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Between the Lines

The wonderful world of words
von

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Ohne Verstand, ohne Mut… aber mit Herz

Kapitel 14 Ohne Verstand, ohne Mut… aber mit Herz
 

Kain macht einen Schritt auf mich zu. Ich weiche unwillkürlich zurück. Ich bin kein Fan von vergangenheitströstenden Umarmungen oder weltschmerzheilenden Gesten. Es änderte nichts. Weder das nagende Gefühl, noch das beißende Unvergessen. Ich brauche das nicht. Er wiederholt die Geste des auf mich zu Kommens. Es ist nur der Ansatz, doch ich flüchte weiter in den Raum hinein, um den größtmöglichen Abstand zwischen uns zu bekommen.

„Nicht“, entflieht es mir. Sein Blick ist mir unangenehm genug. Kains Arme zucken kurz nach oben. Dann lehnt er sich gegen meinen Schreibtisch, lässt seine Hände darauf sinken. Wieder trifft mich dieser intensive Blick, scheint mich zu durchdringen und sorgt dafür, dass sich der Schmerz in meinem Inneren überall hin ausbreitet. Ich kann das nicht.

„Robin…“, setzt er ruhig an.

„Nein!“, sage ich, ohne darüber nachzudenken und seine Worte abzuwarten. Es ist so eindeutig, dass Kain kaum merklich zusammenzuckt. Ich brauche das nicht. Ich möchte nicht darüber reden. Ich will nicht mal daran denken.

„Ich lasse dich in Ruhe, wenn du es mir sagst und ich gehe, wenn du es willst. Ganz einfach“, spricht er diesmal aus.

„Ich brauche eine Zigarette“, murmele ich unwirsch und greife nach der Strickjacke, die auf meinem Schreibtischstuhl liegt. Das Gefühl in meiner Magengegend wird immer unerträglicher. Es ist schwer und drückt Gedanken nach oben, die ich gern tief versunken gelassen hätte. Ich will diese Gefühle nicht und ich will Kain nicht andauernd so labil gegenübertreten. Wozu will er das überhaupt wissen? Was verspricht er sich davon? Seit Jahren versuche ich mein Bestes, nicht darüber nachdenken zu müssen. Nicht darüber zu reden, weil es mich jedes Mal wieder in Stücke reißt. Niemand muss es wissen.

Noch im Gehen fummele nach einer Nikotindröhnung, doch trotz mehrmaligen Abtasten kann ich keine Zigarettenpackung finden. Auf der Hälfte der Treppe nach unten mache ich auf dem Absatz kehrt, bleibe oben wieder stehen und drehe abermals um. Das ist lächerlich. Dann eben keine Zigaretten. Draußen kehrt sich das Gefühl sofort wieder um. Ich will unbedingt Nikotin. Irgendjemand wird schon zu finden sein. Ich laufe zur juristischen Fakultät, in der Hoffnung, dort einen übernächtigten Jurastudenten anzutreffen, der sich mit ein paar Zigaretten und Energydrinks Paragraphen reinzieht. Nichts. Auch der Abstecher zu Abels Homebase, der Fakultät für Prozesswissenschaften, bringt keine Punkte an der Nikotinfront. Langsam werde ich hibbelig, spüre die Nervosität vor allen in meinen Händen. Ich fühle mich ruhelos und schaffe es einfach nicht, meine Gedanken zu ordnen. Ich lasse meinen Blick umher schweifen. Der Sportplatz befindet sich direkt vor meiner Nase. Ein paar Körbe zu werfen, würde mir jetzt helfen. Oder ich sollte einfach eine Runde um den Platz joggen. Die Anstrengung würde mir wahrscheinlich einen Schlaganfall bescheren. Problem gelöst.

Ein letzter Blick zum Feld. Ich atme tief ein. Nächster Halt; der Foodstore. Niemand steht draußen und natürlich habe ich kein Geld in der Tasche. Abgesehen von dreißig lausigen Cent, die in meiner Hose rumkullern. Mir wird langsam kalt und es beginnt zu nieseln. Erst, als ich vor der Fakultät ankomme, in der auch die Campuszeitung untergebracht ist, finde ich endlich jemanden, der den für mich begehrenswerten Glimmstängel in den Händen hält. Ein großer, blonder Typ. Er hat etwas Rockiges. Lederjacke. Enge dunkle Jeans. Er tippt auf seinem Handy rum, während ihn eine zierliche Brünette volltextet. Sie verschwindet ins Gebäude, bevor ich bei ihnen angekommen bin. Ich kenne ihn nicht. Er sieht noch immer auf sein leuchtendes Display. Als ich näher komme, lässt das Licht sein komplett gepierctes rechtes Ohr glitzern.

„Hey, hast du zufällig noch eine Zigarette für mich übrig?“, frage ich gerade heraus und sehe, wie er mich mit blauen Augen anschaut. Er mustert mich. Zweimal. Von unten nach oben und danach noch in die Gegenrichtung. Ich sehe reichlich seltsam aus in meiner kaputten Hausjeans und der wenig eleganten Strickjacke. Der Typ klemmt sich seine Zigarette zwischen die Lippen und zieht aus seiner Jackeninnentasche eine fast volle Packung. Er reicht sie mir. Meine Lunge macht einen freudigen Hüpfer. Seltsames Gefühl. Eins zu null für die Sucht

„Danke.“ Ich zupfe mir eine Zigarette raus. Bevor ich nach Feuer fragen kann, hält er mir ein Zippo hin. Ich spüre, wie seine aufmerksamen Augen meinen Körper abfahren. Diesen Blick hat auch Abel manchmal drauf. Es gefällt mir nicht.

„Was? Reicht dir ein einfaches Danke nicht?“, frage ich spitz, nachdem ich einen tiefen Zug genommen und damit eine Unmenge an Rauch in meine Lungen gesogen habe. Auf dem Gesicht des blonden Mannes bildet sich ein anzügliches Grinsen.

„Von dir würde ich mir auch einen blasen lassen“, sagt er ohne Umschweife und das Grienen wird noch ein Stück dreckiger. Er knallt mir diese Worte einfach so vor den Latz. Gut, dass ich meine Mimik im Griff habe, sonst hätte er gemerkt, dass ich einen kurzen Moment echt perplex bin. Seine Stimme ist rau und lässt den Inhalt noch derber wirken.

„Hat das jemals geklappt?“, frage ich ungerührt und sehe, wie er mit den Schultern zuckt.

„Es gibt immer ein erstes Mal“, raunt er mir zu. Siegessicher und selbstüberzeugt. Ich gebe nur ein abschätziges Geräusch von mir, nehme demonstrativ einen tiefen Zug und reiche ihm die Zigarette zurück. So nötig habe ich es nicht.

„Also kriege ich keinen geblasen?“, fragt er diesmal lächelnd, tippt sich mit der Zungenspitze leicht gegen die Oberlippe.

„Oh, doch. Setz dich hin, beug dich weit nach vorn und dann gib dein Bestes“, kommentiere ich mit bissigen Unterton und sehe, wie er zu lachen beginnt. Seine Hand schiebt mir die Zigarette wieder zu.

„Behalt sie. Du hast sie dir verdient!“ Damit nimmt er den letzten Zug von seiner, hebt die Hand kurz zum Gruß, bevor er sie in die Jackentasche versenkt und verschwindet im Fakultätsgebäude. Ich starre noch einen Moment zur Tür und komme nicht umher, den Kopf schütteln. Sowas ist mir noch nie passiert. Ich inhaliere eine Dosis Rauch, warte auf das beruhigende Gefühl, doch es bleibt aus. Der Rauch verschwindet in den Nachthimmel.

Aus den Augenwinkel heraus sehe ich, wie sich die Tür noch einmal öffnet. Es sind die roten Haare, die mich sofort wieder wegsehen lassen. Konnte der Abend noch schlimmer werden? Ja, kann er. Kains Rothaarige und die zierliche Brünette von eben kommen näher. Ich widerstehe dem Drang, sofort das Weite zu suchen, ziehe mehrere Mal ruhig an der Zigarette und kann nicht verhindern, dass ich zu lauschen beginne. Lästereien und Gehabe. In meinem Kopf echot die Satiremaschinerie. Als ihr Gerede verstummt, sehe ich wieder auf. Sie hat mich entdeckt und schaut mich mit diesem messerversenkenden Blick an. Das reizt mich nur noch mehr.

„Heute wieder Ausgang für die Insassen der Irrenanstalt“, kommentiert sie, neigt sich zu der anderen als würde sie flüstern und spricht es laut aus. Die Brünette kichert, lächelt mir dann aber neutral entgegen.

„Und du kommst von deiner Selbsthilfegruppe für wandelnde Modefauxpas?“, kontere ich. Sie trägt schon wieder die roten Turnschuhe und eine Jacke, die aussieht, wie die gehäutete Version des Krümelmonsters. Nur in Weiß. Mein Blick wandert zu der kleinen Brünetten, die definitiv besser angezogen ist. Ich nehme einen letzten Zug, lasse den Qualm seitlich aus meinem Mund entweichen.

„Frage. Läuft es bei euch auch so ab mit aufstehen und vorstellen? Hi, ich bin Dorothy und ich kleide mich gern wie jemand aus der Sesamstraße.“ Ich drücke die Zigarette an dem dafür vorgesehenen Entsorgungsbehälter aus und beginne die Melodie zu summen. So laut, dass die beiden Frauen es hören.

„Sagt derjenige, der immer noch nicht gelernt hat, zwei gleiche Socken anzuziehen. Das lernt man im Kindergarten.“ Sie deutet auf meine Füße und meint damit, einen Sieg zu erringen. Weit gefehlt.

„Oh bitte! Immer noch nichts Neues gefunden? Da war meine Schwester mit 5 Jahren schon kreativer. Sie hat auch regelmäßig die Sesamstraße gesehen. Vielleicht solltest du wieder damit anfangen. So frei nach dem Motto: Wer nicht fragt… bleibt dumm.“ Ich sehe, wie ihr lipglossbeschmierter Mund aufgeht. Es folgt dennoch keine Erwiderung. Irgendwie enttäuschend. Ich warte noch ein paar Sekunden ab. Ihr Gehirn ist nicht das schnellste. Auch die Brünette schaut erwartend zu ihr.

„Falls dir eine Erwiderung einfällt, behalt es für dich, mich interessiert´s nicht.“ Als ich gehe, höre ich Kains Ex wettern und ihre Freundin nur leise kichern. Kain. Ob sie ihm von unserem Zusammentreffen berichten wird? Ich werde es nicht. Beim Gehen schiebe ich meine kühlen Finger in die Hosentasche und ertaste die Münzen. Der Regen wird stärker, doch ich schaffe es halbwegs trocken ins Wohnheim.
 

Statt direkt zurück ins Zimmer zu kehren, mache ich einen Umweg zur Dusche. Alles Notwendige befindet sich im Spind. Das warme Wasser ist angenehm und schafft es, dass ich für ein paar Minuten jeglichen Gedanken aus meinem Kopf aussperren kann. Jedwede Erinnerung. Jeden Schmerz. Micha schmeißt mich nach einer halben Stunde raus. Mit feuchten Haaren und nur halb abgetrocknet schiebt er mich über den Flur. Er schimpft seine üblichen Tiraden. Auch diese kann ich mittlerweile auswendig. Dann wünscht er mir eine gute Nacht und ich ihm eine geruhsame Zeit. Ich meine es zu tiefst sarkastisch, da ich genau weiß, dass er heute zur Nacht das Foyer besetzt.

Das Licht ist an, als ich die Tür vom Wohnheimzimmer öffen. Kain ist jedoch eingeschlafen. Mit einem Buch auf der nackten Brust ist sein an die Wand gelehnter Oberkörper zur Seite gerutscht. Er atmet ruhig und gleichmäßig.

Ein letztes Mal reibe ich mir die Feuchtigkeit aus den Haaren und werfe das Handtuch auf den Stuhl vor meinem Schreibtisch. Ich gehe auf den schlafenden Mann zu und zögere einen Moment, bevor ich ihm vorsichtig das Buch abnehme. Pathobiochemie. Es ist mein Bibliotheksexemplar. Ich erkenne es an dem abgenibbelten Klebestreifen. Die Standortnummer 313c ist nur noch zu erahnen. Ich lege es zur Seite und sehe auf den friedlich pennenden Kerl, der mein Leben in den letzten Wochen seltsamen durcheinander gewürfelt hat. Nicht er allein. Auch mein quietschfideler Mitbewohner trifft ein großes Maß an Schuld. Die eigene Beteiligung streitet mein Gehirn konsequent ab. Ich bin immer noch der Überzeugung, dass das nicht passiert wäre, wenn Jeff weiterhin sein Scheinheterodasein gefristet hätte. Ganz sicher. In Dinge einreden bin ich spitze. Dennoch sehe ich für einen Augenblick michselbstverachtend zum gegenüberliegenden Bett und wieder zurück zu dem Schwarzhaarigen. Ich werde aus Kain einfach nicht schlau. Was will dieser gutaussehende Blödmann wirklich von mir?

Ich weiß nichts über ihn. Wahrscheinlich ist das der Grund, aus dem ich so sehr an seinen Motiven zweifle. Weshalb ich ihm einfach nicht glaube. Wieder sind es die üblichen, nichtsaussagenden Fragewörter in meinem Kopf. Warum. Wieso. Was. Und dann noch Wohin. Wohin wird uns das führen? Ich denke an die Geschichte ohne Ende. Bisher war ich nicht gewillt, ihr einen Abschlusszu schreiben. Und ich möchte Kain nicht sagen, dass er gehen soll. Die Ruhe in seinem Gesicht lässt ihn um ein paar Jahre junger wirken.

Er rührt sich. Sein Kopf kippt noch mehr zur Seite. Ich strecke meine Hand nach einer verirrten Strähne aus, stoppe wenige Millimeter davor und schalte stattdessen nur das Licht der Nachttischlampe aus. Danach ziehe ich mich leise um, lausche dem ruhigen Atmen des anderen Mannes und bin zu aufgewühlt, um einzuschlafen.
 

Ich erwache schlagartig, als etwas Riesiges und Elefantenschweres ins Wohnheimzimmer stürmt und randaliert. Nach mehrmaligen Blinzeln erkenne ich, dass es nur mein schlanker Mitbewohner ist, der hektisch ein paar Dinge von seinem Schreibtisch in die Tasche wirft. Wieso er das in Godzillamanier macht, ist mir dabei nicht klar.

„Jeff… ein Gang runter… schalten“, entflieht es mir gequält. Am Morgen fehlt mir der Sinn für richtige Grammatik und logische Sätze. Der Blonde dreht sich kurz um, lächelt entschuldigend und wirft dabei ungesehen das Mäppchen mit Stiften an der Tasche vorbei.

„Guten Morgen, ihr Schlafmützen!“ Jeff klingt viel zu fröhlich. Ich murre als Antwort. Er schiebt als nächstes einen Ordner in die Tasche und wirft sie sich über die Schulter. Durch den Schwung kippt eine halbvolle Wasserflasche von Jeffs Schreibtisch und landet auf Kains bedeckte Füße. Nun murrt auch er. Kurz und weniger deutlich.

„Sehen wir uns beim Mittag? Gut. Bis nachher.“ Damit verschwindet er aus dem Zimmer, ohne eine Antwort zu erhalten. Weder von mir noch von dem Schwarzhaarigen, der mittlerweile auch aufsieht. Trotz deutlicher Gegenwehr meines Körpers setze ich mich auf, lehne mich gegen die Wand und kann nur knapp verhindern, dass ich daran wieder in eine liegende Position rutsche.

„Was war das denn?“, brummt es mir vom anderen Bett entgegen.

„Jeffzilla.“ Das Paradebeispiel für die überaus nervige Art meines werten Mitbewohners. Wieso er ein so schrecklich gutgelaunter Morgenmensch ist, lässt sich für mich bis heute nicht erklären. So war es schon früher. Am schlimmsten waren die Klassenfahrten. Meine ungeheure Beliebtheit sorgte jedes Mal dafür, dass nur Jeff freiwillig mit mir auf ein Zimmer ging. Zu meinem Leidwesen quatschte er mich bis tief in die Nacht voll und empfing mich am Morgen mit einem Grinsen, welches ohne Ohren einen perfekten Kreis gebildet hätte. Mittlerweile habe ich ihn in dieser Hinsicht gut erzogen. Tatsächlich bin ich der Überzeugung, dass ich ein weitaus angenehmerer Zimmergenosse bin, als alle glauben. Ich bin genügsam, ruhig und wenn man mich in Frieden lässt, unglaublich pflegeleicht. Ich bin auch kein Morgenmuffel, jedoch gehört es einfach nicht zu meiner Art, nach dem Aufstehen einen freudeversprühenden Eindruck zu machen. So, wie auch sonst eher nicht.

Kain gibt ein seltsames Geräusch von sich und dreht sich auf den Rücken. Die Decke verrutscht, sodass weitere Teile seines Körpers aufgedeckt sind. Er zieht den Arm hoch, legt ihn über sein Gesicht und gibt so den Blick auf seinen Brustmuskel frei. Sein definierter Trizeps, der den Musculus pectoralis major deutlicher hervortreten lässt. Ich sehe auch das Tattoo wieder und kann die Worte noch immer nicht erkennen. Meine Zungenspitze beginnt zu kitzeln. Ebenso, wie meine Fingerkuppen. Es kribbelt sich heiß über meine Handflächen. Ich will ihn berühren, spüre das Verlangen danach ganz deutlich und klar. Mein Blick wandert tiefer. Über die leicht hervortretenden Rippenbögen bis zum Ansatz seiner enganliegenden Shorts. Die Andeutung des Beckenknochens.

„…bin…Spatz?“ Nun sehe ich auf. Ich merke die deutliche Erregung und ziehe unwillkürlich die Beine ran. Kains Augenbrauen wandern fragend nach oben. Erst jetzt wird mir klar, dass ich ihn die ganze Zeit angestarrt habe. Moment, gibt er mir schon wieder Tiernamen? Gerade als ich zu Motzen beginnen will, summt sein Telefon. Ich beiße die Zähne zusammen, sehe, wie sich der trainierte Körper des anderen Mannes vom Bett zum Schreibtisch neigt und fahrig nach dem noch immer lärmenden Kommunikationsgerät tastet.

„Mist, ich muss los. Ich bringe dir heute Abend die Klausur vorbei“, sagt er und robbt aus dem Bett. Meine Antwort ist ein gleichgültiges Murren. Kain bleibt an der Bettkante sitzen, fährt sich mit der Hand über den Nacken. Ich höre, wie ein paar seiner Knochen knacken. Ein leises, aber durchdringendes Knirschen. Der Schwarzhaarige greift nach seiner Hose. Der raue Jeansstoff verursacht ein seltsames Geräusch, als er über seine muskulösen Beine gleitet. Ich sehe dabei zu, wie er den Knopf schließt und sich einen imaginären Fusel vom Bauch streicht. Es folgt das T-Shirt von gestern. In meinem Kopf setzt der Gegenprozess ein und ich ziehe ihm Stück für Stück die Klamotten wieder aus. Meine mittlere Körperregion zuckt, während ich mir in Erinnerung rufe, wie es sich anfühlt, über die definierten Muskeln zu streichen. Er kommt auf mich zu, beugt sich nach vorn. Seine Lippen treffen meine. Nur kurz. Nur gehaucht.

„Hey, ich meinte es ehrlich, was ich gestern sagte“, merkt er an. Kain gab vieles von sich und doch weiß ich genau, was er meint. Ich möchte nicht darüber nachdenken.

„Nenn mich nicht Spatz“, kommentiere ich nur und weiche seinem Blick aus. Ich zucke zusammen, als Kains Arm in meinem Blickfeld auftaucht und er sich direkt neben meinem Kopf an der Wand abstützt. Er beugt sich nach vorn. Ich spüre seine Nähe. Sein warmer Atem streicht über meinen Hals. Meine empfindliche linke Seite. Tausende Blitze, die durch meinen Körper jagen. Kribbelnd. Prickelnd. Elektrisierend.

„Jetzt erst recht.“ Frechheit. Nun schaue ich ihn wieder an.

„Verrecke“ Das Grinsen in seinem Gesicht wird nur ein Stück breiter.

„Lass uns heute Abend Spaß haben… Ohne unnötige Diskussionen. Ohne komplizierte Geschichten. Ohne Verpflichtung“, raunt er mir entgegen und zieht mir dann mit einem Ruck die Decke von den Beinen. Mein fahriger Versuch, es zu verhindern, sorgt nur dafür, dass ich meine Problemstelle offenbare. Kains Augen richten sich auf meine Körpermitte.

„Sofern du so lange durchhältst“, setzt er nach, während er zwinkert zur Tür verschwindet. Ich antworte ihm mit meinen Mittelfingern und lasse mich, als er weg ist, zurück ins Bett fallen.
 

Es dauert einen Moment, bis ich meinen verräterischen Kadaver beruhigt und in den Waschraum befördert habe. Das ist doch alles absurd. Wieso fasziniert er mich so? Es muss dringend aufhören. Beim Zähneputzen denke ich trotzdem wieder an die muskulöse Silhouette des anderen Mannes, frage mich, ob das mit dem heutigen Abend ernst gemeint war und stehe wieder 20 Minuten vor dem Waschbecken, weil die Bedienung der Zahnbürste mit einem Mal schrecklich kompliziert scheint. Erst beim Frühstück funktionieren mein Blutkreislauf und die Verteilung des roten Lebenssaftes wieder tadellos. Den gesamten restlichen Tag frage ich mich, innerlich mit dem Kopf schüttelnd, wohin das führen wird. Ab Mittag wird das imaginäre Hauptwackeln zu einem tatsächlich ausgeführten und bis zum Abend komme ich auf keinen grünen Zweig. Ich ergebe mich den immer stärkeren Nackenschmerzen und dem akuten Wahnsinn. Vor allem, als mich Kain mit einem verdächtigen Fläschchen weiß-gelber Flüssigkeit im Wohnheim empfängt. Jeff ist mit Abel im Kino und Kain macht seine Drohung wahr. Wir haben Spaß. Schmutzigen, klebrigen Spaß. Es ist fantastisch. Es ist geil und vor allem zum ersten Mal unkompliziert. So, wie er es mir am Anfang versprochen hat. So, wie es für uns das Beste ist.

Am Morgen danach schaffe ich es nicht, in den Spiegel zu schauen. Eine Premiere, denn sonst gehen mir die widrigsten Umstände meiner One-Night-Stands am Arsch vorbei. Doch Kain schafft es, dass ich bei der bloßen Erinnerung schamerfüllt anlaufe, wie eine Tomate im Hochsommer. Warum muss der Sex auch derartig befriedigend sein? Wenn der Sex von Jeff und Abel nur halb so gut ist, verstehe ich, wieso die beiden Blonden kaum aus dem Bett kommen. Der amourösen Abwesenheit meines Mitbewohners ist zu verdanken, dass sich der Schwarzhaarige auch am Mittwoch und Donnerstag bei mir blicken lässt. Ohne Ankündigung. Ohne Diskussionen. Ich verfalle nur bei der Erwähnung einer aus den Schoten von Orchideen gewonnenen Soße in eine Art Sexdelirium. Intellekt und Vernunft ade. Anscheinend ist mein Verstand auf dem Wasser treibend zurückgeblieben oder in der klebrigen Süße der Vanillesoße ersoffen. Vielleicht ist genau das gut. Nicht nachdenken. Alles andere verkompliziert es nur, so wie Kain es mir vorgeworfen hat.
 

Am Freitagnachmittag erinnert mich die SMS der hübschen Eisprinzessin daran, dass ich seit Tagen versuche, nicht an das bevorstehende Wochenende zu denken. Ich hadere noch immer mit mir. Mittlerweile habe ich herausbekommen, dass es bei weitem nicht der kleine, süße regionale Wettbewerb ist, von dem die Italienerin gesprochen hat. Es ist eine Messe mit hunderten Ausstellern aus aller Welt. Ihr Wettbewerb ist nur ein Programmpunkt. Solche Veranstaltungen sind nicht mein Ding und mit freundschaftlicher Fürsorge habe ich es auch nicht. Für gewöhnlich bin ich im Finden von Ausreden meisterlich, vor allem, wenn es mir derartige Unannehmlichkeiten erspart. Doch dieses Mal verursacht mir jede halbwegs annehmbare Vermeidungsstrategie Magenschmerzen. Dass mich diese charakterliche Inkonsequenz noch nicht umgebracht hat, ist verwunderlich, denn seit geraumer Zeit spüre ich, wie das imaginäre Geschwür in meinem Verdauungstrakt enorme Expansion betreibt. Auch jetzt wird es in meinem Magen langsam aber sicher flau. Ich sehe einen Moment dabei zu, wie mein unangetastetes Essen lustig vor sich hin dampft und verspüre wenig Drang, mir das Sammelsurium von Erbsen, Möhren und zerfledderten Hähnchenstücken einzuverleiben. Die Gabel lege ich zur Seite, nehme stattdessen das Kommunikationsgerät zur Hand und lese die SMS erneut. Mein Seufzen wiederholt sich laut.

Die Nachricht drückt Lucis Verwunderung darüber aus, dass ich kein weiteres Mal versuche, mich aus der Verabredung heraus zu winden. Jetzt durchschauen mich sogar schon 16-Jährige. Vortrefflich. Automatisch krame ich nach einer der möglichen Ausreden, doch nach der Hälfte lösche ich das Getippte wieder. Augen zu und durch. Tschaka. Wenig enthusiastisch schwingt mein Arm unter dem Tisch zweimal hin und her. So viel zum Thema Anfeuern. Ich bekäme nicht mal Wasser zum Kochen, wenn es auf einer angeschalteten Herdplatte steht. Wozu will sie mich überhaupt dabei haben? Es ist Luci nicht leicht gefallen, mich darum zu bitten. Es war ihr peinlich, das habe ich deutlich gesehen an dem Abend, als sie mich danach fragte. Ebenso wie mir. Obwohl sich mein Gefühlsebene eher Richtung unangenehm bewegt. Meine Anwesenheit bekommt jedes Mal diesen bitteren Beigeschmack und ich stelle mir unentwegt vor, wie mich ihr Vater irgendwann zu Nougat verarbeitet. Röstet. Zerreibt. Walzt. Ich kriege Gänsehaut. Sie hat mich darum gebeten. Nur als moralische Unterstützung. Bei der Kombination `Ich und moralisch` beginne ich unauffällig zu husten. Ich greife missmutig nach meinem Besteck und versenke es in der Reis-Soßen-Mischung. Dreimal in der Pampe gedreht und mein Bedürfnis nach Nahrungsaufnahme sinkt gen Null. Mein Blick wandert zurück zum Handydisplay, welches gerade wieder ausgegangen ist.

„Tief Lucy beschert uns für das Wochenende stürmische Zeiten“, sagt Jeff und lässt sich auf den Stuhl neben mir nieder, während ich mir den ersten Löffel mit Frikassee in den Mund stecke.

„Wie bitte?“, frage ich hektisch und verschlucke mich an mehreren Reiskörnern.

„Mein Klimatologe sagt, dass es heute noch windiger wird. Samstag und Sonntag sogar mit Sturmwarnung“, erklärt mir Jeff, während sich seine Hand beruhigend über meinen Rücken arbeitet. Halb klopfend, halb streichelnd.

„Und wie kommst du… auf Luci?“, frage ich hustend und angele nach meiner Wasserflasche.

„So heißt das Tiefdruckgebiet“, erklärt er wie selbstverständlich. Was fällt mir ein, das nicht zu wissen? Ein Reiskorn hängt quer in meinem Hals. Ich huste gequält weiter, während Jeff meine Situation ausnutzt und mir eine meteorologische Lehrstunde verpasst. Er ist ein Teufel. Eindeutig. Irgendwann tätschelt er mir den Kopf und erklärt mir, dass man sich auf der Internetseite des Wetterinstituts sogar Namenswünsche vormerken lassen kann.

„Bewegend“, kommentiere ich diese seltsame Begeisterung trocken und nehme einen weiteren Schluck aus der Flasche.

„Was denn? Hoch Jeff beschert uns malerischen Sonnenschein und gemütliche 30 Grad. Das klingt doch wundervoll!“ Mein Kindheitsfreund klingt wie der perfekte Wetteransager. Definitiv den Beruf verfehlt. Ich verbinde Steine immer mit dunkel und kalt.

„Oh ja, Hoch Jeff beschert uns Dehydrierung und Dermatitis solaris. Hautkrebs ist der neue Trend für den Sommer“, gebe ich reichlich überspitzt von mir. Mein Mitbewohner sieht mich entgeistert an. Mein Hals brennt weiter und trinken hilft nur mäßig.

„Du bist eindeutig ein Tiefdruckgebiet“, kommentiert mein Kindheitsfreund trocken und starrt mir vernichtend entgegen. Ich erwidere es.

„Ihr macht ja Gesichter, die sind zum Weglaufen“, sagt Kain und unterbricht damit unseren imaginären Blicke-Blitz-Krieg. Er lässt sich auf den Platz mir gegenüber fallen und streckt seine langen Beine so weit in meine Richtung aus, dass wir uns berühren. Ich sehe auf seinen Teller, der ebenfalls mit dem geschredderten Hühnchen gefüllt ist. Statt Reis hat er Nudeln. Am oberen Rand des Tabletts steht ein Schälchen mit Nachtisch. Rote Grütze und Vanillesoße. Ich schlucke unwillkürlich und spüre das Brennen in meinem Hals wieder deutlicher.

„Robin guckt doch immer so. Ich sehe keinen Unterschied zu sonst“, lässt Abel folgen und besetzt den vierten Platz. Er grinst verschmitzt und ich verspüre den Wunsch, ihm das Gesicht in seinem Milchreis zu drücken.

„Du unterschätzt die enorme Anstrengung, die man aufwenden muss, um auszusehen wie das Ebenbild von Grumpy Cat.“ Kains Beitrag.

„Oh ja, er übt schon seit Jahren.“ Nun Jeff. Er versucht sich im selben Moment an der Imitation und scheitert. Es folgt ein Versuch von Abel. Bei ihm sieht alles dämlich aus, was aber definitiv an seinem Gesicht liegt.

„Oh Herr, lasset es endlich Gehirne vom Himmel regnen“, kommentiere ich das dumme Geseiere.

„Apropos Gehirne, fangen wir Samstag ´The Walking Dead´ an?“, flötet Jeff durch den Raum, schaut einmal durch die Runde und erntet nickende Gesten. Außer von mir. Walking Was?

„Ohne mich“, antworte ich ohne eine Begründung abzugeben und ernte nur irritierte Blicke.

„Ich dachte, dir käme ein bisschen Nervenkitzel und Aufregung zu Gute. Blut und Gedärme.“, kommentiert Kain, tuckt seinen Finger in den Nachtisch und sieht mich an, während er ihn übertrieben blutrünstig ableckt. Die Grimassenparade geht weiter.

„Robin hat es nicht so mit Untoten“, mischt sich Jeff ein. Wandelnder Tod. Geschnallt.

„Oh, hast du etwa Angst vor langsamen, dummen Zombies?“, spottet mir das blonde Anhängsel meines Mitbewohners entgegen. Sein Grinsen ist überheblich.

„Wenn es so wäre, würde ich mich wohl pausenlos vor dir erschrecken“, gebe ich retour, sehe mit Genugtuung, wie sein Gesicht zusammenfällt. Kain kichert, während die anderen Beiden abwechselnd grummeln. Diese Geräusche sind die eines Zombies würdig.

„Komm schon. Zombies, wie soll das denn funktionieren?“, versucht es Abel erneut.

„Schon mal etwas von Yoruba und Tetrodotoxin gehört? Voodoo? Nein? Es gibt auch spezifische Tollwutviren, die ebenfalls Symptome verursachen, die mit zombieähnlichen Verhaltensweisen verglichen werden können. Und seit neusten kursieren Badesalze, die schon bei der ersten Einnahme für ein aggressives Delirium sorgen, welches den Konsumenten zu kannibalistischen Verhaltensweisen zwingt.“ Drei Augenpaaren blicken mir entgegen, als hätte ich gerade versucht zu erklären, dass Sailor Moon nach Steven Segals Abbild geformt wurde.

„Himmel, da waren gerade so viele Kuriositäten drin, dass mir ganz schwindelig ist“, sagt Jeff, hält sich demonstrativ an der Tischplatte fest, so, als würde sich der Boden drehen.

„Sagt der Geologe, der mir gerade eine Vorlesung zur Klimatologie gehalten hat“, kommentiere ich. Mein Blick wandert zu Abel, der aussieht, als wären seine Gehirnleistungen noch immer bei Yoruba. Wahrscheinlich fragt er sich, wie man es schreibt.

„Wieso weißt du sowas?“, fragt er dann.

„Wie hast du es an die Uni geschafft, ohne sowas zu wissen?“, frage ich retour und bin wenig freundlich. Das matte Blau von Abels Augen scheint zum ersten Mal zu blitzen. In ihm regt sich Ärger und Wut. Ich kann nur müde darüber lächeln.

„Da wir weder Badesalze konsumiert haben, noch Anhänger des Santeríakults sind, wäre es schön, wenn ihr euch nicht zerfleischt. Robin, die Serie soll wirklich gut sein“, versucht Kain einzulenken und verhindert, dass wir uns noch mehr verdeckte Beleidigungen zuwerfen. Damit erfüllt er sein angeborenes Schlichterdasein mit Bravur. Ich räume meine Sachen zusammen und greife nach dem Tablett.

„Dann genießt euer Freudenfest an Blut und Gedärme. Ich bin nicht da.“

„Suchst du dir was zum Spielen?“, fragt Jeff und klingt dabei irgendwie verschwörerisch. Für einen Moment wackeln sogar seine Augenbrauen.

„Ich bin einfach nur weg!“, gebe ich ausweichend von mir.

„Nicht im Wohnheim?“

„Nicht auf dem Campus“, entflieht es mir knurrend. Die erneute Verwunderung in den drei Augenpaaren lässt mich genervt mit meinen eigenen Achterbahnfahren. Ohne weitere Erklärungen gehe ich.
 

Kain holt mich an der Geschirrabgabe ein. Ich schupse meine Essensreste in den vorgesehenen Abfalleimer und lege das Tablett auf dem Band ab.

„Tollwutviren. Ehrlich?“ Ich hatte mehrere Vorlesungen zu diesem Thema in den letzten beiden Semestern. Sehr interessant. Der Schwarzhaarige stellt sein Plastikteil neben meinem ab und streicht sich über den Bauch. Im Gegensatz zu mir hat er aufgegessen.

„Die Virologie hat große Schnittmengen mit meinem Studiengang und der Santeríakult kommt übrigens aus Kuba. Nicht aus Nigeria, wie der Kult der Yoruba. “

„Du stehst drauf, andere zu berichtigen, oder?“

„Oh ja, das macht mich total heiß“, säusele ich genervt aber absichtlich provozierend.

„Gut zu wissen. Und der Hauptkult der Santería basiert auf den Traditionen der Yoruba. Regla de Ocha.“, raunt er mir entgegen, legt, bevor er den fremdsprachlichen Begriff wiedergibt, seinen Arm um meine Hüfte. Ich bekomme sofort Gänsehaut, versuche mich aus dem Griff zu befreien und scheitere. Ich bin stillschweigend beeindruckt und versuche mir das nicht anmerken zu lassen.

„Bitte, sorgt dafür, dass die Zombies Abel zuerst fressen und dann dich“, sage ich nur, sehe, wie Kain grinst und mir als Antwort zu flüstert, dass die Zombies nie einen ihresgleichen fressen würde und er selbst nicht schmecke. Ein Scherzkeks. Er lässt von mir ab, als wir auf andere Studenten treffen.

„Wo bist du morgen?“ Kain lässt nicht locker.

„Musst du nicht wissen“, wiegele ich ab. Die unglaubliche Blöße, die ich mir geben würde, wenn ich ihm erkläre, dass ich zu einem Eiscremewettbewerb gehe, bei dem eine Teilnehmerin ein Eis entworfen hat, was dank Kains Bonbontick entstanden ist, würde mich für ewig zeichnen. Apropos Bonbon. In diesem Moment wickelt er sich einen der Ingwerzucker aus. Meine Zunge beginnt zu kribbeln. Wir bleiben an einem Mülleimer stehen und Kain beginnt, seine Tasche zu leeren. Eine handvoll Verpackungspapiere. Quittungen und anderes.

„Wieso machst du so ein Geheimnis daraus? Hast du ein Date?“, fragt er witzelnd. Die Tatsache, dass er dabei klingt, als wäre das vollkommen ausgeschlossen, verärgert mich.

„Und wenn es so wäre?“, kontere ich säuerlich und gehe an dem Schwarzhaarigen vorbei, der überrumpelt am Entsorgungscontainer zurückbleibt. Ich gehe ins Wohnheim, setze mich vor meinen Pc und ärgere mich über meine Aussage. Warum habe ich das nicht ignoriert? Jetzt denkt er sicher sonst was. Ich echauffiere mich noch immer, als Jeff am Abend aufschlägt und auf die Idee kommt, seine Musikanlage anzuschmeißen. Mehrere Stunden. Rihanna. Adele. Taylor Swift. 5 Seconds of Summer. Wie konnte mir jahrelang entgegen, dass mein Kindheitsfreund schwul ist? Ich denke kurz an meine Schwester, die mir noch immer nicht geantwortet hat. Keine Seltenheit, aber bei dem Gedanken an das, was sie aushecken könnte, wird mir angst und bange. Als Rihannas `Umbrella´ einsetzt, suche ich das Weite. Die Vermeidung des penetranten Ohrwurms, der mir dieses Lied verursacht, hat höchste Priorität. Mit dem Resultat, dass ich ´ella ella ay ay´-summend unter der Dusche stehe. Danach setze ich mir Kopfhörer auf und schaffe es, ein paar Zeilen des von Brigitta erwarteten Exposés zu tippen. Diese kurze und knappe Zusammenfassung bereitet mir jedes Mal wieder Schwierigkeiten. Den Inhalt von 300 Seiten in nur zwei bis drei Sätzen wiederzugeben, ist nicht leicht. Diesmal fällt es mir besonders schwer und das obwohl es nur ein Entwurf ist, der nicht an den Verleger geht, sondern nur an meine Lektorin. Ich bin mir einfach des Endes noch nicht sicher. Hoffnung oder Enttäuschung? Realismus gegen das konventionell gewünschte Happy End. Wieso sollte sich Martin für Ryan entscheiden? Aus Verbundenheit. Treue. Liebe? Es gibt einfach keinen Grund.

Jeff tippt mir auf die Schulter, um mir zu verdeutlichen, dass er ins Bett geht. Ich folge ihm ein paar Minuten später.
 

Der Samstag beginnt mit ausschlafen und seltenen gemeinsamen Frühstück. Brötchen mit Marmelade und Käse. Am Abend taucht als erstes Kain auf, schmeißt sich demonstrativ auf mein Bett und zieht erneut das Buch über Pathobiochemie zu sich heran. Ich sehe auf die Uhr. Ich brauche etwa eine Stunde zum Messegelände und dann noch etwa 15 Minuten, um die richtige Halle zu finden. Das Gelände ist riesig und das Wetter nicht auf meiner Seite. Wie von meinem zimmereigenen Wetterfrosch angekündigt, hat es sich in der Nacht noch weiter zugezogen. Regen. Wind. Zwischendurch sogar etwas Hagel. Im Laufe des Tages hört es sich mehrere Male danach an, dass sich bei der nächsten Böe das Dach verabschiedet. Jeff zittert vor Begeisterung. Ich eher vor der Tatsache, dass die nächste Nacht ungewöhnliche naturecht werden könnte.

„Bist du dir sicher, dass du da raus willst?“ Jeff deutet bedeutungsschwanger zum Fenster. Zur lautmalerischen Unterstützung ertönt ein leises Donnern. Meine meteorologischen Grundschulkenntnisse sagen mir, dass das nahende Gewitter noch eine Weile auf sich warten lässt. Trotzdem muss ich mir eingestehen, dass ich meinen Hintern lieber gar nicht von diesem Stuhl bewegen will.

„Bisschen Regen und Wind bringen mich nicht um“, antworte ich wenig überzeugend, schiele zu meinem Regenschirm, der bereits vorsorglich am Türgriff hängt.

„Unvernunft ist öfter Todesursache als man denkt!“, merkt Kain an. Er sieht extra nicht auf, um besonders desinteressiert zu wirken. Ich ignoriere ihn.

„Wir können dich schnell fahren. Mein Auto steht auf dem Parkplatz“, schlägt Jeff vor und ich schaue ihn so genervt an, dass er abwehrend die Hände in die Höhe hebt und sich auf sein Bett fallen lässt. Zur Verabschiedungen erhalte ich malerische Kommentare über den möglichen Ausgang eines Zusammentreffens mit umgestürzten Straßenlaternen oder entwurzelten Bäumen. Passend zur Zombieserie besonders blutig und amputationsverherrlichend. Ein einfaches ´Sei vorsichtig´ hätte mir gereicht. Im Foyer bleibe ich stehen. Die gesamte Fensterfront sieht aus wie eine stilisierte Variante der Niagarafälle. Mein Enthusiasmus geht augenblicklich baden.

Die Bewegungen hinter mir ignoriere ich. Jedenfalls so lange, bis Micha neben mir auftaucht.

„Willst du da etwas raus?“ Der Wind peitscht eine Salve Regen gegen die Scheibe. Es ist so laut, dass ich den letzten Teil von Michas Frage gar nicht verstehe. Er blickt mich fragend an, beißt von seiner Banane ab und ich schaffe es nicht, einen vielsagenden Blick zu unterdrücken. Ich taste nach meinem Regenschirm. Nichts. Wahrscheinlich baumelt er munter an der Türklinge. Missmutig trete ich den Rückweg an und spiele im meinem Kopf schon die bevorstehende Konversation ab. Hast du es dir anders überlegt? Nein. Bla. Bla. Bla. Ich sehe verwundert auf, als mir Kain im Flur entgegen kommt. Um seinem Finger schwingt mein Regenschirm.

„Under my umberella… ella ella, ay ay ay…”, singt Kain leise. Bitte nicht. Ich gehe auf ihn zu und er macht demonstrativ ein paar Schritte zurück.

„Nicht witzig.“ Kain lässt sich davon wenig beeindrucken.

„It's raining, raining. Ooh baby, it's raining, raining. Baby, come in to me. Come in to me…”, setzt er das Lied fort, während ich es stückweise schaffe, näher zu kommen. Kain ist nicht Rihanna, aber seine Stimme ist wohlklingend.

„Kain, komm schon…ich muss wirklich los. Wer weiß, wann ich ankomme…“ Ich mache keine Anstalten, nach dem Schirm zu greifen, da ich genau weiß, dass ihn Kain sofort wieder wegziehen wird. Auf solche Kindereien habe ich keine Lust.

„Na dann sag mir doch, wo du hin willst. Ich kann dich auch fahren… dann brauchst du keinen Umberella…ella ella ay ay ay.“ In meinem Kopf echot das Original weiter. Das Lied lässt mich nie wieder los. Ich spüre schon, wie es sich in mein Gehirn frisst. Ich seufze ungeduldig und extrem frustriert auf.

„Okay. Okay. Hast du dein Handy dabei?“

„Ja.“ Kurz angebunden. Der Schwarzhaarige reicht mir endlich den Regenschutz.

„Sei vorsichtig“, sagt er, lächelt und verschwindet dann summend ins Wohnheimzimmer. Als ich am Bus stehe, bekomme ich die erste Nachricht

-Unvernunft muss bestraft werden. Melde dich, sonst mache ich es- Deutliche Drohung. Ich antworte schon aus Protest nicht.
 

Ich brauche die errechnete Stunde und finde die Halle schneller, als ich mir zu getraut habe. Wahrscheinlich liegt es an meinem ausgeprägten Orientierungssinn oder an der übermäßigen Beschilderung. Die in meinem Kopf geführte Debatte entscheidet sich zu meinen Gunsten. Ich bin großartig und schaffe es für ein paar Minuten, meine Nervosität zu überspielen. Als ich nach dem Bezahlen das gutgefüllt Foyer betrete, sieht es schon wieder ganz anders aus. Die vielen Menschen, die trotz des Wetters hier hergefunden haben, machen es mir schwer, irgendwas zu erkennen. Ich ziehe mein Handy hervor und finde zu meinem Glück eine SMS von Luci, die mir halbwegs erklärt, wie ich zu ihrem Bereich komme. Natürlich einmal durch die komplette Halle. Ich besorge mir einen Lageplan, der unbehelligt auf einen der Stehtische liegt, neben dem eine strengwirkende Hostess steht und frage mich beim Davongehen, ob der hätte bezahlt werden müssen. Da trotz mehrmaligen Umdrehen keiner der Sicherheitskräfte auf mich zu gestürmt kommt, ordne ich den Plan unter Meins ein und mache mich auf die Suche. Die Halle ist gigantisch. Überall stehen Stände mit hektisch wuselnden Menschen. Besucher drängen sich an die Theken und überall werden Probenlöffel rumgereicht. Ich schiebe mich durch die Massen und habe das Gefühl, keinen Meter weiter zukommen. Ich hasse es. Wirklich. Meine Laune hat ihren Tiefpunkt erreicht, als ich bei einer Bühne ankomme. Ein Blick nach links und nach rechts. Beim letzten sehe ich endlich einen Bereich, der nach mobilen Küchen aussieht.

Ich erkenne sie an dem langen, geflochtenen Zopf, der wie ein Markenzeichen ihren Rücken entlang fällt. Die weiße Schürze betont ihre schlanke Taille. Für einen Moment sehe ich dabei zu, wie Luci hektisch ein paar Utensilien hin und her schiebt. Einen riesigen Löffel aus Holz. Eine Schöpfkelle. Danach knetet sie ihre Hände, reibt sie an einander. Sie ist nervös. Ich schleiche auf die Nische zu und klopfe aufmerksamkeitsfordernd gegen die Holzpaneele.

„Bedienung! Einen Erdbeerbecher. Zack Zack!“, sage ich mit verstellter, tiefer Stimme, sehe, wie Luci zusammenfährt und mich im ersten Moment entgeistert ansieht. Ihr Körper entspannt sich, als sie mich erkennt. Mit einem Lächeln kommt sie auf mich zu.

„Sehr witzig, du Machoverschnitt“, murmelt sie trocken. Sie bleibt unschlüssig vor mir stehen. Unwillkürlich beginne ich mich nach ihren Vater umzuschauen. Er ist nirgendwo zu sehen und das nimmt mir sofort etwas Anspannung.

„Um glaubhaft zu klingen, hättest du einen Nuss-Becher bestellen sollen. Das ist die Sorte für echte Männer“, setzt sie nach, versprüht diese feinen Provokation, die mich schon beim ersten Mal so gereizt hat.

„Autsch. Hätte ich das gewusst, dann hätte ich mich besser bewaffnet.“

„Entschuldige.“ Nun legt sich dieser naive Ausdruck auf ihr Gesicht, der mir jedes Mal wieder verdeutlicht, wie viel jünger sie ist.

„Ihr habt euch ja einen tollen Tag ausgesucht. Hoffentlich gehst du nicht baden", kommentiere ich und verkneife mir auch die kleine Gemeinheit nicht.

„Da bekommt Hals- und Beinbruch viel mehr Gewichtung", gibt sie übertrieben positiv von sich. Was für ein Schenkelklopfer. Ich lache nur aus Höflichkeit. Für einen kurzen Moment herrscht eine seltsame Pause, dann schlingen sich ihre schlanken Arme um mich.

„Danke, dass du gekommen bist.“ Sie drückt mich fest. Ich versteife mich für einen kurzen Moment, atme geräuschlos ein und lege dann meine Hand an ihre Schulter.

„Klar, du hast mir Eis versprochen.“

„Ja, so viel du willst. Bis du kotzen musst“, murmelt sie gegen meine Schulter und macht keine Anstalten, mich loszulassen.

„Okay, das muss nicht sein“, gebe ich lachend von mir und patte ihr kurz über den Kopf. Sie löst sich von mir und obwohl sie nicht aufschaut, sehe ich feine Röte auf ihren Wangen.

Danach schweift ihr Blick zu der Kochkabine und seufzt. Ihre langen, vollen Wimpern sind geschminkt. Nur dezent, sodass ihre schönen grünen Augen betont werden.

„In 20 Minuten beginnen wir mit der Zubereitung und danach kommt die große Verkostung. Wie konnte ich mich nur überreden lassen? Ich bin ja so aufgeregt. Ich sterbe gleich.“ Nervös beginnt sie sich auf der Lippe rum zu kauen. Lena macht das auch manchmal. Unbewusst hebe ich meine Hand und streiche ihr mit dem Daumen an der Unterlippe entlang.

„Hör auf. Du hilfst deinen Vater seit Jahren bei der Herstellung der besten Eissorten des Planeten. Du kannst das im Schlaf. Also hau die Verkoster einfach mit deinem Talent um. Für den Fall aller Fälle hast du ja noch den gigantischen Holzlöffel da.“ Ich deute in die Nische.

„Lucrezia,…“ Die Stimme ihres Vaters. Ich ziehe meine Hand ruckartig weg.

„Bouna sera, Robin.“ Die italienische Abendbegrüßung setzt er hinterher, als er bei uns angekommen ist. Ich gebe eine fahrige Erwiderung.

„Ich wusste nicht, dass du auch hier sein wirst. Hat Luci dich eingela…“

„Zufall. Er ist nur wegen der Messe hier“, entflieht es der jungen Frau prompt. Ich blicke ihr fragend entgegen. Sie hätte mich einweihen sollen. Ich bin kein Fan von Heimlichtuereien.

„Ist das so?“

„Oh ja, ich bin Eismessen-Fanatiker. Eis ist mein Leben. Es gibt nichts Besseres. Gar nichts“, kommentiere ich ein klein wenig übertrieben. Lucis Vater mustert mich aufmerksam und blickt zu seiner Tochter, die in diesem Moment verräterisch grinsend zur Seite schaut. Ich sehe mich augenblicklich schreiend und heulend im Ofen rösten. Jetzt werde ich Nougat. Ganz sicher. Wenn ich Glück habe, macht er aus mir Krokant. Das würde mir wenigstens zwei zermürbende Arbeitsschritte ersparen.

„Va bene. Luci, du solltest langsam mit den Vorbereitungen beginnen. Die Punkterichter haben sich schon bereit gemacht. Robin, komm doch nachher zu unseren Stand.“ Ein definitiver Rauswurf für mich und eine Mahnung an seine Tochter.

„Ich habe schon längst alles rausgelegt“, zetert sie, während er sie in die Nische schiebt. Es folgen ein paar italienische Worte und ich mache mich vom Acker. So, wie gewünscht. Bis zur Verkostung von Lucis Kreation dauert es noch. Mein Blick wandert durch die Menschenmasse und unwillkürlich zum Ausgang. Dann zu den Notausgängen. Ich zwinge mich zur Ruhe. Ich muss nichts weiter tun, als Eis kosten und wenn ich etwas kann, ist es Eis essen. Was also ist mein Problem? Eine Gruppe Teenager kommt mir entgegen. Ich drehe mich um und stolpere über eine doppelt so große Ansammlung an Asiaten. Solche Veranstaltungen sind nicht mein Ding. Ich war einmal auf der Buchmesse und danach nie wieder. Nirgendwo konnte man fünf Minuten in Ruhe stehen und gucken. Geschweige denn mit jemanden reden. Hier ist es ähnlich. Es ist laut und es sind seit meiner Ankunft noch mehr Besucher gekommen. Anscheinend stört sich niemand am schlechten Wetter. Ich bleibe vor einem Stand stehen, der Stieleis aus pürierten Gemüsesorten verkauft. Eis mit Rotkohlgeschmack? Wenigstens die Farbe ist ansprechend, wirkt aber wenig natürlich. Anscheinend sehe ich so interessiert aus, dass eine junge Frau zu mir kommt und überschwänglich zu erklären beginnt, welche Verfahren verwendet werden und welche zusätzlichen Geschmackstoffe in den Sorten enthalten sind. Karotteneis mit Orangensaft. Das Spargeleis wird mit Rhabarbersaft abgerundet. Ich nicke freundlich und gebe dann das russische Wort für Eis von mir, betone es fragend. Danach habe ich meine Ruhe. Ich schiebe mich weiter durch die Massen und verspüre das dringende Bedürfnis, mich an einen Ort zu begeben, an dem niemand anderes ist. Die Sahara vielleicht oder auch die Arktis. Im Moment nehme ich sogar einen großen Karton. Hauptsache allein.

Jemand drückt mir ein Probierstäbchen mit weißer cremiger Masse in die Hand. Das Italienisch, welches mir der überaus grinsende Typ entgegenwirft, ist schnell und unverständlich. Ich höre das Wort Knoblauch in dem Moment, in dem ich an der Creme rieche und genauso schnell habe ich ihm das Stäbchen wieder in seine Hand gedrückt. Knoblauch im Eis. Niemals. Gerade als ich einen Zwischengang entdecke, in dem ich einen Moment atmen kann, beginnt mein Telefon zu klingeln. Kains Name taucht auf meinem Display auf. Ich seufze schwermütig und gehe ran.

„Hello. It´s me…“, summt es mir a la Adele entgegen. Ich hebe von Kain ungesehen meine Braue und antworte nicht.

„Hello from the other side…“, fährt er trällernd fort.

„Ernsthaft?“, frage ich unterbrechend, bin minimal amüsiert und beginne augenblicklich mit einem inneren Exorzismus. In nomine Patris et Filii, et Spiritus Sancti. Böser Robin. Böser Robin.

„Adele ist im Moment der letzte Schrei!“, gibt Kain erstaunt von sich. Recht hat er. Mir ist auch gerade nach lautsprechendem Kundtun, aber weniger des Gefallens halber. Jeff spielt diesen Song seit Wochen hoch und runter.

„Was willst du schon wieder?“, entflieht es mir und ich klinge zu meinem Leidwesen, weniger genervt, als mir lieb ist.

„Ein Lebenszeichen. Außerdem haben wir eine Pause eingelegt vom vielen Blut und der Gehirnmasse. Jeff und Abel besorgen gerade etwas zu essen.“ Wie makaber. Trotzdem spüre auch ich langsam Hunger. Ich bin mir nicht sicher, ob ich hier etwas finde, was nicht gefrostet und irgendwie süß ist.

„Außerdem versuchen wir noch immer herauszubekommen, wo du bist“, flötet mir der Schwarzhaarige von der Gegenseite zu, macht eine kurze Pause und plappert dann weiter, während ich mich aus dem Gang wagend durch eine Traube Menschen zwänge.

„Jeff meint, du bist beim Speed-Dating. Abel denkt, du züchtest bösartige Superviren und ich glaube, dass du auf einer Comic-Konvention bist, verkleidet als Poisen Ivy.“ Eine Rothaarige. Interessant.

„Das kriegst du nie raus“, kommentiere ich verschwörerisch, fahre zusammen, als der Aussteller neben mir plötzlich ´Lecker Lecker´ zu brüllen beginnt. Das hat garantiert auch Kain gehört.

„Ich hab keine Zeit mehr “, sage ich schnell und würge ohne auf die Reaktion des anderen zu warten das Gespräch ab. Ich sehe auf die Uhr, versuche einzuschätzen, wo ich mich gerade befinde und mache mich dann auf den Rückweg zur Bühne, auf der Luci gleich ihr Tonkabohnen-Ingwer-Zitroneneis präsentieren wird. Ich bin ehrlich gespannt. Vor allem will ich unbedingt wissen, wie es schmeckt. Unwillkürlich breitet sich das Aroma von Kains Ingwerbonbons in meinem Mund aus und nicht nur das.
 

Ich komme zu spät. Die Kandidaten stehen bereits in den hergerichteten Arbeitsbereichen auf der Bühne. Fünf Kreatoren sind im Finale. Luci ist die zweite von Links. Ich suche mir einen Platz in den hinteren Reihen, sitze neben einer älteren Frau, die einen blumigen Duft verströmt. Definitiv eine Note von Lavendel. Ich denke sofort an meine Italienreise, an die kleine Stadt in der Nähe von Florenz. San Casciano in Val di Pesa. Ich kam in einem privatvermieteten Zimmer in einem alten Bauerhaus unter. Die Besitzerin betrieb ein kleines Lokal. Ihre Spezialität war Lavendelblüteneis mit Honig. Es war ein wahrhaftiger Traum.

In der letzten Runde dürfen die Finalisten ihr Dekorationsgeschick unter Beweis stellen. Sie kreieren einen Eisbecher mit der entworfenen Kreation als Hauptbestandteil. Luci dekoriert mit feinsten Fäden aus kandierten Ingwer und geriebener Zitronenschale. Dezent, aber verheißungsvoll. Auch die anderen Ergebnisse können sich sehen lassen. Ich würde nicht Richter sein wollen, aber nur zu gern Verkoster. Das Glück habe ich nicht. Luci schlägt sich gut. Nach der Runde müssen drei Leute gehen. Die kleine Italienerin ist nicht dabei. Ihr letzter Gegner wartet mit eine Kombination aus karamellisierten Salzbrezeln in Honigeis auf. Auch das klingt unglaublich lecker. Ich lausche den Ausführungen über die Entstehung ihrer Ideen, beginne zu Schmunzeln, als Lucrezia eine Geschichte ganz ohne Streit und meiner Wenigkeit zum Besten gibt. Ich fühle mich, wie eine kassierte Akte oder zumindest wie eine komplett geschwärzte Seite. In Anbetracht der sengenden Blicke ihres Vaters nehme ich es ihr nicht übel. Eine kurze Beratung und sie krönen meine Favoritin zur besten Jung-Eiskreatorin mit einem Sinn für feine Kombinationen und dem Gespür für modernes Speiseerlebnis.

Gratulanten und Beifall. Souverän gemeistert. Beneidenswert. Ich wäre da oben wirklich gestorben. Ich bleibe so lange sitzen, bis sich der größte Ansturm erledigt hat und schleiche dann zu der anliegenden Nische. Dort warte ich auf Luci und ihren Vater, die voller Stolz und strahlend nach hinten gehüpft kommen. Beide wohlgemerkt. Ein witziges Bild. Der von uns im Stillen genannte Eiskönig trägt den leeren Metallbehälter zur Anrichte. Luci kommt direkt auf mich zu, grinst bis über beide Ohren und fällt mir um den Hals. Ich gratuliere ihr, zurückhaltend, denn ich spüre den deutlichen Blick ihres Vaters auf mir.

„Oh, warte….“ Sie drückt mich weg, stürmt mit wehendem Zopf zur Nische und sucht nach einem Pappbecher. Als sie zurückkommt, hält sie mir den gefüllt Becher vor die Nase.

„Sieht nicht mehr schön aus, aber es schmeckt.“

„Ich bin gespannt.“ Ich ziehe den Löffel raus, betrachte die gelbliche Creme und fühle mich beobachtet. Lucis Gesichts ist angespannt. Ich koste die cremige, angetaute Masse und genieße das vielfältige Aroma, welches sich auf meine Zunge ausbreitet. Erst Süße. Hauchzart erblüht sie auf meiner Zungenspitze, kitzelt sich langsam und intensiv über jeden Millimeter meiner Geschmacksknospen. Bis die feinherbe Säure von Zitrone und Ingwer die Seitenstränge meines Halses in Flammen setzt. Prickelnde Schärfe rundet es ab. Es ist eine Erfüllung. Es ist mir vertraut. Das Einzige, woran ich denke, ist der Schwarzhaarige. Lucis Stimme reißt mich aus den Gedanken.

„Und?“ Ich lasse sie noch einen Moment zappeln, in dem ich meinen Kopf hin und her neige. Abwägend. Kritisch. Dann tunke ich den Löffel erneut ein, um noch mehr zu probieren.

„Oh, du bist schlimmer als jeder Kritiker.“

„Hey, es ist nun mal nicht leicht, mich zufrieden zu stellen.“ Lucy boxt mir gegen den Arm und weicht meinem Blick aus.

„Es ist fantastisch. Wirklich verdient gewonnen.“ Die kleine Italienerin lächelt. Ich kann deutlich sehen, wie sehr sie sich darüber freut, gewonnen zu haben.

„Hey. Was war das vorhin?“, frage ich, deute in die Richtung ihres Vaters. Luci folgt meinen Blick und seufzt.

„Entschuldige. Er ist mein Dad. Er denkt doofes Zeug.“ Ich sehe zu ihrem Vater, der tunlichst versucht, sich unauffällig zu verhalten. Wie ein tanzender Bär im Clownskostüm. Eine kleine Gruppe kommt an uns vorbei. Der überwiegend männliche Teil beginnt sich seltsam zu artikulieren, als sie Luci entdecken.

„Das ist sein Job. So steht es in der Berufsbeschreibung. Väter müssen das… vor allem die von kleinen Mädchen.“ Den letzten Teil nimmt mir Luci definitiv übel. Ihr Blick durchbohrt mich. Väter passen auf ihre Kinder auf. So ist es nun mal. Jedenfalls in den meisten Fällen. Es gibt immer Ausnahmen. Meine Gedanken werden schwermütig.

„Ich sollte los.“ Ein Blick auf mein Handy nennt mir Uhrzeit und das Eintreffen neuer Nachrichten. Ich lecke den Rest Eis vom Löffel. Sie bleiben bei dem Stand gegenüberstehen, sehen immer wieder zu uns rüber, bis sie nach kurzem hin und her genügend Mut gesammelt haben.

„Machst du hier mit?“, fragt ein dunkelhaariger Typ mit Kappi und weiter Hose. Ich war der Überzeugung, dass der Trend zu vollen Windelhosen vorbei ist. Ich habe mich geirrt. Er setzt sein schmierigstes Lächeln auf und ignoriert meine Anwesenheit. Die Typen bekomme ich auch ohne Hilfe verprügelt. Alle samt.

„Nein, ich stehe hier zur Deko. Mach ne Fliege, du vergraulst mir zahlende Kundschaft“, kommentiert die kecke Italienerin und deutet dann vielsagend auf ihre komplette Patissierbekleidung. Ich kann mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. Sie ziehen Leine und ich bin definitiv erheitert.

„Was?“, fragt sie grimmig schauend, ich hebe abwehrend meine Hände in die Luft, so, wie es vorhin Jeff getan hat und deute danach kurz an, dass meine Lippen versiegelt sind. Ich werde mich schwer hüten. Ich hatte schließlich meine verbale Kastration schon. Nusseis! Von wegen.

„Hey, danke, dass du...“, wiederholt sie, legt ihre Hand an meinen Arm. Ich unterbreche sie.

„Schon gut… Feiere deinen Sieg gebührend. Lass dich von deinem Vater einladen, oder sowas.“, schlage ich vor und weiche ihrem Blick aus.

„Ja, zu einem Eis vielleicht. Robin,…“, witzelt sie und klingt bedrückt, weil ich sie schon wieder abwürge.

„Wir sehen uns…“, sage ich schnell, sehe, wie sie daraufhin kurz nickt. Ich richte meinen Handgruß an ihren Vater und marschiere in die gutgefüllten Gänge der Messehalle.

Als ich endlich draußen bin, atme ich die kühle klare Luft ein, ziehe sie förmlich in mich hinein und bin erfreut, dass es nicht mehr regnet. Windig ist es immer noch. Ich laufe zur U-Bahn, wähne mich in voreiliger Zufriedenheit als prompt ein Zug kommt und werde eines Besseren belehrt, als er nach 5 Stationen stoppt. Kein Weiterkommen. Teile der U-Bahnhöfe sind mit Wasser vollgelaufen und es gibt Probleme mit der Elektrik. Großartig. Oben suche ich nach möglichen Bussen, doch keiner fährt auch nur in die Nähe des Campus. Missmutig schlage ich die grobe Richtung zu Fuß ein. Unterwegs vibriert es erneut in meiner Tasche. Schon wieder eine SMS. Sie ist von Kain. Wie gewohnt seufze ich genervt auf, aber dennoch bildet sich ein Gefühl in meiner Brust, welches ich nicht zuordnen kann. Ich lese Kains Frage nach dem Zustand meiner Gliedmaßen und drücke dann auf den grünen Hörer.

„Na, ist dir schon was auf den Kopf gefallen?“, meldet er sich prompt und ich weiche in diesem Moment ein paar Mülltüten aus, dir mir entgegen geflogen kommen. Der Empfang ist bescheiden.

„Willst du mich jetzt alle halbe Stunde nerven?“, frage ich seufzend.

„Ich habe dir doch versprochen, dass ich das tue, wenn du wirklich so verantwortungslos bist und bei dem Wetter draußen rumrennst. Ich hätte nicht gedacht, dass du so unvernünftig bist.“ Langsam nervt es mich. Ich lebe noch und ich habe vor, das noch eine Weile zu tun. Trotz Wind und Wetter.

„Ich schlafe mit dir, trotz aller Warnungen, wenn das mal nicht die Unvernunft schlechthin ist“, flüstere ich mehr zu mir selbst, als zu dem anderen.

„Wie bitte?“, fragt er und ich höre die deutliche Erregung in seiner Stimme. Die ganze Zeit herrscht schlechter Empfang, aber das hat er gehört. Ich blicke gen Himmel und warte auf den Blitz, der mich heute mit höchster Wahrscheinlichkeit treffen könnte. Nichts passiert.

„Du tust ja so, als hätte ich etwas mit der gesamten Fachschaft?“ Vielleicht mit der Halben. Ich denke an seine Rothaarige. Sie ist ein Teil der Fachschaft.

„Ist mir gleich.“ In meinen Fingerspitzen beginnt es kitzeln. Ich wechsele das Ohr und schiebe die klamme rechte Hand in die Hosentasche. Ich komme an einer Bushaltestelle vorbei und schaue mir kurz die Seiten des Plans an. Theoretisch kommt in zwei Minuten ein Bus, der halbwegs Richtung Campus fährt. Ich wäge ab, ob es sich lohnt, zu warten. Auf der anderen Seite der Leitung ist es verräterisch still.

„Kain…“ setze ich an, doch er unterbricht mich.

„Du bist eifersüchtig!“ Was?

„Mach dich nicht lächerlich. Ich weiß nicht mal, wie man das Wort schreibt“, wiegele ich ab und blicke nach hinten. Die Hoffnung, einen Bus zu erwischen, schwindet. Wahrscheinlich wurden sie wegen des Wetters gestrichen. Es beginnt zu tröpfeln.

„Du bist wirklich eifersüchtig…wie süß...“ Jetzt reicht es.

„Kain, fick dich. Ich leg auf.“

„Willst du die nächste große Windböe kriegen? Vielleicht schaffst du es mit der zurück nach Kansas.“ Jetzt bin ich also Dorothy. Ich komme nicht umher, mit dem Kopf zu schütteln.

„So ein Pech, ich habe meine roten Lackschuhe nicht an“, hänge ich ran und bekomme die ersten Tropfen ab. Statt auf meine Schuhe schaue ich gen Himmel.

„Pass auf, dass dich die Hexe des Westens nicht kriegt…“ Unwillkürlich denke ich schon wieder an Kains Rothaarige und ihre grausigen roten Sneaker. Nur mit viel Mühe verkneife ich mir ein verzweifeltes Knurren, höre Kain am anderen Ende leise über seinen eigenen Scherz kichern.

„Gut, dass die böse Hexe dein Problem ist“, sage ich daraufhin bissiger als ich eigentlich wollte. Zu meinem Leidwesen versteht Kain die Anspielung, doch bevor er etwas sagen kann, komme ich ihm zuvor.

„Der Bus kommt...“ Gekonnt gelogen. Ich sehe auf die Uhr und setze meinen Weg Richtung Wohnheim fort. Es kann sich nur noch um Stunden handeln.

„Sei…“ Bevor er es zu ende sprechen kann, lege ich auf. Ein Donnern. Herrlich. Es folgt starker Platzregen, der dank des Windes von allen Seiten kommt. Sogar von unten. Wie auch immer das mit den physikalischen Gesetzen vereinbar ist. Physik ist scheiße. Als ich etwa 200 Meter gelaufen, fährt der Bus mit Verspätung an mir vorbei. Nun kommt zu meinem nicht vorhandenen Glück auch noch Pech. Hervorragend.
 

Ich brauche fast eineinhalb Stunden, um ins Wohnheim zurück zu kommen. Als ich am Nachtpförtner vorbei schleiche, ernte ich einen kryptischen Kommentar über die Niederlage beim Wet-T-Shirt-Contest und verstehe erst, was er meint, als mir kurz nach der Treppe Kati und Sina auf dem Weg zur Dusche entgegen kommen. Ebenfalls nass und wenig bekleidet. Ich gestehe meine Niederlage ein. Pudel gegen Brüste ist eben nicht fair. Mir begegnen noch weitere Mitstudenten. Bei den Meisten fehlt mir jegliche synaptische Verknüpfung mit Gesichter und Namen. Bei einigen mangelt es mir an jeglichem Wiedererkennungswert. Es ist selten, dass so viele Leute im Wohnheim unterwegs sind. Im Zimmer angekommen sehe ich Licht, denke an Jeff und bin überrascht, als ich Kain erkenne, der es sich mit einem Buch auf dem Bett gemütlich gemacht hat. Er schaut auf, als die Tür mit einem leisen Klacken ins Schloss fällt.

„Du siehst ziemlich nass aus. Hat dich statt des Tornados ein Taifun erwischt?“ Kain grinst und mustert mich von oben bis unten.

„Hurrikan“, berichtige ich klugscheißerisch. Taifun wird der tropische Wirbelsturm nur im ost- und südasiatischen Raum genannt.

„Immer das letzte Wort!“

„Immer.“ Diese Diskussion haben wir schon einmal geführt. Ich bin nicht gewillt sie zu wiederholen. Ich lasse meinen mit Wasser vollgesogenen Rucksack neben dem Schreibtisch fallen. Meine Jacke folgt. Auf meinem Shirt findet sich keine einzige trockene Stelle mehr. Es klebt dicht an meinem Körper und ich spüre, wie ich langsam aber sicher auskühle. Das Bedürfnis, etwas zu essen, was nicht zuckerhaltig und kalt ist, bleibt jedoch stärker, als das Bestreben nach Wärme. Unwillkürlich blicke ich zum Kühlschrank. Das Einzige, was ich darin finde werde, ist wahrscheinlich Käse und Senf. Beides scheint in diesem Moment wie feinköstliches Gold. Ich wende mich zu meinem Kleiderschrank und krame mir ein trockenes Shirt und Unterwäsche hervor. Mit der Hose sieht es schlecht aus. Den Abend mit Kain ohne Beinbekleidung verbringen zu müssen, setzt seltsame Gedanken in Gang. Ich greife mir ein Handtuch und streiche mir damit durch die Haare.

„Ich nehme mal an, dass du den Bus nicht gekriegt hast“, stellt Kain fest und steht plötzlich hinter mir. Er hebt meine klitschnasse Jacke vom Boden auf und trägt sie zur Heizung. Dort breitet er sie aus, unterlässt es jedoch, die Temperaturregelung hochzustellen.

„Nachdem ich entschieden hatte, dass bei dem Wetter womöglich keine Mitfahrgelegenheit bei mir eintrifft, fuhr der Bus an mir vorbei.“ Ich erwarte Gelächter, doch stattdessen nimmt mir Kain das Handtuch ab und streicht mir ein paar Regentropfen vom Hals.

„Wo ist Jeff?“ Ich wische mir einen Wassertropfen davon, der auf meine Nasenspitze zu fließt.

„Entweder in oder bei Abel.“ Ich verziehe das Gesicht. Zu viel Information.

„Geh lieber schnell duschen“, schlägt Kain mir ruhig und fast besorgt vor.

„Ich brauche erst etwas Richtiges zu essen.“ Kains Augenbraue wandert nach oben.

„Okay, lass uns einen Deal machen. Du suchst dir einen Föhn und ich besorge dir was zu essen!“ Es klingt tatsächlich verlockend. Ich mustere ihn misstrauisch. Irgendwo ist ein Haken. Ganz sicher. Ich nicke es dennoch ab, sehe, wie er aus dem Wohnheimzimmer verschwindet und stelle mich wenige Minuten später unter die warme Dusche. Es ist eine Wohltat. Ich genieße das wohltuende Wasser, reibe mich sorgsam mit Duschbad ein, bis ich mich blitzblank fühle. Nach zweimaligen Zähneputzen ist auch die erste Diabetespanik gebannt und ich kann den Rest des Abends ohne etwaige Ängste verleben.
 

Aufgewärmt und mit Jeffs Hose bekleidet, bin ich als Erster im Zimmer zurück. Mein Nacken ist steif. Ich lasse meine Finger über die oberen Halswirbel wandern, bewege meinen Kopf ein paar Mal hin und her. Langsam und bedacht, um keine weiteren Schmerzen zu provozieren. Wirklich gut waren Kälte und Wind nicht. Ein leises Knacken. Meine Hand gleitet tiefer in den Kragen meines T-Shirts und ich neige meinen Kopf etwas nach vorn. Mit einem Mal spüre ich Kains Hände an meinen Bauch. Er umgreift mich von hinten. Sein Mund berührt meine Finger.

„Brauchst du eine Massage? Kriegst du, aber nur, wenn du mir danach einen bläst.“ Er drückt sich dichter an mich heran und dann spüre ich seine warmen weichen Lippen an meinen Hals.

„Feingefühl ist dir wirklich ein Fremdwort, oder?“ Erst als Kains Lippen auf meine empfindliche Seite wechseln, reagiere ich. Ich neige meinen Kopf wieder etwas vor, um ihm zu entkommen.

„Warum auch, wenn ich ficken will, dann sage ich es einfach…bisher hat das Bestens funktioniert. Auch bei dir.“ Der Kommentar lässt mich genervt raunen. Kains Zähne bohren sich in mein Ohrläppchen. Feiner Schmerz, der sich über meinen Hals kitzelt und durch seine streichelnde Zunge etwas gelindert wird. Kains wissende Hände gleiten unter mein Shirt, liebkosen sich über meinen flachen Bauch nach oben. Als hätte ich es geahnt. Ich löse mich von ihm, doch Kain hält mich am Shirt zurück, zieht es so weit hoch, dass er meinen unteren Rücken freilegt.

„Ach komm schon, das ist… Oh, hast du ein Tattoo?“ Ich wende mich ruckartig um. Fuck. Das unschöne Wort echot durch meinen Kopf, während ich den Schwarzhaarigen reichlich erschrocken entgegen blicke.

„Wie kann es sein, dass ich das noch nicht gesehen habe?“ Kain greift nach meinem Shirt, bekommt es zufassen, obwohl ich ausweiche. Er zieht mich näher.

„Jetzt weiß ich, warum du dich beim Ficken nicht umdrehen lässt“, entflieht es ihm nach einem Augenblick des Sinnierens. Ich presse meinen Kiefer zusammen. Seine Augen fahren mein Gesicht ab. Die Intensität ist mir unangenehm.

„Ich verhungere gleich und ich habe keine Lust auf Diskussionen“, merke ich ausweichend an und versuche mich von Kain zu lösen. Diesmal gelingt es und ich flüchte zu meinem Schreibtisch, wende mich von ihm.

„Okay, dann erspar dir die Debatten und lass es mich sehen.“ Mein Tattoo hat noch niemand gesehen. Jedenfalls nie vollständig. Unmerklich schüttle ich den Kopf. Kain tritt wieder hinter mich, schlingt seine Arme um meinen Bauch drückt mich zerquetschend an sich. Wenn er mich ein Stück hochhebt, dann könnte er mich schütteln, wie eine übergroße Puppe. Hilfe.

„Essen“, wiederhole ich und versuche erneut, mich von ihm zu lösen, bis ich seine rechte Hand unter meinem Shirt spüre. Die Wärme verdrängt meinen Fluchtreflex. Sie wandert höher, zieht dabei auch mein Shirt nach oben. Die Linke folgt über dem Stoff und bleibt an meinem Hals stehen. Ich spüre, wie sein Daumen über den Rand meines Kiefers streicht. Ich fühle mich benebelt. Es ist wirklich seltsam. Seine Hand wandert zu meiner Schulter, streicht den Kragen des Shirts entlang. Leicht zieht er ihn hinab und ich weiß, dass der obere Teil meines Tattoos ein klein wenig zu erkennen ist.

„Kain, lass das…“ Ich gebe einen erneuten, knurrenden Versuch von mir. Mehr für mich selbst, als für Kain. Im Grunde hätte ich damit rechnen müssen, dass er es früher oder später entdecken wird, schließlich sieht er mich häufiger völlig entkleidet als andere. In dem Moment, in dem ich ärgerlich meine Augen schließe, treffen seine Lippen meinen Hals. Sie sind warm und leicht feucht. Er wandert von der feinen Beuge meines Trapezmuskels zu meinem Ohrläppchen. Federleichte Berührungen, die ein kribbelndes Verlangen in mir auslösen. Ich weiß nicht, woher diese Sehnsucht eigentlich kommt. Doch sie durchströmt mich. Heiß und besitzergreifend. Mein Atem geht bereits jetzt schneller. Ich bin mir sicher, dass er spürt, wie heftig mein Körper reagiert.

„Zeig es mir.“ Nur ein Flüstern. Mit jeder Sekunde, die vergeht, wird mein Herzschlag heftiger. Dann löst er sich langsam. Ich bleibe regungslos stehen, während sich in meinem Kopf das Abbild meines Rückens formt. Silbe für Silbe ergießt sich der Ausschnitt meines ersten Buches mit hunderten filigran geschriebenen Worten darauf. Die Passagen meines kindlichen Gefühlsspektrums verweben sich in die Kapitel, wie der tieftraurige Faden eines Dramas, in dem die ersten Worte als Grund für all den Schmerz stehen. Sie begannen mit naiven Abenteuern und Wünschen und enden damit, dass mein Bruder vor meinen Augen starb.

Die gesamte Geschichte über hat man im Kopf, wie es enden wird und es bildet sich diese schleichende Trauer, die einen trotz langseitiger Einleitung packt und schüttelt, bis einem die Tränen kommen. Denn die Vorbereitung auf das, was kommen wird, ist nie genug. Niemals.
 

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PS vom Autor: Danke ihr wundervollen und lieben Kommieverfasser und Leserchens. Ich danke euch für die Geduld und das wunderbare Gefühl, welches ihr mir immer wieder zu kommen lasst.

Ihr seid mein Antrieb. Ihr seid meine Kraft! <3

DANKE!

del



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Kommentare zu diesem Kapitel (4)

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Von:  Assaya
2016-10-16T11:00:01+00:00 16.10.2016 13:00
Hi.... jetzt habe ich deine gesammte Geschichte verschlungen....
und am liebsten würde ich immer noch weiter lesen! Ich liebe sie!
Und ich hab so viele noch offene Fragen und freue mch wenn es weiter geht und ich antworten bekomme. LG
Von:  Morphia
2016-07-02T10:30:04+00:00 02.07.2016 12:30
Neues Kapitel! 😍
Das war wieder sehr interessant. Ich mag Robins Charakter. Mit ihm wird es nie langweilig. 😉
Ich bin gespannt auf das Tattoo.
Schreib schnell weiter. 😃

Von:  Shigo
2016-07-01T21:27:59+00:00 01.07.2016 23:27
Du weißt ja schon, was ich über die Geschichte denke 😊..
Ich liebe sie 😍..
Ich bin gespannt was jetzt kommt.. Die zwei sind einfach Zucker!
Viel passiert in diesem Kapitel, toll 😄.. Adel nervt immer noch 😂.

Bis bald 😎
Lg Shigo
Von:  Reija
2016-06-29T13:28:03+00:00 29.06.2016 15:28
Danke du hast mir den tag gerettet ♥
Endlich hatte das Warten ein Ende

Ich mag das Kapitel, gerade weil es sich mal nicht nur an der Uni abspielt und die süße Italienerin auch mal wieder zu Wort kommen darf. Obwohl es bei unseren Temperaturen draußen schon gemein ist hier die ganze Zeit von Eis zu lesen und man selber keines im Kühlschrank hat.
Ich mag Kain immer noch sehr gerne :D scheint ja endlich auch mal zu verstehen, dass da mehr an der Sache dran ist als nur Sex, wird aber auch langsam mal Zeit bei den beiden, sind ja in der Beziehung nicht gerade die Hellsten, da hilft dann auch das Allgemeinwissen nicht sehr viel weiter, wenn es am Zwischenmenschlichen scheitert.

Das Tattoo würde ich jetzt aber gerne einmal zu Gesicht bekommen, hiemit fordere ich offiziell ein Bild via dem Weblog an ^^!

Und ansonsten, schreib schnell weiter sonst muss ich wieder so sehnsüchtig warten


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