9 mm - Blut und Schweiß von Luca-Seraphin ================================================================================ Kapitel 3: 3 ------------ Jens entspannte sich erst, als der Motor des schwarzen MAN-Trucks startete. Er ließ sich tiefer in das noch neu riechende Polster sinken. Unter ihm rieb der glatte Kunststoffbezug gegen Pulli, Hose und Kettengürtel. Ein angenehmes Gefühl ging davon aus, das sich nicht richtig einordnen ließ. Sicherheit? Nein, nicht wirklich. Aber es hatte etwas von der Erinnerung an Zuhause. So roch und fühlte sich damals auch der neue Wagen seines Vaters an. Damals, als sie noch eine Familie waren. Paradox. Das war ewig lang her, in einem anderen Leben. Aber in dieser Zeit war die Welt noch in Ordnung gewesen. Er schüttelte den Gedanken ab und schob den schmuddeligen Rucksack zurecht, der zwischen seinen Füßen stand. Obwohl der Typ gesagt hatte, er solle ihn nach hinten werfen, konnte Jens es nicht. Darin war alles Wichtige, auch die Waffe. Als sie von der schmalen Lücke auf den Weg rollten, sah er nach draußen. Er konnte er den schmuddelig braunen Lada nicht mehr erkennen. Vielleicht war es ganz gut, dass die Karre hier verreckt war. Besser so, als dass die Bullen ihn mit dem geklauten Wagen anhielten. Das hätte bitterböse ins Auge gehen können. Obwohl … wahrscheinlich vermisste keiner die alte Kiste. Der Lada hatte mindestens 25 oder 30 Jahre auf dem Buckel. Die Vibrationen des Motors unter ihm fühlten sich gut an. Es ging voran, weg von München, weg von Marcos Leiche, weg von der toten Polizistin. Er wollte damit nichts mehr zu tun haben. Unter dem Pulli klebte das blutige T-Shirt an seiner Brust. Jens schwitzte. So würde das Zeug nie trocknen. Warum hatte er das scheiß Hemd nicht einfach ausgezogen und weggeworfen? Ekelhaft! Allein die Vorstellung, dass das Blut auf seiner Haut trocknete, rief tiefe Abneigung hervor. Am liebsten wollte er sich das Shirt über den Kopf ziehen und von sich schleudern. Nachdem der Lada sein Leben ausgehaucht hatte, war es wichtiger, sich eine andere Möglichkeit abzuhauen zu suchen. Er musste schnell weg, je weiter desto besser. Scheiße eigentlich. Er warf dem Fahrer einen Blick zu. Wenn die Karre nicht extrem gut klimatisiert war, würde es elend heiß werden und der Typ würde sich wundern, weshalb er den Pulli nicht auszog … ach verdammt! Er knäulte sich auf dem Sitz zusammen. Dort wo sich der Fleck befand, hatte er das Gefühl, dass seine Haut kribbelte, heiß wurde, sich entzündete und … Nur nicht daran denken! Was war jetzt wichtiger? Weit weg von Bayern sein, mindestens zwei, drei Bundesländer zwischen sich und die Leichen bringen. Die Klamotten konnte er auf einem Rasthof-Klo loswerden. Gänsehaut bildete sich. Die Härchen auf seinen Unterarmen richteten sich auf. Mit dem Schauder kehrte der Widerwille zurück, die innere Wand aus dunstigen, abweisenden Emotionen. Der Typ fährt nach Berlin. Jens drängte seine Gefühle in eine andere Ecke. Denken half. Berlin – das war an sich gut. Vor einigen Monaten kamen Briefe und Karten mit dem Berliner Poststempel von seinem Bruder Till - Zottel. Bei dem konnte er hoffentlich für eine Weile bleiben. Blieb die Frage, ob Till sich dort noch herumtrieb? Vielleicht war er auch weiter gezogen, nach Potsdam, Frankfurt an der Oder, Schwerin, Rostock oder über die Grenze nach Polen. Scheiße, selbst das wusste Jens nicht wirklich. Er hatte keine Gelegenheit gehabt mit Till zu sprechen. Sein Bruder besaß kein Handy. Er konnte es nirgends aufladen; nicht in seiner Bauwagen-Bude, die weder Strom noch warmes Wasser hatte. Wie konnte er ihn erreichen? Vielleicht über die Punks am Alex? Sicher war diese Informationsquelle nicht. Ach verdammt! Alles Mist! Er schob seine Kapuze zurück und lockerte das hässliche Basecap, das er in seiner Panik von Marco mitgenommen hatte. Unter dem Schweißband juckte seine Haut. Bis hierhin hatte es ihm trotz allem gute Dienste geleistet. „Nimm die Füße vom Sitz!“ Was? Jens sah irritiert zu dem Fahrer. Erst jetzt merkte er, dass er beide Beine angezogen und auf die Sitzkante gestellt hatte. Der Typ warf ihm einen pissigen Blick zu. Wenigstens wirkte es im Licht der Armaturen so. Scheiße, ist der mies drauf! „Ja. Okay.“ Jens gehorchte und streckte beide Beine in den weiten Fußraum des Trucks. „Besser?“ Der Typ antwortete nicht, sondern starrte auf die dunkle, leere Autobahn. Ach fuck! Er verdrehte sich für diese Flucht. Normalerweise wäre es Jens egal gewesen. Er hätte eher noch mehr gemacht um aufzufallen, aber unter den gegebenen Umständen käme jede unnötige Aufmerksamkeit einem Genickbruch gleich. Wenn er es übertrieb, konnte er sich gleich der Polizei stellen. Der Typ war sein Ticket in die Freiheit und er musste nicht mal was dafür zahlen. Jens‘ Blick strich über die wuchtige, bullige Gestalt. Eigentlich sah der Kerl nicht aus wie die Trucker, mit denen er oft von Hamburg aus nach Frankreich, Italien, Tunesien oder Spanien gefahren war. Dafür hatte der Typ eine zu gute Figur: groß, muskulös, trainiert, auf eine kantige, grobe Art anziehend. Außerdem war er tätowiert, trug Hornohrringe, Piercings, hatte einen Sidecut und einseitig langes, helles Haar. Wasser rann aus den einzelnen Strähnen und durchweichte das Muscle-Shirt. Scheinbar hatte er die Gothic-oder Metallerzeiten der Endachtziger und Neunziger vollständig mitgenommen. Gerade weil er nicht mehr so jung sein konnte, wirkte er markant, grimmig, einfach nur sehr geil. Andererseits vermittelte der Type eine deutlich wahrnehmbare Anspannung, die sich in seiner Haltung und seinen Zügen abzeichnete. Sein breiter Kiefer mahlte. Er wirkte wütend. Wahrscheinlich bemerkte er es nicht. Das machte ihn umso heißer. Was, wenn er mit sich rang, den nächsten Parkplatz ansteuerte und … Marco. Erneut fühlte Jens tiefen Ekel; dieses Mal auch vor seinen Überlegungen. Marco war tot. Trotz allem blieb der Wunsch nach etwas mehr Sicherheit zurück. Dieser große Kerl vermittelte sie, warum auch immer. Vielleicht lag es daran, dass er den Eindruck machte, nichts könne ihn erschüttern. Einen solchen Mann bekam man nicht als One-Night-Stand in einem Club ab, anders als Marco. Er war schon das Beste im Candy Club an der roten Sonne. Ach Scheiße, er hätte sich einfach nicht von Marco abschleppen lassen sollen! Jens schloss die Augen. Abweisen konnte er ihn nicht. Sie wollten es beide, sofort. Dieser hübsche Kerl war so offen und heiß gewesen. Für Marco gab es keine Tabus. Er machte es überall, wo er wollte, und er schämte sich für nichts. Es gefiel ihm, beobachtet zu werden. Er war durch und durch ein Exhibitionist. Allein das war unglaublich. Ihr Fick im Hausflur einer schmuddeligen Klitsche aus der Weimarer Republik - Marco hatte es scharf gemacht, weil sich die Leute darüber lautstark aufregten. Es war total geil gewesen. Aber alles danach … Jens vergrub das Gesicht in den Händen. Fuck, echt … Er fühlte sich elend. Wenigstens quasselte sein Fahrer ihn nicht voll, wie es andere gern taten. Der Typ hielt das Maul und fuhr nur. Selbst die Mucke ging, auch wenn Jens Metal nicht sonderlich mochte. Wenigstens lief kein Hit- oder Schlager-Radio. Radio?! Der Gedanke ließ ihn zusammenfahren. Sicher hatte die Polizei eine Suchmeldung zu ihm rausgegeben. Es würde bedeuten, dass alle Stadtausgänge, Bahnhöfe und der Flughafen in München überwacht wurden; wenigstens machten es die Fernseh-Kommissare so. Blieb nur zu hoffen, dass nach erfolgloser Suche nicht auch die Autobahnen gecheckt wurden. Das wäre richtig Scheiße. Jens ließ die Hände sinken, blinzelte und sank wieder in die Polster zurück. Hoffentlich ging alles gut. Er wandte den Kopf, starrte zum Beifahrerfenster und wartete auf die nächste Abfahrt. Danach kam bekanntlich immer eine Entfernungstafel. Als sie einen Moment später Pfaffenhofen passierten, kroch dumpfe Angst in seine Glieder und setzte sich in seiner Brust fest. Immer noch so dicht an München! Warum konnte der Kerl nicht mit einem BMW unterwegs sein? Auf dem phosphoreszierenden Schild stand Berlin - 550 km bis Berlin … Verdammter Mist. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)