Special Ark von LockXOn ================================================================================ Kapitel 4: Der Stich ins Wespennest ----------------------------------- Sie wanderten ziellos den Gang entlang. Es handelte sich um einen Abwasserkanal und Ark strich sich mehrmals angewidert durchs klatschnasse Haar. Er strafte den kichernden Leon mit einem wütenden Seitenblick: „Das ist nicht komisch, Mann! Die Brühe sitzt mir in der Nase!“ Vergeblich bemühte er sich, einige Ponysträhnen zurückzukleben: „Mist, wird wohl erst halten, wennʼs trocken ist ...“ Leon begutachtete ihn ehrlich interessiert: „Warum hast duʼs eigentlich wachsen lassen? Du warst doch immer eher der bequeme Typ, wennʼs um die Frisur ging?“   „Tja, irgendwann musste ich feststellen, dass man die Damenwelt mit ʼnem Zentimeter-Borstenschnitt einfach nicht mehr beeindrucken kann, noch dazu, wenn man ihn in die falsche Richtung föhnt.“   Leon hob erstaunt eine Augenbraue, doch Ark ließ ihn nicht zu Wort kommen: „Rein berufliche Motive ... Naja, größtenteils zumindest. Es gehört halt zu meinem Job, Leute zum Reden zu bringen und wie es der Zufall so will, sind Frauen gesprächiger. Vor allem, wenn der Fragesteller ein gutaussehender Junge ist.“   „Dass du dich auf Heiratsschwindel spezialisieren würdest, hätte ich dir nie zugetraut. Du warst damals immer so politisch engagiert, neugierig und heiß auf Action!“   „Ja, stimmt. Früher habe ich solche Aufträge immer verabscheut, sie nur des Geldes wegen angenommen. Aber dank dir habe ich sie wieder richtig zu schätzen gelernt! Ich finde es nämlich wesentlich angenehmer, Leute beim Sex zu beobachten als dabei, wie sie sich gegenseitig die Gurgel aus dem Hals beißen. Alles klar?“   Leon rollte resigniert mit den Augen.   Einige Meter weiter bog der Gang um die Ecke und sie linsten vorsichtig hinein, ehe sie durch die am Ende liegende rostige Eisentür traten. Sie quietschte horrend beim Öffnen und beiden Männern lief es kalt den Rücken herunter. Wenn es etwas hier unten gab, das ihnen gefährlich werden konnte, wusste es jetzt, wo es sie finden konnte. Auf leisen Sohlen schlichen sie weiter. Es war ein enger Gang mit unterschiedlich dicken, leise gluckernden Röhren an einer Seite bis hinauf zur Decke montiert und Bodengittern, unter denen schmutziges Wasser zäh dahinfloss.   Nach wenigen Metern wandte sich Ark ab und erbrach sich heftig. Leon konnte ihn durchaus verstehen. Er wäre ebenfalls nicht sonderlich begeistert gewesen, dieses Zeug in den Mund zu bekommen. Also wanderte er ohne zurückzublicken weiter, schnell genug, um Ark eine gewisse Privatsphäre zu gönnen, aber nicht zu schnell, um ihn nicht unter Druck zu setzen.   Kurz darauf hatte ihn sein Partner auch schon wieder eingeholt. Leon zögerte erst, wandte sich dann aber doch dem leicht blassen Gesicht zu und fragte mitfühlend: „Alles okay?“ Ark nickte: „Alles bestens.“ Die Lüge konnte nicht offensichtlicher sein, doch er ließ es ihm durchgehen. Was konnte er auch sonst für ihn tun?   Plötzlich riss Ark seine Beretta hoch und sprang aufgeschreckt ein Stück zurück. Leon zuckte zusammen und presste sich blitzschnell an die Wand, um ihm aus der Schusslinie zu gehen: „Woah! Was zum Teufel-“ „Da war jemand“, stieß Ark atemlos hervor und rannte an ihm vorbei direkt auf eine nicht mehr weit entfernte Weggabelung zu. Er stürzte sich hinein, zielte erst in die eine, dann in die andere Richtung und sprintete dann nach rechts. Leon hetzte ihm hinterher: „Was ist los?! Wer war da?!“ Ark entgegnete ihm gereizt: „Woher soll ich das wissen?! Ich hab nur jemanden in diese Richtung huschen sehen! Und jetzt quatsch nicht, lauf!“   Der Detektiv warf sich mit der Schulter voran durch die nächste Tür und zielte etwas hilflos in die Düsternis. Auch Leon, nun an seinen Rücken gepresst, stierte angestrengt ins Dunkel des Raums, in dem sie sich wiederfanden und flüsterte: „Hast du es auch sicher erkennen können? Ich meine ... dass es ‚Jemand‘ war?“ Ark schüttelte den Kopf ohne den Blick abzuwenden und machte einige Schritte tiefer hinein: „Ich habe etwas gesehen, das wie ein Mensch aussah. Ob es tatsächlich einer war ...“ Den Rest ließ er in der Luft hängen. Leon schluckte trocken: „Nach all der Zeit? Unwahrscheinlich.“ „Ja“, murmelte Ark, „unwahrscheinlich. Oder höchst verdächtig. Frage mich, wer heutzutage Interesse an so einer verstaubten Fabrik haben könnte, hm?“   Ohne die Waffe zu senken oder die Pupillen auch nur einmal von der obskuren Dunkelheit abzuwenden, fingerte er vorsichtig nach einem Lichtschalter. Es war reiner Zufall, dass er ihn nach gut einem Meter in Hüfthöhe ertastete und es dauerte einige Sekunden, ehe eine matte Glühbirne an der Decke zu einem unbefriedigenden Flackern erwachte. Der fahle Lichtschein erhellte die Umgebung gerade mal so sehr, dass sie sich orientieren konnten.   Sie befanden sich in einem kleinen Kontrollraum. Ein durchlässiges Regal, beladen mit kleineren und größeren Geräten und Gegenständen, stand zu ihrer Rechten und teilte den Raum. Es war so vollgepackt, dass sie nicht erkennen konnten, was sich auf der anderen Seite befand. Das Unbehagen in ihren Magengruben wuchs, während sie sich Stück für Stück zum Ende vorarbeiteten. Ark wies Leon mit dem Kinn den Vortritt an und dieser atmete einmal tief durch, ehe er einen beherzten Seitenschritt tat und mit der Waffe in den offenen Raum zielte. Seine Augen weiteten sich: „Polizei! Hände hoch und über den Kopf, wo ich sie sehen kann!“ Der Ausruf alarmierte Ark, so schnell wie möglich an seine Seite zu treten. Die Mündung seiner Beretta zielte auf den Hinterkopf einer Gestalt, einige Meter von ihnen entfernt im fahlen Dämmerlicht auf einem Drehstuhl sitzend. Sie rührte sich nicht.   „Sir, bitte folgen Sie meinen Anweisungen und heben Sie die Hände!“   Auch die zweite Aufforderung erzielte nicht den erwünschten Erfolg und sie sahen sich unsicher an. Leon trat schließlich an die Gestalt heran, fasste sie sehr vorsichtig an der Schulter und schwenkte sie herum. Ark wich entsetzt zurück und stieß dabei an die Wand in seinem Rücken: „Oh, heilige Scheiße!“ Er ließ die Pistole sinken und hielt sich stattdessen eine Hand vor den Mund, um die aufsteigende Galle am Austreten zu hindern: „Was zum Teufel ist das?!“   Leon atmete leise aus. Der Sitzende war tatsächlich ein Mensch, dem weißen Kittel nach zu urteilen einer von Arks verhassten Wissenschaftlern. Leider war er nicht mehr am Leben. Doch das überraschte kaum, so wie sein Gesicht aussah. Er wirkte aufgedunsen, so als hätte man ihm mit einem Kompressor Luft in jede einzelne Ader gepumpt und sie dort gewaltsam versiegelt. Die unzähligen blauen Adern unter der gräulichen Haut unterstrichen den Verdacht. Doch unheimlicher als das waren die weit aufgerissenen Augen. Anstatt einer trüben Iris oder gleich gänzlich weißen Glaskörpern glichen diese Augen einem Blick in den Abyssus. Getrocknete Blutspuren umringten die Höhlen und auf den ersten Blick hätte man meinen können, dass sie schlichtweg leer waren. Doch bei näherem Hinsehen waren die Augäpfel sichtlich hervor gewölbt.   Nur eben schwarz wie die Nacht.   „Scheiße“, fluchte Ark noch einmal gepresst, „der sieht verdammt tot aus ...“ Leon steckte seine Pistole weg und brummte zustimmend, während er sichtlich angewidert damit begann, die Taschen des Kittels zu durchsuchen: „Hoffen wir, dass erʼs auch bleibt.“ „Ich weiß nicht, Leon“, Ark schluckte ein paarmal trocken und wandte sich dann von dem Anblick ab, „der Typ sieht wirklich, wirklich ziemlich tot aus.“ Der Agent zuckte gleichgültig mit den Schultern: „Tun sie das nicht alle?“   Ark ließ den Blick durch den Raum schweifen. Das lange Regal vorm Eingang, eines an der gegenüberliegenden Wand quer dazu, davor ein schlichter weißer Tisch mit dem Toten, neben ihm ein hüfthohes Bedienungspult mit Knöpfen, Hebeln und kleinen Bildschirmen vor einer großen Scheibe, die sich über die gesamte Längsseite des Raums erstreckte und links von ihm ein Durchgang zu einem dunklen Nebenraum. Ark hob seine Waffe vorsichtshalber wieder und ging behutsam darauf zu. Dabei murmelte er trotzig, ohne Leon anzusehen: „Ich wünschte, du würdest mit deinen logischen Schlussfolgerungen nicht dauernd meine Hoffnungen zunichtemachen.“   „Ich versuche nur, realistisch zu sein!“   „Nun, lass es! Du deprimierst mich!“   Ein entmachtetes Seufzen setzte ihn davon in Kenntnis, dass sich sein Partner nicht auf das Wortduell einlassen wollte. Er trat zögerlich in den Nebenraum hinein und erleuchtete Teile davon mit der Taschenlampe. Der Raum war nicht sehr groß, ungefähr gleich zur anderen Hälfte, aber doppelt so hoch und überwiegend leer. Nur ein breiter, zylinderförmiger Tank in der Ecke gegenüber der Tür und einige Kanister am anderen Ende stachen Ark ins Auge und er trat argwöhnisch um den Tank herum, um den toten Winkel dahinter zu überprüfen. Er fand nichts außer einem großen Blumentopf mit steinharter, völlig verbrauchter Erde. Einige braune Blättchen lagen darum verstreut. Ein Blick auf die Wand in der Nähe ließ ihn die Stirn runzeln.   Er begutachtete sie, leuchtete höher und höher zur Decke hinauf, strich schließlich mit der Hand darüber und rieb die Finger aneinander. Sie fühlte sich rau an und die Fremdkörper zerbröselten, obwohl sie trocken waren, nicht unter dem Druck. Die Wand war übersät von unzähligen, kleinen, vertrockneten Füßchen. Ark schüttelte den Kopf. Nein, eher Saugnäpfen. Sie musste einmal von einer Art Kletterpflanze überwuchert gewesen sein, die abgerissen und entfernt worden war. Die Überreste klebten bombenfest an ihr, also hatten die Aufräumer entweder keine Muse dazu gehabt, sie abzukratzen, oder nicht genügend Zeit.   Ark wandte sich den Kanistern zu und ging vor einem von ihnen in die Hocke, um das Etikett zu lesen. Es handelte sich um Isopropylalkohol, hochprozentiges Zeug, das zum Reinigen und Desinfizieren verwendet werden konnte. War es möglich, dass man versucht hatte, damit die Pflanzenrückstände zu entfernen? Es erschien ihm übertrieben. Es gab genügend effektivere und billigere Pflanzenvernichtungsmittel auf dem Markt. An einem Ausbruch der Biowaffen konnte dank des Zustands des Toten im Nebenzimmer kein Zweifel mehr bestehen. Hatte man im Chaos, welches unwiderruflich stattgefunden haben musste, versucht, an diesem Ort eine Art Lazarett einzurichten, aber es aus irgendeinem Grund nicht weit gebracht?   Sein Blick glitt zu Boden und er ließ sich auf ein Knie sinken. Die Furchen zwischen den verstaubten aber ansonsten sauberen Fliesen wiesen eine unpassende dunkelbraune Färbung auf, die nicht mit dem Rest der Umgebung harmonierte. Ark bezweifelte, dass das Gebäude nach ästhetischen Maßstäben konstruiert worden war, doch dieser Unterschied erschien ihm zu gravierend, um als beabsichtigt durchzugehen. Entweder hatte der zuständige Architekt einen sonderbaren Geschmack oder etwas war an diesem Boden ausgeblutet. Etwas Großes, dem Grad der Verschmutzung nach zu urteilen, oder mehreres Kleines.   Seufzend stemmte er sich in die Höhe und drehte sich zur Scheibe um: „Hör mal, ich weiß, ich bin ein Schwarzseher, aber HEILIGE SCHEISSE LEON HINTER DIR!!!“   ---   Leon hatte in den Taschen des Toten eine Übersichts- sowie eine Schlüsselkarte gefunden. Erfreut stellte er fest, dass es sich bei ihr um eine recht hohe Berechtigungsstufe handelte, die ihnen zweifellos den Weg durch den Komplex etwas erleichtern würde. Er steckte sie ein und schob den Stuhl mitsamt der Leiche in die Ecke, um freien Zugang zu dem Bedienungspult zu haben, welches unter das Fenster zum Nebenraum montiert war. Aus den Augenwinkeln sah er Arks Taschenlampe darin umher huschen, doch es war zu dunkel, um sonst etwas zu erkennen, und so überließ er seinem Freund die dortigen Untersuchungen. Stattdessen lenkte er die Konzentration auf das Pult. Das System war komplett heruntergefahren und er entdeckte einen unscheinbaren Kartenschlitz unter einem Hebel, der sich nach einem tatkräftigen Versuch als verkeilt herausstellte. Er zog die gefundene Schlüsselkarte hervor und probierte sie aus, zufrieden aufatmend, als ein leises Klicken ertönte und er den Hebel nun leicht verschieben konnte. Sofort flackerten die Bildschirme auf und ein kurzes Vibrieren der Konsole bezeugte den Neustart.   Er beugte sich über einen der Monitore, als dieser ein Bild sendete und betrachtete es. Es zeigte den Raum hinter der Scheibe, doch schien es ein Zeugnis der Vergangenheit zu sein, denn er war überwuchert von grünen Pflanzen. Einige Wissenschaftler liefen umher und knipsten hier und dort Zweige und Blätter ab oder ritzten die Rinde an, um den austretenden Saft in Reagenzgläsern aufzufangen. Er war rot wie Blut. Leon schnitt eine Grimasse und griff nach einem Kopfhörer, der neben dem Monitor lag und hielt ihn sich ans Ohr. Dann begann er damit, die Aufnahme vor zu spulen. In Zeitraffer schienen sich die Pflanzen beinahe geisterhaft zu bewegen. Forscher kamen und gingen, düngten und wässerten und ...   Leons Augen weiteten sich und er wechselte umgehend auf Wiedergabe, als auf einmal etwas völlig anderes in den Fokus trat. Etwas Fettes, Gehörntes, Braunweißes. Ungläubig starrte er in die dunklen Augen einer wiederkäuenden Kuh. Ehe er wusste, was er davon halten sollte, stakste sie zum dichtesten Gebüsch und steckte ihre Nase hinein, um eine lange Ranke Grünfutter herauszureißen und darauf herum zu kauen. Und noch während sich Leons Stirn in Falten legte, stürzte die Decke auf das Tier herab und begrub es unter sich. Angewidert zuckte er zurück, als animalisches Brüllen seinen Gehörgang erfüllte und sich die grüne Szenerie heftig bewegte. Ab und zu schoss ein Bein hervor und mit jedem Male war es weniger ... vollständig. Es war offensichtlich, dass sich die Kuh krampfhaft wehrte.   Dagegen, von einer Pflanze gefressen zu werden.   Schließlich regte sich nichts mehr und die Decke erhob sich, um den Blick auf ein restlos abgenagtes Skelett freizulegen. Und endlich erkannte Leon, dass der Raum nicht von vielen verschiedenen Pflanzen bevölkert war, sondern von einer einzigen. Und diese war karnivor. Und ... sie war nicht mehr da.   Er starrte durch die Scheibe, wo Arks Taschenlampe gerade die hintere Wand beleuchtete. War das Experiment selbst für die Neugier verantwortungsloser Wissenschaftler zu gefährlich geworden? Hatten sie sie vernichtet? Oder war es, wie schon so oft, andersherum der Fall gewesen?   Leon spulte die Aufnahme beinahe verzweifelt vor. Pflanzen gehörten nicht unbedingt zu den bedrohlichsten Biowaffen, in erster Linie deswegen, weil sie stationär gebunden waren. Aber sie konnten einen überraschen – böse überraschen – wenn man einen befallenen Raum betrat und sie nicht sofort bemerkte. Und diese Pflanze schien brandgefährlich zu sein. Er musste in Erfahrung bringen, was mit ihr geschehen war! Als sich ihm endlich die Ereignisse offenbarten, starrte er erbleichend auf den Monitor.   Er sah normal arbeitende Forscher, die auf einmal überrascht zum Fenster blickten, dann aber augenblicklich in Entsetzen ausbrachen und in Richtung der Tür taumelten. Zwei von ihnen schienen an der Tür zu ruckeln, ein dritter schrie und schlug gegen die Scheibe. Fliegende Hände ihrer außenstehenden Kollegen tippten in heller Aufregung immer wieder die gleiche Zahlenkombination auf der Tastatur des Kontrollpults ein, welche jedoch offensichtlich nicht funktionierte. Nur wenige Minuten später senkte sich die blickdichte, grüne Masse von der Decke hinab und der Mann am Fenster verschwand im Wust der zitternden Blätter. Als erst panisches, dann von Sinnen klingendes Geschrei ertönte, verschwand ein Paar der Hände vom Pult. Als ob der Verstand des letzten Außenstehenden schon begriffen hatte, aber der Instinkt noch helfen wollte, fuhr seine Hand nur noch wie in Trance ein umgekehrtes „U“ über das Tastenfeld. Zischende Geräusche erklangen, danach eine Zeitlang nichts mehr ... Und plötzlich ein Knarzen, erschrockenes Kreischen und hastige Fußschritte. Und dann kroch die Pflanze zur Tür hinaus.   Sie kroch zur Tür hinaus!   Dieses Ding hatte eine Kuh und drei Wissenschaftler verspeist – mindestens – und war dann aus ihrem Gefängnis entkommen, indem sie zur Tür hinaus spaziert war!   Leon öffnete und schloss mehrmals den Mund. Er wusste, dass er seinen Partner besser schnell über diese Entdeckung aufklären sollte, doch überlegte sehr scharf, welche Erklärung Ark wohl am wenigsten aufregen würde. Er dankte in diesem Moment allen ihm bekannten Entitäten dafür, dass sie ihn daran gehindert hatten, seinen Freund allein in dieses Höllenloch zu schicken.   Arks Schrei weckte ihn unsanft aus den Gedanken auf. Er hatte nicht mitbekommen, was er ihm zugerufen hatte, doch als er den Kopf hochriss, hatte Ark die Pistole mit einem entsetzten Gesichtsausdruck schon auf einen Punkt schräg hinter seiner rechten Schulter gerichtet. Er konnte noch eben herumfahren und einen Arm heben, bevor sich die tot geglaubte Leiche in seiner Halsschlagader verbeißen konnte. Von dem Gewicht des Angreifers überwältigt, fiel er mit einem schockierten Laut rücklings auf die Konsole, ohne zu bemerken, dass er dabei mit seinem Ellenbogen einen Hebel verrückte. Nicht ohne Anstrengung zog er seine Waffe, während er seinen Arm so fest es ging gegen die Brust des Zombies drückte, legte an und drückte mehrere Male ab.   ---   Ark begriff inzwischen, dass es ein zu großes Risiko darstellte, durch die Scheibe zu schießen. War es Panzerglas, was nicht allzu abwegig erschien, würde im besten Fall die Kugel abprallen und möglicherweise ihn treffen, im schlimmsten Fall aber vom Kurs abgelenkt werden und vielleicht Leon treffen! Also senkte er die Beretta und hastete gen Ausgang. Auf halbem Wege schloss sich unvermittelt die Tür und er rannte mit einem Schmerzensschrei dagegen. Deckenlampen leuchteten auf und er richtete den Blick auf sie. Eine weibliche Stimme drang in seine Ohren.   „Fütterung initiiert. Versiegelung abgeschlossen. Öffnung der Tür nur noch im Notfall mit entsprechender Autorisierung möglich. Kältestarre von Projekt ‚Dryade‘ wird aufgehoben in Zehn ... Neun ... Acht ...“   Ark löste den Blick nicht von der Decke, während er – die heftigen Kampfgeräusche dahinter ignorierend – an die Tür klopfte: „Leon. Mach auf.“ Ein Knall außerhalb der Barriere sowie ein besorgniserregend nahes, dunkles Stöhnen ertönte.   „... Sechs ... Fünf ...“   Ark klopfte energischer: „Mach auf, Leon!“ „Bin gerade verhindert“, lautete die gehetzte, aber entrüstend lapidare Antwort, gefolgt von mehreren Schüssen und lautem Scheppern. Etwas schien in eines der Regale gefallen zu sein und es umgerissen zu haben und er hoffte, dass es sich dabei um die jetzt wirklich tote Leiche handelte. Eilige Schritte bestätigten ihm den Verdacht.   „... Zwei ...“   „Die TÜR, Leon!!!“   „Ich bin DABEI, okay?! Scheiße! Wie bricht man es ab?!“   „Kältestarre wird aufgehoben. Notfallprogramm gesperrt.“   Lüftungsschächte unterhalb der Decke, die Ark erst jetzt bemerkte, öffneten sich und sein Atem stockte. Draußen hörte er Leon gedämpft fluchen und auf die Tastaturen einhämmern, doch all seine Konzentration war nun auf die ominösen dunklen Löcher hoch oben über seinem Kopf gerichtet. Er biss die Zähne zusammen und schloss in böser Vorahnung ein Auge, als ein leises Brummen ertönte. Beinahe bildlich konnte er sich vorstellen, wie es ihm sein Partner draußen gleichtat.   Im nächsten Moment erfüllte warme Luft den Raum. Nach einigen Sekunden bangen Wartens öffnete Ark das Auge wieder und ließ langsam den Arm sinken, den er sich unbewusst schützend vors Gesicht gehalten hatte. Er blinzelte irritiert. Es wurde warm um ihn herum – tropisch warm zwar, aber nichts, was ein Mensch nicht aushalten konnte. Er hob die Hand zu seinem Wow, als es anfing zu piepen und Leons Stimme drang ihm ins Ohr: „Ark, bist du in Ordnung?! Was passiert da drin?! Gas?!“ „Luft“, entgegnete er, froh darüber, nicht mehr schreien zu müssen. Aus irgendeinem Grund wollte er es nicht riskieren, mit zu viel Lärm auf sich aufmerksam zu machen, obwohl es ganz danach aussah, dass sie sich umsonst gesorgt hatten.   „Heiß?!“   „Nein, auszuhalten. Was zum Teufel ist das hier?“   Er hörte Leon aufatmen: „Sieht ganz danach aus, als wär es eine Kultivierungskammer gewesen. Sie haben darin ... Pflanzen gezüchtet. Aber wie du siehst, sind sie weg. Es dürfte dir nichts passieren. Wenn wir abwarten, bis diese ‚Fütterung‘ durchgeführt ist, sollte sich die Tür von allein wieder öffnen.“ Ark brummte, ohne den misstrauischen Blick von der Decke zu wenden. Er kam nicht umhin, sich eine gewisse Reserviertheit in Leons Stimme einzubilden, als ob ihm sein Partner nur einen Teil der Tatsachen anvertraut hatte. Andererseits war er sich ziemlich sicher, dass Leon ihn nicht sterben sehen wollte, und so entspannte er sich unwillkürlich.   Bis er das leise Summen vernahm, welches sehr schnell, sehr stetig lauter wurde.   Und plötzlich brachen aus den Schächten Wespen hervor. Zum Glück nicht viele, Ark zählte auf Anhieb sieben Stück. Doch es war nicht die Anzahl, die ihm augenblicklich den Angstschweiß auf die Stirn trieb, sondern die Größe. Er hatte schon kleinere Raben gesehen. Und sie hielten zielsicher auf ihn zu. „TÜR“, entfuhr es ihm in einem entsetzten Atemzug und Leons ungehaltene Fluchtirade flutete sein Gehirn. Doch er hatte keine Zeit, die harschen Worte zu entziffern, denn schon hatte ihn die erste Wespe erreicht und stürzte auf ihn zu. Er holte sie mit einem gut gezielten Schuss auf den Boden zurück und hastete an dem zuckenden Insekt vorbei zur anderen Seite des Raums, das Summen der Artgenossen dicht hinter ihm. Er schwang herum und drückte dreimal in schneller Abfolge ab. Jeder Schuss war ein Treffer. Er verlor keine Zeit mit mentalen Schulterklopfern, sondern rollte sich weg, als es eine Wespe für ihn zu tun drohte – mit ihrem Stachel. Wieder ein Schuss und wieder ein Gegner weniger. Noch zwei. Durch die Scheibe sah er Leon fieberhaft Hebel und Knöpfe betätigen, als plötzlich wieder die weibliche Stimme erklang.   „Nichtidentifizierte bioorganische Waffe geortet. Gegenmaßnahmen werden eingeleitet. Bitte wählen: Verbrennung – Giftgas – Frost.“   Im Fenster spiegelte sich etwas über seinem Kopf, er sprang zur Seite und strauchelte, prallte aber in eine Ecke des Raums und entging so einem Sturz. Der Angriff der Wespe ging ins Leere und wie aus einem Reflex heraus trat er nach der dicht über dem Boden schwebenden Mutation. Er traf schwere Masse, sie trudelte die Länge des Zimmers entlang und rammte den gegenüberliegenden Tank. Er zielte blitzschnell und drückte ab. Der Schuss war so glücklich platziert, dass ihr Körper wie eine Seifenblase zerplatzte.   Eine. Nur noch eine. Er rannte los, um ihr kein allzu leichtes Ziel zu bieten und sah sich dabei hastig um. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sie ihm geradewegs entgegenkommen würde, und so biss er erschrocken die Zähne aufeinander und schlitterte unter ihrem Angriff hindurch, hob die Pistole und schoss ein letztes Mal über Kopf. Mit aller Kraft stieß er sich ab und rollte von dem auf ihn zu fallen drohenden Kadaver weg, um in einer Hocke neben der Tür zum Stillstand zu kommen.   Keuchend suchte er die Umgebung ab, um sicherzugehen, dass er keine Gegner übersehen hatte und ließ dann das fast leere Magazin aus dem Schaft der Beretta rasseln, um es mit einem aus der Tasche gezogenen vollen zu ersetzen. „Leon, wie siehtʼs mit der Tür aus?“, fragte er sehr nachdrücklich. „Das Mistding rührt sich nicht, verdammt“, erklang es nicht viel legerer aus dem Headset, „und diese Biester haben es uns nicht einfacher gemacht! Hoffentlich löst sich jetzt, da du sie erledigt hast, endlich diese blöde Sicherheitsspe-“   „Nichtidentifizierte bioorganische Masse geortet. Gegenmaßnahmen-“   Sie sahen zeitgleich zur Decke, als das Summen jetzt selbst zu Leon nach außen drang. Ark zählte.   Neun.   Sechzehn.   Zu viele.   Zu viele Wespen drängten sich durch die Schächte zu ihm in die begrenzte Kampfzone, als dass er sie ausschalten konnte, ohne selbst Schaden zu nehmen. Das Gesicht des Zombies erschien vor seinem inneren Auge. Aufgedunsener Körper und diese unheimlichen Augen. Insektengift. Der arme Bastard war von diesen Biestern zu Tode gestochen worden. Und es hatte ihn verändert. Er drehte den Kopf und sah Leon mit beinahe wahnsinniger Intensität auf die Konsole einschlagen.   Er würde es nicht schaffen.   Die Tür würde sich für ihn nicht mehr öffnen.   Seine Augen fielen auf die Kanister am anderen Ende des Raums und mit einem Male spürte Ark jede Anspannung aus seinem Körper weichen. Es gab einen letzten Ausweg. Vielleicht nicht unbedingt den besten, den er sich vorstellen konnte, doch zumindest einen, in dem seine Seele in Frieden ruhen konnte und er nicht in Angst davor hindämmern musste, die Bauchdecke seines Freundes mit den Zähnen zu öffnen. Niemand hatte bisher mit Bestimmtheit versichern können, dass die Menschen hinter den Zombies nichts mehr von ihren Vergehen mitbekamen und er wollte es nicht riskieren, als letzten Eindruck Leons zerrissenes Gesicht in die Retina gebrannt zu bekommen. Also drückte er sich ab und sprintete los.   Bei den Kanistern angekommen drehte er die angerosteten Deckel mit einer Kraft auf, die nur mit fester Entschlossenheit erklärt werden konnte, schwang herum und ließ einen ersten Schwall des Inhalts in der Wespenhorde niedergehen. Einige der Insekten gingen mit ihm zu Boden, durch die Flüssigkeit auf ihren Flügeln behindert. Ein zweiter Schwall ergoss sich über dem nächsten Pulk, der Rest über die gestapelten Kanister. Dann packte Ark einen zweiten Behälter und warf ihn mit aller Kraft gegen die Wand. Er platzte auf und der Alkohol spritzte auf Fliesen und Feinde. Ein dritter bedeckte den Tank und ein vierter die Scheibe, die von dem Aufprall erzitterte. Ark hörte Leon in sein Ohr rufen: „Was um alles in der Welt tust du da?! Was hast du vor?!“ Er ging beinahe lässig an ihm vorbei zur Tür und zerstampfte dabei die eine oder andere Wespe, die ihm unvorsichtigerweise dabei in den Weg kroch: „Ich werde nicht zulassen, dass mich diese Mistviecher infizieren, klar? Du weißt, was es heißen würde, nicht wahr? Diesen Körper wird sich kein verfluchtes Virus einverleiben! Das schwöre ich bei meinem nicht untoten Blut!“   Er ließ sich gegen die Wand fallen, griff in eine Brusttasche, zog sein Feuerzeug hervor und hielt es sich dicht vors Gesicht. Die Flamme spiegelte sich in seinen Augen wider. „Ark, tuʼs nicht“, brüllte es in sein Ohr, „halt nur noch ein bisschen durch, ich arbeite dran!“ Klicken und Klappern ertönte von Neuem. Und die frustrierend gelassene Stimme.   „Nichtidentifizierte bioorganische Waffe geortet. Gegenmaßnahmen werden eingeleitet. Bitte wählen: Verbrennung – Giftgas – Frost.“   Ark lächelte humorlos: „Die Lady wird ungeduldig, Leon. Nimm die Verbrennung. Ich glaube nicht, dass ihnen was anderes den Rest geben wird.“ Ein lauter Knall ertönte, wahrscheinlich Leons Faust auf Panzerglas: „Nicht mit dir da drin!“ Das Lächeln verschwand. „Sieht dir ähnlich“, murmelte Ark finster, holte aus ...   Und warf das brennende Feuerzeug locker durch den Schwarm anrückender Wespen hindurch direkt in den Stapel Kanister.   „ARK! NEIN!!!“   Der Brand breitete sich wie Wasser über alle Wände aus, Funken hüpften auf naheliegende Objekte, die die aufsteigenden Dämpfe wie zu einem Teppich zusammenfügten und in Sekundenbruchteilen stand der gesamte Raum lichterloh in Flammen. Immer wieder fielen zuckende Insekten von oben herab, Nachzügler, die vom Feuer überrascht wurden. „Ark“, schrie Leon verzweifelt und rannte zur Tür, warf sich dagegen, kratzte über die glatte Oberfläche in der Hoffnung, Halt zu finden und sie mit reiner Körperkraft beiseitezuschieben, so abwegig der Gedanke auch immer war. Er konnte seinen Freund nicht verlieren! Nicht so!   ... Nicht so.   „Feueralarm! Erstickung des Brandherds eingeleitet. Reduktion des Sauerstoffgehalts in Sektor Dreiundzwanzig auf null Prozent erfolgt in Fünf ... Vier ... Drei ...“   Seine Augen weiteten sich, als die vertraute Frauenstimme die Luft erfüllte. Informationen wurden in Sekundenbruchteilen verarbeitet und er schrie so laut er konnte durch die Tür: „Ark! Halt die Luft an! HALT DIE LUFT AN!!!“ Die Schächte in der Decke schlossen sich, einige zerteilten dabei noch die eine oder andere hindurch schlüpfende Wespe und die Konsole begann zu brummen. Leon strauchelte zum Fenster und sah, wie die Flammen kleiner und kleiner wurden, nach Nahrung suchten und keine mehr fanden.   ‚Mach schon ...‘   „Brandherd gelöscht. Feueralarm aufgehoben.“   ‚Mach schon!‘   „Nichtidentifizierte bioorganische Waffe zerstört. Keine Gefahrenquelle geortet.“   „MACH SCHON!“   „Fütterungsprozess abgeschlossen. Verriegelung wird aufgehoben.“   Als sich der schwere Stahl zur Seite schob, fiel Leon beinahe in den Raum dahinter und stürzte sich auf Ark, der zusammengekauert auf der Seite lag und sich nicht rührte. Aus schierer Angst, dass sich die vermaledeite Barriere durch eine Fehlfunktion ein weiteres Mal schließen könnte, packte er ihn ohne lang zu überlegen unter den Armen und schleifte ihn aus dem völlig verkohlten Raum, um ihn dahinter auf den Boden zu legen und ihm die über den Kopf gezogene Jacke herunterzureißen: „Ark, sieh mich an! Sag wa-“ Doch er verstummte, als er sah, was darunter verborgen lag. Einige lange Sekunden starrte er darauf hinab, ehe er die Jacke sinken ließ. Seine Unterlippe bebte, ebenso wie seine Knie, und so setzte er sich neben seinem Freund hin und starrte eine Zeitlang blind an die Wand. Dann stieß er einen gepressten Schrei aus und boxte eine geballte Faust gegen die Konsole, die ein lautes Scheppern von sich gab.   So war es nicht geplant gewesen. Es war nicht geplant gewesen, dass irgendjemand auf dieser Anfängermission sein Leben verlor, schon gar nicht ein Veteran wie Ark!   „... Scheiße.“   Sein Headset knackte, ohne dass er es registrierte.   „Scheiße.“   Ingrids Stimme erklang: „Leon? Gute Nachrichten! Wir haben den Code geknackt! Er lautet-“ Ihr entfuhr ein schockierter Laut, als Leon schrie.   „SCHEISSE!!!“   Sie hatte sich kaum von der Überraschung erholt, als sie besorgt hervorstieß: „Was ist los?! Was geht bei Ihnen vor sich?!“ Normalerweise reagierte sie nicht auf derartige Ausbrüche. Die Missionen der ihr zugewiesenen Agents waren bestenfalls als frustrierend zu bezeichnen, sodass Begrüßungen wie diese nicht zur Seltenheit gehörten. Sie hatte gelernt, dass sie nur in den wenigsten Fällen an sie persönlich gerichtet waren. Doch sein Tonfall verriet ihr, dass irgendetwas mächtig schiefgelaufen war, und das erst jüngst. Als sie keine Antwort erhielt, verlangte sie deshalb lauter, schärfer nach Aufklärung: „Agent Kennedy, was ist passiert? Bericht, bitte!“ Auch dieses Mal dauerte es lange, bis er antwortete und sie stand kurz davor, ein drittes Mal zu fragen, doch dann murmelte er resigniert: „Ark Thompson ... ist verstorben.“ Sie meinte, nicht richtig gehört zu haben. Das war viel zu schnell gegangen. Leon selbst hatte diesen Mann empfohlen! Sie hatten seine Fähigkeiten überprüft, ehe sie an ihn herangetreten waren! Und jetzt, keine drei Stunden nach Beginn der Operation ...   „... Wiederholen Sie bitte, Agent Kennedy, ich fürchte, ich habe Sie missverstanden.“   „Ark ist tot, Hunnigan“, presste er gereizt hervor, „soll ichʼs Ihnen schriftlich einreichen?!“ „... Ja“, erwiderte sie, noch immer nicht ganz sie selbst, „Ja, das werden Sie. In einem ausführlichen Bericht. Aber wie zum Teufel konnte ein fähiger Mann wie er so dermaßen früh-“ „Wir haben Fähigere früher verloren“, warf er ein und sie schwiegen eine Zeitlang. Dann hörte er sie seufzen: „Sie haben mein Mitgefühl, Leon. Er war Ihr Freund. Und noch dazu offensichtlich einer, den Sie sehr schätzten. Die Mission ist gescheitert. Ich werde ein Bergungsteam schicken.“ Er fuhr sich durch die Haare: „Nein, das wird nichts bringen. Ich brauche hier anderweitige Profis. Ziehen Sie Harper und Bowman ab und schicken Sie sie mir. Das hier ist mehrere Nummern größer als wir dachten.“   „Wa...! Was um alles in der Welt ist bei Ihnen passiert?! Ich kann die beiden nicht einfach abrufen, ihre Aufträge liegen in der Priorität viel weiter oben! Wäre es nicht besser, wenn Sie sich vorerst zurückziehen, Bericht erstatten und wir die Lage neu bewerten?“   „Hunnigan“, er betonte jedes Wort, „es ist mir unmöglich, von hier wegzukommen. Wir haben bereits ein gewisses Gebiet untersucht und sind dabei einige Stockwerke tief gefallen. Im Moment habe ich keine Ahnung, wie ich zum Ausgangspunkt zurückgelange. Und Hunnigan ... Wir haben Hinweise auf drei verschiedene Typen B.O.W. gefunden. Zusätzlich zum T-103. Ich brauche Unterstützung.“ Einige Sekunden war alles still. Dann fluchte sie hingebungsvoll.   „Scheiße.“   „Meine Worte.“   „... Warum haben Sie Ihre Position überhaupt erst verlassen? Ist es seine Idee gewesen?!“   Er runzelte wütend die Stirn: „Halten Sie sich zurück! Er hat damit nichts zu tun! Es ist meine Entscheidung gewesen, ihn zu unterstützen, solange es geht. Ich erlaube nicht, dass Sie einen Toten-“ Im selben Moment erfüllte ein schwaches Husten die Umgebung. Er fuhr beinahe vor Schreck aus der Haut, als sich etwas in seinem Rücken bewegte und er aus den Augenwinkeln einen braunen Schopf erkannte, der unter der blauen Jacke zum Vorschein kam, nachdem sich deren Besitzer mühsam auf den Unterarmen aufgerichtet hatte. Seine Kinnlade sackte ein kleines Stück ab, als er Ark einige schwere Atemzüge machen sah. Ingrid rief ihm ins Ohr: „Leon? Leon?! Was geht da vor sich?!“ Der Agent drehte sich fassungslos ganz um und hob die Hand, um sie zögerlich auf eine von Husten geschüttelte Schulter zu legen: „... Ark?“   „WAS?!“   Der Detektiv schüttelte den Kopf und stöhnte, als ihm davon nur noch schwindliger wurde: „Leon ... Himmelarschund... Was ist passiert?“ „Das würde ich auch gern wissen“, Leons Stirn legte sich in tiefe Falten, „Du ... du warst ...“ Hatte ihn die Angst so blind gemacht? War die Sorge um seinen Freund so groß gewesen, dass sie ihm einen schlimmsten Fall vorgegaukelt hatte? Er konnte schwören, dass Ark nicht mehr geatmet hatte. Und sein Gesicht ... Nein, nicht nur das Gesicht, jede Körperpartie, die er unter der Jacke gesehen hatte, war bis zur Unkenntlichkeit verbrannt gewesen. Doch jetzt ... Er strich mit einer Hand etwas unsanft über eine borkige Wange. Ruß, Staub und einige andere undefinierbare Partikel rieselten zu Boden und legten völlig verschmutzte, aber unverletzte Haut frei.   Ark hob eine fragende Augenbraue und Leon entließ einen Atemzug, den er eindeutig zu lange angehalten hatte: „... Du lebst.“ „Ähm ... Ja, das würde ich sagen“, nickte Ark, „auch wenn ich mich fühle wie von einem verdammten Zug überrollt.“ Er ließ ein paarmal wimmernd die Schultern kreisen: „Mehrmals überrollt.“   „Aber ... aber wie ...“   Er sah ihn ungeduldig an: „Nun, du hast mich doch angebrüllt, ich solle die Luft anhalten oder etwa nicht?! Ist das Einbildung gewesen ...? Zu dem Zeitpunkt stand ich schon mit beiden Fußspitzen im Lala-Land, also verzeih, wenn ichʼs missverstanden hab.“ „Nein, du hast es nicht missverstanden“, Leon schüttelte immer noch etwas geistesabwesend den Kopf, „aber ... der ganze Raum hat gebrannt! Also wie bist du ...“   „Meine Jacke besteht aus feuerresistentem Material und sie war noch total feucht von meinem kleinen Bad im Kanalwasser. Das hat mir wohl den Hals gerettet. Aber für einige Sekunden hab ich echt befürchtet, das wärʼs gewesen. Wurde für einen Augenblick verdammt heiß da drin. Als ich deine Stimme gehört habe, war ich schon ziemlich hinüber ... Hm, schätze, ich hatte nochmal Riesendussel, was?“   Leon stieß ein ermattetes Lachen aus: „Ha, das kannst du laut sagen! Ich kannʼs nicht glauben! Hier hocke ich, denke, du wärst endgültig fort und dann fängst du aus dem Stehgreif wieder an zu atmen und tust, als wärʼs das Natürlichste auf der Welt! Ich hab mir Sorgen gemacht und du stehst auf, als wäre nichts gewesen?!“ Ark schnaufte abfällig: „Entschuldige mal, ich kann mich auch wieder hinlegen! Außerdem stehe ich nicht. Um ehrlich zu sein, zittern meine Knie dafür noch zu sehr. Ich fürchte, ich brauche ein kleine Pause, wennʼs genehm ist. Natürlich nur, wenn es Miss Hunnigan nicht wieder zu Lästereien veranlasst.“ Die Frau räusperte sich höchst verlegen. Leon kratzte sich beschämt am Hinterkopf: „Oh. Du hast es gehört, was?“ Ark winkte ab und richtete sich stöhnend noch ein Stück weiter auf, um die Unterschenkel unter seinen Torso zu ziehen und sich in die Höhe zu stemmen: „Gehört ist übertrieben. Ich habe Teile mitbekommen. Wahrscheinlich hat mich das Bedürfnis, mich zu verteidigen, aufgeweckt ... Verdammt. Fit ist was anderes.“ Er rieb sich die schmerzende Stirn und Leon legte sofort einen Arm um seine Schultern, um ihm Halt zu geben. „Hunnigan“, richtete er sich erneut an die Kommunikationsspezialistin, „Sie kennen jetzt unsere Situation. Es ist mir egal, wen Sie schicken, aber wir brauchen Hilfe.“   „Ich kann nicht sagen, wie lange es dauern wird.“   „Ist mir gleich. Tun Sie Ihr Bestes.“   „Verstanden.“   Er wandte sich an Ark, der sichtlich Mühe hatte, die Augen offenzuhalten: „Und für dich finden wir ein sicheres Plätzchen, wo du dich ausruhen kannst.“ Sie verließen den unglückseligen Raum. Leon schleppte seinen Partner den Gang hinunter zur anderen Seite der Weggabelung, die sie zuvor bei der Verfolgung der menschlichen Silhouette ignoriert hatten. „Glaubst du, es ist der Wespenmann gewesen, der Beute in ihr Nest gelockt hat?“, fragte er nachdenklich. Ark schwieg kurz, seufzte dann jedoch: „Ganz ehrlich? Ich glaube, der Typ hat sich seit sehr vielen Jahren nicht mehr bewegt. Und die Wespen ... Es kam mir nicht so vor, als gehörte der Raum zu ihrem Jagdgrund. Es schien mir eher so, als wenn die Luftzufuhr sie aufgescheucht und hineingeblasen hätte. Ich fürchte, dass uns der Kerl, wer immer er auch war, durch die ... Lappen ... Oh, Mist ...“ Er hätte sich beinahe über den eigenen Schuhen übergeben, wenn Leon ihn nicht geistesgegenwärtig auf die Knie gedrückt und vornübergebeugt hätte.   Einige Minuten sah er ihm mitfühlend dabei zu, wie er sich Mageninhalt und Galle aus dem Leib würgte und fragte schließlich, als die Krämpfe abgeklungen waren: „Geht es dir jetzt besser? Du übergibst dich ganz schön viel, selbst für jemanden, der nahrungstechnisch fragwürdiges Wasser zu sich genommen hat ...“ „Ist mir auch schon aufgefallen“, krächzte es ziemlich erschöpft zurück, „Vielleicht bin ich ja heute Morgen mit ʼner Magenverstimmung aus dem Haus gegangen, die nichts mit der Aussicht zu tun hatte, auf Monsterjagd gehen zu müssen?“ Leon entschied sich, den neuesten Seitenhieb zu überhören und zog stattdessen die Karte des Stockwerks hervor, die er dem Zombie abgenommen hatte: „... Dieser Gang geht in einen Tunnel über, der zur Müllverbrennungsanlage führt. Am einen Ende ist ein kleiner Raum eingezeichnet. Wenn wir Glück haben, ist es ein Wachraum mit einer Pritsche oder so, auf der du dich hinlegen kannst.“ „Hinlegen klingt gut“, gab Ark leise zu, „und was würde ich nicht alles für eine gepflegte Dusche tun.“ Er sah schräg zu Leon auf, der wiederum skeptisch zu ihm hinunterblickte.   „Zu viel verlangt, hm? Ja, dachte ich mir.“   Sie kicherten beide und machten sich wieder auf den Weg. Die Tür am Ende des Gangs quietschte fürchterlich, als Leon sie öffnete und vorsichtig hindurch spähte. Doch zumindest ließ sie sich öffnen. Dahinter erstreckte sich ein weiter, offener Platz, dessen Grenzen sie in der Finsternis nicht erkannten. Nun, da sie wussten, mit Sicherheit nicht alleine zu sein, fiel es ihnen viel schwerer, unvoreingenommen großflächiges Terrain zu betreten. Ein Areal wie dieses barg Unmengen von Gefahren, zudem erschwerten ihnen kleine und größere Fahrzeuge, Kisten, Fässer und Gerümpel den Einblick. Sie nahmen einmal mehr ihre Waffen in Anschlag und arbeiteten sich Schritt für Schritt vor, Leon in die eine Richtung blickend, Ark die andere sichernd. Alles war gespenstisch still, doch in diesem Fall versprach das Sicherheit. Die wenigsten B.O.W.s konnten ihre körpereigenen Geräusche unterdrücken. Wenn man darauf achtete, konnte man sie hören, sobald sie sich in Bewegung setzten. Und der Schrecken der vergangenen Stunde hatte die beiden Ermittler überaus wachsam gemacht.   Als sie endlich die angepeilte Tür erreichten, glänzte auf beiden Gesichtern bereits der Schweiß. Zu ihrer Erleichterung war auch sie nicht abgeschlossen und Ark linste argwöhnisch durch einen Spalt hindurch für den Fall, dass dahinter ein weiterer der gruseligen Schwarzaugenzombies lauerte. Als er nichts Beunruhigendes feststellen konnte, nickte er Leon zu und schlüpfte hinein. Es handelte sich bei dem Zimmer zu ihrer Enttäuschung um ein kleines Büro, das kein Bett enthielt. An einer Längsseite stand ein Tisch mit einem Computer darauf, davor zwei Stühle, auf der anderen ein Kleiderständer, ein großer Aktenschrank, bis obenhin vollgestopft mit völlig verstaubten Ordnern sowie ein bis zum Rand gefüllter Papierkorb. Neben der Tür war eine kleine Nische mit einem verdreckten Spiegel und einem nicht mehr ganz strahlend sauberen Waschbecken. Gegenüber an der anderen Querseite des Zimmers stand eine hüfthohe Kommode, gerade breit genug, um einen erwachsenen Mann darauf liegen zu lassen und Ark, dessen Erschöpfung ihn dazu anhielt, nicht wählerisch zu sein, nahm die stumme Einladung dankend an.   Er streifte Gewehrhalfter und Rucksack ab und ließ beides behutsam neben dem Ausgang zu Boden sinken. Dann zog er sich die Jacke aus, schüttelte sie ein wenig, um sie halbwegs sauber zu bekommen und bündelte sie, um sie als Kopfkissen zu benutzen. Dann trottete er gähnend zum Möbelstück, schwang sich hinauf und murmelte: „Weck mich, wennʼs Probleme geben sollte. Ansonsten wann immer es dir zweckdienlich erscheint. Mehr als vier Stunden sollte ich aber sowieso nicht benötigen. Danach müsste ich wieder einigermaßen einsatzbereit sein.“ Sie sahen sich an und nickten in gegenseitiger Zustimmung. Ark drehte sich auf die Seite und fiel fast augenblicklich in Ohnmacht.   Leon hingegen überprüfte die Spüle und stellte verwundert, aber nicht undankbar fest, dass sie fließend Wasser – wenn auch nur kalt – genossen. Er traute der Sache nicht so sehr, dass er versucht hätte, es zu trinken, doch für eine Katzenwäsche würde die Qualität mit Sicherheit ausreichen. Er wusch sich Hände und Gesicht und trocknete sich ab. Dann ging er zum Schrank, fischte eine beliebige Akte heraus und setzte sich an den Tisch. Mit einem Seitenblick auf Ark entschied er sich, dass er, anstatt alleine die Gegend zu erkunden, auch erst alle nützlichen Informationen aus diesem Ort extrahieren konnte, ehe sie sich wieder gemeinsam auf den Weg machten.   Und so schob er eine Schreibmaschine – Wer verwendete um Himmels Willen noch derart veraltete Technik? – beiseite und begann zu lesen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)