Special Ark von LockXOn ================================================================================ Kapitel 5: Eine muhselige Hatz ------------------------------ Es dauerte etwas über drei Stunden und sechsundzwanzig Minuten, ehe ein leidendes Stöhnen über Arks vor Trockenheit aufgeplatzte Lippen in die Welt hinaus drang. Er rieb sich die Augen, schwang sich wenig elegant in eine Sitzposition und ließ die Beine über die Kante der Kommode baumeln. Dabei rutschte beinahe Leons Bomberjacke zu Boden, hätte er sie nicht gerade noch festhalten können. Der Agent sah vom Computerbildschirm auf: „Morgen. Wie fühlst du dich?“ „Auf jeden Fall besser als mariniert und halb durchgebraten“, erwiderte Ark und hielt mit erhobener Augenbraue die Jacke in die Höhe. „Du hast gezittert“, erklärte Leon gleichgültig, „kein Wunder bei den feuchten Klamotten, auch wenn deine spontane Selbstentzündung da ein wenig Abhilfe geschaffen hat. Aber sag mir, Ark, welcher halbwegs normale Mensch trägt feuerabweisende Kleidung?“ „Nicht normal“, entgegnete Ark und sprang zu Boden, um an seinem Freund vorbei zum Waschbecken zu schlendern und ihm dabei sein Eigentum über die Schulter zu werfen, „Pa-pa-paranoid!“ „Oh ja“, Leon rollte mit den Augen, „ich vergaß.“ „Also, schieß los“, begann Ark und stockte nur kurz, als er sich Wasser ins Gesicht schaufelte, „Hast du was rausgekriegt während meiner Pause?“   Leon entließ einen zustimmenden Laut und tippte mit dem Finger auf einen Stapel Papiere, der sich auf dem Schreibtisch angehäuft hatte: „Kennst du das Sprichwort ‚Zeig mir deinen Müll und ich sage dir, wie du lebst‘? Diese Akten enthalten Daten darüber, was im Laufe der Zeit hier unten so alles verbrannt wurde. Diese Bastarde haben eine Menge Dreck am Stecken. Und inzwischen wundert es mich nicht mehr, dass die Kacke zu dampfen begonnen hat.“ Ark strich sich die Haare zurück, doch durch das viele Wasser hatte sich das Gel verflüchtigt und einzelne Strähnen fielen ihm ungebändigt über die Augen, als er sich die Hände abtrocknete, sich auf den freien Stuhl sinken ließ und das oberste Blatt Papier zum Lesen an sich nahm. Einige Minuten nahm er sich Zeit dazu, die Zettel zu überfliegen, ehe er die Stirn runzelte: „Die haben sich ziemlich oft ihrer ‚Dryaden‘ entledigt, was? Ist das das Zeug, was sie in dieser unseligen Futterkammer gezüchtet haben? Ich glaube, die Lady hat was mit diesem Namen erwähnt.“   Leon nickte, ohne von seiner derzeitigen Lektüre aufzusehen: „Und ich kannʼs ihnen sogar nachfühlen.“ Als er den misstrauischen Seitenblick spürte, seufzte er und kniff sich in den Nasenrücken: „Ich habe das Biest auf einem der Monitore gesehen, Ark. Es ist eine Pflanze. Eine enorme Pflanze. Und sie kann sich frei fortbewegen. Wenn wir Glück haben, haben sie sich ihrer bereits entledigt.“ Er griff neben sich und schubste Ark ein flaches Buch zu, welches dieser ohne Anstrengung stoppte und aufschlug: „Aber ich möchte nicht drauf wetten, also halt auf jeden Fall die Augen offen, kapiert?“ Ark las die erste Seite des Notizbuchs. Es hatte offenbar einem der weniger einflussreichen Arbeiter gehört. Er blätterte hindurch, bis er auf eine recht aufschlussreiche Seite stieß, die keine Wettereinträge, unbeholfene Poesie, Zeichnungen einschlägiger sexueller Fantasien oder Impressionen des Tages enthielt. Stattdessen war ein Foto an ihr festgeklemmt, welches eine ganze Menge recht ungesund aussehender Menschen zeigte, die sich in einem großen Raum befanden. Ihre kohlrabenschwarzen Augen starrten alle in dieselbe Richtung und sie schienen auch in diese zu wandern. Er zog das Bild heraus und las den Text auf der Seite.   „‚Wir haben es endlich geschafft, ein paar der Drecksmeute in die Verbrennungsanlage zu locken! Diese Mistkerle sind so verdammt clever! Ich habe immer gedacht, Zombies seien hirnlos, aber unsere hier scheinen mehr Verstand zu haben als viele meiner Kollegen! Es ist, als ob sie wüssten, dass wir ihnen hier im Dutzend den Garaus machen können und sie deshalb diesen Ort meiden wie die Pest! Diesmal hat es auch nur funktioniert, weil wir Achmed und Stony als Köder losgeschickt haben. Die Herren Doktoren haben ihnen ja versichert, dass ihnen jemand die Hintertür aufmachen würde, sobald die Monster eingesperrt sind, aber dann haben sie es uns verboten. Sicherheitsrisiko und so. Und um ehrlich zu sein, hat sich auch keiner freiwillig gemeldet. Ich meine, wer ist schon so blöd und macht ʼne Tür auf, wenn er damit rechnen muss, im Nullkommanix zehn Zombies am Hals hängen zu haben?! Und außerdem war Achmed ein kleiner Aufschneider und Stony ... Stony schulde ich noch dreihundert Mäuse vom Pokern, deshalb war es wohl auch ganz gut so. Hat bestimmt sowieso beschissen. Hat doch keiner so viel Dussel wie der! Unnormal! Naja, auf jeden Fall haben wir uns so echt erleichtern können. Vielleicht kommen wir ja doch noch lebend raus! Schätze, sobald ich wieder Frischluft atme, mach ich ʼne Flasche für Achmed und Stony auf. Das haben die sich verdient.‘“   Er sah auf und in Leons ausdrucksloses Gesicht. Der Agent zuckte mit den Schultern und konzentrierte sich wieder auf den Monitor. Ark blätterte weiter zum nächsten Bild. Diesmal enthielt es Zombies und einen ganzen Schwarm umherschwirrender Wespen.   „‚Diese Jagden fangen fast an, Spaß zu machen! Heute sind uns sogar zusätzlich noch einige Amazonen in die Falle gegangen! Dabei ist der Köder dieses Mal lediglich Peters angefressenes Bein gewesen, das wir zum Glück schnell genug amputieren konnten, ehe sich TV in ihm verbreiten konnte. Diese Monster verzweifeln langsam! Geschieht ihnen recht! Sollen sie Hunger schieben, bis sie sich gegenseitig zerfleischen!‘“   Seufzend massierte er sich den Nasenrücken und bedachte Leon mit einem gequälten Blick: „Mal abgesehen davon, dass ich mir nicht vorstellen möchte, wie sie dem armen Peter sein Bein ‚amputiert‘ haben: Was meint er mit ‚TV‘? Ich glaube nämlich nicht, dass sie es geschafft haben, einen Fernseher zum Laufen zu bringen. Buchstäblich, meine ich. Unter normalen Umständen würde ich ja eine Abkürzung für ‚T-Virus‘ vermuten, aber der war doch zur Zeit der Gründung dieses Labors schon ziemlich veraltet, oder?“ „Ich habe einen Verdacht“, gestand ihm sein Freund, „aber ich bin mir noch nicht sicher. Es ist ziemlich weit hergeholt, zumal ich keinen blassen Schimmer habe, wie ... er ausgerechnet hier wieder auftauchen sollte.“   „Hm.“   Wieder blätterte Ark weiter. Das nächste Bild wies Zombies, Wespen und eine eigenartige raupenförmige Hecke auf. Er blinzelte verwirrt und hob das Foto näher ans Gesicht: „Was zum ...“ Stirnrunzelnd las er den Eintrag.   „‚Wir haben es geschafft! Wir haben die Dryade erwischt, die uns seit einer Woche das Leben schwermacht! Nimm das, du Miststück! Peter war der Köder und er hat durchgehend geschrien, bis seine Stimme versagt hat. Ziemlich dumm von ihm, aber es hat immerhin diese fleischfressende Mistsau angelockt! Eigentlich tut es mir leid um ihn, er war ʼn anständiger Kerl ... Zumindest solange, wie sich sein Verstand noch nicht verabschiedet hatte. Aber mal ehrlich, mit nur einem Bein hätte er uns andere nur behindert und-‘ Himmelarschundzwirn!“   Ark stöhnte entnervt, klappte das Buch lautstark zu und schmiss es zurück auf den Haufen: „Warum zum Geier lerne ich bei solchen Begebenheiten eigentlich nie Menschen mit erstaunlich ausgeprägter Nächstenliebe und überbordendem Verantwortungsgefühl kennen?! Heißt es nicht, man wachse in Extremsituationen über sich selbst hinaus?!“ Leon lächelte mitleidig: „Nun, das gilt für positive wie negative Tendenzen, Ark. Und außerdem, denkst du denn, anständige Menschen würden sich in abgelegenen Forschungseinrichtungen an ethisch so dermaßen fragwürdigen Projekten beteiligen?“ Er klopfte mit einem Kugelschreiber auf den Einband: „Aber hast du die Dryade gesehen? Merk es dir: Diese B.O.W. wirkt unscheinbar und harmlos, aber ich habe sie ohne besondere Schwierigkeiten drei ausgewachsene Männer verschlingen sehen. Gleichzeitig. Unterschätz das Biest also bloß nicht!“ Ark blinzelte ihn ein paarmal nachdenklich an, ehe er unsicher fragte: „Du meinst aber nicht ... dieses Gebüsch, oder?“   „Genau das. Das Ding lebt, Ark, und es ist schneller, als du dir vorstellen kannst! Vertrau mir! Ich weiß nicht, ob diese Dryade dieselbe ist, die ich gesehen habe oder ob es noch andere von der Art gibt, deshalb gib auf gar keinen Fall deine Deckung auf, klar?“   „Ja. Ja klar“, murmelte Ark in beschwichtigendem Tonfall, als wollte er einen Lebensmüden am Springen hindern, „Hecken! Wer kann ihnen schon trauen? Viele von ihnen kommen praktisch aus dem Nichts, wenn man nichtsahnend in eine Kurve fährt. Und so manch unschuldiges Haus wurde schon von ihnen umzingelt!“ Leon fixierte ihn scharf: „... Ark.“   Ark wollte sich darüber lustig machen. Er wollte nicht glauben, dass sie es geschafft hatten, ein verdammtes Stück Grünfläche in eine ernsthafte Bedrohung zu verwandeln. Aber er hatte genug gesehen, um zu wissen, dass Leons Sorge möglicherweise gerechtfertigt war. Und er hasste es, in einer Gesellschaft zu leben, die Angst vor ihren eigenen Gemüsegärten haben musste. Und zwar nicht in dem Sinne von reiner Einbildung, dass ein weniger gesetzeskonformer Mitbürger dort des Nachts auf der Lauer liegen und darauf warten könnte, eine unbewachte Bude ausräumen zu können, nein, aus viel profaneren Gründen in Gestalt einer wirklich plastischen Gefahr, namentlich einer hinterrücks angreifenden Umzäunung.   Er seufzte zum gefühlten tausendsten Male und ließ die Stirn in eine offene Hand sinken: „Ich habe verstanden. Sobald ich in diesem verfluchten Bau auch nur über ein Eckchen Natur stolpern sollte, werde ich um mein Leben rennen.“ Er meinte es todernst. Leon sah ihn noch einmal besonders eindringlich an, ließ es dann aber auf sich beruhen: „Okay. Nun, ich denke, ich habe hier alles gefunden, was uns weiterbringt. Ich glaube kaum, dass wir noch mehr brauchbare Beweise finden werden. Wie sieht es aus, fühlst du dich schon wieder fit genug, um weiterzumachen?“ Ark schnaubte verächtlich und stand auf: „Hey, ich bin dir nicht so sehr unterlegen, dass du mich wie ein kleines Kind behandeln musst! Lass uns gehen, in diesem stickigen Kabuff werde ich langsam klaustrophobisch!“ Leon lachte leise und erhob sich, um sich seine Jacke überzuziehen und einige der wichtigeren Dokumente einzustecken.   Ark wartete, nachdem er sich ebenfalls startklar gemacht hatte, an die Wand gelehnt auf ihn, als ihn plötzlich ein leichter Schwindel überkam. Für einen Moment wechselten messerscharfe und völlig verschwommene Sicht einander ab und dann wurde es ... Schwarz.   Das nächste, was er sah, war Leons besorgtes Gesicht in unmittelbarer Nähe: „Hey! Ark! Ist alles okay?“ Er blinzelte und bemerkte erst jetzt, dass er die Augen geschlossen hatte zu dem Zweck, sie mit den Handballen reiben zu können: „Huh ...? Ah ... Oh ... Ja. Klar. Wie gesagt, mir gehtʼs gut. Nur ʼn kleiner Schwindelanfall. Bin wahrscheinlich zu schnell aufgestanden.“ „Hm“, brummte Leon, nahm die Hände von seinen Schultern – Wann hatte er sie dort abgelegt? – und wandte sich zur Tür, „Vergiss nicht, dass wir uns aufeinander verlassen müssen. Sag mir frühzeitig, wenn sich dein Zustand verschlechtert, okay?“ „Dasselbe gilt für dich“, schmollte Ark pikiert, „Und jetzt geh schon. Ich will hier keine Wurzeln schlagen.“ Leon rollte mit den Augen und öffnete die Tür. Ark folgte ihm nachdenklich: „Hm, aber wo gehen wir jetzt hin? Sollten wir nicht langsam einen Weg nach oben suchen? Gib mal die Karte her, ich will sehen, ob ich was finde.“   „Ich möchte vorher noch einen letzten Ort überprüfen“, widersprach Leon und umrundete den Stapel Kisten, der neben der Tür aufgebaut war, nach links, „es gibt gleich gegenüber der-“ Er blieb so abrupt stehen, dass Ark beinahe in ihn hineingerannt wäre. Der Detektiv konnte gerade noch stehenbleiben und folgte stirnrunzelnd dem versteinerten Blick: „Meine Güte, was ist denn jetzt wieder? Können wir nicht mal fünf Schritte machen, ohne gleich wieder ... aufgehalten ... zu ... werden ...“ Seine Worte verflüchtigten sich. Und auch sein Wissen um das, was er sagen wollte.   Mit leicht geöffnetem Mund starrte er in die gleiche Richtung, die Leon eingeschlagen hatte. Dort, weiter hinten in dem Tunnel, den sie weit weniger tief in Erinnerung hatten, tummelten sich unglaublich viele Schatten, die lautlos sachte hin und her schwankten. Der Schein der Taschenlampen reichte nicht aus, um die Umgebung ausreichend zu erhellen, aber er schätzte sie auf eine ungefähre Höhe von eineinhalb Metern. Knisternde Geräusche drangen von ihnen hinüber. Arks Augen weiteten sich, als er erkannte, was sich dort in unmittelbarer Nähe befand.   Bos primigenius taurus. Paarhufer. Wiederkäuer. Braun bis Braunweiß, zumindest die wenigen Stellen Fell, die das ansonsten freiliegende verrottete Muskelfleisch oder das splitternde Skelett noch bedeckte. Gebisse aus unregelmäßig spitzen, zum Teil abgebrochenen Zähnen. Einige kauten gemächlich auf Gliedmaßen der Artgenossen herum. Pechschwarze Augen, die im Lichtschein aufblitzten.   Ark begann beinahe unhörbar: „K...“ Er brach ab, schluckte und flüsterte nur geringfügig lauter: „... Kühe ... Das sind Kühe ...“ Einige der hinteren, seltsam ausdruckslosen Köpfe hoben sich mit besorgniserregender Langsamkeit. Leon verspannte sich ahnungsvoll: „... Lauf ...“ Die vorderen Reihen setzten sich in Bewegung und machten einige wacklige Schritte auf sie zu, während sich hinten immer mehr Hörner Richtung der Stimmen erhoben. Arks Gesicht zeigte abgrundtiefe Fassungslosigkeit: „Das sind Kühe, Leon!“ Und die ersten Reihen sprinteten los.   „LAUF!!!“   Leon wirbelte um die eigene Achse, packte den immer noch versteinerten Ark am Arm und riss ihn mit sich, während er im halsbrecherischen Tempo die entgegengesetzte Seite des Tunnels hinunter stürmte. Hinter sich hörten sie ein ohrenbetäubendes Trampeln aufkommen, Zeichen davon, dass ihnen nun eine Herde von mindestens drei Dutzend untoter, halbverwester Pflanzenfresser auf den Fersen waren, die nach ihrem Blut dürsteten. Und ihre Anzahl wuchs.   „Scheiße“, schrie Ark den Tränen nahe, „was für Abartigkeiten lassen sich diese verdammten Hurensöhne eigentlich noch einfallen?!“ „Verdammt nochmal, spar dir den Atem und lauf“, keifte Leon schriller als je zuvor zurück.   Dann begann das Brüllen. Es fing an mit einzelnen animalischen Protestlauten, als wären einige wenige Exemplare der Gruppe unzufrieden mit den Tätigkeiten des Kollektivs. Die Lautstärke wuchs mit der Anzahl Unzufriedener und die Tonlage wurde ungleichmäßiger, schräger und unwirklicher.   Zu dem Zeitpunkt, an dem die gesamte Herde schrie, als wurden ihre Mitglieder gerade lebendig auf Spieße gesteckt, lief den beiden Flüchtenden bereits kalte Gänsehaut über den ganzen Körper. Sie rannten schneller und Ark rief über den ohrenbetäubenden Lärm hinweg: „Wo laufen wir überhaupt hin?!“ „Keine Ahnung“, kam die nicht minder leise Antwort, „aber auf jeden Fall weg von hier!“ Leons Blick huschte von einer Wand des Tunnels zur anderen: „Scheiße, gibt es hier keinen höher gelegenen Ort?! Wir müssen aus der Flugschneise raus!“   „Das hat doch überhaupt keinen Sinn! Diesen Viechern geht es nicht um die Richtung! Denen geht es um uns!“   „Und was schlägst du vor?!“   „Gibtʼs hier keine verdammte Seitentür?! Irgendeinen Verbindungsweg zurück zu unserem Ausgangspunkt?! Wir müssen diese Mördersteaks doch irgendwie umgehen können!“   „Keiner auf der Karte! Dieser Tunnel führt geradewegs zur ...“   Leon brach ab und blinzelte. Er sah zu Ark hinüber und beide riefen simultan: „Müllverbrennung!“ Hinter ihnen krachte und schepperte es. Sie vermuteten, dass das Vieh im blinden Wahn einige der umher stehenden Holzkisten gerammt und kurzerhand dem Erdboden gleichgemacht hatte, drehten sich jedoch nicht um um nachzusehen, aus Angst vor dem Anblick, der sich ihnen offenbaren würde. Ark sah sich zudem mit einem weiteren Problem konfrontiert. Ihm ging langsam die Puste aus.   „Scheiße, wie weit ist es denn noch?!“   „Weiß ich nicht! Auf der Karte sah es ziemlich lang aus!“   „Wozu braucht man einen so langen Tunnel zu einem Hochofen?!“   „KEINE AHNUNG! Hör auf, dich zu beschweren und LAUF!!!“   Es war schwierig, sich nur mit Hilfe selbstgetragener Taschenlampen, die bei jedem Schritt wippten, bei vollem Tempo den Weg durch völlige Dunkelheit zu bahnen, doch wenigstens versperrten ihnen, je näher sie ihrem Ziel kamen, immer weniger Barrikaden die Strecke, was vermutlich daran lag, dass sie bereits vorher dazu verwendet worden war, Scharen von Untoten hindurch zu leiten, anstatt sie aufzuhalten.   Endlich, nach mehreren Minuten Hochgeschwindigkeitsmarathon, erfassten die Lichtkegel die Flügel eines gewaltigen Stahltors, in welches quer ein dicker Holzbalken geklemmt war. Ohne groß darüber nachzudenken, hasteten sie ober- und unterhalb davon in die riesige Halle dahinter, blieben aber nicht stehen. „Wie gehtʼs jetzt weiter?!“, rief Ark, eiligst bemüht, Abstand zwischen sich und den Eingang zu bringen, „Wie haben die Typen die Tür hinter sich verriegelt?!“ Doch ehe er eine Antwort erhalten konnte, stürmte die erste Welle mordgieriger Kühe die Halle. Und diese hielten sich nicht damit auf, den Balken zu umgehen, sondern brachen mitten hindurch, rissen ihn ein und zertrampelten das Holz unter ihren Klauen zu kümmerlichen Splittern. Stahl knackte und plötzlich erstrahlte rotes, schummriges Licht.   „Biomasse Risikostufe eins geortet. Dekontaminierung wird eingeleitet. Bitte evakuieren sie den Einzugsbereich. Ich wiederhole-“   Die Freunde sahen zur Decke empor, aus der die bekannte Frauenstimme erklungen war und stöhnten einstimmig.   Durch den Widerstand waren einige Tiere zu Fall gekommen und andere über sie gestolpert, sodass die Nachzügler dankenswerterweise von den umherliegenden Körperteilen und den zuckenden Kadavern kurzzeitig abgelenkt wurden. Ark und Leon blieben in respektvollem Abstand im schattigen Schutz eines Stahlträgers stehen und schnappten nach Luft. „Wie kommen wir an ihnen vorbei?“, wollte der Detektiv nachdrücklich wissen. „Gute Frage. Ich denke drüber nach“, krächzte Leon.   „Denk schneller! Die ersten suchen schon wieder nach uns! Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie unsere Witterung aufneh-“   „Türverriegelung wird eingeleitet in Zehn ... Neun ... Acht ...“   Die beiden rissen die Augen auf, als sich die Flügel in Bewegung setzten und sich langsam, aber unerbittlich aufeinander zu bewegten. Leon packte Ark erneut am Arm und wollte ihn mitziehen, um auf direkten Kollisionskurs mit der Herde zu gehen, doch Ark riss ihn unsanft zurück, stieß ihn gegen den Pfeiler und zischte wutentbrannt: „Hast du den Verstand verloren?! Was soll das werden?!“   „Wir müssen es riskieren! Sie sind irritiert und abgelenkt, wir können zwischen ihnen durchlaufen!“   „... Fünf ... Vier ...“   „Und was dann?! Sie werden uns folgen! Vielleicht nicht alle, aber bei diesen Monstern reicht eine Handvoll völlig aus! Was ist, wenn sie die Tür verkeilen?! Kannst du versichern, dass sie dadurch nicht wieder aufgeht?! Wir schaffen den Weg zurück nicht, Leon!“   „Und was schlägst du vor?!“   „... Äh ... Ich ... ich ...“   „... Zwei ... Eins ...“   Ark ballte die Faust noch fester um Leons Revers, kniff die Augen zusammen und knirschte mit den Zähnen, während sein Gehirn auf Hochtouren arbeitete. Plötzlich blinzelte er: „... Hintertür.“ Er sah Leon groß an und riss ihn mit sich: „Die Hintertür! Im Buch stand irgendwas von einer Hintertür!“ Er stieß seinen Freund in die gegenüberliegende Richtung, während er selbst zur nächstliegenden Wand rannte und sie ableuchtete: „Wir müssen sie finden! Beeil dich!“ Doch es war eine unnötige Aufforderung, denn Leon hatte es schon bei der ersten Erwähnung begriffen und lief los.   „Türverriegelung abgeschlossen. Verbrennung wird eingeleitet.“   Plötzlich ertönte ohrenbetäubender Krach, als sich von allen Seiten Schleusen öffneten und es von den Wänden metallisch widerhallte, als würden starke Turbinen angelassen. „Hintertür“, raste es Ark verzweifelt durch den Kopf, „Hintertür. Wir müssen die verdammte Hintertür finden!“ Meter für Meter arbeitete er sich vor, so leise wie möglich, um die durch die Umgebungsgeräusche aufgeschreckten Zombiekühe nicht auf sich aufmerksam zu machen. Doch seine Suche wurde nicht von Erfolg gekrönt.   „Verbrennung beginnt in Dreißig ... Neunundzwanzig ... Achtundzwanzig ...“   „WO IST DIESE GOTTVERDAMMTE HINTERTÜR?!“   „ARK!!!“   Er schwang herum, als er Leons aufgeregte Stimme vernahm und sprintete ungeachtet der Gefahren, die auf dem Weg lauerten, los. Er hatte sie gefunden!   „... Neunzehn ... Achtzehn ... Siebzehn ...“   Er rannte in die Richtung, die ihm Leons Taschenlampe vorgab, doch als er an dem vorletzten Pfeiler vorbeipreschte, sah er aus dem Augenwinkel eine Kuh, die auf ihn zu galoppierte. Seine Augen weiteten sich, als sie das Maul aufriss und ihm entgegensprang. Sein Sprint hatte ihm zu viel Schwung verliehen und er wusste instinktiv, dass er ihrem Biss nicht mehr ausweichen konnte. Plötzlich hallten mehrere Schüsse durch die Luft und die Kugeln, die sich seitlich durch ihren Kopf bohrten, traten mitsamt Blutfontäne und Fetzen modrigen Fleischs auf der anderen Seite wieder aus. Die Wucht des Aufpralls warf ihren gesamten Hals zur Seite und brachte sie aus dem Gleichgewicht, sodass er wertvolle Sekundenbruchteile gewann, um sich auf den Boden zu werfen und sich unter dem schweren Geschoss hinweg zu rollen. Es brauchte all seine Kraft, um nicht in der Hocke stehenzubleiben, sondern sich wieder abzustoßen und weiter zu rennen und im nächsten Moment hörte er, wie sich die Artgenossen auf den Kadaver stürzten. Er drehte sich nicht um, sondern spurtete die letzten zwanzig Meter zu Leon hin, der seine Waffe gerade wieder einsteckte und fiel keuchend gegen die Wand. „Danke“, ächzte er außer Atem und nicht nur der Anstrengung wegen.   „Keine Ursache.“   Die Hintertür war niedrig und schmal und so konzipiert, dass man sie zur Seite schieben musste, um sie zu öffnen. Ark hakte die Finger in den Türgriff und zog, doch nichts geschah. Sie war abgeschlossen. Was hatte er auch erwartet?   „... Zehn ... Neun ...“   Panik fuhr ihm ins Gebein, doch er hielt sich nicht mehr damit auf, vernünftig zu denken. Sie hatten keine Zeit mehr, nach irgendwelchen Schlüsseln zu suchen, keine Zeit, andere Auswege zu finden und sicher keine Zeit mehr, sich von verschlossenen Türen aufhalten zu lassen! Er griff über seine Schulter, riss die Schrotflinte aus ihrem Halfter, zielte auf das Schloss und feuerte. Erst nach dem fünften Treffer knarzte das schwere Metall und glitt einen winzigen Spaltbreit auf, offenbar zu verrostet, um sich vollständig zu öffnen. Er steckte die Waffe weg und schob seine Finger ohne zu Zögern in den Spalt. Leon brauchte keine Aufforderung, um sich an ihn zu drücken und es ihm gleichzutun.   „... Sechs ... Fünf ... Vier ...“   „Komm schon“, presste Ark durch zusammengebissene Zähne hervor, während sie mit vereinten Kräften zogen, „geh auf ... du ... verschissenes ... Ding!“ Beide ächzten vor Anstrengung. Zu allem Überfluss hatten die Schüsse die Monster auf sie aufmerksam gemacht und sie näherten sich nun torkelnd. Schweiß lief Ark die Wangen hinunter: „Geh ... auf ...“   „... Zwei ... Eins ...“   Arks Pupillen verengten sich zu Schlitzen: „GEH AUF!!!“ Und mit einem haarsträubenden, langgezogenen Quietschen folgte die Tür der Zugkraft, sodass sie mit den Beinen gegensteuern mussten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Sie stießen sich energisch ab, stürzten durch den entstandenen Durchgang und wichen blitzschnell zur Seite aus. Der Kopf einer Kuh, die die nachrückenden Artgenossen ohne Rücksicht durch das für sie viel zu kleine Loch gequetscht hatten, flog zwischen ihnen hindurch in den Gang. Ark schlug mit dem Rücken hart gegen die Wand, stieß sich jedoch sofort wieder ab in Schubrichtung der Tür und drückte sie mit einer solchen Kraft zu, dass er das im Weg liegende Fleisch einfach zerquetschte.   Es war in allerletzter Sekunde, denn gleich darauf ertönte ein lauter Knall und ein Rauschen, als würde ein Tsunami über sie hereinbrechen. Nicht nur das. Ark, der sich von der Tür nicht schnell genug hatte zurückziehen können, zuckte mit einem schmerzerfüllten Schrei zusammen und ballte seine vom in Sekundenbruchteilen aufgeheizten Metall verbrannten Hände an der Brust zu Fäusten, während er rücklings zur Seite stolperte. Panisches animalisches Brüllen, ohrenbetäubendes Getöse, gelegentliches Knacken der Wände und lautes Knistern erfüllte die Luft.   Sie lagen schweigend am Boden und konzentrierten sich darauf, ihren rasenden Puls wieder unter Kontrolle zu bringen, von der völlig durcheinandergeratenen Atmung ganz zu schweigen.   Nach schier unendlich andauernden Minuten legte sich der Lärm schließlich und bald darauf war alles, was sie noch hörten, ihr eigenes Keuchen.   „... Ark?“   „... Ich schwöre dir ... wenn du mich fragst, ob ... ich in Ordnung bin ... reiß ich dir die Zunge raus ...“   „... Okay.“   Wieder rührte sich eine Zeitlang keiner von beiden.   „... Das waren Kühe, Leon.“   „Kann ich nicht bestreiten.“   Ark rieb sich stöhnend über die Augen: „Ich hasse dich. Du bist schuld, dass ich jetzt eine Kuh nie wieder als Kuh werde ansehen können.“ Leidend strich sich Leon durchs Haar: „Hör mal, ich-“ Doch man unterbrach ihn rüde: „Ich mag Milch, klar?! Ich werde nicht auch noch auf meine Frühstücksmilch verzichten! Oder auf Butter! Oder Käse! Ich ess ja schon kein Fleisch mehr!“ Der Agent blinzelte überrascht: „Du bist Vegetarier?“ Ark drehte den Kopf und blitzte ihn wütend über die Schulter hinweg an: „... Frag nicht. Wenn du fragst, müsste ich dir weh tun.“ Er ließ seine Stirn schweigend in seine ineinandergelegten, zittrigen Hände sinken.   Unterdessen atmete Leon noch einmal besonders tief durch und stemmte sich dann mühsam in die Höhe. Sie konnten nicht ewig liegenbleiben. Der Auftrag erledigte sich nicht von allein und wer konnte schon sagen, wann endlich ihre Unterstützung eintreffen würde? Arks nächste, leise und gedämpft klingenden Worte ließen ihn aufhorchen: „Sie haben es wirklich geschafft, die friedlichste, freundlichste, sanftmütigste Spezies des ganzen verdammten Planeten in blutrünstige Ungeheuer zu verwandeln. Das geht verdammt nochmal zu WEIT!“ Er schlug eine Faust so fest auf den Boden, dass eine Delle entstand und winzige Bröckchen Beton durch die Gegend sausten. Leon verzog besorgt das Gesicht. Das Alter hatte das Bauwerk offensichtlich brüchiger gemacht, als es den Anschein hatte. Er ging zu seinem Freund und packte ihn am Oberarm, um ihm aufzuhelfen: „Es hat doch keinen Sinn, ihre Moral in Frage zu stellen. Sind deine Hände in Orrrrrrrr ... Meine, bist du verletzt? Du hast vorhin ganz schön geschrien ...“   Ark wischte sich über die Stirn und klopfte seine Kleidung ab. Dann spreizte und ballte er mehrmals die Finger und brummte nachdenklich: „Hab auch befürchtet, Schlimmeres abbekommen zu haben. Es hat sich so verbrüht angefühlt, ich dachte schon ... Ach, was sollʼs. Hab sie wohl doch schnell genug weggezogen.“ Seine Handflächen wiesen keinerlei Verbrennungserscheinungen auf und Leon schnaufte erleichtert: „Das ist gut.“ Er wandte sich in die offene Richtung des engen Ganges, der sich vor ihnen erstreckte und wies hinein: „Wie praktisch. Laut Karte führt die Strecke parallel zum Tunnel den ganzen Weg zurück und endet in dem Areal, das ich mir vor diesem ganzen Rinderwahn habe ansehen wollen. Also los jetzt, wir haben schon genug Zeit vergeudet!“   Ihre Silhouetten verloren sich in der Dunkelheit, als sie loswanderten. Nur eine stetig leiser werdende Unterhaltung hallte noch etwas länger an den Wänden wider, während sie sich von dem Ort des Schreckens entfernten.   „Das war mit Abstand die verstörendste Erfahrung meines Lebens.“   „Was ist mit Sheena?“   „Ich sagte die verstörendste, nicht die grauenhafteste.“   „... Okay ...“   „Das ist ein Unterschied!“   „Okay!“   „...“   „...“   „... Du hältst mich aus, nicht wahr? Du denkst, ich sei schwachsinnig!“   „Nein, verdammt, ich halte dich nicht aus und hielte ich dich für schwachsinnig, hätte ich dich kaum um Hilfe gebeten!“   „Dann muss ich wohl noch ein wenig an meinem miesen Ruf arbeiten, damit nicht nochmal jemand auf die idiotische Idee kommt, mich für irgendwelche Schlachtfeste anzuheuern, hm?“   „Jesses ... Wo ist nur der freundliche, pflegeleichte Ark von damals hin verschwunden?“   „Hat sich wohl mit dem gerechtigkeitsliebenden, grundehrlichen Leon aus dem Staub gemacht.“   Niemand war Zeuge, als sich ein großer Schatten aus einem der Lüftungsschächte zwängte, sich über den abgetrennten Tierschädel legte und beim Weiterziehen nur einen kleinen Haufen bleicher Knochen zurückließ. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)