Verloren und Gefunden von Winterwolke ================================================================================ Kapitel 3: Gefunden ------------------- Dickensons Lächeln wurde breiter, je länger er in die verwunderten Gesichter der vier jungen Männer neben sich blickte. Anscheinend war ihm die Überraschung gelungen. Er hatte die vier jungen Männer lange in ihrem Schmerz beobachtet, hatte aber nichts für sie tun können. Die BBA hatte ständig nach Kai gesucht, aber keine Spur finden können. Er war wie vom Erdboden verschluckt gewesen - bis zu dem Anruf vor zwei Tagen. Erstmals hatte der Manager ein wenig Hoffnung verspürt, seinen verschwundenen Teamcaptain endlich zu finden. Deshalb war er auch persönlich nach Russland gereist. Die Beerdigung war lediglich ein Vorwand gewesen, viel mehr hatte er selbst einige Nachforschungen betreiben wollen, auch wenn sich im Nachhinein herausgestellt hatte, dass das nicht nötig war. Die meiste Zeit seines Aufenthalts hatte er in einem Krankenzimmer verbracht. Vor dem Treffen mit den Bladebreakers war er jedoch unsicher gewesen, ob er die richtige Entscheidung getroffen hatte. Deshalb hatte er auch diesen kleinen "Test" inszeniert. Er wollte wissen, was das Team wirklich dachte und hatte deshalb diese extreme Situation provoziert. Denn das, was sein wiedergefundener Schützling wirklich brauchte, war der bedingungslose Rückhalt von Menschen, die ihn liebten. Mr. Dickenson hatte schon länger gewusst, dass die Jungs insgeheim beschlossen hatten, Kai niemals zu ersetzen, aber er wollte wissen, ob sie dabei bleiben würden, wenn er sie wirklich bedrängte. Mittlerweile war er hochzufrieden und ein bisschen stolz auf den innigen Zusammenhalt der Mannschaft. Ray fing sich als Erster wieder: "Das ist Dranzer..." Es war kaum mehr als ein Flüstern. "Richtig." "Dann bedeutet das... Ist das wirklich Kai?" Er wagte den Namen kaum auszusprechen - zu wunderbar wäre die Vorstellung, dass es wirklich stimmte. "Vielleicht sollten wir ihn selbst fragen. Nimmst du bitte deine Kapuze ab?" Der BBA-Vorstand sprach langsam und freundlich. Alle Augen richteten sich auf die Person in dem grauen Umhang, die bei den Worten zusammengezuckt war. Doch dann griff sie langsam nach der Kapuze und lüftete das Geheimnis: Zuerst kamen silbergraue Haare zum Vorschein, die frech in seine Stirn fielen. Im gedämpften Licht der Bar leuchteten die kalten Augen mattrot. Die obligatorischen blauen Dreiecke fehlten ebenfalls nicht. Das war eindeutig ihr Kai. "Ich hoffe, ihr seid mit der Wahl des neuen Teammitglieds zufrieden." Mr. Dickensons Stimme durchbrach die Stille, die sich drückend über alle gelegt hatte. Fassungslos starrten sie immer noch ihren verlorenen Freund an - sechs Monate war er verschwunden gewesen und sie hatten beinahe die Hoffnung aufgegeben, ihn jemals wieder zu sehen. Jetzt stand er einfach so hier. Kai. Es war so unglaublich. Es gab kein Halten mehr. Tyson, Kenny und Max sprangen auf und mit einem kollektiven "KAI!" überwanden sie die kurze Entfernung und umarmten ihren wiedergefundenen Captain überschwänglich. Sein Zusammenzucken und das beständige Zittern entging ihrer Aufmerksamkeit völlig, lediglich Ray sah es. Überhaupt sah er mehr, als ihm lieb war, und es gefiel ihm ganz und gar nicht. Vor einem halben Jahr hatte Kai nicht mehr als ein paar vereinzelte silberne Strähnen gehabt, jetzt war fast sein ganzes Haar silbergrau. Früher hatte er lediglich ein kleines blaues Dreieck auf jeder Wange gehabt, inzwischen waren es zwei und sie waren wesentlich größer. Es war fast so, als würde er seine Züge dadurch komplett verbergen wollen. Und noch irgendetwas war seltsam daran, Ray kam nur im Moment nicht darauf. Aber das Schlimmste waren diese Augen. Er hatte damals Stunden damit verbracht, sie zu betrachten, sich jedes Detail zu merken. Er hätte sie unter Tausenden wiedererkannt. Sie hatten ein leuchtendes, lebendiges Violett gehabt. Jetzt war aus ihnen jeglicher Glanz verschwunden, sie waren völlig leer und ausdruckslos. Fast wie tot. Das beunruhigte Ray am Meisten. Doch die Situation drohte zu kippen. Von den drei Japanern unbemerkt hatte Kais Gesicht zuerst einen ängstlichen, dann panischen Ausdruck bekommen. Es war nicht berechenbar, was als nächstes passieren würde. Glücklicherweise hatte noch jemand die Veränderung bemerkt. "Das reicht jetzt, Jungs. Lasst Kai noch Luft zum Atmen. Setzt euch, dann können wir uns noch ein bisschen unterhalten. Kai, was hältst du davon, wenn du die Kapuze wieder aufsetzt und nach oben gehst. Wir müssen morgen ziemlich zeitig los. Schlaf noch ein bisschen." Kenny, Tyson und Max ließen ihren Captain bereitwillig los. Mit einem fast schon seligen Lächeln setzten sie sich wieder. Wieder zuckte Kai kurz zusammen, als sein Name genannt wurde, dann nickte er, nahm Dranzer an sich und setzte wortlos die Kapuze auf. Humpelnd begab er sich in sein Zimmer. Die ganze Zeit hatte er nicht ein Wort gesprochen und Niemanden angesehen. Mr. Dickenson wandte sich an das restliche Team. Vor wenigen Minuten stand in ihren Gesichtern noch Wut und Verzweiflung, jetzt hatte sich überschwängliche Freude darauf ausgebreitet. Lediglich bei Ray sah er neben Freude auch Sorge. "Wie haben Sie ihn gefunden?" Kenny sprach die Frage Aller aus. "Ich habe euch gesagt, dass die europäische Außenstelle der BBA schnell gehandelt hat. Da wir keine Spur von Kai selbst hatten, haben wir angefangen, Voltaire zu observieren. Sobald bekannt wurde, dass er verunglückt war, haben sich unsere Leute sofort in die Spur gesetzt und die Umstände recherchiert. Und sie hatten Glück. Man hat Kai aus einem russischen Krankenhaus geholt und in eine unserer Einrichtungen gebracht. Er wurde medizinisch versorgt und man mich verständigt. Wie ich bereits erwähnt habe, bin ich sofort nach Russland geflogen. Biovolt ist so tief in den internen Machtkampf verstrickt, dass dort niemand weiß, dass er noch lebt. Wir werden ihn also nach Japan bringen und hoffen, dass das Chaos bei Biovolt anhält. Morgen halb 8 geht der erste Flug nach Tokio. Hoffen wir also, dass wir fürs Erste Ruhe vor diesen Leuten haben. Ihr solltet jetzt übrigens schlafen gehen, morgen geht es zeitig los." Max hatte verstohlen gegähnt und auch Tyson fielen langsam die Augen zu. Der Tag war wesentlich aufregender gewesen, als sie heute Morgen vermutet hätten. Als sich alle Vier zum Abschied erhoben, lächelte Mr. Dickenson alle noch einmal herzlich an und entließ sie mit einem Nicken. Bei Ray angekommen sagte er jedoch: "Ray, würdest du mir noch kurz von dem Wettkampf heute berichten?" Dabei warf er ihm einen vielsagenden Blick zu. Ray verstand sofort und setzte sich wieder. Seine Teamkameraden stutzten kurz, dann machte sich das japanische Dreiergespann auf den Weg nach oben. "Also, was ist wirklich passiert?" Rays Stimme hatte einen besorgten Klang angenommen. Der Manager nickte: "Ich habe gemerkt, dass du mehr gesehen hast als die Anderen. Sicher ist dir auch Kais gewöhnungsbedürftiges Verhalten aufgefallen. Und das Humpeln." Alles das wurde bejaht. Ray machte sich wirklich Sorgen. Dieser junge Mann sah aus wie Kai, aber er war völlig anders. "Er ist es wirklich, das haben die Ärzte überprüft. Aber wir haben keinen Schimmer, was passiert ist. Er hatte mehrere Knochenbrüche, deswegen humpelt er auch so. Eigentlich müsste er an Krücken gehen, aber natürlich hat er sich geweigert, sie zu benutzen. Außerdem sind die drei letzten Finger seiner linken Hand gebrochen, sowie zwei Rippen. Das Problem ist, dass unsere Ärzte nicht wissen, ob er sich die Verletzungen beim Autounfall zugezogen hat oder ob er sie bereits vorher hatte. Man hat lediglich die Brüche und einige größere Schnittwunden versorgt, mehr hat Kai nicht zugelassen. Keiner durfte ihn berühren. Er antwortet auch nicht auf Fragen, noch hat er sonst irgendetwas gesprochen. Er tut, was man ihm sagt, so wie vorhin, als ich ihn gebeten hatte, Dranzer auf den Tisch zu legen. Meistens sitzt er einfach nur herum und starrt Löcher in die Luft. Als ich ihn abgeholt habe, hat er nichts gesagt, er hat sich nur kurz bedankt. Ich weiß nicht, was, aber irgendetwas Schreckliches muss ihm zugestoßen sein." Ray schluckte. Das war alles noch viel schlimmer, als er es sich vorgestellt hatte. "Worum ich dich bitten würde, ist, dass du dich um ihn kümmerst. Du warst für Kai das, was einem Freund am nächsten kommt, nur zu dir hat er ein so enges Verhältnis aufgebaut. Niemand weiß genau, was passiert ist, aber wir müssen ihm jetzt helfen, wieder in die Normalität zurückzufinden. Sein Verhalten ist nicht normal, also müssen wir versuchen, ihn irgendwie zurückzuholen. Ich habe für euch Fünf einen Ausflug in die Berge organisiert. Sobald wir in Tokio sind, könnt ihr aufbrechen. Es war für euch alle ein schweres halbes Jahr und ihr habt euch euren Urlaub verdient. Die Turniere, die Sorge um Kai, der Presserummel, ihr müsst einfach mal ausspannen. Nutzt die Zeit, um euch zu erholen, und vielleicht könnt ihr auch zu Kai durchdringen und den alten Miesepeter wieder wecken." Die letzten Worte hatte Dickenson mit einem Zwinkern gesagt. Auch Ray nickte. Das war eine ausgezeichnete Idee. Seit der Weltmeisterschaft hatten sie kaum Zeit zur Entspannung gehabt. Ein paar Tage abseits des ganzen Rummels würden allen gefallen. Sie plauderten noch ein paar Minuten - dieses Mal tatsächlich über das heutige Turnier - dann verabschiedete sich Mr. Dickenson. Er würde ebenfalls im Hotel übernachten und versicherte Ray, dass er jederzeit bei Problemen helfen würde. Ray saß noch ein paar Minuten da und dachte über das Gespräch nach. Er hatte Kai noch nie so merkwürdig erlebt. Er bezweifelte keine Sekunde, dass er keine leichte Zeit gehabt hatte, während er die letzten Monate verschwunden gewesen war, doch was genau passiert war, damit würde Kai wohl kaum freiwillig herausrücken. Wenn er mit Mr. Dickenson und den Ärzten kein Wort gesprochen hatte, würde er dann mit ihm oder den anderen reden? Der Manager hatte Recht, nur zu ihm hatte Kai ein freundschaftliches Verhältnis aufgebaut, aber bestand das jetzt noch, nach dieser Nacht? Nach der Aktion mit Mariah? Da war er sich keineswegs sicher. Er hatte nie erfahren, was genau Kai ihm hatte sagen wollen sagen wollte, oder wie er den Überfall der Chinesin aufgenommen hatte. Er war wutentbrannt abgerauscht, aber bezog sich diese Wut auf Mariah oder auf ihn, Ray? Langsam machte er sich auf den Weg nach oben. Seit Kai nicht mehr da war, hatte er sich ein Zimmer mit Kenny geteilt. Der Chef war ganz okay, nur das ständige Gerede mit Dizzy ging Ray ein wenig auf die Nerven. Mit Kai war es stets ruhig gewesen. Damit hatte er nie ein Problem gehabt; er war Niemand, der ständig Action um sich herum brauchte. Sie hatten sich selten unterhalten (kurz vor dem Verschwinden ein wenig öfter), sondern meistens in einträchtigem Schweigen nebeneinander gelebt. Auf dem Ausflug würde sicher wieder die alte Zimmerordnung herrschen und dann gäbe es sicher wieder diese angenehme Stille zwischen ihnen. Vielleicht konnte es schrittweise wie früher sein. Falls Ray es schaffte, zu Kai durchzudringen. Gerade als er im Gang mit dem Zimmer ankam, fiel ihm wieder das Gespräch mit Mr. Dickenson ein: "Er spricht nicht; meistens sitzt er nur da und starrt Löcher in die Luft; er tut, was man ihm sagt." Was hatte Biovolt seinem armen Phönix nur angetan? Er hatte diese roten, toten Augen gesehen, die erstarrte Haltung und das Zittern, als die Tyson, Max und Kenny ihn umarmten hatten. Das war nicht normal, nicht mal für Kai. Welches Trauma musste man erleben, um sich in seinem Verhalten so zu ändern? Ihr Captain war schon immer ein distanzierter, kalter Mensch gewesen, aber jetzt schien es so, als sei er gar nicht anwesend. Die leeren Augen vermittelten den Eindruck, dass er weit weg war. Die Umarmung hatte ihn kurz zurückgeholt und in Panik versetzt, doch danach war er wieder völlig weggetreten. Aber wenn Kai nicht sprach, wie sollte Ray dann herausfinden, was passiert war und wie sollte er ihn erreichen? Wie konnten sie das schwache Band, das sie vor dem Vorfall hatten, wieder aufbauen, wenn Kai sich abkapselte? Aber vielleicht war das der falsche Ansatz. Damals hatte sich alles mit der Zeit ergeben - irgendwann hatte Kai den ersten Schritt gemacht und sich ihnen geöffnet. Wahrscheinlich würde es dieses Mal genauso laufen. Wahrscheinlich würde er sich ihnen anvertrauen, wenn sie ihm die nötige Zeit gaben und ihm zeigten, dass sie für ihn da waren. Etwas anderes würde das Team sowieso nicht tun können. So ganz gefiel Ray das nicht. Er war eine romantische Natur und obwohl ihm klar war, dass Kai eher der gegenteilige Typ war, so hatte er doch immer gehofft, er könnte nahtlos an die Nacht der Weltmeisterschaft anknüpfen, sobald dieser wieder auftauchte. Noch immer spürte er die sanfte Berührung ihrer Arme. Das wollte Ray wieder spüren, lieber gleich als später. Wahrscheinlich würde er das aber nicht so einfach bekommen. Leise öffnete er das gemeinsame Zimmer, vielleicht schlief Kenny ja schon. Zu Rays Überraschung befand sich nicht nur Kenny im Raum, sondern auch Max und Tyson, deren Zimmer eigentlich nebenan war. Gespannt schauten sie ihn an, als er sich auf sein Bett fallen ließ. "Nun erzähl schon, was hat Dickenson gesagt?", wollte Tyson auch gleich wissen. Max‘ erhobene Augenbraue ignorierte er. "Sag schon, wir können uns schließlich denken, dass es nicht nur um den Wettkampf ging." "Nein, du hast Recht. Wir haben auch über Kai gesprochen." Ray seufzte. Es konnte wohl nicht schaden, ein bisschen zu erzählen. Nicht alles, denn auch wenn Mr. Dickenson es nicht explizit gesagt hatte, war doch alles vertraulich gewesen und nur für seine Ohren bestimmt. Sonst hätte er die Anderen nicht nach oben geschickt. Aber vielleicht war es gut, wenn das Team zumindest ein wenig erfuhr. "Die BBA hat ihn nach dem Unfall in einem russischen Krankenhaus gefunden. Er war schwer verletzt - zwei Rippen sind gebrochen, dazu einige Finger seiner linken Hand und das rechte Bein. Eigentlich braucht er Krücken zum Laufen, aber ihr kennt ihn ja. Dickenson hat ihn abgeholt. Morgen fliegen wir zurück nach Tokio und von da aus schickt uns die BBA in den Urlaub." "Urlaub?", unverhofft hatte sich auch Dizzy gemeldet. "Ja, Mr. Dickenson meint, wir hätten welchen nötig, und außerdem soll er uns helfen, als Team wieder zusammen zu finden." "Das ist eine verdammt gute Idee!" Auch Max war sofort begeistert. "Hört mal, ich weiß nicht, ob das so einfach sein wird. Die BBA vermutet, dass Biovolt Kai etwas angetan hat. Seit sie ihn gefunden haben, spricht er nicht oder tut sonst irgendwas. Die Ärzte durften ihn kaum anfassen und nur die schlimmsten Verletzungen versorgen. Er scheint irgendein Trauma erlebt zu haben. Mr. Dickenson hofft, dass wir ihm helfen, es zu überwinden." "Das wäre doch gelacht, wenn wir das nicht schaffen, oder Leute?" Ganz klar war Tyson in seinem Optimismus nicht zu bremsen. Auch die anderen stimmten ein, bekamen aber schnell einen Dämpfer von Ray versetzt: "Wir sollten es nicht überstürzen! Wir wissen nicht, was ihm zugestoßen ist. Vielleicht machen wir alles nur noch schlimmer? Es wird sicher Zeit brauchen, bis er sich uns öffnet. Ihr wisst, dass Kai kein sehr offener Mensch ist. Wenn wir ihn bedrängen, wird er sicher komplett dicht machen und keinen von uns an sich heran lassen. Tut mir also den Gefallen und bestürmt ihn nicht mit Fragen. Er wird uns erzählen, was geschehen ist, wenn er soweit ist. Okay?" Die Ansprache hatte die Begeisterung des Teams ein wenig gedrückt, aber sie nickten alle verstehend. Ihr Teamcaptain war schon immer ein Buch mit sieben Siegeln gewesen und dieses konnten sie nur mit viel Geduld und Sorgsamkeit lesen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)