9 mm - Blut und Schweiß von Luca-Seraphin ================================================================================ Kapitel 8: 8 ------------ Überrascht warf Christoph Jens einen Blick zu. Der junge Mann kauerte im Sitz und wirkte klein und schutzlos, auch wenn beides nicht auf ihn zutraf. Jens rang nach Luft. „Ich bin mit ihm gegangen, schließlich hatte ich nichts, wo ich hätte pennen können. Ich war ja eigentlich auf dem Weg nach Süden.“ Er schob seine Kapuze zurück und nahm mit der linken Hand das Basecap ab, was so gar nicht zu ihm passte. Mit dem Handrücken wischte er sich die Schweißperlen von der Stirn. Seine Finger zitterten. Trotz allem klammerte er sich noch an die Waffe. „Marco war ein Exhibitionist. Es hat ihn geil gemacht, wenn ihn jemand beim Ficken beobachtet hat. Er ging ab … unglaublich.“ Jens hob die linke Hand, behielt die rechte aber auf der Pistole. „Ich glaube, zwischen dem Candy und seiner Wohnung haben wir uns schon so aufgegeilt …“ Er unterbrach sich. „Mir hat noch keiner in der Tram einen runter geholt und sich dabei selbst befriedigt.“ Christoph schwieg. Was sollte er dazu sagen? Er hatte schon ganz andere Sachen gemacht. Im Regen an einer Bushaltestelle, im LKW, auf Rastplätzen, in öffentlichen Duschen, in Toiletten, im Schwimmbad, in Telefonzellen, als Teenager sogar im Klassenzimmer auf dem Lehrerpult und in der Sporthalle; es gab tausende Orte, die die Lust anheizten und für Ärger sorgten. Aber das war sicher nicht der Grund, weswegen Marco sterben musste. Jens direkt zu fragen wäre sicher in seinem momentanen Redefluss nicht klug gewesen. Er gefiel sich in der Rolle des Sex-Schockers. Sollte er, Christoph konnte warten. „Marco war wirklich hübsch. Er diese dunkle Haut und helle Haare. Wenn du ihn gesehen hättest, du wärst nicht auf den Gedanken gekommen, was er so alles reißt. Er kannte einfach kein Ende.“ „Marco war sicher in deinem Alter, da ist es normal, dass man alles mitnimmt und auslebt.“ Jens knurrte leise. „So scheiße bin ich nicht, klar?“ Der Spruch kam falsch an. Christoph nickte. „Das habe ich auch nicht gesagt. Ich meinte, dass Marco alles erleben wollte, besonders wenn er in einem biederen Umfeld gelebt hat.“ „Bieder?“, wiederholte Jens nachdenklich. „Da triffst du den Punkt. Giesing ist schmierig und widerlich verlogen. Die sind alle so furchtbar …“, er stockte und hob schließlich die Schultern, „mir fällt kein passender Begriff ein.“ „Für dich sind die Leute in der Zeit stehen geblieben. Sie stören sich an allem, was jung und wild ist.“ Christoph kannte das Gefühl selbst zu gut. Er konnte nachempfinden, was Jens und Marco gedacht und gefühlt hatten. Ihm ging es bis heute nicht anders. Ausgerechnet seine Generation war die altbackene, brave, die Extravaganzen und sexuelle Selbstfindung nicht akzeptierten. „Du hast recht“, murmelte Jens träge. „Ich weiß.“ Christoph konzentrierte sich wieder auf die Straße. Nach einer Weile drang Jens‘ leises Schnarchen zu ihm. Erschöpft, vollkommen. Jetzt wäre der passende Moment abzufahren, um anzuhalten. Dann hatte Christoph eine Chance ihm die Waffe vorsichtig abzunehmen. Vermutlich war das nicht die klügste Idee. Langsam öffnete sich Jens ihm gegenüber. Dieses Vertrauen konnte er nicht missbrauchen. Es war noch viel zu instabil. Trotzdem brauchte Christoph eine Pause. Er musste den Schreck überwinden und dringend mit Dariusz reden. Vielleicht konnte er ihm helfen, etwas über die Morde in Erfahrung zu bringen und die Situation so weit zu klären, dass sie etwas von ihrer Brisanz verlor. Auch wenn Christoph sicher war, dass Jens ohne Vorsatz an die ganze Sache herangegangen war, blieb immer noch die Option auf Totschlag im Affekt und das machte den jungen Mann durchaus zu einem gefährlichen Faktor. Wenigstens hatte die Polizei bisher ihre Fahndung noch nicht auf die Autobahn ausgedehnt – oder Christoph fuhr den Ermittlern gerade davon. Sicher hatte eine Streife den alten Lada, den Jens geknackt hatte, auf dem Rasthof-Parkplatz entdeckt. Es war klar, dass eine Großfahndung eingeleitet werden musste, etwas, das auch Christophs Plänen quer schoss. Er konnte es gar nicht gebrauchen, mit dem Fall in Zusammenhang gebracht zu werden. Das wäre zum aktuellen Zeitpunkt das allerletzte! Zusätzlich steckte er im Verkehr fest. Ärgerlich presste er die Kiefer aufeinander. Vielleicht hätte er vorhin auf Dariusz hören und die Dusche aufschieben sollen. Dann wäre er Jens nicht begegnet und er wäre erst bei Nürnberg in den Stau gekommen. Mit etwas Glück lief der Verkehr nach der Spurerweiterung gleich wieder wie er sollte. Leider flammten die Rücklichter des Tankwagens auf. Erneutes Stehen … Wenn Dariusz nicht irgendwo auf ihn wartete oder bereits hinter ihm war – was Christoph bezweifelte – so würde er auf der Raststätte sicher vor Nervosität und Sorge Rillen in den Boden laufen. Er musterte Jens, der im Sitz hing, beide Hände im Schoß gefaltet, die Pistole lose unter seinen Fingern. Sein Kopf ruhte auf der Brust. Momentan wirkte er entspannt. Stark verblasste grüne Strähnen fielen ungewaschen in seine Stirn. Er hatte einen unsauber geschnittenen Iro, der traurig herunter hing. Beide Schädelseiten waren von hellblondem Flaum überzogen. Die Farbe trat mit Jens‘ rotem Bartschatten in Konkurrenz. Alles in allem kein hässlicher Mann, aber auch kein schöner – ungepflegt eben. Aber das tat nichts zur Sache. Jens war am Ende seiner Belastbarkeit angekommen. Viel länger hätte er nicht mehr durchgehalten. Langsam floss der Verkehr weiter. Christoph schaltete die Automatik um und rollte an. Nach etwa drei Kilometern lief alles halbwegs normal. Trotz allem fuhr er auf den Parkplatz Offenbau ab. Um diese Uhrzeit waren die meisten anderen Fahrer bereits unterwegs. Die wenigen Fahrzeuge in den schräg angelegten Parkbuchten beruhigten Christoph. Hier konnte er zwei Dinge tun: Dariusz über sein privates Handy anrufen und danach die Toilette aufsuchen. Die Reifen holperten über den unebenen, gerissenen Asphalt bis in einen der Parkplätze. Christoph hielt so, dass der starke Baum- und Buschbewuchs sie vor der Autobahn schützte. Als der Motor erstarb, wurde Jens unruhig. Er wand sich im Sitz, beruhigte sich aber wieder. Das war der Moment, sich auf den Weg zu machen. Christoph zog den Schlüssel ab und öffnete die Tür. Mit etwas Pech schreckte Jens hoch, sobald sie ins Schloss fiel. Dieses Risiko musste er eingehen. So leise wie möglich stieg er aus, sprang auf den Asphalt und ließ die schwere Tür sacht zufallen. Drin rührte sich nichts. Gut so. Zum ersten Mal seit Jens zugestiegen war, konnte Christoph aufatmen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)