Verloren und Gefunden von Winterwolke ================================================================================ Kapitel 10: Nacht ----------------- Rays Nacht war mehr als unruhig. Erst hatte er vor Aufregung und Sorge nicht einschlafen können und sich in seinem Bett rumgewälzt. Als er dann endlich eingeschlafen war, hatte er einen finsteren Albtraum von blutroten Augen und unheimlichen Schreien in der Dunkelheit gehabt. Er war mit einem stummen Schrei aufgewacht und hatte einige Minuten gebraucht um zu begreifen, dass alles in bester Ordnung war. Zumindest fast. Nachdem er den Albtraum abgeschüttelt hatte, wurde ihm wieder klar, dass Kai im anderen Zimmer schlief und das nahm seine ganze Gedankenwelt in Beschlag. Jetzt konnte er nicht einschlafen, weil seine Gedanken einzig und allein um seinen attraktiven Teamcaptain kreisten. Das taten sie öfter, aber gerade heute war es ein wenig seltsam. Obwohl er wieder da war, war er nicht wirklich Kai. Trotzdem verselbstständigten sich seine Fantasien ein wenig... erst als er eine Viertelstunde später atemlos, aber zufrieden die Augen schloss, konnte einschlafen. Wieder träumte er von roten Augen und verhaltenen Schreien - dieses Mal aber völlig anderer Natur. Diesen Traum hätte er gerne behalten, doch Morpheus meinte es nicht gut mit Ray und so erwachte er wieder, allerdings war er jetzt mehr als enttäuscht. Diesen Traum hätte er sich gerne für die Zukunft bewahrt, denn irgendwann wollte er das alles einmal real erleben. Missmutig schaute er sich in seinem Zimmer um und versuchte einen Grund dafür zu finden, warum er schon wieder aufgewacht war - gerade als es am Schönsten war. Die Uhr zeigte kurz nach drei Uhr an. Tokio schief noch, warum dann nicht er? Ein Knarren aus dem Wohnzimmer beantwortete die stumme Frage. Davon war er also aufgewacht. Anmutig erhob er sich und trat ins Wohnzimmer. Er hatte sehr gute Augen - tagsüber wie nachts, doch er brauchte einige Momente bis er sah, was das Geräusch verursacht hatte: Die Balkontür. Eigentlich hatte er die schon vor Wochen reparieren wollen, weil das ständige Knarren ihm irgendwann auf die Nerven ging, aber letztendlich hatte schlicht die Bequemlichkeit gesiegt. Es ging straff auf den Winter zu und außer ihn störte es keine Menschenseele. Allerdings drängte sich die Frage auf, warum die Balkontür überhaupt geöffnet war. Ein eisiger Wind fegte durchs Zimmer und ließ Ray frösteln. Kurzerhand schnappte er sich eine der Decken vom Sofa und schlich zur Tür. Dass sich Einbrecher auf seinen Balkon in gut 45 Metern Höhe verirrt hatten, war unwahrscheinlich, also blieb nur Kai als Verursacher übrig. Vorsichtig spähte er um die Ecke. Es war tatsächlich Kai, der dort auf dem kalten Betonboden saß. Obwohl es November war (und nur einige Grad über dem Gefrierpunkt), trug er lediglich einen Pullover. Das gebrochenen Bein hatte er weit von sich gestreckt, das andere dafür angewinkelt. Sein Gesicht war dem bedeckten Himmel zugewandt. Am auffälligsten war jedoch die halbvolle Flasche Wodka, die er im Arm hielt. Eigentlich wäre dieser Umstand nicht weiter verwunderlich gewesen - obwohl sie nach japanischem Recht noch nicht volljährig waren, drückte die BBA gerne ein Auge zu, wenn sie in anderen Ländern "einkaufen" gingen, solange sie es nicht übertrieben. Verwunderlich war, dass Kai die Flasche zur Hälfte geleert hatte. Ray hatte ihn noch nie trinken sehen, weder auf Partys noch auf irgendwelchen anderen Veranstaltungen. Manchmal zog Tyson ihn sogar damit auch, dass er als Russe doch eigentlich am trinkfestesten hätte sein müssen, aber nie einen Tropfen anrührte. Warum hatte er es dann jetzt getan? Und dann auch noch eine halbe Flasche. Ray selbst wäre wahrscheinlich nach den ersten 3 Gläsern eingeschlafen. Er trank ab und zu etwas, aber er vertrug Alkohol nicht wirklich gut. "Kai?" Verschreckt zuckte der Angesprochene zusammen und ließ dabei die Flasche los. Sie kippte samt Inhalt gefährlich nach vorn, doch Rays blitzschnelle Reflexe fingen sie auf, bevor auch nur ein Tropfen danebengehen konnte. "Seit wann trinkst du?" Verschleierte rote Augen sahen zu ihm auf und für einen Moment konnte man sehen, wie schwer Kai das Denken fiel. War er so betrunken oder gab es einen anderen Grund dafür? Dann klärte sich sein Blick und er wandte sich wieder dem dichten Wolkenhimmel zu. Kommentarlos nahm Kai seinem Mitbewohner den Wodka aus der Hand und trank einen Schluck. Der Alkohol brannte in seiner Kehle, doch er nahm es kaum wahr. Sämtliche Empfindungen wurden von der tiefen Verzweiflung, die er momentan spürte, überdeckt. Ausgerechnet in diesem schwachen Moment tauchte Ray auf. Den konnte er jetzt gar nicht gebrauchen. "Was willst du?", fragte er mit emotionsloser Stimme. Das war gut. Je mehr er seine wahren Gefühle verbergen konnte, desto besser. Doch Ray ließ sich dieses Mal nicht durch seine abweisende Art abschrecken. Den kalten Blick ignorierend stieg er über den sitzenden Russen hinweg und setzte sich an seine linke Seite. Die Decke, ein flauschiges XXL-Exemplar, reichte für sie beide aus und kurzerhand rutschte er ganz nah an Kai heran und wickelte sie darin ein. Gespannt wartete er auf eine Reaktion, denn so nah waren sie sich fast nie gekommen. Fast wäre es romantisch gewesen. Ray konnte jede noch so kleine Regung spüren, doch er wusste nicht, ob Kais Zittern von der Kälte stammte oder andere Gründe hatte. Außerdem spürte er die Anspannung und hörte die flache, schnelle Atmung. Die schlichte Erklärung war wohl, dass Kai sich mehr als unwohl fühlte. Mitfühlend wollte Ray ihm über den Arm streicheln (und dabei sein eigenes Bedürfnis, Kai anzufassen, erfüllen), doch kurz bevor er mit seinen Fingern den Pullover erreicht hatte, hörte er ein leises "Nicht anfassen!". Enttäuscht ließ er die Hand sinken, aber er respektierte diesen Wunsch. Vielleicht war es für den Moment einfach nur genug, dass sie eng beisammen auf dem kalten Betonboden saßen und in die Wolkendecke starrten. Langsam bekam Kai die Panik wieder in den Griff. Eigentlich hatte er zum Alkohol gegriffen um zu vergessen, doch er schien genau das Gegenteil zu bewirken. Zuerst setzte zwar dieses wohlige Gefühl des Nichts ein, sein Kopf wurde angenehm leer und die Welt drehte sich ein bisschen, doch als er seine Augen schloss, waren da plötzlich wieder diese Bilder - dieses Gesicht. Wider besseren Wissens trank Kai weiter und machte damit alles nur noch schlimmer. An Schlaf war nicht mehr zu denken, obwohl jede Faser danach verlangte. Vielleicht konnte er sich so stark betrinken, dass er gar nichts mehr denken musste? Das war alles nur Wunschdenken, das wusste Kai. Er hatte genügend Erfahrung mit Alkohol um zu wissen, dass diese Aktion gar nichts einbringen würde, aber derzeit lief so viel schief, da kam es auf einen einzelnen Abend nicht an, oder? Irgendwie war er auf den Balkon gelangt und dummerweise über seine eigenen Füße gestolpert. Seine linke Hand schrie protestierend, als er den Sturz damit abfing. Kai knirschte vor Schmerz mit den Zähnen und ärgerte sich über seine eigene Dummheit. Umständlich hatte er sich schließlich aufgerichtet und war gegen die Wand gelehnt sitzen geblieben. Dass Ray plötzlich auftauchte, brachte seinen alkoholvernebelten Verstand völlig aus dem Konzept, aber er war jetzt auch nicht mehr in der Lage, irgendetwas zu tun. Wahrscheinlich hätte er nicht mal aufstehen können. Eigentlich war es genau so lächerlich, wie Tyson immer sagte: Er war Russe und nicht trinkfest. Früher hatte er Wodka besser weggesteckt, aber da hatte er auch ein paar Kilo mehr gewogen und war nicht so ein Wrack gewesen. Kaum hatte er sich jedoch beruhigt, als schon der nächste Schock wartete: Ray setzte sich unvermittelt neben ihn und rutschte unangenehm nah heran. Die Decke empfand er wie ein Gefängnis und er spürte jede Berührung, die von seinem Tiger ausging. Als er merkte, dass dieser die Hand ausstreckte und ihn berühren wollte, reagierte sein Mund von allein und er dachte nicht groß über die Worte nach. Worte waren kein Hindernis, wenn Jemand sich vorgenommen hatte, ihn zu verletzen. Deshalb war er unheimlich überrascht, als Ray auch sofort sein Vorhaben aufgab und seine Finger bei sich behielt. Nachdem er diese Verwunderung verarbeitet hatte (was durch den Alkohol ein wenig länger dauerte), setzte allmählich die Entspannung ein, auch wenn Niemand diesen Zustand als entspannt bezeichnet hätte. Kai war dennoch wachsam, denn es konnte Ray schließlich jederzeit wieder in den Sinn kommen, ihn anfassen zu wollen. Als hätte er das vorausgesehen, sprang sein Mitbewohner in eben diesem Moment auf, nahm ihm die Wodkaflasche aus der Hand und zerrte ihn ins Wohnzimmer. Kai versteifte sich sofort, weil er die Situation nicht einschätzen konnte. Der Alkohol spielte ihm wieder einen üblen Streich und gaukelte ihm eine völlig andere Person vor, die ihn festhielt. Schon hörte er das widerwärtige Lachen; er wusste, was als nächstes passieren würde. Er wurde auf das Sofa bugsiert und die Welt begann sich zu drehen. Stöhnend massierte Kai sich mit den Handballen die Schläfen und wartete auf das Unvermeidliche. Doch statt noch mehr Körperkontakt zu erzwingen ließ Ray ihn augenblicklich los und verschwand hinter der Küchentheke. Mit verschwommenem Blick folgte Kai in der Dunkelheit den Geräuschen, die Ray verursachte. Das hier ergab alles keinen Sinn und daran war nur der Wodka Schuld. Das nächste Mal sollte er die Finger von dem Zeug lassen und lieber auf Wasser umsteigen… Behände hantierte Ray in der Küche und hatte schon bald alles Nötige zusammen um seinen Kater-Weg-Spezial-Drink zu mischen. Nach gut fünf Minuten und einigen verhaltenen Seufzern von der Couch wegen des "Lärms", den er dabei veranstaltete, stellte er die gelbbraune Mixtur vor seinen Phönix auf den Tisch. "Hier, trink das! Und dann erzählst du mir, wieso du mit einer Flasche Schnaps allein auf dem Balkon sitzt." Schwungvoll ließ er sich neben Kai nieder und wartete. Es dauerte eine ganze Weile, bis Kai genügend Fassung gewonnen hatte, um nach dem Glas zu greifen. Zweifelnd sah er das Gebräu an, trank dann aber kommentarlos alles auf einmal aus. Seine Hand zitterte immer noch leicht, als er das Glas auf dem Tisch absetzte. Er zog die Decke wieder um sich und auch Ray konnte der Flauschigkeit der Sofadecken nicht widerstehen. Schweigend saßen sie nebeneinander, doch zu Rays großem Bedauernd alles andere als nah zusammen. Er bewegte sich unauffällig und rutschte ein paar Zentimeter heran, doch das war nicht genug. Dafür zuckte er ertappt zusammen, als er eine leise Frage vernahm. "Warum bist du eigentlich wach?" Das kam unerwartet und prompt erinnerte sich Ray an den wunderbaren Traum aus dem er so unsanft geweckt wurde. Und daran, dass die Hauptperson gerade neben ihm saß. Wenigstens sah man in der Dunkelheit sein peinlich berührtes Gesicht nicht, aber seine Stimme war ein wenig belegt, als er antwortete: "Na ja, ich glaube, ich bin von der knarrenden Balkontür aufgewacht." "Oh... entschuldige." Großartig, wirklich großartig. Er war auch noch selbst schuld, dass Ray ihn in dieser unwürdigen Situation gefunden hatte. Sein unüberlegtes Trinkgelage war nicht nur peinlich, sondern hatte seinen Tiger auch noch geweckt. Er machte aber auch wirklich alles falsch. Er seufzte. Das Seufzen klang jammervoll, aber so schnell wollte Ray nicht aufgeben. Er hatte es auf dieses Sofa geschafft und er würde versuchen, das Gespräch in Gang zu halten. Nicht nur, weil er dann vielleicht endlich ein paar Informationen bekommen würde, sondern weil er so seinem Phönix nah sein konnte. Mit einer fahrigen Bewegung wischte er Kais Entschuldigung beiseite (auch wenn dieser die Geste im Dunkeln wahrscheinlich eh nicht sah) und wiederholte seine Frage von vorhin: "Also, warum sitzt du allein auf dem Balkon und trinkst?" Durchdringend sah er seinen Gegenüber an. Für einen Moment bildete sich Kai ein, in der Dunkelheit goldene Augen aufblitzen zu sehen, aber die Vorstellung war lächerlich. Ray mochte viele Eigenschaften haben, die an eine Katze oder an einen Tiger erinnerten, aber seine Augen konnten ganz sicher nicht im Dunkeln leuchten. In seinem Kopf schwirrte es immer noch und die Frage verwirrte ihn noch mehr. Eine kleine Stimme schlug ihm vor, einfach aufzustehen und wieder auf den Balkon zu gehen und sein Werk dort zu vollenden, denn vielleicht gab es ja doch noch die Chance auf einen traumlosen Schlaf. Eine andere Stimme, ein Echo aus Russland, lachte ihn gackernd aus, weil er so ein verdammter Schwächling war und eine weitere drängte ihm, doch einfach alles zu erzählen und auf die Reaktion zu warten. Die Versuchung irgendeinem Quälgeist nachzugeben war groß. Falls es einen Mittelweg gab, erschloss er sich Kai nicht und irgendwie plauderte er schließlich einfach drauf los: "Ich war noch nicht müde und hielt es für eine gute Idee. Immerhin war ich lange nicht hier und ich wollte mir die Stadt einfach ansehen." Okay, das war so weit von der Realität entfernt, dass es eigentlich zum Lachen war, aber immer noch besser als die Wahrheit. So einfach ließ sich Ray jedoch nicht abwimmeln. "Nicht müde? Entschuldige, wenn ich das so direkt sage, aber ich hab zwischenzeitlich gedacht, dass du im Stehen einschläfst. Bist du sicher, dass es so war?" Erwischt. Es war sowieso unwahrscheinlich gewesen, dass Ray ihm diese Lüge einfach geglaubt hätte. Dafür war er einfach zu klug und aufmerksam. "Na schön. Ich konnte einfach nicht schlafen, zufrieden?" "Nein, warum sollte ich deshalb zufrieden sein? Ich möchte dir doch nur helfen. Warum machst du es mir so schwer? Warum sagst du mir nicht, was passiert ist?" In der Dunkelheit kaute Kai nervös auf seinem Daumennagel herum. Wie konnte es möglich sein, dass ein Gespräch in so kurzer Zeit eskalierte? Jetzt bereute er es, überhaupt einen Ton gesagt zu haben. Angetrunken wie er war, war er ein leichtes Opfer für solche bohrenden Fragen und das wusste er. Das war auch der Grund, warum er nie trank. In der Abtei war es gebräuchlich, ungehorsame Schüler auf diese Weise gefügig zu machen und er war einer derjenigen gewesen, die besonders anfällig dafür waren. Oh, er vertrug eine ganze Menge - nur fragen durfte man ihn anschließend nichts. Es war fast so, als wenn der Alkohol seine Willenskraft einfach davon spülte und Ray hatte diese kleine Schwachstelle eher zufällig gefunden. Hoffentlich merkte er diese Schwäche nicht. Als das Schweigen sich hinzog, ließ Ray es auf einen letzten Versuch ankommen. Seine Neugier war keineswegs befriedigt und er wollte nicht einfach so aufgeben. "Jetzt erzähl mir endlich, wo du die letzten sechs Monate warst!" Vielleicht lag es an seinem frustrierten Tonfall oder daran, dass er die Frage unbeabsichtigt barsch gestellt hatte, vielleicht aber auch nur an Kais Schlafmangel, aber dieses Mal bekam er tatsächlich eine Antwort, leise und kaum hörbar: "Abtei..." "Was?" "Ich war in der Abtei, glaube ich zumindest." Natürlich hatte Ray es schon beim ersten Mal verstanden, konnte die Antwort aber nicht einordnen. Er und die anderen Bladebreakers wussten über die Abtei Bescheid - sie war kein Kloster, sondern ein Internat für begabte Sportler irgendwo in Russland. Kai war dort aufgewachsen und hatte dort gebladet, bevor er zur BBA kam. Die Trainingsmethoden waren rau (das hatten sie am eigenen Leib erfahren), aber sie härteten auch ab (auch das hatten sie schnell gemerkt). Eigentlich hatten sie immer gedacht, dass er deswegen so verschlossen war. Für ein Kind war das sicher keine schöne Zeit gewesen. Trotzdem verwirrte Ray die Antwort nicht wenig. Wenn er in dieser Schule gewesen war, warum machte er daraus ein Geheimnis? Das ergab alles keinen Sinn. Aber vielleicht war das auch gar nicht die Wahrheit? Vorhin hatte er die Lüge schnell durchschaut, jetzt war das um einiges schwieriger. Möglicherweise stimmte es auch. Verdammt, die Antwort hatte ihn nur noch neugieriger gemacht und mehr Fragen aufgeworfen. Es war zum verrückt werden. Kai konnte in der Dunkelheit nicht viel von Rays Mimik sehen, spürte aber, dass dieser mit seiner Antwort nicht zufrieden war. Das mochte unter anderem daran liegen, dass er seinen Teamkameraden nie die ganze Wahrheit über das angebliche Sportinternat erzählt, sondern lediglich einige Aspekte erwähnt hatte. Schon bei den harmlosen Dingen hatte er ihr Unbehagen gespürt und die mitleidigen Blicke gesehen, weshalb er auch nie tiefer ins Detail gegangen war. Die meisten Menschen waren glücklicher, wenn sie nicht genau Bescheid wussten, auch wenn sie das Gegenteil behaupteten. Deshalb musste Kai verhindern, dass ihm weitere Fragen gestellt wurden - zu ihrer beider Wohlbefinden. Zaghaft streckte er seine Hand aus und berührte seinen Tiger leicht am Arm. Sofort spürte er wieder dieses Kribbeln, das schon früher immer da gewesen war, wenn sie sich berührten. Das letzte Mal war so lange her. Ray schien nicht einmal zu bemerken, dass er das tat und für ein paar Sekunden genoss er es einfach nur, seine Finger hinauf- und herab wandern zu lassen. So ein schönes Gefühl hatte er seit Ewigkeiten nicht mehr gehabt. Es erforderte eine Menge Willenskraft, wieder damit aufzuhören, doch Kai zwang sich dazu. Die plötzliche Leere, die er danach fühlte, versuchte er zu ignorieren, doch erst als er ein Stück näher heran rutschte, wurde es erträglich. Einmal mehr bedauerte er es, dass er vor sechs Monaten nicht den Mut gefunden hatte, seine Gefühle zu erklären. Dann gäbe es wenigstens diese Ungewissheit nicht. Derzeit hatte er jedoch weder den Mut, noch die Kraft sich diesem Gespräch zu stellen. Dazu war er einfach zu kaputt. "Ray? Können wir aufhören darüber zu reden?" Der Ton, mit dem diese Frage herausgebracht wurde, erstaunte Ray: Schüchtern und bittend, völlig anders, als er das von Kai gewohnt war. Was ihn letztendlich überzeugte, seine Neugier zurückzustellen, war das leise "Bitte?", das nachgeschoben wurde. Wie konnte er das abschlagen? Einmal mehr wunderte er sich über die drastische Verwandlung, die Kai durchgemacht hatte. Wäre das auch passiert, wenn diese eine Nacht damals anders verlaufen wäre? Möglicherweise. Doch was brachte es, jetzt über verpasste Gelegenheiten nachzudenken. Es war nun einmal so passiert und unveränderbar. "Du hast Recht. Vielleicht sollten wir wieder schlafen gehen." Es widerstrebte Ray, jetzt einfach zu gehen. Trotz der verqueren Situation hatten sie hier etwas Einzigartiges. Sie waren sich so nah. Nur wenige Zentimeter und er könnte Kai in seine Arme schließen. Manchmal war das Leben unfair. "Kön-können wir noch ein bisschen hier bleiben?" Nur mühsam konnte Kai ein Gähnen unterdrücken. Hier war endgültig Endstation. Er war einfach zu fertig um sich noch einen Millimeter bewegen zu können. Außerdem war sein Sofa verdammt bequem, es war warm und eine kleine Stimme in seinem Inneren verkündete verhältnismäßig laut, dass er so nah an "glücklich" war, wie seit sehr langer Zeit nicht mehr. Innerlich jubelte Ray. Das war genau das, was auch er gerne tun wollte. Gerade wandte er sich Kai zu, um seine Zustimmung zu geben, da rutschte der ihm auch schon langsam entgegen. Er war binnen weniger Sekunden eingeschlafen und glitt jetzt langsam an der Lehne entlang auf Ray zu. Dessen Freude war riesig. Vorsichtig fing er den Schlafenden auf und legte ihn behutsam auf ein Kissen auf seinem Schoß. Obwohl er ebenfalls müde war, verschwendete er jetzt keinen Gedanken mehr an Schlaf. Hier lag sein Phönix, bei ihm, AUF ihm und schlief friedlich. Langsam hob er seine Hand und fuhr ihm leicht durch das silbergraue Haar. Für einen Moment hatte er Angst, dass Kai aufwachen würde, aber er murmelte nur ein paar unverständliche Worte und schlief weiter. Sein Mitbewohner musste ganz schön kaputt sein. Mit einem zufriedenen Grinsen saß Ray noch eine Weile da und genoss die Situation, bevor auch er friedlich einschlief. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)