Eine strahlende Zukunft? von WalkingGhostPhase ================================================================================ Kapitel 1: Fomin ---------------- Ich bin müde, so müde. Langsam bewege ich meinen Körper. Vorsichtig öffne ich meine Augen. Sie sind trocken, ich muß sie halb aufreißen. Mein Blick fällt auf ein Lenin Bild. Er starrt mich an, er soll aufhören mich anzustarren. Ich drehe meinen Kopf bei Seite. Ich erkenne meine Wohnung. War alles nur ein Traum? Vorsichtig stehe ich auf und greife neben mich. Meine Brille war nicht an ihren Platz. Als ich greifen wollte spürte ich einen Schmerz. Ich sah eine Binde an meinem Handgelenk. Also war es kein Traum, der Unfall ist wirklich passiert. Abrupt setze ich mich auf. Erstmal mußte ich Lenins Blick los werden. Ich habe panische Angst vor Leninbildern. Meine Mutter sagte immer "Lenin sieht alles und wenn du dich nicht benimmst, dann kommt er aus seinem Bild und verschlingt dich!" Schnell drehte ich das Bild um. Ich wußte, dass es ein Märchen war, das meine Mutter erzählte, aber ich ertrage den Blick von Menschen ohnehin nur sehr schwer. Wenn ein Mensch mich anblickt oder mir in die Augen blickt, ist es für mich eine Verletzung der Privatssphere. Ich habe das Gefühl, als würde man mir eine Ohrfeige geben. Aber nun zurück zu den Tatsachen. Ich mußte meine Erinnerungen zusammen kriegen. Ich ließ mich auf mein Bett fallen und stützte meinen Kopf. Ich erinnerte mich an die Untersuchunghaft. Meine Angst...mir drohten 12 Jahre Gulag, dabei hab ich nichts falsch gemacht. Ich hatte den Plan, ich hatte den Fehler gesehen, den Kontruktionsfehler, aber verdammt nochmal, Bruchanow hatte es abgesegnet. Und Bruchanow hat mich immer unter Druck gesetzt. Ständig hieß es wir müssen den Plan erfüllen. Ich hatte keine Kraft gegen anzureden. Egal ob gegen Bruchanow, der mir Druck machte, oder ob gegen das Wartenpersonal. Sie hatte ich nicht informiert. Ich hab den Plan einfach in meinem Büro versteckt und ihn niemanden sehen lassen. Wenn Djatlow fragte, sagte ich immer, ich wüßte nicht wo der Plan ist. Ich weiß, dass das verantwortungslos war, aber ich hätte nie damit gerechnet, dass der Versuch durchgeführt wird. Bei dem vorgeschriebenen Druck wäre das auch nie passiert. Ich stand auf und verließ mein Schlafzimmer. Ich kam in den Hauptraum. Dort war auch alles noch wie früher. Meine Leninstatue, die immer mit dem Rücken zu mir stand und meine Modellstadt von Prypjat. Ich habe jedes Haus genauso nachbauen lassen, allerdings habe ich die Stromleitungen und Lichter selbst installiert. Darauf lege ich Wert, dass alles genauso nachgestellt ist, wie die Originalstromleitungen liegen. Ich schloss es an und das Licht erhellte die Stadt und gleichzeitig meinen Raum. Ich hab die Vorhänge zu. Das habe ich immer, wenn ich zu Hause bin. Das Sonnenlicht tut mir weh und reizt mich extrem. Es ist für mich sehr anstrengend mich bei Licht zu entspannen. Niemand versteht es. Ich kriege Hassgefühle, wenn die Leute immer von schönem Wetter schwärmen. Sonne ist nicht schön, sie ist anstrengend. Lieber richtete ich wieder den Blick auf mein kleines Prypjat. Ich lächelte innerlich und dachte an Uljanova. Sie hieß nicht wirklich so, aber ihr Vorname ähnelte dem Namen sehr und so konnte ich ihn mir merken. Sie war Segen und Fluch zugleich. Ich weiß noch sehr gut, als sie mir auf dem Parteiabend eröffneten, dass ich nach Prypjat gehen würde um eine leitende Position zu übernehmen. Ich wollte es nicht, ich wollte lieber in dem Elektrizitätswerk bleiben. Nur hatten sie sich soviel Mühe gegeben, dass ich die Stelle bekomme. Eigentlich war Djatlow für meinen Posten vorgesehen. Djatlow...er hatte von Anfang an eine Wut auf mich deshalb. Schon als wir leitenden Ingenieure uns vorstellten, stellte er mir Fachfragen, auf die ich so detaliert keine Antwort hatte. Ich kam aus einem Elektrizitätswerk und war kein Kernphysiker. Dieser Djatlow hatte eine unangenehme Art und legte es regelrecht darauf an, mich bloßzustellen und das bei jeder Gelegenheit. Meine Stadt strahlte. Ich versuchte wieder Bruchstücke meiner Erinnerung zusammenzubekommen. Die Aussicht auf 12 Jahre Gulag ließen mich meine Brille zerschlagen und ich schnitt tief in meine Arme. Ich weiß ja schon, wie ich Zusammenkünfte gehasst habe. Sei es Jugendfahrten, bei denen ich mir mein Zimmer teilen muße oder die Feierlichkeiten zum 1.Mai. Ich riss mich immer regelrecht um die Schichten, damit ich es umgehe. Aber alles das ist nichts gegen ein Straflager. Man ist zu 20 Personen oder mehr in einem Raum und ist niemals alleine. Das hätte ich nicht ertragen. Jetzt werden meine Erinnerungen schemenhaft. Ich wachte auf und war in einer Zwangsjacke. Dort war ein Pfleger, bei dem ich mich sehr wohl fühlte. Er verstand wie es in mir aussah. Er nannte mich immer Kolja. Wieder fühlte ich ein Lächeln in meinem Inneren aufsteigen. Und dann wurde diese Erinnerung zersplittert. Ich sah das Gesicht eines KGB Offiziers vor mir. Er war in seiner KGB Uniform und an meinem Bett, allerdings hatte er dieselben stechenden blauen Augen wie Djatlow. Grob warf er meinen Pfleger raus. "Hör zu Nikolai, ihr könnt beide daraus kommen. Du wirst mir unterschreiben, dass du Bruchanow mehrmals auf den Konstruktionsfehler hingewiesen hast, er dich allerdings ignoriert hat." Ich reagierte nicht sofort und er schlug mir ins Gesicht "Hast du verstanden? Danach wird mein Bruder Bruchanows Posten bekommen, für dich suchen wir einen Posten, der stressfreier ist...besonders..."Er lächelte spöttisch und musterte mich von oben bis unten."...nachdem du ja jetzt irre bist. Dennoch brauche ich deine Zeugenaussage, damit Bruchanow der alleinige Schuldige ist und mein Bruder nicht bestraft wird." Er holte meinen Pfleger zurück und wies ihn an mich loszumachen. "Er muß etwas unterschreiben." Ich war so unendlich müde. Meinem Pfleger fiel meine aufgeplatzte Lippe auf, aber er wagte nicht etwas zu sagen. Ich unterschrieb und Djatlows Bruder verschwand. Sinja, wie ich meinen Pfleger nannte, versorgte meine Verletzung, beruhigte mich sehr liebevoll und sagte, dass man sich besser nicht mit dem KGB anlegt. Danach bekam ich meine Beruhigungsspritze, die mich in einen angenehmen Dämmerzustand versetzte. Ab da erinnere ich mich nur noch, dass jeder Tag wie der andere war. Ich genoss Sinjas Wärme und Nähe. Und plötzlich war ich hier. Die Erinnerung fehlte. Wenn der Unfall wirklich passiert ist, wieso bin ich dann hier? Die Stadt wurde doch evakuiert... Meine Tür geht auf. Achja, jemand brachte mich hier her, also war die Tür wohl offen. Normalerweise schließe ich ab, auch wenn das nicht üblich ist. Ich möchte nicht einfach von Genossen überrascht werden. Viele freuen sich ja über Besuch und Gesellschaft, aber ich hab das Gefühl sie dringen noch mehr in meine Privatssphere ein als sonst. In meine kleine geschützte Welt...Anatolij Stephanowitsch Djatlow stand in meinem Vorraum. Ich sehe ihn fassungslos an. Er hatte abgebaut. Aus dem einst starken großen Sibirier war ein alter kranker Mann geworden. Seine Haare waren komplett ausgefallen. Der Strahlenbrand hat sich tief in sein Gesicht gefressen. Das einzige was geblieben ist waren seine kalten blauen Augen. "Na willkommen zurück, Genosse." Grinsend begrüßte er mich mit dem üblichen kommunistischen Bruderkuss. Ich hasste es, wenn sie es tun und ich hab das Gefühl Anatolij wußte das genau. Er ging in meine Küche und öffnete den Kühlschrank. "Hast du nicht mal was zu trinken hier?" Er kam zurück mit einem Glas Wasser. "Also deine Zeugenaussage hat uns den Arsch gerettet. Ich hab jetzt Bruchanovs Posten und Akimov deinen. Weil du mir geholfen hast, hab ich dich im Maschinenraum untergebracht, anstatt dich rauszuwerfen. Nachdem was du getan hast, hätte ich dich rauswerfen können." Ich senkte den Blick. In solchen Situationen weiß ich nie recht was ich sagen soll. Ich murmelte ein "vielen Dank." Anatolij steckte sich eine Zigarette an. Ich hasste den Geruch. "Heute hast du noch frei, morgen fängst du an und vergiss nicht deine Verlobte abzuholen heute." Ich murmelte ein "mhm mhm", dann sah ich ihn an. "Verlobte?" Anatolij grinste. "Aber ja...haben sie dich in der Irrenanstalt lobotomiert oder hast du tatsächlich deine Verlobte aus Sibirien vergessen?" Bin ich wirklich verrückt? Wann soll ich mich verlobt haben? Ich war verheiratet, ja, aber bin geschieden und wollte nie wieder heiraten. Panisch schüttelte ich meinen Kopf. "Ich hab doch keine Verlobte!" schrie ich fast. "Aber ihr habt euch doch schon ewig lange Liebesbriefe geschrieben." Djatlow grinste sadistisch. "Schau doch mal in deine Nachtischschublade, da wirst du alle ihre Briefe finden." Panisch rannte ich ins Schlafzimmer und riss die besagte Schublade auf. Eine Menge Briefe quollen mir entgegen. Unterschrieben von einer Oksana Stephanowa. Ich muß meine Hand zu schnell bewegt haben, den Blut sickerte durch den Verband. Djatlow stand hinter mir. "Jetzt sieh dir an, was du schon wieder für eine Sauerei angerichtet hast, du ukrainisches Stück Dreck." Er packte mich grob am Arm. "Wenn es nach mir ginge, wärst du nie mehr aus der Klappsmühle rausgekommen, aber ich brauchte deine Aussage. Hätten sie mir damals deinen Posten gegeben, dann wäre alles gut gewesen, aber sie mußten ja eine Schwuchtel wie dich auswählen. Na? Wem deiner führenden Funktionäre hast du deinen Arsch hingehalten für den Posten?" Er spuckte mir ins Gesicht. "Meine Schwester hat Rheuma und will hier in Prypjat leben, weil die Winter hier wärmer sind. Da schlag ich doch gleich zwei Fliegen mit einer Klappe. Sie mag es, wenn Männer schwächlich sind. Jetzt sieh zu das du zum Arzt gehst und morgen bewegst du deinen ukrainischen Arsch zum Kraftwerk. Du gehst den Leuten im Maschinenraum zur Hand. Meine Schwester kommt mit dem Zug um 8 Uhr." Er stieß mich weg, warf seinen Zigarettenstummel auf mein Bett und verließ meine Wohnung. Ich sprang auf mein Bett um ihn schnell auszumachen, aber er hatte schon ein Brandloch in die Bettdecke gefressen. Resigniert brachte ich den Zigarettenstummel in die Küche. Ich soll tatsächlich verlobt sein? Das kann doch nicht sein. Ich las einige ihrer Briefe und sie wußte ziemlich viel über mich. Es war mir unheimlich. Die Gerüchte, das Anatolij mit dem KGB zu tun haben soll hat sich ja bestätigt, oder hab ich mir seinen Bruder nur eingebildet? Ich hätte ihn fragen sollen, aber je weniger ich mit dem zu tun hab, desto besser. Wenigstens bin ich im Maschinenraum tätig und nicht auf der Warte. Das Maschinenraumpersonal ist sehr locker und weiß viel über Elektrotechnik. Da kann ich mich stundenlang unterhalten. Wenigstens war Alexander Fedorowitsch Akimov sein Stellvertreter. Er ist sehr nett und hat sich schon oft schützend davor gestellt, wenn Anatolij mal wieder jemanden runtermachte. Ich verband mir meine Wunde selbst. Heute noch in die Polyklink schaffe ich nicht. Ich schaute auf die Uhr. Es war halb 7. Da hab ich ja noch ein wenig Zeit. Wenn die Dame kommt, möchte sie sicherlich etwas essen. In meinem Kühlrschrank sah es traurig aus. Ich griff mir mein Einkaufsnetz und ging in die Kaufhalle ein bißchen weiter runter die Straße. Da es spät war, gab es nicht mehr viel. "Genosse Nikolai Maksimovitsch, schön Sie mal wieder zu sehen." Die Verkäuferin lächelte mich freundlich an. Kannte ich sie? Ich erkenne sie grade nicht wieder. Ich lächelte zurück, weil man das so macht. "Ja, mir geht es wieder besser. Ich war..." Schnell schwieg ich. "Na jedenfalls gut das Sie wieder da sind. Um die Uhrzeit gibt es aber nicht mehr viel. Ich habe noch Buchweizen, Zucker...na schauen Sie selbst mal." Ich nickte und lächelte. Wie immer. Ich nahm etwas von dem Buchweizen, dem Zucker und griff auch eine Flasche Vodka. Vielleicht wollte die Dame ja etwas trinken. Wenn ich Glück habe, wird die Dame lieber bei ihrem Bruder nächtigen. Genau, das werde ich vorschlagen. Ich tue so, als ob ich sie nur zu ihrem Bruder bringen soll. Ich ging zur Kasse und reichte der Dame meine Lebensmittelkarte. Sie sah mir in die Augen und ich wich dem Blick aus. " Ich hab sie ein wenig vermisst." Ihre Wangen erröteten. Ich frage mich wieso, es war doch nicht so warm hier, ich fröstelte sogar ein wenig. Ich packte meine Sachen in meinen Beutel. Sie holte eine Dose gezuckerte Kondensmilch vor. "Die hab ich für Sie aufgehoben. Sie lieben die doch so." Wieso ist sie so nett zu mir? Hab ich je etwas für sie getan? Ich konnte mich nicht erinnern. Ich wußte nichtmal ob wir uns schonmal begegnet sind, da ich sie nicht erkannte. "Vielen Dank." sagte ich höflich. Dann konnte ich meiner Verlobten heute Buchweizen mit gezuckerter Kondensmilch servieren, sollte sie bleiben. Ich packte die Sachen in mein Einkaufsnetz. Es war bereits 7 Uhr. Schnell brachte ich den Einkauf hoch und legte den Buchweizen in Wasser ein. Jetzt muß ich nur noch zum Bahnhof. Ich zog mir einen Anzug an. Frauen legten ja wert auf sowas. Jetzt erst bemerkte ich, wie hungrig ich war, allerdings ging es langsam auf halb 8 zu. Ich ging hinunter. Mein Moskwitsch stand noch an seinem Ort. Wie ging es nochmal zum Bahnhof? Es war schon dunkel und regnete. Verdammt, hoffentlich finde ich den Weg. Bei Nacht sieht alles anders aus und die Laternen, die sich im Wasser spiegelten und einen zusätzlichen Reiz ausübten, waren nicht grade eine Hilfe. Ich hatte Glück und es war wenig los auf dem Bahnhof. Nun regnete es in Strömen. Ich stellte mein Fahrzeug ab und ging zum Bahnhof. Ein großes Banner mit Marx und dem Zitat: "Die Revolutionen sind die Lokomotive der Weltgeschichte." Das Banner flatterte im Wind und seine goldene Umrandung glänzte im Licht der Straßenlaternen. Ich fokussierte den Goldrand und genoß das Funkeln. Dieses rot goldene Schauspiel ließ mich entspannen und abdriften. Plötzlich hörte ich jemanden schimpfen, was mich mit einem Schlag in die Realität zurückholte. "Verdammt nochmal, seid ihr hier zu blöd um auch nur irgendwas richtig zu machen? Das ist keine heiße Milch, das ist lauwarme, ihr unfähigen Idioten." Ich warf einen Blick in die Richtung der Stimme und sah eine sehr große, kräftige Frau in einem Bahnhofscafe sitzen. Ihr Haar war grau, lang und zu einem Dutt gebunden. Hoffentlich war es nicht Oksana. Sie sah in meine Richtung und ihre eisigen Augen trafen meine. Es waren dieselben kalten Augen wie die von Anatolij. "Und du bist Kolja? Weißt du eigentlich wie spät es ist?" Kolja...so durfte mich nur Senja nennen. Wieder wird mir warm bei der Erinnerung an Senja, den netten Pfleger. "Hey, steh da nicht rum wie ein Idiot, begrüß gefälligst deine Verlobte und erklär deine Verspätung. Könnt ihr Ukrainer überhaupt nichts alleine?" Ich sah zur Bahnhofsuhr. Es war 20 Minuten nach 8. Wie konnte das sein? Ich hab mein Auto abgestellt und es war 10 minuten vor 8. Wo war die halbe Stunde nur geblieben? Hab ich solange den Banner von Marx angesehen? Zögerlich trat ich näher. "Die Milch könnt ihr alleine saufen, komm Kolja, nimm meine Koffer, wenn du schon den Mund nicht aufkriegst." Oksana stand auf und war noch größer als Anatolij. Ihre Koffer waren sehr schwer und ich hatte Probleme sie zu nehmen. Oksana trug einen Mantel aus Pelz und ein Kopftuch. Sie ging vor. Ich hatte das Gefühl sie war doppelt so breit wie ich. "Mein Moskwitsch steht gleich da drüben." Ich öffnete den Kofferraum und wuchtete ihre Koffer rein. Sie setzte sich auf den Beifahrersitz. "Soll ich Sie zu Ihrem Bruder bringen?" Oksana sah mich spöttisch an. "Soll das ein Scherz sein? Fahr mich in deine Wohnung, wir sind doch verlobt und außerdem lehnen wir als Kommunisten alte Wertvorstellungen ab. Da kann ich doch gleich mit zu dir kommen." Ich fuhr durch das abendliche Prypjat. Oksana erzählte dabei unentwegt von sich und ich mußte mich konzentrieren um ihr zu zu hören. "Also ich bin Witwe. Mein Mann ist beim Fischen ertrunken. So ist das eben. Allerdings fühl ich mich zu jung um allein zu sterben und außerdem..." ich spürte ihren Seitenblick. "Ich bin noch nicht in den Wechseljahren. Ich möchte gerne noch ein Kind. Hab zwar schon fünf, aber die sind mittlerweile selbstständig. Bin sogar schon Großmutter." Na das sind ja tolle Aussichten. Ich sollte ihr erklären, dass ich keine Heiratsabsichten habe. Allerdings werde ich damit bis zu Hause warten. Vielleicht will sie dann von ganz alleine zu ihrem Bruder. Wir kamen in der Straße der Enthusiasten an. Wie immer begrüßte mich das Haus mit der Hymne der Sowjetunion. Ich hörte sie nicht wirklich, aber unser Wohnhaus war weiß und an der Seite stand die erste Strophe der Hymne. "Sehr modern." sagte Oksana. Ich lächelte und nickte und trug ihre Koffer nach oben. Ich stellte sie ab und brauchte erstmal etwas Zeit für mich. Um ein Alibi zu haben flüchtete ich in die Küche. "Du hast aber sehr kahle Wände. Da kann ich ja schön dekorieren." Ich schwieg und fing an zu kochen. "Ich habe nur Buchweizen, hoffe das ist Recht?" fragte ich. "Ja, natürlich, ich hab etwas Trockenfisch mitgebracht. Passt schon." Sie fing an ihre Koffer auszupacken, nachdem sie die Wohnung angesehen hat. Ich hoffte, sie würde keinen Wutanfall kriegen wie ihr Bruder, wenn sie erfährt, dass ich nicht vorhabe sie zu heiraten, nur ich wollte ihr das in Ruhe sagen. "Oh, was ist das?" Sie nahm wohl meine Stadt in Augenschein. Schnell eilte ich aus der Küche. "Das ist Prypjat im Model. Bitte nichts anfassen, sie ist sehr zerbrechlich." Sie lächelte. "Jaja, Männer und ihr Drang zum Spielzeug." Ich teilte den Buchweizen zwischen uns auf und füllte die Zuckermilch in eine Schale, sodass sich jeder nehmen kann. Wir setzten uns an den Tisch. "Oksana...." ich versuchte die richtigen Worte zu finden. "..ich möchte nicht, dass es zwischen uns zu Missverständnissen kommt. Also es ist so, ich habe nicht die Absicht zu heiraten." Oksanas kalte Augen nahmen diesen Ausdruck an, den ich von Anatolij kannte. "Schwul?" fragte sie spöttisch. "Nein, das nicht aber ich bin ein schlechter Ehemann...meine Frau hat mich verlassen." sie unterbrach mich. "Säufst du?" Ich schüttelte den Kopf, "Es ist nur so, dass ich viel gearbeitet habe. Ich habe mich fast nur mit meinem Job beschäftigt."Oksana lächelte. "Na was war das denn für eine Frau? Ich wäre froh, wenn mein Ehemann fleißig ist." Das die Beschäftigung größtenteils meine Modelstadt und Prypjats Stromleitungen waren mußte ich ihr ja nicht sagen. Aber es hatte ja mit meinem Beruf zu tun. Ich habe es schon immer geliebt mir viele Gedanken über die Verzweigungen von Elektroleitungen zu machen und über deren Stärke und Kompatibilität. Wenn die Menschen auch so geordnet wären, wie die Leitungen, dann gäbe es keine Probleme. Meine ehemalige Frau sagte immer, ich sei wie besessen. Irgendwann ist sie gegangen und es war mir egal. Kinder hatten wir nicht. "Also morgen werde ich zum Parteibüro gehen und mir eine Arbeit zu teilen lassen, dann kann ich auch gleich den Eheantrag mitbringen. Feiern werden wir in Sibirien. Ich hoffe wir finden eine Tracht, die dir passt. Du hast ja eher eine Frauengröße." Sie sah mich spöttisch an. Ich hasste diesen Blick.Den kannte ich nur zu gut von Anatolij. "Ich brauch dann noch eine Liste mit Namen deiner Freunde." Freunde? Ich hab sowas eigentlich nicht. Ich gehe raus in die Welt, mache meine Arbeit und ziehe mich dann in meine innere Welt zurück. Ich möchte mich in meiner geschützend Welt nur mit mir selbst und meinen Stromverzweigungen befassen. Jeder andere stört mich dort. Meine Parteigenossen aus meiner Heimat vielleicht. Hier gehe auch zu den Parteiabenden, aber so richtig warm werde ich mit denen nicht. Der Vorsitzende ist ein lauter, pflegelhafter Georgier und die anderen sind nicht viel besser. Unsere Parteiabende zu Hause verliefen sehr ruhig. Man hat die Tagespunkte durchgesprochen und manchmal sind wir zur Leninstatue gegangen und haben aus Lenins oder Marx Werken gelesen. Es war alles sehr angenehm für mich. Hier gehen die Genossen nach dem Treffen immer noch gerne einen trinken. Ich versuche oft zu flüchten, aber auch sehr oft stellt sich mir ein Genosse in den Weg und fragt warum ich denn schon gehen will. Oder auch warum ich mich wie ein Insekt verkrieche. Dann bleibt mir nix übrig als zu bleiben. Ich sehe gesellschaftliche Treffen, die keinem Zweck dienen, als Zeitverschwendung. Weiß nie was ich sagen soll oder was man erwartet. Mit meinem Interesse langweilen sich die Leute nur, also schweig ich lieber. Meine Gedanken schienen abgeschweift zu sein. "Kolja!" sagte Oksana streng. "Hörst du mir überhaupt zu?" Ich blickte auf ihre Stirn. "Ja, ja natürlich." antwortete ich. "Also ich hab mir gedacht, dass wir nach der Hauptsaison heiraten. Du weißt ja, wir haben eine Fischerei und nach der Hauptsaison haben alle Zeit." Nein, ich möchte ihr widersprechen. Ich will nicht heiraten. Fühle mich glücklich ohne Partner, der sich überall einmischt. Allerdings waren meine Lippen wie versiegelt. Als ob sich eine Blokade über mich gelegt hatte. "Dann ist es also entschieden.Und Kolja?" Ich sah sie an. "Ich würde mich sehr über einen Ring freuen." Sie hatte inzwischen aufgegessen. Ich folgte ihr ins Schlafzimmer. "Ich werd gleich mal duschen. Das Bettzeug riecht komisch, sollten wir wechseln." Sie ging an mein Bettzeug und sah das Brandloch. "Was ist das denn? Anatolij sagte du rauchst nicht." Wie erkläre ich ihr das am besten? "Nein ich rauche auch nicht. Das war Anatolij." Ich fühlte mich wie ein Kind. "Ach war er hier? Was war los?"Mein Unbehagen wuchs, weil Oksanas Ausdruck wieder unheimlich wurde. "Er war sehr wütend und dann..." Sie schüttelte den Kopf. "Ach, einer seiner Wutanfälle? Das sieht ihm ähnlich. Bei mir wagt er sowas nicht. Als wir noch Kinder waren hat er bei jedem aus der Familie einen Riesenaufstand gemacht, wenn es seinen Käse nicht gab. Der hat als kleiner Junge den ganzen Laden zusammen geschrien. Als ich ihn mit zum Einkaufen genommen habe, hat er das nur einmal gemacht. Da hab ich ihm den Arsch versohlt und er machte das nie wieder. Jedenfalls schuldet er uns eine neue Bettdecke und ich werde mir eine richtig gute aussuchen." Oksana zog sich aus und ich mußte zu geben, dass ich schon einen Blick riskierte. "Gefall ich dir?" sie lächelte und ging Richtung Dusche. Es war nicht so dass ich Frauen nicht anziehend fand. Dennoch hatte ich oft das Gefühl, dass ich zu Sexualität keinen wirklichen Bezug hatte. Sie kam vom Duschen zurück und roch sehr gut. Sie fing an mich zu küssen und zu berühren und wir kamen uns sehr nahe. Ich schlief in ihren Armen ein und fühlte mich sehr wohl. Kapitel 2: Die Welt da draußen ------------------------------ Der Wecker weckt mich. Ich hasse diesen schneidenden Klingelton. Manchmal möchte ich den Wecker töten, obwohl es ja seine Aufgabe ist mich zu wecken. Es ist schmerzhaft für mich aus dem Schlaf zu erwachen. Ein physischer Schmerz, als ob man mich aus der schönen Welt in einen Albtraum wirft. Ich werd wieder Genossen, Kollegen und Nachbarn sehen. Selbst ihre Blicke sind schmerzhaft. Ich schlag die Decke beseite. Die Kälte kriecht durch meinen Schlafanzug in meine Haut. Es sind wie Nadeln, die sich in die Haut bohren. Die Kälte tut mir weh. Ich weiß noch als ich klein war und zur Schule mußte. Ich hab geschrien und geheult, weil mir die Kälte weh tat. Meine Eltern haben mich dann geschlagen und gesagt, ich soll nicht so ein Theater machen. Kinder müssen nunmal in die Schule. Sie konnten sich nie vorstellen, dass es für mich eine Qual war. Ich sollte normal sein und gleichzeitig Leistung bringen. Das ich aber mit ihren Albernheiten nichts anfangen konnte und ihre Spiele als reine Zeitverschwendung ansah, verstanden sie nicht. "Er ist nicht fähig sich ins Kollektiv einzufügen." stand mal in meinem Zeugnis. Das gab großen Ärger zu Hause und endete wieder mit einer Tracht Prügel. So versuchte ich immer ein normales Kind zu sein, da es meine Eltern freute. Ich hatte oft das Gefühl, dass es nicht reichte, wenn ich schulisch überall auf 1 stand...sie wollten am liebsten noch meine Gedanken anpassen. Gut, in Sport war ich nicht sehr gut, aber ich war eben eher der Denker statt der Sportler. Die Sowjetunion braucht nunmal auch gute Wissenschaftler. Ich gewann viele Auszeichnungen während der Schulzeit, besonders im Fach Physik. Ich kämpfte mit den Tränen und zwang mich in meine Sachen. Ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass dies hier ein Zuckerschlecken war, gemessen an dem, was mich im Arbeitslager erwartet hätte. Ich merkte einen Geruch nach Bliny in der Luft. Stimmt, ich bin nicht alleine eingeschlafen. Ich verließ das Schlafzimmer. "Guten Morgen, Liebling. Ich war schon unterwegs und hab uns etwas zu essen geholt. Komm setz dich." Erschrocken über ihre laute Stimme am Morgen setzte ich mich an den Tisch. Eigentlich frühstückte ich nicht. Ich hasste es, wenn meine Eltern frei hatten und mich morgens zwangen, etwas zu essen. Kaffee am Morgen reicht mir eigentlich. "Oksana Stephanova, das ist wirklich sehr nett von Ihnen, aber eigentlich..." Sie knallte den Teller vor mich. "Lass es dir schmecken." sagte sie mit einem agressiven Unterton, den ich sehr gut von ihrem Bruder kannte. Mein Magen war wie verschlossen. Dennoch nahm ich Messer und Gabel und fing an zu essen. Die Blinys waren wirklich sehr gut, dennoch wurde mir übel, weil ich morgens nichts essen konnte. Irritiert blieb mein Blick auf der Fensterbank hängen. Dort stand ein großer Samowar. Daher also das Geräusch, was mir schon die ganze Zeit im Ohr klang. Ich mochte Tee, aber nicht am Morgen. Lächelnd holte mir Oksana einen Tee und stellte ihn mir hin. Sie stellte mir eine Brotbox hin. "Hier für dich, wenn ihr Frühstückspause macht." Was denkt die denn wieviel ich esse? "Wir bekommen doch kostenlos essen in der Kantine." Oksana funkelte mich an."Ihr werden bestimmt auch gemeinsam frühstücken." Ich war bei den letzten Bissen."Aber..." Ein weiterer Blick brachte mich zum Schweigen. Ich werd das Brot einfach jemandem schenken. Nach dem Essen rasierte ich mich und machte mich auf den Weg zur Bushaltestelle. Das macht jeder so. Wir hatten zum Schichtwechsel einen Bus, der uns zum Kraftwerk brachte. Ich setzte mich ganz vorne hin, damit ich niemanden sehen mußte. Hinter mir hörte ich die Leute tuscheln, dass ich ja wieder da sei, aber wohl meines Postens enthoben. Ich konzentrierte mich auf den Weg. Er war ziemlich von Wäldern umgeben. Ab und an sah man ein Aufräumfahrzeug. Ich schob das aufkommende Schuldgefühl beiseite. Viele sind bei dem Unfall gestorben, aber das Wartenpersonal hatte wohl viel Glück und leider auch Anatolij. Er hatte ja jetzt endlich was er wollte, aber ob das soviel besser für uns war? Im Gegensatz zu Bruchanow war er zwar genauer, aber größenwahnsinnig konnte er auch sein. Ein aufkeimender Verdacht reifte in mir heran...es war nicht gut..ich sollte soetwas nicht denken. Hatte Anatolij diesen Unfall vielleicht sogar geplant? Wollte er so Bruchanow und mich auf dem Weg schaffen? Ich wußte ja, dass er ziemlich gute Freunde unter den höheren Genossen hatte und auch Verbindungen zum KGB. Wenn Bruchanow und ich uns was zu schulden kommen lassen, dann würde der Posten automatisch an ihn fallen und mich hatte er nicht entgültig aus dem Weg geräumt, weil seine Schwester nach Prypjat wollte. Wie sollte das besser gehen, als durch eine Heirat? Der Bus fuhr auf das Kraftwerk zu. Wie immer genoss ich die Kunstwerke, welche uns begrüßten. "Atom ist ein friedlicher Arbeiter." stand auf einer Wand. Ich seufzte. Ich wußte, selbst wenn mein Verdacht stimmt, werde ich es nie beweisen können. Ich stieg aus dem Bus und der Wachmann nickte mir freundlich zu. Ihn konnte ich sehr gut erkennen. Er wackelte manchmal mit dem Kopf, hat wohl einen Tremor, allerdings war er sehr nett. Er wollte auch mal mit mir mit seinem Motorboot rausfahren. Allerdings hab ich mich nie recht getraut. Meine freien Tage waren mein geschützter Bereich. Eine Unterbrechung wäre unerträglich. An meinen freien Tage wollte ich einfach ich selbst sein, wie ich es nannte. Einfach alle Masken fallen lassen und meinen Gefühlen freien lauf lassen. Es war nicht so dass ich keine Gefühle zeigen wollte, sie waren nur in mir verschlossen, aber an Arbeitstagen mußte ich meine Gefühle im Zaum halten, da ich sonst nicht mehr zur Arbeit gehen würde. Es war oft unerträglich mich zu Dingen zu zwingen, die nichts mit meinem Interessengebiet zu tun hatten.Ich konnte keine Freude in der Arbeitszeit empfinden. Empfand ich Freude, war es schrecklich, wenn diese Freude durch das Wissen aus dem Haus zu gehen zerstört wurde. Also war es besser, die Freude zu verschließen und für die freien Tage aufzuheben. Und es war unerträglich den Sinneseinflüssen ausgesetzt zu sein. Und das war ich, wenn ich mein geschütztes Umfeld verlies. Säufzend dachte ich an Oksana, die sich grade in meinem geschützen Umfeld aufhielt. Für einen Moment blickte ich hoch auf den Kühlturm. Zugang dazu hätte ich problemlos. Allerdings verwarf ich den Gedanken zu springen. Vielleicht würde sich alles zum Guten wenden und sie geht wieder. "Verehrte Genossen, bitte begeben Sie sich in den Versammlungsraum." dröhnte eine Durchsage durch die Lautsprecher. Erleichtert nicht sofort dem Neuen zu begegnen, begab ich mich in den Versammlungsraum. Scheinbar wollte Anatolij eine Ansprache halten. Es kehrte Ruhe ein und Anatolij trat ans Rednerpult. "Genossen, es ist mir eine Freude einen alten Freund zu begrüßen." Freund? Damit konnte er unmöglich mich meinen, denn wir waren alles andere als befreundet. "Nach längerer Krankheit ist auch der Genosse Fomin wieder unter uns. Komm rauf zu mir." Er meinte mich als doch. Unter donnerndem Applaus suchte ich meinen Weg zum Rednerpult. Das war mal wieder eine von Djatlows Gemeinheiten. Er wußte wie sichtlich unangenehm mir das war, besonders, da jetzt wohl auch der Letzte wissen wird, das ich in einer Nervenheilanstalt war. "Aus gesundheitlichen Gründen wird er aber die Maschinenraumbesatzung mit seinem Fachwissen unterstüzen. Möchtest du noch etwas sagen, Genosse?" Ich schüttelte fast schon panisch den Kopf, allerdings erwarteten sie das ich was sage. Unsicher trat ich ans Mikrophon und versuchte schnell ein paar Satzfetzen zusammen zu bekommen. Ich griff mir an meine Augen. "Liebe Genossen, auch wenn der Unfall ein großer Rückschlag war, vorwärts und nie vergessen: Kommunismus ist keine Meinung, sondern ein Versprechen." Die Leute applaudierten mir. Glücklicherweise übernahm Anatolij wieder das Wort. "In diesem Sinne: Lasst uns weitermachen." Wieder gab es ein für mich erdrückenes Geräuscheumfeld. Ich sah noch aus den Augenwinkeln das Grinsen von Anatolij."Und? Hat sich meine Schwester schon eingelebt?" Ich nickte nur und sah zu das ich verschwand. Im Maschinenraum wurde ich von Vyacheslav Stepanovitsch empfangen. Ich kannte ihn von früher und hab schon das ein oder andere sehr intensive Gespräch über Elektrontechnik führen können. "Schön das Sie wieder da sind. Lassen Sie es langsam angehen. Ach, das soll ich Ihnen geben." Er drückte mir ein Brillenetui in die Hand. Verwirrt öffnete ich es und fand ein identisches Exemplar meiner Brille. Ich kann zwar ohne Brille sehen, aber es ist sehr anstrengend. Besonders wenn ich lese oder arbeite. "Vielen Dank." Ich mochte Slava sehr gerne. "Wir sagen hier alle du, ich hoffe das ist okay?" Ich nickte. Mit ihm konnte ich mich stundenlang unterhalten. Er führte mich erstmal herum und wies mich ein. Wir aus dem Reaktorblock 4 sind auf die anderen Blöcke aufgeteilt worden. Einige sind leider schwer erkrankt und an den Folgen der Strahlenkrankheit gestorben. Wir hatten eigentlich viel Glück. Glück im Unglück. Bei mir scheint es gut ausgeheilt zu sein. Ich bekam eine leichte überwachende Tätigkeit. Viele finden soetwas langweilig, aber ich mache das sehr gerne. Ich muß nur auf einen visuellen Reiz reagieren. Nebenbei kann ich meinen Gedanken nachhängen. "Hey Nikolai, kannst kurz Pause machen, Valerie übernimmt für dich." Eigentlich war das nicht notwendig. Ich war lieber weiterhin hier. Dennoch nahm ich meine Brotbox und folgte Slava. Ich fand es schön, dass er jetzt, wo ich nicht mehr in leitender Position war, nicht mehr so förmlich war. Wir gingen in den Aufenthaltsraum. Ich schob ihm meine Brotbox hin. "Möchtest du? Ich hab keinen Hunger, aber meine Verlobte meint es gut mit mir." Slava lächelte mich an. "Oh, danke. Meine Frau ist immer sehr früh weg. Da gibt es leider nix. Du bist verlobt? Wann heiratet ihr?" Ich sah auf seine Stirn. "Also so genau weiß ich das auch nicht...wir haben uns länger geschrieben und naja, jetzt ist sie hergekommen und wir haben einen Eheantrag gestellt." Slava lächelte. Ich beließ es bei dieser Wahrheit. Ich wußte ja genau, dass ich Oksana weder geschrieben habe noch sie irgendwie kannte. Allerdings, wie sollte ich den Gegenbeweis bringen? Wenn ich jetzt sage, dass ich sie nicht kenne und das alles etwas ist, was Anatolij Stephanowitsch eingefädelt hatte, dann würde ich sofort wieder als verrückt gelten. "Ist doch schön, dass du nochmal heiratest. Ich hoffe, ich bin eingeladen." Oh, da hatte ich wenigstens einen Freund, den ich präsentieren konnte. Meine Eltern...ohje, ich hab ganz vergessen sie anzurufen. Das werde ich heute nachmittag gleich machen. Da ich in führender Position war und erreichbar sein mußte, verfügte meine Wohnung über Telefon. Ich mußte sie unbedingt anrufen. "Ich würde mich freuen, wenn du kommst, Slava. Deine Frau natürlich auch." Slava holte uns Kaffee und biss in mein Brot. Er bot mir eine Zigarette an, aber ich rauchte nicht. Ich war froh Slava zu haben. Er war für mich ein ruhender Pol in dem Chaos. Die anderen hab ich so gut es ging erstmal ausgeblendet. Ich war auch froh, das mein Arbeitsplatz ein wenig abgeschottet war. Wir gingen zurück an unseren Arbeitsplatz und der erste Tag verlief ruhig. Als ich das Kraftwerk verließ stellte sich Anatolij mir in den Weg. "Denk dran, wenn ihr heiratet, dass ich eine große Familie habe. Die müssen hier alle untergebracht werden." Ich nickte nur kurz und flüchtete. Das fehlte mir noch, dass er mich jetzt auch noch mit einem Gespräch belästigt. Ich hatte Angst nach Hause zu fahren. Jemand würde dort sein, jemand von dem ich bezweifel, dass ich mit ihm umgehen kann. Allerdings, was sollte ich tun? Anatolij hatte mittlerweile einen ziemlich hohen Posten und würde mir das Leben zur Hölle machen, wenn ich ablehne. Gedankenverloren saß ich im Bus und fuhr zurück. Als ich das Haus betrat zog ein angenehmer Geruch nach gebratenem Fisch durchs Haus. Ich betrat meine Wohnung und Oksana lächelte mir zu. "Willkommen zu Hause, Kolja." In ihrer Stimme war sehr viel Wärme und auch die Wohnung strahlte anders als heute morgen eine Wärme aus. Eine Erinnerung kam in mir hoch. Als Kind habe ich sehr gerne gebratenen Fisch gegessen. Den gab es leider selten bei uns, da mein Vater Fisch nicht mochte. Daher war es immer etwas besonderes. Ein Lächeln huschte durch meine Augen. Oksana schien es zu bemerken und strich sanft über meinen Kopf, als sie mir meinen Teller hinstellte. Eine große Kuperpfanne stand auf dem Herd, genauso eine wie aus meiner Kindheit. Ich fühlte mich sicher, zumindest in diesem Augenblick. Wer weiß, vielleicht würde diese Ehe doch angenehmer, als ich befürchtete. Ich werde es einfach auf mich zu kommen lassen und das beste hoffen. Sanft zog ich Oksana an mich. "Lass es dir schmecken, Kolja." Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)