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Between the Lines

The wonderful world of words
von

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Das Für und Wider von Geselligkeit

Kapitel 2 Das Für und Wider von Geselligkeit
 

Ein Woche vergeht ohne neue, gravierende Enthüllungen. Meinen auf Abwegen geratenen Gedanken hilft das nicht weiter. Ich habe das Gefühl mein Gehirn läuft phasenweise aus dem Ruder und ich werde diese seltsamen Empfindungen und Fantasien einfach nicht mehr los. Sie setzen unvermittelt ein. Zu wahllosen Tages- und Nachtzeiten. Ich beobachte Jeff auffällig oft, aber nicht nur ihn, sondern mittlerweile auch andere männliche Exemplare. Wie viele andere auch bin ich ein Ästhet. Schöne Körper sind etwas Herrliches und ich beginne Körper miteinander zu vergleichen. Jeffs schlanker, aber großer Körper. Definitiv männlich. Kains muskulöser, definierter. Absolut männlich. Kaworus zierlicher, fast femininer Körperbau. Er ist ein Kommilitone meines eigenen Studiengangs und Japaner. Ich fange an sie ausführlich zu beschreiben, winzige Details zu entdecken. Bei Jeff irritiert es mich bisher am meisten. Er steht in der letzten Zeit auch ständig halbnackt vor mir. Kurioserweise ich bin mir nicht sicher, ob das schon immer so war oder ob es mir nur mehr auffällt.
 

Wenn ich Jeff zusammen mit Abel sehe, passiert das Gleiche und geht noch eine Stufe weiter. Sofort stelle ich mir vor, wie sie es miteinander treiben. Sowas sollte man sich bei einem Freund nicht vorstellen. Es irritiert mich zusehends. Zumal ich dieses Verlangen noch nie bei heterosexuellen Pärchen hatte. Jeffs Verhalten mir gegenüber hat sich nicht geändert und dennoch komme ich über eine Sache nicht hinweg. Erst habe ich es mir nicht wirklich eingestehen wollen, doch es hat mich tatsächlich enttäuscht, dass Jeff anscheinend nicht das Vertrauen in mich hat etwas Derartiges zu erwähnen. Seine Versuche um tiefere Gespräche blocke ich ab und versichere ihm einzig und allein, dass ich keinerlei Probleme mit seiner Homosexualität per se habe. Und so ist es auch. Unbewusst bestätige ich damit leider auch seine vorige Aussage, dass es mir egal sei. Mir ist nicht klar, warum ich es mache. Schließlich würde ich durch ein wenig Aufmerksamkeit zeigen können, dass er falsch liegt mit seiner grandiosen Einschätzung über mich. Auf jeden Fall bekomme ich den Mund nicht auf, so ist es fast immer, egal, wie sehr mich etwas stört. Bin ich vielleicht wirklich zickig? Nein, pissig. Was auch immer. Ich bin definitiv nur verärgert darüber, dass ich es von Kain erfahren musste.

Kain. Der schwarzhaarige, gutaussehende Nervtöter. Er scheint seither auch überall zu sein. Jedenfalls fällt er mir unentwegt auf. Im Hörsaal. Im Flur. Auf dem Weg zum Hauptgebäude. In der Mensa. Nicht zuletzt weil er der Mitbewohner von Jeffs Gespielen ist. Mittlerweile habe ich Abel kennengelernt. Durch und durch Durchschnitt. Anders lässt es sich nicht sagen. Er muss gut im Bett sein, denn ansonsten kann ich mir nicht erklären, was Jeff an ihm findet. Abels mattblaue Augen sind der Inbegriff der Belanglosigkeit, aber am Schlimmsten ist seine ruhige, monotone Stimme, wenn er etwas erzählt. Einschläfernd und desinteressiert. Nun verstehe ich auch, warum Kain ihn sein Übel nennt. Zudem hat Abel eine Vorliebe für schlechte Witze und dumme Sprüche und obwohl wirklich niemand lacht, lässt er ständig welche von der Stange. Krusty der Clown trifft auf Paris Hilton. Er nervt und garantiert nicht nur mich. Noch bemüht sich Jeff um ein aufmunterndes Quieken. Kichert, wenn es kein andere macht. Aber lacht nur selten. Es sind mehr oder weniger Laute des Fremdschämens. Abel muss wirklich verdammt gut im Bett sein. Ich schüttle den Gedanken von mir.
 

Ich speichere mein abgeschlossenes Skript und kopiere die Datei auf einen USB-Stick. Gekonnt ignoriere ich das blinkende Fenster meines Emailprogramms, welches mir erklärt, dass ich schon vor zwei Tagen hatte fertig sein sollen. Ich habe nur noch heute für die notwendigen Korrekturen gebraucht. Bereits jetzt spüre ich den mahnenden Schatten meiner Lektorin. Ein leichtes Zittern durchfährt mich und die feinen Härchen in meinem Nacken richten sich auf als ich daran, denke, dass sie sich jeden Moment melden könnte. Das unangenehme Schaudern wird noch verstärkt als mir einfällt, dass heute das Tutorium startet, für welches ich gezwungen werde. Bei dem Gedanken daran wird mir ganz mulmig. Der Stick gleitet in meiner Hosentasche und ich schalte den Rechner aus. Ein Blick auf die Uhr zeigt mir, dass die Vorlesung in ein paar Minuten losgeht. Der Minutenzeiger verschwindet hinter einem dicken Kratzer im Glas und das schwarze Lederband offenbart an bereits vielen Stellen sein naturfarbenes Inneres. Ich raffe alles zusammen und ignoriere Jeffs Frage nach meiner Abendplanung. Er schlägt gerade seine Decke auf und hat tatsächlich sein Bett gemacht. Eine Seltenheit.

„Ich bin heute Abend mit Abel verabredet, aber ich denke nicht, dass du dir um Kain Sorgen machen brauchst. Der ist zurzeit mit einem Projekt beschäftigt und bis spät in die Nacht am Arbeiten." Ich verziehe meinen Mund zu einem irren Grinsen, ohne das Jeff es bemerkt. "Aber für alle Fälle hab ich ihm das Bett neu bezogen und du lässt ihn rein, ja?... Robin, hast du gehört?", fragt Jeff nach, während ich akribisch meine Bücher im Rucksack verstaue.

„Ja, ja." Im Grunde habe ich es nichts mitbekommen, denn ich bin mit meinen Gedanken vollkommen woanders. Mein Handy vibriert und es ist, wie erwartet eine Nachricht meiner Lektorin. Sie bleibt ungeöffnet, denn ich weiß, was drin steht. Sie nervt mich schon jetzt. Herrlich. Das kann nur ein schlechter Tag werden.

„Robin?", hakt Jeff noch einmal nach und bleibt in der Tür stehen.

„Was denn?", entflieht mir genervt. Jeff zieht abwehrend die Schultern nach oben zieht und verschwindet. Mein Handy ertönt erneut. Diesmal ist es ein Anruf.

„Quinn?", melde ich mich mit meinem Nachnamen, weil ich die Nummer nicht erkenne. Einen Moment nicht nachgedacht und das Rangehen entpuppt sich als grandioser Fehler.

„Robin, mein Zuckerkringel, du lebst! Wie erfreulich. Du bist zwei Tage im Verzug." Die hohe Stimme am anderen Ende des Telefons gehört zu meiner Lektorin Brigitta. Ich verdrehe automatisch die Augen und widerstehe dem Drang sofort wieder aufzulegen. Sie ist ein ziemlicher Fuchs und Kariesverursacher zugleich. Ich wäre nie ran gegangen, wenn ich ihre Nummer gesehen hätte.

„Ich habe jetzt keine Zeit für dich."

„Ich kriege nicht mal eine Begrüßung? Schäm dich! Zwei Tage, Robin!!!!" Eindringlich.

„Du bist Schlimmeres gewöhnt, also beruhige dich.", beschwichtige ich, greife nach meinem Rucksack und verlasse das Wohnheimzimmer. Prompt stoße ich fast mit jemanden zusammen. Es ist die Blondine, die auch letztens die Diskussion mit Kain miterlebt hat. Sie sieht mich erschrocken an. Ich reiche ihr die runtergerutschte Tasche, entschuldige mich nicht und laufe nach einem kurzen Blick weiter.

„Ich beruhige mich erst, wenn du mir sagst, dass du das Skript fertig hast. Ansonsten. Zwei Tage. Zwei Tage....", wiederholt Brigitta unnachgiebig und ich halte mir genervt den Hörer vom Ohr weg. Ich sollte eine Schmerzenszulage verlangen.

„Ich lege jetzt auf. Ich hab gleich Vorlesungen."

„Robin, wehe, wenn du..." Den Rest ihres energisch gebrüllten Satzes bekomme ich nicht mehr mit. Im Laufen schalte ich mein Handy aus, um weiteren, störenden Anrufen auszuweichen und schüttele den Kopf. Brigitta entspricht dem klischeehaften Stereotyp einer Lektorin. Nervig und penetrant. Sie wird bissig, sobald ich nicht rechtzeitig abliefere oder erzwingt Themen, die ich zu gern umschiffe. Ohne sie würde es nicht funktionieren, das weiß ich mittlerweile. Und im Grunde weiß ich ihre Arbeit auch sehr zu schätzen.
 

Die Vorlesung verbringe ich notgedrungen damit das Skript zu korrigieren und Änderungen vorzunehmen. Meine Leser mögen Happy-Ends und dank Brigitta bekommen sie sie auch. Laut einer eingehenden Analyse des Verlages liegen die Beliebtheit meiner Romane und damit meine Zielgruppe bei den 11- bis 17-jährigen Mädchen mit am Höchsten. Jippie, schallt es sarkastisch in meinem Kopf, während ich meiner Protagonistin ein tränenersticktes und heilfrohes Finale spendiere. Tief versunken in den Armen ihres Liebsten, um den sie in sage und schreibe 250 Seiten wie verrückt kämpfen musste. Gegen intrigante Mitschülerinnen, Eltern und verräterischen Freunden. So wollen es meine Leser und was soll ich sagen, sie sichern mir mein Einkommen. Meine Bücher finanzieren einen Großteil meines Studiums und in meiner feinen, kleinen Zielgruppe bin ich ein unbekannter Star, denn ich veröffentliche unter einem Pseudonym. Einem Weiblichen. Quincey Bird. Die Idee meiner Lektorin. Sie war der Überzeugung, dass sich Liebesgeschichten besser als Frau verkaufen ließen. Wahrscheinlich hat sie Recht. So wie immer. Mir ist es egal. Ich würde die Romane auch anonym veröffentlichen, aber das funktioniert leider nicht. Marketing und Wiedererkennungswert. Ich spule noch ein paar mehr dieser Fachbegriffe ab, die mir Brigitta regelmäßig an den Kopf wirft. Ich setze den letzten Punkt im Manuskript und schicke ich es ab. Nun wird mich Brigitta hoffentlich erstmal in Ruhe lassen. Mein Handy lasse ich vorsorglich aus.
 

Von der Vorlesung bekomme ich nur noch wenig mit. Meine Augen wandern über die gutbesetzten Reihen und bleiben an einem roten Haarschopf hängen. Als sie ihren Kopf zur Seite neigt und mit ihrer Nachbarin quatscht, erkenne ich sie als Kains Freundin. Meines Wissens nach studiert sie Biologie. Auch im vierten Semester, so wie ich. Biologie. Ein Mädchenstudiengang. Im ersten Semester bin ich einmal mit ihr aneinander geraten und beiden Projekten im letzten Semester waren wir uns auch nicht unbedingt grün. Ich kann sie nicht leiden.

Der Dozent beendet die Vorlesung und ich packe meinen Kram zusammen. Als ich aufsehe, blickt sie mich an. Ihre blauen Augen mustern mich. Sie hat für mich nichts Attraktives und wenn Kain auf so was steht, spricht das nicht für ihn. Ich erwidere ihren seltsamen Blick bis sie sich abwendet und mit ihrer Nachbarin den Hörsaal verlässt.

Die restlichen Seminare meines Tages verlaufen erstaunlich ruhig und ereignislos. Kein Kain. Kein Jeff und keine schlechten Witze in Form von Abel. Nicht einmal beim Mittagessen. Ich verlasse das letzte Seminar ein paar Minuten früher, weil ich noch bei meiner Professorin vorbeischauen muss um mir einige Instruktionen wegen des Tutoriums abzuholen. Ich versuche ein letztes Mal es ihr auszureden. Keine Chance. Wenige Minuten später stehe ich vor dem notierten Seminarraum und seufze so schwermütig, dass ich man meinen könnte ich müsste aufs Schafott.

Reden ist nicht meine Stärke und erklären schon gar nicht. Außerdem vertrete ich die Ansicht, dass sich jeder selbst der Nächste ist, also wer es nicht schnallt, hat Pech. Ganz einfach. Nur im Moment nicht hilfreich. Noch immer stehe ich vor der Tür und werde langsam unruhiger. Ich will eine Zigarette zu rauchen. Meine Fingerspitzen kribbeln bereits. Wenn ich Glück habe, wird das Tutorium niemand wahrnehmen und ich kann in Ruhe meinen Laptop anmachen. Ich habe extra keine Werbung gemacht, so wie es die Professorin von mir verlangte. Werbung! Sehe ich aus, wie ein Marktschreier? Werbung machen, absurd. Entweder die Studenten nutzen ihre Möglichkeiten oder sie lassen es sein. Noch immer starre ich auf die Tür als könnte ich damit sicherstellen, dass sie geschlossen bleibt. Durch die milchige Scheibe dringt ein wenig Licht, doch ich kann nicht ausmachen, ob sich im Raum jemand befindet. Ich kann das nicht. Frustriert lasse ich meinen Kopf gegen die Scheibe fallen und seufze.

Unvermittelt geht die Tür auf und ich schrecke zurück. Ich verziehe keine Miene als eine Studentin vor mir auftaucht. Sie lächelt. Ihre Haut hat den feinen, fast schmelzenden Ton von Karamell. Ich glaube, sie ist Inderin. Sie lächelt immer noch, als ob sie nicht ahnte, dass vor ihr ein Verrückter steht.

„Oh, entschuldige, bitte. Ich habe ein Geräusch gehört und wollte sehen, ob sich vielleicht jemand nicht reintraut." Wie Recht sie damit hat. Sie tritt zur Seite und ich linse in den sonst leeren Raum.

„Bist du allein?", frage ich trotzdem vorsichtig und muss mich erst einmal räuspern. Mein Hals ist trocken.

„Ja, bisher schon." Sie folgt mir in den Raum hinein und setzt sich zurück an einen der vorderen Tische. Ein paar Bücher liegen bereit. Einige erkenne ich. Grundlektüre der Biologie und der Biochemie. Sie gehört zu der fleißigen Sorte. Vorbildlich. Ihre dunklen Augen ruhen auf mir, während ich sinnfrei im Raum stehen bleibe und nicht weiß, wie ich fortfahren soll.

„Setz dich doch. Ich bin übrigens Shari." Sie deutet aus Höflichkeit nicht direkt neben sich, aber in ihre Nähe. Ein paar Strähnen ihres langen, schwarzen Haares umstreicheln ihre Schultern, genauso wie es die roten Locken von Kains Freundin getan haben. Doch bei Shari scheinen sie wie Seide über ihren Körper zu fließen. Beeindruckend. Schön. Nach weiterem, kurzem Zögern stelle ich meinen Rucksack neben ihr auf dem Tisch ab und ziehe mir einen Stuhl heran. Ich platziere mich vor ihr, aber ihr nicht direkt gegenüber. Sie sieht mir dabei zu. Für einen Moment verwundert, dann verstehend. Ihr Lächeln wird weicher.

„Robin", sage ich letztendlich, nicke und hoffe ein letztes Mal, dass es nicht mehr Leute werden.

„Hi. Schön dich kennenzulernen. Dich darf ich also mit meinen Fragen drangsalieren?"

„Sieht so aus.", kommentiere ich trocken und versuche diese Worte nicht allzu furchtvoll klingen zu lassen. Sharis Lächeln wird breiter, während ich mir wünsche energischer gegenüber Lehrpersonal Nein sagen zu können. Augen zu und durch, hallt es in meinem Kopf und ich bin mir bereits jetzt sicher, dass ich meiner Professorin am Montag erklären werde, dass der Versuch gescheitert ist. Ich bitte Shari, mir das letztes Thema herauszusuchen, welches sie in der Vorlesung behandelt habe und atme unbemerkt durch als die schöne Inderin beginnt das Buch zu durchblättern. Sie deutet mit einem schlanken Finger auf den Absatz mit Oxidations- und Reduktionsfermenten. Aminosäuren. Ich nicke und beginne in meinem Kopf zu kramen. Als dabei nicht viel rauskommt, ziehe ich mir das Buch heran und lasse meine Augen über die schwarzen Lettern wandern. Es hilft. Ich frage sie nach etwaigen Problemen und Shari holt sofort ihre Notizen hervor. Während sie ein paar Fragen zusammenstellt, schweifen meine Gedanken wieder ab.

„Prinzessin", murmele ich leise vor mich hin, während ich geistesabwesend in das Buch schaue und versuche zu sinnieren, was es mit der nächsten Passage auf sich hat ohne sie wirklich zu lesen. Es sind ein paar komplizierte Formeln und Gleichungen dabei. Für mich ergibt es alles einen Sinn, aber wie erkläre ich es ihr?

„Was?" Shari sieht mich verwundert an. Erst jetzt wird mir klar, dass ich es laut gesagt habe. Für einen Moment presse ich meine Lippen zusammen.

„Dein Name. Er bedeutet Prinzessin, oder?" Sie sieht mich mit ihren großen braunen Bambiaugen erstaunt an. Danach folgt ein feines Lachen, welches von ihren Lippen perlt, wie süßer Honig.

„Ja, woher weißt du das? Das ist ja tiefstes Hindi."

„Irgendwo in einem Wörterbuch gelesen, wahrscheinlich." Ich zucke mit den Schultern. Gelogen. Eine meiner Kitschromanfiguren trägt genau diesen Namen. Sie ist eine zickige Kuh, die sich klischeehaft mit der Zeit in den Klassennerd verknallt. Ja, so was wollen die jungen Mädchen heute lesen. Ein Zeichen für die umfangreichen Wege der wahren Liebe, zitiert nach Brigitta. Ich bin der Überzeugung, dass diese Mädchen nur lesen wollen, wie das schüchterne Pardon an den heißesten Typen der Klasse kommt. Wahre Liebe im Zeichen der Unwahrscheinlichkeit, zitiert nach mir.

„In einem Hindi-Wörterbuch? Du hast ja seltsame Lesegewohnheit." Shari stützt ihren Kopf auf ihrer Hand ab.

„Beurteile niemand nach der Wahl seiner Lektüre." Ich deute auf das Exemplar von J.K. Rowlings Harry Potter und der Gefangene von Askaban in ihrer Tasche. Sie lächelt mir entgegen und ich kann nicht verhindern, dass auch meine Mundwinkel etwas nach oben zucken. Sie hat etwas Einnehmendes. In einer leichten Bewegung wirft sie ein paar der schwarzen Haarsträhnen über ihre Schulter zurück, doch sie gleiten gleich wieder nach vorn. Als würden sie, wie Schmetterlinge über ihre Haut streichen, sanft küssend und liebkosend. Sie entspricht sogar nicht dem Abbild meiner Romanfigur und das macht es so viel besser.

„Eine verlorene Wette. Ich schlage mich gut und man sagte mir, dass sie mit jedem Band erträglicher werden", kommentiert sie meinen Hinweis ohne offensichtliche Gefühlsregung. Ich zucke absichtlich nur mit den Schultern, um ihr nicht zu verraten, dass ich sie selbst gelesen habe. Sie scheint mich zu durchschauen. Ihr Blick ist wissend und ich lenke ihre Aufmerksamkeit wieder auf die angesprochene Passage im Lehrbuch zurück, in dem ich auf eine der komplizierten Formel deute.
 

Nach einer Stunde sehe ich dabei zu, wie sie sich zurücklehnt und seufzend an die Decke sieht. Sie fährt sich durch die dunklen Haare. Aus ihrer momentanen Erscheinung spricht die pure Verzweiflung.

„Ich verstehe es nicht", sagt sie ehrlich und ich komme nicht umher schief zu lächeln.

„Wärst du eine Blondine, würde ich jetzt was Blödes sagen.", gebe ich vom Stapel. Shari schlägt mir empört gegen den Oberarm.

„Reiß dich zusammen, ich kenne dich noch zu wenig um Gnade walten zu lassen", kontert die schöne Inderin. Ihre Reaktion ist angenehm. Kein zickiges Wundern. Kein schmollendes Schniefen. Sie versteht den Scherz. Mein Magen beginnt zu knurren. Ich lege beruhigend die Hand auf meinen flachen Bauch und spüre, wie er das Geräusch wiederholt.

"Genau das macht mein Kopf auch gerade."

"Damit würde ich aber mal zum Arzt gehen!", kommentiere ich und merke, wie sie mir ihre beschriebenen Blätter gegen den Kopf haut. Ja, ich mag sie. Ich blicke noch einmal auf das Buch, lese die ersten Passagen und gebe es auf. Ich bekomme es nicht besser erklärt. Meine Lehrerqualitäten sind eindeutig zu wenig ausgeprägt. Schon in der Schule habe ich es gehasst Vorträge halten zu müssen. Meine mündlichen Noten und auch die Mitarbeitsnoten hatten Kellerniveau. Ich verstehe mich auf das textliche Formulieren und das wird letztendlich auch das gewesen sein, was meine Professorin dazu verleitet hat, mich um diese Stunden zu bitten. Meine Texte sind gut, aber verbal fabriziere ich nur Müll. Ich werfe einen Blick auf die Uhr. Wir sind schon eine gute Stunde dabei und ich finde, dass das reicht.

„Okay, ich mache dir einen Vorschlag. Ich schreibe dir zu nächsten Woche das Wichtigste dazu auf. Vielleicht hilft das."

„Ja, gern, wenn es dir keine Umstände macht." Wieder dieses bezaubernde Lächeln. Ich schüttele den Kopf. Umstände sind es wirklich keine. Ich schreibe sowieso. „Heißt das, du erwägst tatsächlich, dich nächste Woche wieder mit mir hinzusetzen? Und vielleicht auch mit ein paar Leuten mehr?" Erst ihre Worte machen mir deutlich, dass ich genau das, damit impliziert habe. Mir wird mulmig. Ich will eine Zigarette. Ganz schnell und Pudding.

„Oh, ich habe dich jetzt verunsichert?", fragt sie weiter und wundert sich über mein Schweigen.

„Ähm,...nein natürlich nicht. Aber du erwägst es tatsächlich dich noch mal hierher zu bemühen, obwohl ich dir nicht helfen konnte?" Ich packe demonstrativ meine Zettelwirtschaft zusammen.

"Na, na. Du unterschätzt dich. Du hast mir geholfen." Ich grinse schief als Reaktion.

"Wann habt ihr euren BC-Kurs?", frage ich sie, ohne weiter auf ihre vorige Aussage einzugehen.

„Was?"

„Euer Kurs für Biochemie."

„Oh, Mittwoch." Ich nicke es ab und packe meine Sache in den Rucksack zurück. Ich reiße den Teil eines Blattes ab und schreibe Shari meine Handynummer auf.

„Schreib mir Mittwochabend oder Donnerstag die Themen, dann werde ich was zusammenfassen und bringe es dir später mit." Sie nimmt mir den Zettel aus der Hand und nickt. Ich greife meine Tasche und verschwinde zur Tür. Ihre Stimme hält mich zurück.

„Robin? Danke!" Ich blicke kurz zu ihr und nicke.
 

In der Mensa besorge ich mir eine Kleinigkeit zu Essen und beruhige damit das nervende Grummeln meines Magens. Ein Mozzarella-Tomaten-Sandwich mit Pesto. Lecker. Den Pudding hat meine fehlende Muße mich hinzusetzen verhindert.

Ich nehme einen Biss von meinem belegten Brötchen und sehe Abel und Jeff im Flur auf mich zu kommen. Die beiden blonden Männer wirken auffällig vertraut miteinander. Sie lachen. Abels Hand streicht über Jeffs Arm. Es ist nur eine winzige Berührung, doch irgendwie scheint sie bedeutend. Jeff lächelt als er mich sieht. Ich lecke mir einen Rest Pesto von den Lippen. Das Aroma von Basilikum kitzelt meine Geschmacksknospen. Feine Süße belebt meine Zunge. Abels Blick ruht auf mir, während sie die Distanz überwinden. Er mustert mich eindringlich. Irgendwie ist er mir nicht ganz geheuer.

"Hey", grüße ich die beiden, sehe dabei zu, wie Abel seinen Arm um Jeff legt und wie ihn Jeff neckisch wieder wegschiebt.

"Und bist du wieder besser drauf?", fragt mich Jeff und ich ziehe verwundert meine Augenbraue nach oben.

"Ich bin gute Laune in Reinform", kommentiere ich, erlaube mir den Blitz eines Lächelns und verfalle zurück ins mein stoisches Allwettergesicht.

"Ja, wie ein Clown aufm Friedhof", sagt Abel, kichert und schaut verblüfft auf sein Handy, weil es klingelt. Ich schicke ein stilles Danke gen Himmel und erspare mir damit die freundschaftliche Scheinreaktion. Meine heiteren Mundzuckungen sind dank Shari heute sowieso schon aufgebraucht. Abel wendet sich zum Telefonieren von uns ab. Ich beiße erneut von meinem Sandwich ab, schmecke Tomate und die harzige Note von Pinienkernen. Es ist fantastisch.

"Wir wollen heute Abend in ein Improvisationskabarett. Du kannst mitkommen, wenn du willst?" Kabarett? Improvisation? Kabarett? Niemals. Jeff lehnt sich zu mir an die Wand. Tomatensaft läuft über meine Finger. Ich lecke ihn ab, bevor ich meinem Mitbewohner antworte. Die Säure lässt meine Muskeln arbeiten und es bildet sich eine angenehme Gänsehaut auf meinem Hals, die sich über meinen Oberkörper arbeitet.

"Kannst du dich noch daran erinnern, dass ich der Einzige war, der in der Schule nie bei den Theateraufführungen war?", frage ich, während ich verhindere, dass mir Saft auf das T-Shirt tropft. Meine Zunge gleitet über die Fingerbeere meines Zeigefingers und danach über zwei weitere. Jeff sieht mir dabei zu.

"Ja."

"Dann verstehe ich die Frage nicht", erwidere ich und beiße ein weiteres Mal demonstrativ von meinem Essen ab.

"Ach komm schon. Es wird witzig. Außerdem schadet es dir nicht auch mal raus zukommen. Du mottest mir noch ein." Jeff entfernt mir imaginäre Spinnweben vom Kopf und streicht mir etwas von der grünen Paste von der Wange. Ich sehe zum telefonierenden Abel. Er gestikuliert wild. Das Gespräch scheint nicht sehr positiv zu sein. Ich unterdrücke das Bedürfnis hämisch zu lachen. Ich will nicht mit Jeff und dem Kerl, mit dem er ins Bett geht, irgendwohin gehen. Dann werde ich meine seltsamen Fantasien ja nie wieder los.

"Nein." Ich wische mir mit dem Ärmel noch einmal selbst über den Mund, schiebe mir den letzten Happen zwischen die Lippen und zerknülle das Papier. Erneut schmiere ich mir irgendwas Feuchtes in die Hände, doch es ist mir egal. Vorbildlich, weil ich hinter irgendeiner Ecke Micha vermute, bringe ich das Verpackungspapier zum Mülleimer. Wer das als Lerneffekt bezeichnet, irrt. Reine Ablenkung und Verzögerungstaktik in der Hoffnung, dass Jeff nach meiner Rückkehr nicht weiter nervt.

"Warum nicht?", fragt Jeff, als ich wieder zurückkomme. Ein Fehlschlag. Mein Mitbewohner ist unerbittlich. Erneut sehe ich zu Abel und wenig später zu ihm.

"Laienhaftes Schauspiel ist nicht mein Ding und das fünfte Rad am Wagen sein auch nicht." Unbewusst taste ich meinen Körper nach einer Zigarette ab. Nichts. Jeff beobachtet meine Bewegungen und verzieht das Gesicht.

"Dabei kannst du das so gut", kommentiert er sarkastisch. Ich werfe ihm einen vernichtenden Blick zu und seufze schwer, als mir bewusst wird, dass ich keine Zigarette finden werde.

„Ach komm, wir sind eine kleine Gruppe und hör verdammt noch mal auf damit! Deine Mama killt mich." Mit seiner letzten Aussage meint er meine Raucherei. Ich lasse meine Hände sinken.

"Oh ja, ein garantiert schmerzhafter Tod. Und nein!" Mit meiner Mutter ist bei einigen Sachen nicht zu spaßen. Die Geschichte mit meinem Zigarettenkonsum zählt dazu. Sie erwischte mich und Jeff ganz klischeehaft im Alter von 14 Jahren im Schuppen. Ihr Gebrüll hatte mich das Trommelfell gekostet und Jeff durfte einen Monat lang unser Haus nicht betreten. Ich konnte mich dafür Wochen lang mit der Ausrede herauswinden, dass ich einfach nicht gehört habe, wenn jemand rief. Ich war praktisch auf einem Ohr taub. Auch Jeff scheint an diese Geschichte zu denken, denn es bildet sich ein feines, belustigtes Lächeln auf seinen Lippen. Es war kurios.

"Ach komm, sei kein Frosch!" Lächelnd hängt sich mein Kindheitsfreund an meine Schultern. Seine warme Wange bettet sich an meine. Damals in unserer Heimat und zu unserer Schulzeit hat er das öfter getan.

Der dezente Geruch, der mir durch seine Nähe entgegen weht, ist irgendeines seiner etlichen Parfüms. Dieses hat einen Hauch von Moschus. Sein Körper lehnt dicht an meinem und die Stelle unserer Berührung wird immer wärmer. Ich lege meine Hand gegen seinen Arm und klopfe leicht dagegen. Abel kommt wieder auf uns zu. Er wirkt nicht gerade amüsiert.

"Nein", sage ich erneut, merke, wie mich Jeff kurz fester drückt und dann loslässt. Ein feiner Seufzer, den nur ich höre rinnt über seine Lippen. Was hat er denn erwartet?

"Gut, mit dir zu diskutieren ist mir zu stressig. Du lässt dich sowieso nicht zu deinem Glück zwingen." Damit hat er Recht, denn er hat es oft genug versucht und ist kläglich gescheitert. Mit einer Wand zu reden ist einfacher und wahrscheinlich auch unterhaltsamer.

"Ich wünsche euch aber viel Spaß!", klinge reichlich unehrlich. Ich ernte von Abel einen seltsamen Blick und von meinem Mitbewohner eine herausgestreckte Zunge. Danach folgt ein eindeutiges Grinsen.

"Spaß werden wir haben. So oder so...", kommentiert Jeff letztendlich und ich verziehe angewidert das Gesicht als mir die versaute Komponente deutlich wird. Ich lasse ihn wissen, wie sehr es mich anwidert, in dem ich eine Würgegeste mache. Jeff grinst. Ich hebe zum Abschied meine Hand zum Gruß und blicke auf die Uhr.
 

Jetzt brauche ich dringend ein paar Zigaretten. Ich mache einen Abstecher in die Stadt, hole Geld, esse ein Eis in meinem Lieblingscafé und besorge mir die ungesunden Glimmstängel. Eigentlich habe ich meinen Konsum schon drastisch reduziert, aber Dank Jeff artet es wieder aus. Er war auch daran schuld, dass ich mit dem Rauchen angefangen habe. Auf dem Weg zurück ins Wohnheim rauche ich gleich drei Zigaretten hintereinander. Es geht mir danach nicht mal besser, aber zu wissen, dass ich wieder welche habe, reicht mir schon. Dafür wird Jeff büßen. Ich schnipse den letzten Stummel ins Beet und laufe plötzlich gegen etwas Menschliches.

"Huch.", entflieht mir leise und taumele zurück.

„Robin, sie machen es schon wieder." Kain packt meine Handgelenke als ich abwehrend die Hände hochziehe und weiter zurück wanke. Das wäre in einem Sturz geendet. Garantiert. Trotz seiner Größe ist Kain ziemlich lautlos. Ich brauche einen Augenblick, um mich zu beruhigen. Er kann doch nicht einfach so vor mir auftauchen. hat er auf mich gewartet?

"Schon wieder!", wiederholt er und lässt endlich meine Handgelenke los.

„Wieder? Was...Oh!" Er meint Jeff und Abel. "Es ist zwei Wochen her, oder?", kommentiere ich und versuche, mich an der Gestalt vorbei zu schieben. In meinem Kopf gehe ich schon die Möglichkeiten durch ihn irgendwie abzuschütteln. Doch da er weiß, in welches Zimmer er muss, ist es alles aussichtslos. Zu dem greift er mir erneut an den Arm und hält mich zurück. Kain hebt nach meinem Kommentar seine Augenbraue und sieht mich an als hätte ich gerade etwas völlig Absurdes von mir gegeben.

„Du wolltest, doch mit ihm reden!", sagt er bemitleidenswert.

„Habe ich nie gesagt", wehre ich ab und sehe es nicht ein, mich schon wieder auf eine Diskussion mit ihm einzulassen. Davon hatten wir in den letzten Wochen reichlich. Kurze. Lange. Aber vor allem Nervtötende. Er ist es, der ein Problem damit hat, also muss er es auch selbst lösen.

„Ach komm, warum können sie es denn nicht bei euch tun? Du setzt dir einfach deine Kopfhörer auf und drehst die Musik laut. Tadaa." Bei den letzten Worten fällt die Erregung seiner Stimme deutlich ab, so dass es fast gemurmelt klingt. Kurz deutet er mit dem Finger auf jene Kopfhörer, die still um meinen Hals liegen. Nun hebe ich meine Braue und sehe ihn seltsam an, weil er definitiv etwas Abwegiges gesagt hat. Ich setze zu einem dämlichen Kommentar an, doch ich breche ab. Kain wirkt abwesend. Seine Augen blicken mir müde entgegen. Mir fällt wieder ein, warum er so fertig aussieht. In seinem Studiengang gibt es in jedem Semester ein anderes großes Projekt, welches drei-stufig über die gesamte Vorlesungszeit verteilt ist. Die erste Woche war anscheinend schon vorüber. Von Erzählungen weiß ich, dass es unheimlich anstrengend sein muss.

„Rede du doch mit Abel, wenn es dir so wichtig ist." Ich lasse ihn mit diesem Ausspruch stehen, doch nach nur wenigen Metern ist er wieder dicht hinter mir.

„Aber der will es nicht verstehen." Er hat also schon mit ihm gesprochen.

„Verpacke es in einen dämlichen Witz, dann versteht er es schon", rate ich belustigt. Kains Mundwinkel zucken minimal nach oben.

„Komm schon. Ich bin echt müde und will pennen."

„Kaffee soll helfen."

„Schon zwei Liter gehabt. Hilft nicht mehr."

„Such dir doch eine Parkbank", schlage ich vor.

„Draußen ist kalt." Ich seufze und sehe auf die Uhr. Es ist halb Neun. Abel und Jeff werden reichlich spät zu ihrem Improvisationsding kommen. Vielleicht haben sie auch vor lauter Sex vergessen, dass sie dorthin wollten. Der Sex muss wirklich gut sein. Irgendwie regt sich in mir langsam der Neid. Schon wieder entstehen diese verräterischen Bilder. Ich versuche sie eilig zu verdrängen.

„Geh doch zu Merino oder wie auch immer die Rothaarige heißt."

„Merena. Sie ist kein Schaf."

„Was?", frage ich minimal dümmlich, da mich das Schafkommentar etwas aus der Bahn wirft. Ich bleibe vor meiner Zimmertür stehen und sehe dem größeren Mann genervt an.

„Merinos sind Schafe, die besonders feine Wolle produzieren. Ich hab einen Pullover davon. Schön kuschelig." Während seiner Erklärung klingt seine Stimme etwas kindlich, so als beschriebe er mir sein Lieblingsplüschtier.

„Na dann vergrab dich doch in diesem." Ich tippe den Code für die Tür ein und verhindere, dass Kain mir ins Zimmer folgt. Ich schaffe es nur dank seiner Müdigkeit. Seine Hand drückt sich gegen die Tür.

„Robin, bitte. Die treiben es gerade schon wieder in meinem Zimmer. Fast in meinem Bett. Diesmal im Stehen und vor dem Schreibtisch. Hab doch etwas Mitleid." Die Bilder in meinem Kopf werde ich garantiert nie wieder los.

„Nein!" Ich schlage ihm die Tür vor der Nase zu.

Ich bin mir hundertprozentig sicher, dass er genügend andere Ausweichmöglichkeiten findet. Ich verstehe nicht, warum er diese nicht nutzt. Er will mich nerven. Ganz bestimmt. Warum sonst kommt er freiwillig zu mir? Wir kennen uns kaum. Wir mögen uns eigentlich nicht. Jedenfalls ist mir nichts anderes bekannt. Also was ist der Grund, aus dem er mich einfach nicht in Frieden lässt? Ich höre ein dumpfes Geräusch an der Tür. Es ist kein Klopfen und es folgt auch kein weiteres. Mein Blick fällt auf Jeffs Bett. Er hat es neu bezogen. Warum hat er es neu bezogen? Es dauert einen Moment, doch dann fallen mir die Worte wieder ein, die er am Morgen an mich gerichtet hat. Es sind nur Bruchstücke, aber sie enthalten die Begriff Verabredung, Abel, Bett, Kain und reinlassen. Wahrscheinlich hat Jeff Kain den Floh ins Ohr gesetzt, dass es okay ist, wenn er hier schläft.
 

Das wird er mir büßen. Er vergnügt sich und ich muss mich mit dem Quälgeist rumplagen. Garantiert kann ich mich wieder die ganze Nacht nicht konzentrieren. Doch während ich das denke, gehe ich zurück zur Tür und öffne sie. Kain fällt mir vor die Füße. Er hat das dumpfe Geräusch eben verursacht als er sich hingesetzt hat. Nun sieht er mich am Boden liegend an. Ich steige über ihm rüber und gehe zu meinem Schreibtisch. Kain regt sich nicht, sondern sieht mir auf dem Rücken liegend nach.

„Was ist? Steh auf! Ich schleif dich nicht ins Bett. Wenn ich das versuche, hole ich mir einen Bruch." Ich lasse mich auf meinen Schreibtischstuhl fallen, verschränke die Arme vor der Brust und schlage die Beine übereinander.

„Das steinerne Ding in deiner Brust funktioniert. Es ist ein Wunder!", sagt Kain enthusiastisch und ich bereue bereits jetzt den winzigen Augenblick von Freundlichkeit.

„Ich schmeiß dich gleich wieder raus", erwidere ich auf seinen Kommentar und schalte meinen Rechner an. Der andere Mann rappelt sich schwerfällig auf und schlürft Richtung Bett.

„Das musst du mir erstmal beweisen, bevor ich das glaube." Touché, denn dabei würde ich mir auch einen Bruch heben. Statt zu antworten, deute ich auf Jeffs frischbezogenes Bett. Diesmal wird er sich nicht in meins legen. Das werde ich diesmal definitiv verhindern. Auch Kain bemerkt den frischen Überzug und startet nicht einmal den Ansatz in mein Bett zu gehen. Immerhin. Kain legt seine Tasche auf Jeffs Schreibtisch ab und ich schaue dabei zu, wie er sich den Pullover über den Kopf zieht. Er trägt nichts anderes drunter. ich sollte wegsehen, doch ich tue es nicht. Wie erwartet ist sein Oberkörper muskulös und definiert. Ich sehe, wie bei der Bewegung seiner Arme die Muskeln seines Rückens hervortreten. Ein feines Spiel unter ebener Haut. Er hat ein Tattoo auf der Innenseite seines rechten Oberarms. Ich kann nicht erkennen, was es ist. Wahrscheinlich ein Schriftzug. Als er beginnt seine Hose zu öffnen, wende ich mich doch von ihm ab. Schlimm genug, dass ich mittlerweile Jeff anstarre. In meinen Fingerspitzen beginnt es zu kitzeln. Ich schiebe mir die Kopfhörer auf die Ohren. Noch während sich Kain bettfertig macht, beginnen sich erste Worte zu formulieren, die sich heftig nach draußen drängen. Soviel zum Thema Konzentration.
 

Kain schläft schnell und tief. Er muss wirklich müde gewesen sein und nutzt keine Decke. Sein Oberkörper liegt frei und auch sein Unterleib. Nur seine schlanken Beine sind bedeckt. Seine Brust hebt und senkt sich sachte. Die gleichmäßige Bewegung hat etwas Hypnotisches. Ich starre ihn an bis sich sein Kopf plötzlich in meine Richtung dreht. Automatisch weiche ich zurück. Doch ich merke, dass er noch immer schläft. Ein paar Strähnen seines schwarzen Haares fallen über seine Stirn. Er sieht entspannt aus. Locker. Sogar etwas jünger, wenn er keines dieser übertriebenen Lächeln in seinem Gesicht hat. Mein Finger tippt gegen die Leertaste und irgendwann bin ich in der Mitte der Seite des geöffneten, leeren Dokuments angelangt. Kains ruhiger Atem, der den Raum erfüllt. Ich bekomme Gänsehaut, als ich mir vorstelle, wie sein warmer Atem auf Haut trifft. Kitzelnd. Streichelnd. Ich lösche die leeren Tabs und beginne zu tippen.

Nach einer Weile wird Kains Atembewegung schneller und damit lauter. Ich stoppe mit dem Schreiben und drehe mich zu dem schlafenden Körper. Seine Lippen öffnen sich. Er träumt. Es muss etwas Anregendes sein. Ich lehne mich in meinem Stuhl zurück, vernehme das leise Quietschen der alten Scharniere und Schrauben. Kains Bauch spannt sich an. Ich folge der Muskelbewegung. Die leichte Abzeichnung seiner Rippen. Seine Brustwarzen sind hart. Ich frage mich, wie es sich anfühlt sie zu berühren und das löst ein feines Kribbeln aus, welches sich über meine eigene Brust arbeitet. Ich wende mich ab und schließe die Augen. Es fühlt sich sonderbar an. Die Luft ist schwer. Ein feines Keuchen entflieht Kains Lippen. Ich blicke zurück. Er neigt seinen Kopf wieder in die andere Richtung. Was er wohl träumt?
 

Ich brauche lange, um mich von dem schlafenden Körper abzuwenden. Ich zwinge mich letztendlich dazu, in dem ich mit beiden Händen an die Tischkante fasse und meinen Stuhl zum Bildschirm drehe. Erst als ich wieder auf den Text starre, merke ich, wie heftig mein Herz schlägt und was ich geschrieben habe. Im Moment verstehe ich mich selbst nicht mehr. Wie kann mich so ein einfacher und trivialer Fakt derart aus der Bahn werfen? Jeff mag Männer! Na und? Es ist auch nicht das erste Mal, dass ich damit in Berührung komme. Allerdings waren Outings in unserer Schule eine Seltenheit. Wahrscheinlich lag das an der elendigen Kleinstadtmentalität. Nichts hören, nichts sehen und nichts sagen. Ich verfluche meine eigene Ignoranz. Ich bin mir sicher, dass es vor allem an Jeff liegt, der mich mit dieser Tatsache vollkommen überfahren hat. Es ist wie das plötzliche Auftreten des eigentlichen Drahtziehers als Höhepunkt des letzten Aktes eines Krimis, obwohl man sich die ganze Zeit sicher war, dass es nur der Butler gewesen sein kann. Oder der Gärtner. Jeffs Homosexualität versteckt im Schein des bügelfeinen heterosexuellen Anzugs eines Butlers. Ich brauche dringend mehr Schlaf.

Ich stelle mir dauernd die gleichen Fragen. Gab nie Anzeichen oder habe ich sie einfach nur nicht gemerkt? In der Schule hatte Jeff eine Freundin. Auf Partys hat er Mädchen geküsst. Aber vielleicht auch Jungs? Ich weiß es nicht mehr. Ich war nie sehr aufmerksam. Noch immer umfassen meine Hände die Tischkante. Ich fasse sie fester bis meine Knöchel weiß hervortreten. Doch, einen Mann hat Jeff geküsst. Mich.
 

Meine Nackenhaare richten sich auf, reagieren auf einen Luftzug im Raum. Vielleicht nur eine Ahnung. Dann taucht mit einem Mal Kains Gesicht neben mir auf. Obwohl er mich nicht berührt, spüre ich Wärme, die sich auf mich überträgt. Er sieht direkt auf meinen Bildschirm. Geradewegs auf mein Geschriebenes. Aus meinen Kopfhörer dringt Stroke 9 mit 'Do it again'. Ich bekomme Gänsehaut, während der Sänger fröhlich 'You're a freak. You're alone in your bed with graphic images in your head' in meine Ohren haucht.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  alandatorb
2015-02-27T16:10:27+00:00 27.02.2015 17:10
wow - auf die Reaktion bin ich mal gespannt und ich würde leidenschaftlich gerne auch einen Blick über Robins Schulter werfen und sein Manuskript lesen :)
Antwort von:  Karo_del_Green
13.03.2015 12:42
hehe :) Ich werde versuchen ein paar mehr Einblicke zu geben ;)

Vielen lieben Dank für deine Kommies und ich hoffe, dass es dir auch weiterhin gefällt^^
Besten Dank und lieben Gruß,
del


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