neue Schuljahr. Erleichtert entspannte Yuki sich in ihrem Stuhl. Somit wäre der erste Schultag auch schon wieder überstanden, noch dazu ohne irgendwelche Zwischenfälle. Na gut, Yukari saß hinter ihr und während des Unterrichts würde sie sich künftig vorkommen als prange eine Zielscheibe auf ihrem Hinterkopf aber hey, es hätte schlimmer kommen können. Immerhin hatte sie ihre Flinte heute zuhause gelassen. Ob sie sie wohl unter ihrem Kissen versteckte …? Während Yuki sich noch vorstellte wie Yukari jede Nacht mit einer Pistole zu Bett ging, trat jemand an ihren Tisch. Sie hob den Kopf und hörte genau in dem Moment eine männliche Stimme sagen: „Was geht, Kumpel?!“ Kapitel 7: Der freundliche Mitschüler ------------------------------------- Yuki ließ den Blick über den Jungen streifen, der an ihrem Pult stand: statt dem üblichen weißen Hemd trug er unter seiner schwarzen Uniformjacke ein Blaues mit offenem Kragen, um den Hals eine Kette aus Leder und auf dem Kopf eine dunkelblaue Schildkappe mit einem weißen runden Symbol in der Mitte. Sein Kinn war bärtig, aber gestutzt und die Haare unter der Kappe kurz rasiert. Das Gesamtbild wurde aufgepeppt von einem breiten weißen Gürtel mit silberner Schnalle und einer an der Hose befestigten Kette die an seinem linken Oberschenkel baumelte. Überrascht hob Yuki eine Augenbraue und sah ihn mit einer Mischung aus Neugierde und unverhohlenem Staunen an. Wollte er sie etwa anbaggern? Munter plauderte er weiter: „Haha, du siehst aus wie ein Reh im Scheinwerferlicht“ Okay, Entwarnung, aber in seiner Stimme und seinen grauen Augen schwang eine Freundlichkeit mit, die Yuki gefiel. Es war ein erfrischender Kontrast zu Yukaris gezwungenem scheinheiligen Lächeln. Neugierig fragte sie: „Wer bist du?“ „Ich? Ich bin Junpei Iori, freut mich, dich kennenzulernen“, sagte er und fuhr im Plauderton fort: „Ich bin hierher gewechselt als ich in der 8. Stufe war. Ich weiß wie hart es ist „der Neue“ zu sein … Also hab ich mir gedacht ich schau mal nach dir, geh sicher dass du nicht überschnappst an deinem ersten Tag.“ Daher wehte also der Wind. Irgendwie fühlte Yuki sich auf eine seltsame Art und Weise gerührt und getröstet. Sie beschloss für sich, dass sie Junpei Iori mochte, mit jemandem wie ihm würde ihr Schulalltag vielleicht doch kein Totalausfall. Als hätte sie Yukis Gedanken gehört, gesellte sich Yukari mit einem tiefen Seufzen zu ihrer Unterhaltung. „Wieder dabei, huh? Ehrlich, gibt es irgendein Mädchen das du nicht anmachen würdest? Hast du je daran gedacht, dass du jemanden damit belästigen könntest?“ „Was? Aber ich war nur freundlich.“ Yukari zuckte die Schultern. „Wenn du das sagst.“ Also wollte er Yuki doch anmachen? Unsicher, ob sie sich deswegen geschmeichelt fühlen sollte, legte sie den Kopf leicht schief. Und hatte sich Yukari jetzt nur eingemischt um sie vor Iori zu beschützen? Das wäre zwar übertrieben, aber doch eine beinahe freundliche Geste von ihr. Immerhin hatte sie ihn nicht gleich erschossen. „Wie auch immer, so ein Zufall dass wir in derselben Klasse sind, huh?“ Yukari hatte wieder ihr Schön-ist-es-auf-der-Welt-zu-sein-Lächeln aufgesetzt. Ohne zu zögern gab Yuki zurück: „Es hat mich total überraschend erwischt.“ Wie ein Medizinball mitten ins Gesicht. Yukari lachte. „Dich auch?“ Die heitere Stimmung irritierte Yuki. Hatte Yukari jetzt zwei Gesichter oder gehörte das Ganze immer noch zu dem Versuch, das Desaster von letzter Nacht zu überspielen? Sie wurde einfach nicht schlau aus der Frau. „Um, hallo?“ Junpei stand nach wie vor an Yukis Pult. „Habt ihr vergessen, dass ich auch in der Klasse bin? Kommt schon, lasst mich auch am Spaß teilhaben!“ Da fiel ihm etwas anderes ein. „Übrigens, kennt ihr beiden euch? Hab gehört ihr zwei seid heute morgen gemeinsam zur Schule gekommen.“ Seine Lippen umspielte ein Grinsen als er fortfuhr. „Ein Paar süße Mädels wie ihr, Seite an Seite spazierend … Die ganze Klasse war am Tratschen über euch.“ Yukari verzog genervt das Gesicht. „Ugh … Könntest du das lassen? Ich hasse es mich mit Gerüchten wie diesen herumschlagen zu müssen.“ Ausnahmsweise konnte Yuki ihr da zustimmen. Das Letzte, was sie wollte, war zum Hot Topic der Schule aufzusteigen nur weil sie mit Yukari unterwegs war. Sie ärgerte sich darüber, dass sie am Morgen nicht darauf bestanden hatte, allein zur Schule zu gehen. „Ich meine, ich bin's gewöhnt, aber sie ist eben erst hergekommen, verstehst du? Fühlst du dich nicht schlecht, solche Gerüchte zu verbreiten?“ Sie seufzte resigniert. „... Tja, ich muss mich noch um einige Sachen vom Bogenschießen Team kümmern. Versuch nichts Komisches, klar Junpei?“ Mit einem letzten warnenden Blick marschierte sie davon. „Was ist sie, deine Nanny?“ In der Tat. Yuki schüttelte den Kopf. Versteh einer die Frau. „Also, nur um das klarzustellen, ich bin ehrlich nicht hergekommen um dich anzugraben oder sowas. Wenn du je ein Problem hast, kannst du deinem alten Kumpel Junpei davon erzählen!“ Er grinste Yuki breit an. Wie sollte man so jemanden denn nicht mögen? Unbewusst erwiderte Yuki sein Lächeln. „Danke.“ Junpeis Grinsen wurde noch breiter. „Kein Problem! Meine Tür steht dir immer offen, um es mal so zu sagen.“ Kapitel 8: Der erste Tag ------------------------ Ein wenig schüchtern betrat Yuki die Aula und sah sich um. Rechts von ihr unterhielt sich ein braun gebranntes Mädchen mit schwarzen, hochgesteckten Haaren mit einem Jungen im grauen Trainingsanzug. Scheinbar versuchte sie gerade, ihm diesen auszureden, allerdings mit mäßigem Erfolg. Dem Gespräch konnte Yuki immerhin entnehmen, wo sich das schwarze Brett befand. In Gedanken dankte sie den beiden dafür, als sie an ihnen vorbei ging. Das schwarze Brett war eigentlich nicht schwer zu finden, es hing an der rechten Wand gleich hinter den beiden, einige Schüler standen noch davor und suchten ebenfalls ihre Klassen. Yuki stellte sich zu ihnen und ließ den Blick über die vielen Listen schweifen. Sie musste zweimal hinsehen bis sie ihren Namen endlich fand: Yuki Nakamura, Klasse F. Yukaris Name stand ebenfalls unter F, sie würden sich künftig wohl noch öfter sehen. Yuki war sich nicht sicher, was sie davon halten sollte. Tja, ihr blieb wohl nur die Hoffnung, dass Yukari ihre Pistole wenigstens in der Schule nicht dabei hatte. Yuki ließ ihre Hand in ein Seitenfach ihrer Schultasche gleiten und zog eine Packung Kaugummi hervor. Während sie sich einen von ihnen auf die Zunge legte, drehte sie sich um und überlegte, wo „gleich links“ das Lehrerzimmer sein mochte. Rechts neben ihr führte eine Treppe nach oben und vor ihr gab es einen Schülerkiosk, an dem man allerlei Snacks kaufen konnte. Yuki schlenderte an ihm vorbei und blieb unschlüssig auf einem runden Mosaik in der Mitte des Raumes stehen. Links und rechts führte je ein Gang tiefer ins Gebäude. Yukaris Rat befolgend bog sie in den Linken ein und siehe da, sie hatte Glück. Gleich die erste Tür rechts war das Lehrerzimmer. All ihren Mut zusammennehmend klopfte sie erst und trat dann ein. Eine junge Lehrerin mit kurzen, hellbraunen Haaren, Yuki schätzte sie auf Mitte dreißig, bemerkte sie und fragte freundlich: „Oh, bist du die neue Schülerin? Yuki Nakamura … Elfte Klasse, richtig?“ Yuki nickte schüchtern. Die Lehrerin blätterte kurz in ihren Unterlagen und fuhr, mehr mit sich selbst als mit Yuki redend, fort: „Wow, du hast an vielen verschiedenen Orten gelebt … Mal sehen … In 1999 … Das war wann, vor zehn Jahren? Deine Eltern ...“ Noch bevor sie den Satz beendet hatte hielt sie keuchend die Luft an. Yuki konnte sich schon denken, an welcher Stelle ihrer Unterlagen sie jetzt angelangt war. Bemüht, ein neutrales Gesicht zu machen, wartete sie, bis die Lehrerin fortfuhr. Mit einem gequälten Ausdruck in den Augen wandte diese sich nun direkt an Yuki. „Es tut mir Leid … Ich war so beschäftigt, ich hatte keine Zeit deine Unterlagen vorher durchzulesen.“ Ein kurzes Stechen durchfuhr Yukis Brust, doch sie ließ sich nichts anmerken. 1999, das Jahr, in dem sie alles verloren hatte. Damals waren ihre Eltern bei einem tragischen Unfall ums Leben gekommen und mit ihnen ihr älterer Zwillingsbruder. Obwohl sie sich kaum daran erinnern konnte (schließlich war sie noch sehr klein gewesen) war sie für einen winzigen Moment wütend auf diese Frau, die es verabsäumt hatte, sich rechtzeitig über ihre familiäre Situation zu informieren. Wie schwer konnte es sein, diese paar Seiten zu lesen? Die Frau vor ihr unterbrach ihre Gedanken: „Ich bin Frau Toriumi, ich unterrichte Komposition. Willkommen an unserer Schule.“ Yuki verbannte ihre Gedanken in den hintersten Winkel ihres Kopfes und antwortete wohlerzogen: „Es freut mich sehr, Sie kennen zu lernen.“ Frau Toriumi schenkte ihr ein strahlendes Lächeln: „Na, bist du aber höflich? Mädchen wie du sollten ein gutes Beispiel für andere sein. Hast du die Klassenaufteilung schon gesehen?“ Hastig nickte Yuki. „Du bist in 2-F, das ist meine Klasse. Aber zuallererst müssen wir ins Auditorium. Die Willkommenszeremonie wird bald anfangen. Folge mir.“ Erleichtert, dass sie nicht selbst dorthin finden musste, folgte sie Frau Toriumi aus dem Lehrerzimmer. Ohne sie hätte Yuki noch nicht einmal gewusst, dass diese Zeremonie jetzt stattfand. Außerdem schien sie eine nette Person zu sein. Yukis Laune wurde wieder ein Stückchen besser und ihre Aufregung viel etwas von ihr ab. Auf ihrem Weg durch die Schule plauderten sie und Frau Toriumi über die verschiedenen AGs, das Angebot des Kiosks und allerlei Lehrer, die sie in andern Fächern haben würde. Sie erreichten den Saal und suchten sich unter all den Schülern einen Platz weiter vorne. Es dauerte nicht lang, da stieg ein untersetzter älterer Herr mit Schnurrbart und Brille die Stufen zum Podium hinauf. Er trug einen eleganten hellbraunen Anzug mit offenem Jackett, darunter konnte man einen gelben Pullover erkennen. Zu seinem weißen Hemd trug er eine rote Krawatte. Mit rauer Stimme begann der Schuldirektor zu sprechen: „Sowie ihr das neue Schuljahr beginnt, würde ich euch alle gern an das Sprichwort 'Wenn eine Arbeit es wert ist, gemacht zu werden, ist sie es wert, gut gemacht zu werden' erinnern. Verglichen mit dem Leben als Schüler, bedeutet das …“ Während der Direktor mit seiner Ansprache fortfuhr, wurden hinter Yuki Stimmen laut. „Ich hab gehört wir haben nen Austauschschüler.“ „Yep. Hab sie auch gesehen. Sie kam zur Schule mit Yukari.“ Yuki tat so, als könne sie das Geflüster hinter sich nicht hören und hoffte, sie würden bald damit aufhören. „Ich höre Getuschel.“ Ein männlicher Lehrer mit graubraunen Haaren und blauem Anzug hatte sich zu Wort gemeldet und sagte nun weiter mit gereiztem Unterton: „Ich glaube es ist jemand aus Frau Toriumis Klasse ...“ Frau Toriumi drehte den Kopf etwas nach hinten und flüsterte mit zusammengekniffenen Augenbrauen: „Shhh! Seid leise! Ihr bringt mich noch in Schwierigkeiten!“ Trotz der Schelte der beiden Lehrer ebbte das Gemurmel nicht ab. Für den Rest des Vortrags konzentrierte Yuki sich ganz auf den Direktor und blendete die Stimmen der anderen aus. Als er endlich geendet hatte, wurden die Schüler wieder in ihre Klassen geschickt, wo Frau Toriumi ebenfalls noch ein paar Worte an sie richten wollte. Sie teilte Yuki einen Platz rechts außen nahe der Tür zu und obwohl sie in der dritten Reihe saß verdrehten viele die Köpfe um einen Blick auf sie zu erhaschen. Als Yukari sich auf einen der Plätze hinter ihr setzte, wurde ihr Blick zwar kurz misstrauisch, aber als sie keinen Waffengurt an ihrem Schenkel sah beruhigte sie sich wieder. Die kurze Ansprache von Frau Toriumi beinhaltete im Grunde die gleiche Kernaussage wie die des Direktors: gebt euch Mühe und ihr werdet es einmal zu was bringen. Am Ende stellte sie der Klasse in wenigen Worten Yuki vor, worüber sie wirklich dankbar war. Sie hatte schon damit gerechnet, dass sie sich an die Tafel stellen und allen ihre Lebensgeschichte runterleiern musste. Das hätte sicher einiges an Fragen ergeben (Wo sind deine Eltern? Wieso lebst du in diesem Heim? Warum ausgerechnet hier?) und Yuki hatte keine sonderliche Lust, auch nur eine davon zu beantworten. Also saß sie stumm da, lächelte gelegentlich in die Runde wenn Frau Toriumi ihren Namen erwähnte und verhielt sich sonst unauffällig. Kaum war die Vorstellung vorbei, entließ Frau Toriumi die Klasse mit Glückwünschen für das neue Schuljahr. Erleichtert entspannte Yuki sich in ihrem Stuhl. Somit wäre der erste Schultag auch schon wieder überstanden, noch dazu ohne irgendwelche Zwischenfälle. Na gut, Yukari saß hinter ihr und während des Unterrichts würde sie sich künftig vorkommen als prange eine Zielscheibe auf ihrem Hinterkopf aber hey, es hätte schlimmer kommen können. Immerhin hatte sie ihre Flinte heute zuhause gelassen. Ob sie sie wohl unter ihrem Kissen versteckte …? Während Yuki sich noch vorstellte wie Yukari jede Nacht mit einer Pistole zu Bett ging, trat jemand an ihren Tisch. Sie hob den Kopf und hörte genau in dem Moment eine männliche Stimme sagen: „Was geht, Kumpel?!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)