Verloren und Gefunden von Winterwolke ================================================================================ Kapitel 14: Selbstgespräche --------------------------- Ray war ein ziemlicher Idiot und das war sicher noch nett ausgedrückt. Schon seit Tagen benahm er sich völlig irrational und er konnte einfach nicht damit aufhören. Jedes Mal, wenn er sich vornahm, sich wieder zu beruhigen und bei Kai zu entschuldigen, musste er nur einen Blick auf ihn werfen und die Wut flammte von Neuem auf. Es war fast wie ein Reflex: Sobald er in die roten Augen sah, machte er den Mund auf und ein Schwall Fragen kam heraus: "Was verschweigst du?" "Wo bist du gewesen?" "Was hat der Arzt mit Therapie gemeint?" "Wann wirst du endlich den Mund aufmachen und uns die Wahrheit erzählen?" Er sah, wie wütend Kai wurde, doch das brachte ihn nicht zum verstummen. Irgendeine verquere Windung in seinem Kopf hatte entschieden, seinen Phönix zur Weißglut zu bringen, so oft es nur möglich war. Es war einfach nicht erklärbar. Als er das Gespräch belauscht hatte, war bei ihm irgendeine Sicherung durchgedreht. Vielleicht war es der Schock über das Ausmaß der Verletzungen, oder das Schuldgefühl, hier etwas zu tun, das nicht richtig war, doch plötzlich hatte ihn kalte Wut gepackt. Er war wütend, in gleichen Teilen auf sich, Kai und den Autounfall. Das allein war schon abwegig, denn Kai war ja daran völlig unschuldig, aber trotzdem. Es machte ihn wütend, dass dieser starke junge Mann sich so unterkriegen lassen hatte. Es machte ihn wütend, dass dieser feurige junge Mann sich so fremd verhielt, so unauffällig, fast unterwürfig. Es machte ihn wütend, dass er nach all der Zeit nie den Mut gefunden hatte, über das zu sprechen, was ihm wichtig war. Wie ein Feigling hockte er hier oben in der Dunkelheit und lauschte, statt da unten zu sein und Kai beizustehen. Trost war auch eine Art von Hilfe - oh und es machte ihn wütend, dass Kai das niemals zulassen würde. Er versuchte immer noch, sich zu beruhigen, als das Wort "Therapie" gefallen war. Das ließ ihn aufhorchen, denn es verstörte ihn mehr als der Zustand der Hand. Therapie bedeutete, dass irgendetwas absolut nicht in Ordnung war und das bedeutete ebenfalls, dass er nie an sein Ziel kommen würde, oder nicht? Oder nicht? Wie lange hatte er jetzt schon gewartet? Immerhin waren es nicht nur die sechs Monate, sondern auch die Zeit davor. Und die Mühen, die er dadurch hatte: Der Streit mit Mariah, der Verlust seines Zimmers in der Wohngemeinschaft, die wütenden Blicke. Sollte das alles umsonst gewesen sein, weil Kai... weil Kai was? Der vernünftige Teil seines Verstandes protestierte heftig, die ganze Sache auf den Russen abzuwälzen, wurde aber von der wütenden Stimme niedergeschrien. Weil Kai schwach war, das schrie sie in aller Deutlichkeit. Kai durfte nicht schwach sein. Ray musste raus, sonst würde er noch etwas Dummes anstellen, etwas, das sich ähnlich verhängnisvoll auswirken könnte wie der Streit mit seiner ehemaligen Freundin. Er stand auf, ging die Treppe runter und wollte gerade zur Terrassentür hinaus, als ihn die kalte emotionslose Stimme erstarren ließ: "Du hast gelauscht." Es war keine Frage gewesen. Dann war alles eskaliert. Ray hatte in die kalten, leblosen Augen gesehen und dann war es vorbei mit seiner Selbstbeherrschung. Diese leblosen, roten Augen. Und auch das erfüllte ihn mit negativen Gefühlen. Er hasste diese Augen, weil sie ein Symbol für die Veränderung waren. Noch deutlicher als die silbergrauen Haare. Seine Freunde hatten natürlich alles mitbekommen, sein ganzes dummes Verhalten, und waren jetzt ebenfalls wütend - und das machte ihn wiederum wütend. Er fühlte ihre Blicke auf sich, weil sie jetzt jeden seiner Schritte beobachteten. Es war einfach unmöglich - er war es doch gewesen, der gesagt hatte, sie sollten sich vorerst zurückhalten, Kai in Ruhe lassen, ihm die Möglichkeit geben, sich zu erholen. Das hatte wirklich großartig funktioniert, bis sein dummer Verstand entschieden hatte, das Gegenteil zu tun. Um den Blicken zu entkommen, hatte Ray versucht, sich draußen mit Training abzulenken, doch das brachte auch nichts. Er war bedrückt, immer noch wütend und gleichzeitig seltsam schwermütig, fast schon depressiv. Er wollte es wieder gut machen, aber er wusste nicht wie. Was konnte er tun oder sagen, um das gekippte Verhältnis zu Kai wieder zu reparieren? Die Antwort war niederschmetternd: Nichts. Ihm fiel nichts ein und wahrscheinlich war das auch die simple Wahrheit. Er hatte Kai enttäuscht und verletzt, das war offensichtlich gewesen. Immer wenn er seinen vorlauten Mund aufmachte, sah er, dass es Satz für Satz schlimmer wurde. Wenn er nicht bald lernte, sich zu beruhigen, würde es irgendwann zu spät sein. Wenn er nur wüsste, was er tun konnte. Wie jeden Tag saß Ray auf der Terrasse und starrte zum Waldrand hinüber. Und wie jeden Tag war Kai schon vor dem Frühstück verschwunden und vertrieb sich seine Zeit irgendwo im Ahornwald. Tief in sich verspürte Ray nagende Schuldgefühle - es regnete durchgehend und es war kalt. Kein Wetter für Jemanden, der sich von seinen Verletzungen erholen sollte. Außerdem hatte Dr. Mikase gesagt, dass Kai mehr essen musste, und das tat er ganz bestimmt nicht, wenn er Frühstück und Mittagessen ausfallen ließ und abends seinen Teller mehr anstierte als alles andere. Verdammt, er sollte etwas unternehmen, irgendwas. Es war seine Schuld. Vielleicht sollte er sich endlich zusammenreißen, reinen Tisch machen. Sich entschuldigen. Und wenn er schon mal dabei war, könnte er ja auch gleich das gestehen, was ihn seit Monaten bedrückte. Wie viel schlimmer konnte es denn noch werden? Auf einer Skala von eins bis zehn war er doch schon bei "katastrophal". Ray hatte nichts zu verlieren, denn es war ja schon alles verloren. Ein Ruck ging durch ihn, dann sprang er auf. Während er im Regen auf den Wald zu stapfte, hörte er hinter sich Kenny maulen, er hätte ihn erschreckt. Er spürte den intensiven Blick in seinem Rücken, doch die Entscheidung war gefallen. Jetzt oder nie. Er bekam nicht mehr mit, dass auch Tyson und Max vom beißenden Kommentar des Chefs auf die Terrasse gelockt wurden. Erleichtert sahen sie Ray nach. "Na endlich, ich dachte schon, er geht nie. Noch ein bisschen mehr und wir hätten wirklich etwas unternehmen müssen." "Nicht, dass wir da irgendeine Idee gehabt hätten. Vielleicht ist es besser, sie sich selbst zu überlassen..." "Ich hab' da so meine Zweifel, aber es schadet sicher nichts, abzuwarten, wie sich das jetzt entwickelt." "Hah, erstmal muss er ihn finden!" Und damit hatte der Blonde gar nicht mal so unrecht. Erst, als Ray schon einige Minuten auf dem schmalen Trampelpfad zurückgelegt hatte, kam ihm in den Sinn, dass er ganz schön viel Glück brauchen würde, um Kai in diesem riesigen Gebiet zu finden. Die Bäume standen eng zusammen, und obwohl es schon seit Tagen beständig regnete, war der Erdboden nur leicht feucht. Ab und zu bekam er einen Tropfen ab, aber es war hier wesentlich angenehmer als vermutet. Außerdem war hier diese spezielle Atmosphäre. Nichts, das einen ablenkte. Während er suchte, konnte er die Gelegenheit nutzen, seine Gedanken zu ordnen. Das fiel ihm jetzt auch gar nicht mehr so schwer. Der Entschluss, endlich etwas zu unternehmen, sich ernsthaft mit dem Problem auseinanderzusetzen, hatte schon viel bewirkt. Es traf ihn nicht wie ein Schlag, es gab keinen Geistesblitz, aber während er durch den Wald spazierte (er ging jetzt nicht mehr ganz so eilig), verstand er sich wieder ein bisschen besser. Er verstand einen Teil von dem, was ihn so wütend gemacht hatte. Es waren komplizierte Gedanken, solche, die er nicht hätte erklären können, aber dennoch verstand er es. Er war so wütend gewesen, weil Kai so verletzt war. Jemand hatte aus seinem Kai eine andere Person gemacht, eine Person, die dieses feine Lächeln nicht mehr besaß, eine Person, die nicht mehr nachts wachliegen und sich mit ihm unterhalten würde, eine kalte und leblose Person. Jemand hatte ihn verletzt und gleichzeitig fühlte sich Ray selbst verletzt. Man hatte ihm sein Liebstes genommen und ihm etwas zurückgegeben, dass nur fast das Gleiche war. Eine Tür war vor seiner Nase zugeschmissen worden und jetzt traute er sich nicht, sie wieder zu öffnen, weil er nicht wusste - oder vielleicht zu genau wusste - was sich dahinter verbarg. Warum er gleichzeitig so wütend auf Kai war, wurde ihm ebenfalls klar. Er hatte immer geglaubt, dass nichts und niemand den Russen verletzten konnte. Worte prallten von ihm ab, ohne Eindruck zu hinterlassen, und er war noch nie einem Kampf aus dem Weg gegangen. Wie konnte er, dieser starke, schöne Mann, sich so unterkriegen lassen? War Kai vielleicht doch nicht so stark? Unglaublicherweise verletzte Ray das mehr als das andere. Er konnte doch nicht für sie beide stark sein, denn wenn er ehrlich war, war er nicht so stark, wie es den Anschein hatte. Manchmal fühlte er sich so schwach und hilflos, und wer sollte ihn auffangen, wenn so etwas passierte? Er musste wieder an die erste Nacht in der Wohnung denken. An Kai, den er zum ersten Mal überhaupt betrunken erlebt hatte. Der fast unterwürfig bat, nicht angefasst zu werden. An den schmalen, ausgezehrten und doch fast zarten Körper in seinen Armen. Den leisen Atem, manchmal unterbrochen von einem unverständlichen Wort. Die zarte Narbe unter dem Augenlid. Das seltsame an Gefühlen war, dass sie meistens alles durcheinander brachten, manchmal aber auch für seltsame Klarheit sorgten. Ray wurde in diesem Moment klar, dass er trotz allem eines auf der Welt am meisten wollte und das war schlicht und ergreifend Kai. Egal ob mit roten Augen oder violetten. Er wollte ihm halten, ihn küssen, ihn lieben - ihn wieder heil machen. Ihm wurde klar, dass seine Wut ein Ausdruck seiner Feigheit war. Damit hatte doch alles angefangen. Er war zu feige gewesen, seine Gefühle auszusprechen und hatte damit mehr als einen Menschen verletzt. Wäre er nicht so feige gewesen, müsste er nicht allein durch diesen dunklen unheimlichen Wald rennen. Wäre er nicht so feige gewesen, könnte er jetzt wahrscheinlich gemütlich vor dem Kamin sitzen. Nun, damit würde jetzt Schluss sein. Nur einmal in seinem Leben würde er nicht das brave, ruhige und ängstliche Kätzchen sein. Dabei war immer noch die Frage, wo er Kai finden konnte. Der Trampelpfad zog sich weiter durch die Bäume, hier und da wurde er breiter und die Blätterkrone lichtete sich. Der Himmel war schwarzgrau, und Rays Stimmung passte sich dem langsam an. Wie lange war er schon unterwegs? Zwanzig Minuten? Eine Stunde? Zwei? Wie weit konnte Kai mit einem kaum verheilten Bein gekommen sein? Hinter einer Biegung wurde der Weg plötzlich breiter. Es sah wie eine Kreuzung aus. Rechts und links zweigten weitere Trampelpfade ab, doch im dämmrigen Licht ließ sich kaum sagen, wohin sie führen mochten. Irgendwo dort draußen war ein See, das wusste Ray, aber konnte Kai dorthin gegangen sein? Wie aus dem Nichts entschied er sich für den linken Weg, der ausgerechnet am Unheimlichsten war. Die Bäume standen hier dichter und irgendwo im Gebüsch bewegte sich ein Tier. Er war so in Gedanken versunken, dass er die Sackgasse erst bemerkte, als er fast mit der Nase dagegen stieß. Völlig überraschend war da ein Fels im Weg. Nun, vielleicht nicht überraschend, immerhin waren sie hier in den Bergen und die immer spärlicher werdenden Bäume hätten einen guten Hinweis geben können. Massiv breitete der Felsen sich nach rechts und links aus, der Regen hatte den Schiefer fast schwarz werden lassen. Eine Spitze ragte von oben herab und bildete ein kleines Dach über dem feuchten Boden. Seufzend ließ er sich gegen die kalte Wand sinken und fühlte sich für einen Moment so mutlos wie früher. Damals, als er noch in China gelebt hatte, war das oft vorgekommen. Dass ausgerechnet ihm Driger geschenkt worden war, war für alle eine Überraschung gewesen. Er hatte so gar nichts gemein mit seinem Bitbeast. Ein schöner, starker, weißer Tiger und er, der schlaksige, unbeholfene Junge. Aber sie waren zusammengewachsen und manchmal merkte er regelrecht, wie Driger ihn beeinflusste. Mariah hatte ihm immer wieder bewundert zugeflüstert, wie ähnlich er dem Tiger war, und manchmal hatte er während seiner Kämpfe ähnliche Kommentare aufgeschnappt. Der Gedanke daran brachte ihn zu einem anderen weißen Tiger, einem aus Plüsch. So richtig war er daraus nie schlau geworden. Bedeutet der Schlüsselanhänger vielleicht etwas ganz Bestimmtes? Es war so frustrierend. Seit Ewigkeiten drehte sich jeder Gedanke nur um Kai und er war keinen Stück weiter gekommen als Tag und Nacht in Träumen zu schwelgen und heimlich zu beobachten. Und natürlich die Sache in der Hütte. Wenn er nur endlich den Mut finden würde zu sagen, was in ihm vorging. Er würde sagen: "Kai, es tut mir leid. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist. Ich wollte dich nicht anschreien oder dir ständig diese Fragen stellen, aber ich mache mir einfach Sorgen, verstehst du? In dieser Nacht, nachdem wir die Weltmeisterschaft gewonnen haben, da wollte ich es dir sagen, aber dann kam Mariah dazwischen. Sie hat einfach nicht verstanden, dass ich nichts von ihr will. Ich habe es ihr mehr als einmal gesagt, aber sie wollte nicht hören. Sie hat mich einfach überrascht, nicht mehr. Ich wollte sie nicht küssen. Als du den Balkon verlassen hast, habe ich ihr das auch gesagt - mehr als deutlich, denke ich. Deswegen hat sie mich ja auch rausgeschmissen. Aber du warst weg, ganze sechs Monate lang. Kannst du dir vorstellen, welche Sorgen ich mir gemacht habe? Ich bin nicht nur in deine Wohnung eingezogen, weil sie sowieso leer stand. Ich wollte dir einfach nah sein auf jede mögliche Art. Es war nicht viel, aber ich hatte das Gefühl, wenigstens einen kleinen Teil von dir bei mir zu haben. Und als du wieder aufgetaucht bist, warst du nicht mehr du. Nicht mehr richtig. Ich meine, du bist zwar da, aber du bist irgendwie anders und das beunruhigt mich. Es beunruhigt mich sehr, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass ich dich trotzdem will. Egal, was es ist, ich will dir helfen. Wenn du mich doch nur lassen würdest. Siehst du denn nicht, dass meine ständige Fragerei nicht darauf abzielt, dich zu nerven, sondern einfach ein Ausdruck meiner Hilflosigkeit ist? Bitte, lass mich dir helfen. Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als dich im Arm zu halten und alles wieder wie früher werden zu lassen. Weil ich dich liebe. Hörst du mich? Ich liebe dich, Kai." Erst mittendrin bemerkte er, dass er alles laut ausgesprochen hatte, doch das störte Ray nicht. Er war hier völlig allein und selbst wenn ihn irgendein Fremder gehört hatte, was machte das schon. Er fühlte sich gut, nein, besser. Dieses Geständnis hatte ihm so lange auf der Seele gelegen und obwohl es keiner gehört hatte, hatte es sich richtig angefühlt. Sollte er noch irgendwelche Zweifel verspürt haben, jetzt waren sie weggeblasen. Es machte nichts, dass er Kai immer noch nicht gefunden hatte, jetzt war er sich sicher, dass er das selbe Geständnis auch heute Abend machen könnte, egal, ob ihm Jemand zuhörte oder nicht. Lächelnd stand er auf, jetzt hatte er es wirklich nicht mehr eilig. Hier irgendwo war der See und es sollte nicht schwer sein, ihn zu finden. Wahrscheinlich musste er einfach nur seiner Nase folgen. Dadurch hatte er ja auch diesen Fels der Erkenntnis gefunden und dadurch würde er sicher auch den See finden. Ray war so leicht ums Herz. Wenn man sich endlich einer Sache sicher war, war das ein wunderbares Gefühl. Heute würde der Tag sein, definitiv. Zwar war er sich keineswegs sicher, wie die Antwort ausfallen würde, aber der Schlüsselanhänger musste schließlich irgendetwas bedeuten, oder nicht? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)