Verloren und Gefunden von Winterwolke ================================================================================ Kapitel 2: Unerfreuliches ------------------------- Das Turnier hatten sie gewonnen, natürlich. Die Bladebreakers waren immerhin der amtierende Weltmeister. Es war ihr erster Wettkampf ohne ihren Teamcaptain und auch wenn Kenny formal diese Aufgabe als der "Chef" übernommen hatte: Es war einfach nicht das gleiche gewesen und würde es nie wieder sein. Sie hatten die Gegner, das zweitbeste Team in Europa, ohne größere Schwierigkeiten besiegt, doch immer wieder kam die Frage auf, warum sie nur zu viert angetreten waren. Die Frage wurde mit der Zeit immer lästiger. Nach dem Turnier kehrten sie abends in das Hotel zurück. Trotz des Sieges waren die Freunde deprimiert. Dieser Ausflug nach Russland war niederschmetternd gewesen und hatte alte Wunden aufgerissen. Sie alle waren froh, dass es morgen wieder nach Japan zurückgehen sollte. In der Eingangshalle des Hotels erwartete sie jedoch eine Überraschung: In der Lobby stand Mr. Dickenson und unterhielt sich mit einem Unbekannten. Eigentlich war ihr Manager in Japan geblieben; sie waren nur zu einem kleinen Wettstreit angetreten, bei dem die Anwesenheit des BBA-Mannes nicht vorausgesetzt wurde. Was machte er hier? Und wer war dieser Unbekannte? Doch sobald er sie sah, kam der rundliche Mann auch schon auf seine Schützlinge zu. "Tyson, Kenny, Max, Ray - schön euch zu sehen. Wie lief euer Turnier?" "Wir haben gewonnen...", antwortete Max lahm mit einer vagen Handbewegung. Sie alle fragten sich, was er hier tat, aber viel mehr noch interessierten sie sich für seinen Gesprächspartner. Die Person - es war nicht herauszubekommen, ob es ein Mann oder eine Frau war - war größer als Dickenson und vollständig in einen schmutzig grauen Umhang gehüllt. Wer trug denn heutzutage noch einen Umhang? Klar, es war November und es schneite seit zwei Tagen durchgehend, doch das war kein Grund, SO herumzulaufen. Mr. Dickenson lenkte ihre Aufmerksamkeit schnell wieder auf sich, als er sagte: "Ihr wundert euch sicher, warum ich hier bin. Ich habe, kurz nachdem ihr aufgebrochen seid, einen dringenden Anruf bekommen und musste hier etwas erledigen. Wenn ihr kurz in der Bar auf mich wartet, werde ich euch alles erklären. Ich verabschiede nur noch kurz unseren Gast." Mit einer ausladenden Bewegung deutete er auf den Unbekannten, der das Geschehen abseits verfolgt hatte. Er ging wieder hinüber und sie wechselten flüsternd ein paar Worte. Der Unbekannte nickte und ging dann langsam zu den Aufzügen. Das schwerfällige Humpeln entging den Bladebreakers nicht, doch bevor sie sich weitere Gedanken dazu machen konnten, wurden sie auch schon von Mr. Dickenson in die Bar gescheucht. Sie setzten sich an einen abgelegenen Tisch und warteten auf eine Erklärung. "Ich würde euch ja fragen, wie euer Wettkampf war, aber ich kann in euren Gesichtern lesen, dass ihr unbedingt wissen wollt, was los ist." Freundlich lächelte er seine Schützlinge einzeln an und räusperte sich: "Also, wo soll ich anfangen? Vorgestern, nachdem ihr aus Tokio abgeflogen seid, habe ich einen Anruf von der europäischen Geschäftsstelle der BBA bekommen. Man teilte mir mit, dass Voltaire bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist." Die vier Freunde schnappten schockiert nach Luft. Kais Großvater war bei einem Autounfall gestorben? Was war dann mit Kai? "Das war auch meine erste Frage." Es schien fast so, als ob der Mann ihre Gedanken lesen konnte. Rays Herz setzte einen Moment aus, nur um dann doppelt so schnell zu schlagen. Er hatte ein ungutes Gefühl und fürchtete sich vor den nächsten Worten. "In den vergangenen sechs Monaten hat die BBA nie aufgehört, nach ihm zu suchen. Doch wir konnten keine Spur von ihm finden. Kai war weder auf Fluglisten, noch wurde sein Pass irgendwo registriert. Er war zu keinen Wettkämpfen gemeldet und auch Dranzer wurde nie bei irgendwelchen inoffiziellen Matches eingesetzt. Das Alles haben wir ständig kontrolliert. Ihr wisst, dass jeder Einsatz eines Bitbeasts registriert wird. Doch Kai war völlig von der Bildfläche verschwunden. Als die Sache mit dem Autounfall passierte, handelte unsere europäische Geschäftsstelle zum Glück sofort und besorgte sich irgendwie den polizeilichen Unfallbericht." Der Mann räusperte sich wieder. Anscheinend war ihm das Folgende recht unangenehm. "Leider muss ich euch mitteilen, dass noch Jemand in dem Unglückswagen saß. Die Polizei schätzt, dass es ein junger Mann um die 18 Jahre gewesen ist. Durch die Schwere der Verletzungen konnte die Identität der Person nicht eindeutig geklärt werden..." Nein! Betroffen starrten die Vier ihren Manager an. Wieder war es Max, der als Erster seine Stimme wiederfand: "Wollen Sie uns sagen, dass... Heißt das etwa..." Er konnte es einfach nicht aussprechen. Zu grausam und schmerzvoll war der Gedanke für sie alle. Natürlich waren sie nie wirklich mit Kai warm geworden, aber er war einer von ihnen und einer der besten Beyblader der Welt. Er war ihr Freund, auch wenn er sich selbst vielleicht nicht so sah. Sie hatten ihn alle schrecklich vermisst, seine Nörgeleien und sein Geschimpfe, wenn etwas beim Training nicht so geklappt hatte, wie er es wollte. Aber auch seine guten Seiten hatten ihnen schmerzlich gefehlt: Wie er manchmal Tysons Betteln nachgab und das Training früher beendete, wie er mit Kenny stundenlang über die neuste Technik fachsimpelte, oder wie er immer die richtigen Worte fand, um Max abzulenken, wenn dieser seine Mutter vermisste. Und zu Ray hatte er ein fast schon freundschaftliches Verhältnis aufgebaut. Das alles sollten sie nie wieder erleben? Das konnte, das wollte sich keiner von ihnen vorstellen, aber die Realität konnte bitter sein. Dickenson konnte in den Gesichtern der Bladebreakers sehen, wie sie von Sekunde zu Sekunde verzweifelter wurden. Schnell beeilte er sich, die Situation doch noch zu retten: "Hört mal, man weiß nicht, wer die zweite Person in dem Auto war. Es könnte Kai gewesen sein, aber es hätte auch jeder andere sein können. Es wäre doch für uns alle einfacher, wenn wir davon ausgehen, dass Kai noch am Leben ist." "Das sagen Sie so einfach." Ray hatte das Wort ergriffen. "Er ist seit sechs Monaten spurlos verschwunden. Niemand hat etwas gesehen oder gehört. Wenn er noch lebt, wieso sagt er es uns nicht? Warum hat er uns keine Nachricht hinterlassen, wieso meldet er sich nicht? Wie können wir je sicher sein, dass er nicht doch in dem Auto saß?" Verzweiflung hatte Ray übermannt und nur schwer konnte er Tränen unterdrücken. Seit sechs Monaten machte er sich Vorwürfe, dass er und Mariah das Verschwinden ihres Captains zu verantworten hatten. Wenn sie sich damals auf der Terrasse nicht vermeintlich geküsst hätten, wäre Kai vielleicht noch da. "Beruhige dich Ray!" Beschwichtigend drückte ihm Mr. Dickenson die Hand. "Ich habe natürlich versucht, bei Biovolt nachzuforschen. Nach allem, was wir wissen, könnten sie mit Kais Verschwinden zu tun gehabt haben. Seit dem Unfall ist in der Organisation ein erbitterter Machtkampf um die Führung ausgebrochen und Niemand hat sonderlich Interesse daran gehabt, irgendetwas zu bestätigen oder zu dementieren. Momentan bekommen wir also keine Auskunft. Nehmen wir also fürs Erste an, dass Kai noch am Leben ist, bevor wir uns in Verzweiflung stürzen. Vielleicht klärt sich alles ganz schnell. Und das Leben geht weiter, egal, wie die Antwort ausfallen würde." Aufmunternd nickte er jedem einzeln zu. Vier Augenpaare schauten ihn ungläubig an. Konnte das wahr sein? Sie redeten davon, dass eines ihrer Teammitglieder vielleicht tot war und dieser Mann lächelte einfach, zuckte mit den Schultern und sagte ihnen, dass es einfach weitergehen musste. Das war unglaublich - unglaublich herzlos. Ray sah aus dem Augenwinkel, dass Tyson aufbrausen wollte, packte jedoch schnell dessen Handgelenk und drückte warnend zu. Ihr Manager mochte ziemlich herzlos sein und ihre Gefühle missachten, doch er war ihr Manager. Später, wenn sie wieder alleine wären, würde jeder seiner Angst und seinem Frust Ausdruck verleihen, das wusste Ray. Tyson und Max würden sich den einen oder anderen Drink genehmigen, Kenny würde sich mit Dizzy einschließen und er selbst würde den beiden Freunden zusehen und versuchen, nicht in Tränen auszubrechen, während er über alles nachdachte. Das handhabten sie seit sechs Monaten so und irgendwann war es zur Routine geworden. Natürlich wurden diese "Aussetzer" seltener, aber es kam immer noch vor, wenn ein Reporter ihnen eine bestimmte Frage stellte oder sie von anderen Teams auf ihren fehlenden Captain angesprochen wurden. "Seht ihr, Jungs, ich bin wegen zwei Dingen nach Russland gekommen. Ich war natürlich auf Voltaires Beerdigung. Wir kannten uns viele Jahre und auch wenn wir kein freundschaftliches Verhältnis zueinander hatten, war meine Anwesenheit als Vorstand der BBA sozusagen Pflicht. Biovolt war sehr daran gelegen, ihn möglichst schnell und leise unter die Erde zu bringen; sie haben an einigen Strippen gezogen, um so rasch handeln zu können. Das war das Erste. Und zum Zweiten: Ich hatte nach der Beerdigung die Gelegenheit, mit einer sehr interessanten Person zu sprechen, die ich euch gerne vorstellen möchte. Ich habe nämlich ein neues Teammitglied für euch gefunden!" "WAS?!" Wie vom Donner gerührt schauten die vier Bladebreakers den älteren Mann an. Was sollte das heißen? Ein neues Mitglied? Ihr Team war vollständig, ihr Captain war nur vorübergehend abwesend. Sie brauchten keinen neuen Blader an ihrer Seite, sie wollten keinen neuen Blader. Die Bladebreakers bestanden aus Tyson, Ray, Kenny, Max und Kai und das würde sich nicht ändern. Eher würden sie das verdammte Team auflösen! Schon war Tyson aufgesprungen, Rays warnenden Griff um sein Handgelenk ignorierte er völlig. Er setzte zu einer Schimpftirade an: "Was fällt Ihnen ein-" Doch weiter kam er nicht, da er bereits von Dickenson unterbrochen wurde: "Da ist er auch schon!" Der Unbekannte mit dem Umhang war in der Bar erschienen. Immer noch humpelnd kam er auf die fünf Personen zu und blieb dann in sicherer Entfernung zu den Sitzenden stehen. Ein Lächeln breitete sich auf dem Gesicht des BBA-Vorstandes aus: "Darf ich euch das neue Mitglied der Bladebreakers vorstellen?" "NEIN!" Tyson und Ray hatten das Wort gemeinsam ausgespuckt. Wütend sahen sie die unbekannte Person an. "Wir wollen kein neues Teammitglied! Unser Team besteht aus fünf Personen und die sind nicht austauschbar! Egal wer das ist, egal wie gut er - oder sie - ist, er wird niemals Kai ersetzen können! Wir wollen ihn nicht!" Tyson hatte viel Nachdruck in die letzten Worte gelegt. Das Team nickte, sie waren vollkommen einer Meinung. Sie hatten das Thema früher einmal besprochen und sich für diese Linie entschieden, weil keiner von ihnen es hätte ertragen können, mit jemand anderem außer Kai zu bladen. "Aber ihr braucht ein fünftes Teammitglied! Was ist, wenn einer von euch ausfällt? Die Wettkampfregeln schreiben stets drei aktive Blader vor." "Das ist uns egal. Lieber würden wir einen Kampf verlieren, als jemand anderen in unser Team aufzunehmen." Diesmal hatte Kenny das Wort ergriffen. Er fühlte sich ein bisschen schuldig, weil er selbst nicht bladete, aber die anderen hatten ihm stets den Rücken gestärkt. Es gab nur sie und sie würden auf ihrem Standpunkt bestehen bleiben. "Wollt ihr es nicht wenigstens einmal versuchen? Er ist einer der stärksten Blader der Welt, das wird euch die BBA bestätigen. Außerdem könnte ich euch als euer Teammanager dazu zwingen, das wisst ihr." Die Diskussion lief ein paar Minuten. Die Mannschaft weigerte sich standhaft, einen weiteren Blader in ihre Reihen aufzunehmen und Dickenson bestand darauf, dass die Person in dem Umhang ein ernstzunehmender Ersatz für Kai wäre. Laut BBA-Regeln durfte eine Mannschaft jedoch nur aus 5 Bladern bestehen und so hätten sie, um den Neuen aufzunehmen, Kai offiziell aus dem Team streichen lassen müssen. Das kam für die Bladebreakers natürlich nicht in Frage. Sollte ihr Captain eines Tages wieder auftauchen, sollte er sehen, dass er jederzeit wieder zu ihnen zurückkommen konnte. Sie waren in all der Zeit so etwas wie eine Familie geworden und man konnte ein Familienmitglied nicht einfach wegstreichen, nur weil es fehlte. Der Unbekannte, um den es die ganze Zeit ging, schien nur körperlich anwesend zu sein. Er fixierte die ganze Zeit einen Punkt in weiter Ferne und machte nicht den Eindruck, überhaupt etwas zur Diskussion beitragen zu wollen. Schließlich verzweifelte Mr. Dickenson. Er hatte nicht geglaubt, dass sich seine Schützlinge so quer stellen würden und nicht einmal kurz über seinen Vorschlag nachdenken wollten. Er hoffte, ein letzter Versuch würde helfen: "Schaut ihn euch doch wenigstens an. Ihr werdet sehen, dass er so gut ist, wie ich es euch sage. Er wird sich gut in das Team einfügen!" Es war aussichtslos. Der Mann wollte einfach nicht verstehen, wieso sie sich weigerten, diesen Typen auch nur ansatzweise in Betracht zu ziehen. Niemand konnte Kai ersetzen! Doch ergeben seufzte schließlich Kenny auf. Er war formal der Chef des Teams und letzten Endes hatte er die Entscheidung zu treffen. Sie würden auf Mr. Dickensons Bedingung eingehen und sich den Blader ansehen. Doch selbst wenn er besser als sie alle zusammen sein würde, würde er das Angebot ablehnen. Dann konnte der BBA-Vorstand aber nicht mehr behaupten, sie hätten ihn nicht genau genug angesehen. "Einverstanden, Mr. Dickenson. Er soll uns aber zuerst seinen Blade zeigen. Dann werden wir sehen, ob sich ein Kampf lohnt." Die anderen Bladebreakers nickten, sie wussten, was ihr Chef vorhatte. Man konnte einen guten Blader bereits an der Bauweise seines Beyblades erkennen und Kenny, der auf diesem Gebiet jeden BBA-Techniker in die Tasche steckte, konnte bereits auf den ersten Blick sagen, wie viel so ein Blade taugen würde. Selbst wenn der Spieler technisch noch so gut war - war der Kreisel laienhaft aufgebaut, taugte er nichts. Damit war auch der Manager einverstanden und wandte sich an seinen Gast: "Zeig uns doch bitte deinen Blade." Trotz der abwesenden Haltung kam der Angesprochene der Aufforderung gleich nach. Er griff in seine Hosentasche und trat dann an den Tisch, an dem die fünf Personen saßen. Schweigend legte er den Beyblade darauf ab und nahm dann wieder seinen Abstand von vorhin ein. Bestürzt starrten die Bladebreakers auf den Blade. Auf dem Tisch lag Dranzer. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)