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Between the Lines

The wonderful world of words
von

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Keine Ruhe vor dem Sturm

Kapitel 1 Keine Ruhe vor dem Sturm
 

Das energische Klopfen an der Tür ist selbst durch meine Kopfhörer zu hören. Dumpf, aber so gleichmäßig, dass es mir nach wenigen Minuten auf die Nerven geht. Ich atme tief ein. Mein Mitbewohner übernachtet auswärts und für einen Augenblick wähnte ich mir einen ruhigen Abend ganz mit mir allein. Ich habe mich getäuscht.

„Mach auf!", kommt es von der anderen Seite der Tür, gefolgt von weiterem, mittlerweile heftigem Klopfen. Ich schließe meine Augen mit der wahnwitzigen Vorstellung, dass die Geräusche damit weniger werden. Aussichtslos und reichlich naiv.

„Robin, ich weiß, dass du da drin bist." Nun drehe ich mich doch um und blicke zur geschlossenen Tür. Ich knurre und stehe auf. Bevor er ein weiteres Mal zu hämmern beginnen kann, drücke ich die Kopfhörer von meinen Ohren und mache die Tür auf. Ich sehe direkt in verärgerte, braune Augen. Kain. In all seiner gloriosen Erscheinung. Er ist ein Kommilitone aus dem 6. Semester, der mit mir einige Vorlesungen besucht. Seine sonst gutfrisierten, schwarzen Haare stehen wild um seinen Kopf herum und unterstreichen den Wahnsinn, den seine Aktion mit sich bringt.

„Was?", frage ich genervt, lasse meinen Blick absichtlich offen abschätzig über den anderen Mann wandern und sehe verwundert auf das Kissen in seiner Hand. Ich deute darauf und schaue dann wieder in sein grimmiges Gesicht.

"Kissenschlacht verloren?", frage ich.

„Dein Mitbewohner fickt meinen!", sagt er in einem Tonfall, an dem ich nicht gleich erkennen kann, ob es ein Scherz ist oder Ernst. Was, schallt es ungläubig durch meinen Kopf. Ich stocke und sehe in die funkelnden Augen des anderen Mannes. Er meint es ernst. Für einen Moment weiß ich nicht, was ich ihm entgegnen soll. Er muss fantasieren oder zu mindestens übertreiben.

„Ja, und?", frage ich bewusst ruhig, nachdem keine genauere Erklärung folgt. Noch immer dringt die Musik aus meinen Kopfhörern. Mit Sicherheit hört auch Kain sie. Zero 7 mit 'In The Waiting Line'. Der chillige Song passt in keiner Weise zur angespannten Stimmung.

„Er ist doch dein Freund, oder?" Kain spricht von Jeff. Kumpel, Kommilitone und Kindheitsfreund meinerseits. Ich bin mit Jeff zur Schule gegangen und wir haben uns an derselben Universität beworben. Ich studiere Biochemie im 4. Semester und habe außer Jeff keine Menschenseele, mit der ich über persönliche Dinge rede oder die ich ansatzweise einen Freund nennen könnte. Reden ist keine meiner Stärken. Dass wir ein gemeinsames Zimmer bekamen und Mitbewohner wurden, war reiner Zufall. Ich finde es okay. Ihm gegenüber muss ich mich wenigstens nicht andauernd verstellen, denn er weiß, dass ich im Grunde ein eigenbrötlerischer Einsiedler bin, der einfach nur seine Ruhe will.

„Ja, und?", frage ich erneut weltmeisterlich gelassen. Nicht, dass ich es bereits gewusst habe. Im Gegenteil, es überrascht mich derartig, dass ich große Mühe habe, mich zusammenzureißen. Jeffs Neigung ist mir trotz der langen Zeit, die wir uns kennen, nie aufgefallen. Seltsam und irgendwie auch nicht. Ich verstehe nicht, warum Kain mir das erzählt und was er damit bezweckt. Was soll ich dagegen tun? Die Musik aus meinem Kopfhörer ändert sich in Magic! mit 'Rude'.

„Rede mit ihm, denn das muss aufhören." Mein Blick wird verstört. Das ist nicht sein Ernst? Kain schiebt mit seiner großen Hand die Tür auf. Doch bevor er das Wohnheimzimmer betrete kann, stelle ich mich ihm in den Weg.

„Was wird das?", frage ich warnend, leicht knurrend.

„Ich bleibe hier.", folgt die schlichte Antwort. Er beugt sich zu mir. Kain ist um einiges größer und um breiter als ich. Wahrscheinlich, weil er seine Freizeit damit verbringt Gewichte sinnlos in die Luft zu heben. Er mustert mich unverhohlen und macht eindeutig klar, dass ich ihm kein Hindernis bin. Das weiß ich selbst, aber meine Ruhe würde ich nun mal mit dem Leben verteidigen.

„Ganz sicher nicht", sage ich knapp und er fokussiert mich. Nun wandert eine seiner Augenbraue nach oben und ich bin mir nicht sicher, ob das ein gutes oder eher schlechtes Zeichen ist.

„So lange dein Mitbewohner meinen gerade genüsslich von hinten nimmt, bleibe ich hier!" Das Bild, welches sich in meinem Kopf malt, ist farbenfroh und detailgetreu. Ich schüttele es so schnell, wie möglich davon. Daran will ich nicht denken.

„Nein."

„Robin, ich mache keinen Spaß. Ich bin sogar ziemlich angefressen, weil ich mir diese Szenerie jetzt schon mehrere Mal mit ansehen musste. Ich will meine Ruhe, einfach nur pennen und ich werde es in einem eurer Betten tun." Unwillkürlich bildet sich erneut eine Art besprochener Film in meinem Kopf. Sie beschreibt das Spiel von angespannten Muskeln, die durch den Schweißfilm der Lust nur noch deutlicher hervortreten. Wieder wische ich es hinfort. Dass ich mir auch immer alles gleich vorstellen muss. Ich zucke, gebe ein knirschendes Geräusch von mir und Kain sieht mich fragend an.

„Na sowas, ich will auch einfach nur meine Ruhe und die habe ich nicht, wenn du dieses Zimmer betrittst. Außerdem ist es allein dein Problem, wenn dich das stört. Geh zu deiner Freundin oder zu einem Kumpel, aber lass mich in Frieden."

„Nein", kommt es nun retour von ihm. Es ist schlicht, einfach und effektiv. Kain streckt seinen Zeigefinger nach mir aus und tippt mir sachte gegen die Brust. Er trifft genau die verknöcherte Mitte zwischen meinen beiden Brustmuskeln. „Sei dir Gewiss, ich werde es nämlich zu deinem Problem machen. Du wirst mit ihm reden und du wirst es ihm austreiben, denn wenn das öfter passieren, dann werde ich bei dir einziehen."

„Du spinnst, ja. Das geht überhaupt nicht und wieso glaubst du, dass ich ihm das ausreden kann? Noch dazu scheint es dein Mitbewohner genauso zu wollen, also warum redest du nicht mit ihm?", erwidere ich auf seine haltlose Drohung. Ich schubse seinen Finger davon. Ich weiß nicht mal, wer sein Mitbewohner ist und es ist mir auch egal. Sein Problem, nicht meins.

„Ich schimpfe meinen Mitbewohner aber nicht Freund, sondern böses Übel und er gibt einen Scheiß auf meine Meinung." Zwei Mädels kommen an uns vorbei. Beide gertenschlank und aufgehübscht. Eine von ihnen ist blond, die andere brünett. Ich sehe, wie sie uns beim Vorübergehen mustern. Ich kenne sie nicht, aber scheinbar kennen sie Kain. Sie tuscheln und kichern einander zu gewandt. Kain reagiert nicht. Noch immer hält er das Kissen in der Hand. Die Mädels bleiben stehen und betrachten unverwandt die Szenerie, die wir ihnen bieten. Ich stelle mir vor, was sie sagen und wie sie es sagen. Ein Flüstern, welches warm über den Hals der Brünetten streicht, während die Blonde vor Verzückung Gänsehaut bekommt. Kain folgt meinem Blick als merkt, dass meine Aufmerksamkeit nicht mehr bei ihm liegt. Er hebt eine Braue und mustert die beiden Frauen bis ihm die Blonde zu winkt. Nichts Ungewöhnliches für Kain, das sagt mir sein Blick. Vermutlich glaubt er, ich bin beim Anblick der Frauen vor Ehrfurcht und Scham erstarrt. Keineswegs. Allerdings weiß er auch nicht, dass sich die Szene in meinem Kopf ausformuliert und in eine Geschichte wandelt. Kain tippt mir gegen die Stirn und umgreift mit der anderen das Kissen fester.

„Robin. Darf ich nun rein, oder nicht?" Aus meinem Kopfhörern erklingt Stroke 9 mit 'Just can't wait'. I just can't wait for you to say. That you want me. Niemals.

„Nochmals. Nein! Du...Wie kommst du eigentlich an dein Kissen, wenn du die beiden erwischt hast?", frage ich irritiert und betrachte das weiße Ungetüm.

„Ich bin rein und hab es mir geholt", sagt er schlicht und ich bin für einen Moment so überrascht, dass er es schafft sich an mir vorbei zu schieben. Jetzt bekomme ich ihn garantiert nicht mehr raus. Seufzend kippt mein Kopf voran und ich schließe kurz die Augen.

„Obwohl sie da drin gerade bei der Sache waren?", hake ich nach.

„Jup!", kommentiert er und sieht sich entspannt im Zimmer um. Ich sehe ihm fassungslos dabei zu und in meinem Kopf formt sich unwillkürlich ein weiteres detailliertes Bild, welches ich nie haben wollte. Wie schamlos kann man sein?
 

„Geh wieder raus. Sofort!", sage ich mit Nachdruck. Doch der Angesprochene ignoriert mich, schaut zu meinem und dann zu Jeffs Bett. Das Kissen fliegt im hohen Bogen auf meins.

„Nö! Und ich nehme deins." Woher weiß er, dass es mein Bett ist?

„Wie bitte? Nimm dein Schweißfang da weg.", sage ich entsetzt und schließe abrupt die Tür, damit unsere Streitereien nicht in den Flur dringen. Mittlerweile hatte sich bereits ein kleiner schaulustiger Pulk gebildet. Die Tür fällt laut und deutlich ins Schloss. Damit ist leider auch endgültig besiegelt, dass er die Nacht über hier bleiben wird.

„Nö! Ich will nicht in Jeffs Bett. Wer weiß, was er da schon alles drin getrieben hat" Er schüttelt sich theatralisch und wirft sich aufs auserkorene Bett. Ich blicke wenig begeistert zu dem unordentlichen Haufen Bettzeug auf Jeffs Nachtlager. Das darf doch nicht wahr sein. Ich werde nicht aufgeben.

„Weißt du, was ich in meinem alles getrieben habe?", frage ich provokativ. Doch Kain drückt einfach seine Nase in mein Kissen, schließt die Augen und grinst.

„Riecht jungfräulich." So ein Idiot. Ich bleibe einen Moment im Raum stehen und lausche der Musik, die aus meinen Kopfhörern dringt um mich zu beruhigen. Es funktioniert nicht. Warum ausgerechnet mein Bett?

„Sag mal, geht's noch? Was soll das?"

„Ich will doch nur pennen. Ich tue dir doch nichts!", sagt er mit geschlossenen Augen und macht keinerlei Anstalten sich zu erheben. Im Gegenteil, er quetscht stattdessen sein Kissen in Form und seufzt zufrieden. Ich werde irre. Warum? Wieso? Was habe ich getan?

„Ich muss noch arbeiten", merke ich an und weiß nicht, was genau ich damit bezwecke.

„Mach doch. Ich lasse mich von ein bisschen Getippe nicht stören." Wie erwartet.

„Ich will in Ruhe allein arbeiten", verdeutliche ich mit zusammengebissenen Zähnen, doch Kain setzt sich nur auf und grinst. Seine wachsamen Augen erfassen mich. Sie sind seltsam einnehmend und intensiv.

„Machst du irgendwas Verdorbenes, Verbotenes oder Abartiges?", fragt er amüsiert.

„Was? Nein!", entfährt mir ein klein wenig zu schnell. Fast atemlos und so gar nicht verräterisch. Reiß dich endlich zusammen Robin.

„Warum regst du dich dann so auf? Ich will wirklich nur pennen. Mich interessiert weder, was du an deinem Rechner machst, noch was du versteckst. Also, setzt dich einfach und mach mit dem weiter, was auch immer du machst." Er vollführt eine seltsam ausladende Handbewegung und sinkt zurück in sein Kissen.

„Ich will einfach nicht, dass du hier bist", sage ich ungalant und ernte von Kain nur einen seltsamen Blick.

"Finde dich damit ab", antwortet er schlicht und dreht sich demonstrativ auf die Seite. Ich blicke auf seinen breiten Rücken und bin noch immer nicht damit einverstanden, dass er einfach in meinem Bett liegt. Ich fühle mich bedrängt und etwas überfordert von dieser penetranten Schamlosigkeit, auch wenn er gar nichts macht. Allein seine plötzliche Anwesenheit beunruhigt mich. Ich bin kein Menschenfreund.

"Ich rufe gleich den Aufseher!", drohe ich seltsam effektlos.

"Gut, dann stecke ich ihm, dass dein Mitbewohner Sex hat und das obwohl es untersagt ist", murmelt Kain müde und desinteressiert. Mist. An die unzeitgemäßen und nutzlosen Richtlinien unseres Wohnheimkomplexes habe ich nicht gedacht. Als ob Sex in einem gemischten Wohnheim verhindert werden könnte. Ich bin mir nicht mal sicher, wie ernst es die Aufseher nehmen würden. Vermutlich so ernst, wie bei jeder anderen Lärmbelästigung. Ich würde Jeff nicht verraten, aber vermutlich dafür sorgen, dass er seine sexuellen Kontakte woanders pflegt. Ich brauche eine ganze Weile, um mich zurück an meinen Schreibtisch zusetzen. Aus den Augenwinkeln heraus sehe ich seine schlafende Gestalt und merke, wie mein linkes Bein unstet zu vibrieren beginnt. Ich habe keine Ahnung, wieso mein sonst immenses Durchsetzungsvermögen an Kain abprallt, wie ein geworfenes Plüschtier. Ich ziehe mir die Kopfhörer zurück auf die Ohren und stelle die Musik lauter. Die Musik beruhigt mich, aber dennoch bin ich unkonzentriert und diesmal ist es nicht der schwarzhaarige Störenfried, der meine Gedanken füllt. Sondern Jeff. Mein Mitbewohner und Jugendfreund, der gerade mit einem anderen Mann das Bett teilt. In mir regt sich eine leichte Fassungslosigkeit. Ich werde mit ihm reden, aber nicht in Kains Sinne. Auch, wenn Jeff daran schuld ist, dass ich mich jetzt mit diesem Idioten rumplagen muss. Erneut sehe ich auf den ruhigen und regungslosen Körper des anderen Mannes. Nach ein paar Minuten nutzlosem Starren, wende ich mich meinen Bildschirm zu. Mein Finger streicht zaghaft über die Leertaste und ich beginne zu tippen. Schon nach den ersten paar Worten tauche ich wieder in meine stille Welt der Worte ein.
 

In meinem Kopf bilden sich Orte und Landschaften. Gesichter, Körper und Charaktere, die mit jedem Gedanken inhaltlicher und vollendeter werden. Das, was ich im wahren Leben nicht kann, bringe ich auf Papier. Dialoge und Situationen, in denen ich selbst wohl immer versagen würde, perlen in Form von geschriebenem Worten nur so über meine Lippen. Bereits in der Schule habe ich damit begonnen, die Fantasien, die sich in meinem Kopf manifestierten, niederzuschreiben. Seit ein paar Jahren veröffentliche ich in einem kleinen Verlag, der überwiegend auf Romane mit der Themenwelt rundum Young-Adult und New-Adult, aber auch Jugend- und Kinderliteratur spezialisiert sind. Ein Unmenge an konventionellen und klischeehaften Liebesgeschichten und juvenilen Abenteuer. Ich habe noch nie jemanden erzählt. Nicht einmal meiner eigenen Familie.

Nach nur wenigen Zeilen stoppe ich mit dem Schreiben und lehne mich zurück. Jeff ist schwul oder auch bi. Und ich habe es nicht mitbekommen. Ich starre auf die Tasten meiner bereits stark abgenutzten Tastatur. Einige der Buchstaben sind kaum noch zuerkennen, doch das stört mich nicht. Ich kann nach all der Zeit quasi blind tippen. Erneut streichen meine Fingerkuppen über die Leertaste, fast streichelnd. Ungesehen zärtlich. Die eigentlich raue Beschaffenheit der Oberfläche ist in der Mitte der Taste bereits glatt. Allein der Anblick der Buchstaben lässt in meinem Kopf Worte entstehen, die zu Sätzen und Geschichten anschwellen. Jeff schläft mit anderen Männern, echot durch meinem Kopf. Ich habe tatsächlich nichts davon mitbekommen. Warum hat er mir nie etwas gesagt? Er vertraut mir nicht. Dabei ist Jeff im Grunde der Einzige, den ich als Freund ansehe. Aber ich gebe zu, dass ich nicht sehr viel für unsere Freundschaft tue. Ich höre mir an, was er mir zusagen hat oder was er mir berichten will, aber selbst fragen liegt mir fern. Ich bin nicht der Typ für lauschige Männergespräche. Vielleicht hat er mir deshalb nichts erzählt. Er denkt es wäre für mich nicht von Interesse. Er empfindet es nicht als wichtig, dass ich das weiß. Obwohl es nicht überraschend ist, bedrückt es mich, auch wenn ich selbst daran schuld bin, dass ich für niemanden eine derartige Rolle spiele. Dass mich Kain die ganze Zeit von der Seite beobachtet, bekomme ich nicht mit.

In Gedanken versunken bleibe ich sitzen, starre auf die Zeilen meines begonnen Skripts. Ich brauche nur noch drei abschließende Kapitel und wie jedes Mal muss ich mir ein überraschendes, rosarotes Happy End herauskitzeln. Es ist das, was diese Geschichten brauchen und was auf Hängen und Würgen gewollt wird. So sagte man es mir, bläute es mir förmlich ein. Ich gebe es ihnen. Mein nächster Abgabetermin ist bereits in zwei Wochen. Dennoch öffne ich ein neues Dokument.
 

Jeff schläft mit anderen Männern. Unwillkürlich schweifen meine Gedanken zu der weniger lautmalerischen Beschreibung von Kain. Doch auch in meinem Kopf wird die Szenerie detaillierter und weniger weichgemalt. Es schreibt sich schnell von der Hand. Wort für Wort. Szene für Szene. In diesem Moment fühlt es sich für mich an als könnte ich die warme Haut unter meinen eigenen Fingern spüren. Ich fühle, wie sich die Muskeln darunter bewegen, wie sich mir die feine Härchen entgegen schmiegen und meine Fingerkuppen sanft kitzeln. Die Bewegungen und die Berührungen. Warmer Atem, der meine Haut trifft. Die Vorstellung lässt mich erschaudern, zittern und sanft beben. Vor Aufregung. Vor Lust und Ekstase. Ich habe das Gefühl die erregten Stimmen in meinem Kopf zu hören, wie sie sich gegenseitig ihre Namen zu flüstern. Das Raunen und Keuchen. Ich merke, wie sie die Lust auf meinen Körper überträgt, schmecke das salzige Aroma heißer Körper auf meiner Zunge. Die maskuline Süße herber Lippen. Woher kommen mit einem Mal diese intensiven Gedanken und woher kommen die Bilder? Beim letzten getippten Wort lehne ich mich zurück. Mein Puls schwelt. Ich spüre den Schlag meines Herzens heftig in meinem Brustkorb. Meine Hände zittern verräterisch. Ich bin in keiner Weise weltfremd oder ignorant, aber das intensive Gefühl erschreckt mich.

Ich werfe einen Blick zu Kain. Er rührt sich nicht und hat sich mittlerweile zu gedeckt. Erst jetzt wird mir die Kühle im Raum ebenso bewusst. Nachdem ich die Dateien gespeichert habe, stelle ich die Heizung an und sehe aufs Handy. Es ist spät. Bereits dunkel. Ich sehe zu Jeffs Bett und obwohl ich mir früher nie darüber Gedanken gemacht habe, widerstrebt es mir, mich dort hineinzulegen. Es gehört sich nicht. Es ist fremd und falsch. Auch, wenn ich weiß, dass es für Jeff kein Problem wäre. Ich habe noch nie gern in fremden Betten geschlafen. Es fühlt sich immer komisch an. Es kommt mir falsch vor. Außerdem liegt Jeff oft nackt drin und dieser Fakt arbeitet sich gerade unaufhaltsam durch meine Gehirnwindungen. Nein, ich kann es nicht. Ich will nicht.

Ein weiterer Blick auf die Uhr. Ich gehe schnellen Schrittes in die Waschräume, um mich kurz zu duschen und um in irgendeiner Form Entspannung zu finden. Das brauche ich jetzt. Dringend.
 

Als ich zurückkomme, schläft Kain noch immer. Er wirkt ruhig und entspannt. Ich beneide ihn für diese Unbedarftheit. Unsanft ziehe ich ihm mein Kissen unter dem Kopf hervor, ignoriere sein missmutiges Murren.

"Geht's auch sanfter?", murmelt er schlaftrunken.

"Verrecke", knurre ich unfreundlich als Antwort. Der Angesprochene dreht sich auf die Seite, hält kurz seinem Arm hoch und zeigt mir seinen Mittelfinger. Ich sehe ihn nur schemenhaft. Missmutig krame ich mir eine Decke aus dem Schrank, breite sie als ein Nachtlager auf dem Boden aus und blicke noch einmal auf das Bett meines Mitbewohners. Danach zu Kain. Unruhig fahre ich mir mit der Hand über den flachen Bauch. Kains Anwesenheit macht mich nervöser als ich vermutet habe. Ich tapse zu meinem Schreibtisch zurück und krame eine Schachtel Zigaretten aus einer Schublade. Drei sind noch drin. Eine nehme ich heraus, ziehe mir einen Pullover über und verschwinde über den Seitenausgang nach Draußen. Ich genieße die Zigarette nicht, aber ich brauche das Kribbeln, welches sie durch meine Lunge jagt. Den Stummel schnipse ich unachtsam zur Seite. Auch das Räuspern des Wohnheimaufsehers ignoriere ich bis er mich zurückhält.

"Quinn, verlange nicht, dass ich es ausspreche...", sagt er barsch und warnend. Ich wende mich zu ihm. Sein Name ist Micha. Er ist einer der wissenschaftlichen Mitarbeiter der Universität, der sich ein Zubrot als Wohnheimaufsicht verdient. Es gibt eindeutig bessere und vor allem dankbarere Scheißjobs. Er deutet auf den glimmenden Stummel im Beet. Ich beiße mir auf die Unterlippe. Jedes Mal dasselbe. Micha erwischt immer mich. Augenverdrehend mache ich den Schritt auf die Zigarette zu und lasse die Reste im mülleigenen Aschenbecher verschwinden.

"Das machst du jedes Mal. Fällt es dir so schwer, die dämliche Zigarette da rein zu hauen?", kommt es spöttisch.

"Fällt es dir schwer, derartig zu nerven?", kommentiere ich retour.

"Eigentlich nicht. Es liegt mir im Blut und macht ziemlich viel Spaß!" Micha grinst und deutet zur Tür. Ich mache zum Abschied eine winkende Bewegung und verschwinde zurück ins Zimmer. Kain hat sich gedreht. Sein ruhiges, schlafendes Gesicht blickt in meine Richtung und für einen Moment wirkt er nicht mehr so gigantisch auf mich.

Ich widerstehe dem Bedürfnis ihm mein Kissen ins Gesicht zu werfen. Wie kann er so ruhig in einem fremden Bett pennen? In meinem! Es regt mich immer noch auf. Bevor ich mich hinlege, schalte ich den Rechner ab und sehe noch einen Moment auf den schwarzen Bildschirm. Danach versuche ich es mir auf dem Boden gemütlich zu machen. Ein sich ausschließender Prozess. In meinem Kopf arbeitet es weiter und verhindert, dass ich zeitnahe einschlafe.
 

Ich werde durch das Öffnen der Tür geweckt. Jeff steht im Raum und blickt verwundert auf mich und Kain, der leise schnarchend in meinem Bett liegt.

„Was ist denn hier los?", fragt Jeff verwundert und stellt seinen Rucksack neben seinem Schreibtisch ab. Ich richte mich müde auf. Mein Rücken ist steif und mein Hals auch.

„Du fickst seinen Mitbewohner", sage ich gerade heraus. Jeff versteift sich augenblicklich. Es ist ihm unangenehm, aber er wird nicht wirklich unruhig.

„Woher weißt du das?", fragt er dümmlich und ich deute schweigend auf mein Bett, in dem der Schwarzhaarige nächtigt. Jeff blickt zu Kain, der sich erwachend hin und her wälzt. Wahrscheinlich hat ihn Jeff gar nicht als diesen erkannt.

„Er stand vor der Tür, nachdem er euch erwischt hat und ist leider nicht wieder verschwunden", erkläre ich knirschend, während sich Jeff perplex neben mir aufs Bett setzt. Mittlerweile hat auch Kain seine Augen geöffnet und sich aus dem Gespräch herausgehalten.

„Warum hast du auf dem Boden gepennt?", fragt Kain verwundert, fährt sich durch die wuscheligen Haare und schaut zu meinem Mitbewohner. Ein Abbild völliger Unschuld. Bitte erschießt mich.

„Weil du in meinem Bett liegst, du Vollpfeife.", bluffe ich laut. Diesmal schleudere ich ihm mein Kissen wirklich zu und treffe ihn direkt im Gesicht. Kain ist perplex.

„Geht's noch? Du hättest doch Jeffs nehmen können", bemerkt er nörgelnd und hat Recht.

„Ich lege mich aber nicht in fremde Betten", kommentiere ich und ernte von beiden Männern einen seltsamen Blick.

"Wie absurd ist das denn?" Kain richtet sich auf, legt mein Kissen zur Seite und greift nach seinem eigenen. "Okay, wie auch immer. Ich hau wieder ab...Jeff..." Mein Mitbewohner erwidert den Gruß mit einem lächelnden Nicken. Mit einem verschmitzten Grinsen im Gesicht und dem Kissen unter dem Arm bleibt er vor mir stehen.

„Äußerst bequem dein Bett. Nicht so ausgeleiert, wie manch andere." Ich will ihn erwürgen. "Bläue ihm ein, dass das aufhören muss.", hängt er noch mit ran, deutet auf Jeff und geht zur Tür. Ich hebe fassungslos meine Hände und sehe dabei zu, wie der muskulöse, aber schlanke Körper aus dem Zimmer verschwindet. Kain kann mich mal.
 

„Fick dich! Und wehe, du kommst wieder", rufe ich ihm nach und sehe zu Jeff. Dieser schaut noch immer verwundert, aber im gleichen Maß amüsiert zur Tür. Ich finde es ganz und gar nicht witzig.

„Ich wusste nicht, dass du ihn kennst. Tut mir leid, ich hätte im Leben nicht gedacht, dass er hier aufkreuzt.", bemerkt Jeff kichernd. Es klingt dennoch entschuldigend. Ich sehe Jeff unmissverständlich an und richte mich auf. Mein Nacken knackt. Danach mein Rücken und das Knie. Verdammt noch mal.

„Ich wollte ihn gar nicht reinlassen, aber er hat das halbe Wohnheim niedergebrüllt." Ich lasse mich müde auf mein Bett fallen, doch bevor ich mich hinlege, blicke ich auf die Decke. Kain hat hier drin gelegen. Die ganze Nacht. ich kriege Gänsehaut. Ich stehe prompt wieder auf und setze mich stattdessen an den Schreibtisch. Jeff beobachtet mich argwöhnisch, sagt aber nichts. Wir schweigen uns einen Moment an. Doch dann ploppen die Gedanken des gestrigen Abends wieder auf. In voller Blüte mit all den Details.

„Warum hast du es mir nicht erzählt?", frage ich ad hoc und klinge seltsam beleidigt. Ich drehe mich extra nicht zu ihm um, um nicht in sein Gesicht sehen zu müssen. Ich bin mir nicht sicher warum.

„Robin, ich... weiß nicht...", beginnt Jeff und bricht schnell wieder ab. Ich warte nicht ab bis er sich gesammelt hat oder Ausflüchte findet.

„Wir kennen uns schon so lange und du kommst nicht auf die Idee mir zu erzählen, dass du auf Männer stehst? Warum, Jeff?"

„Es tut mir Leid, okay?", gibt er seufzend von sich, "Ich weiß auch nicht, warum ich es nicht erzählt habe. Ehrlich gesagt, bin ich nie auf die Idee gekommen, es zu erwähnen. Wir reden so gut, wie nie über so was und wenn ist es nur dummes Gelaber ohne Bedeutung." Jeff hat Recht und dennoch reicht es mir nicht. „Ich dachte, es wäre dir einfach egal", fährt er fort und sagt das Erwartete. Das macht es nicht besser. Es ist mir nicht egal, aber ich verstehe sehr wohl, wieso er es denkt. Ich atme kurz durch und nicke.

„Ja, alles klar. Gut, es ist mir egal. Schlaf mit wem du willst", kommentiere ich schlicht und unaufgeregt. Ich gehe zu meinem Kleiderschrank und ziehe mir frische Klamotten heraus. Jeff seufzt. Für meinen Geschmack zu theatralisch. Er glaubt nicht, dass es mich wirklich getroffen hat.

„Ach komm, es tut mir echt Leid", ruft er mir nach als ich das Zimmer verlasse. Ich hebe meine Hand und strecke ihm zum Abschied meinen Mittelfinger entgegen, so wie es gestern Nacht Kain getan hat. Meine Reaktion ist eindeutig übertrieben, aber es ärgert mich. Enttäuscht mich sogar ein bisschen. Auf dem Flur kommen mir die beiden Mädchen vom gestrigen Abend entgegen. Sie sehen mich an und beginnen erneut zu tuscheln. Wie die Szene von gestern wohl auf sie gewirkt hat? Wahrscheinlich fragen sie sich nur, was einer wie ich mit Kain zu schaffen hat. Nichts. Nur Ärger.

„Macht ihr auch mal was Sinnvolles?", frage ich beim Vorübergehen, ernte pikierte Gesichter und verschwinde im gemeinschaftlichen Sanitärbereich.
 

Ohne noch einmal ins Zimmer zurückzugehen, wandere ich zu meiner ersten Vorlesung. Auch Kain besucht sie. Er studiert Biotechnologie und einige unserer Seminare und Vorlesungen überschneiden sich. Nur deswegen kenne ich ihn überhaupt. Im letzten Semester hatten wir einige Projekte zusammen. In zweien waren wir derselben Gruppe zugeteilt, da es der Dozent witzig fand Pärchen weise die Anwesenheitsliste durchzuarbeiten. Kain stand mit seinem Nachnamen ganz oben. Ich, mit meinem ganz unten. Wir sind völlig verschiedene Charaktere und das haben wir auch während der Diskussionen bemerken dürfen. Unruhig tippe ich mit dem Finger auf dem Tisch umher. Ich brauche dringend neue Zigaretten. In meinem Hals beginnt es zu kribbeln. Der Seminarraum füllt sich. Ich leihe mir von einer Kommilitonin einen Stift und Papier als ich plötzlich eine Hand an meiner Schulter spüre. Ich wende mich um und sehe direkt in Kains braune Augen. In seiner Hand hält er einen großen Kaffee. Ich rieche das Aroma gerösteter Bohnen und will ich nur noch mehr eine Zigarette rauchen. Kaffee trinke ich keinen.

„Und hast du schon mit ihm geredet?" Er setzt sich auf den Stuhl neben mich und streckt seine langen Beine aus.

„Du nervst."

„Hast du?"

„Kain, du nervst. Rede du doch mit deinem Mitbewohner, wenn es dir so wichtig ist. Schließlich bringt er andere Männer mit in euer Zimmer ohne dich vorher zu warnen." Meine Stimme ist etwas zu laut, denn einige Kommilitonen sehen zu uns.

"Kein Bedarf- Außerdem lag er heute Morgen noch nackt im Bett, da hatte ich einfach keine Lust, ihn auf Sex anzusprechen, falls du verstehst." Kain schüttelt sich angeekelt. Ich hebe meine Augenbraue.

"Dabei wäre es doch die Gelegenheit gewesen!", kommentiere ich sarkastisch und beginne ausweichend auf meinen Zettel rum zu kritzeln. Kains Blick bohrt sich in meine Seite. Doch dadurch schweifen meine Gedanken nur noch mehr ab. Unbewusst kritzele ich immer weiter. Dass es Worte und sogar Sätze sind, merke ich erst als unsere Professorin den Raum betritt und das Licht angeht. Auf meinem Zettel stehen plötzlich die ausschweifende Beschreibung eines beobachtenden Mannes und nicht wenige von Kains Attributen. Schnell drehe ich das Blatt um und hoffe, das Kain es nicht gelesen hat. Ich spüre seinen Blick und ignoriere ihn. Nach einer Weile richtet er sich auf und verschwindet wieder zu seinen eigentlichen Platz. Unbewusst atme ich aus und merke zum Glück, wie sich mein heftiger Herzschlag beruhigt. Ich verstehe nicht, warum es ihm wichtig ist. Wenn es ihn stört, dass sein Mitbewohner und Jeff miteinander rumvögeln, muss er sich allein darum kümmern. Mir ist es schließlich egal, äfft es Jeff in meinen Kopf nach. Ich seufze. Eine beringte Hand, die in meinem Blickfeld auftaucht, lässt mich aufsehen. Meine Professorin steht vor mir. Sie lächelt.

"Mister Quinn, darf ich sie am Ende des Seminars kurz sprechen?" Meine Antwort ist eine ungelenke Reaktion bestehend aus dämlichen Gesichtsausdruck, nicken und gleichzeitigem Hochzucken meiner Schultern. Sie lächelt einfach weiter und geht mit einem Nicken zurück nach vorn.

Nach der Stunde bittet sie mich darum ein Übungsseminar, ein sogenanntes Tutorium zu unterstützen, welches sie für die Erst- und Zweitsemester betreffender Studiengänge organisiert. Sie ist der Überzeugung, dass die Studenten eher aktiv werden, wenn sie mit anderen Studenten zu tun habe. Ich bezweifele es. Noch dazu verstehe ich nicht, warum sie gerade mich anspricht. Ich nenne ihr prompt drei Kommilitonen, die besser dafür geeignet sind. Sie wiegelt es ab. Ich erkläre ihr mein enges Zeitmanagement. Sie beteuert, dass sie mich nicht damit allein lässt. Ich verweise auf meine fehlenden Kompetenzen in etlichen Bereichen. Sie versichert mir, dass es auch für meine akademischen Fähigkeiten und Möglichkeiten von Vorteil sein wird. Kurz, meine mündliche Note ist mies. Ich will ihr versichern, dass ich der völlig Falsche dafür bin. Sie lächelt. Darauf kann ich ihr nichts mehr erwidern. Reale Dialoge waren noch nie meine Stärke. Vor allem dann nicht, wenn ich doch einen gewissen Grad des Respekts verspüre. Was zu meinem Glück relativ selten zutrifft und ich damit ungeniert unfreundlich sein kann. Immerhin ist mir so viel egal. Ich soll es wenigstens probieren, sagt sie letztendlich und ich sehe ihr nach als sie geht. Was für ein Scheißtag.
 

In der Mensa setzt Kain seine Attacke fort. Plötzlich sitzt er neben mir. Auf seinem Tablett steht ein Teller mit einem riesigen Berg Spaghetti. Mir wird schon beim Hinsehen schlecht.

„Was willst du?", frage ich genervt. Er schweigt und beginnt seine Nudeln zu essen. Dabei sieht er mich immer wieder an und kaut. Ich widerstehe dem Drang einfach aufzustehen und zu gehen. Es fällt mir schwer. Irgendwann schiebe ich nur noch missmutig meine Kartoffeln rum.

„Bist du von dem Bisschen wirklich satt?", fragt er mich, nachdem ich die Kartoffel in acht gleichmäßige Stücke zerteilt habe und sie umfänglich mit der zähen Soße ummantele. Kain lehnt sich zurück und greift nach seinem Schälchen mit Nachtisch. Es ist rote Grütze mit Vanillesoße.

„Nein, aber mir ist der Appetit vergangen", kommentiere ich bissig. Daran ist nicht nur er Schuld, aber das sage ich ihm nicht. Kain sieht mich tatsächlich beleidigt an. Ich verspüre einen Kitzel von Genugtuung, schließlich habe ich wegen ihm die Nacht auf dem Boden geschlafen. Die Tatsache, dass es im Grunde meine eigene Schuld war, verdränge ich gekonnt. Mir fällt auf, dass der Reißverschluss seiner Strickjacke diagonal über seine gesamte Brust verläuft. Interessant.

„Wie haben du und Jeff es überhaupt hingekriegt ein gemeinsames Zimmer zu bekommen?"

„Was?", frage ich aus den Gedanken gerissen.

„Du und Jeff. Ihr kennt euch doch von früher, oder?" Er lehnt sich wieder nach vorn und löffelt den letzten Happen der Grütze aus der Schale.

„Ja, wir sind zusammen zur Schule gegangen." Ich streiche mir die Haare zurück und schiebe den Teller weg.

„Und wie habt ihr das mit dem gemeinsamem Zimmer hinbekommen?" Anscheinend vermutete er ein schwerwiegendes Komplott. Ich sehe meinen Gegenüber zweifelnd an.

„Zufall."

„Kann ich mir nicht vorstellen. Mein bester Freund studiert an der Nachbarhochschule und wir haben sogar darum gebettelt und nix. Jetzt hocke ich bei Abel.", erzählt er mir malerisch. Ich sehe auf. Abel? Für einen Moment glaube ich, mich verhört zu haben.

„Sag das noch mal", bitte ich amüsiert und kann mir ein Giggeln nicht verkneifen.

„Ja, ja. Mach dich nur lustig, aber es ist wirklich so."

„Kain und Abel? So wie im Alten Testament? Da hatte aber einer viel Humor."

„Ja, aber ich hüte keine Schafe und bin mir sicher, dass die Typen von der Wohnheimvermittlung eigentlich aus einem Zirkus sind und sie spielen die Clowns."

„Bauer...", kommentiere ich und stochere doch noch mal in meinem Essen rum.

„Was?"

„Kain war der Bauer. Abel der Hirte. Deswegen erschlug er ihn", stelle ich richtig.

„Ich erschlag gleich dich", bellt Kain mit genervtem Gesichtsausdruck. Dann kramt er in seiner Jackentasche nach einem Ingwerbonbon. Das erste Mal fiel mir seine Vorliebe während einer dieser Projektarbeit im letzten Semester auf. Fast im Viertelstundentakt hat er sich die Bonbons hinter geschoben, die andere nicht einmal bei extremer Erkältung aushielten. Scharfe Zitrone in Kombination mit Kaffee. Das muss Kains Geschmack sein. Ich habe noch nie einen gegessen, aber so stelle ich es mir bei ihm vor. Hinter Kain taucht eine junge Frau auf. Schmale Hände mit langen manikürten Fingernägeln legen sich auf seine Schulter und er reagiert sofort. Kain blickt auf und eine dunkelrote Locke trifft seine Wange. Er pustet sie weg, weil sie seine Haut kitzelt. Ein einzelnes Haar verfängt sich in seiner Augenbraue, streift seine Wimpern und er blinzelt. Mein Blick haftet sich an diese Stelle ihrer Berührung. Erst Kains ruckartige Bewegung, in der er sich gänzlich zu ihr dreht, holt mich zurück.
 

„Merena! Ich dachte dein Seminar geht länger?" Sie haucht ihm einen winzigen Kuss auf die Wange und blickt dabei zu mir. Auch ihr bin ich schon während eines der Projekte begegnet. Ich glaube, sie ist Kains Freundin.

„Sollte es auch, aber dann haben wir angefangen zu betteln, weil wir alle Hunger hatten.", antwortet sie. Ein Lächeln blitzt über ihr ovales Gesicht. Dabei werden ihre roten Lippen schmal. Das Lächeln wirkt so falsch, wie ihre Fingernägel. Sie ist eines dieser Püppchen. Ihre langen Finger bewegen sich über seine Schultern, streichen zum Teil über seinen Nacken und zu seiner Brust. Meine Fingerkuppen beginnen zu kitzeln als ich mir vorstelle, wie sich die Reibung anfühlt.

„Dann hol dir auch was. Ich warte auf dich", sagt Kain und blickt zu ihr hoch. Ich lege geräuschlos mein Besteck auf den Teller und stehe auf als sie seinen Vorschlag enthusiastisch bejaht. Beide schauen mich an, doch ich greife nur nach meinen Tablett und gehe. Ich höre, wie Kain meinen Namen ruft. Ich reagiere nicht, denn ich habe keine Lust ihrer Zweisamkeit beizuwohnen.
 

Als ich ins Wohnheimzimmer zurückkommen, liegt Jeff auf seinem Bett und blättert in einer Zeitschrift, während neben ihm ein paar Fachbücher liegen. Er richtet sich sofort auf als er die Tür hört.

„Hey, können wir noch einmal reden. Bitte, Robin." Der Klang seiner Stimme ist seltsam. Irritiert, statt entschuldigend. Er hat wirklich nicht geglaubt, dass es mich stört, wenn er es mir nicht sagt.

„Wozu?" Meine Stimme hingegen ist eisig. Jeff seufzt. Ich setze mich an den Schreibtisch und schiebe mir die Kopfhörer auf. Mein Player läuft noch nicht und ich schalte ihn auch nicht an. Jeff zieht sie mir wieder runter und neigt mich samt Stuhllehne zurück. Ich blicke hoch und direkt in sein vertrautes Gesicht. Er beugt sich auf die Lehne und hält mich so zurück geneigt, dass ich kaum eine Wahl habe als ihn anzusehen. Ich verschränke die Arme vor der Brust, um ihm zu verdeutlichen, dass mir das nicht gefällt.

„Seit wann bist du so zickig?", fragt er mich und ich hebe eine Augenbraue.

„Wer bitte ist hier zickig?", gebe ich empört von mir und klinge zickig.

„Okay, nennen wir es eben pissig.", revidiert er lächelnd. Ich schweige ihn an. Ich bin nicht pissig und schon gar nicht zickig. Zickig sind Mädchen. Ich bin höchstens verstimmt. Nein, halt, es ist mir egal. Der Sarkasmus in meinem Kopf trägt neue Blüten. Jeff lächelt weiter.

„Ich musste es von Kain erfahren!", entflieht mir mosernd und ich blicke in die blauen Augen meines langjährigen Freundes. Jeff seufzt. Laut. Energisch. Für meinen Geschmack seufzt er heute zu viel. Sein warmer Atem streift meine Wange und er macht keine Anstalten sich zu entfernen.

„Ich konnte doch nicht ahnen, dass er gleich hierher reitet. Ich dachte, er verkriecht sich bei seiner Alten.", rechtfertigt er sich. Ich sehe ihn ungerührt an. „Es tut mir Leid, dass ich dir nichts gesagt habe, aber ich bin mir auch noch gar nicht lange darüber im Klaren." Sein Gesicht ist mir so vertraut und doch habe ich einen Moment lang das Gefühl in ein fremdes zusehen. Sowas merkt man nicht von heute auf morgen. Er muss darüber nachgedacht haben. Wieder und wieder. Doch er hat seine Gedanken niemals mit mir geteilt. Nichts, aber auch wirklich gar nichts habe ich mitbekommen.

„Stört es dich denn?", flüstert er mir entgegen, nachdem er mein Gesicht eine Weile ausgiebig musterte. Ob es mich stört? Ich weiß es nicht. Vielleicht schon. Nein, eigentlich nicht. Nein, es stört mich nicht. Nur, dass er mir vorher nichts anvertraut hat.

„Nein."

„Gut. Das finde ich sehr beruhigend und es ist mir sehr wichtig." Für einen kurzen Moment spüre ich seine Fingerkuppen, die sich leicht in meine Schulter drücken. Er lässt meinen Stuhl und meine Schulter los und fällt zurück auf sein Bett. Damit ist die Sache scheinbar für ihn erledigt. Diese Reaktion ärgert mich wieder. Ich setze mir die Kopfhörer auf und sehe noch einen Moment auf den ruhenden Körper des anderen Mannes. Unwillkürlich frage ich mich, was ich noch alles nicht weiß? Und dieser Gedanke lässt mir keine Ruhe. Zwölf Jahre lang habe ich nicht mit bekommen, dass der Mensch, den ich am ehesten als Freund bezeichne, schwul ist. Nun stehe ich vor vollendeten Tatsachen und obwohl ich es nicht will, sehe ich Jeff mit anderen Augen. Keineswegs im ablehnenden Sinn, sondern eher im Zusammenhang mit der Intensität unserer langjährigen Bekanntschaft. Jeff verhält sich mir gegenüber nicht anders, sondern wie sonst auch. Als hätte sich nichts geändert. Doch das hat es. Irgendwie. Noch weiß ich nicht genau, was es ist. An diesem Abend bringe ich kein Wort aufs Papier.
 

Nach drei Tagen beendet Kain seine nervenden Aufforderungsversuche. Ich sehe ihn nur kurz in den gemeinsamen Vorlesungen und in der Mensa. Doch ich spüre seinen Blick auf mir, wenn er glaubt, dass ich nicht hinsehe. Ich werde aus ihm nicht schlau.

Im Grunde habe ich meine Ruhe wieder, aber dennoch gerate ich jedes Mal, wenn Jeff über Nacht nicht im Zimmer ist innerlich in Aufregung. Ich ertappe mich dabei, wie ich ihn ansehe, seine Bewegungen studiere und wie meine Gedanken immer wieder in eine ganze bestimmte Richtung gehen. Jeffs Körper dicht an den Körper eines anderen Mannes gepresst. Feuchte Haut, die übereinander gleitet und erregende Reibung erzeugt. Meine Gedanken wandern unbewusst immer wieder zu der Vorstellung zurück einen männlichen Körper unter meinen Fingern zu spüren.

Ich weiß weder, wo es herkommt, noch weiß ich, wo ich mit diesen Gedanken hin soll. Es fühlt sich an, wie ein Kitzeln, welches sich tief unter meiner Haut befindet. Ich kann es allein nicht stillen und es ist stets präsent. Ich will meine Blase der Ruhe zurück.

Als ich von meinem Stuhl aufstehe und die Mensa verlasse, dringt 'It's My Life' von Bon Jovi aus meinen Kopfhörern.

Das Für und Wider von Geselligkeit

Kapitel 2 Das Für und Wider von Geselligkeit
 

Ein Woche vergeht ohne neue, gravierende Enthüllungen. Meinen auf Abwegen geratenen Gedanken hilft das nicht weiter. Ich habe das Gefühl mein Gehirn läuft phasenweise aus dem Ruder und ich werde diese seltsamen Empfindungen und Fantasien einfach nicht mehr los. Sie setzen unvermittelt ein. Zu wahllosen Tages- und Nachtzeiten. Ich beobachte Jeff auffällig oft, aber nicht nur ihn, sondern mittlerweile auch andere männliche Exemplare. Wie viele andere auch bin ich ein Ästhet. Schöne Körper sind etwas Herrliches und ich beginne Körper miteinander zu vergleichen. Jeffs schlanker, aber großer Körper. Definitiv männlich. Kains muskulöser, definierter. Absolut männlich. Kaworus zierlicher, fast femininer Körperbau. Er ist ein Kommilitone meines eigenen Studiengangs und Japaner. Ich fange an sie ausführlich zu beschreiben, winzige Details zu entdecken. Bei Jeff irritiert es mich bisher am meisten. Er steht in der letzten Zeit auch ständig halbnackt vor mir. Kurioserweise ich bin mir nicht sicher, ob das schon immer so war oder ob es mir nur mehr auffällt.
 

Wenn ich Jeff zusammen mit Abel sehe, passiert das Gleiche und geht noch eine Stufe weiter. Sofort stelle ich mir vor, wie sie es miteinander treiben. Sowas sollte man sich bei einem Freund nicht vorstellen. Es irritiert mich zusehends. Zumal ich dieses Verlangen noch nie bei heterosexuellen Pärchen hatte. Jeffs Verhalten mir gegenüber hat sich nicht geändert und dennoch komme ich über eine Sache nicht hinweg. Erst habe ich es mir nicht wirklich eingestehen wollen, doch es hat mich tatsächlich enttäuscht, dass Jeff anscheinend nicht das Vertrauen in mich hat etwas Derartiges zu erwähnen. Seine Versuche um tiefere Gespräche blocke ich ab und versichere ihm einzig und allein, dass ich keinerlei Probleme mit seiner Homosexualität per se habe. Und so ist es auch. Unbewusst bestätige ich damit leider auch seine vorige Aussage, dass es mir egal sei. Mir ist nicht klar, warum ich es mache. Schließlich würde ich durch ein wenig Aufmerksamkeit zeigen können, dass er falsch liegt mit seiner grandiosen Einschätzung über mich. Auf jeden Fall bekomme ich den Mund nicht auf, so ist es fast immer, egal, wie sehr mich etwas stört. Bin ich vielleicht wirklich zickig? Nein, pissig. Was auch immer. Ich bin definitiv nur verärgert darüber, dass ich es von Kain erfahren musste.

Kain. Der schwarzhaarige, gutaussehende Nervtöter. Er scheint seither auch überall zu sein. Jedenfalls fällt er mir unentwegt auf. Im Hörsaal. Im Flur. Auf dem Weg zum Hauptgebäude. In der Mensa. Nicht zuletzt weil er der Mitbewohner von Jeffs Gespielen ist. Mittlerweile habe ich Abel kennengelernt. Durch und durch Durchschnitt. Anders lässt es sich nicht sagen. Er muss gut im Bett sein, denn ansonsten kann ich mir nicht erklären, was Jeff an ihm findet. Abels mattblaue Augen sind der Inbegriff der Belanglosigkeit, aber am Schlimmsten ist seine ruhige, monotone Stimme, wenn er etwas erzählt. Einschläfernd und desinteressiert. Nun verstehe ich auch, warum Kain ihn sein Übel nennt. Zudem hat Abel eine Vorliebe für schlechte Witze und dumme Sprüche und obwohl wirklich niemand lacht, lässt er ständig welche von der Stange. Krusty der Clown trifft auf Paris Hilton. Er nervt und garantiert nicht nur mich. Noch bemüht sich Jeff um ein aufmunterndes Quieken. Kichert, wenn es kein andere macht. Aber lacht nur selten. Es sind mehr oder weniger Laute des Fremdschämens. Abel muss wirklich verdammt gut im Bett sein. Ich schüttle den Gedanken von mir.
 

Ich speichere mein abgeschlossenes Skript und kopiere die Datei auf einen USB-Stick. Gekonnt ignoriere ich das blinkende Fenster meines Emailprogramms, welches mir erklärt, dass ich schon vor zwei Tagen hatte fertig sein sollen. Ich habe nur noch heute für die notwendigen Korrekturen gebraucht. Bereits jetzt spüre ich den mahnenden Schatten meiner Lektorin. Ein leichtes Zittern durchfährt mich und die feinen Härchen in meinem Nacken richten sich auf als ich daran, denke, dass sie sich jeden Moment melden könnte. Das unangenehme Schaudern wird noch verstärkt als mir einfällt, dass heute das Tutorium startet, für welches ich gezwungen werde. Bei dem Gedanken daran wird mir ganz mulmig. Der Stick gleitet in meiner Hosentasche und ich schalte den Rechner aus. Ein Blick auf die Uhr zeigt mir, dass die Vorlesung in ein paar Minuten losgeht. Der Minutenzeiger verschwindet hinter einem dicken Kratzer im Glas und das schwarze Lederband offenbart an bereits vielen Stellen sein naturfarbenes Inneres. Ich raffe alles zusammen und ignoriere Jeffs Frage nach meiner Abendplanung. Er schlägt gerade seine Decke auf und hat tatsächlich sein Bett gemacht. Eine Seltenheit.

„Ich bin heute Abend mit Abel verabredet, aber ich denke nicht, dass du dir um Kain Sorgen machen brauchst. Der ist zurzeit mit einem Projekt beschäftigt und bis spät in die Nacht am Arbeiten." Ich verziehe meinen Mund zu einem irren Grinsen, ohne das Jeff es bemerkt. "Aber für alle Fälle hab ich ihm das Bett neu bezogen und du lässt ihn rein, ja?... Robin, hast du gehört?", fragt Jeff nach, während ich akribisch meine Bücher im Rucksack verstaue.

„Ja, ja." Im Grunde habe ich es nichts mitbekommen, denn ich bin mit meinen Gedanken vollkommen woanders. Mein Handy vibriert und es ist, wie erwartet eine Nachricht meiner Lektorin. Sie bleibt ungeöffnet, denn ich weiß, was drin steht. Sie nervt mich schon jetzt. Herrlich. Das kann nur ein schlechter Tag werden.

„Robin?", hakt Jeff noch einmal nach und bleibt in der Tür stehen.

„Was denn?", entflieht mir genervt. Jeff zieht abwehrend die Schultern nach oben zieht und verschwindet. Mein Handy ertönt erneut. Diesmal ist es ein Anruf.

„Quinn?", melde ich mich mit meinem Nachnamen, weil ich die Nummer nicht erkenne. Einen Moment nicht nachgedacht und das Rangehen entpuppt sich als grandioser Fehler.

„Robin, mein Zuckerkringel, du lebst! Wie erfreulich. Du bist zwei Tage im Verzug." Die hohe Stimme am anderen Ende des Telefons gehört zu meiner Lektorin Brigitta. Ich verdrehe automatisch die Augen und widerstehe dem Drang sofort wieder aufzulegen. Sie ist ein ziemlicher Fuchs und Kariesverursacher zugleich. Ich wäre nie ran gegangen, wenn ich ihre Nummer gesehen hätte.

„Ich habe jetzt keine Zeit für dich."

„Ich kriege nicht mal eine Begrüßung? Schäm dich! Zwei Tage, Robin!!!!" Eindringlich.

„Du bist Schlimmeres gewöhnt, also beruhige dich.", beschwichtige ich, greife nach meinem Rucksack und verlasse das Wohnheimzimmer. Prompt stoße ich fast mit jemanden zusammen. Es ist die Blondine, die auch letztens die Diskussion mit Kain miterlebt hat. Sie sieht mich erschrocken an. Ich reiche ihr die runtergerutschte Tasche, entschuldige mich nicht und laufe nach einem kurzen Blick weiter.

„Ich beruhige mich erst, wenn du mir sagst, dass du das Skript fertig hast. Ansonsten. Zwei Tage. Zwei Tage....", wiederholt Brigitta unnachgiebig und ich halte mir genervt den Hörer vom Ohr weg. Ich sollte eine Schmerzenszulage verlangen.

„Ich lege jetzt auf. Ich hab gleich Vorlesungen."

„Robin, wehe, wenn du..." Den Rest ihres energisch gebrüllten Satzes bekomme ich nicht mehr mit. Im Laufen schalte ich mein Handy aus, um weiteren, störenden Anrufen auszuweichen und schüttele den Kopf. Brigitta entspricht dem klischeehaften Stereotyp einer Lektorin. Nervig und penetrant. Sie wird bissig, sobald ich nicht rechtzeitig abliefere oder erzwingt Themen, die ich zu gern umschiffe. Ohne sie würde es nicht funktionieren, das weiß ich mittlerweile. Und im Grunde weiß ich ihre Arbeit auch sehr zu schätzen.
 

Die Vorlesung verbringe ich notgedrungen damit das Skript zu korrigieren und Änderungen vorzunehmen. Meine Leser mögen Happy-Ends und dank Brigitta bekommen sie sie auch. Laut einer eingehenden Analyse des Verlages liegen die Beliebtheit meiner Romane und damit meine Zielgruppe bei den 11- bis 17-jährigen Mädchen mit am Höchsten. Jippie, schallt es sarkastisch in meinem Kopf, während ich meiner Protagonistin ein tränenersticktes und heilfrohes Finale spendiere. Tief versunken in den Armen ihres Liebsten, um den sie in sage und schreibe 250 Seiten wie verrückt kämpfen musste. Gegen intrigante Mitschülerinnen, Eltern und verräterischen Freunden. So wollen es meine Leser und was soll ich sagen, sie sichern mir mein Einkommen. Meine Bücher finanzieren einen Großteil meines Studiums und in meiner feinen, kleinen Zielgruppe bin ich ein unbekannter Star, denn ich veröffentliche unter einem Pseudonym. Einem Weiblichen. Quincey Bird. Die Idee meiner Lektorin. Sie war der Überzeugung, dass sich Liebesgeschichten besser als Frau verkaufen ließen. Wahrscheinlich hat sie Recht. So wie immer. Mir ist es egal. Ich würde die Romane auch anonym veröffentlichen, aber das funktioniert leider nicht. Marketing und Wiedererkennungswert. Ich spule noch ein paar mehr dieser Fachbegriffe ab, die mir Brigitta regelmäßig an den Kopf wirft. Ich setze den letzten Punkt im Manuskript und schicke ich es ab. Nun wird mich Brigitta hoffentlich erstmal in Ruhe lassen. Mein Handy lasse ich vorsorglich aus.
 

Von der Vorlesung bekomme ich nur noch wenig mit. Meine Augen wandern über die gutbesetzten Reihen und bleiben an einem roten Haarschopf hängen. Als sie ihren Kopf zur Seite neigt und mit ihrer Nachbarin quatscht, erkenne ich sie als Kains Freundin. Meines Wissens nach studiert sie Biologie. Auch im vierten Semester, so wie ich. Biologie. Ein Mädchenstudiengang. Im ersten Semester bin ich einmal mit ihr aneinander geraten und beiden Projekten im letzten Semester waren wir uns auch nicht unbedingt grün. Ich kann sie nicht leiden.

Der Dozent beendet die Vorlesung und ich packe meinen Kram zusammen. Als ich aufsehe, blickt sie mich an. Ihre blauen Augen mustern mich. Sie hat für mich nichts Attraktives und wenn Kain auf so was steht, spricht das nicht für ihn. Ich erwidere ihren seltsamen Blick bis sie sich abwendet und mit ihrer Nachbarin den Hörsaal verlässt.

Die restlichen Seminare meines Tages verlaufen erstaunlich ruhig und ereignislos. Kein Kain. Kein Jeff und keine schlechten Witze in Form von Abel. Nicht einmal beim Mittagessen. Ich verlasse das letzte Seminar ein paar Minuten früher, weil ich noch bei meiner Professorin vorbeischauen muss um mir einige Instruktionen wegen des Tutoriums abzuholen. Ich versuche ein letztes Mal es ihr auszureden. Keine Chance. Wenige Minuten später stehe ich vor dem notierten Seminarraum und seufze so schwermütig, dass ich man meinen könnte ich müsste aufs Schafott.

Reden ist nicht meine Stärke und erklären schon gar nicht. Außerdem vertrete ich die Ansicht, dass sich jeder selbst der Nächste ist, also wer es nicht schnallt, hat Pech. Ganz einfach. Nur im Moment nicht hilfreich. Noch immer stehe ich vor der Tür und werde langsam unruhiger. Ich will eine Zigarette zu rauchen. Meine Fingerspitzen kribbeln bereits. Wenn ich Glück habe, wird das Tutorium niemand wahrnehmen und ich kann in Ruhe meinen Laptop anmachen. Ich habe extra keine Werbung gemacht, so wie es die Professorin von mir verlangte. Werbung! Sehe ich aus, wie ein Marktschreier? Werbung machen, absurd. Entweder die Studenten nutzen ihre Möglichkeiten oder sie lassen es sein. Noch immer starre ich auf die Tür als könnte ich damit sicherstellen, dass sie geschlossen bleibt. Durch die milchige Scheibe dringt ein wenig Licht, doch ich kann nicht ausmachen, ob sich im Raum jemand befindet. Ich kann das nicht. Frustriert lasse ich meinen Kopf gegen die Scheibe fallen und seufze.

Unvermittelt geht die Tür auf und ich schrecke zurück. Ich verziehe keine Miene als eine Studentin vor mir auftaucht. Sie lächelt. Ihre Haut hat den feinen, fast schmelzenden Ton von Karamell. Ich glaube, sie ist Inderin. Sie lächelt immer noch, als ob sie nicht ahnte, dass vor ihr ein Verrückter steht.

„Oh, entschuldige, bitte. Ich habe ein Geräusch gehört und wollte sehen, ob sich vielleicht jemand nicht reintraut." Wie Recht sie damit hat. Sie tritt zur Seite und ich linse in den sonst leeren Raum.

„Bist du allein?", frage ich trotzdem vorsichtig und muss mich erst einmal räuspern. Mein Hals ist trocken.

„Ja, bisher schon." Sie folgt mir in den Raum hinein und setzt sich zurück an einen der vorderen Tische. Ein paar Bücher liegen bereit. Einige erkenne ich. Grundlektüre der Biologie und der Biochemie. Sie gehört zu der fleißigen Sorte. Vorbildlich. Ihre dunklen Augen ruhen auf mir, während ich sinnfrei im Raum stehen bleibe und nicht weiß, wie ich fortfahren soll.

„Setz dich doch. Ich bin übrigens Shari." Sie deutet aus Höflichkeit nicht direkt neben sich, aber in ihre Nähe. Ein paar Strähnen ihres langen, schwarzen Haares umstreicheln ihre Schultern, genauso wie es die roten Locken von Kains Freundin getan haben. Doch bei Shari scheinen sie wie Seide über ihren Körper zu fließen. Beeindruckend. Schön. Nach weiterem, kurzem Zögern stelle ich meinen Rucksack neben ihr auf dem Tisch ab und ziehe mir einen Stuhl heran. Ich platziere mich vor ihr, aber ihr nicht direkt gegenüber. Sie sieht mir dabei zu. Für einen Moment verwundert, dann verstehend. Ihr Lächeln wird weicher.

„Robin", sage ich letztendlich, nicke und hoffe ein letztes Mal, dass es nicht mehr Leute werden.

„Hi. Schön dich kennenzulernen. Dich darf ich also mit meinen Fragen drangsalieren?"

„Sieht so aus.", kommentiere ich trocken und versuche diese Worte nicht allzu furchtvoll klingen zu lassen. Sharis Lächeln wird breiter, während ich mir wünsche energischer gegenüber Lehrpersonal Nein sagen zu können. Augen zu und durch, hallt es in meinem Kopf und ich bin mir bereits jetzt sicher, dass ich meiner Professorin am Montag erklären werde, dass der Versuch gescheitert ist. Ich bitte Shari, mir das letztes Thema herauszusuchen, welches sie in der Vorlesung behandelt habe und atme unbemerkt durch als die schöne Inderin beginnt das Buch zu durchblättern. Sie deutet mit einem schlanken Finger auf den Absatz mit Oxidations- und Reduktionsfermenten. Aminosäuren. Ich nicke und beginne in meinem Kopf zu kramen. Als dabei nicht viel rauskommt, ziehe ich mir das Buch heran und lasse meine Augen über die schwarzen Lettern wandern. Es hilft. Ich frage sie nach etwaigen Problemen und Shari holt sofort ihre Notizen hervor. Während sie ein paar Fragen zusammenstellt, schweifen meine Gedanken wieder ab.

„Prinzessin", murmele ich leise vor mich hin, während ich geistesabwesend in das Buch schaue und versuche zu sinnieren, was es mit der nächsten Passage auf sich hat ohne sie wirklich zu lesen. Es sind ein paar komplizierte Formeln und Gleichungen dabei. Für mich ergibt es alles einen Sinn, aber wie erkläre ich es ihr?

„Was?" Shari sieht mich verwundert an. Erst jetzt wird mir klar, dass ich es laut gesagt habe. Für einen Moment presse ich meine Lippen zusammen.

„Dein Name. Er bedeutet Prinzessin, oder?" Sie sieht mich mit ihren großen braunen Bambiaugen erstaunt an. Danach folgt ein feines Lachen, welches von ihren Lippen perlt, wie süßer Honig.

„Ja, woher weißt du das? Das ist ja tiefstes Hindi."

„Irgendwo in einem Wörterbuch gelesen, wahrscheinlich." Ich zucke mit den Schultern. Gelogen. Eine meiner Kitschromanfiguren trägt genau diesen Namen. Sie ist eine zickige Kuh, die sich klischeehaft mit der Zeit in den Klassennerd verknallt. Ja, so was wollen die jungen Mädchen heute lesen. Ein Zeichen für die umfangreichen Wege der wahren Liebe, zitiert nach Brigitta. Ich bin der Überzeugung, dass diese Mädchen nur lesen wollen, wie das schüchterne Pardon an den heißesten Typen der Klasse kommt. Wahre Liebe im Zeichen der Unwahrscheinlichkeit, zitiert nach mir.

„In einem Hindi-Wörterbuch? Du hast ja seltsame Lesegewohnheit." Shari stützt ihren Kopf auf ihrer Hand ab.

„Beurteile niemand nach der Wahl seiner Lektüre." Ich deute auf das Exemplar von J.K. Rowlings Harry Potter und der Gefangene von Askaban in ihrer Tasche. Sie lächelt mir entgegen und ich kann nicht verhindern, dass auch meine Mundwinkel etwas nach oben zucken. Sie hat etwas Einnehmendes. In einer leichten Bewegung wirft sie ein paar der schwarzen Haarsträhnen über ihre Schulter zurück, doch sie gleiten gleich wieder nach vorn. Als würden sie, wie Schmetterlinge über ihre Haut streichen, sanft küssend und liebkosend. Sie entspricht sogar nicht dem Abbild meiner Romanfigur und das macht es so viel besser.

„Eine verlorene Wette. Ich schlage mich gut und man sagte mir, dass sie mit jedem Band erträglicher werden", kommentiert sie meinen Hinweis ohne offensichtliche Gefühlsregung. Ich zucke absichtlich nur mit den Schultern, um ihr nicht zu verraten, dass ich sie selbst gelesen habe. Sie scheint mich zu durchschauen. Ihr Blick ist wissend und ich lenke ihre Aufmerksamkeit wieder auf die angesprochene Passage im Lehrbuch zurück, in dem ich auf eine der komplizierten Formel deute.
 

Nach einer Stunde sehe ich dabei zu, wie sie sich zurücklehnt und seufzend an die Decke sieht. Sie fährt sich durch die dunklen Haare. Aus ihrer momentanen Erscheinung spricht die pure Verzweiflung.

„Ich verstehe es nicht", sagt sie ehrlich und ich komme nicht umher schief zu lächeln.

„Wärst du eine Blondine, würde ich jetzt was Blödes sagen.", gebe ich vom Stapel. Shari schlägt mir empört gegen den Oberarm.

„Reiß dich zusammen, ich kenne dich noch zu wenig um Gnade walten zu lassen", kontert die schöne Inderin. Ihre Reaktion ist angenehm. Kein zickiges Wundern. Kein schmollendes Schniefen. Sie versteht den Scherz. Mein Magen beginnt zu knurren. Ich lege beruhigend die Hand auf meinen flachen Bauch und spüre, wie er das Geräusch wiederholt.

"Genau das macht mein Kopf auch gerade."

"Damit würde ich aber mal zum Arzt gehen!", kommentiere ich und merke, wie sie mir ihre beschriebenen Blätter gegen den Kopf haut. Ja, ich mag sie. Ich blicke noch einmal auf das Buch, lese die ersten Passagen und gebe es auf. Ich bekomme es nicht besser erklärt. Meine Lehrerqualitäten sind eindeutig zu wenig ausgeprägt. Schon in der Schule habe ich es gehasst Vorträge halten zu müssen. Meine mündlichen Noten und auch die Mitarbeitsnoten hatten Kellerniveau. Ich verstehe mich auf das textliche Formulieren und das wird letztendlich auch das gewesen sein, was meine Professorin dazu verleitet hat, mich um diese Stunden zu bitten. Meine Texte sind gut, aber verbal fabriziere ich nur Müll. Ich werfe einen Blick auf die Uhr. Wir sind schon eine gute Stunde dabei und ich finde, dass das reicht.

„Okay, ich mache dir einen Vorschlag. Ich schreibe dir zu nächsten Woche das Wichtigste dazu auf. Vielleicht hilft das."

„Ja, gern, wenn es dir keine Umstände macht." Wieder dieses bezaubernde Lächeln. Ich schüttele den Kopf. Umstände sind es wirklich keine. Ich schreibe sowieso. „Heißt das, du erwägst tatsächlich, dich nächste Woche wieder mit mir hinzusetzen? Und vielleicht auch mit ein paar Leuten mehr?" Erst ihre Worte machen mir deutlich, dass ich genau das, damit impliziert habe. Mir wird mulmig. Ich will eine Zigarette. Ganz schnell und Pudding.

„Oh, ich habe dich jetzt verunsichert?", fragt sie weiter und wundert sich über mein Schweigen.

„Ähm,...nein natürlich nicht. Aber du erwägst es tatsächlich dich noch mal hierher zu bemühen, obwohl ich dir nicht helfen konnte?" Ich packe demonstrativ meine Zettelwirtschaft zusammen.

"Na, na. Du unterschätzt dich. Du hast mir geholfen." Ich grinse schief als Reaktion.

"Wann habt ihr euren BC-Kurs?", frage ich sie, ohne weiter auf ihre vorige Aussage einzugehen.

„Was?"

„Euer Kurs für Biochemie."

„Oh, Mittwoch." Ich nicke es ab und packe meine Sache in den Rucksack zurück. Ich reiße den Teil eines Blattes ab und schreibe Shari meine Handynummer auf.

„Schreib mir Mittwochabend oder Donnerstag die Themen, dann werde ich was zusammenfassen und bringe es dir später mit." Sie nimmt mir den Zettel aus der Hand und nickt. Ich greife meine Tasche und verschwinde zur Tür. Ihre Stimme hält mich zurück.

„Robin? Danke!" Ich blicke kurz zu ihr und nicke.
 

In der Mensa besorge ich mir eine Kleinigkeit zu Essen und beruhige damit das nervende Grummeln meines Magens. Ein Mozzarella-Tomaten-Sandwich mit Pesto. Lecker. Den Pudding hat meine fehlende Muße mich hinzusetzen verhindert.

Ich nehme einen Biss von meinem belegten Brötchen und sehe Abel und Jeff im Flur auf mich zu kommen. Die beiden blonden Männer wirken auffällig vertraut miteinander. Sie lachen. Abels Hand streicht über Jeffs Arm. Es ist nur eine winzige Berührung, doch irgendwie scheint sie bedeutend. Jeff lächelt als er mich sieht. Ich lecke mir einen Rest Pesto von den Lippen. Das Aroma von Basilikum kitzelt meine Geschmacksknospen. Feine Süße belebt meine Zunge. Abels Blick ruht auf mir, während sie die Distanz überwinden. Er mustert mich eindringlich. Irgendwie ist er mir nicht ganz geheuer.

"Hey", grüße ich die beiden, sehe dabei zu, wie Abel seinen Arm um Jeff legt und wie ihn Jeff neckisch wieder wegschiebt.

"Und bist du wieder besser drauf?", fragt mich Jeff und ich ziehe verwundert meine Augenbraue nach oben.

"Ich bin gute Laune in Reinform", kommentiere ich, erlaube mir den Blitz eines Lächelns und verfalle zurück ins mein stoisches Allwettergesicht.

"Ja, wie ein Clown aufm Friedhof", sagt Abel, kichert und schaut verblüfft auf sein Handy, weil es klingelt. Ich schicke ein stilles Danke gen Himmel und erspare mir damit die freundschaftliche Scheinreaktion. Meine heiteren Mundzuckungen sind dank Shari heute sowieso schon aufgebraucht. Abel wendet sich zum Telefonieren von uns ab. Ich beiße erneut von meinem Sandwich ab, schmecke Tomate und die harzige Note von Pinienkernen. Es ist fantastisch.

"Wir wollen heute Abend in ein Improvisationskabarett. Du kannst mitkommen, wenn du willst?" Kabarett? Improvisation? Kabarett? Niemals. Jeff lehnt sich zu mir an die Wand. Tomatensaft läuft über meine Finger. Ich lecke ihn ab, bevor ich meinem Mitbewohner antworte. Die Säure lässt meine Muskeln arbeiten und es bildet sich eine angenehme Gänsehaut auf meinem Hals, die sich über meinen Oberkörper arbeitet.

"Kannst du dich noch daran erinnern, dass ich der Einzige war, der in der Schule nie bei den Theateraufführungen war?", frage ich, während ich verhindere, dass mir Saft auf das T-Shirt tropft. Meine Zunge gleitet über die Fingerbeere meines Zeigefingers und danach über zwei weitere. Jeff sieht mir dabei zu.

"Ja."

"Dann verstehe ich die Frage nicht", erwidere ich und beiße ein weiteres Mal demonstrativ von meinem Essen ab.

"Ach komm schon. Es wird witzig. Außerdem schadet es dir nicht auch mal raus zukommen. Du mottest mir noch ein." Jeff entfernt mir imaginäre Spinnweben vom Kopf und streicht mir etwas von der grünen Paste von der Wange. Ich sehe zum telefonierenden Abel. Er gestikuliert wild. Das Gespräch scheint nicht sehr positiv zu sein. Ich unterdrücke das Bedürfnis hämisch zu lachen. Ich will nicht mit Jeff und dem Kerl, mit dem er ins Bett geht, irgendwohin gehen. Dann werde ich meine seltsamen Fantasien ja nie wieder los.

"Nein." Ich wische mir mit dem Ärmel noch einmal selbst über den Mund, schiebe mir den letzten Happen zwischen die Lippen und zerknülle das Papier. Erneut schmiere ich mir irgendwas Feuchtes in die Hände, doch es ist mir egal. Vorbildlich, weil ich hinter irgendeiner Ecke Micha vermute, bringe ich das Verpackungspapier zum Mülleimer. Wer das als Lerneffekt bezeichnet, irrt. Reine Ablenkung und Verzögerungstaktik in der Hoffnung, dass Jeff nach meiner Rückkehr nicht weiter nervt.

"Warum nicht?", fragt Jeff, als ich wieder zurückkomme. Ein Fehlschlag. Mein Mitbewohner ist unerbittlich. Erneut sehe ich zu Abel und wenig später zu ihm.

"Laienhaftes Schauspiel ist nicht mein Ding und das fünfte Rad am Wagen sein auch nicht." Unbewusst taste ich meinen Körper nach einer Zigarette ab. Nichts. Jeff beobachtet meine Bewegungen und verzieht das Gesicht.

"Dabei kannst du das so gut", kommentiert er sarkastisch. Ich werfe ihm einen vernichtenden Blick zu und seufze schwer, als mir bewusst wird, dass ich keine Zigarette finden werde.

„Ach komm, wir sind eine kleine Gruppe und hör verdammt noch mal auf damit! Deine Mama killt mich." Mit seiner letzten Aussage meint er meine Raucherei. Ich lasse meine Hände sinken.

"Oh ja, ein garantiert schmerzhafter Tod. Und nein!" Mit meiner Mutter ist bei einigen Sachen nicht zu spaßen. Die Geschichte mit meinem Zigarettenkonsum zählt dazu. Sie erwischte mich und Jeff ganz klischeehaft im Alter von 14 Jahren im Schuppen. Ihr Gebrüll hatte mich das Trommelfell gekostet und Jeff durfte einen Monat lang unser Haus nicht betreten. Ich konnte mich dafür Wochen lang mit der Ausrede herauswinden, dass ich einfach nicht gehört habe, wenn jemand rief. Ich war praktisch auf einem Ohr taub. Auch Jeff scheint an diese Geschichte zu denken, denn es bildet sich ein feines, belustigtes Lächeln auf seinen Lippen. Es war kurios.

"Ach komm, sei kein Frosch!" Lächelnd hängt sich mein Kindheitsfreund an meine Schultern. Seine warme Wange bettet sich an meine. Damals in unserer Heimat und zu unserer Schulzeit hat er das öfter getan.

Der dezente Geruch, der mir durch seine Nähe entgegen weht, ist irgendeines seiner etlichen Parfüms. Dieses hat einen Hauch von Moschus. Sein Körper lehnt dicht an meinem und die Stelle unserer Berührung wird immer wärmer. Ich lege meine Hand gegen seinen Arm und klopfe leicht dagegen. Abel kommt wieder auf uns zu. Er wirkt nicht gerade amüsiert.

"Nein", sage ich erneut, merke, wie mich Jeff kurz fester drückt und dann loslässt. Ein feiner Seufzer, den nur ich höre rinnt über seine Lippen. Was hat er denn erwartet?

"Gut, mit dir zu diskutieren ist mir zu stressig. Du lässt dich sowieso nicht zu deinem Glück zwingen." Damit hat er Recht, denn er hat es oft genug versucht und ist kläglich gescheitert. Mit einer Wand zu reden ist einfacher und wahrscheinlich auch unterhaltsamer.

"Ich wünsche euch aber viel Spaß!", klinge reichlich unehrlich. Ich ernte von Abel einen seltsamen Blick und von meinem Mitbewohner eine herausgestreckte Zunge. Danach folgt ein eindeutiges Grinsen.

"Spaß werden wir haben. So oder so...", kommentiert Jeff letztendlich und ich verziehe angewidert das Gesicht als mir die versaute Komponente deutlich wird. Ich lasse ihn wissen, wie sehr es mich anwidert, in dem ich eine Würgegeste mache. Jeff grinst. Ich hebe zum Abschied meine Hand zum Gruß und blicke auf die Uhr.
 

Jetzt brauche ich dringend ein paar Zigaretten. Ich mache einen Abstecher in die Stadt, hole Geld, esse ein Eis in meinem Lieblingscafé und besorge mir die ungesunden Glimmstängel. Eigentlich habe ich meinen Konsum schon drastisch reduziert, aber Dank Jeff artet es wieder aus. Er war auch daran schuld, dass ich mit dem Rauchen angefangen habe. Auf dem Weg zurück ins Wohnheim rauche ich gleich drei Zigaretten hintereinander. Es geht mir danach nicht mal besser, aber zu wissen, dass ich wieder welche habe, reicht mir schon. Dafür wird Jeff büßen. Ich schnipse den letzten Stummel ins Beet und laufe plötzlich gegen etwas Menschliches.

"Huch.", entflieht mir leise und taumele zurück.

„Robin, sie machen es schon wieder." Kain packt meine Handgelenke als ich abwehrend die Hände hochziehe und weiter zurück wanke. Das wäre in einem Sturz geendet. Garantiert. Trotz seiner Größe ist Kain ziemlich lautlos. Ich brauche einen Augenblick, um mich zu beruhigen. Er kann doch nicht einfach so vor mir auftauchen. hat er auf mich gewartet?

"Schon wieder!", wiederholt er und lässt endlich meine Handgelenke los.

„Wieder? Was...Oh!" Er meint Jeff und Abel. "Es ist zwei Wochen her, oder?", kommentiere ich und versuche, mich an der Gestalt vorbei zu schieben. In meinem Kopf gehe ich schon die Möglichkeiten durch ihn irgendwie abzuschütteln. Doch da er weiß, in welches Zimmer er muss, ist es alles aussichtslos. Zu dem greift er mir erneut an den Arm und hält mich zurück. Kain hebt nach meinem Kommentar seine Augenbraue und sieht mich an als hätte ich gerade etwas völlig Absurdes von mir gegeben.

„Du wolltest, doch mit ihm reden!", sagt er bemitleidenswert.

„Habe ich nie gesagt", wehre ich ab und sehe es nicht ein, mich schon wieder auf eine Diskussion mit ihm einzulassen. Davon hatten wir in den letzten Wochen reichlich. Kurze. Lange. Aber vor allem Nervtötende. Er ist es, der ein Problem damit hat, also muss er es auch selbst lösen.

„Ach komm, warum können sie es denn nicht bei euch tun? Du setzt dir einfach deine Kopfhörer auf und drehst die Musik laut. Tadaa." Bei den letzten Worten fällt die Erregung seiner Stimme deutlich ab, so dass es fast gemurmelt klingt. Kurz deutet er mit dem Finger auf jene Kopfhörer, die still um meinen Hals liegen. Nun hebe ich meine Braue und sehe ihn seltsam an, weil er definitiv etwas Abwegiges gesagt hat. Ich setze zu einem dämlichen Kommentar an, doch ich breche ab. Kain wirkt abwesend. Seine Augen blicken mir müde entgegen. Mir fällt wieder ein, warum er so fertig aussieht. In seinem Studiengang gibt es in jedem Semester ein anderes großes Projekt, welches drei-stufig über die gesamte Vorlesungszeit verteilt ist. Die erste Woche war anscheinend schon vorüber. Von Erzählungen weiß ich, dass es unheimlich anstrengend sein muss.

„Rede du doch mit Abel, wenn es dir so wichtig ist." Ich lasse ihn mit diesem Ausspruch stehen, doch nach nur wenigen Metern ist er wieder dicht hinter mir.

„Aber der will es nicht verstehen." Er hat also schon mit ihm gesprochen.

„Verpacke es in einen dämlichen Witz, dann versteht er es schon", rate ich belustigt. Kains Mundwinkel zucken minimal nach oben.

„Komm schon. Ich bin echt müde und will pennen."

„Kaffee soll helfen."

„Schon zwei Liter gehabt. Hilft nicht mehr."

„Such dir doch eine Parkbank", schlage ich vor.

„Draußen ist kalt." Ich seufze und sehe auf die Uhr. Es ist halb Neun. Abel und Jeff werden reichlich spät zu ihrem Improvisationsding kommen. Vielleicht haben sie auch vor lauter Sex vergessen, dass sie dorthin wollten. Der Sex muss wirklich gut sein. Irgendwie regt sich in mir langsam der Neid. Schon wieder entstehen diese verräterischen Bilder. Ich versuche sie eilig zu verdrängen.

„Geh doch zu Merino oder wie auch immer die Rothaarige heißt."

„Merena. Sie ist kein Schaf."

„Was?", frage ich minimal dümmlich, da mich das Schafkommentar etwas aus der Bahn wirft. Ich bleibe vor meiner Zimmertür stehen und sehe dem größeren Mann genervt an.

„Merinos sind Schafe, die besonders feine Wolle produzieren. Ich hab einen Pullover davon. Schön kuschelig." Während seiner Erklärung klingt seine Stimme etwas kindlich, so als beschriebe er mir sein Lieblingsplüschtier.

„Na dann vergrab dich doch in diesem." Ich tippe den Code für die Tür ein und verhindere, dass Kain mir ins Zimmer folgt. Ich schaffe es nur dank seiner Müdigkeit. Seine Hand drückt sich gegen die Tür.

„Robin, bitte. Die treiben es gerade schon wieder in meinem Zimmer. Fast in meinem Bett. Diesmal im Stehen und vor dem Schreibtisch. Hab doch etwas Mitleid." Die Bilder in meinem Kopf werde ich garantiert nie wieder los.

„Nein!" Ich schlage ihm die Tür vor der Nase zu.

Ich bin mir hundertprozentig sicher, dass er genügend andere Ausweichmöglichkeiten findet. Ich verstehe nicht, warum er diese nicht nutzt. Er will mich nerven. Ganz bestimmt. Warum sonst kommt er freiwillig zu mir? Wir kennen uns kaum. Wir mögen uns eigentlich nicht. Jedenfalls ist mir nichts anderes bekannt. Also was ist der Grund, aus dem er mich einfach nicht in Frieden lässt? Ich höre ein dumpfes Geräusch an der Tür. Es ist kein Klopfen und es folgt auch kein weiteres. Mein Blick fällt auf Jeffs Bett. Er hat es neu bezogen. Warum hat er es neu bezogen? Es dauert einen Moment, doch dann fallen mir die Worte wieder ein, die er am Morgen an mich gerichtet hat. Es sind nur Bruchstücke, aber sie enthalten die Begriff Verabredung, Abel, Bett, Kain und reinlassen. Wahrscheinlich hat Jeff Kain den Floh ins Ohr gesetzt, dass es okay ist, wenn er hier schläft.
 

Das wird er mir büßen. Er vergnügt sich und ich muss mich mit dem Quälgeist rumplagen. Garantiert kann ich mich wieder die ganze Nacht nicht konzentrieren. Doch während ich das denke, gehe ich zurück zur Tür und öffne sie. Kain fällt mir vor die Füße. Er hat das dumpfe Geräusch eben verursacht als er sich hingesetzt hat. Nun sieht er mich am Boden liegend an. Ich steige über ihm rüber und gehe zu meinem Schreibtisch. Kain regt sich nicht, sondern sieht mir auf dem Rücken liegend nach.

„Was ist? Steh auf! Ich schleif dich nicht ins Bett. Wenn ich das versuche, hole ich mir einen Bruch." Ich lasse mich auf meinen Schreibtischstuhl fallen, verschränke die Arme vor der Brust und schlage die Beine übereinander.

„Das steinerne Ding in deiner Brust funktioniert. Es ist ein Wunder!", sagt Kain enthusiastisch und ich bereue bereits jetzt den winzigen Augenblick von Freundlichkeit.

„Ich schmeiß dich gleich wieder raus", erwidere ich auf seinen Kommentar und schalte meinen Rechner an. Der andere Mann rappelt sich schwerfällig auf und schlürft Richtung Bett.

„Das musst du mir erstmal beweisen, bevor ich das glaube." Touché, denn dabei würde ich mir auch einen Bruch heben. Statt zu antworten, deute ich auf Jeffs frischbezogenes Bett. Diesmal wird er sich nicht in meins legen. Das werde ich diesmal definitiv verhindern. Auch Kain bemerkt den frischen Überzug und startet nicht einmal den Ansatz in mein Bett zu gehen. Immerhin. Kain legt seine Tasche auf Jeffs Schreibtisch ab und ich schaue dabei zu, wie er sich den Pullover über den Kopf zieht. Er trägt nichts anderes drunter. ich sollte wegsehen, doch ich tue es nicht. Wie erwartet ist sein Oberkörper muskulös und definiert. Ich sehe, wie bei der Bewegung seiner Arme die Muskeln seines Rückens hervortreten. Ein feines Spiel unter ebener Haut. Er hat ein Tattoo auf der Innenseite seines rechten Oberarms. Ich kann nicht erkennen, was es ist. Wahrscheinlich ein Schriftzug. Als er beginnt seine Hose zu öffnen, wende ich mich doch von ihm ab. Schlimm genug, dass ich mittlerweile Jeff anstarre. In meinen Fingerspitzen beginnt es zu kitzeln. Ich schiebe mir die Kopfhörer auf die Ohren. Noch während sich Kain bettfertig macht, beginnen sich erste Worte zu formulieren, die sich heftig nach draußen drängen. Soviel zum Thema Konzentration.
 

Kain schläft schnell und tief. Er muss wirklich müde gewesen sein und nutzt keine Decke. Sein Oberkörper liegt frei und auch sein Unterleib. Nur seine schlanken Beine sind bedeckt. Seine Brust hebt und senkt sich sachte. Die gleichmäßige Bewegung hat etwas Hypnotisches. Ich starre ihn an bis sich sein Kopf plötzlich in meine Richtung dreht. Automatisch weiche ich zurück. Doch ich merke, dass er noch immer schläft. Ein paar Strähnen seines schwarzen Haares fallen über seine Stirn. Er sieht entspannt aus. Locker. Sogar etwas jünger, wenn er keines dieser übertriebenen Lächeln in seinem Gesicht hat. Mein Finger tippt gegen die Leertaste und irgendwann bin ich in der Mitte der Seite des geöffneten, leeren Dokuments angelangt. Kains ruhiger Atem, der den Raum erfüllt. Ich bekomme Gänsehaut, als ich mir vorstelle, wie sein warmer Atem auf Haut trifft. Kitzelnd. Streichelnd. Ich lösche die leeren Tabs und beginne zu tippen.

Nach einer Weile wird Kains Atembewegung schneller und damit lauter. Ich stoppe mit dem Schreiben und drehe mich zu dem schlafenden Körper. Seine Lippen öffnen sich. Er träumt. Es muss etwas Anregendes sein. Ich lehne mich in meinem Stuhl zurück, vernehme das leise Quietschen der alten Scharniere und Schrauben. Kains Bauch spannt sich an. Ich folge der Muskelbewegung. Die leichte Abzeichnung seiner Rippen. Seine Brustwarzen sind hart. Ich frage mich, wie es sich anfühlt sie zu berühren und das löst ein feines Kribbeln aus, welches sich über meine eigene Brust arbeitet. Ich wende mich ab und schließe die Augen. Es fühlt sich sonderbar an. Die Luft ist schwer. Ein feines Keuchen entflieht Kains Lippen. Ich blicke zurück. Er neigt seinen Kopf wieder in die andere Richtung. Was er wohl träumt?
 

Ich brauche lange, um mich von dem schlafenden Körper abzuwenden. Ich zwinge mich letztendlich dazu, in dem ich mit beiden Händen an die Tischkante fasse und meinen Stuhl zum Bildschirm drehe. Erst als ich wieder auf den Text starre, merke ich, wie heftig mein Herz schlägt und was ich geschrieben habe. Im Moment verstehe ich mich selbst nicht mehr. Wie kann mich so ein einfacher und trivialer Fakt derart aus der Bahn werfen? Jeff mag Männer! Na und? Es ist auch nicht das erste Mal, dass ich damit in Berührung komme. Allerdings waren Outings in unserer Schule eine Seltenheit. Wahrscheinlich lag das an der elendigen Kleinstadtmentalität. Nichts hören, nichts sehen und nichts sagen. Ich verfluche meine eigene Ignoranz. Ich bin mir sicher, dass es vor allem an Jeff liegt, der mich mit dieser Tatsache vollkommen überfahren hat. Es ist wie das plötzliche Auftreten des eigentlichen Drahtziehers als Höhepunkt des letzten Aktes eines Krimis, obwohl man sich die ganze Zeit sicher war, dass es nur der Butler gewesen sein kann. Oder der Gärtner. Jeffs Homosexualität versteckt im Schein des bügelfeinen heterosexuellen Anzugs eines Butlers. Ich brauche dringend mehr Schlaf.

Ich stelle mir dauernd die gleichen Fragen. Gab nie Anzeichen oder habe ich sie einfach nur nicht gemerkt? In der Schule hatte Jeff eine Freundin. Auf Partys hat er Mädchen geküsst. Aber vielleicht auch Jungs? Ich weiß es nicht mehr. Ich war nie sehr aufmerksam. Noch immer umfassen meine Hände die Tischkante. Ich fasse sie fester bis meine Knöchel weiß hervortreten. Doch, einen Mann hat Jeff geküsst. Mich.
 

Meine Nackenhaare richten sich auf, reagieren auf einen Luftzug im Raum. Vielleicht nur eine Ahnung. Dann taucht mit einem Mal Kains Gesicht neben mir auf. Obwohl er mich nicht berührt, spüre ich Wärme, die sich auf mich überträgt. Er sieht direkt auf meinen Bildschirm. Geradewegs auf mein Geschriebenes. Aus meinen Kopfhörer dringt Stroke 9 mit 'Do it again'. Ich bekomme Gänsehaut, während der Sänger fröhlich 'You're a freak. You're alone in your bed with graphic images in your head' in meine Ohren haucht.

Reden ist Silber und Schreiben ist Gold

Kapitel 3 Reden ist Silber und Schreiben ist Gold
 

'Let me do what I want to do with you. Let me tie you down, pick you up' dringt es vielsagend aus meinen Kopfhörern und nur dumpf vernehme ich Kains Stimme, die zusätzlich in Form seines warmen Atems über meine Wange streicht. Mein Herz prallt wild gegen meinen Brustkorb und ich muss schwer dagegen ankämpfen nicht zu erstarren. Ich neige meinen Kopf zu ihm und fixiere die Bewegung seiner Lippen. Ich brauche seine Worte nicht verstehen, denn egal, was er sagt, das erste, was ich tue ist panisch das Dokument schließen. Im gleichen Atemzug ziehe ich mir die Kopfhörer von den Ohren und mache ein vermutlich dämliches Gesicht. Ich bin so überrascht, dass ich es nicht mal schaffe, böse oder verärgert zu gucken, so wie ich es sonst mache. Das Alles zusammen bescheinigt meine Unfähigkeit für Multitasking. Es wird eh überbewertet.
 

"Verdammt, Kain!", presse ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und sehe den dunkelhaarigen Mann neben mir mit viel Mühe und Konzentration verärgert an. Kain lächelt und ich weiß nicht wieso. Er steht nur in Shorts hinter mir und sieht abwechselnd von meinem Bildschirmhintergrund, einer Mischung aus Retrolandschaft und Musikplakat, zu mir. Er stützt sich auf die Rückenlehne meines Stuhls und neigt mich damit etwas zurück. Genauso, wie es Jeff letztens getan hat. Ich spüre seine warmen Arme in meinem Nacken und eine Berührung an meiner Schultern.

"Was schreibst du da?", fragt er unschuldig und geht nicht auf meinen erschrockenen Ausruf ein. Ich denke an den letzten Absatz meines Textes. Der Geschmack seiner Lippen und den stiller Wunsch sie zu kosten. Und plötzlich denke ich an die Ingwerbonbons in Kains Hosentasche und an die Tatsache, dass er in diesem Moment keine Hose an hat. Ob er irgendwas lesen konnte? Wie lange steht er schon hinter mir? Mein Puls klettert weiter nach oben und verursacht ein dumpfes Rauschen in meinen Ohren und das stetige Echo in meiner Brust lässt mich zusätzlich erschaudern.

"Wörter", sage ich flapsig und ausweichend. Ich sehe dabei zu, wie Kains linke Augenbraue nach oben wandert, so wie sie es seltsam oft macht. Es verleiht seinem Gesicht etwas Spitzbübisches, fast Kindliches. Ob ihm das bewusst ist?

"Wow, wäre ich nie draufgekommen", gibt er trocken von sich. „Und was für Wörter benutzt du? Lustige, wissenschaftliche oder vielleicht sogar schweinische?" Er lehnt sich zu meinem Bedauern noch mehr auf die Lehne meines Stuhls und nimmt mir damit jegliche Chance für einen schnellen Abgang. Ich fühle mich, wie ein Käfer, der es allein nicht schafft sich wieder aufzurichten. Passend dazu wackele ich unruhig mit den Beinen.

"Subjekt, Objekt und Prädikat. Nicht unbedingt in dieser Reihenfolge. Manchmal würze ich auch mit Adverbien und Adjektiven. Noch Fragen?", erwidere ich lapidar und bleibe meiner Spur treu. Leider hat es keinerlei dämpfende Auswirkung auf Kains Neugier.

"Du schreibst ziemlich viel, oder? Was schreibst du Schönes? Schweinskram? Bist du einer dieser stillen Perversen, die in ihrem Kopf lauter lüsternen Fantasien haben?" Genauso einer bin ich, sagen werde ich ihm das natürlich nicht. Seine letzten Worte sind nur noch ein leises Raunen, welches mir durch Mark und Bein geht. Ein weiteres Rätsel ist, weshalb er ständig nach versautem Zeug fragt. Langweile? Ich versuche mir gerade krampfhaft einzureden, dass das, was er gelesen haben könnte, nicht allzu sexuell gewesen ist und dass er garantiert an den wenigen Sätzen nicht herausgelesen hat, über wen ich geschrieben habe. Ich bin verdammt gut darin mir Dinge einzureden. Ohne zu antworten ziehe ich den Stuhl wieder dichter an den Tisch, sodass Kain Halt verliert und sich sein Griff lockert. Er dringt zu sehr in meine Privatsphäre ein und das kann ich nicht dulden. Jeff weiß, dass er, sobald ich an meinem PC sitze und schreibe, nichts mehr in meiner Nähe zu suchen hat. Jeff respektiert meine verquere Anweisung, aber Kain weiß es natürlich nicht. Nichtsdestotrotz hat er sich nicht einfach an mich heranzuschleichen.

"Wolltest du nicht schlafen?", frage ich barsch.

"Ja, aber ich hab schlecht geträumt.", räumt er ein und nun bin ich es, der seine Augenbraue hebt und ihn verständnislos ansieht. Sind wir hier im Kindergarten?

„Und das soll mir sagen, dass du mir jetzt die Ohren volljammern willst?"

„Vielleicht ein bisschen." Kain grinst und beugt sich über mich.

"Nicht dein Ernst?", entflieht mir deutlich genervt. Ich werde Jeff dafür, das er mir Kain auf gehalst hat, irgendwas antun. Ich habe eine Liste mit möglichen Gemeinheiten und diesmal werde ich sie definitiv benutzen. Ich habe auch genügend Fantasie um weitere Neue zu ersinnen. Ich könnte seinen Ficus killen oder die nervige CD von Jennifer Lopez verschwinden lassen. Unwillkürlich schweift mein Blick in Jeffs Zimmerteil. Der geliebte Ficus grünt lustig und unbedarft vor sich hin. Unschuldig und ahnungslos. Jeff schleppt ihn seit der Schulzeit überall mit hin. Manche Menschen haben eine tiefe, verquere und beängstigende Verbindung zu ihren Haustieren. Jeff hat diese Neigungen gegenüber dieser Grünpflanze. Er nennt ihn Ben. Wahrscheinlich von Ficus benjaminii. Vielleicht auch weil er den Namen schön findet. Warum auch immer. In meine Fantasie sehe ich, wie die Blätter in diesem Moment, wie vom Wind angefacht, wippen und tanzen. In der Realität ist das jedoch der warmen Heizungsluft geschuldet. Ich merke, wie mich Kain stirnrunzelnd beobachtet.

"Beschäftige mich!", wiederholt er quengelig. Ich hasse ihn.

"Alter, ich bin doch kein Kindergärtner! Werd erwachsen und höre auf, mich zu nerven."

"Aber jetzt kann ich nicht mehr einschlafen und mir ist langweilig.", setzt er noch einen drauf und ich bin mir sicher, dass er so schnell nicht aufgibt. Ich rede mit einem Kleinkind. Grandios. Ich seufze genervt.

„Dann nimm dir ein Buch und mach was Nützliches für deine Bildung."

„Meine Bildung ist großartig und ich lese nichts, was ich nicht wegen des Studiums lesen muss", wiegelt er ab. Kain macht mir auch nicht den Eindruck als wäre er ein aktiver Leser. Bücher mit Bildern sind vermutlich das Höchste aller Gefühle. Mit seinem gesamten Körpergewicht lehnt er sich erneut auf meinen Stuhl und drückt mich weiter nach hinten, sodass ich fast waagerecht liege. Meine Finger krallen sich erschrocken in die Seitenlehnen meines Bürostuhls. Ich höre ihn ächzen und sehe Kain mit großen Augen an.

„Kannst du das lassen", knurre ich ihm entgegen und richte mich hilfesuchend auf. Meine Füße berühren mittlerweile nicht mal mehr den Boden. Es behagt mir nicht.

„Wie wäre es, wenn du mir was vorliest." Kain deutet minimal auf meinen Bildschirm und sieht wieder zu mir hinab. Nie und nimmer. Nur über meine Leiche. Sein Gesicht ist direkt über meinem. Nur verkehrt herum. Garantiert lese ich ihm nichts vor. Ich verkneife mir ein absurdes Lachen um es zu verdeutlichen. Wie kommt er auf diese Idee? Unglaublich.
 

"Sehe ich aus, wie dein Großmütterchen?", kommentiere ich ablehnend und sehe in Kains abwartendes Gesicht. Er seufzt und lässt meinen Stuhl vorsichtig los. „Außerdem ist das nur ein Bericht über Oxidationsprozesse", kläre ich ihn zusätzlich auf. Meine Lüge klingt überzeugend. Aus meiner Sicht jedenfalls.

"Oxidationsprozesse?", wiederholt er mit einem skeptischen Unterton und sieht mich noch immer an, wie ein nichts verstehendes Frettchen. Ich weiß, dass Kain ein ziemlich intelligenter Typ sein muss, denn er ist stets einer mit den besten Noten in allen belegten Vorlesungen und Seminaren.

„Oxidation? Reduktion? Rost? Verwesung?", zähle ich erklärend auf und sehe, wie Kain die Augen verdreht.

„Ja, ja, schon klar."

„Wirklich?", frage ich ein klein wenig provozierend.

"Dann hast du den Text deshalb so abrupt geschlossen, damit ich ja nichts dazu lerne?", fragt er sarkastisch von sich. Erwischt. ich merke, wie sich mein Puls augenblicklich beschleunigt. Er muss doch was gelesen habe.

„Fall tot um Kain!"

„Nö.", sagt er lapidar. Ich habe es gewusst. Von Anfang an. Ich würde diesen winzigen Moment Freundlichkeit von vorhin bereuen und siehe da, schon geschehen. Ich mache es garantiert nie wieder.

„Es wäre eine absolute Verschwendung. Ich stehe in der Blüte meines Lebens, bin voller Manneskraft und Tatendrang. Außerdem ärgerst du dich so schön, wie könnte ich da aufhören?" Mit diesen Worten lässt er sich grinsend auf Jeffs Bett fallen, dreht sich auf die Seite und stützt seinen Kopf auf der Hand ab. Ich wiederhole still die Phrasen Manneskraft und Blüte des Lebens und habe das Bedürfnis mein Abendessen rückwärts zu genießen. Trotz alledem wandert mein Blick über den halbnackten Körper, den Kain mir förmlich auf dem Präsentierteller serviert und meine Augen haften sich zu meinem Leidwesen direkt an den Ort seiner Manneskraft. In meinen Fingerspitzen explodiert ein feines Kitzeln, welches zeitgleich in mehreren Stellen durch meinen Körper kribbelt. Es ist ungewohnt und neu. Schluss damit! Das ist zum Verrücktwerden.
 

„Okay, ich denke, nun bin ich bereit eine Woche Rückenschmerzen in Kauf zu nehmen." Ich richte mich auf, lasse demonstrativ meine Finger knacken und kremple einen Ärmel meines Pullovers hoch. Kain sieht mir dabei zu und verzieht im ersten Moment keine Miene. Erst als ich auf ihn zu komme und richtet er sich auf. Vor dem Bett bleibe ich stehen. Er wirkt nicht sonderlich furchtvoll, aber das hilft mir vielleicht ihn zu überraschen. Ich habe genug von seinen Kindereien und bin angriffslustiger als man mir zu traut. Ich bin auch wesentlich bissiger als man denken könnte. Kain scheint den Ernst zuerkennen.

"Hey Hey, ist ja gut. Bleib friedlich, Rambo! Und es wären garantiert zwei Wochen. Ich wiege gut zwanzig Kilo mehr." Kains Finger tippt leicht gegen meinen Unterbauch, während er mich mustert. Wie erwartet unterschätzt er mich. Das passiert oft.

"Zwei Wochen sind auch okay, wenn ich dann endlich meine Ruhe habe." Ich packe seinen Zeigefinger und halte ihn fest. Das amüsierte Grinsen auf seinen Lippen ignoriere ich geflissentlich. Auf beiden Seiten herrscht noch keine Anstrengung. Wie starren uns nur an. Doch plötzlich greift Kain blitzschnell nach mir, schultert mich und drückt mich mit dem Bauch aufs Bett. Ich kann nicht reagieren und bin komplett übertölpelt. Demonstrativ setzt er sich über mich und zieht einen meiner Arme nach hinten. ich spüre seine warmen Oberschenkel an meiner Hüfte. Durch den Stoff meiner Jenas hin durch.

„Du glaubst also, du könntest einen geschulten Ringer einfach so aus deinem Zimmer schmeißen?", gibt er amüsiert von sich und verlangt keinerlei Antwort. Ringer? Ich denke sofort an umeinander herum tänzelnden Typen mit seltsamen, knappen Outfits. Aber auch angespannte Muskeln unter schweißglänzender Haut. Keuchen und Stöhnen. Ringen ist ein lauter Sport. Außerdem ist Kain nur schwerer, weil er viel größer ist als ich. Kain ist größer als ale anderen hier auf dem Campus.
 

„Ringer? Das sind doch die, mit den selten dämlichen Einteilern, oder?", spöttele ich. Diesmal kann ich mir ein Grinsen nicht verkneifen und versuche nach hinten zu linsen. Ich versuche meinen Arm zu befreien und verdrehe ihn mir damit nur selbst. Schnell lasse ich es wieder sein. Kain scheint darauf zu achten, dass er mir nicht weh tut. Wenigstens etwas.

„In deiner Position bringst du es echt fertig, Witze über unsere Outfits zu machen? Mutig. Ich habe dich für wesentlich intelligenter gehalten!" Ein Trugschluss und ein Fehler, denn auch ich öfter mal selbst mache. Kain stößt ein deutliches Tze aus und steht auf. Ich schaffe es auf alle Viere, dann packt er mich erneut und dreht mich abrupt auf den Rücken. Mit einer weiteren Attacke habe ich nicht gerechnet und mir entflieht ein atemloses Huch. Er drückt mein linkes Bein nach oben und wirft es sich über die Schulter. Den rechten Arm dreht er mir über den Körper, sodass ich mich wieder kein Stück bewegen kann. Sein Gewicht drückt mich runter und mein Bein gleich mit. Ich sollte mich dringend öfter dehnen. Kain pinnt mich fest und beugt sich amüsiert lächelnd über mich. Alles mit einer Schamlosigkeit, die mir die Sprache verschlägt. Obwohl er schon eine Weile unbekleidet rumrennt, ist Kains gesamter Körper auffällig warm, fast heiß. Mein Herz pumpt pulsierendes Blut durch meine Adern und ich reagiere zusehend auf die Nähe seines Körpers. In meinem Kopf schreibt sich die Szenerie von ganz allein. Seine leicht geöffneten Lippen sind präsent und auffällig. Zartrosa Fleisch, das feucht zu glänzen beginnt als er seine Zunge langsam darüber gleiten lässt. Auffällig oft. Wie es sich anfühlt? Ein sanfter Biss auf seine Unterlippen und ein Lächeln, welches weiße, gerade Zähne offenbart. Ich stelle mir vor, wie er selbst das zitronige Bukett des Ingwers auf seinen Lippen schmeckt. Die Stränge meines Halses ziehen sich zusammen als ich das Aroma selbst fantasiere. Wie oft in letzter Zeit. Ich wende meinen Blick ab und versuche aus seinem Griff zu entkommen. Keine Chance.

"Kain!", entflieht es meinen Lippen. Er packt mich nur fester. Ich seufze leicht auf und wackele mit den Fingern.

„Glaubst du immer noch, dass du es einfach tun kannst?"

„Was genau wollt ihr denn tun?" Kain und ich blicken beide verwundert auf als Jeffs unerwartete Stimme von der Tür zu uns dringt. Mein blonder Mitbewohner steht skeptisch blickend im Türrahmen und fixiert unsere verknoteten Körper. Auch Abel taucht hinter ihm auf und mustert die Szene. Das perfekte Timing für den falschen Zeitpunkt. Erdboden öffne dich! Bitte!

„Na seht ihr denn nicht, wie mich Robin gerade rausschmeißt?", fragt Kain amüsiert und grinst. Er lässt meinen Arm los und richtet sich minimal auf. Mit der Hand hält er nun mein Bein auf seiner Schulter fest.

„Eindrucksvoll", kommt es dümmlich von Abel. Noch dazu bildet sich ein fast dreckiges Grinsen in seinem Gesicht. Ich will mir nicht vorstellen, was gerade in seinem Kopf vorgeht und mache es leider trotzdem. Verdammt. Nicht, dass ich nicht gerade selbst eine solche Szenerie in meinem Kopf hatte.

„Meine Position ist nicht halb so aussichtslos, wie es scheint", verteidige ich mich und ernte ein spöttisches Lachen von Kain. Auch Abel kichert. Nur Jeff reagiert nicht, sondern hebt auf beindruckende Weise seine Augenbraue. Verdammt noch mal. Ich versuche Kain ein weiteres Mal von mir runter zu bekommen und scheitere. Es ist aussichtslos. Ich verfluche diese verdammte Sportart und Kains lächerlich starken Körper.

„Wovon träumst du nachts, Robin?", kommentiert Kain meine Bemühungen und beginnt mein Bein mit dem Knie ein paar Mal rhythmisch hoch zu drücken. Neckend beobachtet er meine Reaktion.

„Was wird das, wenn es fertig ist?" Ich blicke an uns beiden hinab und beiße die Zähne zusammen. Kains Becken ist dicht an meinem und ich spüre das deutliche Ziehen in meiner Lendengegend. Nicht nur durch die unerwartete Dehnung.

„Du bist ganz schön gelenkig, dafür, dass du dich kaum ein Meter von deinem Rechner weg bewegst." Ein weiteres Mal drückt er mein Bein hoch.

"Robin ist sportlicher als du denkst!", sagt Jeff laut. Mittlerweile steht er am Bett und zieht Kain an der Schulter zurück. Ich bin endlich frei und nutze sofort die Gelegenheit um mich aufzurichten. In den letzten Jahren unserer Schulzeit spielte ich Basketball. Nur, dass ich so gar nicht der Typ für Mannschaftssportarten bin. Ich mag keine Menschen, befolge keine Anweisungen und mache oft, was ich will. Was dazu führte, dass ich mit dem Trainer und auch mit dem Rest des Teams andauernd in Konfrontation geriet. Ich brauche nicht zu erwähnen, dass ich nicht lange Teil des Teams war. Ich bringe meinem Mitbewohner mit einem Blick zum Schweigen, eher etwas darüber ausplaudern kann. Niemand interessiert sich für unsere alten Schulgeschichten. Die Erinnerungen durchströmen mich dennoch. Vielleicht hätte ich Ringer werden sollen, dann würde jetzt Kain dumm aus der Wäsche gucken und nicht Abel.

"Ach wirklich?" Mehr sagt Kain nicht dazu, trotzdem mustert er meine sehnige Silhouette eingehend. Ich fliehe von Jeffs Bett und sehe unwillkürlich zu Abel, der noch immer wie fehl am Platz in der Tür steht. Danach blicke ich zu Jeff. Sein Gesichtsausdruck ist eine Mischung aus Missfallen und Aufregung. Ich verstehe nur nicht warum.

„Was wollt ihr eigentlich hier?", frage ich die beiden blonden Männer und lasse mich auf meinen Schreibtischstuhl nieder. Sicheres Territorium. Fürs erste.

„Ich wollte nur mein Handyladegerät holen." Jeff deutet auf das schwarze Kabel, welches auf seinem Schreibtisch liegt. Er kramt nach irgendetwas in seinem Nachttisch und holt das Ladekabel hervor.

„Du kannst auch meins benutzen. Es klemmt hinterm Bett. Abel weiß wo", schlägt Kain vor und kriecht zurück unter die Bettdecke. Sie nicken es beide ab. Trotz dessen rollt Jeff das Kabel in seine Tasche und auch etwas anderes.

„Können wir euch wirklich allein lassen? Nicht, dass ich morgen früh zwei Leichen finde?", witzelt Jeff halbernst. Er bleibt in der Tür stehen.

„Eine! Ich werde seelenruhig schlafen", kommentiere ich trocken und sehe zu Kain, der nur amüsiert kichert und sich die Decke über den restlichen Körper zieht. Jeffs Blick wandert von mir zu Kain und wieder zurück. Jeff weiß, wie ernst es mir ist. Ich erwidere seinen Blickkontakt nicht, sondern versuche Kain nur mit meinen Willen in Flammen aufgehen zu lassen. Leider erfolglos.

„Okay, dann schlaft gut."

„Du auch", sage ich, ohne aufzusehen. Es wird still als die beiden endlich die Tür hinter sich schließen.
 

„Du kannst mich so lange anstarren, wie du willst, aber ich gehe nicht in Flammen auf", bemerkt Kain schmunzelnd, ohne sich zu mir um zudrehen. Es ist als hätte er meine Gedanken gelesen. Kurios. Wie hat er das hingekriegt?

„Meine Schwester hat das auch immer versucht. Ich bin feuerresistent. Glaub mir." Ich starre ihn noch immer verwundert an. Doch als er sich zu mir umwendet, drehe ich mich schnell weg und blicke auf meinen Bildschirm. Ich speichere schweigend mein Dokument und schalte den Rechner aus. Meine Konzentration ist im Eimer. Ich lasse mich auf mein Bett fallen, ziehe mich um und setze mir demonstrativ die Kopfhörer auf ohne ein Lied abzuspielen. Eigentlich kann ich beim Musikhören nicht einschlafen, aber in diesem Fall hält es mir lästige Gespräche vom Leib. Für gewöhnlich klappt das auch. Allerdings scheint mit Kain nichts, wie sonst zu laufen.

"Robin?"

"Was?" Ich reagiere erst, nachdem er meinen Namen dreimal wiederholt hat.

"Wie findest du das mit Jeff und Abel?" Wie bitte? Was ist das für eine Frage? Ich drehe meinen Kopf so, dass ich ihn theoretisch sehen können müsste, doch ich erkenne sein Gesicht nicht mehr. Mittlerweile ist es stockdunkel.

"Ist mir egal", sage ich und verwende dabei akkurat Jeffs Wortlaut. Ich bin aber auch nachtragend und das erschreckt mich gerade selbst ein wenig. Das muss dringend damit aufhören. Dank Kain hatte ich heute genug Kindergartenfeeling.

„Echt? Ich dachte, er ist dein Freund?", hakt der Schwarzhaarige lästiger Weise nach.

„Und?"

„Na, müsste es dich dann nicht brennend interessieren, mit wem er zusammen ist?"

„Warum? Er muss doch mit dem Kerl leben und nicht ich", gebe ich knapp von mir und lege mich hin. Für einen kurzen Moment verweile ich auf den Rücken, doch dann drehe ich mich auf die Seite. Obwohl er nicht weiter nachhakt, spüre ich seinen Blick auf mir. Brennend und intensiv. Dennoch bleibt es still. Irgendwann ziehe ich mir die Kopfhörer von den Ohren und lausche nach Kains ruhigem Atem. Er schläft. Endlich. Ich genieße die Ruhe und schaffe es trotzdem nicht endlich selbst abzuschalten.

Wenn Jeff mit Abel zusammen sein will, kann ich es schlecht verhindern. Ich sehe auch keine Gründe dafür etwas dagegen zu unternehmen. Ich kann Abel zwar nicht leiden und werde es auch nie, aber das heißt nicht, dass es für Jeff nicht gut ist. Oder weiß Kain mehr? Ist Abel ein Arsch? Wird er Jeff verletzen? Nun ärgere ich mich darüber, dass Kain einfach wieder eingeschlafen ist. Missmutig setze ich mich auf, hebe meine Kissen an und bin drauf und dran es zu werfen. Ich mag gleichgültig wirken, aber ich möchte dennoch nicht, dass Jeff verletzt wird. Meine Hand zuckt und das Kissen raschelt erwartend. Doch ich lasse es in meinen Schoß sinken. Wenn ich ihn wecke, dann wird er mich wieder nerven und vielleicht noch weitere blöde Fragen zu meinem Text stellen. Ich umarme das Kissen, bette meine Wange in den weichen Stoff und bleibe sitzen. Ich werde Abel im Auge behalten.

An die Dunkelheit gewöhnt, erkenne ich den schlafenden Körper des schlafenden Mannes als ich erneut einen Blick auf das andere Bett werfe. Seine Schulter senkt sich, hebt sich mit starken Atemzügen. Ein gleichmäßiger Takt. Ruhig und leise. Jeff würde längst schnarchen. Noch ein Grund mehr, warum ich öfter mit Kopfhörern schlafe. In diesem Moment fehlt es mir fast und ich brauche ewig um einzuschlafen.
 

Am Morgen werden wir durch das Klingeln von Kains Telefon geweckt. Ich schiebe mir die Decke über den Kopf und murre. Irgendwann reagiert auch Kain auf das nervtötende Geräusch und geht ran ohne darüber nachzudenken, dass er nicht allein ist.

"Ja?... Oh, ja... guten Morgen auch... Ja, habe ich vergessen. Tut mir Leid... Hm. Okay, dann heute Abend... Nein, Merena, hör auf. Bis heute Abend!" Ihr Name lässt mich aufhorchen und ich blinzele unter der Bettdecke hervor. Es ist viel zu hell. Ich höre, wie er leise seufzt. Ich weiß immer noch nicht mit Sicherheit, was die beiden für eine Verbindung haben. Eine richtige Beziehung scheinen sie nicht zu führen.

"Frauchen ruft?", frage ich spöttisch und setze mich angestrengt auf. Ich bin müde.

"Ich habe vergessen, dass ich mich gestern Abend noch mal melden wollte. Wir gehen heute Abend zu einem Konzert ihrer Lieblingsband." Mehr Information als nötig. Ich streiche mir durch die verwuschelten Haare und blicke zu dem anderen Mann. Kain sieht ebenfalls zu mir und mustert mich verschlafen.

"Was?", blaffe ich übertrieben. Kain antwortet nicht, sondern hebt nur abwehrend die Hände in die Luft. Er schließt seine Augen und bleibt regungslos liegen.

„Ist sie eigentlich deine Freundin?", frage ich, weil mir noch immer ihr Name im Kopf rumspukt.

„Nein, sie ist meine Ex. Aber der Einfachheit halber, gehen wir ab und an noch miteinander ins Bett. Momentan habe ich keinen Bock auf Beziehungen. Ich ficke."

„Zu viel Information."

"Du hast doch gefragt", erinnert er mich prustend. Habe ich wirklich und ich bereue es. Ich schlage die Decke zur Seite, weil es mir zu warm wird und streiche mir über den Nacken. Ein paar meiner Wirbel knirschen und knacken. Noch immer ruhen die Kopfhörer um meinen Hals, denn ich habe vergessen sie abzunehmen.

"Okay, dann verstehe ich nicht, weswegen du dich wegen Jeff und Abel so aufregst. Sie machen nichts anderes als du und Mera. Sie vögeln." Hemmungslos und pausenlos. Ich bin wirklich froh, dass ich das noch nicht mit ansehen musste.

"Ja, aber in meinem Zimmer und irgendwie ständig vor meinen Augen. Und das ist ein Unterschied. Außerdem heißt sie Merena", berichtigt er mich. Das werde ich mir nie merken. Kategorie nutzloses Wissen.

"Findest du nicht, dass du wegen den beiden übertreibst?"

„Sicher nicht, vor allem, weil ich seit Monaten damit konfrontiert werde. Irgendwann wird man einfach kirre und beziehungsphob." Er soll sich mal nicht so haben und dann lassen mich seine Worte stocken. Monate? Mehrzahl? Ich sehe ihn entgeistert an. Doch Kain scheint meinen fragenden Blick nicht zu bemerken. "Ich gönne ihnen ja den Spaß, aber die beiden sind wie Kaninchen...und nein, es ist kein Neid." Kain gestikuliert wild mit seinen Armen, während seine ebenfalls durcheinander geratenen Haare um seinen Kopf wuseln.

"Warte, warte. Was meinst du mit Monaten?", hake ich nach, als ich es endlich schaffe mich aus der Schockstarre zu befreien. Nun ist es der Schwarzhaarige, der verdattert guckt.

"Wie? Monate eben. Die beiden haben jetzt seit Dezember ihren Spaß miteinander, Robin!" Das sind jetzt gut fünf Monate. Fast ein halbes Jahr. Mir wird bitter kalt. Fünf Monate und ich habe wirklich nichts mitbekommen. Warum hat Jeff nichts gesagt? Ich lege mir die Hand auf den Bauch und spüre, wie sich mein Magen verknotet.

"Sag bloß, das wusstest du nicht?" Für ihn ist es sicher absurd. Jeff und ich nennen uns Freunde und trotzdem scheint es, als ob ich so gar nichts von ihm weiß. Seit Dezember. Ich bin wirklich schockiert. Ich ignoriere Kains Fragen nach meiner plötzlichen Schweigsamkeit und stehe von meinem Bett auf. Fahrig streife ich mir meine Jeans über und krame einen dicken Pullover aus dem Schrank. Mehrmals ruft er meinen Namen. Ich greife mir meine Zigaretten, verlasse das Zimmer und falle wenig später auf eine der Banken vor dem Wohnheim. Die Zigarette entzünde ich unbewusst und automatisiert. Der erste Zug hat keinerlei Effekt. Erst der dritte scheint meinen Verstand aufzuklaren. Nach dem vierten Zug merke ich endlich wo ich bin und nach dem sechsten ist die Zigarette bereits aufgeraucht. Jeff macht mich fertig. Wie kann das sein? Was ist mit mir und Jeff passiert, dass ich nicht mal mehr merke, dass er schwul ist und einen Partner hat? Ich habe den Stummel noch in der Hand, als ich mir eine zweite Zigarette anstecke. Micha, der Aufseher kommt an mir vorbei. Er deutet auf meine Zigaretten und danach auf den Mülleimer. Er kriegt einen unschuldigen Blick von mir und ich widerstehe dem Bedürfnis, ihm meine ausführliche, weniger freundliche Antwort mit den Händen zu gestikulieren. Ich ernte von ihm diese typische Ich-habe-dich-im-Blick-Geste und es tangiert mich herzlich wenig.
 

Als ich zurück ins Zimmer komme, ist Kain verschwunden und mein Blick fällt auf das leere Bett. Er hat das Bettzeug ordentlich zusammengeräumt und ans Ende gelegt. Sinnvoller wäre es gewesen, wenn er es abgezogen hätte. Ich entdecke Kains Socken am Boden. Er hat sie hier vergessen. Sie hellgrau. Langweilig und trist. Unwillkürlich sehe ich auf meine eigenen Füße und wackele mit beiden. Meine Socken sind bunt und niemals gleich. Ich nehme die Kopfhörer ab, werfe den Player auf mein Bett und sehe zurück zu den Strümpfen. Bevor ich mir überlegen kann, was ich damit mache, höre ich mein Handy klingelt. Wieder ist es eine mir unbekannte Nummer, doch als ich sie eine Weile anstarre, bin ich mir sicher, dass es die von Brigitta sein muss, mit der sie mich bereits gestern genervt hat. Demonstrativ lege ich das Telefon einfach zur Seite und ziehe mir etwas anderes an. Diesmal ist sie echt hartnäckig. Ich habe ihr das Skript erst gestern geschickt und mir ist nicht klar, was sie jetzt schon für ein Problem haben kann. Vielleicht ist es ihr nicht rosa genug oder ihr fehlen die klischeehaften Äußerungen am Schluss. das obligatorische Ich-liebe-dich, was man scheinbar nach nur zwei Wochen Beziehung empfinden muss. Für immer und ewig. Ein Ja zur Beziehung und sie bestellen schon einen gemeinsamen Grabstein. Realismus ist etwas Feines, hallt es sarkastisch durch meinem Kopf. Ich bin kein Freund von diesen kitschigen Schwachmunz und halte damit auch vor Brigitta nicht hinterm Berg.

Eine Vibration kündigt mir eine Nachricht an. Ich öffne sie, obwohl ich weiß, dass sie nur von Brigitta sein kann. Sie bittet mich um Rückruf. Ich strecke dem Telefon meine Zunge entgegen und beschließe erst am Montag wieder damit genervt werden zu wollen. Basta. Das Telefon versteht meinen Wink nicht und klingelt munter weiter. Selbst als ich beim Zähneputzen im Waschraum entgeistert in den Spiegel blicke, ringt es als Phantom in meinen Ohren weiter. ich seufze fahrig und blicke zurück in die grün-blaue Augen, die mir aus meinem eigenen Gesicht entgegen schauen. Ich bin eigentlich ein ganz anschaulich, aber ich kriege selten den grimmigen Blick aus meinem Gesicht und das macht unattraktiv. Das sagt jedenfalls Jeff. Mit einem extra finsteren Gesicht streiche ich mir über die stoppeligen Wangen. Zahnpastareste kleben in meinen Mundwinkeln und ich lecke sie mit der Zunge davon. Der Geschmack der Minze mischt sich mit dem Rest des Aromas der Zigarette, der auf meiner Zunge haftet. Eine seltsame Mischung. Ein bisschen wie zu lange gezogener Pfefferminztee. Ich drehe mein Gesicht ins Profil. Vielleicht sollte ich mir einen Bart wachsen lassen. Es hätte etwas Verwegenes. Rowdyhaftes. Jeff meinte einmal, dass würde gut zu meinem ruppigen Verhalten passen. Auch Jeff fantasiert viel, wenn der Tag lang und heiß ist. Es war im Sommer unseres Abschlussjahrgangs. Damals schien ich Jeff noch zu kennen. Missmutig spucke den letzten Schaum ins Becken, spüle mir den Mund aus und lasse einen Schwall Wasser gegen den Spiegel klatschen. Nichts ist mehr, wie es war.
 

Nichts ist, wie es mal war, wiederhole ich auf den Weg zurück ins Zimmer. Dort angekommen, beginne ich den Plot für ein neues Buch zusammen zu stellen. Mit diesem Credo. Normalerweise gönne ich mir zwischen zwei Bücher mindestens drei Wochen Ruhe, aber in meinen Fingerspitzen kitzelt diese Idee und ohne es bewusst zu wollen, entsteht in meinem Kopf ein chronologischer Abruf meiner bereits erschienen Büchern. Die Gesichter meiner Protagonisten mit all ihren Besonderheiten, Eigenheiten, Gemeinsamkeiten und Unterschieden. Ihre Charakterzüge und die ineinander verwobenen Wege, die sich in jedem Buch zu einem glücklichen Ende verspinnen. Der Surrealismus in Reinform, wie ich so gern sage, denn nicht alle Liebesgeschichten haben ein zufriedenstellendes Ende und vielleicht wird es Zeit, eine solche zu verfassen.
 

Die Möglichkeiten des Aufbaus von Liebesgeschichten sind im Grunde wenig vielfältig. Letztendlich begrenzen sie sich auf: Juchz, Heul und Tod. Natürlich sind geringfügige Abwandlungen möglich. Aber im Großen und Ganzen ist es dasselbe Schema. Sie kriegt ihn. Sie kriegt ihn nicht oder es nimmt ein jähes Ende durch frühzeitige Ableben eines der Protagonisten. Die dritte Variante kommt leider für meine Geschichten nicht in Frage. Brigitta würde es nicht zu lassen und jedes Mal wieder stelle ich mir vor, wie sie mich in einem solchen Fall geknebelt und am Stuhl gefesselt zwingt alles umzuschreiben. In einem Dominaoutfit samt Peitsche und mit irrem, rosafarbenen glitzernden Blick. Meine Lektorin kann zur Furie werden und sie hätte eine solche Aktion definitiv drauf. Ich wische die Gedanken schnell wieder davon, aber wie aufs Stichwort beginnt mein Handy erneut zu vibrieren. Eine weitere Nachricht. Die wiederholte Bitte um einen Rückruf, da sie mir einen Vorschlag unterbreiten will. Ich ahne Böses. Zumal mir das beigefügte Sternchenaugenemoji Gänsehaut macht. Ich lege das Handy ohne zu antworten beiseite und mein Blick wandert zurück auf das leere Dokument. Eine unglückliche Liebesgeschichte. Ich gehe die gängigsten Plotvarianten durch und schüttele den Kopf. Stereotyp Gradlinigkeit. Liebesgeschichten unterliegen meistens dem Drei-Akte-Schema. Sie trifft ihn. Sie verliert ihn. Sie bekommt ihn. Na ja, oder auch nicht, aber dann ist es eben keine kitschige, klischeehafte Romantik oder sie ist bewusst dramatisch. Ich persönlich empfinde es eher als frustrierend.
 

Mir fallen zwei Charaktere eines meiner Bücher ein, die im Grunde den perfekten Hintergrund für eine tragische und unglückliche Liebesgeschichte hätten. Kindheitsfreunde. Ein gemeinsames Studium. Nein, nicht Jeff und ich. Nicht mal im Ansatz. Ich stehe auf, gehe zu meinem Bett und ziehe eine Kiste hervor, in der ich jeweils ein paar Exemplare meiner Romane aufbewahre. Nicht einmal Jeff weiß davon. Er weiß nicht mal, dass ich mich dahingehend professionell betätige. Das ist auch gut so. Er wäre sicher nicht damit einverstanden, dass ich die momentane Situation pseudo-verarbeite. Ich ziehe das gesuchte Buch heraus. Es ist der Dritte aus meiner Reihe in diesem Verlag. Aber es ist der vierte, den ich je schrieb. Ich gehe zurück zum Schreibtisch, nachdem ich die Kiste wieder tief unter das Bett geschoben habe. Ein einziges Mal habe ich eine existierende Beziehung als Vorlage genommen. Nein, es ist nicht ganz wahr. Ich habe es zwei Mal getan, aber ich zwinge mich nicht darüber nachzudenken.
 

Das erste meiner Kitschbücher erzählt die abgewandelte Form der Geschichte eines unserer beständigsten Liebespaare im Abiturjahrgang. Sie ist die perfekt, klischeehafte Liebesschnulze, die sich kein Autor hätte besser fantasieren können. Liebe auf dem ersten Blick. Im Kindergarten. Eine gemeinsam verbundene Schulzeit. Ein unkaputtbarer Zusammenhalt trotz aller Widerstände. Nur ein einziger kleiner Makel. Die Tatsache, dass ich im letzten Jahr nach einem Streit der beiden mit ihr geschlafen habe. Das habe ich in dem Buch ausgelassen. Es hätte das perfekte Bild zerstört. Sich ein Leben lang nur an eine Person zu binden, ist meiner Meinung nach nicht möglich und mit Sicherheit auch nicht gesund. Es gibt immer irgendwas, was einen der Partner dazu veranlasst sich umzuschauen. Manchmal ist es nur ein schwacher Moment. Ein Kitzeln. Ein Funke und schon ist es geschehen. Verlassen werden und verlassen, das ist die Realität. Wahre Liebe ist Fiktion, dessen bin ich mir sicher. Der Biochemiker in mir erklärt nüchtern, dass Liebe eine chemische Reaktion zwischen Monoamin, Dopamin, Noradrenalin und Serotonin ist. Und damit ist es nichts weiter als eine Unmenge an Monoaminen, Neurotransmitter und Hormone. So schlicht und so einfach. Kein Mysterium. Im Grunde nichts, worüber es sich lohnt zu schreiben und dennoch tue ich es.
 

Ich glaube, die beiden aus meiner Schule sind mittlerweile verheiratet. Sie wird es ihm nie erzählt haben und vermutlich ist das auch besser so. Die Geschichten, die danach folgten, entsprangen alle vollkommen meiner rosafarbenen Fantasie. Es gibt Tage, an denen ich mich so klebrig fühle, dass ich mehrere Mal angewidert unter die Dusche springe und man mich mit Süßigkeiten jagen kann. Ich bin seither auch regelmäßig beim Zahnarzt.

Ich greife nach der Schachtel Zigaretten, die jetzt schon seit geraumer Zeit neben mir liegt. Ich habe so lange widerstanden, aber heute nervt mich Brigitta derartig, dass ich dringend eine rauchen muss. Draußen lasse ich mich wieder auf die Bank fallen und lehne mich zurück. Ich schlage die Beine übereinander und schließe die Augen. Meine Finger umfassen die Zigarette fester und ohne es zu merken, ziehe ich ein gutes Stück mit einem Zug weg. Warmer Qualm streicht über meine Lippen. Es kommt sogar etwas durch meine Nase. Im Trickfilm würde mir der Qualm jetzt noch zusätzlich aus den Ohren dringen. Mein Telefon bimmelt schon wieder. Ein feines Knurren rollt über meine Lippen und ich widerstehe dem Bedürfnis, es ins nächste Beet zu schleudern. Eine Wand habe ich leider nicht in unmittelbarer Nähe. Solche Aktionen haben mich im letzten Jahr drei Handys gekostet. Kein billiges Hobby. Ein genervter Laut und ich gehe ran.

„Brigitta, du nervst. Ich melde mich, wenn ich Zeit habe..."

„Wer ist Brigitta?" Die Stimme am anderen Ende des Telefons ist weiblich. Sie gehört aber nicht zu meiner Lektorin, sondern zu einer anderen Frau in meinem Leben.

„Hey, Mama." Mir fällt wie in einem schlechten Film die Zigarette aus dem Mund. Sie kullert über meinen Oberschenkel und hinterlässt eine schwarze Aschespur. "Shit!", entflieht mir erschrocken und nicht unbedingt leise. Meine einzige, noch halbwegs passende Hose. Die anderen sind mittlerweile nur noch Jeansfetzen. Irgendwann sind Hosen mit Löchern wieder im Trend, dann krame ich sie wieder raus.

"Ist alles in Ordnung bei dir, mein Schatz? Du klingst nervös." Meine Mutter klingt mehr als skeptisch.

"Ja... nein...nein, alles bestens!", versuche ich sie zu beschwichtigen und trete den Stummel aus.

"Rauchst du etwa wieder?" Oh nein. Unwillkürlich wende ich mich um, blicke von links nach rechts. Nichts. Um ganz sicher zu gehen, drehe ich mich noch mal komplett um und sehe ins Beet. Gelbe Tulpen und violette Stiefmütterchen, aber keine Mama. Ich starre kurz aufs Display, höre dumpf, dass meine Mutter irgendwas sagt, aber verstehe nicht, was es ist. Ich gehe wieder ran.

"Schatz? Was ist denn los?" Nun klingt sie besorgt. Ich habe keine Ahnung, wieso sie anruft.

"Alles fein. Nur etwas Stress. Was kann ich für dich tun?", frage ich schrecklich diplomatisch und hoffe, dass sie sich nicht weiter nach meinem Zigarettenkonsum erkundigt.

"Du kannst mir versichern, dass es dir wirklich gut geht und wann wir in den Semesterferien mit dir rechnen können."

"Okay. Ich lebe", sage ich schlicht zum ersten Teil und ernte ein verzweifeltes Ausrufen meines Namens. Meine Mutter kennt es nicht anders von mir und sollte mittlerweile daran gewöhnt sein. Auch Jeff hat mich vor ein paar Wochen gefragt, ob wir gemeinsam gen Heimat fahren. Doch mir ist nicht danach. Stunden lang allein mit Jeff im Auto. Im Moment ist mir ganz und gar nicht danach. Auch Freundschaften sind nicht immer für die Ewigkeit, greife ich meinen eigenen Gedanken von vorhin wieder auf. Seit fünf Monaten sind die beiden schon ein Paar und er hat es mir nicht gesagt. Ich kann es noch immer nicht wirklich fassen.

"Ansonsten hab ich viel zu tun. Viel zu lernen. Ich weiß noch nicht, wie viele Hausarbeiten auf mich zu kommen und wann die Abgaben sind", sage ich vorsichtig ausweichend und es folgt ein schwerer Seufzer auf der anderen Seite.

"Wir haben uns das letzte Mal zu Weihnachten gesehen, Robin. Ostern hast du dich schon gedrückt."

"Ich sage ja nicht, dass ich nicht komme. Nur später."

"Jeff ist viel öfter zu Hause. Warum kommst du nicht häufiger mit ihm mit, Schatz?" Der Vorwurf in ihrer Stimme ist unüberhörbar. Bei fast jedem Telefonat dasselbe. Jeff ist eben ein besserer Sohn. Zudem ist er ein Familienmensch und das bin ich nie gewesen. Jedenfalls bin ich es seit einigen Jahren nicht mehr. Am anderen Ende der Leitung wird es unangenehm still.

"Mach es für René!" Nun spricht sie genau das aus, was ich nicht hören will. René schert sich nicht darum, ob ich da bin oder nicht. Trotzdem drückt sie die richtigen Knöpfe in mir. Im Hintergrund höre ich die Stimme meiner Schwester, gefolgt von der Antwort meiner Mutter, die ihr erklärt, dass sie mich gerade am Telefon hat.

"Lieben Gruß von Lena. Wir fahren jetzt in die Stadt. Melde dich bitte noch mal, wann du kommst. Grüße Jeff und pass auf dich auf!", höre ich sie sagen, erwidere es fahrig und lege auf. Ich ziehe mir eine weitere Zigarette aus der Schachtel, doch als ich sie zwischen meinen Lippen spüre, erfasst mich dieses schuldbewusste Gefühl. Seufzend klemme ich sie mir hinters Ohr und gehe zurück aufs Zimmer. Im Flur kommen mir erneut die beiden Mädels entgegen. Ich sehe sie fast immer zusammen. Sie scheinen förmlich aneinander zu kleben. Ich nenne es die Unfähigkeit allein zu Handeln. Ob sie wohl eine Entscheidung treffen könne, ohne der anderen Meinung einzuholen? Ich bezweifle es. Die Hand der Brünetten streicht über den Arm der anderen und dann sehen mich beide an. Ich kann das leise Kichern nicht hören, aber ich sehe, wie die Mundwinkel der Blondine nach oben zucken, während ihre blauen Iriden auf mir ruhen. Ich sehe deutlich die Bewegung ihrer Lippen. Ein Flüstern. Ein Raunen. Ihre schlanken Körper lehnen sich aneinander. Ich würde lügen, wenn ich behaupte, dass es mich nicht interessiert worüber sie reden und ebenso, dass ich sie mir nicht ansehe. Beide sind nicht unbedingt mein Typ. Doch es ist sowieso selten, dass ich schon beim ersten Hinsehen an jemanden Interesse zeige. Ich habe so meine Eigenarten und dennoch bin ich kein Kostverächter. Ich stehe auf Sex und ich brauche definitiv Sex. Leider muss ich mir eingestehen, dass es auch schon eine Ewigkeit her ist. Vielleicht sollte ich heute ein paar Minuten früher duschen gehen, denn auf menschliche Nähe habe ich im Moment einfach keine Lust.
 

Ich tippe geschwind den Code unserer Türverriegelung ein. Ein leises Piepen ertönt, dann kann ich die Türklinge betätigen. Im Gehen ziehe ich mir bereits den dicken Pullover über den Kopf, den ich vorhin übergeworfen habe. Ich stocke als feiner Lichtschein durch die Maschen meines Oberteils fällt und ich eine Gestalt an meinem Schreibtisch erahnen kann. Der Pullover fällt und ich erkenne Kain.

„Was machst du da?", frage ich in die Stille des Raumes hinein und sehe zu Kain, der wie gebannt auf den Bildschirm schaut. Einer meiner Texte ist geöffnet und schon im nächsten Moment setzt mein Herz aus. Er dreht sich nicht sofort um, sondern atmet tief ein. Als nächstes kann ich sehen, wie sein Kopf ertappt nach vorn fällt. Danach wendet er sich zu mir um und blickt mir schuldbewusst entgegen. In seinem Gesicht steht das reine Unbehagen.

„Robin, entschuldige. Ich..." Ich will keine Entschuldigung hören, sondern ich will nur, dass er aufhört meine Texte zu lesen. Er steht auf und ich bin schnell neben ihm. Der Pullover fällt unachtsam zu Boden. Ich erkenne auf dem ersten Blick, was genau er dort gelesen hat. Es ist der Text, den ich gestern Nacht weitergeschrieben habe und dessen Inhalt er unbedingt erfahren wollte. Das Unanständige. Das Versaute. Der Text dessen Hauptfigur eine unleugbare Ähnlichkeit mit ihm aufweist. Ich schließe das Dokument abrupt und beiße die Zähne zusammen. Kains Hand legt sich an meine Schulter und ich stoße sie energisch davon. Was zur Hölle? Meine Gedanken rasen. Mein Puls bebt. Wie kam er überhaupt hier rein?

„Robin,..."

„Hau ab."

„Lass es mich bitte erklären und..."

„Willst du etwas Bestimmtes?", frage ich kalt, nachdem ich seinen weiteren Erklärungsversuch gnadenlos unterbreche. Er schüttelt nur sachte seinen Kopf. „Gut, hab die Güte und löse dich auf", sage ich und spüre, wie meine Stimme leicht zu zittern beginnt. Wut. Zorn. Es ist mir unangenehm. Kain macht keine Anstalten zu gehen.

„Verschwinde... Raus!!", belle ich mit Nachdruck und gehe zur Tür, um seinen Rauswurf zu beschleunigen. Er folgt mir ohne zu zögern, bleibt aber neben mir stehen und verhindert, dass ich die Tür öffnen kann.

„Hör zu, es tut mir leid, dass ich einfach so an deinem PC rumgeschnüffelt habe, aber ich war echt neugierig. Du bist unentwegt am Schreiben und ich wollte gern wissen, was du eigentlich schreibst. Du wolltest es mir ja nicht sagen und..."

„Es ist nichts, was dich angeht und jetzt hau endlich ab" Meine Hand umgreift die Türklinke fester und ich öffne sie dabei wenige Zentimeter. Doch Kain drückt sie wieder zu. Ich zucke zusammen als sich Kains Hand über meine legt. Sie ist trocken und kühl. Seine Fingerspitzen sind rau.

„Du schreibst über mich!", sagt er schlicht, aber mit Nachdruck. Shit. Verdammt. Ich wechsele innerhalb von Sekunden vom Wutmodus in den Verteidigungsmodus.

„Bitte? Schraub mal dein Ego runter, das ist absurd. Die Charaktere sind alle universell und haben keinen realen Personenbezug", spule ich ab und klinge als hätte ich es auswendig gelernt. Kain stupst mich mit der freien Hand gegen die Tür. Die andere liegt noch immer auf meiner. Ich bin zwischen ihm und dem Holz eingekeilt.

„Universell? Dass ich nicht lache." Er wirkt seltsam aufgebracht. Nur warum? Nur ich habe allen Grund dazu. Mein Atem wird schwerer und hektisch. Ich habe das Gefühl, dass mir das Herz bald aus dem Brustkorb springt. Er entfernt sich etwas von mir und scheint sich zu sammeln. Niemand hätte diese Geschichte lesen soll. Niemand. Sie diente lediglich als Ventil. Nicht mehr und nicht weniger. Trotzdem fühle ich mich eigenartig entblößt. Warum musste er ausgerechnet diese öffnen. Warum? Jede andere hätte weniger über meine momentane Gefühlswelt offenbart. Ich bemerke zu spät, dass er wieder einen Schritt auf mich zu macht und ich immer noch keinen Platz habe um weiter zurückzuweichen. Beide Hände kommen auf der Tür zum Liegen und wieder pennt er mich fest. Seine Unterarme streifen meine Seiten und ich vergessen für einen Moment zu atmen. Es fällt mir schwer aufzusehen, doch dann tue ich es und blicke in intensives, warmes Braun. Kain fixiert mich. Sein Adamsapfel hüpft als er schluckt und ich beobachte, wie sie sich seine Pupillen weiten.

„Der Geschmack seiner Lippen benebelt mich. Das Aroma von Kaffee und der Hauch von Ingwer auf seiner Zunge entfachen ein zitroniges Feuer und mein Geschmacksinn erblüht, wie tausende Knospen beim Empfangen erster Sonnenstrahlen. Explosionen der Sinne ausgelöst durch sanfte Berührung zarten Fleisches. Jeder Millimeter seines Mundes gleicht einer intensiven Sünde. Ich spüre, wie mein Körper zu gieren beginnt. Ich will mehr", zitiert er eine Stelle meines Textes und jedes Wort mündet in intensiver Gänsehaut. Keine Namen. Keine Zuweisung. Und doch wird allein durch diese Stelle deutlich, dass ich nur Kain damit meinen kann. Ich presse meine Zähne zusammen als er in seine Tasche greift und einen der Ingwerbonbons hervorholt. Ich fühle mich zu einer Erklärung genötigt.

„Es ist nur eine Geschichte. Es hat nichts zu bedeuten." Ich klinge schrecklich unglaubwürdig.

„In der ich einer der Figuren bin. Also, was bitte soll mir das sagen?"

„Das hat überhaupt nichts zu sagen und die Ähnlichkeit bildest du dir ein", spiele ich runter. Ich weiche seinem Blick aus. Kain schweigt und das sorgt dafür, dass ich angespannt, aber neugierig zurück gucke. Genau darauf hat er gewartet.

„Okay, dann lass es mich zu Ende lesen." Was?

„Nein", erwidere ich schnell und deutlich.

„Es hat doch nichts zu bedeuten, hast du selbst gesagt!" Er dreht mir die Worte im Mund um.

„Nein!" Energischer.

„Es ist nur eine Geschichte. Ich mag Geschichten. Lass sie mich lesen!"

„Nein, verdammt. Es ist mein geistiges Eigentum."

„Du benutzt mich für deine Fantasien und das berechtigt mich dazu es zu lesen!"

„Bitte? Kein Chance und wozu?", erfrage ich seine Intention, denn ich verstehe einfach nicht, was er sich davon verspricht. Kain schließt die sowieso schon kleine Lücke zwischen unseren Körpern. Ich halte unbewusst die Luft an, so lange bis ich seinen Atem an meinem Ohr spüre. Ein heißer Schauer arbeitet sich über meine Brust.

„Weil mich interessiert, ob er den anderen kriegt", raunt er mir entgegen. Ich erstarre.

Lieber drei Spatzen auf dem Dach als ein Angry Bird im Bett

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Asimov’sche Gesetze für Anfänger und Fantasiefiguren

Kapitel 5 Asimov'sche Gesetze für Anfänger und Fantasiefiguren
 

Jeff lässt sich nur kurz am Abend blicken. Die restliche Zeit habe ich meine Ruhe und schaffe es ein gutes Stück des neuen Buches zu skizzieren. Grobe Züge des Plots und die Konfliktpunkte. Die Storylines der Hauptfiguren und ein paar Ansätze der Nebenfiguren. Es wird ein Drama vom Feinsten. Brigitta wird mich lieben und rösten. Und danach wieder lieben. Sie ist eine Dramaqueen. Ich lese noch einmal die Passagen des vorangegangenen Romans, in denen die beiden jetzigen Protagonisten als Nebenpersonen auftreten und verfeinere deren Charakterzüge. Ich liebe es meinen Charakteren seltsame Eigenarten anzuhängen und ihnen damit Menschlichkeit zu offerieren. Niemand ist unfehlbar und keine Romanfigur sollte es versuchen, denn nichts ist langweiliger als Perfektion. Das weiß ich nur zu gut.
 

Selbst solche Leute wie Kain, die scheinbar erhaben über Allem stehen, wissen das es unmöglich ist. Denke ich jedenfalls. Obwohl er vermutlich das Gegenteil behauptet. Kain. Schon wieder schummelt sich der Schwarzhaarige in meine Gedanken. Wie kann er sich einbilden, dass ich ihn irgendwann meine Geschichten lesen lasse und vor allem, wie kann er sich dessen so überaus sicher sein? Murrend widme ich meine Aufmerksamkeit wieder dem Roman in meinen Händen und lese ich noch ein weiteres Kapitel. Beim Lesen merke ich, wie sich das Gefühl wiederbelebt, welches ich damals beim Schreiben empfunden habe. Auch ich habe mich schon versehentlich und ungünstiger Weise in eine fremde Beziehung gedrängt. Genauso, wie es die Figur in meinem Roman tat. Ich möchte das Versehentlich betonen, da ich nach einem One-Night-Stand nicht damit gerechnet habe, dass sie weiterhin den Kontakt zu mir sucht. Für mich war es etwas Einmaliges und hatte rein gar nichts mit Gefühlen zu tun. Seither lasse ich die Finger von Mädels aus meiner unmittelbaren Umgebung. Das bringt nur Ärger. In meinem Roman baute ich daraus ein Intrigengespinst und muss mir eingestehen, dass ich mit dem wiederholten Lesen wieder Gefallen an einer der eher unscheinbaren Nebenfiguren finde. Ein rothaariges Miststück. Rena. Ein Wink des Schicksals? Kurz entschlossen entscheide ich mich dazu weitere Charaktere wieder aufzunehmen und entwerfe eine Prioritätenliste für ihr Auftauchen und Rolle im Skript.

Danach tippe ich die Zusammenfassung für Shari zusammen. Ich organisiere es als eine Art Arbeitsmaterial, welches am Ende die wichtigsten Fakten und Daten als zu beantwortende Aufgabenstellung zusammenfasst. Schließlich möchte sie etwas lernen und nicht alles vorgekaut bekommen. Sechs Seiten. Ich bin zufrieden. Die Nacht verbringe ich allein. Kein Jeff. Kein Kain. Kein gesprochenes Wort. Unsagbare Erholung.
 

Auch die nächsten Tage verlaufen erschreckend ruhig. Fast, wie früher. Jeff liegt am Abend brav in seinem Bett und Kain scheint mir aus dem Weg zu gehen. Womöglich hat mein liebreizender und schrecklich gutgelaunter Mitbewohner und Jugendkumpan wirklich mit ihm geredet. Seltsamer Weise bin ich mir nicht sicher, ob ich das gut oder schlecht finde. Am Dienstag fängt mich Jeff vor der Mensa ab. Das Funkeln in seinen Augen lässt mich Böses ahnen und ich habe Recht damit. Als Abel zu uns stößt, berichtet mir er gerade von den geplanten Wohnheimpartys. Anscheinend haben sich ein paar der weniger engagierten Studenten kreativ betätigt und einen Semesterpartyplan ausgearbeitet. Jede Woche eine Party. Jede Woche ein anderes Wohnheim. Simpel, aber effektiv und damit in seiner Einfachheit besonders grausam für die weniger Gesellschaftsaffinen Personenkreise. Wirklich jeder darf in den Genuss kommt, am nächsten Tag den Dreck anderer wegmachen zu müssen. Die beiden blonden Männer sind begeistert und für mich ist, wie immer Gegenteiltag. Obwohl ich es zum Ausdruck bringe, hindert es sie nicht daran, mich mit den Vorteilen einer solchen Veranstaltung zu bombardieren. Gespräche, Spaß und Abwechslung. Für mich eine Beschreibung der sieben Todsünden. Ich benutze seit etlichen Jahren das gleiche Shampoo, wenn ich Abwechslung möchte, wurde ich als erstes das verändern. Jeff nutzt sein Talent für das schnelle Plappern und versucht mich gedanklich abzuhängen. Ohne Punkt und Komma. Mein Gehirn schaltet sich unweigerlich langsam ab und das Gerede wird zur Geräuschuntermalung. Trotzdem habe ich das Gefühl, bald eine zentnerschwere Argumentationskette hinter mir her zu schleifen. Ziemlich hinderlich, wenn man dadurch nicht mehr in der Lage ist sich einen Nachtisch auszusehen. Bevor ich mich für einen Pudding entscheiden kann, zieht mich mein Freund schwadronierend zur Kasse.
 

Jeff schwafelt noch immer über die evolutionäre Entwicklung des Menschen und die damit einhergehende Notwendigkeit von gesellschaftlichen Zusammenschlüssen als wir bereits fünf Minuten am Tisch sitzen. Säugetiere bilden Gruppen und das schon seit Jahrtausenden. Schön für uns. Auch die Dinosaurier bildeten Herden. Toll! Ich bin nie Dino gewesen. Nicht einmal beim Kinderfasching. Trotzdem beginne ich mich in diesen Augenblick zu bemitleiden, weil ich noch nicht ausgestorben bin. Ich will Pudding.

Seine Argumente sind an und für sich gut, trotzdem habe ich keine große Lust mit ihm und seinem Anhang zu der Wohnheimparty zu gehen. Auch, wenn sie ausgerechnet in unserem Gebäudekomplex stattfindet. Jeffs Arm legt sich beschwichtigend auf meine Schultern. Dabei zieht er mich auf dem Stuhl zurück. Ein weiteres Mittel, um mir zu verdeutlichen, wie einnehmenden Jeff sein kann. ich ächze mürrisch und lasse genervt mein Besteck am Tellerrand liegen. Ich biete ihm entgegen meiner sonstigen Art, eine weitere Möglichkeit mich zu überzeugen und weiß, dass Jeff sie gut nutzen wird.

"Komm schon! Es wird dir nicht schaden mal unter Leute zukommen. Im schlimmsten Fall lernst du ein paar nette Menschen kennen." Ich werfe meinen Jugendfreund einen angewiderten Blick zu. Menschen? Mir sind schon die zu viel, mit denen ich gerade am Tisch sitze.

"Tja, das kann ihm sehr wohl schaden. Möglicherweise kommt es in seinen Schaltkreisen zu einem durch zu viel Freundlichkeit verursachten Kurzschluss. Nicht auszudenken!" Kain ernste Stimme durchbricht Jeffs Überzeugungstirade und sein Tablett landet lautstark auf dem Tisch als er sich auf den leeren Platz setzt. Er grinst. Seit Samstag treffen wir das erste Mal wieder aufeinander und er haut mir gleich so was um die Ohren? Das Spiel können zwei spielen. Doch ich halte mich erstmal zurück. Abel kichert und beginnt sein Mittagessen auf dem Teller zu ordnen.

"Willst du damit andeuten, dass Robin ein Roboter ist? Schwachsinn", kommentiert Jeff verteidigend.

"Bist du dir da sicher? Und meines Wissens nach bevorzugen sie den Begriff Androide.", spinnt Kain verschwörerisch weiter und lächelt mir ebenso entgegen. Es fehlt nur noch, dass er mir einen Finger in die Wange bohrt und sich über die Echtheit meine Haut echauffiert.

"Ich habe ihn schon bluten sehen!", merkt Jeff an und nimmt damit keinerlei Wind aus den Segeln dieser absurden Diskussion. Im Gegenteil.

"Die Humankybernetik und Robotik machen große Fortschritte!", kontert der Schwarzhaarige, "Es wird alles immer lebensechter."

„Kain muss wissen. Er ist schließlich der Biotec-Typ.", mischt nun auch Abel mit und klingt dabei vollkommen überzeugt.

„Kain begafft Hefe", berichtige ich abfällig und versuche nicht mal, es nicht lächerlich klingen zu lassen, "Biotechnologie hat nichts mit Bionik, Robotik oder biologischer Kybernetik zu tun." Trotzdem werfe ich danach einen kurzen Blick zu Kain und sehe zurück auf mein Essen als ich bemerke, dass er mich mustert.

„Egal, ob Hefe oder Androide, beides sind asexuelle Lebensformen", gibt Kain ebenso provozierend zum Besten. Ich hebe wenig amüsiert meine Augenbraue, während Abel heftig zu lachen beginnt und das Gespräch gleich darauf auf die Möglichkeit von Sexbots lenkt. Es gibt wohl einen großen Markt in Japan. Woher er das bloß weiß?

„Macht doch eine Massenbestellung, vielleicht bekommt ihr Rabatt", kommentiere ich deren Enthusiasmus als der sexuell angehauchte Schlagabtausch unangenehme Formen annimmt.

„Wozu? Für Tests haben wir doch dich...", sagt Abel. Auf seinen Lippen ein verräterisches Grinsen.

„Ein sehr echt wirkendes Exemplar", ergänzt Kain. Ich ziehe mir demonstrativ die Kopfhörer auf und verdeutliche dem scheinchristlichen Zimmerpärchen gestisch meine Ansicht dazu. Schon wieder ein dämlicher Kommentar über meine Sexualität. Was soll das? Es kann schließlich nicht jeder wie ein hormonverseuchter Lackaffe durch die Gegend vögeln und sich in Grund und Boden kopulieren. Sie diskutieren weiter. Ich erkenne es an ihren lachenden Gesichtern, aber muss es zum Glück nicht mehr hören. Schweigend und die Gruppe ignorierend vertilge ich die Reste meines Mittagessens. Ab und an sehe ich zu Abel, weil er mir direkt gegenüber sitzt und lächerlich auffällig mit seinem Essen kämpft.
 

Irgendwann legt sich ein weiteres Mal Jeffs Arm an meine Schulter. Seine Finger berühren meinen Nacken und mein Blick wandert zum Profil meines langjährigen Freundes. Jeff nimmt mich in Schutz, das macht er seit unserer Schulzeit. Mir ist nicht einmal bewusst, warum und er muss es auch nicht tun, denn ich kann mich gut allein wehren. Jedoch sehe ich nur selten die Notwendigkeit darin, weil es mir schlichtweg egal ist, was andere von mir denken. Dennoch merke ich, dass sich Jeff in all den Jahren verändert, auch wenn die Gesten und Handlungen dieselben sind. Er hat sich weiterentwickelt und ich habe das Gefühl, dass ich irgendwie und irgendwo stehengeblieben bin. Und ich habe es nicht mal gemerkt. Jeff sieht zu mir, lächelt und ich wende meinen Blick ab, sehe direkt in Kains braune Augen, die mich erneut mustern. Auch von diesen wende ich mich schnell ab.

Stattdessen schaue ich zurück auf Abels Teller. Seit gut zehn Minuten versucht er eine gleichmäßige Verteilung aller Menübestandteile seines Tellers auf die Gabel zu bekommen. Anscheinend ein Ding der Unmöglichkeit, da bei jedem Versuch das Arrangement zum Mund zuführen, mindestens ein Teil wieder herunter fällt. Es ist faszinierend mit anzusehen, dass er jedes Mal von neuem beginnt, statt den auf dem Besteck befindlichen Teil in den Mund zustecken oder die Menge zu verringern, die er verspeisen will. Mein Blick schweift über die anderen Teller. Jeffs und Kains. Bei ihm das gleiche Spiel, doch da sein Teller bereits leerer ist, scheint er im geringen Maß erfolgreicher zu sein als sein Mitbewohner.

Erneut purzelt Abel Fleisch von der Gabel. Nun knurrt er leicht, kommt aber nicht auf die Idee, seine Taktik zu ändern. Ein Hoch auf die Evolution. Ich komme nicht umher, darüber nachzudenken, dass es ganz gut ist, dass Abel sich höchstwahrscheinlich nicht fortpflanzen wird. Ein kleiner feiner Kniff der Evolution oder Gott mit einem perfiden Sinn für Humor, je nach Glaubenseinstellung. Was will Jeff nur mit so einen Vollpfosten? Ein weiteres Mal leert sich seine Gabel bevor er etwas in den Mund stecken kann. Unfassbar.

"Gut, dass wir es nicht mehr nötig haben unser Essen zu jagen", kommentiere ich nun doch. Abel blickt auf. Genauso, wie Kain und Jeff.

"Was?", stößt Jeff verwundert aus.

"Abel verhungert vor vollem Teller", ergänze ich trocken. Drei Augenpaare richten sich auf den Teller des blonden Mannes.

"Wenn sich mein Essen nun mal wehrt." Abel lacht unschuldig auf.

"Ja, mit Händen und Füßen! Pass auf, dass es nicht dich frisst", sage ich sarkastisch. Ich habe es lange genug mit angeschaut und sehe meine evolutionäre Notwendigkeit nach gesellschaftlichen Kontakten hiermit als erfüllt an. Möge der Stärkere gewinnen und Abel fressen. Ich greife mein Tablett und stehe auf.

„Viel Glück beim Überlebenskampf", kommentiere ich Abels erneuten Versuch.

„Äh, danke!", erwidert Abel dümmlich.

„Ich meinte dein Essen." Damit gehe ich.
 

An der Geschirrablage verstaue ich meine Essensreste im Müll und trabe schlecht gelaunt zum Eisautomaten. Seit dem letzten Sommer existieren diese herrlichen, glückbringenden Maschinen auf dem Campus und ich bin ihr bester Kunde. Sie nerven mich nicht, widersprechen nicht und geben mir was ich will. Eis. Ja, ich fühle eine tiefe Verbundenheit mit dem aus Plastik und Elektronik bestehenden Kasten und ich schäme mich nicht es zu zugeben. Ich suche freudig erwartend nach meiner Mensakarte und finde sie schnell in meiner Jackentasche.

„Robin?", ruft jemand meinen Namen. Ich setze ungerührt meine Tätigkeit fort und ziehe mir ein Eis aus dem Automaten. Sicher bin nicht ich gemeint. Der einzige Vorteil eines Unisexnamen. Es könnten viele gemeint sein. Leider nicht in diesem Fall. "Können wie kurz reden?" Ich lasse mein Eis sinken als Kain neben mir stehen bleibt. Reden. Ich habe keine Lust mit ihm zu reden. Nun hätte ich doch gern einen Ausschalter, den keiner kennt. Die Finger meiner linken Hand betten sich gegen die Scheibe des Geräts und ich streiche kurz über das kühle Plastik.

„Es hätte so schön sein können mit uns", murmele ich leise dem Automaten entgegen und widerstehe dem Drang einfach meinen Kopf dagegen zuschlagen. Kain räuspert sich und ich atme sichtbar ein.

„Was sollte das eben?", fragt Kain. Ich atme aus.

„Bist du wirklich hier um Abels Kämpfe auszufechten?", frage ich bissig. Kain schnauft.

„Als würdest du deine Angelegenheiten selbst regeln. Du schickst auch Jeff vor..." Daher weht der Wind. Ich habe keine Lust auf weitere Gespräche. Noch einmal atme ich ein, doch ehe ich mich wehren kann, spricht er weiter. "Abel ist alt genug um sich allein zu wehren, aber ich habe mit dem Scheiß angefangen und nicht er." Doch er ist hemmungslos eingestiegen. Ich sehe Kain unbeeindruckt an und versuche dann mich an ihm vorbeizuschieben.

„Schon klar, denn bei Abel würde so ein Scherz eine monatelange Vorbereitung in Anspruch nehmen und dann müsste er ihn sich auch noch aufschreiben." Kain Mundwinkel zucken nach oben. Nur für einen kurzen Moment, aber dennoch deutlich. Danach entsinnt er sich seiner eigentliche Mission und hält mich zurück.

„Heißt nicht eines von Asimovs Gesetzen, dass kein menschliches Wesen wissentlich verletzt oder durch Untätigkeit zu Schaden kommen darf? Das betrifft physischen, wie psychischen Schaden. Sei auf mich sauer."
 

„Kain, der heilige Samariter klingt besser als Kain, der tölpelige Bauer! Keine Sorge, ich bin auf dich sauer." Asimovs Gesetze? Sein ernst? Nicht zu fassen. Ich drücke mich deutlich an ihm vorbei und pfriemele endlich mein Eis aus der Verpackung.

„Verdammt noch mal, was ist eigentlich dein Problem?"

„Menschen sind mein Problem! Trotz meiner gewieften Elektronik verstehe ich einfach ihre Verhaltensweisen nicht", kontere ich angeheizt und lote dabei absichtlich das Roboterthema aus. Ich schiebe mir das Eis zwischen die Lippen und gehe. Kain folgt mir nicht und das ist auch gut so. Im Grunde sind es nicht einmal die Menschen an sich, mit denen ich Probleme habe, sondern die Nähe, die sich zwangsweise entwickelt, wenn man längere Zeit mit denselben Menschen umgeben ist. Sie ist Nährboden für Verlust, Traurigkeit und Enttäuschung. Nichts womit ich gut umgehen kann. Bestes Beispiel dafür ist Jeff. Obwohl ich es mir nicht eingestehen will, bin ich enttäuscht über sein fehlendes Vertrauen und doch werde ich nicht dazu in der Lage sein es adäquat auszudrücken.
 

Am Abend finde ich mich trotz aller Widerstände zwischen einer Ansammlung anderer Menschen wieder. Meine Elektronik kocht, pfeift und schmorrt. Jetzt fange ich auch noch selbst damit an. Der Geruch von Bier und Schweiß ist überall. Zu viele Menschen sind auf zu kleinem Raum zu gegen. Musik dringt laut an mein Ohr. So laut, dass ich meinen Sitznachbarn nicht verstehen kann und das ist besser so. Als er beginnt über Geschöpfe der Nacht zu philosophieren, habe ich sofort ein Bild von Severus Snape aus Harry Potter im Kopf und das nicht nur, weil er eine ebenso gigantische Nase hat. Jeff setzt sich nach einer Weile auf die Lehne neben mir und drückt mir ein Bier in die Hand. Ich trinke es kommentarlos. Vorhin im Zimmer versprach er mir unter Benutzung all seiner Gliedmaßen, dass auch ich Spaß haben werde. Ich mag kein Bier. Bisher ist der Spaßfaktor gleich null.

Ich erkenne nur wenige Gesichter. Jeff und Abel. Die Brünette und die Blonde, die ich öfter im Flur begegne und noch immer nicht weiß, wie sie eigentlich heißen. In einer Ecke sehe ich Kaworu. Ein Kommilitone aus meinem Fachbereich. Er ist Japaner und unweigerlich wandern meine Gedanken zurück zu den Sexpuppen. Ich habe erst letztens eine Reportage gesehen und die Bilder breiten sich gerade in meinem Gehirn aus. Ich nehme einen weiteren großen Schluck aus der Flasche und sehe mich wieder um. Die meisten Anwesenden sind aus unserem Wohnheim und trotzdem kenne ich kaum einen Namen. Ich begegne ihnen nur mal im Flur oder zufällig in den Duschräumen.

Jeff erhebt sich und ich folge seinem Blick zum Eingang der Gemeinschaftsküche. Kain steht samt einem Rothaarigen im Türrahmen. Beide wirken im ersten Moment wie das Klischeepaar schlechthin. Barbie und Ken. Nur, dass sie nicht blond ist und keinerlei Vorbau hat. Sie flüstern kichernd. Ihre Lippen berühren dabei sein Ohr und ich erinnere mich an das Gefühl, wie sein warmer Atem gegen meinen Hals trifft. Das Lächeln auf Kains Lippen wird zu einem Grinsen, als sie sich ein weiteres Mal zu seinem Ohr beugt. Was sie ihm wohl erzählt hat? Ich schüttele unbewusst meinen Kopf. Wen interessiert’s. Als Jeff bei den beiden ankommt, weicht Kain etwas von ihr ab. Der Snapetyp neben mir säuselt 'Vampir' in mein Ohr und ich rieche deutlich seine Knoblauchfahne. Er ist definitiv keiner. Ich lasse mich zurück ins Polster der Couch sinken und seufze lauthals. Der Abend wird eine Katastrophe. Ich bin mir ganz sicher. Ich leere mein Bier ohne abzusetzen und bevor ich es wegstellen kann, drückt mir Snape ein Glas mit einer rötlich-braunen Flüssigkeit in die freie Hand. Er nennt es Bloody Bambi, wiederholt das Wort Bambi mehrere Mal enthusiastisch und schafft es geschlagene fünf Minuten am Stück zu lachen. Während ich ihm dabei zusehe, fällt mir zum ersten Mal auf, dass er Eyeliner trägt. Es ist seltsam passend.

Ich schnuppere an dem Gebräu. Es riecht süßlich und etwas nach Medizin. Meine Augenbraue hebt sich verwundert und dann trinke ich es ohne weiter darüber nachzudenken. Der Drink besteht aus Kirschsaft, Kirschlikör und Jägermeister, wie mir Snape wenig später erklärt. Bloody Bambi passt. Ich habe mich schneller an den Geschmack gewöhnt als ich glaubte. Es ist besser als Bier. Gut, alles ist besser als Bier, wenn man mich fragt.
 

Ein warmer Hauch trifft meinen Hals und im selben Atemzug taucht Jeffs Gesicht neben mir auf.

„Lektion Nummer eins, trink nicht alles, was man dir in die Hand drückt.", säuselt er, drückt mir gleich darauf ein neues Bier in die Hand und setzt sich zurück an seinen vorigen Platz.

„Sir, es tut mir Leid, aber mein Papa hat gerade gesagt, dass ich nichts von Fremden annehmen darf."

„Fein!", erwidert er meine kindliche Ausführung und streichelt mir den Kopf. Gut, dass ich mir nicht die Mühe gemacht habe, mir die Haare zu stylen. Ich streiche mir die Strähnen von der Stirn und sehe zu meinem perfekt frisierten Mitbewohner. Wenn ich gegen seine Mähne tippe, wird sie wahrscheinlich in einem Stück vor sich hin vibrieren. Ich widerstehe dem Drang es auszuprobieren. Zumal ich keine freie Hand mehr habe.

„Auch einen Schluck?" Ich halte ihm sowohl Bier als auch den Mix hin und grinse blöd. Mein Mitbewohner verzieht angewidert das Gesicht.

„Nein, danke...Was ist das?", beäugt er meinen Drink kritisch.

„Ein blutiges Rehkitz. Es schmeckt, wie diese roten Hustenbonbons... gar nicht so übel.", schätze ich ein und nicke übertrieben. Ich nehme einen weiteren Schluck. Jeff rutscht weiter auf die Sitzfläche des Sofas und verdrängt mich damit. Murrend mache ich ihm etwas mehr Platz. Seine schlanken Beine schlagen sich übereinander und er nippt an seinem Bier. Jeff trinkt schon immer das Hopfen-Malz-Gemisch. Bereits damals auf unseren Schulpartys war es stets sein Favorit gewesen und er verträgt viel. Ich kann mir nicht erklären, wo das herkommt und genauso wenig kann ich verstehen, was man an diesem herben Zeug mag. Noch dazu ist Jeff nicht mal der Typ für Bier, da er sonst eher auf süße und fruchtige Sachen steht.
 

Auch Abel folgt Jeff auf die Couch und quetscht sich zu meinem Leidwesen zwischen uns. Missmutig rücke ich zur Seite und damit noch dichter an die Knoblauchfahne heran. Wenigsten muss ich in seiner Nähe keine Übergriffe von Vampiren fürchten. Da soll man mal behaupten, dass mir nichts Gutes passiert. Hinter Abel tauchen auch Kain und die Rothaarige auf. Es wird immer besser. Das Sarkasmusgetier in meinem Kopf schmeißt eine Runde Freibier und wiehert. Wie potenziert sich eigentlich Katastrophe?

„Sieh mal an. Anscheinend hat Jeff wirklich irgendwas gegen dich in der Hand oder ist es der Tatsache geschuldet, dass du, den von einem Menschen gegebenen Befehlen gehorchen musst?", startet Kain das Gespräch als er mich auf der Couch sieht. Er setzt sich zu Snape auf die Sofalehne und grinst. Er hält ein Glas mit hellbrauner Flüssigkeit in der Hand. Vielleicht ist es Whiskey oder Scotch. Ich habe vorhin Jameson und Jack Daniels gesehen. Hartes Zeug und nicht sehr Studenten-like. Ich hätte nicht gedacht, dass Kain auf sowas steht.

„Ehrlich gesagt, habe ich gute Kontakt zu seiner Mama und ich besitze etliche prekäre...", setzt Jeff an und ich unterbreche ihn schnell, in dem ich an Abel vorbei meine Hand auf seinen Mund presse. Automatisch ziehe ich meinen Kindheitsfreund damit in meine Richtung, so dass er sich über Abel lehnen muss. Jeff kichert und das folgende Gemurmel hinterlässt feuchte Spuren auf meiner Handfläche. Mit Händen und Füßen gestikuliert er, zu meinem Erstaunen, Kinderfotos und entkommt letztlich meinem Griff.

„Robin war wirklich ein...", setzt er gleich darauf an und ich stürze mich ohne nachzudenken auf ihn. Jeff flieht kichernd zur Seite und ich lande größtenteils auf Abel. Ich kriege nur Jeffs Beine zufassen, während dieser versucht über die Lehne der Couch zu entkommen. Meine Finger verfangen sich eisern in den Schlaufen seiner Jeans. Er windet sich lachend.

„Na warte,...", sage ich, schaffe es aber nicht ihn zurück auf das Sofa zuziehen. Er entkommt und es dauert einen Augenblick bis ich endlich von Abels Schoss wegrücke. Ich lasse mich schweratmend auf Jeffs Platz fallen und starre meinen giggelnden Mitbewohner scharf an. Unser Blickekrieg wird erst unterbrochen als sich der blonde Puffer schlagartig auf richtet.

„Will noch jemand einen Drink?", fragt Abel hastig und stolpert fast über meine Beine. Kain hebt sein volles Glas in die Höhe und auch Jeff und Kains Freundin verneinen. Auf meine Antwort wartet er gar nicht und verschwindet.

„Ich meine ja nur, dass deine Kinderfotos großartig sind." Noch immer ist Jeff erheitert am Giggeln. Er richtet sich auf und setzt sich wieder neben mich. Ich lasse ihn gewähren. Auch als er mir seinen Arm um die Schultern legt und lächelnd seinen Kopf gegen meinen tippt.

„Robin war sicher ein ganz Süßer.", bestätigt Kain perfide lächelnd, "Schade, dass sich so was verwächst" Die kleine Spitze konnte er sich natürlich nicht verkneifen. Nun kichert auch die Rothaarige und ich schenke ihr einen kurzen bösen Blick, denn sie mit einem abfälligen Schnaufen kommentiert. Kains Name schallt durch den Raum und all unsere Köpfe drehen sich zur Tür, in der ein großer, muskulöser Typ steht. Ein Muskelberg, wie er im Buche steht mit blondierten, gegeltem Haar. Sogar die obligatorische Sonnenbrille klemmt in seinem T-Shirtkragen. Ein wandelndes Klischee. Auf Kains Lippen bildet sich ein ungewöhnlich breites Grinsen. Er springt von der Armlehne und überbrückt die Distanz mit nur wenigen langen Schritten. Die beiden Kerle werfen sich regelrecht in eine Umarmung und unweigerlich blitzt in meinem Kopf die Szene aus der Hobbit auf, als sich Balin und Dwalin freudig mit einem Kopfstoß begrüßen. Ich bin fast enttäuscht als keiner folgt.
 

Während ich die Szenerie beobachte, setzt sich die Rothaarige auf Kains vorigen Platz. Auch sie schlägt ihre schlanken Beine übereinander und schiebt ihren Arm auf die Rückenlehne, so dass er hinter dem Snape-Typ liegt. Ihre langen Fingernägel streichen kratzend über den alten Stoffbezug der Sitzgelegenheit. Ihr Blick wandert von Jeff zu mir. Sie ist stark geschminkt und hinterlässt rote Lippenstiftspuren am Glas als sie einen Schluck von ihrem zuckersüßen Drink nimmt.

„Ich habe gehört, dass du das Tutorium für die Zweitsemester über geholfen bekommen hast... und dass es niemand besucht." Sie streicht sich durch die lockige Haarpracht, als sie ihre Stichelei formuliert. Einzelne Haare verfangen sich in dem üppigen Ring ihrer Hand. Sie nimmt einen weiteren Schluck und leckt sich über die roten Lippen. Ich lehne mich entspannt zurück.

„Vielleicht solltest du mal vorbeischauen. Ich habe nämlich gehört, dass du letztes Semester durch die Biochemieklausur gerasselt bist." Ich gehe nicht unbewaffnet in diesen Kampf und das soll sie wissen.

„Ich wüsste nicht, was du mir beibringen könntest", spottet sie mir verächtlich entgegen, wischt sich mit dem Daumen über die Lippen und verschmiert dabei etwas von ihrem Lippenstift. Danach betrachtet sie kurz ihre manikürten Fingernägel.

„Mit den Dingen, die du nicht weißt, kann man den Grand Canyon füllen.", kommentiere ich trocken und bin diesem Gespräch bereits müde.

„Oder den Marianengraben", mischt sich Abel lachend ein. Ich habe nicht gemerkt, dass er zurückgekommen ist. Statt Gelächter erntet er einen Ellenbogenhieb von Jeff.

„Mach was du willst.", ergänze ich Abel ignorierend. "Vermutlich lebst du die Taktik ´Weniger ist mehr`. Allerdings solltest du bei deinem Make up beginnen und nicht bei der Bildung. Rot steht Rothaarigen einfach nicht.", lege ich nach, höre, wie Jeff neben mir zischend die Luft einzieht und Abel zu kichern beginnt. Selbst Snape deutet ein seltenes schiefes Lächeln an. Auch an ihn habe ich nicht mehr gedacht. Kain taucht hinter ihr auf. Er schmunzelt fröhlich, also hat er nichts von unserem Gespräch mitbekommen. Bevor er etwas sagen kann, wird er von ihr mitgerissen. Ich habe fast etwas Mitleid. Sie verschwinden beide in der Menschenmenge und die Musik wechselt von chillige Smooth-Jazz zu einem Techno-Remix. Das Hochgefühl des kleinen Sieges hält nur kurz an.

„Alter, das war böse. Du magst sie nicht, oder?", fragt Abel, nachdem sich alle etwas beruhigt haben.

„Sie ist zu empfindlich", sage ich lapidar und ignoriere die Blicke meines Kindheitsfreundes, die mich mahnend durchbohren. In meinem Kopf spulen sich ein paar der Ansprachen ab, die mir Jeff im Lauf der Jahre zukommen lassen hat. Ich kann sie auswendig. Sei nicht immer so unfreundlich. Sei aufgeschlossen, denn so kommst du nicht weiter. Niemand will ein grimmiges Gesicht sehen. Bla bla bla. Bevor er mit einer weiteren Modifikation anfangen kann, stehe ich auf und fliehe. Ich schnappe mir mein halbleeres Bambiglas und verschwinde zur „Bar". Bei der Küchenzeile treffe ich auf Kaworu. Der zierliche Japaner lädt mich prompt in die Diskussion ein, die er mit weiteren Fachgebietskommilitonen hat. Ein junger schlaksiger Mann mit sackartigen Ökoklamotten. Ich würde die Tantiemen meines nächsten Romans darauf verwetten, dass die bräunlich schäumende Flüssigkeit in seinem Glas kein Bier ist, sondern eines dieser Modegesöffe. Mate? Ich habe keine Ahnung, denn ich war noch nie sehr trendy. Ihre Diskussion befasst sich mit einer Forschungsarbeit über evolutionärer konservierter Abwehrmechanismen gegen Viren aus dem Max-Planck-Institut. Auch ich habe den Artikel überflogen, habe aber keine vertretbare Meinung dazu. Gerade als ich beschließe, mich nicht weiter in die Diskussion einzubringen und mich davonzustehlen, werde ich dazu gezwungen. Kaworu hält mich eisern zurück und ich verschütte etwas Kirschlikör. Ich lecke mir die fruchtige Flüssigkeit von den Fingern, als ich erneut angestoßen werde. Diesmal von hinten. Kains Kumpel steht neben mir und vergnügt sich mit der Whiskeyflasche. Meine Augen richten sich auf seinen massiven Arm, der mich gerade angerempelt hat. Garantiert ist nicht alles so groß an ihm und ihm das zusagen, liegt mir gerade auf der Zunge. Ich bin dankbar als mich Kaworu zurück in die Debatte zieht und mir damit vermutlich ein blaues Auge erspart.
 

Es ist nicht gut direkt neben dem Alkohol zustehen. Nach einer oder vielleicht auch zwei Stunden habe ich den Überblick über die Anzahl meiner Getränke verloren und ich merke es deutlich. Mein Kopf ist schwer. Mein Gehirn weich und meine Antworten kommen verzögert oder zu schnell. Ich bin mir nicht sicher. Auch die sticke Luft trägt dazu bei, dass mein Gehirn immer langsamer läuft. Mittlerweile sind wir von wissenschaftlichen Themen zu Klatsch und Tratsch gewechselt. Ich kann kaum mitreden und zu dem verärgert mich die Tatsache, dass ich dank meines Betrunkenseins viele der Informationen interessant und witzig finde. Ich ertappe mich dabei zu lachen als Kawuro erzählt, dass er Professor Wellers dabei erwischte, wie er sich mit einem anderen Kollegen angeregt über Brustwaxing unterhielt und meinte, dass das erste Mal eine Offenbarung gewesen sei. Es wird Zeit für mich zu gehen.

Kurz sehe ich mich nach Jeff um, da ich wenigstens ihm Bescheid sagen will oder eher muss. Irgendwann war ich von einer Feier verschwunden und musste mir am nächsten Tag einen zweistündigen Vortrag von ihm anhören, dass ich mich abzumelden habe, weil er sonst der Vorstellung erliegt, dass ich totgefahren irgendwo im Graben liege. Er ist schrecklich theatralisch und meine Kommentare darüber, dass ich kein Wildtier bin, habe wenig geholfen. So viel zum blutigen Rehkitz.

Ich entdecke ihn zusammen mit Abel an einem der aufgestellten Stehtische. Abel flüstert Jeff etwas ins Ohr. Sicher könnte ich sehen, wie sich Gänsehaut an seinem Hals bildet, wenn ich näher wäre. Kitzelnd. Kribbelnd. Es wäre ein Prickeln, welches sich über seine Haut zieht, wie Sekt, der auf der Zunge tanzt. Jeff nickt enthusiastisch und dann treffen sich ihre Lippen. Es ist das erste Mal, dass ich sehe, wie sie sich küssen. Jeffs Augen sind geschlossen und er scheint es wirklich zu genießen. Seine Finger berühren Abels Nacken, streichen über den Ansatz seiner Haare und gleiten vollends in dessen dichte Haarpracht. Er lächelt in den Kuss, während ihn Abel dicht an sich heranzieht. Die Bewegung ihrer Münder wird stetig leidenschaftlicher. Sie ertasten und erschmecken einander. Ich kann die Hitze förmlich sehen, die sich zwischen ihnen entwickelt und fühle mich zusehends unbehaglich. Für mich sind Küsse intimer als Sex und ich habe es noch nie gern in der Öffentlichkeit gemacht.

Ich fühle mich unwohl, weil ich sie so schamlos dabei beobachte und wende meinen Blick ab. Meinen heftig vibrierenden Puls kann ich nicht so leicht ignorieren und zu meinem Leidwesen wirkt es sich langsam auf meinen gesamten Körper aus. Wieder atme ich auffällig tief ein und sehe mich im Raum um. Meine Augen bleiben bei Kain und seine Rothaarige hängen. Auch sie stehen in einer Ecke, dicht beieinander. Doch sie scheinen zu diskutieren. Ihre Körperhaltung spricht Bände. Merenas ist offensiv und aufgebracht. Kains hingegen defensiv, aber dennoch nicht zurückhaltend. Wieder habe ich fast etwas Mitleid mit Kain, weil er sich dieser Furien ausgesetzt sieht. Aber nur fast und dank meines Alkoholpegels auch nur wenige Sekunden lang.
 

Mit einem Mal dringt '1000 Kisses' von Will Smith an mein Ohr und das nehme ich als endgültiges Stichwort um wirklich zu gehen. Scheiß auf das Bescheid sagen. Diesmal kann mir Jeff nicht mit dem Grabenbild kommen, denn ich muss nicht mal das Haus verlassen, sondern lediglich heil die Treppe überwinden.

Ich meistere es erstaunlich gut. Nur zweimal mache ich stoppe und kralle mich am Handlauf fest. Die Architekten haben definitiv Wellen eingebaut, die mir jetzt zum Verhängnis werden. Es ist eine Weile her, dass ich derartig viel getrunken habe. Ich bin nichts mehr gewöhnt und laufe daher sehr langsam den Gang entlang. Ich greife mehrere Male demonstrativ an den Lichtschaltern vorbei als ich das Licht anschalten will. Doch geht es plötzlich an. Huch! Ich drehe mich verwundert im Kreis und schätze sofort ein, dass das eine sehr dumme Idee war. Ich taumele gegen die nahliegende Wand, bleibe einen Moment stehen und schließe die Augen. Die Wand kichert. Seit wann können Wände kichern? Ich drücke mein Ohr dicht ran. Das Kichern wird lauter und kommt näher. Ich blicke mit nur einem geöffneten Auge auf und sehe wie zwei Mädels auf mich zu kommen. Als sie vor mir stehen bleiben, erkenne ich sie. Die Brünette hat ihre Haare hochgebunden, so dass ihr schmales, aber durchaus hübsches Gesicht besser zur Geltung kommt. Sie beugt sich zu mir und mustert mich. Ich versuche halbwegs klar auszusehen und mich nebenbei zu sammeln. Keine leichte Aufgabe. Ein verschwörerisches Lächeln legt sich auf ihre Lippen und wieder ertönt das helle Kichern. Ich sehe von ihr zu ihrer Freundin. Die Blonde trägt große Locken, die perfekt zu ihrem puppenhaften Gesicht passen und ihre wimperngerahmten Augen betonen. Ob die Wimpern echt sind? Automatisch hebt sich meine Augenbraue.

"Hi. Du bist Biologe, oder?", fragt mich die Blonde und lächelt.

"Biochemiker", korrigiere ich automatisch.

"Noch besser", kommentiert die Braunhaarige klatscht in die Hände und macht einen auffälligen Schritt auf mich zu. Nun steht sie direkt vor mir. Ihre Augen sind grün. Dann legt sie mit einem Mal ihre Lippen auf meine. Meine Hand liegt noch immer an der Wand und ich balle perplex zur Faust. Was passiert hier? Sie löst den Kuss mit einem lauten Schmatz und lächelt.

"Danke sehr.", flötet sie und streicht mir mit ihren manikürten Fingern über die Haare. Nun rege ich mich doch.

"Was soll das?", frage ich überrumpelt und stelle entsetzt fest, dass ich doch lalle, weil das S ein bisschen wie ein F klingt.

"Wir sammeln nur ein paar Punkte", antwortet die Blonde zuckersüß und klingt dabei so als würde es alles erklären. Sammeln? Punkte? Ehe ich etwas erwidern kann, steht auch sie vor mir und ich spüre ihre Hand an meiner Schulter. Sie drückt mir ihre Lippen auf. Ich kurz sehe in malerisches Blau, dann schließen sich ihre Lider und ich schmecke den Lipgloss, den sie trägt. Als sie sich entfernt, streiche mir automatisch das klebrige Zeug von den Lippen und lasse ein angeekeltes Ächzen folgen. Lipgloss ist blöd. Ich starre entrüstet auf den glänzenden Rückstand auf meinem Zeigefinger und dann zu der Blondine vor mir. Das leise Klicken neben mir bekomme ich gar nicht wirklich mit. Das Blut in meinen Venen ist zu laut und dröhnend.

"Weißt du, dass ich dich echt süß finde", flüstert sie mir neckend entgegen und schlingt ihre Arme um meinen Hals. In meinem Kopf dreht sich alles. Es ist dem Alkohol geschuldet, dass ich reagiere, wie ein Faultier. Ich greife mit entsetzlicher Langsamkeit nach ihren nackten Oberarmen. Ihre Haut fühlt heiß und weich an. „Selbst dieser grimmige Blick ist sehr süß", flüstert sie und ich hadere mit der Realität.

"Lass das...Was soll das Ganze?", frage ich erneut, doch diesmal klingt meine Stimme etwas gefestigt.

"Sagte ich doch", antwortet sie keck. Sie lehnt sich selbst gegen die Wand, zieht mich mit und küsst mich erneut. Diesmal ist es kein lapidarer Kuss. Kein Schmatzer. Ich spüre ihre warme Zunge, schmecke die faden Reste süßen Likörs. Ihre Zunge ist flink und einnehmend. Mein Körper reagiert, auch wenn ich es gar nicht will. Mein Gehirn ist so langsam, doch ich fange an mich zu wehren. Ich versuche mich von ihr wegzudrücken, in dem ich meine Hände gegen die Wand stemme, doch sie hält mich eisern umschlungen.

"Sina, was machst du da?", vernehme ich eine bekannte männliche Stimme und das trotz des Rauschens in meinen Ohren, "Ihr habt schon mitbekommen, dass er das nicht will" Ich merke, wie sie mich loslässt, doch weil ich mich noch immer aktiv von der Wand wegdrücke, wirkt die Schwerkraft und ich gehe zu Boden. Physik ist scheiße.

"Au!", entflieht mir murmelnd als sich Schmerz über mein Steißbein arbeitet. Ich höre Schritte und dann erkenne ich Schuhe neben mir, die ich meinem Mitbewohner zuordnen kann. Als ich endlich aufsehe, erkenne ich auch Kain. Jeff hilft mir auf und die beiden Mädels beginnen unbeeindruckt zu kichern.

"Wir sammeln doch nur ein paar Punkte", sagt Sina beschwichtigend. Kati nickt. Sammeln? Ich schnalle es noch immer nicht und schaue dementsprechend bedröppelt drein.

"Soweit ich weiß, reicht dafür ein herkömmlicher Kuss. Also, warum reißt du ihm fast die Kleider vom Leib und das im Flur?", fragt Kain weiter und wirkt irgendwie verstimmt.

„Aber echt, nehmt euch das nächste Mal ein Zimmer", witzelt die Brünette kichernd und erntet einen mahnen Blick von Kain und ein Glucksen ihrer Freundin. Jeff seufzt. Ich versuche nicht wieder umzufallen.

"Nicht hilfreich, Kati", mischt sich nun auch Jeff ein. Sina beißt sich auf die Unterlippe und lächelt verschmitzt.

„Herrje Jungs, beruhigt euch. Es war doch nur ein Kuss und es ist ein harmloses Spiel. Ich bin ihm ja nicht an die Hose gegangen." Unwillkürlich schaue ich runter zu meinem geschlossenen Hosenknopf.

"Ihr habt es, aber übertrieben und das ist nicht Sinn des Spiels. Also wenn ihr das noch mal macht, verpetze ich euch.", gibt Kain ernst von sich und schaue ihn verwundert an.

"Spielverderber", kommentiert Sina diese Erziehungsmaßnahme und schaut im nächsten Moment bereits zu Jeff.

"Du bist Geologe, oder?" Der Angesprochene nickt verwirrt. Nach nur wenigen Sekunden hat auch er zwei fremde Münder im Gesicht. Danach schießt Kati ein Bild von Jeff. Das war das Klicken. Die beiden Frauen nehmen sich bei der Hand und ziehen davon. Kain haben sie nicht geküsst und das ist für einen Augenblick lang, dass einzige, was wiederholt durch meinen Kopf schwirrt. Wieso nicht? Kain sieht den beiden Frauen nach und beißt sich auf die Unterlippe, ehe er sich eine Strähne seines dunklen Haares zurück streicht. Wahrscheinlich haben sie ihn längst geküsst und damit ihre Punkte gesammelt.

"Immer dieser Ärger mit diesen verrückten Weibern", murmelt Kain und verdreht die Augen. Nicht so gekonnt, wie Jeff, aber nah dran.

"Ich kann mich übrigens allein wehren", lalle ich daraufhin. Etwas Sinnvolleres fällt mir gerade nicht ein.

"Hat man eindrucksvoll gesehen.", kommentiert er trocken, "Nach Asimov solltest du doch in der Lage sein deine Existenz schützen können, oder?" Schon wieder der Robotermist. Ich wackele als Antwort mit meinem Kopf, äffe ihn nach und bereue die schnelle Bewegung sofort. Jeff murmelt Kains Namen und hakt sich dann bei mir unter.

"Was ist das für ein Spiel?", will ich wissen, während sie mich zu unserem Zimmer ziehen.

"Ach, das ist so ein schwachsinniges Verbindungsding. Die Mädchen müssen in einer Woche so viele Studiengänge, wie möglich küssen", erklärt Jeff, "Und mit dir haben sie gleich dreifache Punkte. Bio, Chemie und Biochemie", giggelt Jeff weiter und ich sehe ihn dämlich an.

"Aber das stimmt nicht", sage ich und verschlucke dabei die Hälfte der Endungen.

"Die nehmen das nicht so genau und machen sich einfach nur einen Spaß daraus. Dämlicher Scheiß", motzt Kain und nimmt einen Schluck aus seiner Bierflasche, die er in den Händen hält. Langsam frage ich mich, warum er hier ist und nicht bei der Party oder bei seiner Freundin. Er sieht unzufrieden aus.

„Was hat ihm die Laune verhagelt?", flüstere ich Jeff zu, bin dabei aber so laut, dass sich Kain im Laufen zu uns umdreht, finster guckt und weiter geht.

„Du hast Merena die Laune verhagelt und sie ihm", erklärt Jeff lapidar und ohne ins Detail zugehen.

„Wem habe ich...was? Oh." Jeff meint die Rothaarige. Ich spüre schon jetzt, wie ihr Name aus meinen Gehirnwindungen entgleitet. Nichts zu machen. Ich merke mir das nicht. Wahrscheinlich hat sie sich direkt bei Kain darüber beschwert, wie fies und gemein ich gewesen bin. Aber das erklärt nicht, warum er hier ist? Ich merke gar nicht, dass ich stehen geblieben bin bis ich Jeffs Hände in meinem Rücken spüre und er mich angestrengt weiterschiebt. Meine Schuhe habe so wenig Grip, das ich tatsächlich ein paar Meter nicht laufen muss und dann erst stolpere. Kain ist unbeirrt weiter gelaufen und wartet vor unserem Wohnheimzimmer.

„Lass Kain nicht warten, wegen dir hat er heute keinen Sex gekriegt. Sei ausnahmsweise mal lieb, ja?", murmelt Jeff in mein Ohr und drückt seine Hände fester in meinen Rücken.

„Wann bin ich nicht lieb?", entgegne ich empört und laut. Ich grinse meinem Mitbewohner betrunken entgegen und ignoriere Kains Blicke. Mittlerweile hat er die Arme vor der Brust verschränkt und Jeff stoppt erst als ich fast gegen ihn pralle.

"So, Kain pennt heute bei dir. Seid artig!" Jeff gibt mir einen Klaps auf die Schulter, der härter ist, als es aussieht und tippt unseren Türcode ein. Ich jammere empfindlich auf und frage mich, warum Kain sich nicht selbst reingelassen hat. Beim letzten Mal hat es ihm schließlich auch nichts ausgemacht.

„Ach wundere dich nicht, aber Robin quatscht beim Schlafen, wenn er besoffen ist." Mit diesem Hinweis dreht sich mein eigentlicher Mitbewohner um und verschwindet. seine Schritte verhallen in dem leeren Flur und ich sehe ihm nach. Ich bin zu müde, um zu reagieren oder in irgendeiner Weise zu protestieren. Kain hält mir die Tür auf und ich torkele zu meinem Schrank.

"Ich gehe eben... putzen", sage ich schwerfällig, greife nach ein paar frischen Klamotten und wanke aus dem Zimmer. Kains Blicke ignoriere ich geflissentlich. Auch seine Frage, ob ich wirklich dazu in der Lage bin. Auf dem Flur bleibe ich stehen und atme kurz durch. Zu meinem Glück sind die Waschräume nicht allzu weit entfernt und das kühle Wasser in meinem Gesicht tut mir seltsam gut. Auch, wenn es den Alkohol nicht aus meiner Blutbahn tilgt. Um dennoch etwas dagegen zu wirken, nehme ich ein paar große Schlucke direkt vom Hahn. Entgegen meines eigentlichen Vorhabens mich zu beeilen, lasse ich mir Zeit. Das kühle Wasser hilft. Langsam, aber stetig. Die pfefferminzige Zahnpasta zaubert mir etwas Zufriedenheit ins Gesicht und ich gehe zurück. Vor dem Zimmer bleibe ich noch mal kurz stehen und versuche mich zu wappnen. Schon wieder Kain. Ich winke der Chance auf eine geruhsame Nacht gedanklich hinterher und bin froh, dass niemand in der Nähe ist, der sieht, dass ich nicht nur gedanklich winke.
 

Als ich die Tür öffne, präsentiert sich mir das gleiche Bild, wie vor ein paar Tagen. Kain sitzt vor meinem Rechner. Der Bildschirm ist hell erleuchtet und Dokument geöffnet. Das feuchte Handtuch in meiner Hand fällt zu Boden. Ich spüre, wie mich ein Schauer erfasst, doch diesmal bin ich nicht so perplex, wie beim letzten Mal. Diesmal reiße ich ihn an der Schulter zurück. Scheiß auf Asimov. Jetzt gibt es Tote.

Rotkehlchen und der böse Wolf

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Das Schreiben der Lämmer

Kapitel 7 Das Schreiben der Lämmer
 

Ich rauche die Zigarette in nur wenigen Zügen komplett auf und beginne dabei den Ball vor meinen Füßen zu dribbeln. Das Tippen des Balls auf den Boden und das stetige Geräusch, welches entsteht, beruhigen mich bereits. Ein Hoch auf die Selbst-Konditionierung.

Es befinden sich noch andere Studenten auf dem Sportplatz. Ein großer dunkelhaariger Typ zieht seine Kreise auf der Aschenbahn. Schnell. Dynamisch. Ein gleich bleibendes Tempo. Zwei jungen Frauen mit weniger sportlichen Ambitionen joggen quatschend im Kreis. Ich schnipse den Stummel der Zigarette in die Büsche und sehe ich mich ad hoc um in der Annahme, dass Micha plötzlich hinter mir auftaucht und mich wegen der Müllverbreitung rügt. Nichts. Wie beruhigend. Meine Wahnvorstellungen betreffen also nur eine Person. Mal davon abgesehen, dass Micha eigentlich Recht hat. Ich öffne meine Strickjacke und dehne mich, bevor ich mit den ersten Würfen beginne.

Dribbeln. Wurf. Dribbeln. Dunking. Dribbeln. Ich bewege mich über das gesamte Feld und gerate zusehends außer Atem. Ich spüre, wie meine Muskeln anfangen zu brennen, wie meine Hüfte meckert und stelle dennoch mit Zufriedenheit und Freude fest, dass ich erstaunlich zielsicher bin. Nach einer Weile belasse ich es bei Würfen aus verschiedenen Distanzen, gönne meinen Körper etwas Ruhe und lauf dem Ball nur hinterher, wenn er wieder erwartend in eine ganz andere Richtung rollt. Ein guter Drei-Punkte- Wurf. Der Ball rollt leger und kontrolliert von meinen Händen. Mit jedem weiteren Wurf spüre ich, wie mein Gehirn abschaltet und ich mich nur noch der Aktivität hingebe. Ein paar In-n-out's. Ein Sprung und ein weiterer Wurf, der diesmal perfekt sitzt. Ich sammele den Ball wieder ein, lasse ihn gekonnt auf meinem Finger rotieren und werfe erneut. Danach powere ich mich weiter aus und diesmal richtig. Ich genieße die Ruhe in meinen Kopf und summe einfach nur die abgespielten Lieder aus meinem Player mit. Es ist wohltuend. Es ist genau das, was ich brauche.
 

Bis 'Apologize' von One Republic in meinen Kopfhörern erklingt. Ein Tritt in den Arsch. Der nächster Wurf geht so akkurat daneben, dass es mir fast wehtut und das nur, weil ich sofort an meinen Mitbewohner denken muss. Der Ball prallt vom Brett ab und rollt in die hintere Ecke des Feldes. 'That it's too late to apologize, it's too late', ertönt es weiter und ich seufze schwermütig. Ich nehme mir vor, meine Playlist auszumisten und diesen grausigen Weichspülerkram ein für alle Mal zu verbannen. In der letzten Zeit habe ich das erstaunliche Glück, dass sich die Musik meinen momentanen Situationen anpasst. Ein Wink mit dem Zaunpfahl? Ich perfektioniere einfach meine Talente zum Thema Ignoranz. Ich ziehe mir die Kopfhörer vom Kopf, weil ich das Gefühl habe, dass meine Ohren darunter immer heißer werden. Ich reibe mir über beide Seiten und trete murrend gegen den Ball. Er prallt gegen das abschirmende Gitter und rollte zu mir zurück. Das laute Geräusch, welches das Gatter verursacht, lässt einige der anderen Studenten zu mir sehen. Ich greife mir den Ball, klemme ihn mir unter den Arm und ziehe mein Handy aus der Tasche. Wie von selbst öffne ich den Chat von Jeff und mir und tippe eine Entschuldigung. Ich sende sie aber nicht ab. Verdammter Stolz. Ich hätte Jeff nicht so angehen dürfen, das weiß ich sehr wohl, aber er nervt mich mit seinen ständigen Versuchen mich zu integrieren. Langsam sollte er wissen, dass mir daran einfach nichts liegt und selten jemand meine Anwesenheit wünscht.

Ich werde einsam sterben, hallt es in meinem Kopf und ich fantasiere einen Sensenmann, der eine Dose mit der Aufschrift 'Mitleid' in den knochigen Fingern hält. Als er sie öffnet, dringt ein kurzes, amüsiertes 'OH' heraus. Als es gleich darauf endet zuckt die Gestalt mit ihren schwarzbemantelten Schultern. Ganz kalt lässt mich der Gedanken dennoch nicht. Ich trete ein letztes Mal gegen den Ball und nutze ihn stellvertretend für die bescheuerte evolutionäre Entwicklung des Menschen und die damit einhergehende Notwendigkeit von gesellschaftlichen Zusammenschlüssen. Jeffs Stimme ertönt in meinen Kopf, die mir wie immer erklärt, dass ich auch nur ein Mensch bin und ich raufe mir die Haare.
 

Ich ignoriere die fragenden Blicke der anderen Studenten, die meinen kleinen Trotzanfall mitbekommen haben. Selbst der junge Mann, der auf dem Sportplatz energische seine Runden drehte, ist stehengeblieben und sieht, mit in die Seite gestützten Händen zu dem Ort des Kraches. Er hat eine ähnliche Statur wie Kain, ist aber etwas kleiner und vermutlich auch weniger egoman. Wieso denke ich schon wieder an Kain? Die Abbildung des Todes in meinem Kopf klatscht und lacht mir mit im Schatten verstecktem Gesicht zu. Der Gedanke an den anderen Mann verursacht mir ein gewaltiges Magengrummeln und ein Gefühl, welches ich nicht definieren kann. Es macht mich mürbe, weil ich es nicht bestimmen kann. Das alles sind weitere Aspekte gegen Gesellschaft. Menschen verunsichern mich. Kain verunsichert mich. Seine Reaktion. Seine Worte. Die Tatsache, dass ich den Sex mit ihm mehr als genossen habe. Alles.

Und wieder wird mir deutlich, dass Jeff keine Schuld trifft und er nur erneut Opfer meiner Unzulänglichkeiten geworden ist. Wie so oft. Als auch noch Bruno Mars mit 'Count on me' einsetzt, ist es aus. Mein schlechtes Gewissen treibt mich vom Sportplatz in die Stadt. Mit dem Ball unter dem Arm betrete ich eines von Jeffs Lieblingsgeschäften und sehe mich um. Vor ein paar Wochen waren wir hier vorbeigekommen und mein, nun langsam eindeutig schwuler Mitbewohner jammerte mir eine halbe Stunde die Ohren voll, nachdem er zum wiederholten Male einen Pullover sah, den er sich nicht leisten konnte. Für gewöhnlich durchwandern solche Tiraden meine Gehörgänge fließend, aber diesmal blieb ein Fitzelchen wegen seines nahenden Geburtstags hängen. Ich brauche ein paar Anläufe bis ich das Exemplar wiederfinde und weiche auf meiner Suche gekonnt drei penetrant hilfsbereiten Mitarbeitern aus. Sie beäugen mich kritisch und frage sich zu Recht, weshalb jemand mit meinen Klamottenstil einen Fuß in den Laden setzt. Es mangelt mir an Stilbewusstsein und weiß es auch. Nur, wie vieles ist es mir schlichtweg egal. Klamotten müssen nur eine Funktion erfüllen und alles andere ist optional.
 

Am frühen Abend betrete ich ein leeres Zimmer. Ich hab es nicht anders erwartet. Leise seufzend werfe ich die Tüte mit dem gekauften Wogen-glätten-Pullover auf Jeffs Bett, kritzele ein Sry auf einen Zettel und lege ihn oben drauf. Für die fehlenden zwei Buchstaben des bedeutungsschweren Wortes habe ich schon keinen Nerv mehr. Lange Entschuldigungen waren noch nie meine Stärke und werden es auch nie werden. Egal, ob es klappt oder nicht, mein schlechtes Gewissen hat es beruhigt. Ich lasse mich an meinen Schreibtisch nieder, öffne die Zusammenfassung, die ich bereits vor ein paar Tagen für Shari geschrieben habe und entwerfe eine Weitere mit dem neuen Thema nach demselben Schema. Im Grunde sind es hübsche kleine Lernschemata mit zusätzlichen Herausforderungen in Form von kleinen Denkaufgaben. Niemand hat gesagt, dass ich es einfach halten muss. Noch dazu ist es auch für mich eine gute Wiederholung.

Doch irgendwann schweifen meine Gedanken ab. Ich lehne mich auf dem Stuhl zurück, lasse meinen Kopf nach hinten fallen und schließe die Augen. So sehr ich mir auch einrede, dass mir das Ganze mit Kain gleichgültig ist, so sehr irritiert mich noch immer dieses seltsam aufgeregte Gefühl, welches sich in meinem Körper hält. Es kribbelt tief und intensiv. Die Leidenschaft, betrunken oder nicht, hatte mir gefallen. Das Gefühl seiner fordernden, wissenden Hände auf meinem Körper war angenehme Überraschung. Ich schließe die Augen und so gleich hallen die von ihm verwendeten Worte durch meinen Kopf, die ich selbst geschrieben habe. Das Raunen. Das tiefe Wispern. Er hat mit mir gespielt und ich bin mir sicher, dass er es bewusst getan hat.
 

Ich versuche mir vorzustellen, wie ich eine solch verzwickte Lage in meinen Romanen lösen würde und komme auf keinen grünen Zweig. Trotz einer mentalen Auflistung all meiner Romanpaare und ihrer Eigenarten und der Konstruktion einer ähnlichen Szene, habe auch noch gründlichem Grübeln keine adäquate Lösung. Alles endet in den rosaroten Zuckerwattewolken, die mein Gehirn verpesten und ohne Frage nicht in die Realität übertragbar sind. Kein gutes Zeichen. Ein Autor sollte in der Lage sein das gesamte Spektrum der menschlichen Gefühle darzustellen, sollte verschiedene Charaktere kreieren und deren Verhalten typgerecht modellieren. Auch solche, die nicht dem eigenen Naturell entsprechen. In meinem Fall entspricht keiner der Charaktere meinem eigenen Naturell und genau das macht es zum Problem. Allerdings ist es gar nicht so einfach Figuren zu entwickeln, die einen gewissen Wiedererkennungswert haben ohne die ständig auftretenden Plattitüden und Klischees. Reiche Kerle sind immer Arschlöcher. Arme immer naiv und träumerisch. Ich kenne genügend arme Arschgeigen. Viele meiner Charaktere sind Stereotypen und das nur, weil es in der breiten Masse so gewünscht ist. Sie folgen einem gewünschten Schema, welches bestimmte Gefühlsregungen im Leser hervorruft. Das schüchterne Mädchen, welches beim bösen Jungen nichts weiter als das Bedürfnis zu beschützen auslöst. Ebenso beim Leser, der förmlich erwartet, dass es zu errettenden Situationen kommt. Harte Schale. Weicher Kern. Natürlich lässt sich das Ganze auch umdrehen, in dem das taffe, abgeklärte Mädchen auf einen Kerl trifft, der ihr deutlich macht, was wahre Liebe ist. Verständlicherweise unter Komplikationen und Umwege, aber letztendlich steht er zu ihr egal, wie sehr sie jeden normal denkenden Menschen nervt. Fortsetzen kann man es mit der naiven Unschuld, die sich zuerst in den falschen Typen verliebt, um zu verstehen, dass die Liebe ihres jungen, unbedarften Lebens längst an ihrer Seite gewesen ist. Als bester Freund oder Freund der idealisierten Kindheit. Diese Figurenkonstellationen sind so vielfältig, wie die Kelly Family und auch genauso altbacken und farblos. Es ist so absurd und doch habe ich zu jedem dieser Fälle ein Buch parat. Ich hasse mich selbst dafür.

Ich starre eine Weile an die Decke und bin mit meinem Problem kein Stück weiter gekommen. Wahrscheinlich ist es das Beste das Ganze als das zu nehmen, was es ist. Sex. Nichts weiter. Nur Sex. Eine reine körperliche Ertüchtigung mit dem Austausch von Körperflüssigkeiten. Sex halt. Guter und sehr befriedigender Sex, sagt eine kleine Stimme in meinem Kopf und mein Körper erschaudert im passenden eloquenten Rhythmus. Soviel zu der Hoffnung, dass sich die Fantasien damit erledigt haben. Ich richte mich ruckartig auf, schiebe die Gedanken beiseite und lasse mich auf mein Bett fallen.
 

Ich schlafe ein ohne daran zu denken den PC auszumachen und erwache mit dem Kopf am Fußende des Bettes. Die Perspektive irritiert mich. Obwohl ich von allein wachgeworden bin, habe ich das Gefühl nicht richtig in die Gänge zu kommen. Ich brauche Ewigkeiten um mich umzuziehen und doppelt so lange um meine Sachen zusammenzusuchen. Ich drucke ein Exemplar der Zusammenfassungen für Shari aus und schiebe meinen Laptop in den Rucksack. Draußen krame ich mir eine Zigarette aus der Packung und seufze genervt als mein Handy zu klingeln beginnt.

"Nein", sage ich knapp und klemme mir das Telefon zwischen Schulter und Ohr, während ich versuche meine Zigarette anzuzünden. Es kommen nur kleine Funken aus dem Feuerzeug, aber keine Flamme.

"Nein? Egal, guten Morgen Baiserschmankerl. Welch freudige Überraschung, dass du gleich rangehst", flötet mir Brigitta entgegen. Ihre Worte untermalt mit einer summenden Melodie. Obwohl ihr meine negierende Begrüßung aufgefallen ist, scheint sich meine Lektorin nicht daran zu stören. Ich habe auch nichts anderes erwartet.

"Hätte ich aufs Display geschaut, hätte ich dich ignoriert", murmele ich monoton und nehme nach dem dritten gescheiterten Versuch den Glimmstängel aus meinem Mund. der Tag ist jetzt schon zum Kotzen. Wehe es gibt nachher in der Mensa keinen Pudding.

"Schnuckelspatz, das trifft mich gar nicht", kommentiert sie meinen haltlosen Ekelversuch. Schnuckelswas? Das ist neu. Es gefällt mir nicht. Sie nutzt mein verstörtes Schweigen sofort aus.

"Ich bin heute Nachmittag in der Stadt und würde gern mit dir die Korrekturen besprechen und eventuell noch ein paar Sachen redigieren. Kriegst du mich in deinen vollgepackten Terminkalender unter?"

"Habe ich eine Wahl?", frage ich und taste meine Taschen nebenbei nach einem anderen Feuerzeug ab. Das Glück ist mir nicht hold. Ich gebe es auf und betrete das Hauptgebäude der Uni.

"Nicht, wenn du weiterhin bei uns Veröffentlichen willst." Ich hab es geahnt. Im Flur kommt mir eine riesige Studentenmenge entgegen. Sie scheinen alle gleichzeitig aus einem Hörsaal gekommen zu sein und drängen sich rücksichtslos und lautquatschend in den Gang. Die Lautstärke ihrer Gespräche verhindert, dass ich Brigittas Zeitvorschlag verstehen. Eine Hand streift meine Hüfte. Ein Rucksack trifft mein Schulterblatt und dann prallt eine fremde Schulter gegen meine. Das Handy fällt mir aus der Hand und geht scheppernd zu Boden.

"Heeey, du Vollpfeife, pass doch auf...", rufe ich aufgebracht, kann aber die Person, die mich angestoßen hat nicht mehr ausmachen. Knurrend bücke ich mich nach dem Telefon. Die Abdeckung des Akkus hat sich gelöst, aber zu meiner Verwunderung ist das Gespräch mit Brigitta noch immer aktiv.

"Robin?", fragt eine weibliche Stimme hinter mir, bevor ich meiner Lektorin eine Erklärung abliefern kann. Shari greift nach meinem Arm. Die schöne Inderin lächelt mir freundlich entgegen und ich deute ihr an, dass sie einen Moment warten soll.

„Brigitta? Entschuldige, aber hier sind gerade Horden von Vollidioten unterwegs. 13 Uhr im Café?" Ich muss den Ort nicht weiter ausführen, denn Brigitta weiß, dass ich mein Lieblingseiscafé meine. Dort treffen wir uns fast immer. Sie bestätigt und ich lege auf. Mittlerweile hat sich der Flur geleert.

"Willst du dich etwa vor dem Tutorium drücken?", fragt Shari amüsiert und streicht sich eine Haarsträhne hinter das Ohr. Ob ihr bewusst ist, wie verführerisch diese kleine Geste bei ihr wirkt? Ich bezweifele es.

„Erwischt, wirst du mich jetzt verpetzen?", frage ich gespielt furchtsam und sehe, wie sie kichert. An ihrer linken Wange bildet sich dabei ein kleines Grübchen. Sie nimmt die Aussage nicht ernst und ich sage auch nicht, dass es im Grunde ernst gemeint war. Ich ziehe mir den Rucksack von der Schulter und krame die zwei Lektionen heraus, die ich für sie zusammengefasst habe.

"Hier, du kannst ja schon mal einen Blick drauf werfen und Fragen formulieren, falls ich mich verspäten sollte." Sie nimmt die Blätter erstaunt entgegen.

"Wow, hast du das alles gestern geschrieben? Fleißig, fleißig."

"Siehst du, so sehr opfere ich mich für das Tutorium auf...", erkläre ich trocken, mache eine mir in den Kopf schießende Geste und sehe, wie sie amüsiert den Kopf schüttelt.

"Wahrhaftig heldenhaft.", erwidert sie ebenso lapidar und zeigt eindeutig kein Mitgefühl. Shari ist knallhart. Meine Vorlesung beginnt in den nächsten Minuten, also verabschiede ich mich von der kleinen Inderin und kriege sogar ein Lächeln zu Stande. Ich trage es noch immer als ich mich in eine der mittleren Reihen des Hörsaals niederlasse. Mein Blick schweift über die Bänke und bleibt bei Kain hängen. Als wäre das nicht schlimm genug, sieht er in diesem Augenblick auf und mich direkt an. Er macht den Anschein aufzustehen. Seine Glieder zucken, doch er bleibt sitzen. Meine Hand verkrampft sich im Stoff meines Rucksacks als sich glücklicherweise das Licht ausschaltet und der Dozent mit der Vorlesung startet. Ich löse meinen Blick von dem anderen Mann und ziehe den Laptop aus der Tasche.
 

Nach der Vorlesung mache ich mich auf den Weg in die Stadt. Bis zu meinem Treffen mit Brigitta habe ich noch einige Stunden Zeit und ich nutze sie zum Einkaufen. Meine Schwester hat bald Geburtstag und auch Jeffs rückt langsam näher. Eine Idee habe ich weder für den Einen, noch für die Andere. Ich mache einen Abstecher in die Buchhandlung und laufe zielstrebig zu den Regalen mit der Jugendliteratur. Noch immer erfasst mich ein gewisser Stolz, wenn ich meine Bücher im Verkauf sehe. Auch, wenn ich dieses Genre gern verteufele, es sichert mir mein Einkommen. Darauf kommt es an, das sagt jedenfalls Brigitta immer. Jedes Mal, wenn ich meinen Ärger über die eingeschränkten Motive und die ewigen Liebesplattitüden Luft mache, drückt sie mir eine Liste mit Kommentaren und Rezensionen in die Hand. Oft auch E-Mails von jungen Mädchen, die ihre Begeisterung zum Ausdruck bringen. Es berührt mich, auch wenn ich ihr die Blätter jedes Mal ungerührt zurückgebe. Mein Blick wandert über die Bücherreihen und stoppt bei dem Ersten, welches einen vertrauten Namen trägt. Von Anfang an Liebe. Es ist auch das Erste, was ich für den Verlag geschrieben habe. Ich suche nach dem Roman, aus dem die beiden Figuren für die neue Romanidee stammen.

"Stockst du deine Lieblingslektüre auf?", ertönt es neben mir. Ich fasse das herausgezogene Buch fester und halte in meiner Bewegung inne. Ungerührt werfe ich einen Blick zur Seite und erkenne Kains rothaarigen Anhang. Rothaarige waren noch nie mein Fall gewesen. Ich habe einfach keine guten Erfahrungen mit ihnen gemacht. Im Kindergarten hatte mich der Stereotyp eines rothaarigen Rotzbengels vom Klettergerüst geschubst. Mehrmals. Bei einem dieser Male brach ich mir das Handgelenk. In der Grundschule lachte mich die rotblonde Marie Schubach aus, weil ich mich nicht an die Triangel traute. Aus gutem Grund, denn der Lehrer hatte mich zuvor für unfähig erklärt, weil ich die anderen Kinder ständig aus dem Takt brachte. Auch mit der Triangel, die man im Grunde nur am Anfang und am Ende anschlägt. Ich bin eine musikalische Vollkatasthrophe und mache keinen Hehl daraus. Mittlerweile hat es sich etwas gebessert oder ich habe es vollkommen akzeptiert, aber damals war das für mein Grundschülerherz eine harte Klatsche. In der Oberstufe gab es ein ähnliches Spiel. Marie wollte partout nicht meine Tanzpartnerin im Sportunterricht sein. Dabei war ich nicht die schlechteste Wahl. Ich weiß bis heute nicht warum. Irgendwann erbarmte sich eine Andere und mit der bin ich im Bett gelandet. Immerhin. Im ersten Semester hatte ich meine bisher letzte Kotzerfahrung mit Rothaarigen. Brigitta erzwang innerhalb einer Woche die Reste eines Romans von mir. Ich habe es total verpennt und schrieb mehrere Nächte am Stück um den Roman fertig zubekommen. Übermüdet und schlecht gelaunt nahm ich während einer Vorlesung Korrekturen vor. Oder eher gesagt, ich wollte es, denn ich hatte nur eine schreibgeschützte PDF-Datei bei und musste mir daher mühsam alle Änderungen auf einen Zettel notieren. Es war die besagte und gerade ebenfalls hinter mir wartende Rothaarige, die die gesamte Zeit über hinter mir saß und mitlas. Noch während der Vorlesung sprach sie mich darauf an und ich schaffte es geradeso sie davon zu überzeugen, dass ich es nur für ein Nebenfach kommentiere. Sie machte sich trotzdem darüber lustig, weil sie nicht dachte, dass Männer meines Alters solche Geschichten lesen würden. Diese Art der Bücher seien allgemein langweilig und öde. Seither ist sie unten durch und sammelte auch bei dem späteren Aufeinandertreffen bei Projekten und Gruppenarbeiten keine Pluspunkte.

"Die liest meine kleine Schwester auch...Quincey Bird. Lächerlich", kommentiert sie und lehnt sich gegen das Holzregal. Ich starre sie nur an, während ich versuche nicht zu stark die Zähne zusammenzubeißen. Ihre langen roten Haare fallen in großen Wellen über ihre schmalen Schultern. Sie trägt eine viel zu kurze beige Lederjacke und betont damit ihren bubenartigen Oberkörper. Sie ist flach, wie ein Brett und da kaschiert auch der wasserfallartige Ausschnitt ihres Tops nichts. Jeff wäre stolz auf mich, denn ich höre ihm wohl mehr zu als mir bewusst ist. Ich blicke auf das Buch in ihren Händen. Ein Lehrbuch für Biochemie. Es gehört zum Standardrepertoire und ich kann es fast auswendig.

"Wie ich sehe, machst du endlich etwas für deine Bildung. Wenigstens einen Rat hast du angenommen." Nun lasse ich meinen Blick einmal auffällig abschätzig über ihre gesamte Erscheinung wandern. Ich streiche mir kopfschüttelnd über die Lippen und sehe mit Genugtuung, wie sich ihre Augen zu schmalen Schlitzen verziehen. Sie weiß genau, was ich andaute. Diesmal trägt sie neben ihrem roten Haupt, dem Lippenstift auch noch rote Sneakers.

"Pff, ich lasse mich doch von dir nicht über Stil und Mode belehren. Du trägst zwei unterschiedliche Socken." Sie deutet auf meine Füße und meine hervorschauende Strumpfware. Ich blicke nicht mal nach unten.

"Tja, käme Jeff mit der Wäsche hinterher hätte ich den passenden Komplementärton zum roten Socken getragen, aber nun muss es der Blaue machen." Weit gefehlt, wenn sie denkt, mich damit beschämen zu können. Ich trage schon seit Jahren keine passenden Sockenpaare mehr und ihr Kommentar dazu tangiert mich kein bisschen. Sie schnaubt auf.

"Daran sieht man, dass du überhaupt keinen Geschmack hast. Du bist lächerlich!", giftet sie mir zu und ihr ist deutlich der Ärger anzusehen, den meine Nicht-Reaktion mit sich bringt.

"Ja, sagt der armselige Clown auf Freigang", entgegne ich diesen halbherzigen Angriff und verkneife mir das passende Lachen nicht. Langsam nimmt ihr Gesicht den gleichen Ton an, den auch ihre Lippen und Haare haben.

"Wie hat es jemand, der sich morgens nicht mal zwei gleiche Socken anziehen kann auf die Universität geschafft?", startet sie einen weiteren Versuch mich zu diffamieren und ich bin geradezu enttäuscht als sie kein neues Angriffsthema wählt. Für gewöhnlich sind solche Zicken kreativer. Bedauerlich.

"Ich hatte den passenden NC für den Studiengang und habe gedacht, wieso nicht. Immerhin kann nicht jeder mit dem Grund an die Universität gehen, sich einen Namen als modeverqueres Dummchen zu machen. Machst du aber gut", erwidere ich ohne länger darüber nachzudenken und nicke ihr beim letzten Teil bestätigend zu. Ihr Mund öffnet sich fischartig und sie atmet angestrengt ein. Sie braucht etwas länger um eine Erwiderung zu finden, also wiederhole ich meine aufmunternde Geste, was sie natürlich verärgert.

"Zu deiner Information mein Studiengang hatte auch einen NC und die Reaktionen deines eigenen Geschlechts sprechen für sich." Sie deutet an ihrem posierenden Körper entlang, um mir deutlich zu machen, was sie mit ihrem Kommentar meint.

"Ich denke, du siehst aus als wärst du leicht zu haben und das mögen Männer. Dann müssen sie sich nicht anstrengend. Und so unter uns Biologen. Noch dazu ist die Wahrscheinlichkeit einer Rot-Grün-Schwäche bei Männern größer. Kennst du den Spruch 'Bei Nacht sind alle Katzen grau'? Bei dir bekommt er eine völlig neue Bedeutung. Und glaube mir, seit ich dich kenne, wünsche ich mir nichts sehnlicher als eine ausgeprägte Protanopie, damit mir dieser ... " Ich deute mit dem Zeigefinger einmal ihre gesamte rotdominierte Erscheinung an und schüttele wiederholt den Kopf. „... Anblick erspart bleibt. Ein Hoch auf diesen rezessiv vererbten Gendefekt", vollende ich. Das Tolle daran mit einem Biologen zu reden ist, dass man solche Vokabeln nicht erklären muss. Für gewöhnlich. Bei dem Blick, den mir die Rothaarige zu wirft, bin ich mir jedoch nicht sicher, ob sie vor unverdauter Wut gleich an die Decke geht oder einfach nicht versteht, womit ich sie gerade beleidigt habe.

"Wow, der Grand Canyon füllt sich rapide. Vielleicht hat Abel ja Recht und wir müssen bald den Marianengraben mit dazu rechnen", ergänze ich amüsiert als sie nicht sofort reagiert.

"Du bist ein Arsch", schleudert sie mir fast spuckend entgegen. Sie spielt die Schimpfwortkarte. Ich bin ein wenig enttäuscht und verkneife mir ein Lachen.

"Schwach. Vielleicht solltest du fürs nächste Mal einen Blick in deine Lehrbücher werfen, statt dir stundenlang ein Clownsgesicht zu malen. Ist effektiver", gebe ich abschließend von mir und wende mich wieder dem Regal zu. Ich schiebe den Roman zurück in die Reihe und merke, wie sie aus meinem Blickfeld verschwindet. Ich verschränke die Arme vor der Brust und starre noch einen Moment auf die Buchrücken. Sie sind komplett durcheinander. Eins fix zwei habe ich sie nach dem Erscheinungsjahr geordnet und mache mich auf die Suche nach meinen stärksten Konkurrenten. Leider muss ich wohl eher Konkurrentinnen sagen, denn es gibt durchweg weibliche Autoren in der Romanzensparte. Sicherlich sind etliche davon auch Pseudonyme, so wie es bei mir der Fall ist, aber dennoch ist es ernüchternd. Ich schwenke zu einem der Nebenregale und stoße dort auf ein paar Bücher mit gleichgeschlechtlichen Paaren und LGBTQIA*-Inhalten. Das Bild, welches sich hier zeichnet, ist weniger rosa. Auch hier finden sich viele klischeehafte Elemente resultierend aus verstörenden Missverständnissen und Unverständnisse. Viele Bücher mit theatralischen Coming Outs, die entweder dramatisch enden oder in völligem Wohlgefallen. Kaum etwas, was sich dazwischen bewegt. Nichts, was beide Seiten aufzeigt oder eine schnöde Alltäglichkeit skizziert. Ich nehme ein Buch heraus, in dem es um jemand geht, der bereits in der Schulzeit um seine Homosexualität weiß, aber erst viele Jahre später in seinem Freundeskreis und in seiner Familie dazu steht. Ich erkenne Jeff darin, obwohl ich mir eingestehen muss, dass ich gar nicht weiß, ob seine Familie, also seine Mutter Bescheid weiß. Ob es die Anderen aus unserer Klasse wissen? Vermutlich bin ich wirklich der einzige Blindfisch, der es einfach nicht geschnallt hat, weil ich ignorant und ichbezogen bin. Nach fünf gelesenen Seiten lasse ich mich auf einen der Lesesessel fallen und blicke erst auf als ich den Roman zur Hälfte durchhabe. Noch immer habe ich etwas Zeit bis zu dem Treffen mit Brigitta. Ich lege das Buch dennoch zurück und kaufe mir einen schwedischen Kriminalroman.
 

Brigitta lässt mich warten. Selbst, wenn ich zehn Minuten verspätet käme, würde sie dennoch erst eine Viertelstunde später auftauchen. Wie sie das macht? Keine Ahnung. Genauso, wie die Leute die am Dichtesten an der Schule wohnen grundsätzlich verspätet ihren Weg ins Klassenzimmer finden. Solche Dinge gehören zu einer äußerst absurden Form von Gesetzmäßigkeiten.

"Sieh mal an, wer sich mal wieder her traut?" Eine belustigte Stimme lässt mich aufsehen. Luci. Tochter des italienischen Cafébesitzers. Ihre langen dunkelbraunen Haare sind zu einem Zopf geflochten, der ihr leger über die Schulter fällt. Sie hievt einen metallischen Eiscontainer auf den Tresen, in der sich eine hellrosafarbene Substanz befindet. Ich erhebe mich von meinem gewählten Sitzplatz und gehe auf die Anrichte zu.

"Na, sieh mal an, wer da nicht in der Schule ist", erwidere ich amüsiert und beuge mich über den Verkaufstresen. Luci grinst schelmisch und wirft ihren Zopf zurück als sie sich runterbeugt um einen Abdeckung unter dem Tresen hervorzuholen.

"Wir haben Praktikumswochen. Also darf ich das machen, was ich sowieso schon immer in meiner Freizeit mache. Herrlich, oder?", erklärt sie trocken, schiebt das Metall in die vorgesehene Kühlvorrichtung.

"Absurd würde ich eher sagen.", antworte ich und hebe passend dazu meine Augenbraue.

"'Als ob du nicht immer das Gleiche machst. Du bestellst sogar immer den gleichen Eisbecher."

"Ja, mache ich und sei dir gewiss, dass ich die Erdbeeren jedes Mal ganz genau zähle." Luci mustert mich lachend und lehnt sich zu mir auf den Tresen. Ihre schönen grünen Augen blitzen aufmerksam und lebendig. Es ist ein Hingucker. Ihre Hände kommen vor meinen zum Liegen. Darin hält sie ein Probierstäbchen, auf dem sich die zartrosafarbene Masse befindet. Mein Blick wandert von ihrem Gesicht zu ihren Händen.

"Und was hat meine Eisprinzessin heute für mich?", säusele ich.

"Für meinen Eisprinzen nur das Beste", sagt sie zuckersüß und hält mir den Holzlöffeln hin. Ich nehme ihr diesen ab, schnuppere zuerst und lasse meine Zunge danach über die zarte Creme wandern. Säure. Süße. Schärfe. Jede dieser Geschmacksrichtungen explodiert so gleich auf einem anderen Bereich meiner Zunge.

"Himbeer-Trüffel mit rotem Pfeffer auf Sahne-Mascarpone-Basis", erklärt sie als ich ein weiteres Mal über den Holzspatel lecker und mit den Rest tilge. Sie beobachtet mich interessiert und ich versuche meinen Gesichtsausdruck halbwegs unbeeindruckt zu halten. Der vollmundige, leicht saure Fruchtgeschmack der Himbeere tanzt auf meine Zungenspitze. Ein dezenter Hauch von Trüffeln, der sich aber nur erahnen lässt ohne alles andere zu überdecke. Abgerundet durch feine Schärfe, die sich meinen Hals entlang arbeitet, aber viel zu schnell verebbt. Es ist köstlich und das zeige ich ihr nun auch mit einem breiten Grinsen. Luci und ihr Vater stellen Eis in eigener Produktion her. Original italienischer Art und in ebensolche Perfektion. Seit ich hier studiere, haben sie bereits hunderte verschiedene Sorten hergestellt und denken sich immer wieder etwas Neues aus. Fantastische und manchmal auch sonderbare Kombinationen. Kuriose Geschmacksrichtungen. Ich erinnere mich an ein Eis mit dem Geschmack von Senf und Majoran. Biereis und Weinsorbet. Sie versuchen sich wirklich an allem Essbaren und ich genieße es, es zu testen. Ich bin ein dankbarer Tester. Einer meiner Favoriten war eine Kombination aus Nougat und Baileys.

"Lucrezia!", ruft aus dem hinteren Ladenbereich. Der Eiskönig. Ihr Vater.

"Was?", brüllt sie unbeeindruckt zurück.

"Kommst du bitte her."

"Gleich! Und?" Das letzte Wort ist nur geflüstert. Ich beuge mich über die Lippen leckend zu ihr.

"Köstlich, aber ich würde nur Mascarpone oder Sahne nehmen. Beides zusammen unterdrückt die sanfte Schärfe des Pfeffers zu sehr." Kaum endet meine minimale Kritik und schon drückt sie mir mit der flachen Hand das Gesicht leicht zur Seite. Ich grinse in ihre Handfläche.

"Ach, du hast doch immer etwas zu meckern", sagt sie kichernd.

"Darauf stehst du doch und es ist kein meckern, es ist konstruktives verbessern", kontere ich, sehe mit Vergnügen dabei zu, wie sie leicht rot wird.

"Wirklich?", brummt es uns entgegen und mit einem Mal steht ihr Vater neben ihr. Ich richte mich erschrocken auf und hebe abwehrend die Hände in die Luft. Er weiß, dass es zwischen uns nur kleine Späße sind, aber wenn er so grimmig schaut, werden selbst meine Knie weich.

"Luci, ich brauche dich hinten in der Küche. Buon giorno, Robin.", verabschiedet er mich übertrieben höflich und mit einem ganzen Zaun statt nur einem Pfahl. Meine gehobenen Hände machen nur eine leichte Winkbewegung. Luci verdreht meisterlich die Augen und wartet darauf, dass ich eine ebensolche Regung von mir gebe, doch ich stehe unter totaler Beobachtung und würde es nicht wagen ihrem Vater zu widersprechen.

"Ich komme ja schon", sagt Luci kichernd und schiebt sich an ihrem Vater vorbei zur Küche.

"Robin hat übrigens Recht. Das nächste Mal lassen wir die Mascarpone weg.", sagt der große Italiener und nickt. Nun stupst Luci auch ihrem Vater gegen die Schulter und verschwindet im Zubereitungsraum.

"Sie macht das toll", merke ich an und meine es wirklich ernst. Sie ist kreativ und innovativ. Sie hat im letzten Sommer sagenhafte Kreationen gezaubert, die bei allen sehr gut angekommen sind.

"'Ja, ich bin sehr stolz auf sie.", sagt er warm lächelnd, "Und kann ich noch etwas für dich tun?" Er deutet auf die Vitrine mit den einzelnen Eissorten und danach auf die Karten im Hintergrund. Ich folge seinem Blick sehnsüchtig

"Nein, noch nicht. Ich warte noch auf jemand. Obwohl alles wieder mal extrem verlockend aussieht." Lucis Vater nickt, sieht sich nach weiteren nicht vorhandenen Kunden um und verschwindet ebenfalls zurück in die Küche. Ich trabe zu meinem Tisch zurück und blicke erneut auf die Uhr. Unfassbar. Irgendwann kommt Lucrezia zurück zum Tresen, ist aber schwer beschäftigt. Ich schaue ihr eine Weile dabei zu, wie sie sämtliche Oberflächen reinigt und die To-Go-Becher auffüllt. Ich grinse als daran denke, wie wir uns kennengelernt haben. Es ein verregneter Tag und involviert war schlechte Laune auf beiden Seiten und eine Tonkabohne.
 

"Sie ist wirklich sehr hübsch anzusehen, aber doch etwas zu jung für dich, oder?" Brigitta reißt mich aus den Gedanken und lässt sich auf den nächstgelegenen Stuhl fallen.

"16 Jahre alt", bestätige ich ihre Annahme und hoffe damit jeden weiteren dummen Spruch zu unterbinden. Doch ich irre mich. Meine Lektorin klatscht in ihre Hände, die durch ihre langen Fingernägel ein bisschen, wie Krallen wirken. Wie schafft sie es damit zu tippen? Selbst ich treffe auf meinem Handy manchmal die Tasten nicht und meine Hände sind eher schlank.

"Großartig. Sie ist genau deine Zielgruppe!", quietscht sie freudig und sagt damit etwas völlig Unerwartetes für mich. Zielgruppe?

"Wie bitte?", frage ich verstört. Ich mustere die erwachsene Frau vor mir. Sie trägt eines dieser Businesskostüme in Marineblau. Ihre beigefarbenen Schuhe passen zu dem gleichfarbigen Schal um ihren Hals, aber keineswegs zu den kirschförmigen Ohrringen und der auffälligen Brille. Ihre pflaumenfarbenen Haare sind diesmal hochgesteckten Stil. Sie wirkt strenger als sonst. Ihr heutiges Äußeres passt nicht ganz zu ihrem quirligen, manchmal anstrengenden Wesen.

"Als Leserin, meine ich natürlich... Robin, ich bitte dich...", erläutert sie zwinkernd. "Hast du ihr mal eine Leseprobe gegeben?" Brigitta strahlt und ich merke, wie meine eigene eher gelangweilte Mimik flöten geht und einer leichten Fratze Platz macht.

"Nein, natürlich nicht und du wirst das auch schön bleiben lassen.", warne ich, erwecke aber mehr den Anschein als hätte man mir gerade erklärt, dass der Weihnachtsmann nicht existiert. Sie versucht zwei weitere Male mich davon zu überzeugen, wie gut es wäre einen feste Stammleserin zu haben, doch ich werde nur deutlicher. Irgendwann seufzt sie resigniert, beugt sich zu ihrer Tasche und holt ihr Tablett heraus, ich meinen Laptop. Wir bestellen bei einer der Kellnerinnen und ich höre mir bei meinem typischen Erdbeer-Eisbecher an, welche Änderungsvorschläge sie hat. Es sind vor allem Kleinigkeiten und Missverständnisse. Manche Formulierungen sind in meinem Kopf prägnanter als im Text. Das muss ich ausbessern. Hin und wieder gibt es fehlende Bezüge. Diese Passagen müssen entfernt oder ausgeweitet werden. Irgendwann habe ich mehrere Seiten Stichpunkte im Laptop und das restliche Eis in meinem Becher ist zu einer zähflüssigen Masse geschmolzen.
 

"Wir streben die Veröffentlichung für das kommende Quartal an also hast du für die Ausbesserungen noch etwas Zeit." Sie nimmt einen großen Schluck ihres abgekühlten Kaffees und behält einen Schaumbart auf ihren dunkelrot geschminkten Lippen zurück. Es dauert einen Moment bis sie die Rückstände vollkommen entfernt hat. Ich denke derweilen an die neue Romanidee, die ich habe und bin noch nicht sicher, was Brigitta dazu sagen wird. In meinem Kopf hat sich bereits ein gesamter Plot formuliert. Dialoge und deren Auslöser haben sich gefestigt. Die negativen Gefühle durchschwimmen meine Gedanken, zeichnen Szenen von tränenverhangenen Augen, bebenden Lippen und brechenden Stimmen. Es wird kein zartrosafarbenes Ende geben. Viel mehr wird es eine verzweifelte Liebe voller Sehnsüchte und dem letztendlichen Verstehen, dass es manchmal keine Erwiderung gibt, egal, wie sehr man sie sich auch wünscht. Ich frage mich, ob ich ein Klischee fabriziere, wenn ich gerade dieser unerwiderten Liebe einen gleichgeschlechtlichen Aspekt gebe. Ich denke an den Roman zurück, denn ich vorhin in der Buchhandlung gelesen habe. Auch dort schwelte das Unglück. Es ernüchtert mich ein wenig. Vielleicht finde ich noch eine bessere Lösung. Ein Hoffnungsschimmer. Ein Funken.

"Hast du den Termin auf dem Schirm?", höre ich meine Lektorin fragen, doch anstatt ihr zu gestehen, dass ich gerade nicht zu gehört habe, lecke ich meinen Eislöffel ab.

"Sag mal, du hast doch auch einen Blick auf die anderen Genrebereiche und Splittergruppen, oder?", frage ich mit meinen eigenen Gedanken beschäftigt.

"Unseres Verlags? Nun ja, das sind ja nicht sehr viele. Aber ich hab dir schon mal gesagt, dass du beim Liebeskram bleiben musst." Sie rührt ein weiteres Mal ihren Milchkaffee um und leckt den Schaum vom Löffel.

"Schon klar, ich kann deine Tiraden schon auswendig. Nein, mich interessiert, wie gut wir in dem Bereich für gleichgeschlechtliche Liebe vertreten sind?" Ich angele in dem geschmolzenen Eissee nach einem Stück Erdbeere und sehe erst auf als Brigitta mir nicht sofort antwortet. Ihre, hinter Glas verborgenen Pupillen sind geweitet und damit gigantisch.

"Will mein Marshmallowritter etwa über Zuckerstangen schreiben?", lässt sie plötzlich fallen. Irgendwann trage ich von diesen Kosenamen ein Trauma davon. Garantiert. Ein schrilles Quietschen ertönt als Untermalung ihres mehr als verstörenden Kommentars. Mich verunsichert, dass ich nicht einschätzen kann, ob es pures Entsetzen oder freudiges Übertreiben ist.

"Hast du einen Schlaganfall?", frage ich irritiert und sehe dabei zu, wie ihr übertrieben verzogenes Quietschegesicht in sich zusammenfällt.

"Für wie alt hältst du mich?", fragt sie mürrisch. Ich zucke entschuldigend mit den Schultern und schiebe das Eisglas weg. Ich schätze sie auf Mitte dreißig, aber bei Frauen kann ich es immer nur schwer einschätzen. Brigitta fängt sich schnell, trotz ihres enormen Entsetzens und klatscht erneut in die Hände. Sie lächelt mir breit entgegen.

"Oh Robin, was planst du? Ich finde es schon jetzt fantastisch. Wirklich! Großartig. Ich sehe großes Potenzial. Wie kommt es dazu? Das hätte ich ja niemals gedacht.", plappert sie freudig erregt. Sie klingt wie ein Fan-Girl. Mein Verstand winkt das Trauma immer näher.

"Moment mal, beruhig dich wieder. Ich plane gar nichts dergleichen", wiegele ich ab. Ihr Gesichtsausdruck wird zum Lehrstück der Enttäuschung. Ihr Mund verschmälert sich auf die Hälfte und wird zu einem Strich.

"Warum fragst du dann?", fragt sie schmollend.

"Okay, hör kurz zu. Ich arbeite an einer neuen Idee. Sie ist etwas anders und greift zwei Charaktere aus 'Potenzierte Versüßung' wieder auf", erläutere ich und sehe, wie Brigittas Mund zu einem O wird.

"Martin und Sandra, oder? Du hast bereits damals eine Verbindung zwischen den beiden angedeutet. Das wäre klasse", beginnt sie zu fantasieren. Ihre Augen glänzen erwartungsfroh.

"Nicht ganz. Martin und Ryan." Brigitta stockt. "... und Sandra", ergänze ich.

"Eine Dreiecksbeziehung?" Sie wirkt skeptisch erregt. Wahrscheinlich hat sie eine typische er- liebt- sie -und -er- liebt- sie- auch- Geschichte im Kopf. Der klassische Klischee-Stempel.

"Ja, aber ein unkonventionelles Dreieck" Sie braucht eine Weile, bis sie meine Anspielung versteht. Ihr entflieht ein leises Oh, welches zum Ende hin aufgeregt wird. Ich gebe ihr einen kurzen Abriss und Brigitta nickt es ab. Wir vereinbaren, dass ich ihr einen Vorentwurf zukommen lasse und sie sich mit dem Verleger zusammensetzt. Zwei diabetesverursachende Kosenamen später habe ich das Bedürfnis meinen Zahnarzt aufzusuchen. Brigitta verabschiedet sich und ich bin nur haarscharf an einem Trauma vorbeigeschliddert. Ich lehne mich geschafft zurück und sehe meiner Lektorin nach, die enthusiastisch und bereits telefonierend davon stöckelt. Sie winkt sich ein Taxi heran und verschwindet aus meinem Blickfeld. Ich sehe mich nach Luci um, doch sie ist nirgends zusehen. Ich gehe, stecke mir draußen eine Zigarette an und laufe zur Universität zurück. Das Tutorium steht an und ich habe so viel Lust, wie beim letzten Mal.
 

Vor dem Seminarraum atme ich noch einmal tief durch und öffne die Tür. Neben Shari steht ein junger Mann mit dunkelblonden Haaren. Er berührt zärtlich ihren Unterarm. Auf ihren Lippen liegt ein sanftes Lächeln. Sie flüstern und schmunzeln. In meinem Kopf spinnt sich ein Dialog. Gehauchte Worte voller Zuneigung und Anspielungen. Gibt er seine Wünsche preis oder genießt sie einfach nur das Gefühl gewollt zu werden? Es könnte auch etwas Amüsantes sein. Ein Moment für die Ewigkeit.

Sie blicken auf als ein paar geräuschvolle Schritte mache. Ein weiteres Flüstern folgt und ein kurzer Abschiedskuss. Als er an mir vorbeikommt, grüßt er lächelnd. Dann bin ich mit Shari allein.

"Du verfluchst gerade meine Pünktlichkeit, oder?", gebe ich neckend zum Besten, während ich dem jungen Mann nachsehe. Ein wahrer Glückspilz, wenn täglich in diese hübsche Gesicht sehen darf.

"Du sagst es. Jetzt bist du nur noch halb so heldenhaft für mich.", neckt sie zurück. Eine Anspielung auf den Spruch von vorhin. Ich fasse mir gespielt getroffen gegen die Brust, ziehe mir den Rucksack von den Schultern und hole mir einen Stuhl ran. Auf dem Tisch liegen unsere Lehrbücher und auch die Ausdrucke der Zusammenfassung. Ich erkenne einige Notizen und auch, dass die von mir erstellten Fragen darauf, bereits beantwortet sind. Neugierig ziehe ich die Blätter zu mir heran. Es sind vor allem ein paar ergänzende Worte in feinsäuberlich geschwungenen Buchstaben. Eine typische Mädchenhandschrift.

Shari legt mir schonungslos das Lehrbuch vor die Nase und tippt mit ihrem schlanken Zeigefinger auf eine Überschrift. Darunter zeigt sich direkt eine schöne chemische Abbildung von Carnosin. Ein Peptid, welche im menschlichen Körper in den Muskeln, Nieren und der Leber zu finden ist.

„Hübsch, oder? Ich mag vor allem diese schnuckelige Carboxylgruppe", sage ich, nachdem von Shari keine Erklärung kommt, warum sie gerade diesen Abschnitt raus gesucht hat. Ich erreiche, was ich bezwecke. Sie beginnt zu lachen und stellt ihre Frage. Ich versuche, es ihr zu erklären. Sie nickt und schreibt sich lauter kleine Notizen. Als ich ende, schreibt sie einen größeren Abschnitt nieder und ich lasse meinen Blick entspannt wandern. Ich erfasse ihr ebenmäßiges Gesicht, ihren schlanken Hals, der durch den Kragen ihrer Bluse beschnitten wird. Der obere Knopf ist geöffnet und gibt Teile ihres Dekolletés preis. Ihr linkes Schlüsselbein tritt deutlicher hervor durch die Schreibbewegung ihrer Hand. Meine Gedanken schweifen davon.
 

Ihr Haar ist ein einziger Schwall seidenen, schwarzen Wassers. Einzelne Strähnen kitzeln zärtlich über ihre sonnengeküssten Schultern, legen sich liebevoll und verdeckend über wohlgeformte Brüste. Sie geben nur so viel Preis, dass es die Fantasie anfacht. Es erweckt den Wunsch mit den Fingerspitzen die abgeschirmten Hautpartien freizulegen. Mehr zu entdecken. Alles zu erforschen. Die zarte Haut darunter zu ertasten und durch die Berührung feinste Härchen zu stimulieren. Es ist, wie ein stilles Feuer, welches tief im Inneren schwelt. Das erregende Kitzeln der Fingerspitzen, wenn die Vorstellung einer hauchzarten Berührung immer ekstatischer wird. Eine leichte Bewegung und ein klein wenig mehr Haut legt sich frei, offenbart den feinen Schwung ihres Schlüsselbeins. Ihre Haut mit dem Glanz von sonnengeküsstem Honig. Ob sie auch so süß schmeckt?
 

"...bin...Robin? Hey, alles okay bei dir?" Shari lächelt mir entgegen, stupst mir gegen den Atm und streicht sich danach ihre langen, schönen Haare hinters Ohr, sodass ihr Dekolleté freigelegt wird. Es ist kaum etwas zu sehen. Nur zu erahnen und dennoch spinnt mein Kopf weitere Worte der fantasierten Vorstellung. Der Übergang von den festen Brüsten zum flachen Bauch. Der zarte nach innen verlaufende Bogen der Taille, der am unteren Ende in einem zart angedeuteten Beckenknochen verläuft. Sie hat Rundungen an den richtigen Stellen. Weiblich. Sinnlich. Wunderschön.

'So, fress ich dich mit Haut und Haar! Tiefer, immer tiefer'. Kains raunende Stimme in meinem Kopf. Das Kitzeln seines erregten Atems in meinem Nacken als er mir genau diese Worte zu flüsterte. Mein Kreislauf kommt in Fahrt und mein Puls ist plötzlich so laut, dass ich Shari kaum noch verstehen kann. Was ist nur los mit mir? Wieso denke ich auf einmal wieder an Kain?

„Träumst du?" Diesmal verstehe ich sie.

"Entschuldige. Ich habe extrem schlecht geschlafen." Tolle Aussage. Boden öffne dich. Nichts passiert. Simsalabim. Noch immer nichts. Abrakadabra? Ich gebe es auf.

"Wirklich?" Sie kichert.

"Hat man dir schon mal gesagt, dass du eine auffällige Gesichtssymmetrie hast?", gebe ich von mir. Nun denke ich an Avada Kedavra, aber ich falle einfach nicht tot um. Sharis Blick wechselt von verwundert zu erstaunt und danach zu verstehend. Nun wird sie leicht rot. Bezaubernd.

"Mit diesen Worten hat man es tatsächlich noch nie gesagt... ", erwidert sie lächelnd. Ich nicke nur, tippe etwas nervös mit dem Bleistift gegen den Rand der Zusammenfassung und schiele auf mein Handy. Zwei neue Nachrichten.

"Hey,..." Sharis schlanke Finger legen sich auf meinem Arm. "Danke schön", sagt sie lächelnd und noch immer ist zarte Röte auf ihren Wangen zu erkennen. Sicher sagt man ihr öfter, wie schön sie ist und doch wirkt sie als wäre es das erste Mal. Ihr naiver Charme ist umwerfend.

"Hast du noch Fragen dazu?" Ich deute zurück auf das dicke Lehrbuch und auf die Zusammenfassungen.

"Nein. Ja, wie lange hast du daran gearbeitet? Ich hab alles verstanden. Einfach so." Sie wirkt komplett irritiert als sie auf die Blätter deutet.

"Ist doch gut, oder?"

"Ja, toll!"

"Na dann können wir das Ganze abkürzen. Bis nächste Woche", sage ich und richte mich auf. Ich greife gerade nach meinem Rucksack als ich kurz in ihr perplexes Gesicht blicke und daraufhin stoppe.

"Hinsetzen!", ordert Shari streng. Ich lasse mich nach kurzem Zögern wieder auf den Stuhl fallen. "Dein Fluchverhalten ist komplett unnötig. Du machst das richtig gut."

"Okay, mag sein, aber tue mir den Gefallen und lass das niemand wissen. Du darfst den armen anderen Unwissenden gern den Kram hier kopieren, aber sie sollen nicht auf die Idee kommen sich hier hinzusetzen." Damit schlage ich demonstrativ eines der Bücher zu und stehe wieder auf. Ich schließe meinen Rucksack und schiebe mein Handy in die Hosentasche. Ich hebe meine Hand zum Gruß und bin schon halb aus der Tür.

"Ich treffe mich gleich noch mit Freunden in der Mensa. Möchtest du mitkommen?"

"Beim nächsten Mal, vielleicht", lehne ich ab und sehe, wie sie nickt. Beim Heraustreten nehme ich mein Handy zur Hand und lese die Nachrichten. Eine ist von meiner Schwester. Sie fragt im Auftrag unserer Mutter, wann genau ich bei ihnen vorbeikomme und ich weiß es erst, wenn ich Jeff danach frage, wann er plant nach Hause zu fahren. Da er ein Auto besitzt, fahren wir oft zusammen, was mir ein Zug- oder Flugticket erspart. Ich lasse die Nachricht von meiner Schwester unbeantwortet und schaue mir die zweite an. Sie ist von Kain. Ich werde beim Lesen gestoppt als ich plötzlich gegen etwas Großes stoße.
 

"Huch", gebe ich von mir, starre in Kains braune Augen und erkennen das feine Blitzen darin. Genau diesen Ausruf habe ich gemacht als er mich am Abend zuvor überrascht hat. Auch er denkt daran. Ich sehe es deutlich an dem amüsierten Lächeln auf seinen Lippen.

"Augen auf im Straßenverkehr", giftet eine andere bekannte, weibliche Stimme. Erst bemerke ich, dass Kain das rothaarige Biest im Arm hält oder ihr zum mindestens die Hand an die Hüfte gelegt hat. Ich weiche automatisch ein paar Schritte zurück. "Oder hast du die roten Warnschilder nicht gesehen? Fortgeschrittene Protanopie?", ergänzt sie und fühlt sich in diesem Moment unheimlich schlau. Während ich an ihnen vorbeigehe, antworte ich ihr gestisch und lasse sie meinen ausgestreckten Mittelfinger sehen.

Die existenziellen Mechanismen von Vermeidungsverhalten bei Regenschirmen

Kapitel 8 Die existenziellen Mechanismen von Vermeidungsverhalten bei Regenschirmen
 

Im Zimmer schmeiße ich den PC als auch den Laptop an. Währenddessen werfe ich einen kurzen Blick auf Jeffs Bett und ich sehe, dass die Tüte mit dem Pullover verschwunden ist. Ein Fortschritt an der Entschuldigungsfront.

Ich nehme mir die Liste mit den Anmerkungen von Brigitta vor und schätze nach nur wenigen Seiten ein, dass ich dafür heute keinen Nerv habe. Die Szene, bei der das Liebespaar erneut zueinander findet, soll intensiver werden. Brigitta nannte es herzzerreißender und meint kitschiger. Ihr Wunsch ist mir Befehl. Herzzerreißend, wiederhole ich still. Ziemlich blutige Angelegenheit, wenn man mich fragt. Ob ich gute Horrorgeschichten schreiben könnte? Ich sollte es mal ausprobieren.

Ich versuche ein letztes Mal mich zusammen zu reißen, um wenigstens den Absatz zu beenden. Doch es fällt mir weiterhin schwer. Denk rosa, mahne ich mich an. Rosa. Rosa. Pink. Pink. Die beiden Farben murmele ich eine Weile vor mich hin und es wird zu einem Ohrwurm. Meine Augen schließen sich und ich denke an die Umgebungs- und Personenbeschreibung, die die Szene färben.
 

Ein weißes Auto, dessen Scheinwerfer die Straße in ein kühles Licht hüllt. Der laue Wind, der über erhitzte Wangen streicht. Ihr blondes Haar, was an diesem Abend durch Wind und Eile geformt ist. Sanft geschwungene Strähnen, die über ihre tränenbenetzte Wange streichen und dort haften bleiben. Die Lippen einen Hauch geöffnet, so, als würden sie jeden Moment die Worte formulieren, die sie schon so lange brennend und verzweifelt im Herzen trägt. Ihre feuchten Augen blicken zu dem Mann, den sie seit Kindheitstagen liebte und der sich nun anschickte für immer aus ihrem Leben zu scheiden. Sein letzter Blick gefüllt mit Trauer und Enttäuschung als die Worte einfach nicht von ihren Lippen perlen und so seine schlimmsten Befürchtungen bestätigten. Obwohl es Hoffnung war, die durch seinen Körper pulsierte als sich ihre bebenden Lippen sanft übereinander bewegen. Keine weiteren Worte und er wendet sich von ihr ab. Ihr Puls steigt als sie beobachtet, wie sich die samtbraunen Haare im Wind bewegen. Welch schweres Gefühl füllt ihr Leib als sie erkennt, dass nun die letzte Gelegenheit heran gebrochen ist. Sie durften die Chance ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen nicht verstreichen lassen. Zittrig, aber stark ist ihr Griff. Ihre schmalen Finger vergraben sich dem rauen Stoff seiner Jeansjacke. Flehend und bittend. Befreiend und beglückend, als er sich zu ihr umwand. Erst, als die blauen Augen des jungen Mannes von ihren Händen zu ihrem Gesicht wandern, beginnen die Worte aus ihrem Mund zu fliehen. Die unglaubliche Pein über seinen so ungeschickten Betrugsversuch. Die blinde Wut, die so grässlich Worte hervorgerufen hat. Das selbsthassende Gefühl als sie verstand, dass sie alleinige Schuld daran hatte, dass er fort gegangen ist. Die bittersüße Liebe, die sich in jeder ihrer Körperzellen sammelt und sich mit jeder einsamen Sekunde zu schmerzhaften Vermissen wandelt. Es erfüllt ihr Leib und es umwindet ihre Seele wie tonnenschwere Ketten aus Stahl. Ohne ihn ist sie nicht frei. Das weiß sie nun.
 

Solche Worte zu formulieren, sorgt jedes Mal dafür, dass ich selbst ein reißendes Gefühl verspüre. Eine andere Person vermissen, egal mit welchem Hintergrund ist schwer. Unbewusst tastet meine Hand nach dem Portmonee in meiner Hosentasche und dann habe ich sie auch schon in der Hand. Ich weiß genau, was ich suche und blicke einen Augenblick später auf das zerknitterte Foto, welches hinter meinem Personalausweis versteckt ist. René. Das brennende Gefühl in meiner Brust wird zu einem Flächenbrand. Meine Brust pulsiert schmerzhaft und ich schiebe das Bild schnell wieder zurück, ohne es wirklich angesehen zu haben.

Ich tippe noch das letzte rührende Liebesflehen und greife nach der Flasche Wasser vor meinem Bett, weil ich das Gefühl habe, dass mir in den letzten Minuten und mit den letzten Worten ein flauschig, rosafarbener Pelz auf der Zunge gewachsen ist. Fürchterlich. Ich überspiele den wahren Grund für das Verlangen aufzuhören. Ich habe normalerweise eine gut funktionierende Realitätsabwehr. Doch diesmal klappt es nicht hundertprozentig.

Vermissen ist kein schönes Gefühl. Von jemand abhängig zu sein und ohne diese Person keinen klaren Gedanken mehr fassen zu können, ist auch kein gutes Gefühl. Was also war daran so schön, von jemand zu hören, dass man ihm diese Art der Gefühle verursacht? Ich würde es nicht wollen. Niemals möchte ich diese Form der Gefühle wecken, denn ich sehe darin keinerlei positiven Effekt.
 

Ich nehme einen weiteren Schluck Wasser und lasse mich auf mein Bett fallen. Im ersten Moment bleibe ich auf dem Rücken liegen, doch nachdem sich meine Gedanken einfach nicht von diesem Thema abwenden, drehe ich mich auf die Seite und rolle mich zusammen, wie ein pelziges Nagetier.

`Jetzt werde ich dich verschlingen, Rotkehlchen.` Es ist nicht mehr als ein heiseres Raunen in meinem Kopf. Ein Flüstern, welches sich durch meine Gehörgänge arbeitet. So nah. So intensiv. Die Erinnerung an seine Lippen an meinem Hals. Jeder einzelne Kuss schickte tausende kleine Stromschläge durch meinen Körper und nur der Gedanken daran lässt mich spüren, wie meine Haut zu pulsieren beginnt. Kains Körper über mir. Stark und unnachgiebig. Seine Wärme. Sein Geruch. Ich denke an seine Hände, die meinen Körper wissend und verstehend erkundeten. Es ist als würde ich sie noch immer auf meinem Leib spüren. Heiß und klar. Mit einem Mal sind sie verschwunden. Diesmal folgt ein helles Flüstern. Protanopie. Kains Lippen, die sich auf ihren feuchtglänzenden Mund legen. Ich schrecke zusammen, richte mich auf, streiche mir ein paar Haarsträhnen zur Seite und seufze schwer. Soweit ist es mit mir schon gekommen.

Kain und das rothaariges Flittchen. Was findet er nur an ihr? Ich überlege lange. Sex. Er ist das Einzige, was mir einfällt. Aber nur weil er einfach zu haben ist, muss man sich doch nicht unter Niveau verkaufen. Automatisch fantasiere ich mir zusammen, wie die beiden sich kennen gelernt haben könnte, wie sie zusammengekommen sind und was sie wohl für eine Beziehung geführt haben. Ob Kain ein Beziehungsmensch ist? Ob er zum Vorzeigeteddybär wird? Er behauptet das Gegenteil, aber dem kann man wohl kaum Glauben schenken.

Es hat nichts zu bedeuten, hallen Kains Worte in meinem Kopf wieder. Klar, äffe ich den Schwarzhaarigen weiter nach. Ich verziehe, während ich das Gespräch wiederhole das Gesicht und ärgere mich noch mehr darüber, dass es mich so aufregt. Wieso denkt er, dass es mir etwas bedeutet hat? Es war Sex. Nur Sex aus Neugier. Reiner Wissensdrang. Guter Sex aus akademischem Interesse. Eine der billigsten Phrasen überhaupt und wer es glaubt, wird selig. Diese Begründung ist selbst für einen gut trainierten Leugner wie mich abwegig. Ich war geil und betrunken. Schlicht und einfach. Eine denkbar schlechte Kombination. Alkohol ist noch nie mein Freund gewesen und die Geschichte mit Kain bestätigt mich nur noch mehr darin.

Mein Problem mit der ganzen Geschichte ist im Grunde auch ein ganz anderes. Eines, was ich mir ungern eingestehe, aber kaum weiter leugnen kann. Ich fand es gut. Sehr gut sogar und das durfte nicht sein, schon gar nicht mit so einer Luftblase wie Kain. Missmutig robbe ich aus dem Bett, mache einen Abstecher zum Klo und danach einen Ausflug zur Mensa. Ich besorge mir eine Kleinigkeit zu essen und rauche unterwegs ein paar Zigaretten, um den Kopf frei zubekommen. Mit Tee und einem belegten Brötchen setze ich mich wieder an den PC.
 

Jeff ist noch immer nicht zurück, dabei sind seine Vorlesungen längst vorbei. Vielleicht reicht diesmal der Pullover nicht aus? Quatsch. Es ist ein teurer Pullover und Jeff ist schon bei weniger eingeknickt. Manchmal reicht eine Packung Gummibärchen und er wird zum Mochi mit Eiscremefüllung. Aus meinem Kopfhörer dringt in diesem Moment Aloe Blacc mit 'I need a dollar'. In unserer langjährigen Freundschaftslaufbahn ist es schon des Öfteren vorgekommen, dass ich Jeff etwas gekauft habe, weil ich zu stolz und auch ein klein wenig zu unfähig bin, um mich schlicht zu entschuldigen. Es läuft immer nach demselben Schema ab. Ich bin ein Idiot. Jeff ist sauer. Ich kaufe ihm etwas. Jeff ist sichtbar happy und erfreut, will es aber aus Vernunft heraus nicht annehmen. Als nächstes sage ich ihm, dass ich die Quittung nicht mehr habe und dass er es auch wegwerfen kann, wenn er das will. Es ist, wie ein einstudiertes Theaterstück zwischen uns, mit nur wenig Improvisationsspielraum. Jeff nimmt meine Entschuldigung eigentlich immer an, weil er die hilflose Geste dahin erkennt. Mein Kindheitsfreund ist unfassbar berechenbar, aber genau das beruhigt mich jedes Mal aufs Neue. Ich weiß, dass es nicht die Lösung aller Probleme ist, aber zwischen mir und Jeff funktioniert es. Geistesabwesend schlürfe ich an meinem Tee und starre eine Weile auf das Bett meines Mitbewohners.
 

Ich vertilge den Rest meines Abendbrotes und öffne den Entwurf für den neuen Roman. Noch immer klafft eine riesige Lücke an der Stelle des Titels. Ich notiere mir ein paar Ideen. Niemals nicht. Liebe lieber aktuell. Blutendes Herz. Der letzte Titel verspricht pure Theatralik. Das wird Brigitta sicher gefallen. Ich unterstreiche die Vorschläge, die mir am meisten zusagen und lege das Blatt beiseite. Nachdem ich weitere Details für die Personen und die einzelnen Akten herausgearbeitet habe, lege ich noch einen Beziehungsstammbaum der Charaktere an. Beziehungstypen. Verwandtschaften. Feindschaften. Ich muss erneut ein paar Dinge in dem vorigen Roman nachlesen als ich merke, dass ich mir bei einigen Personen hinsichtlich des Status nicht mehr sicher bin. Ich wende das Buch ein paar Mal in meinen Händen und fahre dann, wie ich es bereits in der Buchhandlung getan habe, den Buchrücken entlang. Danach lege ich es in meinem Schoß ab.

Ich lehne mich zurück als mein MP3-Player ein neues Lied beginnt. Mein linker Arm hängt an der Seite hinab, während der andere über der Rückenlehne liegt. Es gibt nur wenige Lieder, die tatsächlich dafür sorgen, dass ich mich im Rhythmus dazu bewege und 'Dirrty' von Christina Aguilera ist eines davon. Mit den Fingern klopfe ich den Takt des Liedes gegen die schwarze Plastikverkleidung des Stuhls. Mein Knie lehnt gegen die schmale Tischkante und mein Kopf beginnt sich nickend auf und ab zu bewegen.

„It's about time that I came to start the party. Sweat dripping over my body...", flüstere ich den Text mit und lasse meine Augen geschlossen. Mein Becken hebt sich im Beat des Liedes. Uralt, aber der Song beflügelt mich. Nicht zuletzt, weil sich in meinem Kopf gleichzeitig das Musikvideo abspielt. Leider nicht nur dieses. Ein feines Erschaudern erfasst mich und arbeitet sich in Sekundenschnelle durch meinen Körper. Die damit einhergehenden bösen Erinnerungen verdränge ich gekonnt. Mit einem Mal spüre ich, wie sich Arme um meinen Hals legen. Ich schiele zur linken Seite und sehe Jeffs glatte Wange in Nahaufnahme. Für einen Moment drückt er seinen Kopf gegen meine Kopfhörer. Er lauscht und atmet mir dabei in die Halsbeuge. Die linke Seite ist hochgradig empfindlich. Ich schiebe die Musikspender auf der anderen Seite von meinem Ohr und Jeff macht genau das, was ich damit bezwecke. Er wechselt die Seite. Ich atme erleichtert aus. Mein Mitbewohner summt kurz mit und legt sein Kinn auf meine Schulter fallen.

„Du bringst ihn wieder zurück, verstanden?" Jeff meint den Pullover und sieht mich mit einem Blick an, der mir deutlich sagt, dass er dann aber in Tränen ausbricht. Nachher muss ich ihm noch mehr kaufen, damit er aufhört zu heulen. Wie konnte ich nur all die Jahre nicht schnallen, dass er vom anderen Ufer ist? Meine Fantasie malt ihm einen regenbogenfarbigen Heiligenschein. Um den lästigen Diskussionen zu entgegen, mache ich es ihm leicht. Im Grunde so wie immer „Ich hab die Quittung nicht mehr. Verkauf ihn, wenn du ihn nicht willst oder wirf ihn weg." Damit wende ich mich wieder meinem Rechner zu. Jeff rührt sich nicht. Wahrscheinlich hat er ein Déjà-vu.

„Mach einen Abgang, Koch", setze ich nach. Ich benutze absichtlich seinen Nachnamen, weil ich weiß, dass er es nicht mag. Er grunzt theatralisch mit einem Hauch Verzweiflung. Wirklich nur eine Nuance.

„Jetzt behalte ich den Pullover aus Trotz." Tanz, Püppchen tanz. Ich verkneife mir ein zufriedenes Lachen. Jeff ist glücklich und ich spüre, wie das schlechte Gewissen endlich in die Tiefen meiner Gefühlsschlucht zurück sickert. Wenigstens Geschenke machen kann ich oder eher bestechen. Jeffs nett gemeinter Würgegriff wird kurz fester und lockert sich dann.

„Wir müssen mal wieder tanzen gehen", schlägt Jeff prompt vor und summt das Lied einfach weiter.

„Träum weiter, Satansjünger. Nein. No. Net. Non. Iié. Nahi.", erwidere ich diesen wahnwitzigen Vorschlag. Das letzte Nein in Hindi ist neu. Shari sei Dank. Jedoch verhindert der Gedanke an die schöne Inderin nicht, dass sich die bösen Erinnerungen erneut hervorpellen.

„Ach komm. Du schlägst dich doch immer gut und ich fand, es hat beim letzten Mal viel Spaß gemacht." Sein Lächeln ist lieblich mit einer tiefgründigen Diabolik. Er geht auch nicht auf meine Nein-Tirade ein und greift über meine Schulter hinweg zu meinem Roman. Bevor er etwas erkennen kann, nehme ich ihm diesen aus der Hand und werfe das Buch blitzschnell aufs Bett.

„Weiche von mir, Teufel!", fluche ich lautstark, "Du musstest nicht unter Schmerzen aus dem Bett kriechen oder die Treppe runtergehen. Ich habe zwei Stunden in der Badewanne festgesessen, weil ich nicht mehr rausgekommen bin und...und versuch mal etwas zu essen, wenn man seine Arme nicht mehr heben kann." Ich höre, wie Jeff während meiner Erzählung vergnügt kichert. Die Erinnerungen an das Tanzdesaster im letzten Schuljahr sind wieder vollkommen da und ich spüre, wie der Hass auf meine damalige Sportlehrerin wieder aufflammt. Es war das erste Mal, dass ich meine eigenbrötlerische Art verflucht habe, denn sie hatte mich nicht nur aus Basketball-AG, sondern auch aus der normalen Unterrichtsgruppe getrieben und das direkt in die Arme der einzigen, noch suchenden Teamsportart. Tanzen. Jeffs Favorit. Er ist wirklich talentiert und hat all das Rhythmusgefühl und die Eleganz, die mir fehlt. Trotz flehen und betteln hatte mir unsere schadenfrohe Lehrerin erklärt, dass ich keine andere Wahl habe, weil sonst meine Sportnote flöten ginge. Insgeheim spekulierte sie darauf, dass ich während des geplanten Auftritts am Ende des Schuljahres gnadenlos untergehe. Was nur nicht passiert ist, weil Jeff mich wochenlang brutal quälte. Highschool Musical trifft Nightmare on Elmstreet. Hinter Jeffs harmloser und freundlicher Schweinchen-Babe-Fassade steckt nämlich ein Sadist. Es einen Drill zu nennen, wäre zu harmlos. Pein zu milde. Tortur zu lieblich. Folter zu rosa. Er bereitete mir die Hölle auf Erden und ich bin mir sicher, dass er Spaß daran hatte. Ich spürte monatelang Muskelgruppen, die garantiert kein normaler Mensch braucht. Jedenfalls für nichts Sinnvolles oder Existenzielles. Jeff war wortwörtlich ein tanzender Freddie Krüger für mich, der mich bis in meine Träume verfolgte. Dennoch habe ich den Auftritt gemeistert. Die damals entstandene Aufnahme habe ich bis heute nicht gesehen und ich garantierte Jeff einen schmerzvollen Tod, sollte er es jemals jemand zeigen.

„Oh, armes Tweety... Du lebst doch noch, also beschwere dich nicht." Mein blonder Mitbewohner pattet mir den Kopf als wäre ich ein kleines Kind, dem er erklärt, dass es spinnt. Erbaulich.

„Das habe ich nicht dir zu verdanken, Beelzebub", funkele ich ihm entgegen und möchte ihm die Hand abbeißen. Ein Versuch misslingt. Ich bin zu langsam. In der Savanne würde ich gnadenlos verhungern. Vermutlich auch im Zoo.

„Sondern?", fragt Jeff kichernd.

„Tabea... Sie hatte heilende Hände", säusele ich schwelgend. Sie war meine zugewiesene Tanzpartnerin und unglaublich ausdauernd und biegsam. Nicht nur beim Tanzen.

„Ernsthaft?", fragt er überrascht, "Du Filou! Sie hatte so wunderschöne Augen. Sie hat sogar mir gefallen", sagt Jeff, wirkt weiterhin total verblüfft, so als würde er nicht glauben, dass sie mich rangelassen hat. Aber sie hat. Es war mein Badboy-Charme. Und ja, ihre Augen waren der Wahnsinn. Seegrün und tief. Sie waren wie sonnengeküsstes Meer an einem lauen Sommertag. Ein echtes Highlight. Wenn sie sogar Jeff aufgefallen ist, muss das etwas heißen.

„Ja, da warst du noch nicht schwul", entflieht es mir trocken und ohne wirklich darüber nachzudenken.

„Dir ist schon klar, dass ich bereits damals schwul gewesen bin und es nur nicht gesagt habe?" Er drückt säuerlich mit der flachen Hand mein Gesicht weg und wieder mal ist bestätigt, dass ich niemals den Oscar für einfühlsames Verhalten bekommen werde. Eher eine goldene Himbeere für den schlechtesten Freund aller Zeiten. Was mir aber wiederum einen Akademie Award für den fiesesten Bösewicht einbringen könnte. Ein echter Zwiespalt. Jeff mustert mein abwesendes Gesicht. Will er noch eine Antwort?

„Du, Chamäleon, du", plappere ich drauflos, aber mit einer Verzögerung. Wie sinnreich.

„Du, Elefant, du!", gibt er mir aufgebracht retour und verdeutlicht mir damit das imaginäre Glashaus, welches ich in Begriff bin zu zerlegen.

„Entschuldige, ich bin nun mal ein Stein. Was soll ich dagegen machen?"

„Stein? Du bist ein ganzer Talus." Geologen-Talk. Ich kann mithalten.

„Mit Findling wäre ich noch einverstanden."

„Pah, ein Felsblock mit gigantischen Ausmaßen", schmettert er mir entgegen. Ich wäre lieber ein handlicher Stein geblieben, aber Jeff hat Recht. Mein empfindsames Gefühlsspektrum schlägt nicht nur eine Scheibe ein, sondern verursacht gleich einen ganzen Scherbenhaufen. Ich gestehe meine Niederlage ein. Was diskutiere ich auch mit einem Geologen über Steinvariationen?

„Das liebst du doch so an mir...", kommentiere ich trocken und wenig ernst gemeint. Jeffs Gesichtsfarbe wechselt von aufgebrachtem Rot zu beschämten Rosé. Er macht mir gegenüber eine Kopfnuss-Geste und ich spüre seine Fingerknöchel, die aber nur hauchzart über meinen Kopf gleiten. Kurz bleibt seine Hand in meinem Nacken liegen und dann entfernt sich mein Mitbewohner von meinem Schreibtisch. Ich sehe ihm nach.
 

„Was ist eigentlich schon wieder mit dir und Kain los?", fragt Jeff und lässt sich auf sein Bett plumpsen.

„Wer?", frage ich ungerührt, während mir der Gedanke an den anderen Mann ein Füllhorn an Gefühlsregungen durch den Körper jagt. Nicht nur die zuckersüß-teuflischen, wie Wut und Verärgerung. Sondern auch die Absonderlichen, wie Geilheit und Aufregung. Grässlich. Es macht mich verrückt. Ich drehe mich schnell wieder zu meinem Rechner, damit sich nicht irgendeine verräterische Gefühlsregung in meinem Gesicht widerspiegelt.

„Du weißt schon. Kain. Groß. Gutaussehend. Er hat diesen perfekt gestählten Hintern, ein Sixpack und diese schönen dunkelbraunen Bambiaugen." Noch während seiner malerischen Aufzählung drehe ich meinen Stuhl in seine Richtung und runzele die Stirn. Ich schelte mich selbst, weil ich mir bei der Erwähnung seines Hinterns in Erinnerung rufe, wie er sich angefühlt hat. Ich sollte das mit dem Avada kedavra noch mal üben.

„Kriegst du auch eine weniger schwule Beschreibung hin?" Jeff setzt sich in den Schneidersitz, tippt sich gegen das Kinn und grinst.

„Groß, laut und studiert Biotechnologie?" Ich frage mich unwillkürlich, wie wohl meine Beschreibung bei ihm aussieht. Mittelgroßer Typ mit braunen Haaren, der Biochemie studiert? Irgendwie erbärmlich. Gar traurig.

„Nein, sagt mir nichts.", gebe ich verarschend von mir. Damit wende ich mich wieder meinem PC zu.

„Ach komm. Habt ihr euch nach der Wohnheimparty in die Haare bekommen? Normalerweise bist du betrunken doch sehr friedvoll." Und ich war übermäßig friedvoll! Friedvoller geht es nicht. Fast gefügig. Warum geht er eigentlich davon aus, dass ich Schuld habe? Ich bin beleidigt.

„Komm schon, was ist los? Elefanten sind doch Herdentiere und eigentlich sehr sozial", kommentiert Jeff und legt sich hin. Haha.

„Seit wann bin ich sozial?", antworte ich mit meinem berechtigten Einwand. Jeff seufzt.

„Ich habe eigentlich gesagt und ich verstehe dich nicht. Kain ist ein toller Typ, intelligent und echt nett." Nett? Ich erinnere mich an Kains Robotervergleich und definiere nett anders. „Was ist dein Problem mit ihm?"

„Jeff!", gebe ich mahnend von mir. Zur Verdeutlichung werfe ich ihm meinen Kugelschreiber entgegen. Er landet neben Jeff auf der Bettdecke. Es gibt genügend Gründe, die meine mürrische Zurückhaltung dem Schwarzhaarigen gegenüber bekräftigen, aber Jeff muss sie nicht alle erfahren. Kain missachtet meine Privatsphäre und liest einfach meine Texte. Das allein begründet lebenslange Isolationshaft. Und dann noch diese rothaarige Mistkuh. Außerdem nervt er mich und er sorgt dafür, dass ich manchmal nicht Herr der Lage bin. Das geht mir am Meisten gegen den Strich. Mal ganz davon abgesehen, dass ich mit ihm geschlafen habe. Seltsamerweise bildet sich in meinem Kopf diesmal das Bild eines mit Schellen schlagenden Äffchens. In Fernsehserien käme jetzt eines dieser Dadomm-Geräusche. Ich lege meinen Kopf etwas schief und sehe zu meinem Mitbewohner. Jeff wartet noch immer auf eine Antwort. Er wird sie nicht bekommen.

„Hast du dich jemals länger als zwei Minuten mit ihm unterhalten?" Jeff gibt keine Ruhe. Ich gebe ein genervtes Geräusch von mir und werfe diesmal den Bleistift nach hinten. Ich höre, wie er gegen die Wand prallt. Viel zu weit. Physik ist scheiße.

„Habe ich", antworte ich, ohne näher auf unsere Gespräch einzugehen. So ist es besser. Jeff muss nichts davon erfahren. Ich spüre, wie die Frequenz meines Herzschlags zunimmt, höre Kains Stimme, die mir Passagen meines Textes ins Ohr raunt. Lass mich noch ein bisschen den bösen Wolf spielen, wiederholt sich in meinem Kopf. Mein Ohrläppchen beginnt zu kitzeln, weil ich das Gefühl habe, ich würde erneut Kains Lippen dort spüren. Der federleichte Kuss und der kribbelnde Schmerz, verursacht durch den erregenden Biss. Unwirsch rubbele ich mir über das Ohr. Auch meine Fingerspitzen beginnen zu kitzeln. Ich will es aufschreiben. Jeffs Stimme reißt mich aus den Gedanken.

„Gib ihm doch eine Chance."

„Kannst du bitte aufhören. Ich habe keine Lust dir noch einen Pullover kaufen zu müssen", gebe ich warnend von mir, weil Jeff langsam meinen Nervtoleranzpunkt erreicht. Augenblicklich hält er den Mund. Sieg. Ich schüttele imaginäre Pompons. Oh weh. Ich darf mich nicht mehr so oft mit Brigitta treffen. Leise seufzend nehme ich mir den skizzierten Personenbaum hervor.

„Du könntest...", ertönt leise hinter mir. Ich werfe meinen Radiergummi in die Richtung. Jeff muss diesmal ausweichen.

„Ich warne dich..." Es folgt noch ein kurzes Zucken seiner Mundwinkel. Ich deute an, dass ich gleich noch etwas nach ihm werfe und diesmal wird es größer und schwerer. Er lehnt sich an die Wand.

„In Blau gefiel er mir aber auch.", sagt er schelmisch und presst die Lippen aufeinander. Ich knülle eines der Blätter der Korrektur zusammen und werfe es Jeff zu. Einen halben Meter vor seinen Füßen geht der Papierball zu Boden. Mein Wildtierlevel erreicht heute gerade so das eines Stubentigers. Miau. Jeff lacht erheitert auf.
 

Jeff schafft es den restlichen Abend das Thema Kain kein weiteres Mal an zu sprechen. Dafür kriegt er es fertig eine halbe Stunde mit seinem Ficus zu reden und meine dummen Kommentare dazu vollkommen zu ignorieren. Während ich meinen Mitbewohner dabei beobachte, wie er vertrocknete Blätter von der Pflanze zupft, denke ich ein paar Mal darüber nach, dass ich sehr froh sein kann, dass Ben ihm nicht antworten kann oder ihm irgendwelche Dinge erzählt. Das wäre für mich eine ziemlich peinliche Nummer. Ich bin manchmal wirklich unfreundlich zu dem grünen Teil. Und er hat Dinge gesehen, die ich selbst lieber vergessen möchte. Nackte Dinge. Kain Dinge. Vermutlich hat Ben längst ein Traum davon getragen und wartet nur darauf, die Welt von den Menschen zu befreien. Mein vibrierendes Handy reißt mich aus der Fantasie, in der menschenfressende Pflanzen, allem voran Ben, den Campus terrorisieren. Es ist eine Nachricht von Kain und ich schiebe das Fenster weg, ohne sie zu lesen.
 

Am nächsten Morgen stelle ich fest, dass die einzige Vorlesung des Tages ausfällt. Mitgeteilt wird es den Studierenden durch einen kleinen, weißen Zettel, der an der Tür des Hörsaales klebt. Ein Hoch auf die Digitalisierung. Alle Mitarbeiter und Studenten haben E-Mailadressen. Es gibt ein Lern- und Informationsportal, aber warum sollte man das nutzen? Ich bin genervt. Ich sehe auf die Uhr und sie zeigt mir das, was ich befürchte. Zu spät um wieder ins Bett zugehen. Zu früh für Mittagessen. Ich trabe missmutig zurück ins Wohnheim, bleibe einen Moment ratlos an meinem Schreibtisch sitzen. Ich angele meinen Terminkalender aus der Tasche und stelle fest, dass ich in ein paar Wochen ein Referat halten muss. Das Thema habe ich auch schon. Signaltransduktion. Gemeint sind damit die Signalübertragungsprozesse, mit denen Zellen auf äußere Reize reagieren, diese dann umwandeln und in die inneren Bereiche der Zelle weiterleiten. Meine Magen beginnt schon jetzt zu rumoren und das nicht, weil ich freudig das Mittagessen erwarte. Auch nicht wegen der Komplexität des Themas, sondern wegen der alleinigen Vorstellung vor dem Seminarteilnehmer zu stehen und zu reden. Leider sind Referate in vielen Seminaren und in einigen Vorlesungen obligatorisch für den erfolgreichen Abschluss. Missmutig öffne ich die Internetseite unserer Bibliothek und beginne nach Material zu recherchieren. Ich finde ein paar Bücher und interessant klingende Artikel. Ich notiere mir die Signaturen auf einen Zettel und nehme mir erneut Brigittas Anmerkungen zum neuen Buch vor. Diesmal erledige ich sie mehr oder weniger zufriedenstellend und wechsele danach zur neuen Romanidee. Seit dem in der Buchhandlung angelesenen Roman bekomme ich den Wunsch nach einer Sexszene nicht mehr aus dem Kopf. Gut, vielleicht hat auch die Katastrophe mit Kain und Jeff daran schuld. Es juckt mir in den Fingern. Ohne länger darüber nach zudenken, öffne ich eine neues Dokument und beginne zu tippen. Ich bin so in Gedanken, dass ich nicht einmal Jeff bemerke, der am Nachmittag ins Zimmer kommt.
 

Ich schrecke zusammen als mit einem Mal meine Stuhllehne runtergedrückt wird und der Kopf meines Mitbewohners über mir auftaucht. Auch Jeff starrt direkt auf meinen Bildschirm, sowie es Kain beim ersten Mal getan hat. Nur kurz und sieht daraufhin zu mir runter. Ich sehe direkt in die blaugrauen Augen meines Kindheitsfreundes. Er lächelt und macht zu seinem Glück keine Anstalten weiterzulesen.

„Was ist das da in deinem Gesicht?", frage ich mit gerunzelter Stirn und pieke ihm in die Wange. Jeffs Augenbrauen runzeln sich ebenfalls und er fährt sich mit der Hand über seine Wange, so als hätte er ein Krümel im Gesicht.

„Was meinst du?"

„Dieses... na... die seltsame Verformung da..." Jeff seufzt, als er versteht, dass ich das Lächeln meine.

„Ein Lächeln. Ein Ausdruck für Freude, Glück und des guten Willens. Kannst du auch mal versuchen. So lernt man Menschen kennen", kommentiert Jeff und ich machen noch während er spricht ein angeekeltes Gesicht.

„Iieh, Menschen.", erwidere ich. Jeff patscht mir mit der flachen Hand einmal über das komplette Gesicht und lässt meinen Stuhl wieder los. „Und wieso lächelst du?", setze ich nach und bin wirklich interessiert.

„Ich hab ein Date!", flötet mein Mitbewohner enthusiastisch, "Also was ziehe ich an?" Eine rhetorische Frage.

„Hose und Oberteil? Alles andere ist optional!", sage ich trocken und ernte einen unaussprechlichen Blick. Ich bin ihm, wie erwartet keine Hilfe. Als ob er es nicht vorher gewusst hat.

"Im Ernst? Daran merkt man, dass du echt noch keine Freundin und kein Date hattest."

"Pah, das hat nichts damit zu tun. Ich mache mir über sowas einfach keine Gedanken. Das Geheimnis für meine Tiefenentspanntheit."

„Natürlich hat es damit zu tun. Dein Mangel an Dates sorgt ja auch dafür, dass du dir keinen Gedanken machen musst.", motzt er und versucht mich ein klein wenig provozieren. Wir bewegen uns im Kreis, weil jeder von uns beiden einen anderen Ausgangspunkt hat.

„Aber jetzt weißt du, wieso ich so zufrieden bin."

„Ich weiß ja nicht, wie man ohne Sex zufrieden sein kann. Ich wäre an deiner Stelle schon verrückt geworden. Eingegangen...verdorrt... krepiert...verrottet", kommentiert Jeff, macht eine Erschießungsgeste und danach gleich eine, die eventuell eine Strangulationsgeste, aber auch eine seltsame SM-Praxis darstellen könnte. Wie anschaulich. Wenn er wüsste. Automatisch denke ich an Kain und den gar nicht so sexlosen Sex, den wir hatten. ich muss damit aufhören dauernd an ihn und den Vorfall zu denken. Dringend. Jeff macht währenddessen ungerührt weiter mit seinen lautmalerischen Aussagen. Wieder schleicht sich Kain in meinen Kopf und diesmal mit der Äußerung über das kaninchenhafte Verhalten der beiden Männer.

„Okay, es reicht. Ich hab's verstanden.", watsche ich ihn endlich ab, "Erst einmal braucht man für Sex keine Freundin und Zweitens verfolgt nicht jeder die Taktik von r-Strategen." Qualität statt Quantität ist die Devise. Nur bei den beiden Blonden nicht. Dass ich im Grunde über die Qualität ihre Geschlechtsaktes nichts aussagen kann, verdränge ich gekonnt und frage mich sofort, wieso ich darüber nachdenke.

"r-Was?"

„Kain meinte, du und Abel seid wie Kaninchen! In der Biologie nennt sich das fortpflanzungstechnische r-Strategen", erläutere ich und mache nebenbei ein Häschengesicht. Ich wackele mit der Nase und nutze meine Hände noch als Ohren. Jeff beginnt bei der ungewohnten Vorstellung zu lachen. Ich höre Jeff gern lachen, denn es ist wirklich ansteckend.

„Ow, mach das niemals in Kains Gegenwart. Ich weiß von Merena, dass er ein Faible für Spitznamen hat.", gibt Jeff lachend von sich. Leider lenkt die Erwähnung der Rothaarigen sofort den Grad meiner Stimmung ans Nullende des Koordinatensystems und tiefer. Nicht proportional sondern gradlinig gen minus unendlich.

„Für die fällt mir auch der ein oder andere Spitzname ein.", gebe ich bissig von. Nur sind das keine Netten.

„Sie ist buchstäblich dein rotes Tuch oder?", bemerkt Jeff und greift nach seiner Tasche.

„Buchstäblich oder wortwörtlich würde voraussetzen, dass sie tatsächlich ein rotes Tuch ist. Du meinst metaphorisch", berichtige ich ihn. Jeff äfft mich in Gedanken nach, das erkenne ich an der typischen Kopfbewegung, die er macht. Ich bedenke ihn mit einem Blick, der deutlich nach seinem Alter fragt und ernte eine herausgestreckte Zunge. Vielleicht sollte ich beim nächsten Mal von Jeffs Mutter Betreuungsgeld verlangen.

„Das tangiert mich in keinster Weise und ich meine buchstäblich", kommt es daraufhin von Jeff. Er deutet auf seinen Kopf, meint ihren roten Haarschopf und bei mir richten sich die Nackenhaare auf. Einer der populärsten Fehler. Klar, dass Jeff genau das mitnimmt. Noch dazu macht er es mit purer Absicht, weil er genau weiß, wie sehr es mich aufregt. Im Gegensatz zu mir hatte Jeff einen Englisch-Leistungskurs in der Oberstufe und bereits in der 10. Klasse eingeschätzt, dass ihm seine eigene Mutter nicht liegt. Zu viele Wörter und so seltsame Beugungen. Aha. Klar, das ist als Muttersprachler entsetzlich schwierig. Böse Wörter. Teuflische Konjugationen und dann noch die vier grausamen Fälle. Im Russischen gibt es sechs. Wahrscheinlich wäre er nach jeder Stunde heulend aus dem Klassenzimmer gelaufen. Gerade die Vielfältigkeit und die Variabilität unserer Sprache macht sie für mich so attraktiv. Denn dank ihr lässt sich die Welt so wunderbar beschreiben und deuten.

„In keiner Weise. Verdammt noch mal", pfeffere ich ihm berichtigend entgegen.

„Ich weiß, aber wenn du mich ärgerst, nerve ich dich eben. Du bist schließlich nicht der einzigste Schlaue hier!" Schon wieder. Jetzt wird das kratzige Gefühl unter meiner Haut akut. Es ist wie ätzende Flüssigkeiten, die sich durch die Schichten meiner Epidermis fressen.

„Einzige. Einzige!", pfeffere ich ihn entgegen und halte mir die Ohren zu. Ich stehe von meinem Rechner auf, greife nach meinem Laptop und dem Zettel mit den notierten Kennziffern für die Bücherstandorte. Jeff höre ich nur noch zufrieden lachen als ich zur Tür gehe und die Flucht antrete.

„Ich werde mich jetzt mit richtiger Grammatik umgeben. Viel Spaß bei deinem Date.", wünsche ich meinem Jugendfreund und setze mir die Kopfhörer auf.

„Viel Spaß in der Bibliothek", höre ich ihn trotzdem sagen und ich bin jedes Mal aufs Neue überrascht, wenn Jeff das letzte Wort hat. Das passiert nicht allzu oft.
 

Draußen stecke ich mir eine Zigarette an, spüre das kitzelnde Gefühl in meiner Lunge und bevor ich es genießen kann, sehe ich Abel auf mich zu schlendern. Vor mir bleibt er stehen und ich verfluche die höheren Mächte, dass sie mir nicht mal die Gelegenheit zur Flucht gegeben haben. Ich ziehe mir sogar aus der Gewohnheit heraus die Kopfhörer vom Kopf. Glanzleistung. Mir entgeht nicht, dass Abel mich unauffällig mustert, was ich auf meine Klamottenwahl schiebe.

„Hey.", begrüßt er mich und grinst.

"Jeff ist im Zimmer und veranstaltet ein Klamottenchaos.", erwidere ich so neutral, wie möglich. Abel lacht monoton auf. Seine Stimme ist echt zum Einschlafen. Ich sehe an ihm vorbei und versuche ihm anzudeuten, dass ich weiter muss. Ich schaffe einen Schritt, ehe mich seine Stimme wieder zurückhält.

"Und wo willst du hin?"

„In die Bibliothek", erwidere ich. Unwillkürlich hole ich eine neue Zigarette hervor, stecke sie mir zwischen die Lippen und suche nach dem Feuerzeug. Alles nur Ablenkung und der Versuch aus der Situation zu fliehen.

„Brauchst du Feuer?", fragt Abel und zieht ohne Umschweife und Antwort ein Feuerzeug aus seiner Jackentasche. Er reicht es mir nicht, sondern betätigt das Rädchen und die Flamme entzündet sich. Ich beuge mich etwas widerwillig vor und lasse mir von ihm die Zigarette anzünden.

„Wieso hast du ein Feuerzeug in der Tasche? Du rauchst doch gar nicht, oder?", frage ich und ignoriere das seltsame Gefühl in meinem Nacken, welche seines Nähe bei mir verursacht. Irgendwas an ihm lässt meine Armglocken klingeln, auch wenn ich, abgesehen von seiner akkuraten Dummheit und der Angewohnheit für schlechte Witze, nicht sagen kann, was es ist. Es ist einfach so ein Gefühl.

„Ist für Kerzen", antwortet er ruhig, steckt das Feuerzeug zurück in seine Jackentasche und lächelt.

„Kerzen?"

„Ja, Jeff steht auf diesen Romantikkram und manchmal, wenn er getrunken hat, will er auch mal eine Zigarette."

„Ach!", kommentiere ich überrascht. Jeff, dieser miese kleine Heuchler.

„Verrate ihm nicht, dass ich dir das erzählt habe, sonst dreht er sich aus mir einen Jahresvorrat." Abel lacht und ich ringe mir ein gekünsteltes Lächeln ab. Wahrscheinlich wirke ich in diesem Moment auf Außenstehende als hätte ich einen Schlaganfall. Abel merkt es nicht. „Apropos Romantikkram." In Abels Gesicht bildet sich ein sonderbares Grinsen und er deutet in die Richtung Wohnheim. Ich will keine weiteren Informationen und wende mich zum Gehen.

„Hey Robin", ruft er plötzlich und ich wende mich zögerlich um, "Mal so unter uns, dass mit dem Rauchen ist ein Abtörner beim Küssen." Auch Abel wartet keine Antwort ab und verschwimmt nach ein paar Metern mit der Dunkelheit. Ich brauche noch einen Moment bis ich weitergehe.
 

Bis ich bei der Bibliothek angekommen bin, habe ich die zweite Zigarette aufgeraucht und komme noch immer noch nicht über diesen Kommentar hinweg. Was sollte das? Abtörner beim Küssen. Wieso interessierte ihn das überhaupt? Ich knurre unverhohlen und schüttele den Kopf. So ein Vollidiot.

Trotz voranschreitender Uhrzeit ist in der Bibliothek noch Einiges los. Überall sitzen fleißig arbeitende Studenten vor Bücherstapeln oder bewegen sich durch die Gänge. Darunter sind sogar ein paar Gesichter, die ich kenne. Marie sitzt mit einem Stapel Bücher an einem Tisch in der Nähe der Fachabteilung für Biologie und hat den Handapparat geplündert. Sie ist, wie ich, im vierten Semester, aber für reine Biologie. Ich habe bereits ein paar Gruppenaufgaben mit ihr zusammen durch gestanden und wir haben uns im letzten Jahr erfolgreich gegen Kains Rothaarige verbündet. Allein das macht Marie zur Heiligen für mich. Als ich an ihr vorbeikomme, klopfe ich kurz auf ihren Tisch. Als sie aufblickt und mich erkennt, schiebt sie ihre Brille zurecht und lächelt. Ohne ein Wort mit ihr zu wechseln, mache ich mich auf die Suche nach meinen Signaturen.
 

Die Bücher finde ich sofort, aber die Magazine bleiben auch nach einer Viertelstunde suchen unauffindbar. Mir scheint als wäre mir etwas Wichtiges entfallen. Bei der obligatorischen Führung im ersten Semester durch die Bibliothek, bei der uns alles erklärt wurde, habe ich gefehlt. Ich lege die bereits gefundenen Wälzer auf eine der Ablagen und bleibe vor einem Übersichtsplan stehen. Eine Auflistung der Abteilung und deren Signaturbestandteile. Nur werde ich werde daraus nicht schlau. Ich lege meinen Kopf schief um die Perspektive zu ändern, aber auch das hilft nicht. Bis ich merke, wie auf der linken Seite mein Kopfhörer vom Ohr gehoben wird.

„Du hast nicht auf meine Nachrichten geantwortet.", flüstert eine bekannte männliche Stimme. Kain. Er lässt meinen Kopfhörer wieder los und der Bügel rutscht mir auf den Hals. Ein Seufzen verkneife ich mir ebenfalls nicht.

„Hab sie nicht mal gelesen.", erwidere ich, sehe nicht zu dem Schwarzhaarigen, sondern fahre mit den Augen erneut die Liste ab. Danach blicke ich auf meinen Zettel und beiße mir sachte auf de, Wangeninneren herum. Ich kann die Signaturen einfach nicht zu ordnen.

„Hab ich gesehen", entfährt es ihm laut. Für ein paar Sekunden warte ich auf einen klischeehaften Psch-Laut, aber er bleibt aus. Die Bibliothek ist so groß, dass es hier einige Ecken gibt, in denen man sich lauthals anschreien könnte, ohne, dass es jemand merkt. Gerüchten zur Folge werden diese Ecke auch gern für Stelldicheins benutzt. Ich suche mir gern solche Plätze, um von niemanden angetroffen zu werden. Kain lehnt sich neben die Liste an das Regal, verdeckt die komplette linke Seite und damit die Hälfte der Regalnummern. Seine Arme verschränkt er vor der Brust und sieht mich unverwandt an.

„Was willst du?", frage ich genervt.

„Wenn du meine Nachrichten gelesen hättest, wüsstest du es.", kontert er. Ich versuche mein Gesicht noch ein Stück genervter aussehen zu lassen und bin mir nicht sicher, wie wirkungsvoll es ist. Kain zeigt keine Regung, also wende ich mich ab um eine Mitarbeiterin zu suchen, die mir helfen kann. Kain lässt es nicht zu. Seine Hand gleitet widerstandslos zwischen meinen Arm und Oberkörper und packt zu. Der Ruck lässt mich etwas taumeln und ich pralle gegen ihn. Das ist nicht effektlos. Das ewig Körperliche macht mir zu schaffen und ich suche automatisch den Abstand. Kain hält mich eisern fest und nun sehe in sein grimmiges Gesicht.

„Du tippst aus dem Stand tausend Worte Erotikkram, aber schaffst es nicht eine Kurzmitteilung zu verfassen?", bellt er leise, aber mit Nachdruck.

„Verklag mich! Ich hatte keine Lust dir zu antworten. Klar?" Boden öffne dich. Ein Blitz wäre auch gut. Das Einzige, was mich trifft, ist die Stille und Kains verstehender Blick. Noch deutlicher hätte ich es ihm nicht machen können. Das Klar. Ich hab es gefressen und nun weiß er es. Ich sehne mich nach einer plötzlichen Feuersbrunst. Bitte. Noch immer nur Stille. Ich versuche meinen Arm aus seinem Griff zu befreien, doch es klapp erst, als Kain mich freiwillig loslässt. „Sicher wartet doch irgendwo dein Rotflittchen.", spucke ich hinterher, setze mir demonstrativ die Kopfhörer auf und schalte die Lautstärke höher. Ich wende mich ab. Unser Gespräch oder was auch immer das war, ist beendet.
 

Ein paar Meter weiter bleibe ich wieder stehen und sehe mich um. Der Song wechselt und es erklingt Rihanna mit 'Umbrella'. Klasse, das garantiert mir für den restlichen Tag einen Ohrwurm. 'Ella ella, ay ay ay. Under my umbrella'. Prima, es geht schon los. Die feinen Härchen in meinem Nacken richten sich auf als ich den warmen Körper des anderen Mannes plötzlich hinter mir spüre. Er zieht mir die Kopfhörer von den Ohren. 'When the war has took its part. When the world has dealt its cards', schallt es leise aus meinen Musikgerät. Auch Kain hört es. Sein Arm greift an mir vorbei und ich halte still. Seine Hand schiebt sich zwischen meinem Händen, die meine Notiz halten und meinem Bauch nach oben, ohne mich weiter zu berühren.

„Die musst du bestellen", flüstert mir Kain zu, "Das ist Magazinware und die ist nicht zugänglich." Sein Zeigefinger tippt auf die zwei Signaturen auf meinem Zettel. Gut zu wissen. „Das kannst du alles in den Anmerkungen nachlesen. Solltest du nachholen." Ich höre deutlich die Ironie in seiner Stimme. 'Ella ella, ay ay'. Die Hitze an meinem Rücken verschwindet. Die leisen Schritte des großen Mannes verstummen schnell. 'Under my umbrella'. Erst, nachdem ich glaube, dass er es nicht mehr merkt, sehe ich ihm nach. Weit gefehlt. Kain hat bei einer Kommilitonin gestoppt und sieht in diesem Moment zu mir. Blitzartig biege ich in den nächstbesten Regalgang ein und halte die Luft an. Ich greife blind nach einem und atme aus. Verräterisch hoch fünf. Ich bin reflexartig geflohen und Kain hat es definitiv gesehen. Ich sehe auf das Buch in meiner Hand und lese den Titel. Quantentheorie. Gegen ein schwarzes Loch hätte ich in diesem Moment überhaupt nichts und ich überlege auch, es als Strafe zu lesen. Doch stattdessen schiebe ich es zurück ins Regal, greife mir meine Bücher und lasse mich auf einen der freien Arbeitsplätze nieder. Mein Laptop fährt hoch und ich ziehe mein Handy aus der Tasche. Ich versuche es beiläufig aussehen zu lassen, aber ich scrolle direkt zu Kains Nachrichten. Es ist eine Entschuldigung. Er hat sich von mir angegriffen gefühlt und er war verwirrt. Er möchte mit mir reden. Reden. Was erhofft er sich davon? Wir reden und damit ist es vergessen? Sicher nicht. Ich schiebe das Handy missmutig zurück auf den Tisch, nehme mir das erste Buch vor und ertappe mich dabei, wie ich andauernd auf das dunkle Display des Telekommunikationsgeräts starre. Kommunikation, die Quintessenz jeder humangesellschaftlichen Beziehung und meine Nemesis.

Irgendwann tippt mir dir Bibliothekarin auf die Schultern und erinnert mich daran, dass sie schließen. Ich werfe einen Blick auf die Uhr. Es ist kurz nach 9 Uhr und ich habe nicht einen nützlichen Stichpunkt gemacht.
 

Im Zimmer ist es dunkel und mir wird bewusst, dass Jeff nicht erzählt hat, wo die beiden heute hingehen. Irgendwas Romantisches vielleicht? Wieder kommt mir Abels seltsamer Kommentar in den Sinn und ich schüttle energisch den Kopf um ihn wieder loszuwerden. Ich brauche eine Dusche. Eine warme, ausgiebige Dusche. Dringend. Ich sehe auf die Uhr. Es ist reichlich spät. Laut unserer Wohnheimordnung müssen wir bis 22 Uhr die Duschräume verlassen haben. Der Grund ist die akute Gefahrenvermeidung bei unsachgemäßer Bedienung von Sanitäreinrichtungen. Kurz, Studenten sind unverantwortlich und dämlich. Leider gab es in den letzten Jahren tatsächlich mehrere Unfälle, bei denen eine nicht unbedeutende Menge an Alkohol und eine verschwenderische Bedienung der sanitären Einrichtungen eine Rolle spielten. Ich habe einen Deal mit dem Aufseher Micha, der mich bis halb 11 Uhr in Frieden lässt, sodass ich in aller Ruhe duschen kann, wenn niemand anderes mehr da ist. Vorausgesetzt ich betätige vor 22 Uhr den Wasserhahn und pflege einen sorgsamen Umgang mit den Resten meiner Zigaretten. Daran arbeite ich noch. Ich mache auf den Absatz kehrt und gehe zu den Duschräumen.
 

Im Flur vibriert mein Handy. Als ich auf das Display schaue, erkenne ich die Nummer meines Elternhauses. Bisher habe ich noch nicht mit Jeff gesprochen und weiß daher noch immer nicht, wann er genau er nach Hause fährt.

„Hm?" Nach kurzem Zögern gehe ich ran.
 

„Sag, haben sich deine Gliedmaßen zu zu kurzen Dinosaurierärmchen zurückentwickelt? Oder leidest du an Aphasie? Hm, vielleicht auch Analphabetismus, Bruderherz?", rasselt mir Lena augenblicklich entgegen und ich bekommen im ersten Moment nur einen mürrischen Brummton zur Stande. „Also doch das akute Verstummungssyndrom", kommentiert meine kleine Schwester weiter. Im Hintergrund höre ich meine Mutter, wie sie mahnend Lenas Namen sagt. Ich betrete den Umkleidebereich.

"Bist du fertig?", frage ich ruhig und höre sie glucksen, "Hat wieder jemand vergessen deine Zelle abzusperren?" Ich krame nebenbei meine Duschutensilien aus dem Spind.

„Wir hatten Tag der offenen Tür. Den Fehler machen sie jedes Mal", kichert sie mir übertrieben verrückt entgegen. Erneut höre ich meine Mutter etwas sagen, verstehe aber nicht, was es ist. „Ja, doch...Mama will endlich wissen, wann du hier aufschlägst und sie duldet keine weitere Ausrede."

„Dann sag ihr doch bitte, dass sie einfach Jeffs Mutter fragen soll."

„Na, ich weiß ja nicht, ob sie das hören will. Moment, ich gebe sie dir." Ich kann hören, wie sie sich vom Tisch wegbewegt und wie sie Mama ruft. Hilfe.

„Lena, nein!!" So laut ich kann. Ich habe keine Lust auf mehr von diesem verzehrenden Gefühl namens schlechtes Gewissen. Jeff hatte meinen Jahresvorrat in den letzten Tagen aufgebraucht. Solche Gefühle liegen mir ganz und gar nicht. Irgendwann wird davon mein Gehirn weich. Garantiert. ich widerhole ihren Namen und sie geht wieder ran. „Mit etwas anderem kann ich ihr nicht dienen. Ich habe Jeff noch nicht gefragt." Meine Schwester schweigt einen Moment. Schweigen ist nicht gut. Gar nicht gut. Ich stelle mir vor, wie sie eine Strähne ihres dunkelblonden Haares zwischen den Fingern eindreht und ein nachdenkliches Gesicht macht. Ich weiß, dass sie sich dabei auf die linke Hälfte der Unterlippe beißt und wenn ihr etwas eingefallen ist, tippt sie mit der Zungenspitze gegen ihre Oberlippen.

„Das kostet mich meinen Freigang, das weißt du? Was kriege ich von dir dafür?"

„Einen kostenlosen Grammatikgrundkurs." Ich denke an Jeff. Auch Lena steht ein wenig mit ihrer Muttersprache auf Kriegsfuß. Dafür ist sie ein Ass in Mathe, Physik und Sport. Mit den ersten beiden Fächern kann man mich jagen.

„Oh, ich weiß! Du begleitest mich und eine Freundin auf das Konzert von 5 Seconds of Summer."

„Haha. Eher lasse ich mich von dir lebendig in Säure auflösen.", entgegne ich daraufhin. Ich ziehe mir nebenbei die Strickjacke von den Schultern und streife die Schuhe ab.

„Ach komm schon, wenn du uns begleitest, sagt Mama bestimmt ja. Sonst denkt sie, wir werden dort an einen Mädchenhändlerring verschachert."

„Darüber braucht sie sich keine Sorgen machen, dich bringen die wieder zurück und lassen noch Geld da."

„Haha, du Traumbeere. Nicht witzig. Komm schon, du mir den Gefallen." Was haben nur alle mit diesen nervigen Kosenamen? Sehe ich aus, wie jemand, bei dem man niedliche Bezeichnungen anwenden kann? Zum Glück sieht niemand, dass ich kindisch mit dem Kopf wackele und dazu das Gesicht verziehe, während ich zu den Duschen laufe.

„Ich lege jetzt auf. Gruß an Mama", sage ich, warte keine Erwiderung ab und schiebe das Telefon in meine Hosentasche. Ich werfe meine Klamotten der Reihe nach auf die Bank in der Mitte des Raumes und blicke noch mal zur Tür, bevor ich mir als Letztes das Shirt über den Kopf ziehe. Danach husche ich in die Kabine.
 

Warmes Wasser trifft meinen Körper und ich schließe genießerisch die Augen. Es fühlt sich gut an und ich entspanne mich. Leider führt es dazu, dass auch meine Gedanken zu rotieren beginnen.

Kain hat sich tatsächlich entschuldigt. Damit habe ich nicht gerechnet. Ich lasse mir Wasser ins Gesicht prasseln und fahre mir mit den Händen den Hals, weiterhinab zur Brust. Unwillkürlich entsteht das Bild von Kains Oberkörper in meinem Kopf und ich erinnere mich daran, wie sich seine Haut unter meinen Fingern anfühlte. Sie war so warm und die Härte seine Muskeln so deutlich. Wie sie unter meiner Berührung arbeiteten. Mein Puls beschleunigt sich und das Kribbeln in meinem Bauch gleitet tief. Es war eine gute Erfahrung. Alles daran. Allen voran diese tiefgehende Befriedigung, die ich danach spürte. Auch wenn sie schnell in etwas Anderes übersprang.

Ich verstehe, warum Kain beim weiblichen Geschlecht so gut ankommt. Sein Körper ist ein Hingucker. Definiert und muskulös, aber in genau dem richtigen Maß. Ein Körper, über den ich auch in meinen Büchern schreibe. In meinem Kopf spulen sich automatisch die verzückten Ausrufe und das Staunen meiner weiblichen Protagonisten ab, wenn sie das erste Mal den Mann ihrer Träume oben ohne sehen. Beim Baden. Beim Sport. Beim zufälligen und komplett unerwarteten Regenschauer. Wieder so eine Phrase in den rosaroten Liebesroman-Himmel. Niemals ist es Sex, was sie als erstes verbindet. Dabei kann man meine Romane schon eher zu den Genre New Adult zählen, bei denen sexuelle Erfahrungen durchaus berechtigt wären. Noch dazu bin ich der Überzeugung, dass das durchaus das ist, was der Realität am Nächsten käme. Gerade bei so jungen Leuten, wie wir es sind.

Ein Treffen und man geht miteinander ins Bett. So mache ich es jedenfalls. Man kauft doch nicht die Kuh im Sack. Oder den Esel. Irgendetwas daran ist falsch, aber ich komme nicht auf die richtige Redewendung. In meinen Geschichten gibt es keinen Sex. Schließlich schreibe ich für einen Jugendverlag. Dennoch passiert es in meinem Kopf ständig, dass ich weiterdenke ohne es zu tippen. Dabei würden diese Szenen manchen meiner Bücher mindestens 50 Seiten mehr bescheren. Meiner Meinung nach fehlt es meinen Romanen oft an Tiefe. Zu meinem Glück verlangen die Teenager-Geschichten, die ich schreibe, keine Tiefe, denn sie stehen für ein unerreichbares Ideal, was es sowieso niemals geben wird. Es ist reine Fantasie, die hier bedient werden muss. Oft muss ich zu heftige Reaktionen abmildern oder rausstreichen. So was wollen die Leserinnen nicht hören. Am Anfang bat sie, mich niemals das aufzuschreiben, was ich denke. Mittlerweile weiß ich warum. Ich bin schlichtweg nicht verkaufsfördernd. Das hat mir Brigitta sogar mehrfach an den Kopf geworfen. Hart, aber ehrlich. Sie tut es heute noch.

Im Moment würde dabei auch nur übererotischer Kram rauskommen, was mein geschriebener Exkurs rundum Kain deutlich aufzeigt. Doch was soll ich machen? Ich kann einfach nicht abstreiten, dass sich die Worte, wie von allein formulieren, sobald ich an den schwarzhaarigen Mann denke. Obwohl ich selbst nicht der Typ dafür bin, gehört es dennoch dazu. Wenn man jemanden anziehend findet, will man ihn berühren. Ich würde diese Person spüren wollen, genauso, wie ich Kain gespürt habe.

Wieder durchbreche ich seufzend meine Gedankengänge. Es reicht. Ich muss damit aufhören. Sicherlich war es gut. Ja auch, besser, als in meiner Fantasie und wahrscheinlich auch besser, als ich es jemals beschreiben könnte. Eine Fantasie kann noch so gut sein und dennoch ersetzt sie niemals die eigene Erfahrung. Das eigene Erlebnis. Ich lasse meinen Kopf gegen die gekachelte Trennwand der Dusche fallen und schließe die Augen. Erneut brummt das tiefe Keuchen Kains in meinen Ohren nach. Meine Hand streicht fast automatisch über meinen Hals, meine Brust entlang und stoppt an meinem Unterbauch. Da ist es wieder dieses Gefühl, dass ich noch nicht genug habe. Ich wende mich um und lasse das warme Wasser direkt auf mein Gesicht treffen. Ich halte die Luft an, zähle bis 30 und atme wieder aus. Mein Körper hat sich wieder etwas beruhigt.
 

Ich greife nach dem Shampoo, streiche mir zu nächste die feuchten Haare zurück und lasse mir etwas der wohl duftenden Substanz in die Hand fließen. Ich schrecke leicht zusammen als ich die Tür höre.

„Gib mir noch zehn Minuten", rufe ich auf Verdacht. Für Micha ist es eigentlich noch zu früh. Doch wer sollte es sonst sein.

„Machst du mir dann den feuchtfröhlichen Ententanz?" Ich erstarre in mitten meiner Bewegung. Kain. Was macht er hier? Nur der dünne Vorhang trennt uns voneinander und ich spüre sofort eine leichte Unruhe. Was will er hier? Ich stelle das Shampoo weg und schiebe den Vorhang etwas zur Seite. Vielleicht habe ich mir seine Stimme nur eingebildet. Leider nicht. Der Schwarzhaarige lehnt mit verschränkten Armen an der Duschkabine gegenüber. Ganz unverhohlen mustert er die Stellen meines nackten Körpers, die hervorschauen. Ich hebe meine Augenbraue und starre zurück. Mehrere Sekunden lang ist es still.

„Du bist nackt", folgt danach seine äußerst intelligente Schlussfolgerung.

„Ich dusche. Danke für dieses Gespräch", kommentiere ich trocken und ziehe den Vorhang wieder zu. Ich verteile die noch übriggebliebenen Reste des Shampoos in meinen Haaren und schäume es auf. Vielleicht geht er wieder, wenn ich ihn ignoriere.

„Können wir kurz reden?" sagt Kain und ich höre, wie er sich auf die Bank niederlässt. Ignorieren funktioniert also nicht. Nur schwer kann ich mir das Seufzen verkneifen, welches sich geradezu drängend auf meine Lippen legt. Ich stelle mich zurück unter den Duschstrahl und entferne das Shampoo. „Robin?", hakt er nach, als ich nicht antworte.

„Muss es jetzt sein?" Ich stecke meinen Kopf erneut durch den Vorhang. Kain sitzt nach vorn gebeugt auf der Bank. Seine Finger verschränken sich in seinem Schoss ineinander.

„Ehrlich gesagt, gefällt es mir, dass du da in der Kabine fest sitzt und dass ich von hier einen Blick auf deine Kopfhörer habe", sagt Kain und ich folge seinem Blick zu meinen feinsäuberlich gestapelten Habseligkeiten. Perfide.

„Worüber willst du denn noch reden? Es ist doch alles geklärt. Es hatte nichts zu bedeuten...klar...", äffe ich seinen Kommentar vom Morgen danach nach und

„Dafür habe ich mich doch entschuldigt. Gott, ich wusste nicht, dass du derartig zickig bist...", murrt er und ich muss dem Drang widerstehen wütend auf ihn zu zustürmen.

„Geht's noch? Ich bin nicht zickig. Ich habe lediglich deine Worte wiederholt."

„Okay, dann bist du eben pissig."

„Pissig bin ich auch nicht. Ich bin allerhöchstens..." Ich stoppe als mir klar wird, dass ich diese Diskussionen schon mit Jeff durch habe. Es bringt für einen Moment aus dem Konzept. Bin ich vielleicht doch...Nein, unmöglich. „Wir hatten im betrunkenen Zustand Sex. Shit Happens. Das können wir nicht mehr ändern. Also lebe damit und geh mir nicht dauernd auf die Nerven", sage ich klipp und klar und versuche es weiterhin abzutun. Ich schüttele den Kopf und stelle mich wieder unter das warme, angenehme Wasser.

„Sex mit einem anderen Mann, falls du es nicht mitbekommen hast."

„Danke, ich habe in meiner Position sehr gut gemerkt, dass du ein Mann bist.", bekenne ich lapidar.

„Scheiße, lässt dich das wirklich völlig kalt?", fragt er mich und im Grunde müsste ich ihm antworten, dass es nicht so ist. Doch das tue ich nicht.

„Du hast selbst gesagt, dass es nichts zu bedeuten hatte, also, was willst du jetzt von mir hören? Wir waren betrunken. Es wird nicht wieder vorkommen. Neugier befriedigt. Jetzt lass mich in Ruhe duschen." Ich greife nach dem Duschgel und beginne mich einzuseifen. Kain antwortet nicht und ich schöpfe Hoffnung, dass er mich endlich in Ruhe lässt. Dann höre ich wirklich die Tür. Meine innere Ruhe ist trotzdem verschwunden. Ich verkneife mir das Nachsehen und schaue stattdessen dabei zu, wie mein Körper immer mehr Schaum hervorbringt. Der Geruch des Duschgels umnebelt mich. Ich stehe nicht auf die herben Männergerüche, deshalb ist es etwas Neutrales. Genauer gesagt eine Cremedusche, die ich beim letzten Besuch zu Hause von meiner Schwester mitgehen lassen habe. Ich mochte das Gefühl der weichen, cremigen Substanz auf der Haut. Außerdem zaubert das Zeug eine erstaunlich zarte Haut und egal, wie seltsam es klingt, weiche Haut ist auch bei Männern toll. Ein letztes Mal drehe ich die Flasche in meinen Händen umher und drücke mir noch eine weitere Ladung der weißen Substanz in die Handfläche.

Während meine Hände über meinen schlanken Körper gleiten, schließe ich meine Augen. Neugier befriedigt. Bei Weitem nicht. Es hat mir nicht gereicht, das weiß ich, das merke an ich an dem aufgeregten Kribbeln in meinem Körper. Aber das Kain nun so ein Drama darum macht, ernüchtert mich.
 

Ich spüre einen feinen Luftzug, der auch eingebildet sein kann. Trotzdem drehe mich um und sehe, wie Kain in diesem Moment seinen Kopf durch den Spalt vom Vorhang schiebt. Wasser trifft auf seine Kleidung als er mit einem Mal komplett in meiner Kabine steht. Sofort ist seine linke Körperhälfte komplett nass.

„Deine Neugier ist befriedigt, ja?", wiederholt er meine Worte. Ich weiche leicht Schritt zurück und treffe direkt auf die kühle Kachelwand. Mein Puls beschleunigt sich bei dem Anblick seines durch das feuchte Shirt scheinenden Körpers. Es sind nur schemenhafte Ausschnitte, wie seine dunkele Brustwarze, die sich hauchzart hervordrückt. Die Wellen seiner Bauchmuskeln, die dem T-Shirt ein unnatürliches Muster verleihen. Ein Tropfen Wasser, der an seinen Lippen haftet und dann sein Kinn hinabfließt. Ich sage nichts, aber lecke mir vielsagend über die Lippen. Mein Körper antwortet mit Gänsehaut und dem heftigen Ziehen in meiner Lendengegend. „Meine auch nicht.", flüstert er mit rauer Stimme.

Ein Mann und kein Piepmatz

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Die Leiden des alten J.R.R. Tolkien

Kapitel 10 Die Leiden des alten J.R.R. Tolkien
 

Trotz dreier Zigaretten, die ich auf dem Weg rauche, besänftigen sich meine Gedanken einfach nicht. Die stille Wut ist alt und zäh. Sie ist schwer und tiefgehend. Sie schwelt in mir und ich spüre, wie sie langsam glühend mit jedem verschwiegenen Tag immer heißer wird. Auch, weil sie heftige Trauer in mir weckt, mit der ich noch schlechter umgehen kann.

Im Laufen ziehe ich mir eine vierte Zigarette aus der Schachtel. Es ist die Vorletzte. Ich drehe sie in meinem Fingern umher, stecke sie aber erst an als ich in der Straße zum Café ankomme. Die Lichter sind bereits aus. Doch erkenne ich eine Gestalt, die sich auf einer der gemauerten Baumscheiben niedergelassen hat. Lucrezia blickt auf, als ich näher komme und schiebt ihr zuvor genutztes Handy zurück in die Hosentasche.

„Werte Eismagd, ein Humpen ihres besten Stoffs! Eilt Euch!", rufe ich, wohlwissend, wie peinlich es ist. Gut, dass ich gegen sowas immun bin. Bei Luci hingegen, bin ich mir sicher, dass gerade eine ihrer Augenbrauen skeptisch nach oben gewandert ist. Auch, wenn ich es nicht genau sehen kann. Ich grinse trotzdem.

"Eismagd? Aus welchen Mittelalterroman bist du denn gestolpert?", begrüßt sie mich fragend. Lucis schlanker Körper steckt in einer gigantischen, roten Strickjacke, die ihr bis zu den Knien geht.

„Games of Thrones?", versuche ich mein Glück und weiß, dass sie eher an `die Ritter der Kokosnuss` denkt. Als ich vor ihr stehenbleibe, wandert ihr Blick direkt auf meine Zigarette und sie runzelt die Stirn. Mir wird klar, dass sie mich noch nie rauchen gesehen hat. Bei den Besuchen im Café verkneife ich es mir für gewöhnlich.

„Ja, ich rauche und ich stehe auf die Zeit des Folterns und des schwarzen Todes. Informativ, oder?", kommentiere ich scherzhaft, nehme einen Zug von dem verteufelten Glimmstängel und puste den Qualm in den Nachthimmel.

„Inquisition und Eis. Unser Themenspektrum wird immer breiter. Großartig", sagt sie trocken. Ich mag ihren Sarkasmus.

„Du hast die Pest vergessen...", werfe ich dazwischen.

„Eitrige Beulen, yeah... Folter, wuhu... Streckbänke, grandios. Ich frage mich, wie du überhaupt etwas schmecken kannst..." Der erste Teil klingt, als würde sie mir Teenagerlike von ihrer Lieblingsband berichten. Zum Ende hin deutet sie ein weiteres Mal skeptisch auf meine halbgerauchte Zigarette und ich verstehe die Kritik auch durch die Blume hindurch.

„Ein Tipp am Rande. Eiserne Jungfrauen sind die Besten, obwohl du es mit der Folter schon gut drauf hast. Ich sag nur Gorgonzola-Eis...", entgegne ich und lasse sie den eindeutigen Schauder sehen, der mich sogleich erfasst, "Es ist ein Segen, dass sich das Schmecken bei mir manchmal abschaltet." Schimmel und Käse haben in Eis einfach nichts verloren, auch wenn sie sich Edel schimpfen. Damit hatte sie wirklich den Vogel abgeschossen. Mich ebenso. Ich habe danach drei Tage unter üblen Magenschmerzen gelitten. Lucis Lippen pressen sich übereinander, dann zieht sie einen Flunsch und streicht sich die Haare zurück. Schuldbewusst sieht anders aus.

„Spricht von eisernen Jungfrauen und jammert wegen einer kleinen Magenverstimmung. Ich habe mich dafür entschuldigt... und bin immer noch der Überzeugung, dass du sie nicht von meinem Eis hattest." Drei Tage! Ich bin ein Kerl. Ich jammere auch bei einer Erkältung, als wäre es die Lungenpest. Gegenüber Jeff bin ich aber noch pflegeleicht. Luci greift nach der Zigarette und nimmt sie mir ab.

„Und im Übrigen bringt dich das wirklich um..." Oder auch nicht. Mein Großonkel mütterlicherseits ist 90 Jahre alt und raucht seit seinem 13. Lebensjahr jeden Tag eine halbe Schachtel Zigaretten. Er ist ein medizinisches Wunder. Bewunderung bekommt er trotzdem nicht. Nur jedes Jahr eine einfallslose Karte aus dem Supermarkt. Eine Ansprache von einer 16-Jährigen hat mir gerade noch gefehlt. Ich seufze theatralisch und stinke gegen Jeff definitiv ab. Zusätzlich krame ich einen meiner super genervten Blick hervor, doch Luci zuckt nur mit ihren schmalen Schultern und schmiegt sich etwas mehr in ihre übergroße Jacke. Das Lächeln auf ihren Lippen ist unschuldig und lieblich und lässt auch den letzten Rest an Antipathie absterben. Sie ist zauberhaft.

„Okay, ich habe bereits eine Mutter, die mir wegen dem blauen Dunst auf die Nerven geht. Können wir das überspringen?" Jeff nicht mit eingerechnet, denn der nervt mich auch. Ich deute ihr an mir die Zigarette zurückzugeben und sie gehorcht.

„Wärst du brav und würdest hören, würden wir die Diskussion gar nicht führen müssen", schmettert sie ungerührt ab. Punkt für sie. Ich nehme einen letzten Zug von der Zigarette und schubse den Stummel davon. Nur das feine Glühen in der Dunkelheit lässt erahnen, wo genau sie gelandet ist. Auch Luci blickt in diese Richtung. Ich setze mich zu ihr auf die Mauer und stelle meinen Rucksack vor mir ab. Da ich nicht weiß, was ich nun mit meinen Händen machen soll, ziehe ich mein Feuerzeug hervor und drehe es in meinen Fingern umher, ehe ich sie auffordernd ansehe. In ihren Augen schimmert das warme Licht der Straßenlaternen, färbt das intensive Grün ihrer Iriden in ein sanftes Braun. Ein paar Strähnen lösen sich aus ihrem langen Zopf und streicheln vom Wind angeregt über ihre Wangen. Eine Szenerie, wie aus einem meiner Kitschromane. Der perfekte Moment für eine erste zarte Berührung zweier Liebenden mit der passenden peinlichen Stimmung. Bei uns bekäme das Märchen 'Die Schöne und das Biest' eine ganz neue Bedeutung. Auch, wenn ich nicht weiß, warum ich schon wieder auf Märchen komme. Luci wischt das Haar davon und seufzt laut.

„Ich möchte dich etwas fragen", sagt sie knapp und schweigt erneut. Diesen Informationsstand habe ich bereits durch ihre Nachricht. Also warte ich geduldig darauf, dass sie fortfährt, auch wenn ich äußerst schlecht darin bin. Erneut spielt der Wind mit Lucis langen Haare und diesmal ignoriert sie es. Es ist zu spät, denn meine Gedanken driften schon wieder ab und die Szene entsteht von ganz allein. Es ist dieser Moment der einvernehmlichen Stille in der ihr die Strähnen zärtlich aus dem Gesicht gestrichen werden. Das kurze Zögern bevor seine Hände die Bewegung ausführen und auf ihre zarte Haut treffen. Das Kitzeln der Berührungen, die sie sehnsüchtig in sich aufsaugen. Es folgt ein intensives Kribbeln, welches seinen Weg in die entlegensten Winkel ihres jungen Körpers findet, gefolgt von einem intensiven Pulsieren, welches unbekannte Bedürfnisse weckt. Der Blick trifft auf jungfräuliche Lippen, die beben und erzittern, weil auch ihr Körper vor nervösem Verlangen jede vergehende Sekunde zählt. Die Zeit steht still, während ihre Berührung anhält. Es zählt nur das Gefühl. Es ist der Geschmack der Unschuld, der besonders lieblich ist und gefährlich.
 

Ich merke erst nach einem Moment, dass ich sie anstarre. Lucis sonst so frecher und gefestigter Gesichtsausdruck ist seltsam beschämt. Das habe ich noch nie bei ihr gesehen. Ich wende mich ab, rücke unbewusst etwas von ihr weg. Für gewöhnlich begrenzt sich unser Kontakt auf schnippische Bemerkungen und harmloser Neckereien unter Aufsicht ihres Vaters. Absolut jugendfrei. Ich bin einzig der Typ, der massig Eis kauft und dumme Kommentare liefert. Nichts anderes. In diesem Moment verfluche ich meine Fantasie. Ich hebe ablenkend meine Augenbraue und verursache mit meinem skeptischen Blick noch mehr Röte in ihrem Gesicht. Sie wendet sich ab und besinnt sich auf den Grund unserer späten Zusammenkunft.

„Erinnerst du dich an unser erstes Treffen und die Diskussionen?" Wie sollte ich das vergessen? Wir haben uns gegenseitig verbal in den Boden gestampft und noch nie habe ich eine 14-Jährige erlebt, die das drauf hatte. Abgesehen von meiner Schwester. Ich hatte einen schlechten Tag und Luci ebenfalls. Zwei Luftströme, die zu einem Tornado heranwachsen und absolute Zerstörung anrichten. Es war großartig und schlichtweg befreiend.

„Ich habe eine Eissorte kreiert und bin damit unter die besten fünf Kandidaten eines regionalen Wettbewerbs gekommen." In ihrer Stimme schwingt Stolz, doch mir fehlt der Zusammenhang. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass sie mir von einem Wettbewerb erzählt hat.

„Das ist großartig." Wie platt.

„Ja. Jedenfalls wäre in zwei Wochen das Finale und da du maßgeblich an dem Rezept beteiligt gewesen bist, würde ich dich gern dabei haben. Das würde einfach nur heißen, dass du gratis Eis essen kannst und mir dabei ziehsiehst, wie ich untergehe", setzt sie fort und sieht erst auf, als sie endet. Ich sehe ihr überrascht entgegen. Anscheinend hat mein Gedächtnis Lücken, denn ich weiß nicht, inwiefern ich daran beteiligt gewesen sein kann. Ich versuche mich daran zu erinnern, worüber wir neben Tonkabohnen und schlechtem Wetter noch gesprochen haben, doch es fällt kein Groschen. Nicht mal ein Penny.

„Es ist eine Kreation aus Tonkabohne, Zitrone und Ingwer", ergänzt sie, weil ich wahrscheinlich genauso aussehen, wie ich mich fühle. Dämlich.

Bei der Erwähnung der Zutaten merke ich, wie sich die Stränge meines Halses zusammenziehen. Zitrone und Ingwer. Mein Puls beschleunigt sich, weil ich augenblicklich an das Aroma der Bonbons in Kombination mit dem schwarzhaarigen Biotechnologen denke. Meine Gedanken bleiben nicht bei der Süßigkeit, sondern wandern zu dem Gefühl seiner warmen Haut unter meinen Fingerspitzen und der Feuchte seiner fruchtgetränkten Lippen. Nun fällt ein ganzer Münzhaufen.
 

Unser erstes Zusammentreffen fand während einer dieser grausigen Projektwochen unserer Uni statt und war damit Grundlage für meine Negativlaune. Lauter Gruppenarbeiten und pausenloses Herumexperimentieren. Absprachen. Gemeinsame Konfliktlösungen. Und das Schlimmste, andere Meinungen akzeptieren. Nicht mein Ding.

Neben zwei dauernd quatschenden Mädels gehörten auch Kain und Kaworu in meine Gruppe. Für meinen Geschmack waren das vier Meinungen zu viel. Meine Laune war dementsprechend jeden Tag auf dem absoluten Nullpunkt. Kain übernahm dabei ganz selbstverständlich die Rolle des Schiedsrichters. Er war sehr darauf bedacht, dass sich alle im gleichen Maß an den Aufgaben beteiligen und wirklich jeder zu Wort kommt. Eine Idee, die mir schnell schlecht aufstieß, denn wenn es nach mir gegangen wäre, hätten sich die beiden Frauen weiter um ihre Fingernägel kümmern können. Ihre Beiträge waren lediglich Nagellackflecken auf den Notizen der anderen. Es war das erste Mal, dass ich mit Kain aneinander geraten bin, denn die beiden Frauen präsentierten uns einen Tag vor dem Abgabetermin einen Lösungsvorschlag, mit dem ich ganz und gar nicht einverstanden gewesen war. Er war lückenhaft und kurzsichtig. Das musste auch Kain einsehen, aber er plädierte weiter darauf, dass es eine verdammte Gruppenarbeit gewesen sei. Hurra oder Banzai, wie Kaworu sagen würde. Jedes Mal, wenn wir diskutierten, kamen Kain und ich uns so nahe, dass ich das Aroma der Bonbons wahrnahm. Es war die feine Säure, die meine Wut noch weiter entfachte. Die fruchtige Süße, die nichts linderte, sondern mehr und mehr dafür sorgte, dass ich mich über seine übertriebene Freundlichkeit echauffierte. Es ging schließlich um unsere Noten. Nichts, worüber ich einfach so hinweg sehen konnte. Ich habe geglaubt, dass es Kain genauso sieht, doch der Drang, allem und jedem zu gefallen, war anscheinend größer. Zu unserem Leidwesen.
 

Luci hatte einfach nur einen beschissenen Schultag. Auch sie kämpft mit nervigen Mitschülern und den Unverständnis des Lehrpersonals. Ich fühlte mit ihr. Auch, wenn es in dem Moment nicht zum Tragen kam. Im Laden versuchte sie mich damals freundlich von Tonkabohneneis statt herkömmlicher Vanille zu überzeugen, doch ich lehnte ab. Daraufhin nannte sie mich, radikal und recht gefühlsbefreit, einen typischen Joghurteis-Esser. Ich, ein Joghurteistyp? Mein sowieso schon spärliches Nervengerüst brach vollkommen zusammen. Ich bin nicht kritisch und wählerisch. Vor allem nicht, wenn es um Eis geht. In diesem Bereich bin ich der Omnivore schlechthin und vertilge im Grunde alles. Es entbrannte eine hitzige Diskussion, in der ich anscheinend die beiden Kain anhaftenden Aromen mit eingebracht habe. Daran erinnere ich mich nicht.

„Und kommst du?", fragt sie und holt mich zurück ins Hier und Jetzt. Ihre Stimme zwingt sich zur Ruhe, doch ich kann den feinen Hauch der Nervosität heraushören, der darin mit schwimmt.

„Denkst du wirklich, dass ich der Richtige dafür bin?", erwidere ich ablehnender also beabsichtigt. Es ist nur ein kläglicher Versuch der Verweigerung. „Ich hab es nicht so mit Pompons wedeln und Anfeuerungsrufen...", setze ich nach, wackele zur Verdeutlichung mit den Armen, als würde ich die Papierbälle schwingen. Ich lasse dabei deutlich erkennen, dass ich für taktierte Bewegungen nicht geschaffen bin und mache es nicht besser. Luci mustert mich ohne deutliche Emotion.

„Ja, für einen Cheerleader bist du definitiv zu klein...", gibt sie mit hochgezogener Augenbraue wieder. Zu klein? Mein Blick zeigt das Entsetzen, welches ich empfinde. Sie kichert. Ich bin nicht der Größte, aber beleidigt bin ich dennoch. Ihre schlanken, langen Finger schließen sich an meinen Unterarm. Ich deute mit dem Feuerzeug auf die junge Italienerin, finde keine passende Erwiderung und lasse das Wegwerffeuer wieder sinken. „Hör zu, du sollst auch gar nichts von diesem peinlichen Zeug machen. Du sollst einfach nur dabei sein. Bitte, du bist der Einzige, den ich kenne, der ein gutes Eis zu schätzen weiß und im Grunde bist du doch ein netter Typ." Sie stupst mir sachte gegen die Schulter. Netter Typ? Ich? Niemals.

„Luci, wirklich... ich..."

„Lucrezia...", unterbricht uns die tiefe Stimme ihres Vaters und damit auch meinen schwachen Abschmetterungsversuch. Ich werfe einen Blick zur Ladentür, sehe die große Gestalt ihres Vaters als Schatten im Rahmen stehen und fühle mich trotz der Meter Abstand eingeschüchtert. Wie lange er wohl schon dort steht? Trotz Freundlichkeit bin ich ihm nicht koscher genug. Zu recht. Wäre Luci fünf Jahre älter und würde mich damit nicht so sehr an meine Schwestern erinnern, hätte ich sie bereits flachgelegt. Soviel zu dem netter Typ.

„Ja,... bin gleich da...", erwidert sie und richtet sich auf. Die hübsche Italienerin streicht sich die Strickjacke glatt und beugt sich mir dann entgegen. Ihre Arme legen sich kurz um meinen Hals und ich spüre die Wärme ihrer Haut an meinem Ohr. Sie riecht nach Zucker und Vanille. Ich bin normalerweise kein Fan von diesen vanilligen Düften, aber zu ihr passt es. Bevor ich sie darauf hinweisen kann, dass ihr Vater mich gleich lyncht, lässt sie mich wieder los.

„Samstag in zwei Wochen! Ich schreibe dir die Adresse." Damit diesen Worten ist sie auch schon verschwunden. So schnell, dass ich mein begonnene Weigerung nur noch in die dunkle Nacht pusten kann.
 

Ich bleibe ermattet sitzen und starre in die Dunkelheit. Luci. Ich wiederhole den Namen der kleinen Eismagd auch noch mal laut und streiche mir durch die Haare. Sie hat mich gerade übertölpelt. Auf ganzer Linie. Das passiert selten. Dabei bin ich weder ein Bruder-, noch Kumpeltyp und für gewöhnlich will man mich nirgendwo mit dabei haben. Ich bin überhaupt kein netter Typ. Lena würde Luci einiges erzählen können. Immerhin musste sie Jahre lang unter mir leiden. Ich weigerte mich strickt jeder ihrer Schulaufführungen beizuwohnen. Nicht einmal, als sie den weiblichen Part in Romeo und Julia spielte, habe ich mich bemüht. Hätte sie den Animationsfilm mit den Gartenzwergen gezeigt, wäre ich sicher gekommen, aber Theater? Nein, danke. Lena hatte die Bandbreite meiner brüderlichen Herzlosigkeit von Anbeginn ihrer Geburt zu spüren bekommen. Allerdings habe ich wenigstens nie versucht sie durch massig Spielzeug im Kinderbett zu ersticken. Nicht mein Stil. Ich bin ein scheußlicher Bruder und stehe dazu. Mittlerweile ist mir klar, dass sie meine Ignoranz nur noch stärker gemacht hat. 5 Seconds of Summer, echot mir durch den Kopf und danach schüttele ich ihn energisch. Ich kann es noch immer nicht fassen, seufze und mache mich auf den Rückweg zum Wohnheim.
 

Als ich dort ankomme, angele ich mir die letzte meiner Zigaretten aus der Schachtel und stecke sie mir zwischen die Lippen. Meine Hände tasten sich suchend an meiner Hose entlang, doch das, was ich suche, ist nicht zu finden. Ein weiteres Mal fahre ich die Taschen ab. Nichts. Das Feuerzeug bleibt verschwunden. Was um Himmelswillen habe ich der Welt nur heute getan?

Die Zigarette in meinem Mund wippt geduldig vor sich hin. Ich würde zehn Minuten brauchen um ins Zimmer hochzugehen und wieder runter zu eiern. Dabei müsste ich fast das komplette Wohnheim durchqueren, da sich unser Zimmer in der oberen Etage und am anderen Ende befindet. Ich könnte Jeff darum bitten, mir ein Feuerzeug aus dem Fenster zu werfen, das würde mir auf jeden Fall den Weg ersparen. Wahrscheinlich würde eine solche Aktion dazu führen, dass ich seiner Anti-Raucher-Kampagne ausgesetzt werde und wir wieder streiten. Ist es das wert? Sicher nicht. Streite ich gern? Schon irgendwie. Ist es noch mehr mieses Karma wert? Sicher nicht.

Jeff und ich haben schon immer unsere kleinen Dispute, aber in der letzten Zeit fahre ich wegen jeder Kleinigkeit komplett aus der Haut. Überhaupt liefen einige Dinge anders, als gewöhnlich. Kain ist nur eines der Beispiele. Kain. Ich habe es schon wieder getan. Mit ihm. Was ist nur los mit mir? Ich nehme die Zigarette aus meinem Mund und schaue einen Moment sehnsüchtig auf den beinhalteten Tabak. Abgesehen von meiner eigenen unverständlichen Handlungsweise sind mir vor allem Kains Beweggründe ein absolutes Rätsel. Ist es wirklich nur Spaß an der Körperlichkeit? Abwechslung? Es beschäftigt mich mehr, als ich gedacht hätte. Selbst jemand wie ich wird nicht gern verarscht und danach riecht es. Meine Gedanken hin und herschaufelnd, wende ich mich zur Eingangstür.

„Huch,...", entfährt es mir erschrocken als ich plötzlich gestoppt werde. Die Zigarette fällt zu Boden. Das Gefühl eines Déjà-vu drängt sich mir auf als mir Kains braune Augen entgegenblicken. Seine Hand greift nach meiner Schulter und die andere sachte nach meinem Handgelenk. Sie halten mich fest, bevor ich wegen des Rucks zu Boden gehen kann. Es ist wirklich nicht mein Tag. Absolut nicht. Kains grinsendes Gesicht macht es alles nur noch schlimmer.

„Es ist so süß, wenn du das machst...", flötet mir der Schwarzhaarige verschmitzt entgegen. Mord, das ist mein einziger Gedanke. Ich weiche entrüstet zurück, während mich auch noch die Erinnerung an Ingwer und Zitrone kapert.

„Kannst du dir mal ein Warnsignal umhängen...", gebe ich knurrend von mir, "Irgendwas, was piept."

„Vielleicht solltest du dein City-Notbremssystem aktivieren oder du träumst nicht mehr in der Gegend rum... das hätte nämlich unschön enden können", kommt es gelassen von Kain. Folterung ist mein nächster Gedanke. Foltern und dann der Mord. Definitiv. Ich wäre ein guter Inquisitor gewesen. Murrend beuge ich mich zu der Zigarette und puste Schmutz vom Filter. Ich muss dabei ziemlich bedürftig aussehen.

„Leg dir lieber eine gesündere Sucht zu.", kommentiert er trocken. Noch so eine Mutti. Unfassbar.

„Klar, weil der ständige Verzehr von erhärteter Zuckerlösung so viel gesünder ist." Kains Augenbraue zuck ungerührt nach oben und es bildet sich eine kleine Wölbung an seiner rechten Wange. Auch jetzt hat er einen diese Bonbons im Mund. Ich denke, wir sind uns einig, dass weder mein noch sein Laster wirklich gesund ist. Wir werden es nur niemals zugeben.

„Ich bin im stetigen Kampf gegen die Hygroskopie. Außerdem kann es uns beide einen Fuß kosten, oder?", plaudert er grinsend. Wahre Worte und nicht erstrebenswert. Ich stecke seufzend die Zigarette in die Jackentasche und wende mich ab.

„Hey, warte kur. Was war das vorhin mit Jeff? Er sah aus als würde er jeden Moment anfangen zu weinen..." Geschieht ihm recht, dieser Plaudertasche von Freund. „Ehrlich gesagt, finde ich es nicht so geil, dass du wegen meiner dämlichen Kommentare ständig mit anderen aneinander gerätst. Erst Abel...jetzt Jeff... und von Me..." Ich unterbreche als er den Namen der Rothaarigen beginnt

„Stell dir vor, es hat rein gar nichts mit dir oder deinen albernen Äußerungen zu tun." Jeff kennt mich gut genug um zu wissen, dass bestimmte Thematiken ein Tabu sind. Auch, wenn ich in manchen Dingen übertreibe. Nur in dieser ganz sicher nicht.

„Was ist eigentlich dein Problem? Jeff nimmt dir gegenüber so viel Rücksicht, dass du sein Leben lang seine Füße küssen müsstest." Ich sehe ihn ungerührt an. Nichts sein ernst? "Wirklich! Jeff ist dein Sam und du merkst erst, was er Wert ist, wenn ihn der Schicksalsberg ganz verschluckt."

„Zu deiner Information, ich weiß, was ich an Jeff habe. Vielen Dank und hör auf, einen auf Gandalf zu machen, du Aragornverschnitt." Mein Jugendfreund und ich haben unseren eigenen Kosmos und da hat sich niemand einzumischen. Schon gar nicht so einer, wie Kain. Auch nicht der andere blonde Möchtegerngefährte von Feenhausen. „Und was machst du eigentlich schon wieder hier?", frage ich verstimmt, als mir einfällt, dass Kain vorhin aus meinem Wohnheim gekommen ist und nicht aus seinem.

„Ich habe mir von Jeff dein Handbuch geben lassen. Leider hat er die Deaktivierungsfrequenzen nicht mehr", antwortet er bissig. Schon wieder eine dieser dummen Anspielungen.

„Du bist nicht ansatzweise so witzig, wie du denkst", entgegne ich murrend und ohne seine Erwiderung abzuwarten, mache ich einen Schritt zur Seite und versuche an ihm vorbei zur Tür zu schlüpfen. Er hält mich zurück.

„Okay, entschuldige. Bitte renn nicht gleich wieder weg."

„Lass mich raten, du willst reden. Ernsthaft, hörst du jemals damit auf?", belle ich. Kain quatscht mir den Mund fusselig. Wie ist das möglich? Ich bin genervt.

„Stell dir vor, mit reden wird manches wirklich besser und ich garantiere dir, dass ich wieder in der Dusche stehe, wenn du dich nicht ab und an dazu durchringst freiwillig ein paar Worte mit mir zu wechseln. So machen das erwachsene Menschen nämlich." Ich beiße mir unbewusst auf die Unterlippe, als das Bild von Kains feuchtem Körper aufblitzt. Die Erinnerung daran, wie sich der nasse Stoff transparent auf die feste Haut legte und den darunter liegenden definierten Körper preisgab, wird mich bis in die Hölle verfolgen.

„Und du redest ununterbrochen, selbst beim Sex. Was versprichst du dir davon und was, um Himmelswillen, willst du mit mir reden? Ich bin ein Kerl. Ich rede nicht.", äußere ich, nachdem ich den Gedanken an die gestrige Duschaktion mit aller Kraft aus meinen Kopf prügele. Ich verstehe es nicht. Kain und ich haben nichts gemeinsam und wir können uns nicht mal leiden.

„Ja, mir ist klar, dass du ein Kerl bist. Das ist auch gut so... Hör zu, ich möchte einen Waffenstillstand.", erklärt er, "Einen intensiven Stellungskrieg nehme ich aber auch." In Kains Fall wird es wohl eher zum Zwei-Fronten-Krieg. Wie stellt er sich das Ganze eigentlich vor? Eine Woche sie, die andere ich. Bei dem Gedanken daran, dass er zuvor bei ihr, dieser rothaarigen Hexe, gewesen sein könnte, bekomme ich bereits jetzt heftige Emesis. Ich starre genau auf die Stelle, wo ihre Haut über den rauen Stoff des Pullovers glitt als sie in der Mensa das Rumgetatsche nicht lassen konnte. Ihr Geruch an seinem Körper. Ich bekomme Gänsehaut, wenn ich nur daran denke und sie arbeitet sich kalt und unangenehm über meinen angespannten Leib.

„Hast du nicht schon genug Schlachtfelder, auf denen du kämpfst?", frage ich nonchalant und verschränke die Arme vor der Brust.

„Wie bitte? Okay, warte! Liegt es an mir oder habe ich letzte Nacht etwas falsch verstanden? Warum diskutierst du schon wieder mit mir?" Warum ist er so hartnäckig?

„Tue ich gar nicht. Im Gegenteil. Ich versuche lediglich zu verhindern, dass du mich in einen Krieg involvierst. 'Der klügste Krieger ist der, der niemals kämpfen muß'", zitiere ich aus dem Buch 'Die Kunst des Krieges' von Sun Tsu und ernte einen kurzen verstörten Blick des schwarzhaarigen Mannes.

„Willst du, dass ich bettle?" In meinem Kopf ein lauter Peitschenschlag. „Das ist lächerlich. Niemand hat etwas gegen ausreichende Befriedigung", gibt er nonchalant und seltsam von sich überzeugt von sich.

„Wer sagt, dass es befriedigend war?", erwidere ich bissig, bewusst provozierend. Kains Mund öffnet sich. Dann perlt ein leises Knurren von seinen Lippen und er fixiert mich mit einem intensiven Blick. Der Bonbon in seinem Mund wandert von einer Seite zur anderen und er überbrückt die wenigen Zentimeter zwischen uns. Ich halte kurz die Luft an, weiche aber nicht zurück.

„Dir geht's zu gut, oder?", zischt er ruhig.

„Verträgst du keine Kritik? Dann konzentriere dich lieber nur auf eine Schlacht." Ich weiß wirklich nie, wann Schluss ist.

„Bleib du beim nächsten Mal einfach liegen. Nach der zweiten Runde wirst du dich garantiert nicht mehr beschweren können..."

„Nimm den Mund lieber nicht zu...", setze ich an und breche ab, als das Geräusch der aufgehenden Tür ertönt. Micha tritt heraus und ich weiche etwas von Kain zurück. Ich blicke absichtlich zu Boden um meine eigenen Gedanken zu ordnen. Auch das heftige Kribbeln in meiner Lendengegend hilft nicht dabei einen klaren Kopf zu behalten. Wir haben ein Talent uns gegenseitig aufzustacheln. Es ist Micha, der die schwere Stille bricht.
 

„Quinn, ich hab einen Brief für dich auf dem Tresen liegen. Nimm ihn dir beim Reingehen einfach. Ich mache jetzt meine Runde."

„Ja, danke.", antworte ich kurzangebunden. Ich hebe zum Abschluss meine Hand zum Gruß, schaue dabei zu, wie er um die Ecke biegt und sehe zurück Kain.

„Du..." Der Rest des Satzes verhallt, als Kain mich abrupt an sich heranzieht. Seine Hand greift fest an meine Hüfte und er drückt mich gegen seinen Körper. Unnachgiebig. Heiß. Ich spüre, wie sein Atem gegen mein Ohrläppchen trifft. Das Aroma von Ingwer und Zitrone streicht meinen Hals entlang und wird zu einen Kitzeln, das meinen bereits angeregten Körper in weitere Aufregung versetzt. Wie gebannt starre ich auf den Kragen seines Pullovers. Direkt auf den Übergang zum Schlüsselbein. Seine Atmung hebt und senkt diese Stelle, wie ein rhythmisch schaukelndes Windspiel. Ich fühle mich hypnotisiert, spüre, wie elektrische Funken meinen Körper durchwandern und sich meine Haut erregt nach außen perlt. Auch Kains Puls ist erhöht. Die Vene an seinem Hals hebt sich hervor, pulsiert im schnellen Takt seines schlagenden Herzens. Ich spüre die Wärme seines Körpers, obwohl wir uns kaum Haut berühre. Was macht er nur mit mir? Wie stellt er es an, dass ich so sehr auf ihn reagiere?

„So mein kleiner Motzspatz, jetzt will ich mal was klarstellen. Ich ficke dich, weil es mir Spaß macht und weil ich den Sex bisher sehr anregend fand. Ich weiß, dass es dir ebenso geht, denn dein Körper signalisiert mir deutlich, dass dich das mächtig anmacht." Er zieht mich noch ein Stück näher, so dass unsere Leiber regelrecht aneinander prallen. Seine Stimme ist ein festes Flüstern, welches sich heiß durch jede elendige Schicht meines Körpers arbeitet. Wie kann er mir das so schamlos ins Gesicht sagen? „Wenn du mich fragst, sollten wir so lange weitermachen bis es uns beiden kein Vergnügen mehr bereitet. Deutlich genug? Gut! Küss mich, wenn du es anders siehst.", fordert er schlussendlich und meine Reaktion auf die letzte Forderung ist gleich null. Zum einen, weil ich wirklich perplex bin und zum anderen, weil ich wirklich, wirklich perplex bin. Meine Reaktionszeit ist erschreckend schlecht. Das hat man davon, wenn die notwendige Blutversorgung nur partiell funktioniert. Ich ärgere mich prompt über Kains augenscheinlichen Erfolg durch meine mangelnde Schlagfertigkeit und brüskiere mich noch mehr, als mir nach etwaiger Grundversorgung noch immer nichts Gescheites zum Kontern einfällt.

„Dich sprachlos zu sehen, ist eine willkommene Abwechslung.", flötet er grinsend. Kains Hand streicht mir über den Kopf und verwuschelt dabei meine unfrisierten Haare. Als sein Handballen über die Helix meines Ohres streicht, durchfährt mich prickelnde Erregung. Ich schubse seine Hand energisch weg, weiche zurück und murre.

„Gewöhn dich nicht daran. Ich hole nur Luft", kontere ich und ignoriere Kains Gesichtsausdruck.

„Gut, gönn deinen Lungen mal Abwechslung. Schreib mir was Nettes, wenn du genug Luft geholt hast und bereit für die nächste Runde bist.", erwidert er und beugt sich wieder vor, " Ach und übrigens, 'Chancen multiplizieren sich, wenn man sie ergreift'. Mach dir das mal bewusst", flüstert er mir entgegen und lässt seinen warmen Atem dabei gegen mein Ohr treffen. Er zitiert ebenfalls Sun Tsu. Geschlagen mit den eigenen Waffen. Dieser intelligente Mistsack.

„Fick dich."

„Oh ja, gib's mir. Das ist für mich nur ein weiterer Grund es fortzusetzen", zwinkert mir Kain entgegen, „Ich steh drauf..." Damit hebt er seine Hand, winkt und verschwindet in die Richtung seines eigenen Wohnheims. Meine Ohren pulsieren heiß und heftig. Der Gedanken an Kains Lippen an meinem Hals und wie sie nach meinem Ohrläppchen schnappen, lässt meinen Leib in Flammen stehen. Ein sanfter Biss. Meine Lenden zucken. Mein Körper macht mich fertig. Beim Hineingehen angele ich den Brief hinter dem Pförtnertresen hervor und möchte ihn beim Erblicken des Absenders eigentlich wieder zurücklegen. Er ist von dem Verlag, bei dem ich mein erstes Buch veröffentlicht habe. Ich muss ihn nicht öffnen, um zu wissen, was ich darin lesen werde. Statistiken. Aufforderungen. Die Höhe meiner Tantiemen. Die Erinnerung.
 

Die Tür zu unserem Wohnheimzimmer ist nur einen Spalt geöffnet, als mir bereits laute Musik entgegen schlägt. Bruno Mars mit 'The Lazy Song'. Ich denke an 'Count on me' und merke das flaue Gefühl in meinem Bauch deutlicher. Mein Mitbewohner hockt vor seinem Ficus, zupft ein paar welke Blätter davon und ich bin mir sicher, dass er liebevolle Worte spricht, die mit Genugtuung von dem empfindlichen Wesen aufgesogen werden. Sofern es sie durch die extrem laute Musik überhaupt hören kann. So viel Fürsorge für eine Grünpflanze. Ob das noch normal ist? Ich bezweifle es. Ich beobachte meinen Mitbewohner einen Moment lang und schiebe meine spottenden Gedanken beiseite. Jeff sorgt sich. Nicht nur um seine Pflanze, sondern schon immer um mich und ich bin nicht immer sehr dankbar dafür.

Die Tür fällt hinter mir ins Schloss und Jeff richtet sich auf. Ich werfe meine Tasche aufs Bett und auch der Brief landet auf der Bettdecke. Ich sehe, wie Jeff die Musik abstellt und wie sich seine Lippen bewegen, doch bevor er einen Laut von sich geben kann, unterbreche ich ihn.

„Schon gut, Samweis, der Beherzte...", gebe ich in Anlehnung an das Herr-der-Ringe-Thema wieder und ignoriere, dass mein blonder Mitbewohner gar nicht wissen kann, wie ich darauf komme. Ich ziehe meine Kopfhörer auf, obwohl keine Musik eingeschaltet ist und setze mich an meinen Rechner. Nach dem Hochfahren öffne ich ein leeres Dokument und bleibe einen Moment davor sitzen, ohne auch nur einen Finger zu bewegen. Die intensiven Gedanken von vorhin sind nicht mehr zu greifen. Erzähl mir mehr von Sam, beende ich das angefangene Filmzitat und wende mich zu meinem Hobbitfreund um, der sich mittlerweile mit einem Buch auf sein Bett zurückgezogen hat.

„Bei dir und Abel wieder alles in Ordnung?", frage ich nach kurzem Schweigen und entgegen meiner Gewohnheit. Der andere blonde Mann ist weder beim Mittag noch beim Abendbrot anwesend gewesen. Jeff nickt und erläutert ihre Aussprache in nur wenigen Sätzen. Abel hat sich entschuldigt und das war wohl das Wichtigste. Ich hake nicht nach und auch Jeff führt es nicht weiter aus. Ich bin eben wirklich nicht der Typ für lauschige Gespräche. Jeff weiß das, und Kain muss es ganz dringend lernen, sonst mache ich bald Schaschlik aus ihm.
 

Ich widme mich wieder meinem Computer. Zunächst öffne ich die Aufzeichnungen für die neue Story. Brigitta schien begeistert, doch sie hat nicht die Entscheidungsgewalt. Diese liegt bei Karsten, dem Verleger und ich bin mir nicht sicher, ob er sich wirklich für diese Idee aussprechen wird. Ehrlich gesagt, weiß ich noch immer nicht in welche Richtung das Ganze überhaupt gehen soll. Was sollen die Wendepunkte sein? Was ist der Höhepunkt? Welches Ende soll die Geschichte nehmen? In meinem Kopf erarbeiten sich Möglichkeiten. Zunächst die Rosaroten, die erfüllt sind mit der Hoffnung auf Erwiderung. Auch, wenn sie nur einem Funken gleicht. Es folgen die realistischen Varianten. Die vor allem von Ablehnung und Wut sprechen, gespickt sind mit Unsicherheiten und Unberechenbarkeit. Unerfüllbarkeit. In der Wirklichkeit ist es fast unmöglich einzuschätzen, was passieren wird, wenn man jemanden seine Gefühle gesteht. Doch nicht nur in diesen Feld. Es gibt für alles so viele Variablen. Unendliche Möglichkeiten. Nur ein einziges Geschehnis kann hunderte Folgen lostreten und damit ein ganzen Leben beeinflussen. Der Gedanke daran macht mir Angst und erfüllt mich mit Traurigkeit, denn nichts, was man für immer wähnt, hat letztendlich garantierten Bestand. Ich lehne mich zurück, lasse meine Fingerspitzen über die Quadrate meiner Tastatur streichen. Unbewusst gleiten meine Finger zum R. Ich stoppe beim E. Genug jetzt. Ich hole mein Handy hervor und blicke auf das Display.

„Hey, wann planst du nach Hause zu fahren?", frage ich in die Stille unseres Zimmers hinein und drehe mich erst um, als Jeff antwortet.

„Wahrscheinlich in der zweiten Juli-Woche. Ich mache es von den Klausuren abhängig." Für gewöhnlich zogen sich die Klausuren nur bis in den Juni, aber bei einigen Dozenten weiß man nie. Und bei Jeff nicht, ob er irgendwas nachschreiben muss.

„Denkst du darüber nach mitzukommen?"

„Na ja, ich werde bereits zum Mitkommen terrorisiert und ich bin mir sicher, dass zumindest Lena schon bei dir Alarm gemacht hat", sage ich. Jeff lächelt wissend und nickt.

„Japp, gestern und deine Mutter schon seit letzter Woche", gibt er amüsiert von sich und ich verdrehe die Augen. Meine Familie ist wirklich peinlich. „Du solltest dich mehr bei ihnen melden."

„Sei du nicht immer so schrecklich vorbildlich, denn das wirft jedes Mal ein schlechtes Licht auf mich." Jeff ist eben wirklich der bessere Sohn. Er grinst wohlwissend und sieht wieder auf sein Buch. Ich widme mich meinem Eigenen.
 

Meine bisherigen Werke ertranken förmlich in der Suppe der konventionellen Träumerei. Vielleicht wird es wirklich Zeit, daran etwas zu ändern. Ich setze mich ordentlich hin und beginne ein paar Anmerkungen zusammen zu tippen. Danach verfasse ich einen grundlegenden Vorentwurf, der den groben Plot und die Charaktere vorstellt, sowie erste Passagen, die den Grundtenor des Inhalts widerspiegeln. Ich bleibe bei einer angefangenen Textpartie hängen. Vor ein paar Tagen bin ich schon einmal an dieser Stelle stecken geblieben und auch diesmal spukt mir diese gewisse Sache im Kopf herum. Eine erotische Szenerie. Sie würde an dieser Stelle die perfekte Grundstimmung einleiten. Die Sehnsucht und die geschürte Hoffnung aufzeigen. Ich tippe ein Fragezeichen in die Zeile und bin mir sicher, dass ich diese Szene weiterschreiben möchte.

Unwillkürlich driften meine Gedanken wieder zu Kain. Er hat nicht Unrecht mit seinen Äußerungen. Ich fand es geil und ich will mehr. Meine körperlichen Reaktionen gegenüber den Schwarzhaarigen sind eindeutig, aber nervig.

Ich öffne die Geschichte des Anstoßes. Bereits nach den ersten Zeilen spüre ich die Neugier, die sich wie eine Essenz, ein Aroma, zwischen den Zeilen windet. Sie haucht sich beim Lesen auf meine Lippen, wie ein roter Faden, der sich von allein durch die Geschichte spinnt. Meine Finger zucken über die Tastatur. Sie hat keinen richtigen Anfang und noch kein Ende. Kains Wunsch, es bis zum Ende lesen zu wollen, hat mich überrascht. Ebenso, die Tatsache, dass ihn meine Worte derart im Gedächtnis geblieben sind. Ich will nicht mehr darüber nachdenken. Ich seufze laut und ignorierend, dass mich Jeff hören könnte geflissentlich.
 

Abrupt stehe ich auf, ziehe mir neue Schlafklamotten aus dem Schrank und verschwinde in die Duschräume. Als ich das Wasser anstelle, bekomme ich Gänsehaut. Das warme Nass weckt die Erinnerung an Kains Überfall und sie stört mich nicht so sehr, wie ich es gern hätte. Ich lasse meinen Kopf gegen die kühlen Kacheln fallen und verfluche den Schwarzhaarigen. Nie wieder werde ich duschen können, ohne darüber nachzudenken, wie verboten heiß er mit feuchtklebender Unterhose aussah. Ich bin schlimmer als jedes Teenagermädchen. Schlimmer, als Brigitta. Sie würde vor Freude quietschen. Jeff wahrscheinlich auch. Ich verspüre nur das Bedürfnis mir irgendwas durch die Brust zutreiben. Ich versuche es mit der Schampooflasche, aber die abgerundete Kappe verursacht nur eine kleine Delle. Tod durch Druckstelle. Wie poetisch. Leider lässt auch die Duschcreme als potenzielle Mordwaffe zu wünschen übrig. Meine Stirn prallt ein paar Mal zögernd gegen die harten Fliesen. Danach gebe ich es auf, dusche zu Ende und lege mich ins Bett. Trotz des von Minute zur Minute stärker werdenden Wunsches, den Tag endlich zu beenden, schlafe ich nicht ein. Ich ziehe mein Telefon unter dem Kopfkissen hervor und öffne den Chat mit Kains Nachrichten. Seine Worte hallen in meinem Kopf umher. Keine Verpflichtungen. Keine Verantwortungen. Ich beginne zu tippen.

-Schlaf beim nächsten Mal nicht gleich ein- Kains Antwort folgt prompt.

-Zu mir oder zu dir?- Ein amüsiertes Schnauben perlt von meinen Lippen, weil er wirklich meint mir etwas beweisen zu wollen. Ich lasse die Nachricht unbeantwortet, schiebe das Telefon unter das Kopfkissen und starte einen erneuten Versuch einzuschlafen. Er gelingt.
 

Am Sonntagmorgen werden wir durch das leise Klopfen des blonden Spielgefährten meines Mitbewohners geweckt. Ich ziehe mir mürrisch mein Kopfkissen über den Kopf, als die beiden mich davon überzeugen wollen mit ihnen Frühstücken zu gehen. Meinen Kommentar darüber, dass es für mich zu früh für Gesellschaft ist und sie mich gefesselt und geknebelt mitschleifen müssten, nehme sie lachend als Scherz hin. Ich meine es ernst. Beim Anblick der beiden turtelnden Kerle vergeht mir sowieso der Appetit. Als sie weg sind, plüsche ich mein Kissen wieder zu recht, schlafe für zwei Stunden wieder ein und widme mich den Rest des Tages dem Vortrag, der mich am Donnerstag erwartet. Jeff und Abel tauchen nicht wieder auf. Auch Kain nicht.
 

Auch die ersten Tage der Woche beschäftige ich mich vor allem mit dem Referat. Lesen. Notieren. Ordnen. Noch mal lesen und verzweifelt Seufzen. Zu meinem Glück neigt sich das Semester langsam dem Ende zu und die meisten Dozenten verbringen ihre Zeit damit, zu wiederholen oder etwaige Fragen zu beantworten. So kann ich mich ausschließlich auf meinen unvermeidbaren Vortrag konzentrieren, die Präsentation vorbereiten und bin bereits am Dienstag bei einer bedenklichen Vielfalt an Flüchen angelangt, die ich andauernd vor mich hin flüstere. Am Mittwoch verschanze ich mich in der Bibliothek und sorge für stimmungsvolle Abwechslung, indem ich die Fluchtiraden in alphabethischer Reihenfolge wiederhole. Auch Rückwärts. Ich wäre ein Meister im Spiel 'Stadt, Land, Fluch'. Aachen. Arno. Avarakavra. Wirklich weiterhelfen kann mir das nicht. Irgendwann gebe ich es auf und verschwinde in die Mensa. Istanbul. Indus. Imperio. Mit Kopfhörer und einem Buch lasse ich mich an einem der Fensterplätze nieder. Ich bin am Verzweifeln und hasse mich selbst dafür, dass ich wegen so eines verfluchten Referats die Muffe fliegen lasse. Fast nervös tippe ich mit dem Finger den Takt der Musik mit, während ich das Kapitel über Gewebeläsionen zum zweiten Mal beginne.

Ich registriere neben mir eine Bewegung, sehe aus dem Augenwinkel heraus, wie der Stuhl nach hinten geschoben wird und wie Jeff sein Tablett auf den Tisch stellt. Darauf befindet sich ein gigantischer Berg Kartoffelpüree mit Fischstäbchen. Dazu Rosenkohl. Rosenkohl? Ich sehe erst auf, nachdem ich eine Weile angewidert auf die runden, gruseligen Röschen gestarrt habe, die lustige auf seinem Teller rumkullern. Ich sehe von dem grünen Gift in das Profil meines Mitbewohners, kann nicht hören, was Jeff sagt, aber seine Lippen bewegen sich energisch. Er widmet seine volle Aufmerksamkeit Kain, der mit einem Mal vor mir sitzt und eben so enthusiastisch in das Gerede involviert scheint. Ruhe ade. Passend zu diesem Moment setzt das Lied 'Au Revoir' von Mark Foster ein und ich habe das Bedürfnis, den französischen Abschiedsgruß laut zu formulieren in der Hoffnung, dass die anderen beiden die Botschaft verstehen. Kain trägt die Strickjacke mit dem diagonal zur Brust verlaufenden Reißverschluss. Unbewusst haftet sich mein Blick auf das ineinander verhakende Verschlussteil. Bevor er anfängt zu essen, zieht er den Schließhaken etwas nach unten, lässt ein grünes T-Shirt hervor blitzen. Die Erinnerung daran, wie sich die festen Muskeln unter meinen Fingern anfühlen, lässt selbige pulsieren. Ich spüre augenblicklich, wie sich die Frequenz meines Herzschlags steigert, wie rauschendes Blut durch meine Adern strömt und die Vene an meinem Hals hervorperlt. Für mich fühlt es sich an, als würde sie schier hervorstechen, doch ich weiß, dass es nur für die deutlich ist, die genau hinsehen. Ich wende meinen Blick von Kain Strickjacke ab und stochere eine Weile still zeternd in meinem eigenen Kartoffelpamps herum.
 

Mit einem Mal spüre ich, wie mir Jeff gegen den Oberschenkel piekt. Ich mache keine Anstalten die Kopfhörer abzunehmen, sondern sehe nur gelangweilt auf. Seine Lippen bewegen sich. Ich verstehe ihn nicht. Er seufzt theatralisch. Das brauche ich nicht hören, denn ich erkenne es an seinem Gesichtsausdruck. Pure Verzweiflung. Resignation in Reinform. Jeff ist eine Dramaqueen. Er verdeutlicht mir ein weiteres Mal, dass ich die Kopfhörer abnehmen soll und diesmal bin ich es, der seufzt. Ich ziehe mir nur die linke Seite vom Ohr.

„Kannst du ihm bitte sagen, dass Tauriel nicht in den Büchern vorkommt." Ohne Umschweife und Erklärung. Jeffs schlanker Finger deutet auf Kain.

„Ja, Robin sag mir, dass Tauriel nicht in den Büchern vorkommt", äfft Kain meinen Mitbewohner nach. Ich verkneife mir ein dümmliches Hä und brauche einen Moment, bis ich den Namen zuordnen kann. Sie diskutieren über den Hobbit? Haben die beiden keine Hobbies? Sie erörtern bereits weitere Faktoren. Auch ohne meine Antwort, also widme ich mich wieder meinem Buch. Vielleicht finde ich darin doch eine ausreichende Möglichkeit, die beiden lautlos und spurlos kaltzustellen. Das mörderische Lachen in meinem Kopf ist laut und wahnsinnig. Trotz dieser Gedanken beginne ich unweigerlich zuzuhören.

„Sie haben sie als Quotenfrau eingeführt. Mehr nicht", gibt Jeff von sich und hat Recht.

„Ich finde es gut. Sie ist hübsch anzusehen und hat es voll drauf. Also ein Punkt für das Team Mann. Warum stört dich das?" Kain zwinkert. Sein grinsendes Gesicht spricht Bände. Sie ist eine Rothaarige. Mehr muss ich dazu nicht sagen.

„Na, weil es albern ist. Nur wegen dem Anspruch genügend Männer sexuell anzusprechend ein wunderbares Fantasieepos mit schönen Frauen auszustaffieren, ist dämlich." Jeff zerteilt seine Fischstäbchen jeweils in exakt 3 Teile. Bei der letzten Stück Presspappe wird er so energisch, dass er die Panade runterreißt.

„Frauen? Eine Elbin. Eine. Una", betont der Schwarzhaarige, hebt dabei erst den Daumen, danach den Zeigefinger und bei der spanischen Variante streckt er Jeff den Mittelfinger hin. Wie subtil. Ich unterdrücke mir das amüsierte Raunen nicht schnell genug und kassiere unter dem Tisch einen Tritt von meinem erstaunlich diskutierfreudigen Mitbewohner.

„Die nicht existiert. Es ist ein prekärer Eingriff in den Storyverlauf und gaukelt den Menschen etwas vor, was bei Tolkien so nicht vorgesehen war", gibt Jeff von der Unhöflichkeit unbeeindruckt von sich und ich reibe mir die schmerzende Stelle an meinem Bein. Elendiger Uruk hai.

„Aber gegen die vielen viel zu schönen, männlichen Zwerge hast du natürlich nichts...", merkt Kain an, stützt seinen Ellenbogen auf dem Tisch ab und seinen Kopf in seiner Hand. Damit hat auch er leider Recht.

„Du hörst mir gar nicht zu, oder? Die Zwerge gehören in den Film und das hat nichts mit meiner Gesinnung zu tun...Tolkien würde sich im Grabe umdrehen. Garantiert", erwidert mein Jugendfreund, während Kain mit seiner Gabel hin und herwackelt, weil Jeff gerade ein typisch weibliche Plattitüde missbraucht. Kain schiebt seine Gabel in den eigenen Kartoffelberg und führt sich eine gigantisch wirkende Menge zum Mund. Kain kaut, während Jeff weitere Argumente hervorbringt, weshalb attraktive Zwerge viel sinnvoller für den Filmverlauf sind, als schöne Elbenfrauen ohne literarischen Hintergrund. Wenn Kain den Mund jetzt öffnet, quillt der gelbe Brei garantiert wieder heraus. Ich beobachte eine Weile, wie seine Mahlvorrichtung unnütze Arbeit verrichtet und er sich daraufhin die gelben Reste aus den Mundwinkeln streicht.

„Dir ist, aber schon klar, dass die Zwerge, so wie sie im Film dargestellt werden, im Buch nicht mal annähernd aussehen?", mische ich mich nun doch ein und schiebe meinen halbleeren Teller weg, greife nach meinem Nachtisch. Pudding. Endlich. Oh, du diabetesfördernde Glückseligkeit.

„Ach du, misch dich nicht ein...", pampt mich Jeff an und ich schaue perplex dabei zu, wie er mir meine glücksbringende Milchspeise aus der Hand nimmt. Auch Kain ist überrascht, schafft es aber nicht, das schadenfrohe Grinsen auf seine Lippen zu unterdrücken.

„Jeff wird zum Kampfzwerg", kommentiert Kain die Szenerie. Ich versuche mir meinen Nachtisch zurückzuholen und treffe auf Widerstand.

„Wohl eher zum Gollum...", sage ich darauf hin und bekomme die Stelle des Films nicht aus dem Kopf, in der mir Jeff beim Entreißen der Puddingschale, wie Gollum, Frodo am Schicksalsberg einen Finger abbeißt. Ich kriege bei dem Vergleich einen weiteren vernichtenden Blick von meinem Kindheitsfreund und sehe dabei zu, wie er den Pudding noch weiter von mir weg hält. Ein weiterer Versuch und ich liege halb auf seinem Schoss.

„Gib mir meinen Pudding zurück...", knurre ich leise, sodass es nur er hört. Jeff drückt mein Gesicht zur Seite und klemmt meinen Arm unter seiner Achselhöhle ein. Wie erniedrigend. Es ist ja nicht so, dass ich nicht einfach aufstehen könnte, um mir die Süßigkeit zurückzuholen. Wieso einfach, wenn es auch schwer geht.

„Nein, du bist nicht in meinem Team, also gibt's auch keinen Pudding."

„Seltsam, dabei manövriert er sich doch gerade eindeutig ins Team Piepmatz", merkt Kain an als er unsere eigenartige Kampfpose begutachtet. Jeff hat mittlerweile meinen rechten Arm zwischen seine Beine einklemmt und den anderen gekonnt zwischen Arm und rechter Seite. Wenigstens riecht er immer sehr gut. Diesmal ist es sogar einer der Düfte, die ich ihm geschenkt habe. Ich vergesse es, mich weiterhin zu wehren, als ich endlich eine gute Idee für sein Geburtstagsgeschenk habe.

„Was genau macht ihr da?", kommt es verwundert aus dem Hintergrund. Ein weiterer Spieler betritt das Feld. Abel. In seinen Händen hält er ein gutgefülltes Tablett.

„Robin hat es gewagt sich in unseren Disput einzubringen", sagt Kain lachend, während mich Jeff freigibt. Ich richte mir meine Klamotten und bin voller erwartungsfroher Vorfreude, endlich meinen Nachtisch zurückzubekommen. Doch bevor Jeff mir meinen Pudding aushändigt, lässt er ein paar Stücke seiner Fischstäbchen durch die vanillige Substanz gleiten. Sein entsetzt formulierter Name perlt von meinen Lippen, lässt den Angesprochenen unschuldig gucken und die beiden anderen herzhaft lachen. Zurück bleiben orange-braune Krümel in hellgelber Konsistenz und mein Bedürfnis in Tränen auszubrechen.

„Diskutiert ihr noch immer über die Elbin? Das machen sie schon den ganzen Tag", sagt Abel, nachdem sich alle wieder etwas beruhigt haben.

„Jetzt, wo du nichts mehr zu verlieren hast, wie ist deine Meinung dazu?" Kain deutet auf die Schale in meinen Händen, während ich missmutig mit dem Finger Panade herausfische. Wie kommt Jeff nur auf diese grausigen kulinarischen Ideen? Mein schöner Pudding. Warum wundere ich mich eigentlich, schließlich isst er auch Schokolade zusammen mit Käsedip. Ein eiskalter Schauer erfasst mich sichtbar und aus meinen Kopfhörern dringt Maroon5 mit 'Payphone'.

„Robin?", wiederholt Kain und ich sehe fragend auf. Jeff zieht einen Müsliriegel aus der Tasche und legt ihn mir vor die Nase. Einer mit weißer Schokolade und Milchcreme. Ich hätte lieber einen neuen Pudding.

„Also, ich mag die angedeutete Liebesgeschichte...sonst wären es ja nur wildes Gemetzel und psychologische Spielerei", mischt sich Abel ein und gibt der Diskussion eine neue Tonation. Er macht eine seltsame Schlitzbewegung mit seinen Armen und greift nach dem Messer und der Gabel. Damit gibt Abel genau das wieder, was mir an dieser Geschichte so arg widerstrebt. Ich habe nichts gegen hinzugedichtete Charaktere, so lange sie nicht diese stupiden Klischees erfüllen. Nicht jeder Film braucht eine an den Haaren herbeigezogene Liebesgeschichte. Im Gegenteil. Für gewöhnlich macht sie den Film eher kaputt.

„Willkommen im Team Piepmatz", sagt Kain trocken, obwohl sich Abel gar nicht gegen die rothaarige Elbin ausgesprochen hat. Ich packe den Müsliriegel in meine Jackentasche.

„Klar, da herrscht seit Jahrtausenden Twist zwischen Zwergen und Elfen, aber er verliebt sich in die nächste beste, dahergelaufene Waldelbe. Die grenzlose Macht der Liebe.", mische ich nun doch mit.

„Sowas ist möglich", merkt Abel an.

„Das wage ich zu bezweifeln. Diese erzwungenen Liebesgeschichten in Filmen sind zum Davonlaufen. Wer will schon eine minutenlange Kussszene in einem durch und durch aktiongeladenen Film sehen? In einem Horrorfilm auch nur dann, wenn danach das obligatorische Messer mitten ins Herz folgt, als Ironie für die Sinnlosigkeit." Meine Ansprache endet punktgenau mit dem Refrain des in meinen Kopfhörer dudelnden Liedes. 'One more fucking love song. I'll be sick'. Die Zeile spricht mir aus dem Herzen.

„Robins Wort zum Sonntag", erwidert Kain und verschränkt die Arme vor der Brust.

„Wer bei dir Romantik sucht, ist total aufgeschmissen, oder?", gibt Abel lachend von sich. Ich starre ihn nur ausdruckslos an.

„Ach, der Herr Pantoffelheld quatscht doch nur...Niemand lässt eine Liebeserklärung kalt", entgegnet Jeff und schiebt sich ein Stück Fischstäbchen in den Mund, nachdem er es noch einmal durch meinen Pudding wandern lässt.

„Nur Han Solo antwortete auf die Liebeserklärung mit den richtigen Worten. 'Ich weiß'...", kontere ich darauf hin.

„Aber genau dieser lässt sich später ausgiebig von der Prinzessin küssen und das wüsstest du, wenn du die Filme mal vollständig gesehen hättest. Du schläfst ja immer ein", setzt mein blonder Zimmerpartner seine gefühlte Überlegenheit fort und zieht eine freche Grimasse. Leider hat er Recht. Ich schlafe tatsächlich des Öfteren bei unseren Filmeabende ein, was aber primär an Jeffs Filmrepertoire liegt und nicht an meiner mangelnden Aufmerksamkeitsspanne.

„Ich schlafe nur bei den Filmen ein, die du auswählst. Nichts gegen Jane Austin, aber ich muss keinen Film sehen, wo sie nur damit beschäftigt sind ihre Bücher komisch auszulegen." Im Abitur lasen wir 'Stolz und Vorurteil'. Danach war Jeff Feuer und Flamme. Ich muss Jahre lang riesige Scheuklappen auf gehabt haben, um nicht zu merken, wie klischeehaft schwul doch manche Vorkommnisse tatsächlich waren. Zudem habe ich durchaus einige Filme vollständig gesehen. Unter anderen alle drei Filme von Herr der Ringe in der Extended Version. Wenn das mal keine Leistung ist. Ich verkneife mir eine Anmerkung in diese Richtung. So oder so, die bewegten Bilder sind zugegebenermaßen einfach nicht mein Medium.

„Nichts gegen den 'Jane Austin- Club'. Der Film ergreift mich jedes Mal!", echauffiert sich Jeff über meine subtile Beleidigung.

„Oh ja, genauso wie Hannah Montana, Girls United und Bambi. Jeff, deine Filme laden förmlich zum Einschlafen ein." Ich bin so schrecklich unsensibel und zuhören kann ich meistens auch nicht. Er hat aber auch ein schweres Los mit mir. Ich setze noch einen drauf. „Und meine Schwester hätte gern ihre DVD-Sammlung zurück." Jeff steckt mir sofort die Zunge raus. Er weiß es besser. Lena steht auf Horrorfilme mit Blut und Gemetzel. Aber da sie sich im Moment nicht wehren kann, ist sie Mittel zum Zweck. Kain und Abel kichern. Ein seltsames Bild. Wahrscheinlich weiß Abel mittlerweile ganz genau, wie anstrengend Jeffs Filmvorlieben sind. Sein Geschmack ist zuweilen etwas eigenartig und schwankt beträchtlich zwischen allerhand Gegensätzen hin und her. Manhattan Lovestory und Saw. Alien und 10 Dinge, die ich an dir hasse. Highschool Musical und Scream. Am besten an einem Abend. Es ist verstörend. Vor allem, wenn man beim Liebesfilm nur darauf wartet, dass der Verrückte mit dem Messer die romantischen Szenen veredelt. Ein bisschen Blut hat noch keinem Film geschadet.

„Ihr seid alle samt Banausen. Allen voran du", wirft uns Jeff gespielt schmollend entgegen, deutet auf mich. Dreimaliges Schulterzucken. Jeffs beleidigte Haltung verstärkt sich. Abel startet einen Versuch seinen Freund zu beschwichtigen, während Kain leise lachend die Szene beobachtet und danach zu mir blickt. Aus meinen Kopfhörern dudelt mir James Blunts helle, weiche Stimme entgegen. 'He's waiting for the day when he gets me. But I won't be your concubine - I'm a puppet not a whore'. Sein Lachen wird zu einem Lächeln. Es ist ehrlich und intensiv. 'Hold my heart and see that it bleeds. I'm out of my mind.' Mein Herz schlägt heftiger und ich stehe unvermittelt auf.

„Guck mit ihm 'Das Haus am See', dann verzeiht er dir alles", rate ich ohne noch einmal aufzusehen und greife mein Tablett. Tatsächlich ist es einer von Jeffs Lieblingsfilmen. Jetzt soll noch mal jemand sagen, ich sei nicht aufmerksam. Ob er ihn wohl wegen Sandra Bullock oder Keanu Reeves mag? Ich schüttele den Gedanken davon.
 

Ich bringe alles zur Geschirrabgabe und spüre beim Wegstellen die Vibrationen meines Handys. Ich pfriemele es aus der Hosentasche und sehe Brigittas Namen auf dem Display. Meine untere Gebisshälfte beginnt zu pochen. Ich streiche mir über den Kiefer, blicke auf und sehe, dass Kain auf mich zukommt. Ein Zwiespalt. Ich will weder mit ihr, noch mit ihm reden. Spontan drücke ich den grünen Hörer. Kain bleibt stehen und sieht mir etwas beleidigt entgegen.

„Robin, mein liebster Lakritzstängel..." Hölle. Eine theatralische Pause und ich bete, dass niemand ihre Begrüßung für mich gehört hat. Ihr unerschöpflicher Vorrat an süßen Spitznamen macht mich fertig.

„Was ist 1,64 m groß, perfekt gestylt und verliert langsam die Geduld mit dir?"

„Brigitta...", setze ich seufzend an. Doch meine schrille Lektorin unterbricht mich. Mit mir kann man es machen, denke ich, nachdem ich akkurat in ihre Falle getappt bin. Auch Brigitta quatscht mir Fusseln an den Mund. Mein Blick richtet sich noch immer auf den Schwarzhaarigen, der mich keck mit dem Finger an sich heranwinkt. Ich hebe meine Augenbraue um ihm verdeutlichen, dass ich garantiert nicht hüpfe, wenn er es will. Vielleicht sollte Kain und Brigitta mal zusammensetzen. Sicher ein Spektakel und erspart mir die Fusselrollen.

„Toll, du weißt tatsächlich noch, wer ich bin! Wenn du dich jetzt noch daran erinnerst, wie man Worte zeitnahe in ein Telefon tippt, schmeiße ich ne Party."

„Entschuldige, aber ich habe nicht die Zeit, um dir jedes Mal das brave Autorenhündchen zu mimen. Ich bin ein schwer beschäftigter Mann...", erläutere ich ungerührt und sehe zu Kain, der in einiger Entfernung stehengeblieben ist.

„Einmal würde mir schon reichen, Sahnehase. Dann müsste ich nicht immer den Autorenschreck spielen." Augenblicklich stelle ich mir vor, wie sie mit einem riesigen Käscher durch die Straße fährt und uns entlaufenden Autoren einfängt. An sich keine schlimme Fantasie, aber leider trägt sie bei mir jedes Mal ein Dominakostüm. Verstörend. Überaus verstörend.

„Ich habe dir zwei Beispiele für das Cover geschickt, aber da du dich nicht gemeldet hast, habe ich es für dich entschieden. Du wirst es lieben..." Oh oh. Schon an ihrer Stimme vernehme ich, dass es das besonders schnulzige Motiv geworden ist. Die Strafe für meine Ignoranz. Ich habe es nicht anderes verdient. Für gewöhnlich bekomme ich einen relativ schlichten Vorschlag und einen mit einem typischen Nackenbeißermotiv. Ich glaube, ich muss nichts weiter zu meiner Auswahlkriterien sagen. Meine Zahnschmerzen werden schlimmer. Ich seufze und nehme mir vor, doch sorgsamer mit ihrer Anrufen umzugehen.

Abel hat sich mittlerweile zu Kain gesellt. Brigitta redet unbeirrt weiter, weil sie nicht weiß, wie abgelenkt ich bin. Ich beobachte die beiden vollkommen unterschiedlichen Männer. Sie tauschen irgendwas miteinander aus, doch ich kann nicht erkennen, was es ist. Kain wirft mir, bevor er geht eine Ich-hab-dich-im-Blick-Geste zu. Ich strecke ihm meinen Mittelfinger entgegen und seufze.

„...ist das okay, für dich?" Erst diese Frage holt mich zurück.

„Ja. Du, ich muss dringend mein Referat fertig bekommen. Ich schicke dir heute Abend den Vorentwurf für die Romanidee, von der wir das letzte Mal gesprochen haben..." Brigitta quietscht.

„Dank dir bekomme ich nicht nur Diabetes sondern auch noch einen Tinitus. Vielen Dank auch", merke ich an, als ich mir das Telefon wieder an das Ohr halten kann.

„Entschuldige. Ich bin nur so aufgeregt." Wenigstens eine ist es. Wir verabschieden uns und ich trabe in die Bibliothek zurück.

Eine halbe Stunde lang, starre ich auf meine Notizen. Die Unterbrechung hat mir nicht wirklich geholfen. Ich werde, wenn ich vor der versammelten Mannschaft stehe, garantiert anfangen Rumzustottern und damit total durcheinander kommen. Warum ich jedes Mal derartig aus dem Konzept gerate, ist mir ein Rätsel. Schon in der Schule lagen mir die Vorträge und Referate nicht. Ich reibe mir mit beiden Händen über die Wangen und seufze theatralisch. Fast so gut, wie Jeff. Aber nur fast.
 

"Hier versteckst du dich,...", ertönt eine vertraute Stimme. Ich sehe auf. Anscheinend muss ich mir beim nächsten Mal noch eine tiefere, verwinkeltere Ecke in der Bibliothek suchen. Kain lässt sich neben mir auf den Tisch nieder und setzt sich dabei direkt auf ein paar meiner Mitschriften.

Ohne eine Erwiderung von mir zugeben, ziehe ich an den Blätter und entferne sie vom Hinterteil des anderen Mannes. Cuxhaven. China. Cruzio, setze ich spontan meine Flucherei fort. Kain beobachtet mich beim Murmeln und ich kann sehen, wie sich einer der Bonbons in seinem Mund bewegt. Nur der Gedanke an das Aroma lässt etwas in mir erbeben. Bitte, erschießt mich. Ich zerre noch fester an den Papieren. Ich kriege ein paar der Blätter nicht unter Kains Hintern hervorgezogen, ohne sie zu zerreißen. Nun reagiere ich doch.

„Kann ich was für dich tun?", frage ich übertrieben freundlich und ringe mir eine lächelnähnliche Mimik ab.

„Ficken?", fragt er gerade heraus. Ich schaffe es nur mit Mühe und Not, dass meine Gesichtszüge nicht entgleisen.

Findet Nemo für Empathielose und Helfershelfer

Kapitel 11 Findet Nemo für Empathielose und Helfershelfer
 

Nach kurzem apathischen Starren schaue ich unweigerlich von nach links und rechts und wieder zurück. Zum Glück sind die umliegenden Arbeitsplätze sind verweist, denn er war keineswegs im Flüstermodus als er das sagte. Als ich zu dem Schwarzhaarigen zurückblicke, ziert sein Gesicht ein mehr als eindeutiges Grinsen.

„Kastration?", frage ich retour, doch seine amüsierte Mimik bleibt dieselbe und er scheint den Ernst meiner Worte nicht wahrzunehmen.

„Nicht hier und jetzt", beschwichtigt er lächelnd, "Ich dachte eher an heute Abend. Jeff und Abel sind feiern und ich hätte Bock. Und deine bösartige Anspielung habe ich nicht gehört." Er hätte Bock? Ich habe mich wohl verhört. Ich bin nicht sein Betthäschen, was hüpft, wenn er es sagt.

„Wow. Subtilität, das schon mal gehört?", frage ich. Kain winkt generös ab.

„Wird vollkommen überbewertet und funktioniert bei dir nicht. Meine Andeutungen hast du alle ignoriert." Kain tippt sich gegen die Nase. Andeutungen? Ich stehe auf den Schlauch, verkneife mir aber zu erfragen, was bei unseren kurzen, beiläufigen Konversationen die Hinweise gewesen sein könnten. Denn die Hobbit-Kontroverse beim Mittagessen hat mich definitiv nicht angeheizt. Ich denke an meinen verunstalteten Pudding. Libido ade. "Außerdem bist du doch das Paradebeispiel für den Mangel an Feingefühl."

„Hat Miss Red Riding Hood mal wieder keine Zeit für Sindbad, den tollkühnen Seefahrer?", entgegne ich absichtlich provozierend und ziehe diesmal energisch die restlichen Blätter unter seinem Hintern hervor. Kain greift nach den Seiten und lässt seine aufmerksamen braunen Augen ungerührt darüber wandern.

„Nope, sie ist heute bei ihrer Schwester und veranstalten irgend so ein Mädchending.", erklärt er ebenso gelassen und ich widerstehe dem Drang ihn vom Tisch zu schupsen. Ich bin zweite Wahl. So was will man hören. „Das Leben ist so schwer als 16-jähriges Mädchen reicher Eltern", setzt Kain theatralisch fort und verdreht dabei die Augen, so, als müsste mir das alles erklären. Ich frage nicht weiter nach den es interessiert mich nicht. Kain legt die Blätter zur Seite, kramt danach in seiner Tasche nach einem Bonbon und sieht aus, als würde er sich häuslich niederlassen. Nicht mit mir. Als er sich den gelben Bonbon in den Mund steckt und danach die Beine übereinander schlägt, werfe ich ihm einen Bleistift gegen die Brust. Kain fängt ihn bevor in seinen Schoß fällt mit beiden Händen auf.

„Sieh an! Zwei funktionierende Hände... vergnüg dich mit denen", kommentiere ich. Den ersten Teil besonders euphorisch und begeistert. Den letzten Teil dann aber trocken. Ich sehe gar nicht ein nach seiner Pfeife zu tanzen.

„Weshalb sollte ich sie bemühen, wenn ich dich die Arbeit machen lassen kann?", kontert er lapidar und schiebt sich den ausgepackten Bonbon in den Mund. Es reicht. Ich richte mich ruckartig auf, sodass der Stuhl, auf dem ich eben noch gesessen habe, nach hinten kippt. Kain zuckt überrascht und sieht auf, während ich ihn einhändig am Kragen packe und die andere unsanft in seinen Oberschenkel drücke. Kain versteift sich minimal, macht aber sonst keinerlei Anstalten sich zu wehren. Im Gegenteil er sieht mich ruhig an und das regt mich nun noch mehr auf.

„Hör mal zu, wenn du glaubst, dass ich mich durch deine machohaften Ansagen beeindrucken lasse, hast du dich vollkommen verkalkuliert. Also lass dir eines gesagt sein, ich bin keines der dummen, schmalbrüstigen Betthäschen, die springen, wenn du es sagst." Ansagen machen kann ich auch und verdränge dabei geschickt, dass es nicht ganz der Wahrheit entspricht. Kain und seine Erscheinung lassen mich keineswegs kalt, aber diese machohafte Attitüde regt nichts in mir. „Ich hab es nicht nötig, mich von dir dämlich anquatschen zu lassen. Klar?", harsche ich ihn an und verwende absichtlich das deutliche Klar als Anlehnung an Kains vormalige Ansage. Wir starren uns intensiv an, bis Kains Augen tiefer wandern. Ich halte unwillkürlich die Luft an als er langsam und bestimmt wieder aufblickt. Jedoch bei meinen Lippen stoppt. Ich lasse ihn los, doch Kain packt mein Handgelenk und zieht mich direkt zurück. Durch die Bewegung rutscht die Hand an seinen Oberschenkel dichter in seinen Schoß. Mein Puls schnellt nach oben und ich stoße überrascht die Luft aus.

„Klar. Ich hab's verstanden. Für mich ist das auch neu... also, entschuldige" Mein Handgelenk hält er umklammert, während er das sagt. Irritiert blicke ich ihm entgegen. Danach skeptisch. Neu? Mir ist nicht klar, was genau er damit meint. Ich frage nicht nach. Kain irritiert mich. Jedes Mal wieder und auch jedes Mal mehr und ich weiß nicht, wie ich damit umgesehen soll. Die Stelle unserer Berührung ist mittlerweile bemerkenswert heiß. Meine Haut pulsiert und ich bin sicher, dass er es spürt. „Auf den Punkt, übrigens...", erwidert er anerkennend und grinst. Das Grinsen sorgt dafür, dass es sich anfühlt als wäre mein ganzer Vortrag für die Katz gewesen ist.

"War's das schon?", fragt Kain neckend, als ich weiterhin schweige und sich mein Abo für dämliche Gesichtsausdrücke aktiviert. Ich muss es unbedingt kündigen. Statt etwas zu erwidern, löse ich nun endlich meinen Arm aus seinem Griff und mache einen Schritt zurück. Kain sieht mir still dabei zu, wie ich mir die Lippen befeuchte und sie danach mit der Handfläche wieder trocken wische. „Okay, was hältst du davon, wenn wir beide mit den Provokationen und den Drohgebärden aufhören und uns wie zwei intelligente, erwachsene Menschen verhalten", schlägt er plötzlich ganz diplomatisch vor.

„Das würde dich sicher überfor...", setze ich meinen bissigen Kommentar, über die enorme Komplexität einer solchen Aufgabe und meine Zweifel darüber, dass der Schwarzhaarige sie bewerkstelligen kann, an, als er sich abrupt aufrichtet und mir den Mund zuhält. Die Reste des Satzes murmele ich energisch, aber undeutlich in seine Handfläche.

„Eheh", verneint er überwiegend gestisch und versucht mich zum Schweigen zu bringen. Ich funkele ihm entschlossen entgegen. "Du willst auch immer das letzte Wort, oder?" Eine rhetorische Frage. Damit gibt er meinen Mund wieder frei und hätte er es lieber gelassen.

„Immer...", gebe ich zum Besten und sehe mit Genugtuung, wie Kain seufzt. Ich setze mich zurück auf den Stuhl und nehme mir vor den Biotechnologen von nun an zu ignorieren. Immerhin haben wir alles gesagt. Ich wende mich wieder meiner Präsentation zu, doch Kain besitzt einfach nicht den Anstand mich in Ruhe zu lassen. Er lehnt sich unbeeindruckt zurück an den Tisch. Ich beiße die Zähne zusammen und sehe auf.

"Was denn noch?", knurre ich leise.

„Schreibst du wieder Pornos?", fragt er neugierig und greift nach meinem Laptop um ihn in seine Richtung zu drehen. Ich halte das Gerät mit beiden Händen fest und knurre erneut.

„Ganz genau, diesmal im Hardcore-Style und du bist der Passive", lasse ich ihn wissen. Kains Augenbraue zuckt nach oben und doch verfehlen meine Worte leider die gewünschte Wirkung. Denn er ist immer noch da.

„Ach, deine Fantasien drehen sich also darum. Interessant", bemerkt er. Soviel zum Thema Provokationen. Er macht mich fertig.

„Was willst du denn noch?", frage ich genervt.

„Ist bestimmt spaßig mit dir Sex-SMS zu schreiben...", giggelt er und geht nicht auf meine Frage ein. "Du bist bestimmt gut darin... fantasievoll und... " Den Rest behält er für sich und grinst stattdessen wissend. Ich kann nicht verhindern, dass mein Kopf resigniert nach vorn kippt. Was, um Himmelswillen, habe ich getan, dass ich das verdiene? Können mich nicht einfach alle in Ruhe lassen? Mehr verlange ich doch nicht.

„Ernsthaft, Kain, ich hab zu tun." Ich richte meine Aufmerksamkeit zurück auf meine Vortragsnotizen, schaffe zwei Sätze und sehe aus dem Augenwinkel heraus, wie sich Kains Finger nach meinen Unterlagen ausstrecken. Ich fasse nach seinem Handgelenk und halte ihn zurück.

„Mit Sicherheit willst du deine funktionierende Gliedmaßen behalten... nicht wahr?", drohe ich ihm nonchalant und nehme ihm die Unterlagen aus der Hand.

„Reg dich ab. Ich darf doch noch ein wenig Interesse an dir zeigen, oder?" Nerviges Schnüffeln ist heutzutage also Interesse zeigen? Wieder etwas gelernt. Ich resigniere und überlasse ihn seufzend die Mitschriften aus der Vorlesung. Er studiert sie für einen Moment aufmerksam und greift dann nach meinem Buch über Pathobiochemie. Seine Stirn runzelt sich als er merkt, dass das nichts miteinander zu tun hat. Trotzdem bin ich mir sicher, dass er genau weiß, worum es geht. Er klappt das Buch auf und blättert gemächlich darin rum. Ich widme mich meinen Aufzeichnungen.
 

„Pat und Patachon feiern heute übrigens ihr Halbjähriges", erzählt Kain an, spricht von unseren herzallerliebsten Mitbewohnern.

„Und ich habe meine Wunderkerzen nicht dabei", gebe ich trocken von mir und sehe nicht von meinem Blatt auf. Ich höre den anderen Mann amüsiert schnauben und wie ein leichter Schauer über meinen Nacken fegt.

„Zu Schade, die hätten perfekt zu meinem Blütenregen gepasst", scherzt er weiter und blättert zurück ins Inhaltsverzeichnis des Buches. „Seit wann feiert man eigentlich Halbjährige?", fragt Kain, während er weiter in dem Buch rumschmökert.

„Keine Ahnung.... Jedem das seine, oder", antworte ich mit deutlicher Gleichgültigkeit. Von mir aus sollen sie jeden Monat feiern, solange sie es machen ohne mir auf die Nerven zu gehen. Sie sind selbst schuld, wenn sie freiwillig diesem Stress und der Absurdität der Abhängigkeit aussetzen. Derartige Beziehungsrituale ketten einen freiwillig an einen Anker, obwohl man genau weiß, dass man irgendwann dem Meeresboden gefährlich nahe kommt.

„Vielleicht feiern sie ihr Durchhaltevermögen? Wobei, dass keine Leistung ist. Jeff hält dich schon viel länger aus, da macht er ein halbes Jahr mit Abel sicher mit links." Provokation, die Zweite.

„Clown zum Frühstück?", bluffe ich zurück, "Und falls es dir noch aufgefallen, Jeff macht sowieso alles mit links." Mein Mitbewohner ist Linkshänder. In der Schule war das einer der Gründe, warum man uns in der 5. Klasse zusammengesetzt hat. Ich bin nämlich auch einer und wir haben uns beim Schreiben nicht behindert. Mittlerweile habe ich mir trotzdem angewöhnt vieles mit der rechten Hand zu machen, sodass es weniger auffällt. Nun nehme ich Kain das Buch aus der Hand, klappe es zu und signalisiere ihm zum wiederholten Male, dass ich keine Lust mehr habe weiter zu quatschen. Das hier ist kein Kaffeekränzchen.

„Du eigentlich auch, oder?", fragt Kain unbeirrt und dreht meinen Laptop zu sich heran. Er wirft einen ungenierten Blick auf die geöffnete Präsentation, während ich mich darüber wundere, dass ihm meine Beidhändigkeit aufgefallen ist. Mein Gehirn ist heute nicht das Schnellste.

"Was?"

„Du hältst das Besteck andersherum. Du bist eigentlich auch Linkshänder, oder?", erklärt er mir, "Signaltransduktionen? Bei Professor Cole? Wann ist dein Vortrag?" Ich nicke alles nur überfordert ab.

„Morgen", erwidere ich auf den letzten Teil. Kain liest still die Punkte quer und mustert danach mein zerknirschtes Gesicht. Wahrscheinlich schaue ich noch grimmiger als sonst. Ich hasse Präsentation. Fast so sehr, wie Kitsch. Präsentationen sind die Liebesromane der Notenermittlung. Unnötig nervenzerrend und zwangsdramatisiert.

„Cole ist nicht sehr streng und du bist doch sicher perfekt vorbereitet.", sichert mir Kain zu und würzt das Ganze mit einen Oberlehrerblick, der mich genervt Raunen lässt.

„Darum geht 's gar nicht... Ich halte nicht gern Vorträge.", gestehe ich, stütze meine Arme auf dem Tisch ab und reibe mir die Augen. Ich müde und jetzt schon enorm angespannt. Kains Augenbraue zuckt nach oben und zu seinem Glück spart er sich einen überflüssigen Kommentar darüber, dass ich sonst kein Problem damit habe, anderen Vorträge zu halten.

„Brauchst du ein Versuchskaninchen? Wenn du es mir verständlich erklären kannst, dann wird nachher garantiert niemand mit einem Fragezeichen über dem Kopf dasitzen", schlägt er lächelnd vor und ich bin mir sofort sicher, dass ich das nicht machen werde. Im Grunde ist es nicht mal mein Problem, ob es alle verstehen oder nicht, so lange es faktentechnisch korrekt ist.

„Dafür müsstest du mir schon Abel herholen. Du bist kein Maßstab", merke ich an. Ich gebe es nicht gern zu, aber Kain hat Einiges drauf.

„Dann besorge ich dir eine Horde Meerschweinchen, das ist weniger aussichtslos.... und auch wesentlich lustiger.", scherzt Kain erheitert und entlockt auch mir ein Lachen. Ich sehe jetzt schon, dass ich mir morgen die anderen Studenten als quiekende Peru-Snacks vorstelle. Mitnichten eine Verbesserung. Meerschweinchen gehöre nicht unbedingt zu meinen Lieblingshaustieren. Lena hatte zu ihrem siebten Geburtstag eines geschenkt bekommen und seither bin ich geschädigt. Das Tier verkroch sich andauernd in meinem Bett, fiepte mörderisch, wenn ich mich zum Schlafen hinlegte, während ich versuchte, nicht an einem Herzinfarkt zu krepieren. Wir entwickelten eine gegenseitige Antipathie füreinander, an der ich so gar keine Schuld trug. Jedenfalls, wenn man mich fragt. Lena hingegen war felsenfest der Überzeugung, dass dem Tier gesagt habe, dass apathisch in der Ecke hocken und urinieren soll, wenn sie es auf der Arm nahm. Es war auf keinesfalls der Tatsache geschuldet, dass Lena das peruanische Nervenfutter an der Leine führte. Es war auch nicht, wegen der andauernden Knuddel-und Drückattacken traumatisiert und schon gar nicht von dem rosafarbene Tutu, welches Mama für das Vieh nähte. Nein, ich war es. Ich, der das Tierchen mit meinem pelztiervernichtenden Blicken weichgekochte. Zitiert nach Lena. Es ist schon witzig, wenn einen ein achtjähriges Mädchen sowas an den Kopf wirft. Rudi wurde, trotz der, durch bewegungsmangelverursachten Verfettung, acht Jahre alt. Unser beider Glück war es, dass ich irgendwann ausgezogen bin, sonst würde er mich vermutlich bis an mein Lebensende heimsuchen.
 

Kain scheint für den Moment befriedigt, denn er liest intensiv in meinen Vortragsnotizen. Dass er hin und wieder die Stirn runzelt und sich auf der inneren Wange rumbeißt, ignoriere ich. Als ich versehentlich beobachte, wie er sich geistesabwesend die dunklen Haare zurückstreicht, kann ich nicht mehr wegsehen. Ich verfluche das intensive Kribbeln in meiner Lendengegend, weil ich mir vorstelle, wie er es bei mir macht, wie dabei die Berührung die Helix meines Ohres stimuliert, wie es kitzelt und meinen Puls beschleunigt. Kain dreht den Laptop wieder zu mir und meine Starre löst sich. Ich wende meinen Blick von ihm ab, bin mir aber sicher, dass er es bemerkt hat.

„Nachvollziehbar aufgebaut, faktenintensiv, aber verständlich. Wenn du noch ein paar Bilder dazu nimmst und es damit auflockerst, brauchst du dir keine Sorgen machen. Kriegst du schon hin..." Die ehrlich gemeinte Aufmunterung prallt an mir ab, wie Wasser auf einem Lotusblatt. Ich lehne mich im Stuhl zurück und mustere den anderen Mann skeptisch. Mein Arm bettet ich über meinem flachen Bauch und provoziere ein lautes Rumoren.

„Lass uns heute Abend zusammen essen, ja? Ich lad dich ein. Vielleicht nimmt dir das etwas Anspannung", schlägt Kain resolut vor. Und wieder Resozialisierungsversuchs für den armen Einsiedler. Wenn Kain jetzt genauso anfängt, wie Jeff, dann gibt es menschliche Piñata und ich bin der Einzige mit einem Stock.

„Keine Ahnung, wann ich hier fertig werde...", beginne ich ausweichend, wohlwissend, dass im Grunde alles vorbereitet ist und ich jetzt nichts mehr verbessern, sondern allemal nur verschlimmbessern kann. Abgesehen von der Rettung meiner noch immer in Seenot schwebenden Selbstsicherheit, habe ich nichts mehr zu tun. Immerhin winkt sie mir freudig aus weiter Entfernung entgegen und ist noch nicht vollends gen Norden verschwunden.

„Die Bibliothek schließt um 21 Uhr, dann kehren sie dich gnadenlos hier raus. Bis dahin hast du sicher auch Hunger.", erwidert er lediglich und richtet sich auf.

„Ich habe wirklich keinen Nerv für so was.", setze ich nach, mime bitteren ernst und weiß dennoch, dass es vergebliche Mühe ist. Denke ich jedenfalls, denn Kain seufzt und sieht einen Moment lang wegen meine Reaktion wirklich unglücklich und unzufrieden aus. Ja, zerschelle an mir wie ein Kutter am Wellenbrecher, lacht es in meinem Kopf.

Ich konzentriere mich wieder auf meine Präsentation, merke, aber sehr wohl, dass Kain noch neben mir steht. Aus dem Augenwinkel heraus, erkenne ich, wie sich seine große Gestalt plötzlich zu mir runterbeugt und damit Schatten wirft. Seine Hand greift über meine Schulter nach der Lehne des Stuhls und ich spüre die Innenseite seines Unterarms an meinem Kiefer, während er mich ruckartig nach hinten neigt. Mein Puls beschleunigt sich mit jedem Winkel kleinster Neigung exponentiell. Die feinen Härchen in meinem Nacken richten sich auf. Das Kitzeln, welches dabei entsteht, lässt meinen gesamten Körper pulsieren. Doch ist es ist nicht nur der Schreck, sondern auch die plötzliche Nähe, die meinen Körper in Aufruhre versetzt. Die leichte Berührung. Die Wärme. der Nebel in meinem Kopf wird sofort dichter.

„Eiskalt, wie eh und je. Meinst du nicht, dass etwas Ablenkung sinnvoll wäre?", raunt er mir entgegen und wandert mit den Augen mein Gesicht ab. Kain kommt noch etwas näher als ich mich nicht rühre. Das feine Kitzeln auf meine Zungenspitze, ausgelöst durch die Erinnerung von Zitrone und Ingwer, lenkt mich so sehr ab, dass ich mich kaum konzentrieren kann. Prickelnde Schärfe, sie explodiert und brennt in meinem Mund mit einem ersehnten Feuer. Das erdachte Aroma weht mir entgegen, auch wenn der Bonbon in seinem Mund längst aufgebraucht ist. Bestimmt bilde ich es mir nur ein. Nun ist Kain der Fels und ich das Schiff, das an ihm zerschellt. Großartig. Schwimmwesten fehlen auch. Gluck Gluck.

Einer seiner Finger streicht über meinen Nacken, streichelt dort über den Ansatz meines Haares. Ich erzittere durch die sanfte Berührung, weiche automatisch etwas zurück.

„Überleg es dir..." Damit verschwindet er endgültig und lässt mich im Meer treibend zurück. Petri heil und Ahoi. Als er weg ist, kippt mein Kopf von ganz allein auf die Tastatur des Laptops. Ein Albtraum im Albtraum im Albtraum. Während ich wach bin. Kann es noch schlimmer werden?

„So, so. Du und Mister Biomasse...?" Es kann noch schlimmer werden. Der Spitzname, den wir Kain während eines Projektes gegeben haben, lässt mich auch heute noch schmunzeln. Wenn heute auch bitter. Ich richte mich auf und sehe zu Marie, die hinter einem der Regale aufgetaucht ist. Sie neigt ihren Kopf in den Gang, in den eben der Schwarzhaarige verschwunden ist.

„Was?" Ich ziehe das ohnehin schon verräterische Fragenwort verdächtig in die Länge. Aber zum Glück so theatralisch, dass nichts auffällig Glaubwürdiges übrigbleibt. Mein Puls beschleunigt sich trotzdem bei der Vorstellung, dass sie irgendwas in diese Situation hineininterpretieren könnte. Für Außenstehende muss es fürwahr komisch ausgesehen haben. Marie beginnt zu kichern und legt die Bücher in ihrem Arm auf meinem Tisch ab. Ich mustere erst aufmerksam die Biowälzer und danach skeptisch die unauffällige Biologin mit den verwuschelten, kurzen Haaren. Ihre Brille sitzt schief. Sie tippt sich dagegen, aber es wird nicht besser.

„Du hast ein Faible für Diskussionen, oder?", bemerkt sie und es ist im Grunde keine richtige Frage, sondern mehr eine Tatsache. Dazu muss man sagen, dass Kain einer der wenigen Menschen ist, die gutes, konstruktives Kontra geben können.

„Ich brauche sie, wie die Luft zum Atmen.", gebe ich zurück. Marie hat mich und Kain schon des Öfteren streiten sehen. Sie hat mich auch mit der Rothaarigen streiten sehen und so ziemlich mit jedem anderen aus unseren Projektgruppen. Wahrscheinlich erkennt sie langsam das Muster.

„Masochistisch veranlagt?"

„Je härter desto besser!"

„Du hältst doch eher die Peitsche, oder?" Noch während sie das sagt, färben sich ihre Wangen puterrot, was unglaublich amüsant ist. Was Worte allein in manchen Menschen anrichten können, ist immer wieder wunderbar.

„Bitte? Ich bin die Devotion in Reinform", kommentiere ich. Nun beginnt Marie zu lachen. Das war selbst ihr zu viel des Guten.

„Und was genau hast du mit ihm zu schaffen? Außer natürlich dein Bedürfnis nach verbalen Konfrontationen zu stillen." Kain bringt mich so gut wie immer direkt auf die Palme. Nicht mehr und nicht weniger. In meinem Kopf entsteht ein hallendes Lachen, welches mir selbst in den Hintern beißt. Er stillt seit neusten auch ganz andere Dinge, die ich lieber nicht laut ausspreche.

„Unsere Mitbewohner übernachten zurzeit lieber beieinander und wir führen, sozusagen, eine Zwangsvermitbewohnerung auf Teilzeit." Marie lauscht meinen Erklärungsversuchen, schaut einen Moment lang verwundert und scheint es doch zu verstehen.

„Die Liebe und ihre oftmals verrückten Pfade...", säuselt sie summend. Ihr Blick wird einen Moment abwesend. Darauf folgt ein seltsames Lächeln. Ich denke darüber nach, was genau sie damit meint, doch ich frage nicht nach, sondern sehe sie nur an. „Na gut, so lange du dich nicht auf die dunkle Seite der Biotechnologie wechselst...", fährt sie fort, klingt strikter und greift nach ihren Büchern.

„Niemals", versichere ich ihr ohne zu zögern und ein spontanes Kichern perlt von ihren Lippen, was ungewöhnlich mädchenhaft rüberkommt. Marie ist nicht gerade das klassische, hippe Girlie.

„Gut zu wissen. Wir sehen uns." Sie hebt ihre Hand zum Gruß und lässt dabei fast die Bücher fallen. Erneut kichernd verschwindet sie in den weitverzweigten Gängen der Bibliothek. Ich sehe ihr einen Moment länger nach, seufze und drehe mich wieder zu meinem Laptop.
 

Ich starre missmutig auf den Bildschirm, fahre einige der notierten Zeilen ab und stutze. Eine der Zeilen bestehend aus einer Unmenge Hs und Js und ich habe keine Ahnung, wie das passiert ist. Vermutlich bei dem Hickhack mit Kain. Ich lösche sie genervt per Hand bis mir irgendwann einfällt, dass ich sie auch hätte markieren können. Mein Gehirn läuft bereits jetzt nur noch auf Sparflamme und es geht jede weitere Minute mehr und mehr bergab. Vielleicht hätte ich Kains Einladung doch annehmen sollen. Zerstreuung hätte mir gut getan. Wobei mehr Zeit mit Kain höchstwahrscheinlich auch zum Gegenteil führen könnte. Ich kann mich gut selbst ablenken.

Ich starte mit meinen Emails. Spam. Newsletter. Jeff. Lena. Weitere Namen, die ich nur noch inbrünstiger ignorieren will. Ich suche in der Fülle von nutzlosem Kram nach Brigittas Mails. Als ich sie finde, lasse ich die vorbereiteten Beispiele des Romancovers auf meinem Bildschirm erscheinen und spüre, wie sich ein spontaner Zahnschmerze in meinem gesamten Kiefer ausbreitet. Er ist pochend. Stechend. Das abgebildete Pärchen trieft förmlich vor Klischees und der Blick, den das Mädchen in seinem Gesicht trägt, verursacht mir temporäre Diabetes. Ihre Augen sind erfüllt mit schmerzvollen Verlangen und leidvollen Qualen aus tiefgreifenden Schmachtverhalten. Das Cover wirkt schrecklich romantisch. Es ist übertrieben und überlastet, wenn man mich fragt. Ich öffne die zweite Mail, in der mir Brigitta bereits androht, dass sie das kitschige Bild benutzen wird, wenn ich nicht ans Telefon gehe. Der Gedanke daran, dass ich tatsächlich mal einen Grund haben könnte, nicht ans Telefon zu gehen, kommt ihr gar nicht. In der dritten Mail befindet sich lediglich eine Ansammlung von zahnfleischblutenverursachenden Icons und hämischen Ausdrücken. Ich weiß nicht einmal, wo sie die ganzen Abbildungen herholt. Ich bin bereits mit der Bedeutung der Smileys in der Nachrichten-App überfordert.

Wie auf Bestellung setzt sich mein Handy in Gang. Es ist eine Nachricht von Shari, die mir mitteilt, was das letzte Thema ihres Kurses war. Sie bedankt sich schon im Vorfeld für die Arbeit, die ich mir mache und verursacht mir mit ihrem zuckersüßen Verhalten einen weiteren Schauer der Verzweiflung. Auch sie benutzt eine Fülle an Emojis. Diesmal einen beschämten und lächelnden und diese verstehe ich auch. Trotz jeglichen Widerstrebens lässt es mich schmunzeln. Ich scrolle zurück zum angegebenen Thema und öffne ein neues Dokument in meinem Laptop. Halogenalkane. Sie sind ein Teil der organischen Chemie und im Grunde nur eine Wiederholung. Ich denke an den Chemieunterricht der 9. Klasse zurück. Ich habe ihn gehasst oder eher unseren Lehrer. Er war so schrecklich optimistisch und wollte wirklich jeden für Chemie begeistern. Ständig haben wir seltsame Experimente gemacht oder unnütze Dinge hergestellt. Mein Blick fällt noch einmal zurück auf das Cover meines neuen Romans und dann zurück auf das leere Dokument. Nichts. Es ist als hätte ich eine gigantische leere Blase in meinem Kopf. Ich schaffe es nicht mehr mich zu konzentrieren und schalte alles ab.
 

Auf dem Weg ins Wohnheim rauche ich zwei Zigaretten, ertappe mich dabei, wie ich das Handy hervorziehe und durch die Liste meiner Kontakte scrolle. Mein Daumen schwebt über Kains Namen. Ich halte den Glimmstängel freihändig zwischen meinen Lippen und blase gleichzeitig den Rauch aus. Mein Magen knurrt und ich öffne den Chat. Ich ziehe neuen Rauch ein und atme ihn gegen das Display wieder aus. Es kann nicht mein Ernst sein. Letztendlich ist es das erneute Knurren meines Magens, das dafür sorgt, dass ich mich zurückbesinne und das Handy in der Tasche verschwinden lassen. Nein, das ist eine dumme Idee. Sehr dumm. Problematisch dumm. Sowas kann ich nicht gebrauchen.

Im Foyer des Wohnheims ziehe ich mir aus einem der Lebensmittelautomaten ein Päckchen mit drei Scheiben Vollkornbrot. Die Dinger sind ein Testlauf von der Fraktion für gesunde Ernährung. Neben den von mir beglückwünschten Eisautomaten sind im letzten Jahr auch diese „Automaten für nachhaltige Ernährung und Healthy Living" aufgestellt worden. Ich nenne sie Ökomaten. Sie beinhalten verschiedene Brotsorten, Aufstriche, Nüsse und getrocknete Früchte. Einmal am Tag wird er auch mit frischem Obst und Gemüse gefüllt. Doch davon ist um diese Uhrzeit nichts mehr übrig. Erstaunlicher Weise kommt das wirklich gut an. Im Grunde mag jeder Obst und Gemüse, so lange man es bereits geschnitten und in handliche Portionen vorbereitet. Ein Apfel ist nicht dasselbe, wie der geschnittene Apfel von Mama. Der Mensch ist faul und der Student sowieso.

Ich trabe mit meiner Beute nach oben und durchforste unseren kleinen Kühlschrank nach etwas, was ich auf das Brot schmieren kann, mit nur unbefriedigenden Ergebnis. Die Mehrheit des Inhalts gehört zu Jeff. Also besteht er aus Frischkäse und irgendeinem seltsam klingende Aufstrich aus dem Ökomaten mit Shiitake und Pfifferlinge. Ohne mich. Ich sehe auch das obligatorische Glas Käsedip, auf dem eine halbe Tafel Schokolade liegt. Ohne Worte.
 

Letztendlich vertilge ich die Scheiben Brot mit etwas Frischkäse, während ich ein letztes Mal meinen Vortrag durchgehe. Einige Passage kann ich mittlerweile auswendig. Ich fühle mich aber nicht besser. Missmutig schalte ich alles aus, werfe meine Klamotten ab und falle bei dem Versuch mir die Socken im Stehen auszuziehen einfach um. Ich lande härter als gedacht und habe es wohl verdient.

Die dumpfen Vibrationen meines Handys lassen mich aufhorchen und innehalten. Ich krame in den aufs Bett geworfenen Klamotten danach und es blinkt mir munter entgegen, als ich es aus der Tasche meiner Jeans ziehe.

-Nicht mal ein Essen? Du bist knallhart.- Kain. Hat er wirklich darauf gewartet, dass ich mich melde? Unwahrscheinlich. Nur in Shorts lasse ich mich aufs Bett fallen.

-Essen wird überbewertet-, tippe ich als Antwort und krame meine Schlafklamotten unter dem Kissen hervor. Ich schnuppere daran und sehe direkt danach, wie Kains Antwort aufleuchtet. Er tippt wirklich schnell.

-Wenn du meinst. Wenigstens das Nümmerchen?- Dreist. Schamlos. Unfassbar. Ich lasse die Kleidung auf meinem Schoss liegen und streiche mir die Haare zurück. Spielen wir jetzt wieder Schiffe versenken? Bitte. Meine Ansage war wohl doch nicht deutlich genug.

-Du nervst-, tippe ich empfundener Weise und rutsche weiter nach hinten gegen die Wand. Mein Kopf neige ich zurück.

-Ich dachte, ihr Biochemiker steht auf die Ausschüttung von Endorphinen- Endorphine produziert der Körper auch beim Verhungern aus. Ich bin hin und hergerissen. Den Kommentar spare ich mir. Die Erwähnung des körpereigenen Opioidpeptid lässt mich dennoch schmunzeln.

-Dein plumper Versuch führt bei mir nur zur Ausschüttung von Melatonin-

-Autsch- Treffer. Ich reiße meine imaginären Pompons in die Höhe. Vielleicht gibt er endlich Ruhe. Ich lasse das Telefon auf meinem Schoß liegen und streife mir endlich das Shirt über. Mein Unterleib bibbert, als eine weitere Nachricht eintrifft.

-Wovor hast du eigentlich Angst?- Treffer. Versenkt. Missmutig lege ich das Telefon zur Seite und schubse es nach kurzem Zögern unter die Bettdecke, sodass ich es nicht mehr sehe.

Von wegen Angst. Ich habe vor gar nichts Angst. Warum versteht niemand, dass ich diese Almosen und belanglosen Nettigkeiten nicht brauche. Weder von Jeff und schon gar nicht von Kain. Oder sonst wem. Ich will einfach nur meine Ruhe.

Ich kippe seitlich aufs Bett und starre zu Jeffs Ficus. Ben erzittert, so als würde er spüren, dass ich ihn fokussiere. Angst. Ich greife nach meinen Kopfhörern und schalte die Musik an. Es ertönen die ersten Takte von 'Cabaret' interpretiert von Me first and the Gimme Gimmes. 'What good is sitting alone in your room? Come hear the music play. Life is a Cabaret, old chum. Come to the Cabaret '. Ich schalte den Player seufzend wieder aus und mit der selbst herbeigeführten Stille werden meine Gedanken nur wieder lauter. Mein Gedankenkarussell dreht sich und wieder ist jeder schuld, nur ich selbst nicht.

Wenn Jeff seine Libido im Griff hätte, wäre das alles nie passiert. Wer feiert auch sein Halbjähriges? Kain hat vollkommen Recht. Was kommt als nächstes? Der Tag des ersten Zungentangos? Des ersten Ficks? Lachhaft. Unbedeutend. Ich erinnere mich nicht einmal an mein erstes Mal. Während ich so da liege und in die Stille starre, werden plötzliche die Geräusche um mich herum deutlicher. Ich höre das leise Gurren einer Taube, die draußen auf einer Laterne sitzt. Das Aufheulen eines Motorrads. Aber auch ein leises Kichern. Es folgt ein intensives Keuchen und ich richte mich auf. Diese Geräusche kommen aus dem Nachbarzimmer und unwillkürlich lehne meinen Kopf etwas zur Wand. Die Laute werden deutlicher. Ein Stöhnen und ein leichtes Quietschen. Wollen die mich verarschen? Aus diesem Zimmer habe ich noch nie etwaige Töne kommen hören. Aber natürlich heute.

Das helle Stöhnen der Zimmerbewohnerin geht wortwörtlich durch Wände als sie scheinbar richtig loslegen. Auch das zunehmende rhythmische Schlagen des Bettes gegen die dünne Wand macht es nicht besser. Ich drehe mich auf den Bauch und lege mir das Kissen über den Kopf, so dass meine Ohren bedeckt sind. Nun habe ich das Gefühl die Vibrationen des rumsenden Bettes zu spüren, die sich von der Wand auf meins übertragen. Herrje. Ich denke an den Schwarzhaarigen und an die Tatsache, dass wir wahrscheinlich auch zu höre gewesen sind. Obwohl es beschämen sollte, passiert das Gegenteil. Der Gedanke ist kribbelnd und aufregend und mein Körper schreit nur noch mehr nach dieser berauschenden Befriedigung. Dieser miese Verräter.

Was wurde wohl passieren, wenn ich ihm jetzt schreibe? Würde Kain antworten? Will ich es wirklich? Ich rolle mich auf die Seite und richte meinen Blick auf Jeffs leeres Bett. Würde er überhaupt kommen? Immerhin habe ich ihn nun schon mehrfach abgewiesen. Wahrscheinlich würde er mich absichtlich warten lassen. Nur im mir zu zeigen, dass er es kann. Vielleicht würde er darauf hoffen, dass die vergehenden Minuten zwischen Warten und Gewissheit meinen Körper in Flammen setzen. Unwillkürlich stelle ich mir das erwartungsfrohe Prickeln vor, welches mich zu gleich belebt und ebenso geißelt. Die Aufregung, die mich packt und wolllustige Wellen durch meine Glieder schickt. Mein Puls wurde sich beschleunigen und mit jeder Sekunde, die ich auf seine Ankunft warte zu glühender Lava werden, die meinen Leib verzerrt. Er wüsste genau, dass mich allein dieses kalkulierte Verlangen dazu trieb, seine Nummer zu wählen und. Mein Körper reagiert allein bei den Gedanken an den möglichen Ablauf. Würde er ohne zu fragen die Tür aufreißen und in wilder Manier meinen Körper packen? Oder wäre es ein leises Klopfen, welches augenblicklich durch die Lautstärke meines ebenso pulsierenden Herzens übertönt wird? Es wäre das rasende Blut, welches meine Körperglieder belebt und das ungewisse Treiben, das mich dazu zwingt die Tür aufzureißen.

Was denke ich hier eigentlich? Wo bleibt der Kaventsmann, wenn man ihn braucht? Ich spüre als Antwort den feinen, verräterischen Zug in meiner Lendengegend und ein Keuchen perlt über meine Lippen. Ich drehe mich murrend zurück auf den Bauch und drücke meine wachsende Erregung in die Matratze. Keine gute Idee. Meine Erregung pocht und die leichte Reibung verhilft mir nicht zur Linderung. Jetzt selbst an mich Hand anzulegen, würde bedeuten, Kain Recht zu geben und die Blöße gebe ich mir nicht. Ich bleibe stark. Ich bleibe hart. In vielerlei Sinn.
 

Die Geräusche im Nebenzimmer enden nicht. Hätte ich bloß nachgegeben. Ich wälze mich eine Weile hin und her, schlafe unruhig und bin am Morgen vor dem Weckerklingeln wach. Was für ein Albtraum. Ich drehe mich mit dem Gesicht zur Wand und schließe die Augen um der Helligkeit zu entkommen, die sich gnadenlos im Zimmer ausbreitet. Erneut ertönt dieses feine, aber tiefgehende Quietschen. Ich höre schon Gespenster. Casper, der unartige Geist. Ich seufze schwer, als sich wiederholt Stöhnen und Keuchen dazu gesellt. Ernsthaft?

Ruckartig setze ich mich auf, schwinge die Beine aus dem Bett und fliehe nach dem Anziehen vor der lautmalerischen Geräuschkulisse. Ohne Jacke und damit ohne Zigaretten und Portmonee lasse ich mich in eine der hinteren Ränge des Hörsaales nieder. Ich werde unruhig, dabei hat die Vorlesung noch nicht mal begonnen. Als Professor Cole am Pult erscheint, merke ich wie sich meine Finger unentwegt gegeneinander bewegen. Zunächst beginnen wir mit einer Wiederholung für die anstehende Klausur. Die Referate folgen im zweiten Teil. Ich versuche mich auf das Wichtige zu konzentrieren, aber es gelingt mir nicht. Die Klausur macht nur einen kleinen Teil der Note aus. Den Rest entscheidet die mündliche Ausarbeitung. Yeah. In meinen Kopf feiert der Sarkasmus einen Undergroundrave.

Aus meiner Tasche ertönen rhythmische Vibrationen und entgegen meiner Angewohnheit in der Vorlesung auf mein Handy zu schauen, mache ich es diesmal. Das Display zeigt mir zwei neue Nachrichten. Jeff. Er fragt nach einem Treffen. Ich tippe ihm eine Bestätigung und wechsele zur zweiten Mitteilung. Sie ist von Kain.

-Vergiss nicht zwischendurch kleine Pausen zum Luft holen zu machen- Kain, der Scherzkeks. Ich lache später. Ein Raunen geht durch den Saal.

-Würdige deinen grandiosen Einfallsreichtum spä...- Trotz der Unvollständigkeit drücke ich auf senden als mit einem Mal mein Name gerufen wird. Hu?

„Herr Quinn...", ertönt es wiederholt. Diesmal eindringlich. Ich blicke auf und lege das Telefon hastig zur Seite. Der Professor deutet nach vorn zum Pult. „Wir warten..." Ich atme tief ein, bettele stillschweigend um ein schnelles, schmerzloses Ende. Meine Gebete werden nicht erhört und die nächste halbe Stunde wird zu einer der längsten meines bisherigen Lebens.
 

„Der Regen draußen ist zum Davonlaufen... Es ist nass und windig... und Bäh.", quasselt jeff auf einmal los als er plötzlich neben mir auftaucht, "Ich habe so gehofft, dass es endlich wärmer wird. Sicher bleibt es die nächsten Tage so." Er tropft und schimpft unbeirrt weiter, auch wenn ich kein Wort dazusage. In Gedanken beglückwünsche ich meinen Mitbewohner zu der auffällig zutreffenden Wetterprognose und sehe dabei zu, wie er sich die feuchten Klamotten vom Körper streift. Selbst auf seinem Pullover sind ein paar nasse Stellen zu erkennen und ich habe nicht mal meine Jacke dabei. Herrlich. Jeff quatscht weiter, wie ein Wasserfall, während ich schweigend von meinem Tomaten-Mozzarella-Sandwich abbeiße, welches ich mir nach dem misslungenen Vortrag geholt habe. Es ist das Einzige, was ich mit der Ansammlung von Münzgeld aus meinen Hosentaschen bezahlen konnte. Ich streiche mir Pesto aus dem Mundwinkel, während mein Mitbewohner bei den Erzählungen über seinen fantastisch, romantischen Abend angelangt ist. Ich versuche ihn zu ignorieren oder wenigstens sein Geplapper auszublenden. Immerhin scheint es für diese Konversation unnötig, dass ich mich aktiv daran beteilige. Jeff stört sich nicht daran, dass ich nicht antworte oder irgendwie reagiere. So mag ich das. Ist Fluch und Segen zu gleich. Ich beiße unbeirrt von meinem Sandwich ab und kaue träge und langsam. Jeff legt mir seinen Arm um die Schulter und drückt seine Wange gegen mein Ohr. Er ist kalt. Und nass. Ich kaue weiter und bin mir sicher, dass Jeff es merkt.

„Wir haben gestern Nacht eine halbe Packung Kondome gekillt.", flötet er und grinst, als hätte er ein Wunder vollbracht.

„Eine 6er oder eine 12er?", frage ich lediglich und ernte erst nach kurzer Überlegung eine beleidigte Reaktion. Er drückt mir mit der Hand das dümmlich grinsende Gesicht weg.

„Eine zwanziger Packung, du Blödmann. Als würdest du in einer Nacht sechs Kondome plattkriegen!", motzt er gespielt und bricht dann in einen kurzen Lachanfall aus. Wenn er wüsste.

„Klar, zu Geburtstagen. Sie machen sich gut als Luftballons. Besonders die mit Erdbeer- und Bananengeschmack.", berichte ich. Erneut drückt er mein Gesicht weg, schmiert sich diesmal grünes Pesto an die Hand und leckt es nach einem kurzen Blick einfach davon.

„Pff, aber nur die in Größe Extra Large", spottet Jeff weiter. Er bückt sich nach seinem Rucksack und kramt seine Trinkflasche hervor. Ich lehne mich wieder an die Wand und beobachte ihn dabei. Neben Blöcken und Mappen sind noch immer ein paar Klamotten in seinem Rucksack. Wahrscheinlich hat er es heute Morgen nicht ins Wohnheim geschafft. Neben den zerknautschen Kleidungsstücken liegt die angesprochene Packung Kondome. Marke Black Velvet. Interessant. Es sind ziemlich teure Dinger.

„Wozu benutzt ihr eigentlich noch Kondome? Nach einem halben Jahr Beziehung finde ich das echt kostspielig", sage ich und sehe weiterhin in seinen Rucksack. Eine Dose Sprühsahne lugt aus einer Ecke hervor und unwillkürlich beginnt das Kopfkino. Weil ich auch nie weiß, wann ich aufhören muss.

„Mag sein, aber ich mag die Sauerei danach immer nicht." Der Film läuft weiter. Hilfe. Ich sehe auf mein Sandwich, als mir bewusst wird, wie unpassend diese Thematik beim Essen ist. Vor allem dann, wenn man sich unweigerlich alles vorstellt.

„Sauereien? Ich bin ganz Ohr!", kommt es von der anderen Seite und ich reiße mich von Jeffs Rucksack los. Kain kommt auf uns zu und bleibt lächelnd neben Jeff stehen. Seine warme, leicht brummende Stimme verursacht mir Gänsehaut.

„Keine, die du interessant finden würdest...", kommentiert der Blonde und ich sehe dabei zu, wie die Augenbraue des Schwarzhaarigen nach oben wandern.

„Okay, mehr muss ich nicht wissen." Kains Mundwinkel zucken nach oben, ebenso, wie seine linke Augenbraue. Heuchler.

„Oh, und danke für den Tipp mit dem Dach. Wir durften gestern Abend einen herrlichen roten Sonnenuntergang erleben." Jeff schlägt Kain sachte mit dem Handrücken gegen die muskulöse Brust und strahlt dabei, wie ein Honigkuchenpferd.

„Schön, wenn man sich so sehr an Luftverschmutzung erfreuen kann...", kommentiere ich trocken, beiße ein Stück vom Brötchen ab und lecke mir etwas der grünen Paste von der Lippe. Ich sehe erst auf, als es um mich herum seltsam still bleibt. Beide Augenpaare blicken mir verständnislos entgegen.

„Du, als quarzende, rote Umweltplakette solltest den Mund halten", maßregelt mich mein Mitbewohner, bedenkt mich danach noch mit einem Du-bist-und bleibst-ein-Banause-Blick, der aber herzlich wenig bei mir anrichtet. Ich verdrehe nur die Augen und verspüre augenblicklich das Bedürfnis, mir eine dieser Lungenteerer anzustecken.

„Ein tolle Aussicht, leckere Drinks und der perfekte Platz um in Stimmung zu kommen, oder?", kommentiert er und schwelgt lächelnd in irgendwelchen Erinnerungen, die höchstwahrscheinlich dem der rothaarigen Bestie zu tun haben.

„Klar, weil du ja weißt, wie man Stimmung macht...", entfährt es mir unüberlegt. Mir vergeht der Appetit und ich lasse das Brötchen zurück in die Tüte fallen. Man bin ich empfindlich. Ich widere mich gerade selbst an. Das Melatonin lässt grüßen. Gütiger Schiffbruch, ich klinge langsam wie aus einem dieser Schundromane und ich bin der missgelaunte Konterpart des Helden. Jeff sieht mir verblüfft und ebenso verwundert entgegen und Kain leicht zerknirscht.

„Und wie fandet ihr das Hotel? Es hat ein ziemlich gutes Preis-Leistungsverhältnis, oder?", fragt Kain nach und entscheiden sich dafür meinen Kommentar nicht zu beachten. Hotel? Sie haben mehr Aufwand betrieben als ich dachte und das alles nur wegen des Halbjährigen. Lächerlich. Jeff hingegen strahlt weiter, so dass ich das Gefühl bekommen, er könnte radioaktiv sein. Mit solchen übertriebenen Schnickschnack konnte man meinen Kindheitsfreund schon immer begeistern und scheinbar Kain auch. Mir wird klar, dass das gestrige Unverständnis über die übertriebenen Rührseligkeiten der beiden blonden Männer nur Theater war. Was für ein Heuchler.

„Absolut, aber vom Frühstück haben wir nichts mitbekommen", gesteht Jeff freimütig und mit einem vielsagenden Zwinkern. Der Film in meinem Kopf läuft augenblicklich weiter und nimmt mehr und mehr Facetten an. Bitte erschießt mich endlich. Ich bin bereit. Bevor Jeff seine Lobeshymne über Kains Kreativität fortsetzen kann, klingelt sein Handy und er wendet sich entschuldigend ab um ranzugehen. Der andere Mann wendet sich mir zu.
 

„Geht ihr trotzdem noch Mittagessen?", fragt Kain und mustert die Reste meines To-Go-Festmahls. Ich werfe einen Blick zu dem Blonden und zucke mit den Schultern. Ich habe kein Geld mehr um richtig Mittagessen zu gehen, bin zu faul um bei dem Wetter ins Wohnheim zu rennen und werde garantiert nicht nach Almosen betteln.

"Ich bin versorgt, also frag ihn..." Mit einem knappen Nicken deute ich in Jeffs Richtung und wechsele von einem Fuß zum anderen. Der Schwarzhaarige lehnt sich zu mir an die Wand und stößt meine Schulter mit dem Oberarm an. Danach beugt er sich leger zu mir.

„Okay. Dann lass mal hören... Leg los!"

„Wie bitte?", erwidere ich irritiert auf Kains kryptische Äußerung. Loslegen, womit? Mein Blick spricht Bände, denn Kain grinst als ich aufsehe. Er genießt es mich derartig zu überrumpeln und ich hasse, dass er es immer wieder schafft.

„Ich will hören, wie du gedenkst meinen Einfallsreichtum zu würdigen...", entgegnet er als wäre es vollkommen klar, was er von mir erwartet. Seine Stimme ist dabei ein neckisches Raunen. Ich erstarre für einen kurzen Moment. Ich habe völlig vergessen, dass ich die begonnene Nachricht vorhin wirklich abgeschickt habe. Ablenkend lasse ich die Finger meiner linken Hand über den rauen Stoff meiner Hose reiben und wende mein Gesicht ab. Mein Herz nimmt an Fahrt auf und presst sich stetig schnellerwerdend gegen seinen Knochenkäfig. Kain mustert aufmerksam mein Profil und ich spüre förmlich, wie es jede meiner Regungen aufsaugt. Ich drehe ihm mein Gesicht zu und plane seinem Blick standzuhalten, doch ich kann es nicht. Meine Augen wandern sogleich tiefer, so dass sie auf den Übergang von Hals und Schulter schauen, auf den Ansatz seines Schlüsselbeins und ich erkenne, wie die Vene an seinem Hals pulsiert. Die glatte, leicht gebräunte Haut bebt unter dem stillen Rhythmus und die Erinnerung an das Gefühl, wie sie sich anfühlt, lässt mein Reaktionsvermögen vollständig eingehen. Ich starre, wie gebannt auf diese Stelle bis mich der Hauch von Ingwer trifft mich. Er vermischt sich mit der Nuance seines Parfüms und jagt einen feinen Schauer über meinen Nacken und über meine Brust. Ich habe es schon öfter an ihm gerochen, doch diesmal nehme ich es noch deutlicher wahr und sehe wieder auf. Direkt in intensives Braun.

„Heute Abend...", setzt Kain leise an und wird bevor er es ausführen kann von Jeff unterbrochen, der sich wortesprudelnd zu uns umdreht. Wir schauen ihn beide überrascht an und ich bin fast schon dankbar für die Störung. Es folgt auf Jeffs Seite ein kurzes Schweigen und als wir nichts erwidern, beendet mein Kindheitsfreund seine begonnene Tirade über Abels Verspätung. Allerdings mit weniger übersprudelnden Enthusiasmus und mit einem skeptischen Blick in unsere Richtung. Wieder klingt ein Handy und diesmal ist es nichts Jeffs. Kain zieht es aus der Hosentasche, wirft einen kurzen Blick aufs Display und seufzt.

„Ich muss nochmal los. Bis gleich!", sagt er und ist schnellen Schrittes verschwunden. Der Blonde und ich bleiben zurück.

„Was war das gerade?", fragt mein Mitbewohner nach einem Moment des Schweigens neugierig. Ich schließe die Augen und murre. Ich weiß, dass er nicht Kains plötzlichen Abgang meint und ebenso weiß ich, dass ich diesmal nicht mit einem Schulterzucken davonkomme.

„Kain nervt... wie immer.", antworte ich lediglich und finde, dass das muss als Erklärung reichen muss. Es ist zutreffend, dementsprechend sehe ich ihn unverwandt und ernst an. Jeff schluckt den Happen nur widerwillig.
 

Als Strafe beginnt er erneut von ihrem romantischen Abend zu erzählen. Er erklärt mir in einem Nebensatz, dass er auch heute seinem Bett fern bleibt und ich verspüre eine eigenartige Unzufriedenheit. Ich habe mich wohl doch mehr an Jeffs dauernde Anwesenheit gewöhnt, als gut für mich ist. Wir trennen uns erst als Abel endlich auftaucht und sie gemeinsam in die Mensa verschwinden. Ich bringe die letzten beiden Vorlesungen hinter mich und erwische einen relativ trockenen Augenblick um am Abend ins Wohnheim zurückzukehren. Micha drückt mir im Vorübergehen zwei Briefe in die Hand ohne sein Telefongespräch zu unterbrechen. Ich danke ihm gestisch, weil auch ich durch meine Kopfhörer akustisch eingeschränkt bin und nichts daran ändern will. Ich verfrachte die Briefe in meinen Rucksack und nutze den hinteren Treppenaufgang um in den oberen Stock zu kommen.

„Hey!.... Robin..." Mein Name wird lauter hinterher gerufen als ich auf das unspezifische Hey nicht reagiere. Im Grunde höre ich es auch nur, weil gerade ein eher langsames Lied gespielt wird. 'Patience' von Take That. Kain steht mit verschränkten Armen im Türrahmen zur Teeküche und winkt mich mit einem Finger an sich heran als ich endlich reagiere. 'Just try, and have a little patience'. Der Song ist, wie eine musikalische Ermahnung an meine Selbstbeherrschung. Mir entflieht ein feines Seufzen, verursacht durch die gewohnte zur Schaustellung meines Widerwillens. Was kommt nun schon wieder? Seine Anwesenheit verursacht ein zwiespältiges Gefühl in mir. Mein Körper reagiert mit all diesen kleinen verräterischen Reaktionen. Schaudern. Kitzeln. Prickeln. Ich hasse ihn. Mein Verstand wehrt sich energisch. Die Kopfhörer nehme ich erst ab, als er mich gestisch daraufhin weist und das, auch erst nachdem er beim dritten Mal endlich das genervte Gesicht macht, was ich provozieren wollte. Der letzte Rest des Liedes ertönt. 'So while I'm still healing, Just try and have a little... Patience'.

Erst jetzt fällt mir auf, dass er etwas in den Händen hält. Es ist eine Flasche mit milchiggelber Flüssigkeit, die mich fragend eine Augenbraue heben lässt. Kain hebt die Flasche kurz an, schüttelt sie und lässt sie direkt wieder sinken. Das Glas trifft auf das Metall seiner Gürtelschnalle. Ich folge dem Geräusch mit den Augen. Das Batmanemblem. Bezeichnend. Ich stehe mehr auf die vielen kleinen Helfershelfer. Klischeehaft? Egal.

„Mein Papa hat gesagt, ich darf keine Getränke von fremden Männern annehmen", kommentiere ich anlässlich Jeffs mehrmaliger Hinweise für das sicherheitsbewusste Verhalten bei öffentlichen Veranstaltungen. Ich sehe mit Begeisterung, wie Kains Gesichtsausdruck entgleist und er klein wenig zusammenfällt. Er wird aber viel zu schnell wieder frech.

„Gut zu wissen, dass du ein braver Junge bist. Und gut für mich, dass das nichts zu trinken ist. Jedenfalls nicht im herkömmlichen Sinn." Meine Verwirrung nimmt keinen Abbruch. Hat mich gerade gegoodboyt? Wieder schüttelt er die Flasche und behält sie diesmal in Sichthöhe.

„Na, neugierig?"

„Verwirrt.", gestehe ich und nehme ihm die Flasche aus der Hand. Vorher dreht er das Etikett nach vorn und ich kann endlich lesen, was sich darin befindet. Vanillesoße. Kain tritt zur Seite und deutet in die kleine Teeküche. Einer der zwei Tische ist gedeckt. Drei Teller. Zwei leere und ein Abgedeckter. Zwei kleine Schüsseln mit roter und grüner Masse. Daneben eine riesige Plastikschüssel mit Nachos. Kain geht auf den Tisch zu und nimmt die Abdeckung vom dritten Teller. Es beginnt zu dampfen. Nun bin ich wirklich neugierig.

„Fischstäbchen mit Vanillesoße und Nachos?", erfrage ich, nachdem ich alles halbwegs analysiert habe. Ein Hoch auf Fusionsküche. Allerdings ist mir nicht ganz klar an welchen Länderküchen er sich genau bedient hat. Noch dazu lässt mich die Kombination eher an den von Jeff verursachten Fisch-Pudding-Eklat denken. Ich leide immer noch.

„Meine Variante von Fish and Chips mit Salsa und Guacamole.", erklärt er ruhig, "Und die Fischstäbchen waren das Einzige, was der Foodstore zu bieten hatte, ohne, dass ich uns an den Nachwirkungen einer Lebensmittelvergiftung krepieren sah. Die Soße ist für den Nachtisch." Kain stellt die Flasche auf dem Tisch ab und lässt sich auf einem Stuhl nieder ohne mich ein weiteres Mal aufzufordern ebenfalls Platz zunehmen. Ich resümiere. Mexican-britisch. Wenigstens hat er eines der wenigen britischen Gerichte heraus gepickt, die ich mag. Im Gegensatz zu Jeff bin ich nämlich kein großer Fan der englischen Kultur. Schon gar nicht vom Essen.

„Warum?", frage ich nach dem Grund für seine Bemühungen, da es für mich keinerlei Sinn macht. Was verspricht er sich davon?

„Ich hatte die Wahl zwischen Fischstäbchen und chemisch aussehendem Schnitzel und wie gesagt, ich hatte das wir beide ohne Lebensmittelvergiftung besser dran sind. Außerdem mag ich mexikanisches Essen. Fiesta!!", gibt er erklärend von sich und steckt sich ein Stück Fischstäbchenpanade in den Mund, das er vorher in die rote Chilisoße tunkt. Es fehlt nur noch der überdimensionale Sombrero.

„Nein, das meine ich nicht...Was soll das Ganze?" Kain stoppt zunächst das Kauen und schließt kurz die Augen als er versteht, was ich meinte.

„Okay. Also... richtig mit mir Essengehen willst du nicht, da dachte ich, ich probiere es so. Außerdem, für den Fall aller Fälle gibt es in diesem Haus genügend andere, die gern mit mir hier sitzen würden, sodass es nicht ganz so bescheuert aussieht, wenn du mich hängen lässt." Genügend andere? Das glaube ich ungesehen. Kain gehört zu der Sorte, die immer ein Hintertürchen offen haben. Es ernüchtert mich mehr als mir lieb ist. Er lehnt sich zurück, öffnet mit einer schnellen Bewegung seine Strickjacke und sieht mich unverwandt an. Er trägt schon wieder die Jacke mit dem diagonalen Reißverschluss. Ich mache keine Anstalten zu ihm zu gehen.

„Na komm, ein Essen mit mir wird dich nicht umbringen..." Wenn die herbeigesehnte Flutwelle endlich kommt würde, dann schon. Als ich noch immer zögere schleicht sich Enttäuschung in Kains Blick und ich reagiere unbewusst, in dem ich einen Schritt nach vorn mache. Verdammt.

„Wehe, du kippst die Vanillesoße über die Fischstäbchen", warne ich und sehe tatsächlich, wie sich Kain sichtbar entspannt.

„Das hat dich wirklich traumatisiert, oder?"

„Ich will nicht drüber reden...", kontere ich. Amüsiert grinsend greift Kain unter den Tisch und zieht zwei Flaschen Bier hervor. Er beginnt damit sich Essen auf den Teller zu schaufeln ohne länger darauf zu warten, dass ich meinen gigantischen Schatten überwinde. Kain lädt sich eine Handvoll Nachos auf den Teller. Daneben legt er zwei Fischstäbchen und verteilt großzügig die beiden Dips darauf. Die Restlichen reicht er mir. Ich seufze, ehe ich mich setze und den Stuhl dichter an den Tisch ziehe. Ich schubse drei Fischstäbchen auf meinen Teller und betrachte die Guacamole etwas genauer. Giftgrünen Essen stehe ich skeptisch gegenüber.

„Erzähl mir von deinem Vortrag?", startet Kain das Gespräch. Nun sind wir wieder beim Schiffe versenken und er landet prompt einen Treffer.

„Ich hab es überlebt..." Mehr muss er nicht wissen. So weit kommt es noch, dass ich ihm erzähle, dass ich entsetzlich baden gegangen bin.

„Dir ist klar, dass ich etwa die Hälfte der Leute aus deinem Studiengang kenne? Ich erfahre es sowieso..."

„Na dann kann ich mir die Mühe ja sparen", unterbreche ich ihn. Zweiter Treffer. Autsch. Kain seufzt. Ich greife missmutig nach der Bierflasche und taste in meiner Hose nach meinem Feuerzeug. Kains intensivem Blick weiche ich damit gekonnt aus. Kein Feuer zu finden. Ein weiteres Mal durchsuche ich meine scheinbar unergründlichen Taschen. Nichts. Das heilbringende Wunder der Gebrauchstechnik liegt nutzlos in meiner Jackentasche. Und diese in meinem Zimmer. Kain sieht mir dabei zu, wie ich entmutigt meinen Körper abklopfe und reicht mir seinen Schüsselbund, an dem sich ein Flaschenöffner befindet. Wahrlich studentenhaft. Ich werfe einen zweiten Blick auf den Bund. Neben einer Unmenge an Schlüsseln befindet sich auch ein Anhänger daran. Ein schwarzes Oval mit einer weißen Feder darin. Irgendein Teamsportlogo. Fußball? Vielleicht Football? Das würde eher zu ihm passen. Ich öffne das Bier und gebe ihm den Schlüsselbund zurück. Warum er so viele Schlüssel besitzt erfrage ich nicht. Ich nehme einen ersten Schluck des Getränks und weiß wieder genau, warum ich kein Fan vom Malzgebräu bin. Trotzdem trinke ich weiter. Es wird nicht besser. Ich stelle es zur Seite und wende mich einen Maischip zu, den ich probehalber in die grüne Paste tunke. Ich habe keine Vorstellung, wie Avocado schmecken muss. Doch das, was ich koste, gefällt mir ganz gut. Die Guacamole ist angenehm aromatisch, nussig mit leichter Säure, sowie feiner Schärfe. Ich mag das Kribbeln, welches sie auf meiner Zunge hinterlässt. Kain sieht mir dabei zu und knabbert nebenbei ebenfalls ein paar der Nachos. Er scheint in seinen eigenen Gedanken versunken und ich beginne die unaufgeregte Ruhe fast zu genießen.
 

„Lass uns einen Deal machen...", sagt Kain plötzlich, nimmt einen Schluck aus seiner eigenen Flasche Bier und stellt sie in die Mitte des Tisches. Ein Deal? Was kommt jetzt? Ich lehne mich abwartend zurück und lasse ihn fortfahren. „Du erzählst mir von deinem Vortrag und dafür bekommst du..." Kain zerrt sein Portmonee aus der Hosentasche. Anscheinend ist es neu und ziemlich leer. Er holt mehrere der Kartenattrappen hervor und zählt sie durch. „Wie passend... es sind genau sechs..." Er spricht es, wie den Beischlaf aus und grinst. „...Time-Out-Karten von mir." Kain zieht seinen Rucksack unter dem Tisch hervor und kramt einen schwarzen Edding heraus. Auf die Karten kritzelt er jeweils eine der Zahlen von 1 bis 6 und schiebt sie mir zu. Ich sehe auf den übermalten Mustermann und verstehe noch immer nicht genau.

„Es funktioniert, wie folgt. Ein Karte ist ein Time-out von mir. Du kannst sie jeder Zeit einsetzen und ich garantiere dir, dass ich dich in Ruhe lasse.", erklärt er mir überzeugt. Misstrauisch blicke ich ihm entgegen. Wo ist der Haken? Es gibt immer einen und meistens ist dieser untragbar. „Aber, dafür musst du mir eine persönliche Frage beantworte und du musst ehrlich sein." Wie erwartet. Untragbar.

„Dein Ernst?"

„Hör zu, ich gehe davon aus, dass die Beziehung zwischen Jeff und Abel noch eine Weile hält. Du nennst dich Jeffs Freund und ich bin ein schrecklich geselliger Typ. Wir werden also, ob du es willst oder nicht, weiterhin aufeinander treffen." Ich sehne mich schon wieder nach einer alles zerstörenden Flutwelle. Ob das noch gesund ist?

„Die Karten habe ich nach drei Tagen aufgebraucht", gebe ich zu bedenken. Ich greife nach der Schüssel mit Chips, schiebe mir ein paar der Dreiecke und etwas Salsas auf den Teller, die ich mit Guacamole strecke.

„Na dann, solltest du dir gut überlegen, wann es sich lohnt eine Karte auszuspielen."

„Und was bezweckst du damit?", frage ich bevor ich mir einen weiteren rot-grün gefärbten Nacho in den Mund stecke. Kain lehnt sich verdächtig nach vorn, verschränkt seine Finger ineinander und sieht mich erneut mit diesem intensiven Blick an. Er macht mich ganz kribbelig.

"Ich weiß, dass du der Typ bist, der Rückzugsmöglichkeiten braucht und die sollst du haben. Allerdings möchte ich auch, dass du mir etwas entgegen kommst und dich wenigstens ein bisschen bemühst.", erklärt er. Ich schnaube als Antwort. „Du traust wirklich niemanden und vermutest hinter allem eine Böswilligkeit, oder?" Richtig.

„Ich vermute bei solchen Aktionen stets einen zutreffenden Anschlag auf meine Nerven. Und du bist es, der ständig mit mir diskutiert." Ich schiebe ihm mit dem Zeigefinger die Karte wieder zu.

„Ja ja, und weil du dir dieses bestimmte Bild von mir aufgebaut hast, werde ich alles daran setzen dem zu entsprechen. Du willst mein Friedensdeal nicht? Gut, dann nerve ich dich ab sofort in Grund und Boden." Was ich ihm auch ungesehen glaube. Soviel zum Thema ernst und normal miteinander reden. Anscheinend gehört das nicht zu unseren Qualitäten. „Herrje, Robin, gib mir doch einfach eine Chance.", ergänzt er weniger stichelnd. Er lehnt sich ermattet zurück und nimmt auf halbem Weg seine Flasche wieder mit. Ich schaue zu den Karten und verstehe es noch immer nicht vollkommen.

„Du brauchst dich nicht mit mir gutstellen, nur weil dein Mitbewohner meinen fickt und das noch eine Weile tun wird. Für den Sex brauchen wir das auch nicht. Also, wozu soll das gut sein?" Kains eigenwilliges Bedürfnis, jedem zugefallen, ist wirklich lästig.

„Die Welt besteht nicht nur aus bösen, gefühlsgeladenen Menschen, die nichts Besseres zu tun haben, als dir ununterbrochen mit ihren lästigen Liebesproblemen auf den Wecker zu gehen. Du willst deinen Spaß ohne weitere Bedingungen. Gut, bei mir ist es dasselbe und ich verspreche dir, dass du dir keine Gedanken darüber machen musst, dass ich dich mit irgendwelchem Gefühlskram belaste. Ich habe selbst genug davon und keinen Bock drauf. Trotzdem sollten wir außerhalb dessen miteinander klarkommen." Damit beugt sich Kain nach vorn, legt seinen Zeigefinger auf die Karten und schiebt sie mir wieder entgegen.

„Das ist mein Angebot, denk darüber nach.", beendet er damit das Thema und widmet sich wieder seinen Fischstäbchen. Er hat im Grunde Recht, auch wenn ich nicht das Gefühl habe, das sowas nötig ist. Ich bin immer noch misstrauisch, greife statt zu den Karten nur nach einem Nacho und dippe ihn in die scharfe Salsasoße. Das lockere Arrangement mit dem rothaarigen Ungetüm scheint wohl nicht so fluffig, wie er es gern hätte. In meinem Kopf entsteht ein höhnisches Lachen. Aber was erwartet er auch, wenn er mit einer Ex anbandelt.

„Ärger im Drachenland?", frage ich, nachdem das Gelächter in meinem Kopf zu einem Flüstern geworden ist und sehe mit Vergnügen dabei zu, wie mein Gegenüber einen Moment braucht um meine Worte zu verarbeiten.

„Was würde ich dafür geben, ein echter Drachentöter zu sein...", springt er auf den Zug auf. Wir lachen beide und essen für einen Moment schweigend weiter. Ich weiß noch immer nicht so recht, was ich von der Kartengeschichte halten soll. Denn ich denke nicht, dass es irgendwas ändert oder hilfreich ist. Aber es schadet auch nicht. Wie schlimm kann es schon werden?
 

"Kann ich auch Karten zurückbekommen?", frage ich.

"Sicher.", erwidert er ruhig und sieht nicht mal auf. Ehe wir es spezifizieren können, dringen leise Stimmen aus dem Flur zu uns. Es folgt Gelächter. Kichern. Es wird lauter und dann geht die Tür auf. Ich wende mich erst um, als eine weibliche Stimme ertönt.

„Hoppla..." Sina und Kati stehen in knappen Shorts und einfachen Spaghettitops in der Tür. Beide scheinen quietschvergnügt und nur einen Sekundenbruchteil lang wirklich erschrocken. Kati lehnt sich über die Schulter der kleineren Blondine und späht in den Raum. Ihre Wangen schmiegen sich aneinander und sie wirken noch etwas mehr, wie ungleiche siamesische Zwillinge. In ihren Händen halten sie riesige Tassen.

„Hey, Jungs...", flötet Kati begrüßend. Ich nehme einen Schluck aus der Bierflasche und schlage die Beine übereinander. Genauso wie Kain. Trotz augenscheinlicher Schlafbekleidung sind beide Frauen perfekt geschminkt und definitiv frisiert. Ich bin mir fast sicher, dass ich sie noch nie ohne Kleister im Gesicht gesehen habe. Vermutlich sehen sie ohne aus, wie Gespenster. Selbst, wenn sie aus der Dusche kommen, sind sie perfekt geschminkt. Ist das normal? Ich renne des Öfteren zombieartig durch die Flure und bin mir sicher, dass mir in diesen Momenten alle entgegenkommenden Personen angsterfüllt ausweichen, um nicht gebissen zu werden. Vielleicht sollte ich mal zuschnappen. Die abschreckende Wirkung einer solchen Attacke wäre sicher von Dauer.

„Sina. Kati.", begrüß Kain sie und klingt eigenartig reserviert.

„Gibt es noch Einladungen zu eurer Privatparty?", fragt Sina lächelnd, sieht auf das Essen und zieht sich dabei schon einen der leeren Stühle heran. Beim Hinsetzen schlagen sich ihre schlanken Beine übereinander, während Kati die Tassen auf die Anrichte schiebt und den Wasserkocher anstellt. Sina blickt neugierig zu den Kartenattrappen und sie greift danach. Ihr lackierter Fingernagel streicht über die schwarze Sechs der obersten Karte.

„Was spielt ihr? Eine sehr simple Version von MauMau. Schwarzer Peter. 6 Gewinnt.", zählt sie auf und auch sie formuliert die Zahl in besonderer Weise. Ich bin umgeben von Spaßleichen. Nach jedem Vorschlag folgt ein helles Kichern. Auch Kati lächelt amüsiert und ihr Gekicher wird nur durch das leise Zischen des Wasserskochers durchbrochen.

„Wir hätten Pokerkarten und Chips in unserem Zimmer... Oh, Vanillesoße." Sinas manikürten Finger greife nach der Flasche, mit der mich Kain in die Küche gelockt hat. Diesmal kann ich mir ein Seufzen nicht mehr verkneifen. Klischees ohne Ende. Ich bete schon wieder zu Neptun. Meinetwegen auch Poseidon oder Agwe. Ohne zu fragen, öffnet Sina die Flasche mit einem leisen Plopp und lässt ihren Finger geschwind im Hals verschwinden. Nun richtet sich Kain auf. Noch bevor sie die vanilligen Flüssigkeit kosten kann, nimmt er ihr die Flasche weg. Das Wasser beginnt zu kochen.

„Man spielt nicht mit dem Essen anderer Leute. Hat man dir das nicht beigebracht?", blufft Kain und stellt die Flasche auf die andere Seite des Tisches. Unwillkürlich denke ich an Kains Bemerkung zum Thema Nachtisch durch meinen Kopf. Was Kain wohl als Dessert geplant hat? Der Gedanke an seinen warmen Körper und das Gefühl seiner Muskeln unter meinen Fingern lässt mich kurz erschaudern. Ich nehme einen kräftigen Schluck vom Bier und bin erleichtert, als die Herbe das ausbrechende Prickeln dämpft.

„Warum so empfindlich? Das kenn ich von dir gar nicht und Merena erzählt auch ganz andere Geschichten." Die Blondine leckt sich die Süße vom Finger und dann mit einem Blick zu mir, über die Lippen. Ihr nackter Fuß tippt gegen meine Wade, während sie sich etwas besser auf dem Stuhl positioniert. Sinas blaue Augen mustern mich. Doch ich erwidere ihren Blick nur gelangweilt. Zum einen weil ich damit beschäftigt bin, meine Mimik neutral zu halten und zum anderen, weil ich mit den Avancen der Blondine nichts anfangen kann. Der Wasserkocher verstummt und es tönt ein leises Klick.

„Habt ihr nichts anderes zu tun?", fragt Kain, mustert aber unverhohlen die beiden schlanken Frauenkörper. Abwechselnd. Ausführlich. Genau das, was sie wollen. Seine Augen bleiben bei Katis Oberweite hängen. Durch den dünnen Stoff drücken sich deutlich ihre Brustwarzen. Auf ihren Oberschenkel bildet sich Gänsehaut, die durch unsere Blicke nur noch deutlicher zu werden scheint.

„Nicht wirklich?", erwidert Kati kichernd, streicht sich über den Unterarm und wendet uns den Rücken und ihren spärlich bedeckten Hintern zu. Sie gießt den Tee auf. Ein Kräutertee. Der Geruch von Brennnessel und Melisse erfüllt den Raum. Ich habe genug. Ein letztes Mal setze ich die Flasche Bier an und leere den Rest in einem Zug.

„Ihr seid trauriger als jedes Klischee. Schönen Abend noch..." Glas trifft auf Furnier. Ich richte mich auf und verlasse die Teeküche in Richtung Zimmer.
 

„Charmant, wie eh und je.", ruft er mir zu. Kain folgt mir und holt mich ein, bevor ich den Türcode eingeben kann.

„Verklag mich..." Er weiß genau, dass ich damit Recht habe.

„Robin, warte." Keine Chance. Ich tippe ungesehen den Code auf das Touchpad unseres Schlosses, schlüpfe ins Zimmer und bleibe doch direkt bei der Tür stehen. Der Biotechnologe bleibt davor stehen und drückt sie weiter auf. Er schaut mich direkt an und hebt die geöffnete Flasche Vanillesoße in mein Blickfeld.

„Kein Nachtisch?", raunt er mir entgegen. Wieder ist es nur ein Gedankenfetzen, ein Hauch, der sich in meinem Kopf ausbreitet und mit einem Mal alles überschwemmt. Er wird lauter und lauter bis er nur noch ein verlangendes Schreien ist. Mein Herz pumpt heiß und heftig. Bevor sich der Schwarzhaarigen abwenden kann, greife ich nach seinem Shirt. Er sieht erst auf meine Hand und dann wieder auf. Es ist wie ein Blitzen, als er begreift, was meine Reaktion bedeutet. Mit beiden Hände stützt er sich am Türrahmen ab, baut sich vor mir auf und ich spüre einen feinen, kitzelnden Schauer, der mir durch den Leib jagt, wie ein hochexplosives Gewitter.

„So, so...", setzt er an. Ich greife tiefer und umfasse seine Gürtelschnalle. Kühles Metall trifft auf erhitzten Fingerkuppen und die Erregung breitet sich in mir aus, wie eine unaufhaltsame Flut. Ohne weiteren Widerstand lässt sich Kain ins Zimmer ziehen.

Geschichten aus Tausend und...Ach, Scheherazade für Arme!

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Das geheime Leben der Worte

Kapitel 13 Das geheime Leben der Worte
 

Schnellen Schrittes und ohne zu antworten, gehe ich auf den Biotechnologen zu. Ich schwanke einen Sekundenbruchteil zwischen mehreren Reaktionsmöglichkeiten. Ignorieren. Explodieren. Erklären. Ich entscheide mich für dämlich. Mein vorhersehbarer Versuch, Kain das Buch aus der Hand nehmen, wird sofort vereitelt. Er schiebt es hinter seinen Rücken und macht dazu noch ein tadelndes Geräusch. Die Klischeehaftigkeit ist so deutlich und klar, dass ich mir wünsche, ich könne sie nehmen und dem Schwarzhaarigen um die Ohren hauen.

„Erspar mir diese lästige Nervengymnastik“, gebe ich deutlich überstrapaziert von mir. Doch Kain scheint es zu reizen. Er richtet sich auf und beugt sich zu mir. Die feine Note seiner Ingwerbonbons schlägt mir entgegen. Im nächsten Moment sehe ich, wie eine der Süßigkeiten in seinem Mund von links nach rechts wandert. Mein Puls steigt. Unaufhörlich. Ich taste unwillkürlich über meine Hosentasche, suche nach den Zigaretten. Die Packung drückt sich merklich zusammen, ohne, dass ich einen Inhalt erfühlen kann.

„Das machst du also, wenn du tagelang in deinem stillen Kämmerlein hockst“, raunt er mir amüsiert zu. Ich will ihn aus dem Zimmer bugsieren. Irgendwie. Gern auch in mehreren Teilen.

„Ich redigiere nur.“ Sekundenschlaf der Denkleistung. Phänomenal. So viele Möglichkeiten und ich entscheide mich für die hohle Variante. Da hätte ich auch gleich sagen können, dass ich eine Wassermelone trage. Kain ist deutlich ins Gesicht geschrieben, dass er mir eher geglaubt, dass ich im Halbschlaf Schweine dressiere. Er weiß, dass ich schreibe und auch wie. Immerhin konnte er halbe Passagen des einen Textes rezitieren. Ich kriege Gänsehaut bei dem Gedanken. Die Tatsache, dass ich jetzt ein Stück aufsehen muss, macht alles nur noch schlimmer. Er zieht den Roman wieder in unser Blickfeld und schaut auf den Buchrücken. Direkt auf den Autorennamen.

„Quincey Bird? Robin Quinn? Spatz, willst du deine Aussage nochmal revidieren?“ Das Grinsen in seinem Gesicht wird immer breiter. Ich verfluche Brigitta, die mir dieses Pseudonym aufgedrückt hat und mich selbst, weil ich tatsächlich geglaubt habe, dass ich das verheimlichen kann.

„Was willst du schon wieder hier?“, gebe ich von mir und kann ich mir ein genervtes und etwas frustriertes Knurren nicht verkneifen. Hat er mich gerade Spatz genannt?

„So viele versteckte Talent. Ich bin begeist…“

„… und ich gelangweilt. Du hast hier drin nichts verloren“, unterbreche ich sein Gesäusel und schaffe es, meine Stimme dabei halbwegs ruhig zu halten. Eine gigantische Meisterleistung, denn ich verspüre das dringende Bedürfnis zu schreien, zu toben, grün anzulaufen und alles, samt Kain kurz und klein zu schlagen. Sein Rauswurf in Kleinteilen wird immer wahrscheinlicher. Er hebt abwehrend die Hände in die Luft und deutet zu Jeffs Bett.

„Ich wollte nur die Sauerei entfernen. Ich bin in der Nacht mehrmals am Laken festgeklebt." Sein erst angewidertes Gesicht wandelt sich schnell in ein erheitertes. Irgendwie verstörend. Ich komme nicht umher zum Bett zusehen und festzustellen, dass er bis auf die Decke alles vollständig neu bezogen hat. Jeffs Lieblingsbezüge mit einem blau-violett gestreiftes Muster. Ich kriege Kopfschmerzen. Kain geht auf Jeffs Bett zu, legt mein Buch auf dem Nachttisch ab und beschäftigt sich mit dem Reißverschluss der Bettdecke. Er greift zwei Ecken und beginnt das Innenleben ordentlich im Bezug zu verteilen.

„Du und Liebesgeschichten! Unglaublich.“ Er klingt wahrhaftig ungläubig. Ich murre nur.

„Aber hey, ich kenne Leute mit weitaus skurrileren Hobbies und deine Pornos sind ja auch nicht ohne“, flötet er amüsiert, während er das Kissen aufschüttelt.

„Verrecke!“, entfährt es mir laut.

„Ach komm, das ist toll. Wie lange bist du schon ein professioneller Schreiberling?“ Kain klingt ehrlich interessiert, doch wenn er glaubt, dass ich jetzt unbedarft meine Lebensgeschichte vor ihm ausbreite, hat er sich geschnitten.

„Es geht dich nichts an und du würdest es auch nicht verstehen.“

„Versuch es zu erklären. Ich bin schlauer, als du denkst…“. Kain faltet die neubezogene Decke einmal zusammen und legt sie seltsam sorgfältig auf dem Bett ab. Das Kissen folgt, aber geworfen. Er sieht mich an und greift dann erneut zum Roman. Blätternd kommt er auf mich zu. Diesmal nehme ich es ihm aus der Hand. Ohne Gegenwehr. Er darf es nicht lesen. Niemals. Ich will es nicht. Ich lege das Buch zu den anderen Exemplaren auf meinem Schreibtisch und bleibe dort stehen. Erst jetzt bemerke ich, dass Brigitta doch nicht das kitschige Coverbild verwendet hat. Es ist das Dezente. Auch sie nimmt oft Rücksicht auf mich. Egal, wie strapazierend meine Allüren sind.

Den ersten dieser Liebeskatastrophen veröffentlichte ich anderthalb Jahre nach dem Abitur. Mittlerweile sind es fünf Bücher. Meine damalige Deutschlehrerin steckte mir Brigittas Visitenkarte zu, nachdem sie wochenlang fruchtlos auf mich eingeredet hat. Sie nannte es eine Überlegung. Ich nannte es Zeitverschwendung. Ich trug das Pappteil monatelang mit mir rum, bis ich irgendwann eine Mail von Brigitta im Posteingang fand. Sie hatte einige meiner Kurzgeschichten zugesendet bekommen. Ihre Nachricht war prägnant und deutlich. Kein Geschwafel und auch kein Geschmeichel. Von vornherein stellte sie klar, dass es sich um einen Jugendbuchverlag handelte und wenn ich interessiert sei, Romantik von mir verlangte würde. Sie sei sich sicher, dass ich das könne. Damals kannte sie mich noch nicht persönlich, sondern nur meine schriftlichen Ergüsse. Ich bin sicher, dass sie eine solche Absolutheit vermieden hätte, hätte sie gewusst, was für ein anstrengender, mürrischer Giftzwerg ich bin. Romantik. Liebe. Zweisamkeit. Schon damals verursachte der Gedanke daran ein ironisches Mischgefühl in mir. Auch heute noch. Brigitta nannte es einen Versuch und ich kann mir nicht erklären, wie es sie letztendlich geschafft hat, dass ich angefangen habe, diesen Kram zu schreiben. An unsere erste Begegnung habe ich so gut wie keine Erinnerungen. Wir trafen uns in einem Café. Sie wollte mir den Verlag vorstellen und mich kennenlernen. Am nächsten Tag erwachte ich mit Kopfschmerzen und beginnender Zahnfäule in meinem Elternhaus. Es fühlte sich an, wie das Hochschrecken nach einer heftigen Party mit massig süßen Cocktails. Caipirinha. Pina Colada. Totaler Blackout. Sie bestellte uns eine dieser absurden Zuckerbomben, die sie bei fast jedem unserer Treffen in sich hineinkippt. Ein extra großer Latte Macciato mit Sahne und Karamell. Ersatzweise Vanille. Sie versetzte mir den ultimativen Zuckerschock und förderte damit meine temporäre Amnesie. Vielleicht habe ich es auch einfach nur verdrängt, weil ich mir selbst nicht erklären kann, wieso ich trotz jeglichen Widerwillens Liebesgeschichten schreibe. Sicher bin ich mir nur, dass ihre Bekanntschaft meine akute und tiefgründige Diabetesangst begründet. Dennoch ist meine Lektorin zugegebenermaßen das Beste, was mir passieren konnte. Die Tantiemen und die Verkaufsanteile finanzieren mir das Studium. In der Hinsicht bin ich sorgenlos. Das ist viel wert. Außerdem fragt sie nie danach, warum ich so bin, wie ich bin. Sie ist unkompliziert. Sie sagt, was sie denkt und fasst mich nur bedingt mit Samthandschuhen an. Das gefällt mir. Es ist das, was ich brauche. Wahrscheinlich, weil sie mein erstes Buch kennt. Auch darauf hat sie mich nie angesprochen und das danke ich ihr doppelt. Mein Autorendasein hat viele gute Seiten und ich möchte es nicht mehr missen.
 

„Weiß Jeff, dass du sowas schreibst?“ Kain lässt nicht locker, reißt mich aus den Gedanken, als er plötzlich neben mir am Schreibtisch steht. Lächelnd lässt er seine Finger über das Cover des Buches wandern. Das gleichmäßige Intervall meines Herzschlags nimmt wieder zu. Ich möchte nicht, dass er diesen Schund von mir liest. Ich möchte nicht, dass er diese Seite von mir kennt. Meine Bücher machen mich verletzlich.

„Können wir das bitte lassen…“ Mein Blick fällt auf das von Kain erschaffene Kartenset, welches noch immer auf meinem Schreibtisch ruht. Ich strecke meine Hand nach einer Karte aus, doch bevor ich sie berühren kann, tauchen Kains Finger in meinem Blickfeld auf. Sie legen sich direkt auf meine.

„Rede doch einfach mit mir…“ Ich spüre, wie mein Herz einen Satz macht und dann heftig gegen meinen Brustkorb prallt. Laut. Unbarmherzig. Ich will es nicht.

„Musst du nicht deine Rothaarige ficken gehen?“

„Ist das dein Ernst?“ Er zieht seine Hand zurück.

„Verzeih, ihr nennt das ja eine DVD gucken…“, setze ich bissig nach.

„Richtig und nicht nötig, ich bin gestern bei so einen Idioten aus der Biochemie gelandet“, bellt er mir entgegen und wir funkeln uns an. Wieder rieche ich Ingwer und einen Hauch Zitrone. Mein Herz rast.

„Wird das jetzt jedes Mal so laufen?“, fragt er zähneknirschend.

„Ich bin nicht derjenige, der sich durch die Fachschaft fickt…“, gebe ich prompt als Antwort.

„Meine Damen und Herren, heute singt für sie: das Niveau!“ Kains Blick verdunkelt sich und er beginnt währenddessen, übertrieben zu klatschen.

„Ach komm, dass liegt schon lange unterm Bett und weint“, erwidere ich unbeeindruckt.

„Was ist dein Problem verdammt? Es tut mir ja leid, wenn du andauernd das Gefühl hast, ich würde es darauf anlegen, deine gut gehütete Privatsphäre zu verletzen.“ Eine weitere Fahrt mit der Retourkutsche. Er zieht meine übertriebene Bedachtheit in den Kakao, indem er das Gutgehütet in imaginäre Gänsefüßchen setzt. Er kann mich mal. Von oben. Von Unten. Kreuzweise.

„Himmel, Robin, ich mache es nicht mit Absicht. Jedenfalls nicht immer. Abgesehen davon bist du derjenige, der jedes Mal unfair und verletzend wird.“ Kains Stimme schwankt zwischen Sarkasmus und Enttäuschung. Das Schlimmste ist, dass er Recht hat. Ich verstehe selbst nicht, warum ich andauernd auf solche primitiven Abwehrreaktionen zurückgreife. Wahrscheinlich, weil es Kain in so kurzer Zeit geschafft hat, mir derartig nahzukommen und das kann ich schlecht verkraften. Bisher war jeder sehr zufrieden damit, nicht allzu viel mit mir zu tun zu haben. Ich bin eben ein Arsch erster Güte und werde es auch immer sein.

„Geh sterben. Bitte!“, schlage ich vor, kämpfe erneut mit dem Aufkommen meiner erschreckend hartnäckigen Primitivität. Darwin lässt grüßen. Bald finde ich mich auf einem Baum wieder, damit ich mich in Ruhe lausen kann.

„Lass es mich einfach lesen“, bittet der Schwarzhaarige. Ich sehe entgeistert auf.

„Nein“, sage ich deutlich.

„Komm schon,…“, setzt er wieder an.

„Wieso bist du so hartnäckig?“, fahre ich ihn an. Ich verstehe es einfach nicht.

„Warum bist du so stur?“, gibt er ohne Verzögerung retour.

„Ich will einfach nicht, dass du das liest. Es geht dich nichts an.“ Allein der Gedanke daran, was Kain beim Lesen und danach von mir denken könnte, vaporisiert das Blut in meinen Adern. Obwohl ich längst darüber stehen sollte. Ich schaffe es nur nicht. Ich höre bereits die Blutplättchen platzen und spüre meine Fingerspitzen kribbeln.

„Du veröffentlichst es. Jeder kann es lesen…“ Guter Einwand. Treffer. Versenkt. Ich ignoriere es und schwimme händeringend in Kampfstellung zurück.

„Ja, aber niemand weiß, dass die Bücher von mir sind.“ Mein Einspruch ist ebenso gut, gibt aber leider mehr preis, als mir lieb ist.

„Bücher?“ Er betont die Mehrzahl besonders erstaunt. Ich habe mich gerade selbst versenkt und das ist deutlich an meinem Gesicht abzulesen. Wahrscheinlich auch an der Tatsache, dass mein Kopf verräterisch nach unten kippt. Meine Synapsen machen schon wieder Urlaub.

„Wovor hast du eigentlich Angst? Das ich durch das Lesen erkenne, dass du bei Weitem nicht der griesgrämige Idiot bist, den du allen vorspielst? Zur Information, dass weiß ich längst“, setzt er nach. Nun sehe ich doch auf.

„Du irrst dich! Und verschwinde endlich! Geh zu der Rothaarigen oder zu Sina oder wohin auch immer“, sage ich und klinge wie ein Idiot. Diese Aussage kommt einem Armutszeugnis gleich und obwohl mein Inneres rebelliert, spüre ich, wie ich mich mehr und mehr darüber ärgere, dass er das mit der Fachschaft nicht abstreitet. Um mir nicht noch mehr Blöße zugeben, deute ich meine dumme Ausführung abschließend zur Tür. Kain sieht mich resigniert an.

„Blondinen sind nicht mein Fall und sie steht übrigens auf dich, du Blödmann!“, klärt er mich auf und ich beiße die Zähne zusammen. Und wenn schon. Ich will, dass er geht. Sein Interesse irritiert mich. Seine Intension ist mir ein Rätsel. Selbst seine Anwesenheit bringt mich durcheinander. Er solle nicht hier sein. Ohne es zu merken, greife ich nach einer der bemalten Karten, die neben meiner Tastatur liegen. Es ist die Vier. Kain nimmt sie mir aus der Hand.

„Nicht nötig…“ Nur ein Flüstern. Ich kriege Gänsehaut, als sich sein warmer Atem über meinen Hals arbeitet und das sanfte Brummen seiner Worte mein Ohr trifft. Das Aroma von Ingwer und das Wissen darum, wie sich das erregende Kitzeln auf meiner Zunge anfühlt. Die Süße auf meinen Lippen. Seine warmen Finger treffen auf meine kalten.

"Hör auf damit!“

„Womit?“

„Mit diesem verständnisvollen, scheinheiligen Interesse. Wieso kannst du mich nicht einfach in Ruhe lassen? Ich brauche das nicht", knalle ich ihm entgegen. Jeff macht es auch ständig. Fürsorge. Verständnis. Diese elendige Behutsamkeit. 12 Jahre habe ich gebraucht, um ihn in mein Leben zu integrieren und noch immer funktioniert es nicht hundertprozentig. Ich kann es einfach nicht. Kain diese Chance zu geben, kommt einer Unmöglichkeit gleich. Und dennoch hallen in meinem Kopf noch weitere Fragen. Warum macht er es? Aus welchen Grund legt er sich so für mich ins Zeug? Was verspricht er sich davon? Warum? Die Fragen spreche ich nicht aus. Stattdessen wiegele ich von vornherein ab. Glanzleistung. Kain sieht mich getroffen an. Er streicht sich über die Lippen, über die Stirn. Fahrig. Enttäuscht. Ich sehe, wie sich sein Mund öffnet und schnell wieder schließt. Er macht einen Schritt zurück, sieht auf die Karte mit der Vier.

„Okay, weißt du, wir vergessen die Karten. Ich vergesse die Bücher und… lass uns auch die Sexgeschichte streichen. Ich will keinen Streit und keine weiteren Diskussionen. Die habe ich dank Merena zur Genüge und wahrscheinlich auch die nächsten 100 Jahre noch.“ Kain greift nach den restlichen Karten auf dem Tisch. Er zerreißt eine nach der anderen und lässt sie in den Papierkorb fallen. Ich sehe ihm schweigend dabei zu. Wieso enttäuscht es mich?

„Du kannst deine Schutzschilde ganz beruhigt wieder runterfahren.“ Kains Hand legt sich in meinen Nacken. Die plötzliche Hitze verursacht mir Gänsehaut, die derartig intensiv ist, dass ich für einen Moment die Augen schließe. Ich spüre mein schlagendes Herz so deutlich, dass ich nicht weiß, was ich davon halten soll. Das Gefühl in meiner Brust nimmt ein seltsames Ausmaß an.
 

Mit dem Zugehen der Tür lasse ich mich auf meinen Stuhl fallen, ziehe die Beine in den Schneidersitz und lehne mich zurück. Nun habe ich meine Ruhe. So, wie ich es andauernd nach außen brülle. Ich verhindere nicht, dass ich mich mit dem Stuhl drehe und letztendlich in die Richtung von Jeffs Bett blicke. Festgeklebt. Der Gedanke daran treibt mir die Schamesröte ins Gesicht. Zum Glück erst jetzt. Doch auch das komische Gefühl bleibt. Ich habe ihm Unrecht getan und das war mir schon bewusst, nachdem ich meinen Vorwurf ausgesprochen habe. Mit Jeff geht es mir jedes Mal genauso. Doch ich bin mir sicher, dass ich es bei Kain nicht mit einem neuen Pullover ausbügeln kann. Will ich es überhaupt? Ein Teil in mir flüstert Nein, der andere schreit lauthals Ja.

Nach einer Weile sinnfreiem Rumgestarre drehe ich mich wieder zurück zu meinem Schreibtisch. Ich sehe zu den Buchexemplaren, nehme mir das Oberste, lasse meinen Blick über das Covern wandern, über den Titel und schmunzele. Ich blättere es einmal durch und habe sofort ein paar Stellen, die ich am liebsten ausbessern würde. So ist es eigentlich immer, weshalb ich es vermeide, die Bücher nach der Veröffentlichung zu lesen. Ich brauche immer einen gewissen Abstand. Irgendwann lese ich es und blende dabei aus, dass die geschriebenen Worte meine eigenen sind. Ich kann von Glück sagen, dass mir Brigitta viel Freiraum lässt und meistens eher wenige Veränderungen wünscht. Auch nimmt sie während des Schreibprozesses wenig Einfluss auf mich und vertraut darauf, dass ich die Geschichten nicht vollkommen in den Sand setze. Bisher hat es gut funktioniert. Andere Verlage sind wesentlich komplizierter. Oft hört man, dass gerade die ersten Romane mehrere Male vom Schriftsteller umgeschrieben werden müssen, bevor sie bei Verlegern und Konsortium ihr Einverständnis bekommen. Entmutigend und irgendwie auch entmündigend. Andererseits ist der Druck, der heutzutage in diesem Business herrscht, gewaltig. Printmedien sterben aus und das merkt vor allem das Verlagswesen. Dabei gibt es kaum etwas schöneres, als ein frisch gedrucktes Buch in seinen Händen zu halten. Das Papier unter den Fingern zu spüren und zu merken, wie sich der Herzschlag erhöht, wenn man voller Vorfreude die ersten Seiten aufschlägt. Bei meinen eigenen Büchern ist es genauso. Ich habe Glück. Mehr oder weniger, schließlich bin ich dazu gezwungen, über rosafarbene Herzen und schlicht unrealistische Beziehungen zu schreiben. Es gibt schlimmeres, aber das würde ich niemals laut aussprechen.

Vor etwa einem Jahr hat auch Jeff eines meiner Bücher gefunden. Ihm konnte ich plausibel erklären, dass ich es für Lena gekauft habe. Meine Zielgruppe wäre sie. Zum Glück habe ich noch nie einen meiner Romane bei ihr gefunden. Ich wüsste nicht, wie ich reagieren würde. Wahrscheinlich mit akutem Herzversagen.

Ich drehe mich ein weiteres Mal zu dem leeren, frisch bezogenen Bett meines Mitbewohners und seufze schwer. Meine Gedanken wandern zurück zu dem Schwarzhaarigen. Wir sollen es beide vergessen. Wie ernst waren seine Worte? Vergessen scheint unmöglich. Allein die Erinnerungen sorgen dafür, dass meine Lenden ein Eigenleben führen. Das Äffchen in meinem Kopf schlägt die Schellen und dreht sich im Kreis. Meine eigene Unzurechnungsfähigkeit macht mich ganz verrückt. Was will ich eigentlich? Meine Ruhe? Den Sex? Der Sex ist fantastisch. Das Äffchen macht einen Looping.

„Fuck!“, fluche ich lautstark und lasse meinen Kopf ein paar Mal auf die Tischplatte fallen.

„Reiß dich zusammen!“, sage ich und richte mich auf. Ich räume die die neuen Bücher unter mein Bett, greife mir ein paar frische Klamotten und ein neues Handtuch. Kaltes Wasser wird mir jetzt gut tun. Nach einer langen Dusche mit ausführlicher und dringend benötigter Ganzkörperpflege bin ich derartig glatt und sauber, dass ich Satinbettwäsche als Rutsche benutzen könnte.

Obwohl es erst kurz nach acht Uhr ist, lege ich mich ins Bett, wälze mich so lange umher, dass ich mich in der Bettdecke verheddere und schalte irgendwann aus Frust Jeffs Fernseher an. Seltsame Quizshows. Mord und Totschlag. B-Movies. Ich greife nach meinem Handy, als in einem Film Haie aus einem Tornado hüpfend Menschen angreifen. Nun ist es halb 10. Ich lasse mich berieseln bis ich einschlafe. Es dauert ewig.
 

Das Wochenende habe ich so viel Ruhe, dass es mir fast auf den Geist geht. Die beiden blonden Männer tauchen nur sporadisch auf, winken, grinsen und sind so schnell verschwunden, dass ich mich nicht mal aufregen kann. Frustrierend. Nur am Samstagabend während Jeffs dramatischer Klamottensuche versuchen mich beide abwechseln davon zu überzeugen, dass ich sie auf die Footballparty begleiten soll. Warum Abel darauf beharrt, ist und bleibt ein Mysterium. Für ihn bin ich allenfalls eine Bremse für Libido und Spaßfaktor. Ich liebäugle einen Moment damit, zu zusagen, nur um zu sehen, wie sich der dummquatschende Blonde den Rest des Abends ärgert. Es kribbelt mir in den Fingerspitzen und unter der Zunge. Ich lasse mich nicht dazu hinreißen. Jeff zieht sich den x-ten Pullover über. Weinrot oder Bordeaux, wie er lauthals berichtigt, als Abel erklärt, dass er das rot hübsch findet. Hübsch? Rot ist rot. Abgesehen davon bin ich überzeugt, dass er den eben schon mal angehabt hat.

Ihre Argumentationen werden mit jedem Kleidungsstück, welches Jeff probiert, farbenfroher. Viele betrunkene Leute. Abel. Nutzlose Konversationen und dazu noch das überdrehte Testosteron von Sportlern. Erschießt mich lieber gleich. Es fehlt nur noch, dass sie sich Cheerleaderlike hinstellen und mir ´Megaparty´ buchstabieren. Mit Pompons und passenden Dress wohlgemerkt. Das Bild in meinem Kopf lässt mich dämlich grinsen. Wenigstens verzichtet Jeff diesmal auf scheinevolutionäre Gesellschaftstheorien und appelliert stattdessen an meinen juvenilen Sexualtrieb. Heiße Mädels, denen ich alles erzählen könne, schließlich verstehen sie kein Wort von dem, was ich sage. Verlockend, aber nein. Leckere, hemmungennehmende Cocktails. Ich kriege schon bei dem Gedanken daran Kopfschmerzen. Da meine Primitivität diese Woche seltsame Ausmaße angenommen hat, ist es seltsam passend. Einen weiteren Pullover später, habe ich meinen Jahresvorrat an Neins aufgebraucht und bin dem Bedürfnis, aus Jeff ein Bloody Bambi zu machen, erschreckend nahe gekommen. Abel beginnt aus einem mir unerfindlichen Grund dämlich zu lachen und ich zücke innerlich die Flinte. Mein alter Schulkumpan versichert mir ein weiteres Mal, dass die Party der Renner wird und ich vertraue meinem Urinstinkt und nehme die Beine in die Hand. Ein Hoch auf den primitiven Fluchtreflex. Ich greife mir ein Päckchen Zigaretten und verschwinde an den blonden Nervzwergen vorbei nach draußen.
 

In den Gängen des Wohnheims ist es ungewöhnlich ruhig. Niemand sitzt im Foyer. Nur Micha hängt in seinem Kabuff und telefoniert. Ich stecke meinen Kopf durch die Tür, sehe, wie er unentwegt mit den Augen rollt und mich bei einer phänomenalen Linksdrehung bemerkt. Er macht keine Anstalten, sein Telefonat zu unterbrechen. Scheint ebenso wenig erpicht darauf zu sein, dem Anrufer weiter zu zuhören. Sicher seine Mutter. Ich rufe ihm nur das Wort Post zu und Micha verdeutlicht mir mit Händen und Füßen, dass ich sie mir einfach nehmen soll. Mit einem schlichten Nimm wären mir seine 5 minütigen Körperverrenkungen erspart geblieben. Ich gehöre nicht zu den mit Glück gesegneten Individuen.

In meinem Postfach entdecke ich zwei Briefe. Einer schreit deutlich Rechnung und der andere ist ein mit Luftpolsterfolie ausstaffierter Umschlag. Kein Absender. Die Schrift kommt mir bekannt vor. Ich ahne böses. Ich nehme beides mit nach draußen zur Bank, zünde mir eine Zigarette an und öffne zuerst das seltsame Päckchen ohne Absender. Den Inhalt schüttele ich mir in die Hand. Ein gehäkeltes Wollpüppchen mit kaputten Jeans und gelben T-Shirt fällt mir in den Schoß. Handtellergroß. Braunes Haar. Auf dem Shirt ist eine Zigarette abgebildet. Ich betrachte die kleine gehäkelte Version meiner Selbst. Aus dem runden Gesicht starren mir zwei große türkisfarbene Augen entgegen. Blaugrün ist wahrscheinlich nicht so leicht zu häkeln. Ich greife das Briefchen erneut und ziehe einen Zettel hervor. 'Meine Rache wird fürchterlich sein' steht mit deutlich femininer Handschrift darauf. Über den Is prangen kleine Herzchen. Ich sollte meiner Schwester erklären, dass man es für eine wirksame Drohung bei Punkten oder Strichen belassen sollte. Gruseliger wäre es, wenn sie einzelne Buchstaben aus der Zeitung ausgeschnitten hätte. Andererseits hat ihre Version etwas Psychopathisches. Punkt für sie. Ich wiederhole die Worte laut und komme nicht umher zu lachen. Lena ist eine Marke für sich. Statt mich mit nervigen Anrufen zu terrorisieren, schickt sie mir ein Voodoopüppchen. Erschreckenderweise kann ich mir gut vorstellen, wie sie der Puppe lachend kleine Nadeln in den stoffigen Bauch treibt und dabei Black Sabbat hört. Oder Taylor Swift. Da würde ich mich nicht festlegen.

„Unfassbar theatralisch", murmele ich lächelnd vor mich hin.

„Und wer schwört dir fürchterliche Rache? Eine deiner Verflossenen?" Die vertraute Stimme lässt mich zusammenzucken. Ich wende mich erschrocken dem anderen Mann zu und packe das Püppchen sofort zur Seite. Kain lächelt und lässt sich in diesem Moment neben mir auf die Bank nieder. Er trägt eine engsitzende schwarze Jeans und eine Lederjacke. Die habe ich noch nie bei ihm gesehen. Seine Hände schiebt er in die Jackentasche und blickt gen Himmel. Es beginnt zu nieseln.

„Meine Schwester“, sage ich knapp.

„Du hast eine Schwester?", fragt er ungläubig. Eine solche Reaktion bekomme ich öfter. Kain hält mich für den Stereotyp eines Einzelkindes. Er ist nicht der Erste und wird auch nicht der Letzte sein.

„Ja. Sie ist jünger, nerviger und auch gruseliger als ich", kommentiere ich. Den Beweis liefert die Voodoopuppe.

„Ich mag sie schon jetzt." Toller Kommentar. Ich blicke auf das kleine Abbild meiner selbst und ziehe an meiner Zigarette.

„Und wie sieht ihre Rache aus?", fragt er und ich sehe dabei zu, wie sein Knie gegen meines tippt.

„Vielleicht spucke ich demnächst Nadeln und Blut“, antworte ich trocken und ziehe die Schultern zuckend nach oben. Das Lächeln in Kains Gesicht bleibt, wird nur einen Tick fragender. Ich halte ihm zur Erklärung mein Voodoo-Ich hin.

„Oh, der ist ja süß…“ Er nimmt mir die Puppe aus der Hand, dreht und wendet sie mehrere Male. Die Ärmchen wackeln. Die Beine baumeln. Kain kichert übertrieben und beginnt dann, mit dem Zeigefinger über den kleinen Stoffbauch zu streichen. Mein linker Rippenbogen fängt an zu kitzeln. Mein Bein zuckt. Ich nehme ihm die Puppe schnell wieder aus der Hand und rauche den letzten Rest meiner Zigarette auf, um die aufkommenden Gefühl zu betäuben. Der Stummel landet auf dem Boden. Ich werfe einen kurzen Blick zum Müllereimer, doch trotz des mahnenden Echos in meinem Kopf ignoriere ich das Glühen und lasse sie liegen.

„Kommst du mit zur Party?“, fragt Kain, lehnt sich zurück und legt seinen rechten Fuß auf dem Knie ab. Ich angle nach einem zweiten Glimmstängel, stecke ihn mir zwischen die Lippen, als Kains Finger eine der Rippen trifft, die eben noch so intensiv geprickelt haben. Das durchdringende Gefühl kehrt augenblicklich zurück. Ich denke darüber nach, dieselben Argumente hervorzubringen, die schon bei den beiden Blondinen nicht gefruchtet haben und lasse es sein. Bevor ich antworte, zünde ich die Zigarette an, nehme einen Zug. Der ausgestoßene Rauch verschmilzt mit den grauen Himmel.

„Nein.“ Kain sieht mich an, nickt und lehnt sich danach zurück. Er neigt seinen Kopf nach hinten, schließt die Augen und lässt sich die feinen Regentropfen ins Gesicht rieseln.

„Schade. Kriege ich wenigstens eine Entschuldigung?“ Seine Miene bleibt entspannt, doch seine Lippen verziehen sich zu einem neckischen Grinsen. Ich zucke unwillkürlich etwas zusammen.

„Wofür?“, frage ich und sehe erst weg, als sich Kains Gesicht sich zu mir wendet. Ich fühle mich ertappt. Er beugt sich wieder nach vorn. Das intensive Braun seiner Augen durchdringt mich. Es entfesselt etwas in mir, was ich nicht definieren kann. Jedes Mal. Es ist besser, wenn ich nicht mit zu diesen Partys komme. Wer weiß, welche Dummheiten ich noch anstelle. Alkohol und diese eigenartige Schwäche für den Schwarzhaarigen sind eine ganz schlechte Kombination. Unsere erste gemeinsame Nacht resultierte genau aus diesen Elementen. Ich nehme einen neuen Zug und puste den Rauch in den nächtlichen Himmel. Als ich wieder auf die Kippe schaue, sehe ich, wie sie von meine in Kains Finger wandert.

„Was kommt jetzt? Eine Ermahnung an Gesundheit und Vernunft?“, frage ich in der Annahme, dass gleich die obligatorischen Moralsprüche folgen. Nichts. Stattdessen nimmt er einen Zug und beugt sich zu mir. Er stoppt nur wenige Zentimeter vor mir, bläst den Rauch langsam an mir vorbei.

„Nein, ich habe mich nur gefragt, wie du wohl ohne das Raucharoma schmeckst.“ Der Rauch in meinem Mund wird bitter und ich spüre, wie sich mein Puls zum Marathon aufmacht. Im Sprint. Selbst die Synapsen in meinem Kopf beginnen mit dem Cheerleading.

„Was…Warum…“, setze ich an, doch die aufgehende Eingangstür lässt mich abbrechen. Jeff und Abel kommen aus dem Wohnheim geschlendert. Er hat sich wohl endlich für ein geeignetes Oberteil entschieden. Wahrscheinlich für das, was er vorher schon zweimal an hatte. Sie halten Händchen. Jeff löst die Verbindung, als sie bei uns ankommen und Kain lehnt sich wieder zurück. Ich folge seine Bewegung und sehe weg, als ich merke, dass sein Blick noch immer auf mir ruht. Seine warmen Augen fahren mein Gesicht ab. Suchend. Deutlich ist zu erkennen, wie sehr es in seinem Kopf arbeitet.

„Hey Kain. Kommst du gleich mit?“, fragt Abel, während Jeff auf die Zigarette in Kains Hand sieht. Er gibt sie mir nicht wieder, sondern lässt sie zu Boden fallen und drückt sie aus.

„Jo, auf geht´s, Männer.“ Damit springt er förmlich auf.

„Letzte Chance, Robin…“, flötet Abel, wackelt mit den Augenbrauen und liefert mir nur noch einen weiteren Grund abzulehnen. Mein Mitbewohner mustert mich aufmerksam. Zwischen den Teilen seiner geöffneten Jacke blitzt der rote Pullover durch. Weinrot. Nein, Bordeaux. Ich stehe auf, vermeide es, nochmal zu Kain zu sehen.

„Nicht mal gegen Bezahlung…“, antworte ich, schiebe die kleine Voodoofigur in die Hosentasche und verschwinde zurück ins Wohnheim.
 

Micha telefoniert noch immer. Diesmal bin ich mir sogar relativ sicher, dass ich das Wort Mama höre. Der schadenfreudige Gesichtsausdruck begleitet mich bis nach oben. Selbst nachdem ich auf Sina und Kati treffe, die aufgetakelt und kichernd an mir vorüberstöckeln. Keine Party ohne die beiden. Unbewusst sehe ich ihnen nach. Direkt in Sinas lächelndes Gesicht. Ich bin so schnell um die Ecke verschwunden, dass ich einen Preis für Amateurzauberei bekäme. Als das weiße Kaninchen, was im Hut verschwindet.

Vor meinem Schreibtisch leere ich meine Taschen, lege Lenas wenig ernstgemeinte Drohung neben meinen Bildschirm ab und fördere einzelne Kaugummipapiere und alte Fahrscheine zutage. Der andere Brief landet auf den Stapel ungelesener Post, der sich langsam gen Decke türmt. Der Müll landet im Papierkorb, wo mein Blick auf die zerrissenen Karten fällt. Ich hole den Plastikbehälter hoch, stelle ihn auf die Tischplatte und sammele die einzelnen Bestandteile heraus. Jede Karte ist sorgsam einmal in der Mitte zerrissen. Eine Chance. Das waren Kains Worte gewesen. Ich habe sie ihm nicht gewährt. Wie ernst sind seine Worte? Mit kalten Fingern streiche ich mir durch die Haare.

Ich krame eine alte, überdimensionale Strickjacke aus dem Schrank, in die ich mich zweimal einwickeln kann. Sie ist warm und kuschelig. Mein Handy beginnt zu summen, als ich mich vor dem Schreibtisch niederlasse. Zwei neue Nachrichten. Jeff und Lena. Sie möchte wissen, ob ihre Überraschung angekommen ist. Ich greife mir einen Stift, notiere das Wort Gnade und Sry auf einen Zettel und drapiere Puppe und Schriftstück vor meiner Tastatur. Das Foto schicke ich ihr.

Jeffs lauschige Nachricht über das Bedauern meiner Unpässlichkeit und die damit einhergehende Versäumnis sämtlicher erheiternder Verfehlungen ignoriere ich. Die Feiern, zu denen mich mein Kindheitsfreund während unserer Schulzeit geschleppt hat, waren inhaltlich so ergiebig und niveauvoll, wie das Filmrepertoire von Uwe Boll. Es gibt nichts, was ich nicht in irgendeiner Form oder Art schon mal gesehen habe. Nichts, was ich nochmalig erleben muss. Auch Alkohol ist nicht mein Ding und wer behauptet, dass er solche Veranstaltungen ohne übersteht, der lügt.

Mein Blick wandert über die anderen aufgelisteten Kontakte und ich öffne den Chat mit Kain. Ich weiß nicht wieso. Ich weiß nur, dass es in meinen Fingerspitzen zu kribbeln beginnt. Er hat sein Profilbild geändert und ist in diesem Moment online. Mein Daumen stoppt. Auf dem Bild sieht man sein nach unten geneigtes Gesicht im Profil. Die Ansätze eines Drei-Tage-Barts. Es ist schwarzweiß. Mir ist absolut bewusst, wieso er bei Frauen so gut ankommt. Umso deutlicher wird die Absurdität darüber, was er mit mir will oder wollte. Noch während ich meine geistige Flucht plane und den imaginären Zylinder hervorziehe, bewegt sich der Chat.

-Langeweile?- Jetzt offline zu gehen wäre ein weiteres Armutszeugnis. Eins mehr oder weniger schadet nicht. Meine Mappe ist mittlerweile voll davon. Nein. Ich antworte lieber.

-Und selbst? Party so fade?- Kains Antwort lässt nicht lange auf sich warten.

-Der Alkoholpegel ist noch zu niedrig, aber wir arbeiten daran- Dessen bin ich mir sicher.

-Keine Kosten und Mühen. Klingt wie das Paradies- Ich verkneife mir ein paar idiotische Smileys.

-Du würdest es hassen-

-Jetzt machst du mich doch neugierig-, tippe ich lachend und bin immer noch froh, nicht dort sein zu müssen. Wer weiß, welchen Sitznachbarn ich diesmal hätte. Bei meinem Glück eine Reinkarnation von JarJar Binks oder schlimmer noch, Abel.

- Kein Spoiler. Sry. Komm her und mach dir selbst ein Bild- Spoiler? Bin ich ein Serienjunkie?

-Was kriege ich dafür?-

-Was willst du?- Die Antwort kommt so schnell, dass ich kaum Zeit habe, um zu begreifen, dass bereits meine Frage eine dumme Äußerung gewesen ist. Ich lege das Telefon zur Seite, schlucke schwer. Ich darf es nicht unbeantwortet lassen. Irgendein Spruch. Irgendeine Reaktion, die diese Konversation ad absurdum führt. Mein Gehirn ist wie stillgelegt. Im Zusammenhang mit Kain passiert mir das leider viel zu oft. Mein Blick fällt auf die zerrissenen Pappkarten. Ich strecke meine Hand danach aus und lasse meine Finger über die rauen Kanten gleiten. Eine Chance, wiederholt es sich ein weiteres Mal in meinem Kopf und ohne länger darüber nachzudenken, öffne ich meine Schublade. Ich ziehe eine Rolle Klebestreifen hervor. Ein paar wenige Handgriffe und die 6 Karten sind wieder repariert. Nicht schön, aber die Zahlen sind zu erkennen. Nach einem letzten Blick auf mein Telefon, schiebe ich die Karten in meine Hosentasche.
 

Der restliche Abend, sowie der Sonntag ziehen sich wie Kaugummi. Immer wieder ertappe ich mich dabei, wie ich mich umdrehe und zu Jeffs leeren Bett schaue. Einige Male sogar starre. Ohne erfindlichen Grund. Gelogen, ich weiß ganz genau warum. Es ist selten, dass mir meine selbst herbeigeführte Isolation auf die Nerven geht. Im Moment ist es so.

Um mich abzulenken, öffne ich das Skript für das neue Buch, lese die Stichpunkte des groben Plots. Ich habe mich für eine typische Drei-Akte-Struktur entschieden. Für Romane eine gängige Praxis. Drei Akte. Drei Wendepunkte. Der Letzte führt dieses Mal zu einer sogenannten Katastrophe. Ein negativer Plotverlauf. Ich gönne meinem Protagonisten kein rosarotes Happy End. Das erste Mal und, wenn es nach meiner Lektorin geht, auch das letzte Mal. Sie mag es nicht. Brigitta will die Bücher mit einem Lächeln im Gesicht schließen. Mir ist es egal, solange das Ende einen sinnvollen Abschluss bewirkt. Es ist das erste Buch, in dem die Erzählfigur männlich sein wird. Schon deshalb wird sich der Roman von den anderen unterscheiden. Über viele Kleinigkeiten bin ich mir noch uneins. Ich bin mir nicht sicher, aus welcher Sicht ich es schreiben werde. Ryan oder Martin. Ryan entspricht sogar nicht meiner persönlichem Empfindung, jedoch er wird er derjenige sein, dessen Gefühle die meiste Gewichtung erhalten. Was passiert, wenn man sich in einen Freund verliebt und dieser Rat und Beistand von dir verlangt, die du ihm nicht geben kannst, ohne, dass es dir das Herz zerreißt? Wie weit kann Pflichtgefühl gehen? Und wann ist der Punkt erreicht, der es unmöglich macht, Nähe zu ertragen?

Es beginnt mit einer Beziehungskrise. Das Suchen und Finden einer vergessenen Vertrautheit, die man manchmal in genau den Personen findet, von denen man es am Wenigsten erwartet.

Ich lehne mich zurück, sehe auf meinen Zeigefinger, der auf der Taste M ruht. Danach bleibe ich eine geschlagene halbe Stunde so sitzen, ohne, dass ich auch nur eine Taste betätige. Schreibblockade. Eindeutig.

Unwillkürlich beginne ich die Methoden abzurufen, die aus einer Schreibblockaden führen sollen. Bisher musste ich diese Techniken selten anwenden. Einen Fahrplan habe ich bereits. Er bedarf zwar hier und da ein paar Ausbesserungen, doch im Großen und Ganzen hat sich in meinem Kopf ein ausführlicher Plot entwickelt. Das Gleiche gilt für die Gliederung. Störfaktoren, die ich ausräumen könnte, gibt es dank massenhaften Partys und animalischen Paarungsverhalten meines Mitbewohners auch nicht.

Ein anderes Buch lesen. Ein weiterer Trick um auf andere Gedanken zu kommen. Ich sehe zu Jeffs Bücherregal, fahre von weiten die Rücken ab und spüre, wie sich bei der Hälfte der Möglichkeiten meine Oberlippe angeekelt nach oben zieht. Die andere Hälfte habe ich schon gelesen. Lust habe ich auch keine. Ich drehe mich wieder zu meinem Rechner und lasse meinen Kopf auf die Tischplatte fallen. Meine Arme baumeln nach unten, hängen nutzlos an mir herab. Was ist nur los mit mir? Es ist zum Kotzen. Ich will Pudding. Schoko. Vanille. Völlig egal. Nur Pudding.

Ich richte mich auf. Ein Ausweg ist ein Ortswechsel. Etwas, das noch nie nötig gewesen ist. Also wohin? Sonntag ist der denkbar schlechteste Tag, um sich eine Ausweichmöglichkeit zu suchen. Nichts hat auf. Außer vielleicht irgendwelche Cafés und Restaurants. Nicht mein Ding. Zu viele Menschen. Ich greife nach meiner Jacke und einer vollen Packung Zigaretten. Obwohl ich noch immer nicht weiß, wo ich hingehen soll, packe ich meinen Laptop in den Rucksack und stiefele los. Es ist kalt und windig. Ich habe zu wenig angezogen und spüre sofort, wie sich die kalte Luft unter meine Klamotten schiebt. Mit zittrigen Handgriffen öffne ich die Packung Zigaretten und zünde die Erste des Tages an. Der Qualm füllt meine Lungen und das herbe Aroma kitzelt sich über meine Geschmacksknospen. Es befriedigt mich nicht. Nicht so, wie sonst. Wie du ohne das Raucharoma schmeckst, echot es in meinem Kopf. Der Gedanke an das feine Raunen des anderen Mannes setzt seltsame Gefühlsregungen in mir frei. Ich verstehe nicht, warum mich Kain derartig durcheinander bringt. Genauso ist es mir ein Rätsel, wieso ich ihn trotz aller Widrigkeiten so anziehend finde. Er ist ein Kerl, verdammt. Ein ziemlich nervtötender noch dazu. Ein Kerl. Ein gutaussehender. Unwillkürlich formen sich Bilder seines beeindruckenden Oberkörpers in meinem Kopf und nicht nur davon. Darwin lässt erneut grüßen, nur, dass ich anscheinend eine evolutionäre Rückentwicklung vollführe. Ich nehme einen tiefen Zug von der Zigarette in der Hoffnung, dass sie mich abkühlt und gehe los. Nach etwa 100 Meter enormer Laufanstrengung habe ich das Bedürfnis, ins Zimmer zurückzukehren, mich zusammenzurollen und unproduktiv vor mich hinzusiechen. Es ist kalt. Es regnet. Nach 10 Minuten stehe ich meines Unwillens zum Trotz in der Mensa. Ich bin ein Held. Ein paar Studenten sitzen in kleinen Gruppen an den Tischen. Sie reden oder lernen. Wenige sitzen allein. Ich lasse mich auf einen Platz am Fenster nieder und starre, statt auf den Bildschirm, eine Ewigkeit nach draußen. Die Scheibe ist übersäht mit Regentropfen. Sie brechen meine Sicht nach Außen in tausende kleine Vergrößerungsgläser. Tausende stille Welten. Ich weiß, wie ich das Buch beginnen werde.
 

Nach fünf Stunden Schreiben und 3 Schalen Pudding mache ich mich auf den Weg zurück zum Wohnheim. Mittlerweile regnet es wie aus Eimern. Dank einem Bus und der freundlichen Unterstützung einer bekannten Kommilitonin komme ich relativ trocken an.

Als ich die Tür öffne, bemerke ich, dass der Fernseher läuft. Flackerndes Licht erleuchtet den Raum. Als ich näher komme, höre ich eine leise weibliche Erzählstimme und sehe meinen Mitbewohner schlafend in seinen aufgestapelten Kissen hängen. Ich lege meinen Rucksack zur Seite und betrachte das laufende Fernsehprogramm. Als ich erkenne, was Jeff schaut, komme ich nicht umher, die Augen zu verdrehen. Sex and the City. Die Klischees, die mein lieber Mitbewohner teilweise unbeabsichtigt bedient, sind zum Davonlaufen. Trotz meiner motzenden inneren Stimme lasse ich mich neben Jeff nieder. Ich stütze meinen Ellenbogen demonstrativ auf seiner Hüfte ab und sorge mit den Körperkontakt für das Erwachen meines Kindheitsfreundes. Ein Auge öffnet sich. Ein Schmatzen. Jeffs Hüfte wackelt etwas.

„Bitte, sag mir, dass du beim Durchschalten eingenickt bist", kommentiere ich das Programm. Das geöffnete Auge wandert zum Fernseher. Dann wieder zu mir.

„Jaaa..." Jeffs Stimme ist verräterisch hoch, während er verstohlen zum Fernseher zurück sieht. Wir schauen beide einen Moment dabei zu, wie die 4 Frauen, die ich nicht benennen kann, durch eine Bar stöckeln und bunte Cocktails schlürfen.

„Es ist sehr unterhaltsam", murmelt er, als ein großer dunkelhaariger Typ auftaucht. Jeffs klägliche Verteidigung. Ich schaue ihn zweifelnd an.

„Oh ja, genauso, wie Kaugummi in den Haaren.“ Dank meiner kleinen Schwester durfte ich das schon erleben.

„Darüber kommst du wohl nie hinweg, oder?“ Wie sollte ich? Lenas unüberlegter Kaugummiblasenangriff ließ mich ich in der 10. Klasse mehrere Wochen mit raspelkurzen Haaren durch die Gegend laufen. Mein scheinfreundlicher Kindheitskumpan sparte damals nicht an dämlichen Kommentaren und Vergleichen. Tatsächlich bastelte er mir im Kunstunterricht eine Gefängniskugel samt Kette. Die Woche darauf eine Tarnkappe mit lauter Gestrüpp für meine Militärkarriere im Dschungel. Die Krönung war ein Totenkopfring und ein Klebetattoo mit dem Schriftzug der Backstreet Boys aus einem alten Bravomagazin. Es folgten mehrere Wochen hartnäckige Ignoranz von meiner Seite. Natürlich vergeblich, so wie bei fast jeder Ekelhaftigkeit, die ich gegenüber dem Blonden angewendet habe.

Jeff richtet sich auf und lehnt sich zu mir an die Wand. Auf seine Wange zeichnet sich ein tiefer und formenreicher Abdruck des Kissens ab. Er streicht sich durch die blonden Haare und sieht in diesem Moment aus, wie der 17-jährige Junge, der sich im betrunkenen Zustand nicht getraut hatte, ein Mädchen zu küssen. Geschweige denn mich. Ich lasse meinen Blick über das schläfrige Profil meines Kindheitsfreundes wandern. Jeffs Augen sind schon wieder geschlossen und keiner von uns beiden achtet auf die promiskuitiven Szenen im Fernseher.

„Wo warst du eigentlich?", fragt er mich gähnt, während er sich träge aus dem Bett wühlt und zum Kühlschrank stampft. Ich höre, wie er herumkramt, etwas trinkt und danach weiter sucht.

„Mensa.", antworte ich ihm lapidar, sehe, wie seine formvollendete Augenbraue nach oben wandert.

„Die ganze Zeit?“, hakt er nach.

„Ja.“ Jeff murmelt ein fragendes Tatsächlich und scheint wenig überzeugt. Wahrscheinlich vermutet er hinter meiner Abwesenheit eine Verschwörung. Im nächsten Moment taucht ein Eis vor mir auf und er lässt sich bewaffnet mit Käsedip und Chips zurück auf das Bett fallen. Meine Stimmung wandelt sich augenblicklich zu der eines flauschigen Welpens. Ich bin so sehr erfreut, sodass mir nicht auffällt, dass Jeffs obligatorische Schokolade zum Dip fehlt.

„Wieso bist du nicht bei deinem Ernieverschnitt?“, frage ich retour, entferne das Papier von der kühlen Leckerei und kuschele mich etwas mehr in die aufgetürmten Kissen. Ich lecke über die schokoladige Spitze, spüre die wohltuende Kühle und genieße das süße Aroma, welches über meine Zunge kitzelt. Jeff kann Gedanken lesen. Genau, das habe ich jetzt gebraucht.

„Ernieverschnitt? Oh Oh! Folglich bist du mein Bert!“ Jeff klopft mir amüsiert den Oberschenkel. Ich gebe ihm ein trockenes Hüsteln als Antwort und vermeide es, ihm zu erklären, dass eigentlich er Bert ist.

„Ich dachte, wir könnten mal wieder Zeit miteinander verbringen“, kommt es erklärend von dem anderen Mann. Die Hand auf meinem Oberschenkel bewegt sich erneut, streichelnd und bleibt dann ruhig liegen. Ich sehe zu meinem Zimmerkumpan und bin mir sicher, dass irgendetwas faul ist. Entweder hatte er Streit mit Abel oder er will irgendwas. Das Eis ist sicher ein Bestechungsversuch. Jeff schmiegt sich in die Kissen und legt seinen Kopf auf meine Schulter ab.

„Lass mich raten. Ihr hattet Streit“, kommentiere ich die Begründung für Jeffs ungewöhnliche Anwesenheit. Ein Ächzen. Es ist ein typischer Jeff-Seufzer, tropft vor Theatralik und beantwortet meine Behauptung ohne jeglichen Zweifel.

„Ja ein bisschen. Nichts Gravierendes.“ Ich bin auch nicht der richtige Ansprechpartner dafür.

„Und ich wollte mal wieder mit dir quatschen. Ich weiß gar nicht, was im Moment in deinem Leben los ist.“ Ich sehe auf den blonden Haarschopf, spüre die vertraute Wärme und merke, wie mir langsam das Eis über die Finger läuft.

„Na ja, ich atme, esse und unterliege…“ Ich lecke die Tropfen davon und knabbere den Schokoladenmantel ab.

„Dem Verfall. Ja, ja. Ich weiß.“ Einer der Chips landet in seinem Mund. Krümel auf seinem Shirt. Ich rieche deutlich das salzige Aroma und genieße mein Eis nur noch mehr.

„Ich hätte jetzt Atrophie gesagt, aber okay…“

„Das ist das Gleiche, nur wissenschaftlich.“

„Eigentlich…“, setze ich an, doch er unterbricht mich.

„Oh, erspare mir die Sheldon-Imitation.“ Ich komme nicht umher zu lachen, als mir Jeff seinen verzweifelten Blick zu wirft. Das letzte Stück Schokoladenmantel schmilzt auf meiner Unterlippe. Nun kann meine Zungenspitze ungehindert über die vanillige Substanz gleiten. Herrlich. Ich schließe meine Augen und genieße.

„Tut mir Leid, dass ich so wenig Zeit für dich habe. Ernsthaft.“ Mit dem Ärmel seines Pullovers wischt er sich Chipsreste aus den Mundwinkeln und tunkt seinen Finger in die Käsesoße. Die gelbliche Paste macht auf mich keinen sehr attraktiven Eindruck. Was Jeff daran mag, ist mir schon seit Jahren ein Rätsel.

„Ach, ich würde für regelmäßigen Sex auch nicht mehr mit dir reden“, kommentiere ich Jeffs Anflug an heldenvoller Almosenausschüttung und lecke über die gesamte Länge meines Stieleis.

„Wie charmant…“ Jeff seufzt.

„Du musst dich nicht entschuldigen. Du hast mir gegenüber keine Verpflichtungen. Ich bin ein großer Junge, ob du es glaubst, oder nicht!“ Von seinen Lippen perlt ein weiteres, geräuschvolles Atmen. Für einen Moment knabbert er lustlos an einem der getrockneten Kartoffelstücke. Ich bin und bleibe ein empathieloser Idiot. Doch zu sehen, wie es Jeff trotz des Wissens darum jedes Mal wieder trifft, ist auch für mich kein Feuerwerk. Mein Knie kippt tippend gegen seines. Ich entschuldige mich nicht.

„Sei ehrlich, stört es dich doch, dass ich….schwul bin?“ Ich lasse ihn ausreden, auch wenn mir nach den ersten Worten bereits klar ist, worauf das hinausläuft. Jeff sieht mich erst an, nachdem er diese seltsame Frage zu Ende formuliert hat.

„Ich würde wohl kaum mit dir hier sitzen, wenn es so wäre. Es ist einfach die Gesamtsituation…“ Sein ernster Gesichtsausdruck wird für einen Moment amüsiert und ich bin mir sicher, dass sich in seinem Kopf die Szene aus dem Film `Der Schuh des Manitu´ wiederholt. Zur Bestätigung entflieht ihm ein feines Kichern. Ich fühle mich nicht ernstgenommen.

„Du hast dich von meinen vorigen Partnerinnen auch nicht aus der Ruhe bringen lassen. Was ist anders?“

„Die habe ich selten zu Gesicht bekommen.“ Im Grunde habe ich keine von Jeffs Probefreundinnen wirklich kennengelernt. Ich wollte es auch nicht. Was ist also anders? Ich bin daran gewöhnt, dass Jeff da ist. Nun ist er es immer seltener. Abgesehen davon kann ich Abel einfach nicht ausstehen. Seine Lache. Seine Art. Wie schon so oft geistert die Frage nach der Besonderheit ihres Sexlebens durch meinen Kopf, die als einzige erklärt, wieso sich Jeff diesen Kerl antut. Auch diesmal stelle ich sie nicht. Mein letzter Gedanke gilt dem Schwarzhaarigen.

„Oh Mann, es geht immer noch um Kain? Ich verstehe nicht, wo dein Problem liegt?“ Ich auch nicht. Ich sehe meinem Kindheitsfreund entgeistert entgegen. Wie kommt er auf einmal auf Kain?

„Es gibt kein Problem. Ich will einfach nur meine Ruhe.“ Ich klinge langsam wie eine uralte Bartwickelmaschine.

„Ich glaube dir nicht!“ Toller Kommentar die Zweite. Ich sehe zähneknirschend zu Jeff und setze mich auf.

„Erspar du mir bitte diese mesosoziologische Steinzeitpredig?“

„Wenn du aufhörst, so zu tun, als wäre jeder dein Feind. Homo sapiens und Homo neanderthalensis lebten weithingehend friedlich miteinander.“ Deshalb ist der eine auch ausgestorben. Ich habe schon wieder das Bedürfnis, zu jener Gattung zu gehören.

„Komm schon. Kain ist ein netter Kerl. Witzig. Aufmerksam und intelligent.“

„Ja, der Traum einer jeden Schwiegermutter“, kommentiere ich sarkastisch. Jeffs Augen verdrehen sich meisterlich.

„Ich habe gedacht, dass ihr euch besser versteht. Es schien so.“ Jeff klingt verzweifelt.

„Beruhigt es dein Gewissen, wenn ich ja sage?“, frage ich retour und hoffe, dass die Diskussion damit beendet ist. Meine Hände kleben mittlerweile komplett und die Reste vom Eis bieten einen traurigen Anblick. Mir ist der Appetit vergangen.

„Schon…“, murmelt mein petrophiler Zimmerkollege und dreht dabei verstärkend an seine Halskette, die einen Halbedelstein als Anhänger hat. Ich glaube, es ist sein Geburtsstein. Sicher bin ich mir nicht und für mich hat sowas auch keine Bedeutung.

„Dann fühl dich beruhigt.“ Paläolehrstunde abgewendet und zudem glatt gelogen. Das Was-auch-immer zwischen mir und dem Schwarzhaarigen ist dank unserer letzten Auseinandersetzung noch komplizierter geworden. Kains Worte nach unserem Streit waren deutlich. Vergessen, das hatte er gesagt. Doch seine Äußerung vor der Party und auch die Nachrichten haben mich durcheinander gebracht.

„Gut, dann hast du ja nichts gegen einen Filmeabend mit Abel und Kain. Morgen Abend.“ Zu früh gefreut. Das Eis ist doch nur ein Mittel zum Zweck gewesen. Kains Name betont er besonders. Demonstrativ schiebt er sich eine Lage Chips in den Mund und krümelt wild kauend sein halbes Bett voll. Die Nacht wird sicherlich spaßig. Selbst auf meinem T-Shirt landen ein paar.

„Muss das sein?“

„Ja. Schon allein um dich zu ärgern.“

„So viel zum Thema Charmant. Warum?“, frage ich und bin offensichtlich wenig begeistert. Nicht, dass Jeff, dass nicht weiß.

„Wir haben gestern über Filme diskutiert. Wiedermal und wir fanden es sei eine gute Idee.“ Es muss eine tolle Party gewesen sein. Mein innerer Sarkasmuskreisel nimmt Fahrt auf. Ich habe wenig Wahlmöglichkeit. Im Grunde nur Wegsein oder Dasein. Beides macht mir Magenschmerzen.

„Such wenigstens einen vernünftigen Film aus…“, gebe ich weder bestätigend noch ablehnend von mir. Jeff grinst.

„Ja, einen mit extra viel Kitsch, Liebe und Drama. All das, was du nicht leiden kannst. Und vorher binde ich dich an dem Stuhl fest und kippe dir ein Liter Kaffee ein, sodass du ja nicht einschläfst.“ Er deutet auf meinen Schreibtischstuhl. Das schafft er nicht mal in seinen Träumen. Nicht Jeff. Ich lecke unbeeindruckt ein paar der Eisreste von meinen Fingern. Als letztes langsam und neckend von meinem Daumen. Ich sehe deutlich, wie er mich dabei beobachtet.

„Wovon träumst du eigentlich nachts?“, frage ich. Jeffs Augenbrauen beginnen zu wackeln und ich habe genug von den Spielereien. Darauf bedacht, das frischbezogene Bett nicht weiter einzusauen, krabbele ich mit erhobenen Händen raus und lasse den Stiel im Mülleimer verschwinden. Meine Hände kleben.

„Ich besorge dir auch Popcorn.“ Ein lahmer Versuch, mich milde zustimmen. Ich versichere ihm die kommende Wochen kein Wort mit ihm zu wechseln, wenn er nicht Ruhe gibt und ich greife nach meinen Kopfhörern. Das ultimative Zeichen dafür, dass ich nichts mehr hören will. Jeff ignoriert es. So wie immer.

„So viel Popcorn kannst du gar nicht besorgen“, sage ich als letztes, schnappe mir meine Jacke und lausche den chilligen Klängen von Twenty one pilots ´Stressed out ´, während ich aus dem Wohnheimzimmer verschwinde. Nach gründlichem Händewaschen gönne ich mir draußen noch eine Zigarette und denke schon wieder an Kain. Das nächste Lied, was einsetzt, ist Elle Kings ´ Ex´s & Oh´s ´. Oh, treffe mich doch endlich der Schlag.
 

Den nächsten Tag strafe ich Jeff mit der angekündigten Ignoranz, ziehe es durch bis Mittag und ergebe mich meinem Schicksal, als am Nachmittag auf wundersame Weise zwei Eimer des süßen Kinofutters auf meinem Bett auftauchen. Auf Kain treffe ich nicht, erwische mich aber des Öfteren dabei, wie ich mich nach dem Schwarzhaarigen umsehe.

Mit Kopfhörern und schwerer, vorgetäuschter Arbeit bleibe ich so lange vor meinem Rechner sitzen, bis die anderen eingetrudelt sind. Kain stellt seine Tasche neben meinem Tisch ab, beugt sich zu mir runter und schaut sich die Datei auf meinem Bildschirm ab. Diesmal ist es nichts weiter als die Abschrift einer Vorlesung. Mein Puls animiert sich dennoch. Ich sehe, wie sich seine Lippen bewegen, während er ein paar der Passagen liest. Verstehen kann ich es nicht, weil mir The Sounds gerade `Something to die for´ entgegen brüllen. ´When something's right, then something is worth to die for. When I feel that something is wrong, then something is worth to fight for´. Der letzte Teil verschwimmt, weil mir der Schwarzhaarige den Kopfhörer vom Ohr streift.

„Ich habe die Klausur aus dem letzten Semester. Der Prof ändert immer nur zwei, drei Fragen. Der Rest bleibt gleich. Möchtest du sie haben?“

„Wie kommst du an die Klausur?“, frage ich verwundert.

„Ich habe Kontakte. Und bin im 3. Semester durchgefallen.“ Nach dem ersten Satz macht er eine theatralische Pause.

„Ernsthaft?“ Ich bin wirklich überrascht.

„Ja, aber es lag daran, dass ich vorher zwei anderen Prüfungen hatte und ich für diese nur noch auf Lücke lernen konnte. Leider hat er dann auch genau nach meinen Lücken gefragt. Es war verheerend.“ Kain macht eine Grimasse und ich kann mir ein Schmunzeln nicht verkneifen.

„Seid ihr fertig? Uni ist für heute vorbei!“ Also schaltet man seinen Kopf ab? Ich sehe verstört zu dem blonden Anhängsel meines Mitbewohners, der sich bereits bequem auf Jeffs Bett drapiert hat. Anscheinend vergisst er regelmäßig, sein Gehirn wieder anzuschalten.

„Los, sucht euch einen Platz“, fordert nun auch Jeff auf, pflanzt sich neben Abel auf das gemachte Bett. Ich lasse mich schweigend auf meines fallen und verschränk die Arme vor der Brust. Alles sieht zu Kain.

„Ich werde mich definitiv nicht neben die zwei pubertierenden Mundakrobaten setzen", lässt Kain verlauten, deutet kopfschüttelnd auf Pat und Patachon und steuert auf mein Bett zu. Mit dieser anschaulichen Erklärung lässt er sich fallen. Direkt neben mich. Ich will protestieren. Mein Bett ist mir heilig. Doch Kain scheint das wenig zu stören, schließlich hat er sich schon einmal ohne zu Fragen einfach hingelegt.

„Ich beiße nicht", flüstert er. Seine Augenbraue wandert neckisch nach oben und ich warte einen Moment auf das verräterische ´Weißt du doch´. Ich setze zur Flucht an. Ich sehe lieber nur die Hälfte vom Bildschirm, also mich diesen Spitzfindigkeiten auszusetzen. Kain packt mein Handgelenk und zieht mich zurück. Mein angedeuteter Nörgelversuch wird von seinem Blick unterbrochen. Ich ergebe mich meinem Schicksal und sehe zu Jeff und Abel. Sie beobachten uns tuschelnd.

„Ich würde gern die ersten 10 Minuten des Films sehen, bevor ich einschlafe", gebe ich leicht genervt von mir. Jeff lacht wissend und kramt nach der Fernbedienung. Der Film beginnt im alten Japan. Die Geisha. Jeff hat seine Drohung wahr gemacht. Ich schaffe eine halbe Stunde, dann merke ich, wie mir die Dunkelheit und der langatmige Film jegliche Aufmerksamkeit raubt. Zu dem benebelt mich Kains Anwesenheit. Abgesehen vom Sex sind wir uns noch nie so lange so nah gewesen. Mit jeder schläfrigkeitsfördernden Minute scheint der seltsam vertraute Geruch des anderen Mannes intensiver zu werden. Berauschender. Beruhigender. Selbst seine Wärme dringt nach und nach zu mir.
 

„Robin?" Kain flüstert meinen Namen. Er wiederholt ihn zwei weitere Mal und ich brauche einen Moment, bis ich registriere, dass es kein Traum ist. Ich bringe nur ein Blinzeln zustande, sehe dabei direkt in den hell erleuchteten Bildschirm und murre. Kain legt seine Hand auf meinem Oberschenkel ab. So, wie es vor ein paar Tagen auch Jeff getan hat. Die Stelle seiner Berührung beginnt sofort zu pulsieren. Schlagartig bin ich wach. Ich spüre, wie sich mein Puls beschleunigt und winkele mein Bein an, um so seiner Hand zu entkommen.

„Wo sind Jeff und Abel?“, frage ich, sehe mich kurz verschlafen um. Erst jetzt wird mir meine vorige Position klar. Ich bin an Kains Schulter eingeschlafen. Kein Wunder, warum es so warm und benebelnd gewesen ist. Wie peinlich. Unwillkürlich streiche ich mir über die Lippen in der Hoffnung nicht auch noch gesabbert zu haben.

„Sie sind gemeinsam auf Klo.“ Seine Stimme vibriert verdächtig. Ich brauche einen Augenblick, um zu begreifen, was er mit der seltsamen Betonung ausdrücken will. Der Gedanke daran, dass sie sich in diesem Moment zusammen vergnügen könnten, erzeugt in mir ein seltsam unwirkliches Gefühl. Ich streiche mir die Haare zurück und lehne mich nach vorn. Das angehaltene Bild im Fernseher flimmert. Die Szene erkenne ich nicht.

„Ich hätte gern noch eine Antwort von dir…“, sagt er ruhig.

„Ja, ich würde die Klausur nehmen. Nur um mal zu gucken.“ Für größere Schummeleien bin ich nicht zu haben. Selbst in der Schule habe ich mir nie einen Spickzettel geschrieben.

„Okay, aber das meinte ich nicht.“ Ich bin mir sicher, dass ich furchtbar dämlich aus der Wäsche gucke. Ich stehe auf dem Schlauch und bin noch nicht richtig wach.

„Lass mich die Frage wiederholen. Was. Willst. Du?“ Sein Blick ist so intensiv, dass ich augenblicklich vom Bett flüchte. Auch, wenn das überhaupt nichts ändert.

„Warum…? Warum machst du das?“, platzt es aus mir heraus und Kain verwundert an.

„Das hier.“ Ich deute zwischen uns hin und her. Obwohl meine Ausdrucksweise mehr als kläglich ist, scheint er zu verstehen.

„Muss ich einen Grund haben?“, gibt er retour und überrumpelt mich damit genauso, wie ich ihn.

„Wäre hilfreich“, kommentiere ich. Kain weicht meinem Blick aus und überlegt. Nur kurz. Nur einen Augenblick lang, doch es scheint mir eine Ewigkeit zu sein.

„Ich hab es dir schon mal gesagt. Ich finde dich anziehend und ich mag den Sex mit dir. Mehr als ich dachte.“ Der letzte Teil zaubert ein deutliches Grinsen in sein Gesicht. Ich kann nur müde lächeln. Diese Begründung ist unbefriedigend. Das erklärt so gut wie gar nichts. Weder die Gründe, wieso er trotz meines bestechenden Ekelseins nett zu mir ist, noch warum er trotz Heterosexualität mit einem Kerlen ins Bett geht. Ein Thema, dass ich bei Gelegenheit ausführlicher erkunden sollte. Auch, warum ich mich so wenig dagegen wehren kann, wenn er mich flachlegt.

„Mach es doch nicht komplizierter als es ist. Was willst du denn von mir hören?“ Ich weiß es selbst nicht. Im Grunde hat er Recht. Ich mache es mir selbst unnötig kompliziert.

„Ich stehe einfach darauf, dass sich ein unscheinbarer Typ wie du beim Sex wie ein Flummi verhält. Das hat was." Hoch amüsiert. Für ihn ist das Alles nur ein einziger Spaß. Wie erwartet. Es ist und bleibt ein Fehler. Nichts weiter als emotionaler Ballast, denn ich weder gebrauchen noch ertragen kann.

„Du bist zum Totlachen", gebe ich trocken und wenig belustigt von mir. Ich verfluche augenblicklich meine akute Humorlosigkeit, ohne die ich jetzt zweifelsfrei selig gen Hölle stürzen wurde. Mir ist auch nichts vergönnt. Kain seufzt.

„Ich mag dich einfach. Verklag mich dafür!“, knallt er mir entgegen. Ich stocke, spüre, wie sich dieses seltsame Gefühl wiederholt in meiner Brust ausbreitet. Er hat das gerade wirklich gesagt? Wir fahren beide zusammen, als die Tür aufgeht und unsere Mitbewohner lachend durch die Tür stürzen. Sie scheinen unsere Anwesenheit im ersten Moment gar nicht wahrzunehmen. Vor allem Abel startet eine weitere Kussattacke, obwohl Kain und ich mehr als eindeutig zu störenden Gaffern mutiert sind. Mein Kindheitsfreund scheint peinlich berührt und weicht dem Angriff wenig dezent aus, in dem er Abels Gesicht zur Seite drückt.

„Hey, ist es okay für euch, wenn wir in unser Zimmer verschwinden? Ihr könnt ja den Film zu Ende gucken“, sagt Abel, sieht in erster Linie zu Kain, der sich fahrig durch die dunklen Haare streicht. Sein Nicken ist nur angedeutet.

„Robin?“ Abels mattblauen Augen erfassen mich. Wenn ich nicht wüsste, was diese Fragerei bedeutet, dann wäre aus seinem nichtssagenden Blick kaum etwas zu erlesen. Ich zucke mit den Schultern.

„Viel Vergnügen…“, gebe ich zu bissig von mir. Jeff bleibt zurück, während sein Partner bereits an der Tür ist. Sein Blick will von mir ein zweites Einverständnis.

„Geh, sonst ist Abel fertig bevor du angefangen hast…“ Schon wieder klinge ich verletzend. Mein Mitbewohner trollt sich und Kain und ich bleiben zurück. Schweigend. Die Luft zwischen uns ist so schwer, dass ich das Gefühl habe, nicht atmen zu können. Ich fahre mir unwirsch durch die Haare. Kain unterbricht mich, bevor ich wirklich ansetzten kann.

„Ich suche mir etwas anderes zum Pennen…“ Er sieht mich an. In meinem Kopf schreit es laut danach, dass ich ihn aufhalten soll. Ich rühre mich nicht, sondern sehe dabei zu, wie er seinen Rucksack aufklaubt und sich ebenso wie ich durch die dunklen Haare streicht, während er an mir vorbei geht.

„Warte“, flüstere ich, jedoch so laut, dass der Angesprochene reagiert. Kain bleibt an der Tür stehen und blickt mir entgegen. Der Kampf in meinem Inneren ist noch in vollem Gange. Unruhe. Das deutliche Schreien in meinem Inneren, was mir sagt, dass ich in meiner Isolation bleiben soll. Das Flüstern, welches mir sagt, dass es mir nicht schadet. Eine Chance.

Ich schließe zu ihm auf, ziehe eine der geklebten Karten aus meiner Hosentasche und reiche sie dem Schwarzhaarigen. Es ist die Drei.

„Frag mich etwas", sage ich und blicke in das überraschte Gesicht des anderen Mannes. Es ist nur ein Schritt. Was soll schon passieren? Kain nimmt mir die Karte nach kurzem Zögern aus der Hand.

„Gab es jemals jemanden, dem du richtig vertraut hast?" Die Frage formuliert sich ohne weitere Verzögerung. Mein Herz macht einen Satz, der für mich einer grobschlächtigen Perforation gleich kommt. Ich habe damit gerechnet, dass er mich nach meinen Büchern fragt. Nach meinen Beweggründen. Vielleicht nach dem versauten Vortrag. Nach allem. Doch das. Es überfordert mich. Ich könnte lügen. Ich könnte flüchten.

„Ja,…" Ich antworte ehrlich.

„Was ist passiert?" Ich will ihm verdeutlichen, dass das eine unerlaubte zweite Frage ist. Möchte mich abwenden. Weglaufen. Ich tue es nicht.

„Er ist gestorben." Kain lässt die Karte sinken. Ich sehe auf. Er hat diesen Gesichtsausdruck, den jeder bekommt, wenn man vom Tod spricht. Es ist diese prekäre Mischung aus Hilflosigkeit und Schuldempfinden, welche unbegründet sind und die Situation immer schwerer machen.
 

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PS: Vielen lieben Dank euch wunderbaren Leserchen und Kommentatoren für eure aufbauenden Worte und Reaktionen. Ihr seid unglaublich und ich möchte euch von ganzen Herzen danken! <3 <3 <3

Ein ungeplantes Kapitel, weil das folgende sonst zu lang geworden wäre. <__< ähm ja.
 

eure del

Ohne Verstand, ohne Mut… aber mit Herz

Kapitel 14 Ohne Verstand, ohne Mut… aber mit Herz
 

Kain macht einen Schritt auf mich zu. Ich weiche unwillkürlich zurück. Ich bin kein Fan von vergangenheitströstenden Umarmungen oder weltschmerzheilenden Gesten. Es änderte nichts. Weder das nagende Gefühl, noch das beißende Unvergessen. Ich brauche das nicht. Er wiederholt die Geste des auf mich zu Kommens. Es ist nur der Ansatz, doch ich flüchte weiter in den Raum hinein, um den größtmöglichen Abstand zwischen uns zu bekommen.

„Nicht“, entflieht es mir. Sein Blick ist mir unangenehm genug. Kains Arme zucken kurz nach oben. Dann lehnt er sich gegen meinen Schreibtisch, lässt seine Hände darauf sinken. Wieder trifft mich dieser intensive Blick, scheint mich zu durchdringen und sorgt dafür, dass sich der Schmerz in meinem Inneren überall hin ausbreitet. Ich kann das nicht.

„Robin…“, setzt er ruhig an.

„Nein!“, sage ich, ohne darüber nachzudenken und seine Worte abzuwarten. Es ist so eindeutig, dass Kain kaum merklich zusammenzuckt. Ich brauche das nicht. Ich möchte nicht darüber reden. Ich will nicht mal daran denken.

„Ich lasse dich in Ruhe, wenn du es mir sagst und ich gehe, wenn du es willst. Ganz einfach“, spricht er diesmal aus.

„Ich brauche eine Zigarette“, murmele ich unwirsch und greife nach der Strickjacke, die auf meinem Schreibtischstuhl liegt. Das Gefühl in meiner Magengegend wird immer unerträglicher. Es ist schwer und drückt Gedanken nach oben, die ich gern tief versunken gelassen hätte. Ich will diese Gefühle nicht und ich will Kain nicht andauernd so labil gegenübertreten. Wozu will er das überhaupt wissen? Was verspricht er sich davon? Seit Jahren versuche ich mein Bestes, nicht darüber nachdenken zu müssen. Nicht darüber zu reden, weil es mich jedes Mal wieder in Stücke reißt. Niemand muss es wissen.

Noch im Gehen fummele nach einer Nikotindröhnung, doch trotz mehrmaligen Abtasten kann ich keine Zigarettenpackung finden. Auf der Hälfte der Treppe nach unten mache ich auf dem Absatz kehrt, bleibe oben wieder stehen und drehe abermals um. Das ist lächerlich. Dann eben keine Zigaretten. Draußen kehrt sich das Gefühl sofort wieder um. Ich will unbedingt Nikotin. Irgendjemand wird schon zu finden sein. Ich laufe zur juristischen Fakultät, in der Hoffnung, dort einen übernächtigten Jurastudenten anzutreffen, der sich mit ein paar Zigaretten und Energydrinks Paragraphen reinzieht. Nichts. Auch der Abstecher zu Abels Homebase, der Fakultät für Prozesswissenschaften, bringt keine Punkte an der Nikotinfront. Langsam werde ich hibbelig, spüre die Nervosität vor allen in meinen Händen. Ich fühle mich ruhelos und schaffe es einfach nicht, meine Gedanken zu ordnen. Ich lasse meinen Blick umher schweifen. Der Sportplatz befindet sich direkt vor meiner Nase. Ein paar Körbe zu werfen, würde mir jetzt helfen. Oder ich sollte einfach eine Runde um den Platz joggen. Die Anstrengung würde mir wahrscheinlich einen Schlaganfall bescheren. Problem gelöst.

Ein letzter Blick zum Feld. Ich atme tief ein. Nächster Halt; der Foodstore. Niemand steht draußen und natürlich habe ich kein Geld in der Tasche. Abgesehen von dreißig lausigen Cent, die in meiner Hose rumkullern. Mir wird langsam kalt und es beginnt zu nieseln. Erst, als ich vor der Fakultät ankomme, in der auch die Campuszeitung untergebracht ist, finde ich endlich jemanden, der den für mich begehrenswerten Glimmstängel in den Händen hält. Ein großer, blonder Typ. Er hat etwas Rockiges. Lederjacke. Enge dunkle Jeans. Er tippt auf seinem Handy rum, während ihn eine zierliche Brünette volltextet. Sie verschwindet ins Gebäude, bevor ich bei ihnen angekommen bin. Ich kenne ihn nicht. Er sieht noch immer auf sein leuchtendes Display. Als ich näher komme, lässt das Licht sein komplett gepierctes rechtes Ohr glitzern.

„Hey, hast du zufällig noch eine Zigarette für mich übrig?“, frage ich gerade heraus und sehe, wie er mich mit blauen Augen anschaut. Er mustert mich. Zweimal. Von unten nach oben und danach noch in die Gegenrichtung. Ich sehe reichlich seltsam aus in meiner kaputten Hausjeans und der wenig eleganten Strickjacke. Der Typ klemmt sich seine Zigarette zwischen die Lippen und zieht aus seiner Jackeninnentasche eine fast volle Packung. Er reicht sie mir. Meine Lunge macht einen freudigen Hüpfer. Seltsames Gefühl. Eins zu null für die Sucht

„Danke.“ Ich zupfe mir eine Zigarette raus. Bevor ich nach Feuer fragen kann, hält er mir ein Zippo hin. Ich spüre, wie seine aufmerksamen Augen meinen Körper abfahren. Diesen Blick hat auch Abel manchmal drauf. Es gefällt mir nicht.

„Was? Reicht dir ein einfaches Danke nicht?“, frage ich spitz, nachdem ich einen tiefen Zug genommen und damit eine Unmenge an Rauch in meine Lungen gesogen habe. Auf dem Gesicht des blonden Mannes bildet sich ein anzügliches Grinsen.

„Von dir würde ich mir auch einen blasen lassen“, sagt er ohne Umschweife und das Grienen wird noch ein Stück dreckiger. Er knallt mir diese Worte einfach so vor den Latz. Gut, dass ich meine Mimik im Griff habe, sonst hätte er gemerkt, dass ich einen kurzen Moment echt perplex bin. Seine Stimme ist rau und lässt den Inhalt noch derber wirken.

„Hat das jemals geklappt?“, frage ich ungerührt und sehe, wie er mit den Schultern zuckt.

„Es gibt immer ein erstes Mal“, raunt er mir zu. Siegessicher und selbstüberzeugt. Ich gebe nur ein abschätziges Geräusch von mir, nehme demonstrativ einen tiefen Zug und reiche ihm die Zigarette zurück. So nötig habe ich es nicht.

„Also kriege ich keinen geblasen?“, fragt er diesmal lächelnd, tippt sich mit der Zungenspitze leicht gegen die Oberlippe.

„Oh, doch. Setz dich hin, beug dich weit nach vorn und dann gib dein Bestes“, kommentiere ich mit bissigen Unterton und sehe, wie er zu lachen beginnt. Seine Hand schiebt mir die Zigarette wieder zu.

„Behalt sie. Du hast sie dir verdient!“ Damit nimmt er den letzten Zug von seiner, hebt die Hand kurz zum Gruß, bevor er sie in die Jackentasche versenkt und verschwindet im Fakultätsgebäude. Ich starre noch einen Moment zur Tür und komme nicht umher, den Kopf schütteln. Sowas ist mir noch nie passiert. Ich inhaliere eine Dosis Rauch, warte auf das beruhigende Gefühl, doch es bleibt aus. Der Rauch verschwindet in den Nachthimmel.

Aus den Augenwinkel heraus sehe ich, wie sich die Tür noch einmal öffnet. Es sind die roten Haare, die mich sofort wieder wegsehen lassen. Konnte der Abend noch schlimmer werden? Ja, kann er. Kains Rothaarige und die zierliche Brünette von eben kommen näher. Ich widerstehe dem Drang, sofort das Weite zu suchen, ziehe mehrere Mal ruhig an der Zigarette und kann nicht verhindern, dass ich zu lauschen beginne. Lästereien und Gehabe. In meinem Kopf echot die Satiremaschinerie. Als ihr Gerede verstummt, sehe ich wieder auf. Sie hat mich entdeckt und schaut mich mit diesem messerversenkenden Blick an. Das reizt mich nur noch mehr.

„Heute wieder Ausgang für die Insassen der Irrenanstalt“, kommentiert sie, neigt sich zu der anderen als würde sie flüstern und spricht es laut aus. Die Brünette kichert, lächelt mir dann aber neutral entgegen.

„Und du kommst von deiner Selbsthilfegruppe für wandelnde Modefauxpas?“, kontere ich. Sie trägt schon wieder die roten Turnschuhe und eine Jacke, die aussieht, wie die gehäutete Version des Krümelmonsters. Nur in Weiß. Mein Blick wandert zu der kleinen Brünetten, die definitiv besser angezogen ist. Ich nehme einen letzten Zug, lasse den Qualm seitlich aus meinem Mund entweichen.

„Frage. Läuft es bei euch auch so ab mit aufstehen und vorstellen? Hi, ich bin Dorothy und ich kleide mich gern wie jemand aus der Sesamstraße.“ Ich drücke die Zigarette an dem dafür vorgesehenen Entsorgungsbehälter aus und beginne die Melodie zu summen. So laut, dass die beiden Frauen es hören.

„Sagt derjenige, der immer noch nicht gelernt hat, zwei gleiche Socken anzuziehen. Das lernt man im Kindergarten.“ Sie deutet auf meine Füße und meint damit, einen Sieg zu erringen. Weit gefehlt.

„Oh bitte! Immer noch nichts Neues gefunden? Da war meine Schwester mit 5 Jahren schon kreativer. Sie hat auch regelmäßig die Sesamstraße gesehen. Vielleicht solltest du wieder damit anfangen. So frei nach dem Motto: Wer nicht fragt… bleibt dumm.“ Ich sehe, wie ihr lipglossbeschmierter Mund aufgeht. Es folgt dennoch keine Erwiderung. Irgendwie enttäuschend. Ich warte noch ein paar Sekunden ab. Ihr Gehirn ist nicht das schnellste. Auch die Brünette schaut erwartend zu ihr.

„Falls dir eine Erwiderung einfällt, behalt es für dich, mich interessiert´s nicht.“ Als ich gehe, höre ich Kains Ex wettern und ihre Freundin nur leise kichern. Kain. Ob sie ihm von unserem Zusammentreffen berichten wird? Ich werde es nicht. Beim Gehen schiebe ich meine kühlen Finger in die Hosentasche und ertaste die Münzen. Der Regen wird stärker, doch ich schaffe es halbwegs trocken ins Wohnheim.
 

Statt direkt zurück ins Zimmer zu kehren, mache ich einen Umweg zur Dusche. Alles Notwendige befindet sich im Spind. Das warme Wasser ist angenehm und schafft es, dass ich für ein paar Minuten jeglichen Gedanken aus meinem Kopf aussperren kann. Jedwede Erinnerung. Jeden Schmerz. Micha schmeißt mich nach einer halben Stunde raus. Mit feuchten Haaren und nur halb abgetrocknet schiebt er mich über den Flur. Er schimpft seine üblichen Tiraden. Auch diese kann ich mittlerweile auswendig. Dann wünscht er mir eine gute Nacht und ich ihm eine geruhsame Zeit. Ich meine es zu tiefst sarkastisch, da ich genau weiß, dass er heute zur Nacht das Foyer besetzt.

Das Licht ist an, als ich die Tür vom Wohnheimzimmer öffen. Kain ist jedoch eingeschlafen. Mit einem Buch auf der nackten Brust ist sein an die Wand gelehnter Oberkörper zur Seite gerutscht. Er atmet ruhig und gleichmäßig.

Ein letztes Mal reibe ich mir die Feuchtigkeit aus den Haaren und werfe das Handtuch auf den Stuhl vor meinem Schreibtisch. Ich gehe auf den schlafenden Mann zu und zögere einen Moment, bevor ich ihm vorsichtig das Buch abnehme. Pathobiochemie. Es ist mein Bibliotheksexemplar. Ich erkenne es an dem abgenibbelten Klebestreifen. Die Standortnummer 313c ist nur noch zu erahnen. Ich lege es zur Seite und sehe auf den friedlich pennenden Kerl, der mein Leben in den letzten Wochen seltsamen durcheinander gewürfelt hat. Nicht er allein. Auch mein quietschfideler Mitbewohner trifft ein großes Maß an Schuld. Die eigene Beteiligung streitet mein Gehirn konsequent ab. Ich bin immer noch der Überzeugung, dass das nicht passiert wäre, wenn Jeff weiterhin sein Scheinheterodasein gefristet hätte. Ganz sicher. In Dinge einreden bin ich spitze. Dennoch sehe ich für einen Augenblick michselbstverachtend zum gegenüberliegenden Bett und wieder zurück zu dem Schwarzhaarigen. Ich werde aus Kain einfach nicht schlau. Was will dieser gutaussehende Blödmann wirklich von mir?

Ich weiß nichts über ihn. Wahrscheinlich ist das der Grund, aus dem ich so sehr an seinen Motiven zweifle. Weshalb ich ihm einfach nicht glaube. Wieder sind es die üblichen, nichtsaussagenden Fragewörter in meinem Kopf. Warum. Wieso. Was. Und dann noch Wohin. Wohin wird uns das führen? Ich denke an die Geschichte ohne Ende. Bisher war ich nicht gewillt, ihr einen Abschlusszu schreiben. Und ich möchte Kain nicht sagen, dass er gehen soll. Die Ruhe in seinem Gesicht lässt ihn um ein paar Jahre junger wirken.

Er rührt sich. Sein Kopf kippt noch mehr zur Seite. Ich strecke meine Hand nach einer verirrten Strähne aus, stoppe wenige Millimeter davor und schalte stattdessen nur das Licht der Nachttischlampe aus. Danach ziehe ich mich leise um, lausche dem ruhigen Atmen des anderen Mannes und bin zu aufgewühlt, um einzuschlafen.
 

Ich erwache schlagartig, als etwas Riesiges und Elefantenschweres ins Wohnheimzimmer stürmt und randaliert. Nach mehrmaligen Blinzeln erkenne ich, dass es nur mein schlanker Mitbewohner ist, der hektisch ein paar Dinge von seinem Schreibtisch in die Tasche wirft. Wieso er das in Godzillamanier macht, ist mir dabei nicht klar.

„Jeff… ein Gang runter… schalten“, entflieht es mir gequält. Am Morgen fehlt mir der Sinn für richtige Grammatik und logische Sätze. Der Blonde dreht sich kurz um, lächelt entschuldigend und wirft dabei ungesehen das Mäppchen mit Stiften an der Tasche vorbei.

„Guten Morgen, ihr Schlafmützen!“ Jeff klingt viel zu fröhlich. Ich murre als Antwort. Er schiebt als nächstes einen Ordner in die Tasche und wirft sie sich über die Schulter. Durch den Schwung kippt eine halbvolle Wasserflasche von Jeffs Schreibtisch und landet auf Kains bedeckte Füße. Nun murrt auch er. Kurz und weniger deutlich.

„Sehen wir uns beim Mittag? Gut. Bis nachher.“ Damit verschwindet er aus dem Zimmer, ohne eine Antwort zu erhalten. Weder von mir noch von dem Schwarzhaarigen, der mittlerweile auch aufsieht. Trotz deutlicher Gegenwehr meines Körpers setze ich mich auf, lehne mich gegen die Wand und kann nur knapp verhindern, dass ich daran wieder in eine liegende Position rutsche.

„Was war das denn?“, brummt es mir vom anderen Bett entgegen.

„Jeffzilla.“ Das Paradebeispiel für die überaus nervige Art meines werten Mitbewohners. Wieso er ein so schrecklich gutgelaunter Morgenmensch ist, lässt sich für mich bis heute nicht erklären. So war es schon früher. Am schlimmsten waren die Klassenfahrten. Meine ungeheure Beliebtheit sorgte jedes Mal dafür, dass nur Jeff freiwillig mit mir auf ein Zimmer ging. Zu meinem Leidwesen quatschte er mich bis tief in die Nacht voll und empfing mich am Morgen mit einem Grinsen, welches ohne Ohren einen perfekten Kreis gebildet hätte. Mittlerweile habe ich ihn in dieser Hinsicht gut erzogen. Tatsächlich bin ich der Überzeugung, dass ich ein weitaus angenehmerer Zimmergenosse bin, als alle glauben. Ich bin genügsam, ruhig und wenn man mich in Frieden lässt, unglaublich pflegeleicht. Ich bin auch kein Morgenmuffel, jedoch gehört es einfach nicht zu meiner Art, nach dem Aufstehen einen freudeversprühenden Eindruck zu machen. So, wie auch sonst eher nicht.

Kain gibt ein seltsames Geräusch von sich und dreht sich auf den Rücken. Die Decke verrutscht, sodass weitere Teile seines Körpers aufgedeckt sind. Er zieht den Arm hoch, legt ihn über sein Gesicht und gibt so den Blick auf seinen Brustmuskel frei. Sein definierter Trizeps, der den Musculus pectoralis major deutlicher hervortreten lässt. Ich sehe auch das Tattoo wieder und kann die Worte noch immer nicht erkennen. Meine Zungenspitze beginnt zu kitzeln. Ebenso, wie meine Fingerkuppen. Es kribbelt sich heiß über meine Handflächen. Ich will ihn berühren, spüre das Verlangen danach ganz deutlich und klar. Mein Blick wandert tiefer. Über die leicht hervortretenden Rippenbögen bis zum Ansatz seiner enganliegenden Shorts. Die Andeutung des Beckenknochens.

„…bin…Spatz?“ Nun sehe ich auf. Ich merke die deutliche Erregung und ziehe unwillkürlich die Beine ran. Kains Augenbrauen wandern fragend nach oben. Erst jetzt wird mir klar, dass ich ihn die ganze Zeit angestarrt habe. Moment, gibt er mir schon wieder Tiernamen? Gerade als ich zu Motzen beginnen will, summt sein Telefon. Ich beiße die Zähne zusammen, sehe, wie sich der trainierte Körper des anderen Mannes vom Bett zum Schreibtisch neigt und fahrig nach dem noch immer lärmenden Kommunikationsgerät tastet.

„Mist, ich muss los. Ich bringe dir heute Abend die Klausur vorbei“, sagt er und robbt aus dem Bett. Meine Antwort ist ein gleichgültiges Murren. Kain bleibt an der Bettkante sitzen, fährt sich mit der Hand über den Nacken. Ich höre, wie ein paar seiner Knochen knacken. Ein leises, aber durchdringendes Knirschen. Der Schwarzhaarige greift nach seiner Hose. Der raue Jeansstoff verursacht ein seltsames Geräusch, als er über seine muskulösen Beine gleitet. Ich sehe dabei zu, wie er den Knopf schließt und sich einen imaginären Fusel vom Bauch streicht. Es folgt das T-Shirt von gestern. In meinem Kopf setzt der Gegenprozess ein und ich ziehe ihm Stück für Stück die Klamotten wieder aus. Meine mittlere Körperregion zuckt, während ich mir in Erinnerung rufe, wie es sich anfühlt, über die definierten Muskeln zu streichen. Er kommt auf mich zu, beugt sich nach vorn. Seine Lippen treffen meine. Nur kurz. Nur gehaucht.

„Hey, ich meinte es ehrlich, was ich gestern sagte“, merkt er an. Kain gab vieles von sich und doch weiß ich genau, was er meint. Ich möchte nicht darüber nachdenken.

„Nenn mich nicht Spatz“, kommentiere ich nur und weiche seinem Blick aus. Ich zucke zusammen, als Kains Arm in meinem Blickfeld auftaucht und er sich direkt neben meinem Kopf an der Wand abstützt. Er beugt sich nach vorn. Ich spüre seine Nähe. Sein warmer Atem streicht über meinen Hals. Meine empfindliche linke Seite. Tausende Blitze, die durch meinen Körper jagen. Kribbelnd. Prickelnd. Elektrisierend.

„Jetzt erst recht.“ Frechheit. Nun schaue ich ihn wieder an.

„Verrecke“ Das Grinsen in seinem Gesicht wird nur ein Stück breiter.

„Lass uns heute Abend Spaß haben… Ohne unnötige Diskussionen. Ohne komplizierte Geschichten. Ohne Verpflichtung“, raunt er mir entgegen und zieht mir dann mit einem Ruck die Decke von den Beinen. Mein fahriger Versuch, es zu verhindern, sorgt nur dafür, dass ich meine Problemstelle offenbare. Kains Augen richten sich auf meine Körpermitte.

„Sofern du so lange durchhältst“, setzt er nach, während er zwinkert zur Tür verschwindet. Ich antworte ihm mit meinen Mittelfingern und lasse mich, als er weg ist, zurück ins Bett fallen.
 

Es dauert einen Moment, bis ich meinen verräterischen Kadaver beruhigt und in den Waschraum befördert habe. Das ist doch alles absurd. Wieso fasziniert er mich so? Es muss dringend aufhören. Beim Zähneputzen denke ich trotzdem wieder an die muskulöse Silhouette des anderen Mannes, frage mich, ob das mit dem heutigen Abend ernst gemeint war und stehe wieder 20 Minuten vor dem Waschbecken, weil die Bedienung der Zahnbürste mit einem Mal schrecklich kompliziert scheint. Erst beim Frühstück funktionieren mein Blutkreislauf und die Verteilung des roten Lebenssaftes wieder tadellos. Den gesamten restlichen Tag frage ich mich, innerlich mit dem Kopf schüttelnd, wohin das führen wird. Ab Mittag wird das imaginäre Hauptwackeln zu einem tatsächlich ausgeführten und bis zum Abend komme ich auf keinen grünen Zweig. Ich ergebe mich den immer stärkeren Nackenschmerzen und dem akuten Wahnsinn. Vor allem, als mich Kain mit einem verdächtigen Fläschchen weiß-gelber Flüssigkeit im Wohnheim empfängt. Jeff ist mit Abel im Kino und Kain macht seine Drohung wahr. Wir haben Spaß. Schmutzigen, klebrigen Spaß. Es ist fantastisch. Es ist geil und vor allem zum ersten Mal unkompliziert. So, wie er es mir am Anfang versprochen hat. So, wie es für uns das Beste ist.

Am Morgen danach schaffe ich es nicht, in den Spiegel zu schauen. Eine Premiere, denn sonst gehen mir die widrigsten Umstände meiner One-Night-Stands am Arsch vorbei. Doch Kain schafft es, dass ich bei der bloßen Erinnerung schamerfüllt anlaufe, wie eine Tomate im Hochsommer. Warum muss der Sex auch derartig befriedigend sein? Wenn der Sex von Jeff und Abel nur halb so gut ist, verstehe ich, wieso die beiden Blonden kaum aus dem Bett kommen. Der amourösen Abwesenheit meines Mitbewohners ist zu verdanken, dass sich der Schwarzhaarige auch am Mittwoch und Donnerstag bei mir blicken lässt. Ohne Ankündigung. Ohne Diskussionen. Ich verfalle nur bei der Erwähnung einer aus den Schoten von Orchideen gewonnenen Soße in eine Art Sexdelirium. Intellekt und Vernunft ade. Anscheinend ist mein Verstand auf dem Wasser treibend zurückgeblieben oder in der klebrigen Süße der Vanillesoße ersoffen. Vielleicht ist genau das gut. Nicht nachdenken. Alles andere verkompliziert es nur, so wie Kain es mir vorgeworfen hat.
 

Am Freitagnachmittag erinnert mich die SMS der hübschen Eisprinzessin daran, dass ich seit Tagen versuche, nicht an das bevorstehende Wochenende zu denken. Ich hadere noch immer mit mir. Mittlerweile habe ich herausbekommen, dass es bei weitem nicht der kleine, süße regionale Wettbewerb ist, von dem die Italienerin gesprochen hat. Es ist eine Messe mit hunderten Ausstellern aus aller Welt. Ihr Wettbewerb ist nur ein Programmpunkt. Solche Veranstaltungen sind nicht mein Ding und mit freundschaftlicher Fürsorge habe ich es auch nicht. Für gewöhnlich bin ich im Finden von Ausreden meisterlich, vor allem, wenn es mir derartige Unannehmlichkeiten erspart. Doch dieses Mal verursacht mir jede halbwegs annehmbare Vermeidungsstrategie Magenschmerzen. Dass mich diese charakterliche Inkonsequenz noch nicht umgebracht hat, ist verwunderlich, denn seit geraumer Zeit spüre ich, wie das imaginäre Geschwür in meinem Verdauungstrakt enorme Expansion betreibt. Auch jetzt wird es in meinem Magen langsam aber sicher flau. Ich sehe einen Moment dabei zu, wie mein unangetastetes Essen lustig vor sich hin dampft und verspüre wenig Drang, mir das Sammelsurium von Erbsen, Möhren und zerfledderten Hähnchenstücken einzuverleiben. Die Gabel lege ich zur Seite, nehme stattdessen das Kommunikationsgerät zur Hand und lese die SMS erneut. Mein Seufzen wiederholt sich laut.

Die Nachricht drückt Lucis Verwunderung darüber aus, dass ich kein weiteres Mal versuche, mich aus der Verabredung heraus zu winden. Jetzt durchschauen mich sogar schon 16-Jährige. Vortrefflich. Automatisch krame ich nach einer der möglichen Ausreden, doch nach der Hälfte lösche ich das Getippte wieder. Augen zu und durch. Tschaka. Wenig enthusiastisch schwingt mein Arm unter dem Tisch zweimal hin und her. So viel zum Thema Anfeuern. Ich bekäme nicht mal Wasser zum Kochen, wenn es auf einer angeschalteten Herdplatte steht. Wozu will sie mich überhaupt dabei haben? Es ist Luci nicht leicht gefallen, mich darum zu bitten. Es war ihr peinlich, das habe ich deutlich gesehen an dem Abend, als sie mich danach fragte. Ebenso wie mir. Obwohl sich mein Gefühlsebene eher Richtung unangenehm bewegt. Meine Anwesenheit bekommt jedes Mal diesen bitteren Beigeschmack und ich stelle mir unentwegt vor, wie mich ihr Vater irgendwann zu Nougat verarbeitet. Röstet. Zerreibt. Walzt. Ich kriege Gänsehaut. Sie hat mich darum gebeten. Nur als moralische Unterstützung. Bei der Kombination `Ich und moralisch` beginne ich unauffällig zu husten. Ich greife missmutig nach meinem Besteck und versenke es in der Reis-Soßen-Mischung. Dreimal in der Pampe gedreht und mein Bedürfnis nach Nahrungsaufnahme sinkt gen Null. Mein Blick wandert zurück zum Handydisplay, welches gerade wieder ausgegangen ist.

„Tief Lucy beschert uns für das Wochenende stürmische Zeiten“, sagt Jeff und lässt sich auf den Stuhl neben mir nieder, während ich mir den ersten Löffel mit Frikassee in den Mund stecke.

„Wie bitte?“, frage ich hektisch und verschlucke mich an mehreren Reiskörnern.

„Mein Klimatologe sagt, dass es heute noch windiger wird. Samstag und Sonntag sogar mit Sturmwarnung“, erklärt mir Jeff, während sich seine Hand beruhigend über meinen Rücken arbeitet. Halb klopfend, halb streichelnd.

„Und wie kommst du… auf Luci?“, frage ich hustend und angele nach meiner Wasserflasche.

„So heißt das Tiefdruckgebiet“, erklärt er wie selbstverständlich. Was fällt mir ein, das nicht zu wissen? Ein Reiskorn hängt quer in meinem Hals. Ich huste gequält weiter, während Jeff meine Situation ausnutzt und mir eine meteorologische Lehrstunde verpasst. Er ist ein Teufel. Eindeutig. Irgendwann tätschelt er mir den Kopf und erklärt mir, dass man sich auf der Internetseite des Wetterinstituts sogar Namenswünsche vormerken lassen kann.

„Bewegend“, kommentiere ich diese seltsame Begeisterung trocken und nehme einen weiteren Schluck aus der Flasche.

„Was denn? Hoch Jeff beschert uns malerischen Sonnenschein und gemütliche 30 Grad. Das klingt doch wundervoll!“ Mein Kindheitsfreund klingt wie der perfekte Wetteransager. Definitiv den Beruf verfehlt. Ich verbinde Steine immer mit dunkel und kalt.

„Oh ja, Hoch Jeff beschert uns Dehydrierung und Dermatitis solaris. Hautkrebs ist der neue Trend für den Sommer“, gebe ich reichlich überspitzt von mir. Mein Mitbewohner sieht mich entgeistert an. Mein Hals brennt weiter und trinken hilft nur mäßig.

„Du bist eindeutig ein Tiefdruckgebiet“, kommentiert mein Kindheitsfreund trocken und starrt mir vernichtend entgegen. Ich erwidere es.

„Ihr macht ja Gesichter, die sind zum Weglaufen“, sagt Kain und unterbricht damit unseren imaginären Blicke-Blitz-Krieg. Er lässt sich auf den Platz mir gegenüber fallen und streckt seine langen Beine so weit in meine Richtung aus, dass wir uns berühren. Ich sehe auf seinen Teller, der ebenfalls mit dem geschredderten Hühnchen gefüllt ist. Statt Reis hat er Nudeln. Am oberen Rand des Tabletts steht ein Schälchen mit Nachtisch. Rote Grütze und Vanillesoße. Ich schlucke unwillkürlich und spüre das Brennen in meinem Hals wieder deutlicher.

„Robin guckt doch immer so. Ich sehe keinen Unterschied zu sonst“, lässt Abel folgen und besetzt den vierten Platz. Er grinst verschmitzt und ich verspüre den Wunsch, ihm das Gesicht in seinem Milchreis zu drücken.

„Du unterschätzt die enorme Anstrengung, die man aufwenden muss, um auszusehen wie das Ebenbild von Grumpy Cat.“ Kains Beitrag.

„Oh ja, er übt schon seit Jahren.“ Nun Jeff. Er versucht sich im selben Moment an der Imitation und scheitert. Es folgt ein Versuch von Abel. Bei ihm sieht alles dämlich aus, was aber definitiv an seinem Gesicht liegt.

„Oh Herr, lasset es endlich Gehirne vom Himmel regnen“, kommentiere ich das dumme Geseiere.

„Apropos Gehirne, fangen wir Samstag ´The Walking Dead´ an?“, flötet Jeff durch den Raum, schaut einmal durch die Runde und erntet nickende Gesten. Außer von mir. Walking Was?

„Ohne mich“, antworte ich ohne eine Begründung abzugeben und ernte nur irritierte Blicke.

„Ich dachte, dir käme ein bisschen Nervenkitzel und Aufregung zu Gute. Blut und Gedärme.“, kommentiert Kain, tuckt seinen Finger in den Nachtisch und sieht mich an, während er ihn übertrieben blutrünstig ableckt. Die Grimassenparade geht weiter.

„Robin hat es nicht so mit Untoten“, mischt sich Jeff ein. Wandelnder Tod. Geschnallt.

„Oh, hast du etwa Angst vor langsamen, dummen Zombies?“, spottet mir das blonde Anhängsel meines Mitbewohners entgegen. Sein Grinsen ist überheblich.

„Wenn es so wäre, würde ich mich wohl pausenlos vor dir erschrecken“, gebe ich retour, sehe mit Genugtuung, wie sein Gesicht zusammenfällt. Kain kichert, während die anderen Beiden abwechselnd grummeln. Diese Geräusche sind die eines Zombies würdig.

„Komm schon. Zombies, wie soll das denn funktionieren?“, versucht es Abel erneut.

„Schon mal etwas von Yoruba und Tetrodotoxin gehört? Voodoo? Nein? Es gibt auch spezifische Tollwutviren, die ebenfalls Symptome verursachen, die mit zombieähnlichen Verhaltensweisen verglichen werden können. Und seit neusten kursieren Badesalze, die schon bei der ersten Einnahme für ein aggressives Delirium sorgen, welches den Konsumenten zu kannibalistischen Verhaltensweisen zwingt.“ Drei Augenpaaren blicken mir entgegen, als hätte ich gerade versucht zu erklären, dass Sailor Moon nach Steven Segals Abbild geformt wurde.

„Himmel, da waren gerade so viele Kuriositäten drin, dass mir ganz schwindelig ist“, sagt Jeff, hält sich demonstrativ an der Tischplatte fest, so, als würde sich der Boden drehen.

„Sagt der Geologe, der mir gerade eine Vorlesung zur Klimatologie gehalten hat“, kommentiere ich. Mein Blick wandert zu Abel, der aussieht, als wären seine Gehirnleistungen noch immer bei Yoruba. Wahrscheinlich fragt er sich, wie man es schreibt.

„Wieso weißt du sowas?“, fragt er dann.

„Wie hast du es an die Uni geschafft, ohne sowas zu wissen?“, frage ich retour und bin wenig freundlich. Das matte Blau von Abels Augen scheint zum ersten Mal zu blitzen. In ihm regt sich Ärger und Wut. Ich kann nur müde darüber lächeln.

„Da wir weder Badesalze konsumiert haben, noch Anhänger des Santeríakults sind, wäre es schön, wenn ihr euch nicht zerfleischt. Robin, die Serie soll wirklich gut sein“, versucht Kain einzulenken und verhindert, dass wir uns noch mehr verdeckte Beleidigungen zuwerfen. Damit erfüllt er sein angeborenes Schlichterdasein mit Bravur. Ich räume meine Sachen zusammen und greife nach dem Tablett.

„Dann genießt euer Freudenfest an Blut und Gedärme. Ich bin nicht da.“

„Suchst du dir was zum Spielen?“, fragt Jeff und klingt dabei irgendwie verschwörerisch. Für einen Moment wackeln sogar seine Augenbrauen.

„Ich bin einfach nur weg!“, gebe ich ausweichend von mir.

„Nicht im Wohnheim?“

„Nicht auf dem Campus“, entflieht es mir knurrend. Die erneute Verwunderung in den drei Augenpaaren lässt mich genervt mit meinen eigenen Achterbahnfahren. Ohne weitere Erklärungen gehe ich.
 

Kain holt mich an der Geschirrabgabe ein. Ich schupse meine Essensreste in den vorgesehenen Abfalleimer und lege das Tablett auf dem Band ab.

„Tollwutviren. Ehrlich?“ Ich hatte mehrere Vorlesungen zu diesem Thema in den letzten beiden Semestern. Sehr interessant. Der Schwarzhaarige stellt sein Plastikteil neben meinem ab und streicht sich über den Bauch. Im Gegensatz zu mir hat er aufgegessen.

„Die Virologie hat große Schnittmengen mit meinem Studiengang und der Santeríakult kommt übrigens aus Kuba. Nicht aus Nigeria, wie der Kult der Yoruba. “

„Du stehst drauf, andere zu berichtigen, oder?“

„Oh ja, das macht mich total heiß“, säusele ich genervt aber absichtlich provozierend.

„Gut zu wissen. Und der Hauptkult der Santería basiert auf den Traditionen der Yoruba. Regla de Ocha.“, raunt er mir entgegen, legt, bevor er den fremdsprachlichen Begriff wiedergibt, seinen Arm um meine Hüfte. Ich bekomme sofort Gänsehaut, versuche mich aus dem Griff zu befreien und scheitere. Ich bin stillschweigend beeindruckt und versuche mir das nicht anmerken zu lassen.

„Bitte, sorgt dafür, dass die Zombies Abel zuerst fressen und dann dich“, sage ich nur, sehe, wie Kain grinst und mir als Antwort zu flüstert, dass die Zombies nie einen ihresgleichen fressen würde und er selbst nicht schmecke. Ein Scherzkeks. Er lässt von mir ab, als wir auf andere Studenten treffen.

„Wo bist du morgen?“ Kain lässt nicht locker.

„Musst du nicht wissen“, wiegele ich ab. Die unglaubliche Blöße, die ich mir geben würde, wenn ich ihm erkläre, dass ich zu einem Eiscremewettbewerb gehe, bei dem eine Teilnehmerin ein Eis entworfen hat, was dank Kains Bonbontick entstanden ist, würde mich für ewig zeichnen. Apropos Bonbon. In diesem Moment wickelt er sich einen der Ingwerzucker aus. Meine Zunge beginnt zu kribbeln. Wir bleiben an einem Mülleimer stehen und Kain beginnt, seine Tasche zu leeren. Eine handvoll Verpackungspapiere. Quittungen und anderes.

„Wieso machst du so ein Geheimnis daraus? Hast du ein Date?“, fragt er witzelnd. Die Tatsache, dass er dabei klingt, als wäre das vollkommen ausgeschlossen, verärgert mich.

„Und wenn es so wäre?“, kontere ich säuerlich und gehe an dem Schwarzhaarigen vorbei, der überrumpelt am Entsorgungscontainer zurückbleibt. Ich gehe ins Wohnheim, setze mich vor meinen Pc und ärgere mich über meine Aussage. Warum habe ich das nicht ignoriert? Jetzt denkt er sicher sonst was. Ich echauffiere mich noch immer, als Jeff am Abend aufschlägt und auf die Idee kommt, seine Musikanlage anzuschmeißen. Mehrere Stunden. Rihanna. Adele. Taylor Swift. 5 Seconds of Summer. Wie konnte mir jahrelang entgegen, dass mein Kindheitsfreund schwul ist? Ich denke kurz an meine Schwester, die mir noch immer nicht geantwortet hat. Keine Seltenheit, aber bei dem Gedanken an das, was sie aushecken könnte, wird mir angst und bange. Als Rihannas `Umbrella´ einsetzt, suche ich das Weite. Die Vermeidung des penetranten Ohrwurms, der mir dieses Lied verursacht, hat höchste Priorität. Mit dem Resultat, dass ich ´ella ella ay ay´-summend unter der Dusche stehe. Danach setze ich mir Kopfhörer auf und schaffe es, ein paar Zeilen des von Brigitta erwarteten Exposés zu tippen. Diese kurze und knappe Zusammenfassung bereitet mir jedes Mal wieder Schwierigkeiten. Den Inhalt von 300 Seiten in nur zwei bis drei Sätzen wiederzugeben, ist nicht leicht. Diesmal fällt es mir besonders schwer und das obwohl es nur ein Entwurf ist, der nicht an den Verleger geht, sondern nur an meine Lektorin. Ich bin mir einfach des Endes noch nicht sicher. Hoffnung oder Enttäuschung? Realismus gegen das konventionell gewünschte Happy End. Wieso sollte sich Martin für Ryan entscheiden? Aus Verbundenheit. Treue. Liebe? Es gibt einfach keinen Grund.

Jeff tippt mir auf die Schulter, um mir zu verdeutlichen, dass er ins Bett geht. Ich folge ihm ein paar Minuten später.
 

Der Samstag beginnt mit ausschlafen und seltenen gemeinsamen Frühstück. Brötchen mit Marmelade und Käse. Am Abend taucht als erstes Kain auf, schmeißt sich demonstrativ auf mein Bett und zieht erneut das Buch über Pathobiochemie zu sich heran. Ich sehe auf die Uhr. Ich brauche etwa eine Stunde zum Messegelände und dann noch etwa 15 Minuten, um die richtige Halle zu finden. Das Gelände ist riesig und das Wetter nicht auf meiner Seite. Wie von meinem zimmereigenen Wetterfrosch angekündigt, hat es sich in der Nacht noch weiter zugezogen. Regen. Wind. Zwischendurch sogar etwas Hagel. Im Laufe des Tages hört es sich mehrere Male danach an, dass sich bei der nächsten Böe das Dach verabschiedet. Jeff zittert vor Begeisterung. Ich eher vor der Tatsache, dass die nächste Nacht ungewöhnliche naturecht werden könnte.

„Bist du dir sicher, dass du da raus willst?“ Jeff deutet bedeutungsschwanger zum Fenster. Zur lautmalerischen Unterstützung ertönt ein leises Donnern. Meine meteorologischen Grundschulkenntnisse sagen mir, dass das nahende Gewitter noch eine Weile auf sich warten lässt. Trotzdem muss ich mir eingestehen, dass ich meinen Hintern lieber gar nicht von diesem Stuhl bewegen will.

„Bisschen Regen und Wind bringen mich nicht um“, antworte ich wenig überzeugend, schiele zu meinem Regenschirm, der bereits vorsorglich am Türgriff hängt.

„Unvernunft ist öfter Todesursache als man denkt!“, merkt Kain an. Er sieht extra nicht auf, um besonders desinteressiert zu wirken. Ich ignoriere ihn.

„Wir können dich schnell fahren. Mein Auto steht auf dem Parkplatz“, schlägt Jeff vor und ich schaue ihn so genervt an, dass er abwehrend die Hände in die Höhe hebt und sich auf sein Bett fallen lässt. Zur Verabschiedungen erhalte ich malerische Kommentare über den möglichen Ausgang eines Zusammentreffens mit umgestürzten Straßenlaternen oder entwurzelten Bäumen. Passend zur Zombieserie besonders blutig und amputationsverherrlichend. Ein einfaches ´Sei vorsichtig´ hätte mir gereicht. Im Foyer bleibe ich stehen. Die gesamte Fensterfront sieht aus wie eine stilisierte Variante der Niagarafälle. Mein Enthusiasmus geht augenblicklich baden.

Die Bewegungen hinter mir ignoriere ich. Jedenfalls so lange, bis Micha neben mir auftaucht.

„Willst du da etwas raus?“ Der Wind peitscht eine Salve Regen gegen die Scheibe. Es ist so laut, dass ich den letzten Teil von Michas Frage gar nicht verstehe. Er blickt mich fragend an, beißt von seiner Banane ab und ich schaffe es nicht, einen vielsagenden Blick zu unterdrücken. Ich taste nach meinem Regenschirm. Nichts. Wahrscheinlich baumelt er munter an der Türklinge. Missmutig trete ich den Rückweg an und spiele im meinem Kopf schon die bevorstehende Konversation ab. Hast du es dir anders überlegt? Nein. Bla. Bla. Bla. Ich sehe verwundert auf, als mir Kain im Flur entgegen kommt. Um seinem Finger schwingt mein Regenschirm.

„Under my umberella… ella ella, ay ay ay…”, singt Kain leise. Bitte nicht. Ich gehe auf ihn zu und er macht demonstrativ ein paar Schritte zurück.

„Nicht witzig.“ Kain lässt sich davon wenig beeindrucken.

„It's raining, raining. Ooh baby, it's raining, raining. Baby, come in to me. Come in to me…”, setzt er das Lied fort, während ich es stückweise schaffe, näher zu kommen. Kain ist nicht Rihanna, aber seine Stimme ist wohlklingend.

„Kain, komm schon…ich muss wirklich los. Wer weiß, wann ich ankomme…“ Ich mache keine Anstalten, nach dem Schirm zu greifen, da ich genau weiß, dass ihn Kain sofort wieder wegziehen wird. Auf solche Kindereien habe ich keine Lust.

„Na dann sag mir doch, wo du hin willst. Ich kann dich auch fahren… dann brauchst du keinen Umberella…ella ella ay ay ay.“ In meinem Kopf echot das Original weiter. Das Lied lässt mich nie wieder los. Ich spüre schon, wie es sich in mein Gehirn frisst. Ich seufze ungeduldig und extrem frustriert auf.

„Okay. Okay. Hast du dein Handy dabei?“

„Ja.“ Kurz angebunden. Der Schwarzhaarige reicht mir endlich den Regenschutz.

„Sei vorsichtig“, sagt er, lächelt und verschwindet dann summend ins Wohnheimzimmer. Als ich am Bus stehe, bekomme ich die erste Nachricht

-Unvernunft muss bestraft werden. Melde dich, sonst mache ich es- Deutliche Drohung. Ich antworte schon aus Protest nicht.
 

Ich brauche die errechnete Stunde und finde die Halle schneller, als ich mir zu getraut habe. Wahrscheinlich liegt es an meinem ausgeprägten Orientierungssinn oder an der übermäßigen Beschilderung. Die in meinem Kopf geführte Debatte entscheidet sich zu meinen Gunsten. Ich bin großartig und schaffe es für ein paar Minuten, meine Nervosität zu überspielen. Als ich nach dem Bezahlen das gutgefüllt Foyer betrete, sieht es schon wieder ganz anders aus. Die vielen Menschen, die trotz des Wetters hier hergefunden haben, machen es mir schwer, irgendwas zu erkennen. Ich ziehe mein Handy hervor und finde zu meinem Glück eine SMS von Luci, die mir halbwegs erklärt, wie ich zu ihrem Bereich komme. Natürlich einmal durch die komplette Halle. Ich besorge mir einen Lageplan, der unbehelligt auf einen der Stehtische liegt, neben dem eine strengwirkende Hostess steht und frage mich beim Davongehen, ob der hätte bezahlt werden müssen. Da trotz mehrmaligen Umdrehen keiner der Sicherheitskräfte auf mich zu gestürmt kommt, ordne ich den Plan unter Meins ein und mache mich auf die Suche. Die Halle ist gigantisch. Überall stehen Stände mit hektisch wuselnden Menschen. Besucher drängen sich an die Theken und überall werden Probenlöffel rumgereicht. Ich schiebe mich durch die Massen und habe das Gefühl, keinen Meter weiter zukommen. Ich hasse es. Wirklich. Meine Laune hat ihren Tiefpunkt erreicht, als ich bei einer Bühne ankomme. Ein Blick nach links und nach rechts. Beim letzten sehe ich endlich einen Bereich, der nach mobilen Küchen aussieht.

Ich erkenne sie an dem langen, geflochtenen Zopf, der wie ein Markenzeichen ihren Rücken entlang fällt. Die weiße Schürze betont ihre schlanke Taille. Für einen Moment sehe ich dabei zu, wie Luci hektisch ein paar Utensilien hin und her schiebt. Einen riesigen Löffel aus Holz. Eine Schöpfkelle. Danach knetet sie ihre Hände, reibt sie an einander. Sie ist nervös. Ich schleiche auf die Nische zu und klopfe aufmerksamkeitsfordernd gegen die Holzpaneele.

„Bedienung! Einen Erdbeerbecher. Zack Zack!“, sage ich mit verstellter, tiefer Stimme, sehe, wie Luci zusammenfährt und mich im ersten Moment entgeistert ansieht. Ihr Körper entspannt sich, als sie mich erkennt. Mit einem Lächeln kommt sie auf mich zu.

„Sehr witzig, du Machoverschnitt“, murmelt sie trocken. Sie bleibt unschlüssig vor mir stehen. Unwillkürlich beginne ich mich nach ihren Vater umzuschauen. Er ist nirgendwo zu sehen und das nimmt mir sofort etwas Anspannung.

„Um glaubhaft zu klingen, hättest du einen Nuss-Becher bestellen sollen. Das ist die Sorte für echte Männer“, setzt sie nach, versprüht diese feinen Provokation, die mich schon beim ersten Mal so gereizt hat.

„Autsch. Hätte ich das gewusst, dann hätte ich mich besser bewaffnet.“

„Entschuldige.“ Nun legt sich dieser naive Ausdruck auf ihr Gesicht, der mir jedes Mal wieder verdeutlicht, wie viel jünger sie ist.

„Ihr habt euch ja einen tollen Tag ausgesucht. Hoffentlich gehst du nicht baden", kommentiere ich und verkneife mir auch die kleine Gemeinheit nicht.

„Da bekommt Hals- und Beinbruch viel mehr Gewichtung", gibt sie übertrieben positiv von sich. Was für ein Schenkelklopfer. Ich lache nur aus Höflichkeit. Für einen kurzen Moment herrscht eine seltsame Pause, dann schlingen sich ihre schlanken Arme um mich.

„Danke, dass du gekommen bist.“ Sie drückt mich fest. Ich versteife mich für einen kurzen Moment, atme geräuschlos ein und lege dann meine Hand an ihre Schulter.

„Klar, du hast mir Eis versprochen.“

„Ja, so viel du willst. Bis du kotzen musst“, murmelt sie gegen meine Schulter und macht keine Anstalten, mich loszulassen.

„Okay, das muss nicht sein“, gebe ich lachend von mir und patte ihr kurz über den Kopf. Sie löst sich von mir und obwohl sie nicht aufschaut, sehe ich feine Röte auf ihren Wangen.

Danach schweift ihr Blick zu der Kochkabine und seufzt. Ihre langen, vollen Wimpern sind geschminkt. Nur dezent, sodass ihre schönen grünen Augen betont werden.

„In 20 Minuten beginnen wir mit der Zubereitung und danach kommt die große Verkostung. Wie konnte ich mich nur überreden lassen? Ich bin ja so aufgeregt. Ich sterbe gleich.“ Nervös beginnt sie sich auf der Lippe rum zu kauen. Lena macht das auch manchmal. Unbewusst hebe ich meine Hand und streiche ihr mit dem Daumen an der Unterlippe entlang.

„Hör auf. Du hilfst deinen Vater seit Jahren bei der Herstellung der besten Eissorten des Planeten. Du kannst das im Schlaf. Also hau die Verkoster einfach mit deinem Talent um. Für den Fall aller Fälle hast du ja noch den gigantischen Holzlöffel da.“ Ich deute in die Nische.

„Lucrezia,…“ Die Stimme ihres Vaters. Ich ziehe meine Hand ruckartig weg.

„Bouna sera, Robin.“ Die italienische Abendbegrüßung setzt er hinterher, als er bei uns angekommen ist. Ich gebe eine fahrige Erwiderung.

„Ich wusste nicht, dass du auch hier sein wirst. Hat Luci dich eingela…“

„Zufall. Er ist nur wegen der Messe hier“, entflieht es der jungen Frau prompt. Ich blicke ihr fragend entgegen. Sie hätte mich einweihen sollen. Ich bin kein Fan von Heimlichtuereien.

„Ist das so?“

„Oh ja, ich bin Eismessen-Fanatiker. Eis ist mein Leben. Es gibt nichts Besseres. Gar nichts“, kommentiere ich ein klein wenig übertrieben. Lucis Vater mustert mich aufmerksam und blickt zu seiner Tochter, die in diesem Moment verräterisch grinsend zur Seite schaut. Ich sehe mich augenblicklich schreiend und heulend im Ofen rösten. Jetzt werde ich Nougat. Ganz sicher. Wenn ich Glück habe, macht er aus mir Krokant. Das würde mir wenigstens zwei zermürbende Arbeitsschritte ersparen.

„Va bene. Luci, du solltest langsam mit den Vorbereitungen beginnen. Die Punkterichter haben sich schon bereit gemacht. Robin, komm doch nachher zu unseren Stand.“ Ein definitiver Rauswurf für mich und eine Mahnung an seine Tochter.

„Ich habe schon längst alles rausgelegt“, zetert sie, während er sie in die Nische schiebt. Es folgen ein paar italienische Worte und ich mache mich vom Acker. So, wie gewünscht. Bis zur Verkostung von Lucis Kreation dauert es noch. Mein Blick wandert durch die Menschenmasse und unwillkürlich zum Ausgang. Dann zu den Notausgängen. Ich zwinge mich zur Ruhe. Ich muss nichts weiter tun, als Eis kosten und wenn ich etwas kann, ist es Eis essen. Was also ist mein Problem? Eine Gruppe Teenager kommt mir entgegen. Ich drehe mich um und stolpere über eine doppelt so große Ansammlung an Asiaten. Solche Veranstaltungen sind nicht mein Ding. Ich war einmal auf der Buchmesse und danach nie wieder. Nirgendwo konnte man fünf Minuten in Ruhe stehen und gucken. Geschweige denn mit jemanden reden. Hier ist es ähnlich. Es ist laut und es sind seit meiner Ankunft noch mehr Besucher gekommen. Anscheinend stört sich niemand am schlechten Wetter. Ich bleibe vor einem Stand stehen, der Stieleis aus pürierten Gemüsesorten verkauft. Eis mit Rotkohlgeschmack? Wenigstens die Farbe ist ansprechend, wirkt aber wenig natürlich. Anscheinend sehe ich so interessiert aus, dass eine junge Frau zu mir kommt und überschwänglich zu erklären beginnt, welche Verfahren verwendet werden und welche zusätzlichen Geschmackstoffe in den Sorten enthalten sind. Karotteneis mit Orangensaft. Das Spargeleis wird mit Rhabarbersaft abgerundet. Ich nicke freundlich und gebe dann das russische Wort für Eis von mir, betone es fragend. Danach habe ich meine Ruhe. Ich schiebe mich weiter durch die Massen und verspüre das dringende Bedürfnis, mich an einen Ort zu begeben, an dem niemand anderes ist. Die Sahara vielleicht oder auch die Arktis. Im Moment nehme ich sogar einen großen Karton. Hauptsache allein.

Jemand drückt mir ein Probierstäbchen mit weißer cremiger Masse in die Hand. Das Italienisch, welches mir der überaus grinsende Typ entgegenwirft, ist schnell und unverständlich. Ich höre das Wort Knoblauch in dem Moment, in dem ich an der Creme rieche und genauso schnell habe ich ihm das Stäbchen wieder in seine Hand gedrückt. Knoblauch im Eis. Niemals. Gerade als ich einen Zwischengang entdecke, in dem ich einen Moment atmen kann, beginnt mein Telefon zu klingeln. Kains Name taucht auf meinem Display auf. Ich seufze schwermütig und gehe ran.

„Hello. It´s me…“, summt es mir a la Adele entgegen. Ich hebe von Kain ungesehen meine Braue und antworte nicht.

„Hello from the other side…“, fährt er trällernd fort.

„Ernsthaft?“, frage ich unterbrechend, bin minimal amüsiert und beginne augenblicklich mit einem inneren Exorzismus. In nomine Patris et Filii, et Spiritus Sancti. Böser Robin. Böser Robin.

„Adele ist im Moment der letzte Schrei!“, gibt Kain erstaunt von sich. Recht hat er. Mir ist auch gerade nach lautsprechendem Kundtun, aber weniger des Gefallens halber. Jeff spielt diesen Song seit Wochen hoch und runter.

„Was willst du schon wieder?“, entflieht es mir und ich klinge zu meinem Leidwesen, weniger genervt, als mir lieb ist.

„Ein Lebenszeichen. Außerdem haben wir eine Pause eingelegt vom vielen Blut und der Gehirnmasse. Jeff und Abel besorgen gerade etwas zu essen.“ Wie makaber. Trotzdem spüre auch ich langsam Hunger. Ich bin mir nicht sicher, ob ich hier etwas finde, was nicht gefrostet und irgendwie süß ist.

„Außerdem versuchen wir noch immer herauszubekommen, wo du bist“, flötet mir der Schwarzhaarige von der Gegenseite zu, macht eine kurze Pause und plappert dann weiter, während ich mich aus dem Gang wagend durch eine Traube Menschen zwänge.

„Jeff meint, du bist beim Speed-Dating. Abel denkt, du züchtest bösartige Superviren und ich glaube, dass du auf einer Comic-Konvention bist, verkleidet als Poisen Ivy.“ Eine Rothaarige. Interessant.

„Das kriegst du nie raus“, kommentiere ich verschwörerisch, fahre zusammen, als der Aussteller neben mir plötzlich ´Lecker Lecker´ zu brüllen beginnt. Das hat garantiert auch Kain gehört.

„Ich hab keine Zeit mehr “, sage ich schnell und würge ohne auf die Reaktion des anderen zu warten das Gespräch ab. Ich sehe auf die Uhr, versuche einzuschätzen, wo ich mich gerade befinde und mache mich dann auf den Rückweg zur Bühne, auf der Luci gleich ihr Tonkabohnen-Ingwer-Zitroneneis präsentieren wird. Ich bin ehrlich gespannt. Vor allem will ich unbedingt wissen, wie es schmeckt. Unwillkürlich breitet sich das Aroma von Kains Ingwerbonbons in meinem Mund aus und nicht nur das.
 

Ich komme zu spät. Die Kandidaten stehen bereits in den hergerichteten Arbeitsbereichen auf der Bühne. Fünf Kreatoren sind im Finale. Luci ist die zweite von Links. Ich suche mir einen Platz in den hinteren Reihen, sitze neben einer älteren Frau, die einen blumigen Duft verströmt. Definitiv eine Note von Lavendel. Ich denke sofort an meine Italienreise, an die kleine Stadt in der Nähe von Florenz. San Casciano in Val di Pesa. Ich kam in einem privatvermieteten Zimmer in einem alten Bauerhaus unter. Die Besitzerin betrieb ein kleines Lokal. Ihre Spezialität war Lavendelblüteneis mit Honig. Es war ein wahrhaftiger Traum.

In der letzten Runde dürfen die Finalisten ihr Dekorationsgeschick unter Beweis stellen. Sie kreieren einen Eisbecher mit der entworfenen Kreation als Hauptbestandteil. Luci dekoriert mit feinsten Fäden aus kandierten Ingwer und geriebener Zitronenschale. Dezent, aber verheißungsvoll. Auch die anderen Ergebnisse können sich sehen lassen. Ich würde nicht Richter sein wollen, aber nur zu gern Verkoster. Das Glück habe ich nicht. Luci schlägt sich gut. Nach der Runde müssen drei Leute gehen. Die kleine Italienerin ist nicht dabei. Ihr letzter Gegner wartet mit eine Kombination aus karamellisierten Salzbrezeln in Honigeis auf. Auch das klingt unglaublich lecker. Ich lausche den Ausführungen über die Entstehung ihrer Ideen, beginne zu Schmunzeln, als Lucrezia eine Geschichte ganz ohne Streit und meiner Wenigkeit zum Besten gibt. Ich fühle mich, wie eine kassierte Akte oder zumindest wie eine komplett geschwärzte Seite. In Anbetracht der sengenden Blicke ihres Vaters nehme ich es ihr nicht übel. Eine kurze Beratung und sie krönen meine Favoritin zur besten Jung-Eiskreatorin mit einem Sinn für feine Kombinationen und dem Gespür für modernes Speiseerlebnis.

Gratulanten und Beifall. Souverän gemeistert. Beneidenswert. Ich wäre da oben wirklich gestorben. Ich bleibe so lange sitzen, bis sich der größte Ansturm erledigt hat und schleiche dann zu der anliegenden Nische. Dort warte ich auf Luci und ihren Vater, die voller Stolz und strahlend nach hinten gehüpft kommen. Beide wohlgemerkt. Ein witziges Bild. Der von uns im Stillen genannte Eiskönig trägt den leeren Metallbehälter zur Anrichte. Luci kommt direkt auf mich zu, grinst bis über beide Ohren und fällt mir um den Hals. Ich gratuliere ihr, zurückhaltend, denn ich spüre den deutlichen Blick ihres Vaters auf mir.

„Oh, warte….“ Sie drückt mich weg, stürmt mit wehendem Zopf zur Nische und sucht nach einem Pappbecher. Als sie zurückkommt, hält sie mir den gefüllt Becher vor die Nase.

„Sieht nicht mehr schön aus, aber es schmeckt.“

„Ich bin gespannt.“ Ich ziehe den Löffel raus, betrachte die gelbliche Creme und fühle mich beobachtet. Lucis Gesichts ist angespannt. Ich koste die cremige, angetaute Masse und genieße das vielfältige Aroma, welches sich auf meine Zunge ausbreitet. Erst Süße. Hauchzart erblüht sie auf meiner Zungenspitze, kitzelt sich langsam und intensiv über jeden Millimeter meiner Geschmacksknospen. Bis die feinherbe Säure von Zitrone und Ingwer die Seitenstränge meines Halses in Flammen setzt. Prickelnde Schärfe rundet es ab. Es ist eine Erfüllung. Es ist mir vertraut. Das Einzige, woran ich denke, ist der Schwarzhaarige. Lucis Stimme reißt mich aus den Gedanken.

„Und?“ Ich lasse sie noch einen Moment zappeln, in dem ich meinen Kopf hin und her neige. Abwägend. Kritisch. Dann tunke ich den Löffel erneut ein, um noch mehr zu probieren.

„Oh, du bist schlimmer als jeder Kritiker.“

„Hey, es ist nun mal nicht leicht, mich zufrieden zu stellen.“ Lucy boxt mir gegen den Arm und weicht meinem Blick aus.

„Es ist fantastisch. Wirklich verdient gewonnen.“ Die kleine Italienerin lächelt. Ich kann deutlich sehen, wie sehr sie sich darüber freut, gewonnen zu haben.

„Hey. Was war das vorhin?“, frage ich, deute in die Richtung ihres Vaters. Luci folgt meinen Blick und seufzt.

„Entschuldige. Er ist mein Dad. Er denkt doofes Zeug.“ Ich sehe zu ihrem Vater, der tunlichst versucht, sich unauffällig zu verhalten. Wie ein tanzender Bär im Clownskostüm. Eine kleine Gruppe kommt an uns vorbei. Der überwiegend männliche Teil beginnt sich seltsam zu artikulieren, als sie Luci entdecken.

„Das ist sein Job. So steht es in der Berufsbeschreibung. Väter müssen das… vor allem die von kleinen Mädchen.“ Den letzten Teil nimmt mir Luci definitiv übel. Ihr Blick durchbohrt mich. Väter passen auf ihre Kinder auf. So ist es nun mal. Jedenfalls in den meisten Fällen. Es gibt immer Ausnahmen. Meine Gedanken werden schwermütig.

„Ich sollte los.“ Ein Blick auf mein Handy nennt mir Uhrzeit und das Eintreffen neuer Nachrichten. Ich lecke den Rest Eis vom Löffel. Sie bleiben bei dem Stand gegenüberstehen, sehen immer wieder zu uns rüber, bis sie nach kurzem hin und her genügend Mut gesammelt haben.

„Machst du hier mit?“, fragt ein dunkelhaariger Typ mit Kappi und weiter Hose. Ich war der Überzeugung, dass der Trend zu vollen Windelhosen vorbei ist. Ich habe mich geirrt. Er setzt sein schmierigstes Lächeln auf und ignoriert meine Anwesenheit. Die Typen bekomme ich auch ohne Hilfe verprügelt. Alle samt.

„Nein, ich stehe hier zur Deko. Mach ne Fliege, du vergraulst mir zahlende Kundschaft“, kommentiert die kecke Italienerin und deutet dann vielsagend auf ihre komplette Patissierbekleidung. Ich kann mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. Sie ziehen Leine und ich bin definitiv erheitert.

„Was?“, fragt sie grimmig schauend, ich hebe abwehrend meine Hände in die Luft, so, wie es vorhin Jeff getan hat und deute danach kurz an, dass meine Lippen versiegelt sind. Ich werde mich schwer hüten. Ich hatte schließlich meine verbale Kastration schon. Nusseis! Von wegen.

„Hey, danke, dass du...“, wiederholt sie, legt ihre Hand an meinen Arm. Ich unterbreche sie.

„Schon gut… Feiere deinen Sieg gebührend. Lass dich von deinem Vater einladen, oder sowas.“, schlage ich vor und weiche ihrem Blick aus.

„Ja, zu einem Eis vielleicht. Robin,…“, witzelt sie und klingt bedrückt, weil ich sie schon wieder abwürge.

„Wir sehen uns…“, sage ich schnell, sehe, wie sie daraufhin kurz nickt. Ich richte meinen Handgruß an ihren Vater und marschiere in die gutgefüllten Gänge der Messehalle.

Als ich endlich draußen bin, atme ich die kühle klare Luft ein, ziehe sie förmlich in mich hinein und bin erfreut, dass es nicht mehr regnet. Windig ist es immer noch. Ich laufe zur U-Bahn, wähne mich in voreiliger Zufriedenheit als prompt ein Zug kommt und werde eines Besseren belehrt, als er nach 5 Stationen stoppt. Kein Weiterkommen. Teile der U-Bahnhöfe sind mit Wasser vollgelaufen und es gibt Probleme mit der Elektrik. Großartig. Oben suche ich nach möglichen Bussen, doch keiner fährt auch nur in die Nähe des Campus. Missmutig schlage ich die grobe Richtung zu Fuß ein. Unterwegs vibriert es erneut in meiner Tasche. Schon wieder eine SMS. Sie ist von Kain. Wie gewohnt seufze ich genervt auf, aber dennoch bildet sich ein Gefühl in meiner Brust, welches ich nicht zuordnen kann. Ich lese Kains Frage nach dem Zustand meiner Gliedmaßen und drücke dann auf den grünen Hörer.

„Na, ist dir schon was auf den Kopf gefallen?“, meldet er sich prompt und ich weiche in diesem Moment ein paar Mülltüten aus, dir mir entgegen geflogen kommen. Der Empfang ist bescheiden.

„Willst du mich jetzt alle halbe Stunde nerven?“, frage ich seufzend.

„Ich habe dir doch versprochen, dass ich das tue, wenn du wirklich so verantwortungslos bist und bei dem Wetter draußen rumrennst. Ich hätte nicht gedacht, dass du so unvernünftig bist.“ Langsam nervt es mich. Ich lebe noch und ich habe vor, das noch eine Weile zu tun. Trotz Wind und Wetter.

„Ich schlafe mit dir, trotz aller Warnungen, wenn das mal nicht die Unvernunft schlechthin ist“, flüstere ich mehr zu mir selbst, als zu dem anderen.

„Wie bitte?“, fragt er und ich höre die deutliche Erregung in seiner Stimme. Die ganze Zeit herrscht schlechter Empfang, aber das hat er gehört. Ich blicke gen Himmel und warte auf den Blitz, der mich heute mit höchster Wahrscheinlichkeit treffen könnte. Nichts passiert.

„Du tust ja so, als hätte ich etwas mit der gesamten Fachschaft?“ Vielleicht mit der Halben. Ich denke an seine Rothaarige. Sie ist ein Teil der Fachschaft.

„Ist mir gleich.“ In meinen Fingerspitzen beginnt es kitzeln. Ich wechsele das Ohr und schiebe die klamme rechte Hand in die Hosentasche. Ich komme an einer Bushaltestelle vorbei und schaue mir kurz die Seiten des Plans an. Theoretisch kommt in zwei Minuten ein Bus, der halbwegs Richtung Campus fährt. Ich wäge ab, ob es sich lohnt, zu warten. Auf der anderen Seite der Leitung ist es verräterisch still.

„Kain…“ setze ich an, doch er unterbricht mich.

„Du bist eifersüchtig!“ Was?

„Mach dich nicht lächerlich. Ich weiß nicht mal, wie man das Wort schreibt“, wiegele ich ab und blicke nach hinten. Die Hoffnung, einen Bus zu erwischen, schwindet. Wahrscheinlich wurden sie wegen des Wetters gestrichen. Es beginnt zu tröpfeln.

„Du bist wirklich eifersüchtig…wie süß...“ Jetzt reicht es.

„Kain, fick dich. Ich leg auf.“

„Willst du die nächste große Windböe kriegen? Vielleicht schaffst du es mit der zurück nach Kansas.“ Jetzt bin ich also Dorothy. Ich komme nicht umher, mit dem Kopf zu schütteln.

„So ein Pech, ich habe meine roten Lackschuhe nicht an“, hänge ich ran und bekomme die ersten Tropfen ab. Statt auf meine Schuhe schaue ich gen Himmel.

„Pass auf, dass dich die Hexe des Westens nicht kriegt…“ Unwillkürlich denke ich schon wieder an Kains Rothaarige und ihre grausigen roten Sneaker. Nur mit viel Mühe verkneife ich mir ein verzweifeltes Knurren, höre Kain am anderen Ende leise über seinen eigenen Scherz kichern.

„Gut, dass die böse Hexe dein Problem ist“, sage ich daraufhin bissiger als ich eigentlich wollte. Zu meinem Leidwesen versteht Kain die Anspielung, doch bevor er etwas sagen kann, komme ich ihm zuvor.

„Der Bus kommt...“ Gekonnt gelogen. Ich sehe auf die Uhr und setze meinen Weg Richtung Wohnheim fort. Es kann sich nur noch um Stunden handeln.

„Sei…“ Bevor er es zu ende sprechen kann, lege ich auf. Ein Donnern. Herrlich. Es folgt starker Platzregen, der dank des Windes von allen Seiten kommt. Sogar von unten. Wie auch immer das mit den physikalischen Gesetzen vereinbar ist. Physik ist scheiße. Als ich etwa 200 Meter gelaufen, fährt der Bus mit Verspätung an mir vorbei. Nun kommt zu meinem nicht vorhandenen Glück auch noch Pech. Hervorragend.
 

Ich brauche fast eineinhalb Stunden, um ins Wohnheim zurück zu kommen. Als ich am Nachtpförtner vorbei schleiche, ernte ich einen kryptischen Kommentar über die Niederlage beim Wet-T-Shirt-Contest und verstehe erst, was er meint, als mir kurz nach der Treppe Kati und Sina auf dem Weg zur Dusche entgegen kommen. Ebenfalls nass und wenig bekleidet. Ich gestehe meine Niederlage ein. Pudel gegen Brüste ist eben nicht fair. Mir begegnen noch weitere Mitstudenten. Bei den Meisten fehlt mir jegliche synaptische Verknüpfung mit Gesichter und Namen. Bei einigen mangelt es mir an jeglichem Wiedererkennungswert. Es ist selten, dass so viele Leute im Wohnheim unterwegs sind. Im Zimmer angekommen sehe ich Licht, denke an Jeff und bin überrascht, als ich Kain erkenne, der es sich mit einem Buch auf dem Bett gemütlich gemacht hat. Er schaut auf, als die Tür mit einem leisen Klacken ins Schloss fällt.

„Du siehst ziemlich nass aus. Hat dich statt des Tornados ein Taifun erwischt?“ Kain grinst und mustert mich von oben bis unten.

„Hurrikan“, berichtige ich klugscheißerisch. Taifun wird der tropische Wirbelsturm nur im ost- und südasiatischen Raum genannt.

„Immer das letzte Wort!“

„Immer.“ Diese Diskussion haben wir schon einmal geführt. Ich bin nicht gewillt sie zu wiederholen. Ich lasse meinen mit Wasser vollgesogenen Rucksack neben dem Schreibtisch fallen. Meine Jacke folgt. Auf meinem Shirt findet sich keine einzige trockene Stelle mehr. Es klebt dicht an meinem Körper und ich spüre, wie ich langsam aber sicher auskühle. Das Bedürfnis, etwas zu essen, was nicht zuckerhaltig und kalt ist, bleibt jedoch stärker, als das Bestreben nach Wärme. Unwillkürlich blicke ich zum Kühlschrank. Das Einzige, was ich darin finde werde, ist wahrscheinlich Käse und Senf. Beides scheint in diesem Moment wie feinköstliches Gold. Ich wende mich zu meinem Kleiderschrank und krame mir ein trockenes Shirt und Unterwäsche hervor. Mit der Hose sieht es schlecht aus. Den Abend mit Kain ohne Beinbekleidung verbringen zu müssen, setzt seltsame Gedanken in Gang. Ich greife mir ein Handtuch und streiche mir damit durch die Haare.

„Ich nehme mal an, dass du den Bus nicht gekriegt hast“, stellt Kain fest und steht plötzlich hinter mir. Er hebt meine klitschnasse Jacke vom Boden auf und trägt sie zur Heizung. Dort breitet er sie aus, unterlässt es jedoch, die Temperaturregelung hochzustellen.

„Nachdem ich entschieden hatte, dass bei dem Wetter womöglich keine Mitfahrgelegenheit bei mir eintrifft, fuhr der Bus an mir vorbei.“ Ich erwarte Gelächter, doch stattdessen nimmt mir Kain das Handtuch ab und streicht mir ein paar Regentropfen vom Hals.

„Wo ist Jeff?“ Ich wische mir einen Wassertropfen davon, der auf meine Nasenspitze zu fließt.

„Entweder in oder bei Abel.“ Ich verziehe das Gesicht. Zu viel Information.

„Geh lieber schnell duschen“, schlägt Kain mir ruhig und fast besorgt vor.

„Ich brauche erst etwas Richtiges zu essen.“ Kains Augenbraue wandert nach oben.

„Okay, lass uns einen Deal machen. Du suchst dir einen Föhn und ich besorge dir was zu essen!“ Es klingt tatsächlich verlockend. Ich mustere ihn misstrauisch. Irgendwo ist ein Haken. Ganz sicher. Ich nicke es dennoch ab, sehe, wie er aus dem Wohnheimzimmer verschwindet und stelle mich wenige Minuten später unter die warme Dusche. Es ist eine Wohltat. Ich genieße das wohltuende Wasser, reibe mich sorgsam mit Duschbad ein, bis ich mich blitzblank fühle. Nach zweimaligen Zähneputzen ist auch die erste Diabetespanik gebannt und ich kann den Rest des Abends ohne etwaige Ängste verleben.
 

Aufgewärmt und mit Jeffs Hose bekleidet, bin ich als Erster im Zimmer zurück. Mein Nacken ist steif. Ich lasse meine Finger über die oberen Halswirbel wandern, bewege meinen Kopf ein paar Mal hin und her. Langsam und bedacht, um keine weiteren Schmerzen zu provozieren. Wirklich gut waren Kälte und Wind nicht. Ein leises Knacken. Meine Hand gleitet tiefer in den Kragen meines T-Shirts und ich neige meinen Kopf etwas nach vorn. Mit einem Mal spüre ich Kains Hände an meinen Bauch. Er umgreift mich von hinten. Sein Mund berührt meine Finger.

„Brauchst du eine Massage? Kriegst du, aber nur, wenn du mir danach einen bläst.“ Er drückt sich dichter an mich heran und dann spüre ich seine warmen weichen Lippen an meinen Hals.

„Feingefühl ist dir wirklich ein Fremdwort, oder?“ Erst als Kains Lippen auf meine empfindliche Seite wechseln, reagiere ich. Ich neige meinen Kopf wieder etwas vor, um ihm zu entkommen.

„Warum auch, wenn ich ficken will, dann sage ich es einfach…bisher hat das Bestens funktioniert. Auch bei dir.“ Der Kommentar lässt mich genervt raunen. Kains Zähne bohren sich in mein Ohrläppchen. Feiner Schmerz, der sich über meinen Hals kitzelt und durch seine streichelnde Zunge etwas gelindert wird. Kains wissende Hände gleiten unter mein Shirt, liebkosen sich über meinen flachen Bauch nach oben. Als hätte ich es geahnt. Ich löse mich von ihm, doch Kain hält mich am Shirt zurück, zieht es so weit hoch, dass er meinen unteren Rücken freilegt.

„Ach komm schon, das ist… Oh, hast du ein Tattoo?“ Ich wende mich ruckartig um. Fuck. Das unschöne Wort echot durch meinen Kopf, während ich den Schwarzhaarigen reichlich erschrocken entgegen blicke.

„Wie kann es sein, dass ich das noch nicht gesehen habe?“ Kain greift nach meinem Shirt, bekommt es zufassen, obwohl ich ausweiche. Er zieht mich näher.

„Jetzt weiß ich, warum du dich beim Ficken nicht umdrehen lässt“, entflieht es ihm nach einem Augenblick des Sinnierens. Ich presse meinen Kiefer zusammen. Seine Augen fahren mein Gesicht ab. Die Intensität ist mir unangenehm.

„Ich verhungere gleich und ich habe keine Lust auf Diskussionen“, merke ich ausweichend an und versuche mich von Kain zu lösen. Diesmal gelingt es und ich flüchte zu meinem Schreibtisch, wende mich von ihm.

„Okay, dann erspar dir die Debatten und lass es mich sehen.“ Mein Tattoo hat noch niemand gesehen. Jedenfalls nie vollständig. Unmerklich schüttle ich den Kopf. Kain tritt wieder hinter mich, schlingt seine Arme um meinen Bauch drückt mich zerquetschend an sich. Wenn er mich ein Stück hochhebt, dann könnte er mich schütteln, wie eine übergroße Puppe. Hilfe.

„Essen“, wiederhole ich und versuche erneut, mich von ihm zu lösen, bis ich seine rechte Hand unter meinem Shirt spüre. Die Wärme verdrängt meinen Fluchtreflex. Sie wandert höher, zieht dabei auch mein Shirt nach oben. Die Linke folgt über dem Stoff und bleibt an meinem Hals stehen. Ich spüre, wie sein Daumen über den Rand meines Kiefers streicht. Ich fühle mich benebelt. Es ist wirklich seltsam. Seine Hand wandert zu meiner Schulter, streicht den Kragen des Shirts entlang. Leicht zieht er ihn hinab und ich weiß, dass der obere Teil meines Tattoos ein klein wenig zu erkennen ist.

„Kain, lass das…“ Ich gebe einen erneuten, knurrenden Versuch von mir. Mehr für mich selbst, als für Kain. Im Grunde hätte ich damit rechnen müssen, dass er es früher oder später entdecken wird, schließlich sieht er mich häufiger völlig entkleidet als andere. In dem Moment, in dem ich ärgerlich meine Augen schließe, treffen seine Lippen meinen Hals. Sie sind warm und leicht feucht. Er wandert von der feinen Beuge meines Trapezmuskels zu meinem Ohrläppchen. Federleichte Berührungen, die ein kribbelndes Verlangen in mir auslösen. Ich weiß nicht, woher diese Sehnsucht eigentlich kommt. Doch sie durchströmt mich. Heiß und besitzergreifend. Mein Atem geht bereits jetzt schneller. Ich bin mir sicher, dass er spürt, wie heftig mein Körper reagiert.

„Zeig es mir.“ Nur ein Flüstern. Mit jeder Sekunde, die vergeht, wird mein Herzschlag heftiger. Dann löst er sich langsam. Ich bleibe regungslos stehen, während sich in meinem Kopf das Abbild meines Rückens formt. Silbe für Silbe ergießt sich der Ausschnitt meines ersten Buches mit hunderten filigran geschriebenen Worten darauf. Die Passagen meines kindlichen Gefühlsspektrums verweben sich in die Kapitel, wie der tieftraurige Faden eines Dramas, in dem die ersten Worte als Grund für all den Schmerz stehen. Sie begannen mit naiven Abenteuern und Wünschen und enden damit, dass mein Bruder vor meinen Augen starb.

Die gesamte Geschichte über hat man im Kopf, wie es enden wird und es bildet sich diese schleichende Trauer, die einen trotz langseitiger Einleitung packt und schüttelt, bis einem die Tränen kommen. Denn die Vorbereitung auf das, was kommen wird, ist nie genug. Niemals.
 

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PS vom Autor: Danke ihr wundervollen und lieben Kommieverfasser und Leserchens. Ich danke euch für die Geduld und das wunderbare Gefühl, welches ihr mir immer wieder zu kommen lasst.

Ihr seid mein Antrieb. Ihr seid meine Kraft! <3

DANKE!

del

Vertrauen ist gut. Sex ist besser.

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Die extra Portion Pfeffer und Sahne auf meinem Dopamin

Kapitel 16 Die extra Portion Pfeffer und Sahne auf meinem Dopamin
 

Ruckartig drücke ich das Telefon gegen meine Brust und spüre, wie sich mein Puls verselbstständigt. Jeff Augenbraue wandert nach oben und er sieht neugierig auf das Handy, welches energisch mit meiner Brust kuschelt. Puls 150. Wie viel hat er gesehen? In meinem Kopf überwerfen sich die Gedanken. Puls 180. Irgendwer in den höheren Sphären kann mich nicht leiden. Und Kain sucht definitiv Ärger. Warum schickt er mir solche Sachen? Mein Herz macht einen Looping und platziert sich danach an einer völlig falschen Stelle. Nulllinie.

„Alles okay?“, fragt Jeff und mustert mich aufmerksam.

„Ja“, antworte ich zu schnell und auch einen Tick zu hoch. Warum winke ich nicht gleich mit einer Zielscheibe. Die feingezupfte Augenbraue meines Gegenübers schwebt immer noch weit über dem Normalstand und scheint sich mit jedem meiner peinlichen Reaktionen weiter an Ort und Stelle fest zu fressen.

„Sicher? Du guckst, wie damals als ich dich beim Pornos gucken ertappt habe.“ Jeff grinst wissend und auch ich denke an das sehr freizügige Asia-Spezial zurück. Die Damen in dem Filmchen waren derartig gelenkig, dass ich noch immer ungläubig den Kopf schütteln muss. Dennoch war es das erste und das letzte Mal, dass mir sowas peinlich gewesen ist. Damit kriegt er mich heute nicht. Mein Puls beruhigt sich.

„Was ist das eigentlich da an deinem Hals?“, fragt Jeff hinterher und wirft mich wieder aus der Bahn. Eingeschränkt durch Handy und Einkaufstüte kann ich nicht verhindern, dass mir mein Kindheitsfreund ungeniert gegen den Hals tippt. Jeff wiederholt den Angriff, berührt mich kurz unterhalb des Kiefers auf der linken Seite. Ich zucke zurück. Er lässt sich nicht beirren und stupst munter weiter. An mehreren Stellen fügt er murmelnd Hier und Da dazu, während ich versuche, ihm zu entkommen, indem ich mich mehrmals um meine eigene Achse drehe. Der Blonde bleibt erbarmungslos.

„Verdammt, lass das“, sage ich deutlich und stoße meinen Kindheitsfreund mit der Schulter weg. Jeff taumelt lachend auf den Grasstreifen, während ich weiterhin versuche, ihm sämtliche Blicke auf meinen Hals zu verwehren. Er lacht, schiebt seine Hände in die Hosentaschen und beginnt mehr oder wenig beschwingt neben mir her zu schlendern. Ich bin mir sicher, dass heute Morgen nichts zu sehen gewesen ist. Sehr sorgfältig habe ich jedoch nicht in den Spiegel geschaut. Mit dem Handrücken streiche ich mir über den Hals und lasse den Arm schnell wieder sinken, als ich merke, dass mein Handydisplay noch immer munter vor sich hin leuchtet. Ich werde Kain umbringen.

„Mit wem triffst du dich eigentlich?", fragt er mich nach einem Moment Ruhe, in dem ich meinen Drehwurm kuriere und außerdem meine Hand aus der zusammengedrehten Tüte befreie.

„Was meinst du?", frage ich und ertappe mich dabei, wie ich meine Schultern kaschierend nach oben ziehe.

„Na ja. Der ominöse Samstag. Knutschflecke“, kommentiert Jeff grinsend. Meine Schultern haben nun Kinnhöhe. Kain ist fällig. Definitiv.

„Und aus meine Nachtschrank fehlen Kondome.“ Mein Puls beschleunigt sich. Ich sehe zu Jeff, der seinen Kopf senkt und gegen einen Kiesel tritt. Das Steinchen landet ein paar Meter weiter im Gras. Damit sieht er auf und mich direkt an. In meinem Kopf beginnt es erneut zu arbeiten.

„Und? Kondome eignen sich nur perfekt für Wasserbomben. Das ist alles.“ Diesmal halte ich die Zielscheibe auch noch still.

„Du fickst wirklich jemanden!“ Aus Jeffs Frage wird eine freudige Feststellung. Die herbe Wortwahl meines Kindheitsfreundes irritiert mich. Abel ist eine schlechte Gesellschaft für ihn. In mehr als einem Bereich, echot es laut in meinem Kopf. Vielleicht auch ich, flüstert es hinterher. Jeff macht ungeniert weiter.

„Ich wusste es! Sina, oder?“, setzt er nach und schielt auffällig unauffällig zu mir rüber. Ein typischer Jeff. Erst unwissend tun und dann mit Verdächtigungen um sich werfen. Wie scheinheilig.

„Wie bitte? Wie kommst du auf Sina?“, frage ich verstört, denke an die künstliche Blondine und im nächsten Moment an den Schwarzhaarigen, wie er sich lächelnd zu ihr herabbeugte. Ihre intensiven Blicke und sein amüsiertes Lachen sorgen noch immer für ein seltsames Gefühl, wenn ich daran zurückdenke. Zu dem lenkt mich die Erinnerung an diese Situation so sehr ab, dass ich Jeff glatt vergesse und er sich mit seiner Annahme noch bestätigter fühlt.

„Sie steht auf dich und ist genau dein Typ.“

„Aha. Als ob du weißt, was mein Typ ist“, erwidere ich im selben Wortlaut, wie mein Mitbewohner zuvor und spüre, wie ich mich abwehrend immer mehr zurückziehe.

„Na ja, so schwer ist dein Typ nicht zu kategorisieren. Unkompliziert und leicht zu haben.“ Ich erwidere nichts. Jeff sucht sich ein weiteres Steinchen, das er munter über den Gehweg kullern lässt.

„Ficken ohne Verbindlichkeiten und bloß keine Beziehungen. Ganz klar.“ Gezielt. Geschossen. Getroffen. Dazu sieht mich er mit diesen intensiven blauen Augen an. Ich weiche seinen forschenden Blick unweigerlich aus.

„Du denkst auch, ich bin ein Arsch ohne Gewissen, oder?“, kommentiere ich mit zusammengebissenen Zähnen und ärgere mich darüber, dass mir Jeffs Ansicht nicht scheißegal ist. Ich lasse das Handy in die Einkaufstüte gleiten und taste unwillkürlich nach den Zigaretten in meiner Hosentasche. Es beginnt erneut zu nieseln. Nur ein kleiner kurzer Schauer, doch er kühlt mich zusätzlich ab.

„Liege ich denn falsch?“, fragt er nach. Ich schätze Jeffs Ehrlichkeit, aber selbst mir wird das manchmal zu viel. Mit nur einer Hand ziehe ich mir die Zigarettenschachtel hervor und nehme einen Stängel zwischen meine Lippen.

„Ja, denn ich steh nicht auf Blondinen“, knalle ich ihm bissig entgegen. Der ebenso blonde Mann bleibt stehen. Ich gehe unbeirrt weiter. Als ich am Wohnheim ankomme, ist die Zigarette aufgeraucht und auch jetzt wende ich mich nicht um, um zu sehen, ob mein Mitbewohner überhaupt noch hinter mir ist. Den Stummel schnipse ich ungerührt ins Blumenbeet. Micha begrüßt mich lauthals im Gang und ruft mich heran. Mein Gruß ist nur fahrig und ich sehe nicht einmal auf, als ich an ihm vorbeigehe und die Treppe hinauf ins Wohnheimzimmer verschwinde.
 

Die Tüte mit den Einkäufen stelle ich vor dem Kühlschrank ab. Einzig mein Handy und die Flasche Wasser ziehe ich heraus, bevor ich mich an den Schreibtisch setze und augenblicklich die abgelegten Kopfhörer über meine Ohren streife. Als ich die Playtaste betätige, ertönt ´Mad World´ von Gary Jules und noch bevor die ruhige Stimme des Sängers einsetzt, drücke ich den Song weg. Ich bin nicht in Stimmung. Dennoch ertönen in meinem Kopf die ersten Zeilen des nachdenklichen Liedes umso lauter.

Jeff hat Recht. Sex ohne Verbindlichkeiten. Keine Beziehungen. Keine Verantwortungen. Bloß kein gefühlsduseliges Zeug. Es ist dumm von mir, zu glauben, dass mein Handeln andere Meinungen hervorruft als die klischeehaften, die ihm inne wohnen. Warum also trifft es mich jedes Mal, wenn gerade Jeff derartig auf den Punkt kommt? Weil er es besser wissen sollte! Doch, wie sollte er? Ich halte Jeff, meinen Freund seit Kindheitstagen, genauso auf Abstand, wie alle anderen, die mir nahe stehen sollten.

Ich höre die Tür dumpf ins Schloss fallen und Schritte. Ein leises Rascheln und aus dem Augenwinkel heraus sehe ich, wie Jeff neben mir stehen bleibt. Sekunden später tauchen mehrere Briefumschläge bei meiner Hand auf. Post, die mir wahrscheinlich Micha eben geben wollte. Jeffs Hand legt sich auf meine Schulter. Sein Daumen streicht über mein linkes Akromion, dem äußeren Endstück des Schlüsselbeins. Für einen Augenblick schließe ich meine Augen. Und obwohl ich deutlich sein Bedürfnis nach Versöhnung spüre, rühre ich mich nicht. Jeff würde sich bei mir entschuldigen, obwohl er nichts falsch gemacht hat. Doch auch das lasse ich nicht zu, um mir nicht eingestehen zu müssen, dass eigentlich ich etwas ändern muss. Ich sehe ihn an, ohne die Kopfhörer abzunehmen. Mein Handy meldet sich mit gleichmäßigen Vibrationen und das fahle Licht durchbricht diesen eigenartigen Moment, von denen wir in den letzten Jahren viel zu viele hatten. Ich sehe Lenas Namen auf dem Display und greife danach. Jeff zieht sich zurück, als ich ihre Nachricht öffne. Sie hat mir ein Bild zugeschickt, auf dem die Karten für das 5 seconds of summer- Konzert zu sehen sind. Darüber liegt mein kleines gehäkeltes Voodooich inklusive Miniatur-Fanshirt und Zuckerherzen. Meine Schwester ist beängstigend kreativ. Ich greife nach dem Püppchen, welches neben meinem Desktop lehnt und kann mir das Schmunzeln nicht mehr verkneifen. Mit dem Daumen streiche ich über den plüschigen Körper und stocke, als ich auf der Höhe der Brust etwas Hartes spüre. Mit dem kleinen Finger gleite ich unter das angedeutete Kleidungsstück und ziehe eines der Zuckerherzen hervor. Es bleibt auf der Spitze meines Fingers liegen. Rosafarben und glänzend. Mit Vorliebe hatte Lena damals auf jeden Kuchen diese Zuckerteile gekippt. Egal zu welchem Anlass. Egal, wie sehr ich mich darüber aufregte oder gerade deswegen. Diese Dinger sind der pure Kitsch. Nichts, was ich gut heißen kann. Voodoo und Zuckerherzen? Was hat sie sich nur dabei gedacht? Wie soll ich da noch nein sagen? Ich werde wirklich weich. Ich schiebe das Herzchen zurück in die Puppe und greife nach meinem Handy. Statt meiner Schwester zu antworten, wechsele ich unwillkürlich auf den Chatverlauf mit Kain. Das Foto seines gestählten Körpers springt mich förmlich an und ich spüre, wie meine Fingerspitzen zu kribbeln beginnen. Der oft betitelte Stein an der Stelle meines Herzens gibt seltsame Vibrationen von sich und ich werfe das Telefon in einem hohen Bogen aufs Bett. Jeffs Blick, der mir bescheinigt, dass ich womöglich den Verstand verliere, ignoriere ich gekonnt und ziehe mir das Grundlehrbuch für Biochemie heran. Für das Treffen mit Shari muss ich noch eine Kleinigkeit vorbereiten und vielleicht hilft mir der Gedanke an die rationale Wissenschaft dabei abzuschalten.

Jeff schläft bereits, als ich den Rechner ausmache. Im Waschraum überfällt mich die Neugier und kritisch betrachte ich meinen Hals, an dem Jeff vorhin verräterische Flecken gesehen haben will. Ich werde Kain umbringen. Ganz sicher.

Ich finde nichts Auffälliges. Nur eine einzige Stelle nahe meines Kiefers. Ich lasse meinen Zeigefinger darüber gleiten und spüre augenblicklich das feine Kitzeln ausgelöst durch die Erinnerung an Kains neckischen Liebkosen. Was macht er nur mit mir?

Zurück im Bett ziehe ich mir die Decke über den Kopf und schlafe mit der Hoffnung ein, in der Nacht friedlich zu ersticken. Nichts passiert.
 

Am Dienstag überbrücke ich die Zeit bis zum Treffen mit Shari, indem ich unentschlossen vor einem der Eisautomaten stehe. Hörnchen mit Nüssen und Vanilleeis? Zitrone und Buttermilch? Erdbeere? Meine Augen wandern über die anderen kalten Leckereien. Verschiedene Sorten Wassereis. Capri. Das Ding mit Cola-Geschmack. Mein Blick wandert weiter. Das Sandwich mit dreierlei Standardeis. Der Domino mit dem verlockenden Schokoladenmantel. Lecker sind sie alle. Ich bin mir uneins. Vermutlich liegt es daran, dass ich mich einfach nicht konzentrieren kann und das schon seit Wochen. Zudem stehen die Klausuren an und abgesehen von den Wiederholungen längst vergangener Semester habe ich noch keinen Millimeter in die Bücher geguckt. Der Aufenthaltsort einiger meiner Vorlesungsunterlagen gilt definitiv als Verschollen. Zum Verrücktwerden.

Irgendwann drücke ich einfach mit der flachen Hand auf das Tastenfeld und lasse mich überraschen. Was ist das Leben ohne Risiko. Mir fällt ein Wassereis mit dem Namen Pink Sherry Kiss entgegen. Ich atme tief ein und richte meinen Blick gen Himmel. Warum? Was habe ich nur getan, dass man mir so etwas antut? Die Kunststoffdecke schweigt.

Ich nehme das Eis heraus, trabe missmutig und mit der Welt im Zwiespalt Richtung verabredeten Lernzimmer. Shari ist noch nicht da. Ich ziehe mir wie gewohnt einen Stuhl in Position und hole das Eis aus der Verpackung. Ein länglicher, roter Zylinder. Mein Blick wandert erneut zur Decke. Weiterhin keine Antwort.

Immerhin schmeckt es. Ich schlage die Beine übereinander und lehne mich zurück. Ich genieße die Süße, die über meine Zunge kitzelt, gepaart mit leichter Säure, die ein prickelndes Gefühl auf den Seitensträngen hinterlässt. Der Geschmack von Kirsche schwelt im Hintergrund und erblüht, sobald die Flüssigkeit meine Speiseröhre hinabfließt. Es ist erfrischend. Doch es ist die Kühle auf meinen Lippen, die ich besonders mag. Als die Tür aufgeht, wende ich mich samt Eis im Mund um. Zu meiner Überraschung blickt mir ein dunkelhaariger Kerl entgegen. Er kommt mir bekannt vor und nach einer ausführlichen Musterung bin ich mir sicher, ihn schon mal gesehen zu haben. Auch er gehört zu der eher schlanken Männersorte und hat ungewöhnlich weiche Gesichtszüge. Er starrt mich apathisch an, während sich Sharis schmale Hände an seiner Seite vorbeischieben.

„Mark, steh nicht im Weg rum.“, murrt sie ihm liebevoll entgegen und drückt ihn zur Seite. Shari lächelt angestrengt, als sie sich an Mark vorbei in den Raum zwängt. Heute trägt sie eine schlichte dunkele Jeans und eine geblümte Bluse. Ich hätte sie gern noch einmal im Sari gesehen. Ich schlucke die Flüssigkeit in meinem Mund runter, lecke die Reste von meinen Lippen und hebe fragend meine Augenbraue, als ich merke, dass mich Sharis Freund noch immer anstarrt.

„Hat er einen Schlaganfall?“, frage ich verwundert und sehe dabei zu, wie die Inderin ihre Tasche auf den Tisch stellt.

„Wahrscheinlich hat sich nur sein Gehirn abgeschaltet. Na ja, vielleicht auch ein Schlaganfall. Hyvää päivää, Robin!“, flötet sie mir entgegen. Hüa was? Ich begrüße sie mit einem schlichten Hey und sehe wieder zu Mark, der sich langsam aus seiner Starre zu lösen scheint.

„Wie kann man bei diesen Temperaturen Eis essen?“, fragt er verwundert und mit einem stirnrunzelnden Blick auf mein zweites Frühstück.

„Mund auf. Eis rein… und schlucken“, erläutere ich lapidar und bemerke erst im nächsten Moment, wie eindeutig zweideutig das klang. Das war nicht beabsichtigt.

„Wie anschaulich, aber das meinte ich nicht.“ Mark lächelt genauso kopfkinolastig wie beim Eintreten. Shari lässt sich auf den Stuhl vor mir nieder und ihr Gesichtsausdruck bleibt beeindruckend naiv. Mein Diabeteslevel steigt und ich kann mir ein deutliches Grinsen nicht verkneifen. Ich sehe wieder zu Mark, der zwischen mir und seiner Freundin hin und her blickt. Anscheinend hat er ähnliche Gedanken bei Sharis Anblick wie ich. Sein Lächeln ist liebevoll im Gegensatz zu meinem.

„Es ist zu kalt für Eis“, sagt er dann.

„Für dich vielleicht. Ich möchte anmerken, dass es genaugenommen die perfekte Zeit für Eis ist, denn die unterdurchschnittlichen Temperaturen wirken sich positiv auf den Aggregatzustand aus. Außerdem ist die Verträglichkeit für den Körper im Sommer, wie auch im Winter vollkommen gewährleistet, weil das Eis, wenn es im Magen ankommen ist, bereits auf die durchschnittliche Körpertemperatur eines Menschen erwärmt ist“, kommentiere ich, lasse meine Zunge über die leicht geschmolzene Masse wandern und lecke mir Danebengetropftes vom Handballen. Ebenso könnte ich argumentieren, dass Eis bei den im Winter häufig auftretenden Erkrankungen, wie Angina oder Mandelentzündungen, als schwellungsreduzierendes Mittel im Hals wahre Wunder bewirkt. Ich lasse es.

„Meint er das ernst?“ Mark richtet seine Frage an Shari und nicht an mich. Sie nickt nach kurzem Überlegen und einem knappen fragenden Blick an mich.

„Auch Biochemisch ist Eisessen für die kühle Jahreszeit ein wahres Heilmittel. Endorphine. Serotonin. Lauter bunte Glücksgefühle. Übrigens der gleiche biochemische Cocktail, wie beim Verliebtsein. Funktioniert auch mit Erbsen“, fachsimple ich weiter und lecke genüsslich an meinem Eis rum.

„Jetzt bekommt das Märchen ´Die Prinzessin auf der Erbse´ eine ganz neue Bedeutung für mich. Wozu braucht man da noch andere Menschen“, folgt als sarkastische Antwort von Mark und ich schaffe es nicht, mir ein Grinsen zu verkneifen. Ich plädiere seit Jahren dafür, diesen ganzen Mist mit ‚der Mensch ist ein grundsoziales Wesen‘ zu überarbeiten. Mark schüttelt sein Haupt, beugt sich runter und haucht Shari einen Kuss auf die Wange.

„Okay, ich mache mich vom Acker. Lern fleißig, chisaii Hana! Nähdään, du seltsamer Biofritze!“ Er hebt die Hand zum Gruß. Vor der Tür bleibt er erschrocken stehen, weil er beinahe gegen Kain prallt. Der Schwarzhaarige lehnt im Türrahmen, lächelt Sharis Freund entgegen und lässt ihn vorbei. Kain hat mir gerade noch gefehlt. Wie lange steht er schon da? Ich will nicht drüber nachdenken und drehe ihm den Rücken zu. Ich beseitige die Tropfen, die sich am unteren Rand meines Eises gebildet haben.

„Und was passiert beim Küssen in unserem Körper?“, höre ich Kain fragen und sehe, wie Sharis Augen seinen Bewegungen folgen. Er erwartet keine Antwort auf die gestellte Frage und lehnt sich über meine Schulter. Ich spüre seine Wärme durch den Stoff meines Oberteils und umfasse den Stiel der kalten Süßigkeit fester.

„Als erstes wird die Produktion von Adenosintriphosphat, einem Zelltreibstoff kräftig angekurbelt. Energie setzt sich frei, die das Herz immer schneller schlagen lässt. Blut pumpt sich durch die Adern. Pulsierend. Heiß. Die Atemfrequenz steigt. Der Puls rast.“ Nur ein Flüstern, welches heiß gegen meinen Hals trifft. Ein Tropfen roter Flüssigkeit landet auf meinem Daumen.

„Langsam steigt die Körpertemperatur. Die Lippen beginnen zu prickeln und die Nervenenden werden mit jedem Pulsieren empfindlicher. Es folgt eine Berührung. Vielleicht nur kurz. Nur ein Hauch und dennoch beginnt die Hypophyse mit der Ausschüttung von Endorphinen. Unmengen an Dopamin breiten sich im Nervensystem aus und das Belohnungszentrum schreit nach mehr. Ein guter Kuss macht süchtig“, raunt er mir entgegen, so laut, dass auch Shari alles hört. Ein weiterer Tropfen des klebrigen Eises perlt über meine Haut und landet auf dem Tisch. Mein Griff um den Stiel ist so fest, dass sich mein Daumen weiß verfärbt. Ich rieche das zarte Aroma von Zitrone und bekomme Gänsehaut. Wie sehr ich Kain gerade dafür hasse.

„Wir benutzen beim Küssen übrigens 60 Muskeln. Hi, ich bin Kain.“

„Hi,… Shari.“ Ihr Name folgt verspätet, so als hätte sie ihn kurzzeitig vergessen. Kain lächelt und reicht der schönen Inderin die Hand, während sich die andere in meinen Nacken schiebt. Nun versteife ich mich vollends, spüre, wie die Wärme seines Körpers in mich eindringt. Ein lautes Knacken und der Stiel bricht. Im selben Augenblick landen die Reste des Wassereises auf der Tischplatte.

Shari kichert als erste munter drauf los, während ich mich schnellst möglich von Kain entferne. Der Schwarzhaarige verkneift sich jeglichen Kommentar und grinst mir nur hochamüsiert entgegen. Ich greife mir das Stück Eis und lasse es im Papierkorb verschwinden.

Shari reicht mir ein Taschentuch, mit dem ich versuche, die roten Flecke von meinen Händen zu rubbeln. Ich tröste mich mit dem Gedanken, dass es wenigstens nicht in meinem Schoß gelandet ist und lasse das zusammengeknüllte Taschentuch meisterlich im Papierkorb verschwinden. Aus 4 Meter Entfernung. Wenigstens etwas. Kain und Shari setzen währenddessen ihre kennenlernende Unterhaltung fort. Ich richte meinen Blick ein weiteres Mal an diesem Tag gen Decke und wünsche mir nichts sehnlicher, als dass sie auf mich runterstürzt. Nichts passiert. Shari fragt nach Kains Studiengang und er nach ihrem Semester. Kain lässt sich neben Shari auf einen Stuhl nieder. In meinem Kopf schreiben sich die ersten Zeilen einer herzzerreisenden Liebesgeschichte mit Dreiecksbeziehung und Unmengen an kultureller Missverständnisse. Vermutlich würde es Kain sogar schaffen, einen strengen indischen Vater von sich zu überzeugen. Kain ist der perfekte Schwiegersohn. Ich könnte kotzen.

„Kain, was willst du hier?“, unterbreche ich den Smalltalk, als ich meinen Würgereiz erfolgreich unterdrückt habe und lasse mich wieder auf den Stuhl fallen. Der Angesprochene zuckt nicht mal und bleibt bewusst zu Shari gewandt sitzen.

„Ich habe gehört, dass man hier etwas lernen kann.“

„Für dich etwas zu spät, oder?“ Der offensichtliche Angriff ist so plump, dass Kain ihn einfach weglächelt.

„Ihr habt doch auch große Schnittmengen mit der Biochemie, oder?“, fragt Shari interessiert und rammt mir damit das selbstherbeigerufene Messer in den Rücken. Tief. Sehr tief.

„Sehr große…“

„Nicht mal ansatzweise…“, beginne ich im selben Moment wie Kain zu antworten. Wir brechen beide ab und sehen uns an. Sein Blick ist so intensiv, dass ich einknicke und als Erster wegschaue.

„Er ist nur hier, um mir auf den Keks zu gehen“, sage ich seltsam quengelig und richte meinen Blick zum wiederholten Mal an die Decke. Ein Riss. Ein Bröckeln. Letztendlich nur eine Spinnenwebe. Ich gebe nicht auf.

„Ja, dich zu nerven habe ich mir zur Lebensaufgabe gemacht. Aber ehrlich gesagt, habe ich wirklich eine Frage.“ Er zieht das Buch für Pathobiochemie aus seiner Umhängetasche und schlägt es bei einem Lesezeichen auf. Ich sehe dabei zu, wie er auf eine Passage tippt. Wenn ich auf seine Hände sehe, bekomme ich jedes Mal Gänsehaut.

„Du kannst doch selber lesen, oder?“

„Robin, komm schon.“ Kain hat Recht. Ich verhalte mich wie ein dummes kleines Kind. Aber es ist so schön einfach. Ich murre laut und überfliege den Abschnitt. Er kommt mir nicht bekannt vor. Bei diesem Kapitel bin ich entweder noch nicht angekommen oder es gehört zu den Passagen, die ich aus Mangel an Konzentrationsfähigkeit nur halbherzig gelesen habe.

„Und?“, fragt Kain nach einer Weile.

„Professor Willing. Vorlesung zur Biochemie mit klinischen Bezug. 5. Semester“, antworte ich ruhig und lehne mich mit verschränkten Armen zurück.

„Soll das heißen, dass du noch nicht so weit gekommen bist oder, dass du Schlautier mal keine Antwort parat hast?“, schlussfolgert Kain. Ich beiße die Zähne zusammen.

„Ich bin nicht google. Können wir jetzt mit den Übungen anfangen?“, sage ich ausweichend und ziehe die Arbeitsblätter hervor, die ich für die kleine Inderin ausgearbeitet habe. Ich gebe auch Kain eines davon, während mir Shari ihre Liste mit Fragen überreicht. Sie ist zwei Seiten lang. Ich resigniere und verfluche stillschweigend die Dozentin, die mir das eingebrockt hat. Vieles davon ist Zusatzwissen und hat für die Klausuren keine Relevanz. Ich notiere mir ein paar Stichpunkte und ergänze Lücken, indem ich die dazugehörige Passage im Buch nachschlage. Kain und Shari bearbeiten die Aufgaben. Zunächst allein, doch nach und nach wird es zu einer Partnerarbeitet. Anscheinend hat auch Kain deutliche Lücken. Ich bin erstaunt, dass er das Ganze mitmacht. Wahrscheinlich macht er sich daraus einen Spaß.
 

Abwechselnd gleitet mein Blick über die beiden Personen vor mir. Sharis schwarze Haare sind nach hinten gebunden, dennoch fallen einzelne Strähnen nach vorn. Sie schmiegen sich um ihre Schultern, wie ein zärtliches Streicheln mündend in ein feines Kitzeln. An den Spitzen bilden ihre sonst glatten Haare kleine Kringel. Die schöne Inderin ist für mich der Inbegriff einer begehrenswerten Frau. Genau mein Typ. Perfekte Rundungen. Weiblich. Ihre Blicke sind die Mischung aus Erotik und Unschuld. Perfekt. Lustvoll. Und dennoch sehe ich verstohlen zu Kain, der in einem vorangegangenen Moment die Strickjacke mit dem diagonalen Reißverschluss geöffnet hat. Darunter trägt er ein enganliegendes blaues Shirt. Ich kann sehen, wie sich seine Brustmuskeln unter dem Stoff hervorheben. Meine Augen haften an der Stelle seiner linken Brustwarze und ich bilde mir ein, zu erkennen, wie sie sich erhärtet. Das erregende Kitzeln erfasst mich schnell und unvorbereitet.

„...Hallo? Spatz? " Kains Hand legt sich auf meinen Unterarm und reißt mich aus den Gedanken.

„Was?“, antworte ich reichlich inhaltsleer. Kain hat mich kaputt gemacht. Ich sitze mit einer bezaubernden Schönheit in einem Raum, den Kopf voller Fantasien und denke an ihn. Nach so kurzer Zeit bin ich körperlich auf ihn konditioniert und ich befürchte, dass auch mein Restverstand demnächst baden geht. Herrlich.

„Spatz? stichelt der Schwarzhaarige weiter, weil ich noch immer nicht reagiere.

„Stirb“, entflieht es mir, als ich erneut die ornithologische Zuordnung erhalte und mein Gehirn halbwegs aus dem Nebel der Erinnerungen herausgefunden hat. Shari lächelt.

„Ist er immer so unaufmerksam?“, setzt Kain, ohne auf meine Verwünschung einzugehen, fort.

„Dauernd. Aber er guckt dann immer so süß“, springt Shari auf den Zug auf. Wie bitte? Das einzige Mal, bei dem ich süß gewesen bin, war zum Fasching vor 19 Jahren und das nur, weil mich meine Mutter in ein selbst genähtes Pilzkostüm gesteckt hat. Es war einfach erniedrigend und wenn man nach dem Großteil der Senioren unserer Partnerstätte ging herzallerliebst. Mir wird jetzt noch übel.

„Tatsächlich?“ Die braunen Augen des anderen Mannes mustern mich ausführlich und werden mit jeder Sekunde neckender. Ich werde genervter.

„Und jetzt guckt er absichtlich grimmig, um zu beweisen, dass er der Teufel in Person ist. Sehr furchterregend,… wenn wir Kleinkinder wären oder Kätzchen“, kommentiert Kain meinen Gesichtsausdruck. Shari kichert verzückt. Der Ärger über sie hält sich in Grenzen. Bevor ich etwas kontern kann, erhebt sich die Inderin von ihrem Platz, legt Kain eine Hand auf die Schulter und sieht mir lächelnd entgegen.

„Ich gehe kurz für kleine Wollknäule. Zerfleischt euch nicht.“ Ich sehe ihr nach, bis sie den Raum verlässt und sich die Tür hinter ihr schließt.
 

„Hör auf damit", sage ich energisch. Kain lehnt sich auf dem Tisch nach vorn, stützt sein Kinn auf seinen Händen ab und lächelt. Ohne jegliches überspitztes Amüsement. Ohne jegliche Tonation. Es ist einfach nur ein Lächeln. Ein Warmes. Ein Sanftes. Ich wende mich mit einem seltsamen Gefühl im Bauch ab und beginne im Lehrbuch für die Erstsemester zu blättern.

„Kann ich dich etwas fragen?“

„Kann ich dich daran hindern?“, motze ich zurück und sehe nicht einmal auf.

„Liegt es an mir mit dem Küssen oder ist diese ganze verrückte Ziererei so ein verqueres Robinding?“

„Was?“

„Antworte!“

„Wir sind Kerle, oder nicht?“

„Und Kerle küssen sich nicht?“

„Küssen hat unter Männern keinen nennenswerten biochemischen Effekt mehr. Wir schieben nur Testosteron hin und her.“ Kains Gesichtsausdruck ist eine amüsante Mischung aus Verwunderung und Verzweiflung, Was ist aus ´einfach nur ficken´ geworden? Das unkomplizierte und verantwortungsfreie Schäferstündchen. Kain war es, der es mir versicherte und nun will er küssen?

„Biochemischer Effekt?“, wiederholt Kain fragend. „Das ist dein Ernst, oder?“

„Woher kommt das auf einmal?", frage ich deutlich genervt und sehe einen Moment dabei zu, wie mich der Schwarzhaarige fassungslos ansieht. Muss ich wirklich deutlicher werden?

„Wir ficken! Schon vergessen?", äffe ich seinen vormaligen Ausspruch nach, den er mir mehrmals ungeniert vor den Latz geknallt hat. Ich erinnere mich gut an die Situationen zurück, in denen er mir großkotzig erklärte, dass er nur macht, was ihm beliebt und dass er sich nimmt, was er will. Es passte schon damals nicht wirklich zu dem Kain, den ich kannte und dennoch hat es die Inhalte unserer Zusammentreffen geprägt. Kains Augen rollen verstehenden zur Seite.

„Ich habe ja nie gesagt, dass ein reines Fickverhältnis für mich heißt, dass ich auf Küssen und Streicheleinheiten verzichten will", gibt Kain erklärend von sich und weicht meinem Blick aus. Er lehnt sich zurück, streicht mit den Fingern über den Rand des aufgeschlagenen Buches und dann durch sein Haar.

„Ach bitte, das kann nicht dein ernst sein! Such dir doch eine Freundin, wenn du unbedingt einen auf Kuscheltier machen willst... Ich brauche das nicht“, kommentiere ich kühl und genervt. Kain erfasst mich mit seinem tiefbraunen Iriden und schweigt. Seine Nichtreaktion irritiert mich wie immer. Er schiebt das Buch ein Stück zur Seite und beugt sich nach vorn. Mit den Händen stützt er sich auf dem Tisch ab und kommt mir mit einem Mal sehr nahe. Eine Hand greift in meinen Nacken. Hält mich fest. Minimal weiche ich zurück, doch da drückt er seine Lippen schon auf meine. Ich bin zu perplex, um mich zu wehren. Und bevor ich es begreife, schmecke ich das zitronige Aroma des Ingwers. Die Süße, die nicht nur vom Zucker stammt. Kains lockende Zunge fordert und ich folge. Nach einem Moment auch gierig. Mich überkommt dieses wohlige Gefühl, welches mich auch beim Sex jedes Mal zu überwältigen scheint. Er löst den Kuss und sieht mich an. Forsch. Intensiv. Danach greift er nach den Unterlagen und dem Buch.

„Du bist ein Lügner…“, flüstert Kain wissend und verlässt den Raum, ohne auch nur einen Kommentar meinerseits abzuwarten. Ich murre leise vor mich hin, während meine Fingerspitzen Kains Geschmack von meinen Lippen klauben.

„Und du eine Prinzessin“, murmele ich, “Oh bitte, Erschieß mich“, sage ich zusätzlich noch laut, mache eine entsprechende Geste gegen meinen Kopf und seufze schwer.

„Keine Chance, ich bin Buddhistin…“ Erschrocken sehe ich auf und blicke direkt in Sharis lächelndes Gesicht.

„Mach für mich eine Ausnahme…“

„Nein, ich habe keine Lust als Schnecke oder Stein wieder geboren zu werden.“ Shari wäre ein besonders schöner Stein. Vermutlich auch eine sehr attraktive Schnecke.

„Ich hätte nichts gegen dich als Nacktschn…Autsch.“ Der Schlag gegen meine Schulter ist hart und unterbricht meinen primitiven Rückfall augenblicklich. Die schöne Inderin lässt sich mit einem vernichtenden Blick auf ihren Stuhl nieder, fragt kurz nach dem schwarzhaarigen Mann und unterbricht meine mehrmaligen Ansätze für Entschuldigungen mit reinem Handzeichen. Ich habe es nicht anders verdient. Ihr schlanker Finger tippt auf das Arbeitsblatt und sie duldet keine weiteren Widerworte. Mit ihr als Erzieherin wäre ich garantiert ein stückweit humaner geraten.
 

Shari hat ganze Arbeit geleistet, denn auch nach einer Dreiviertelstunde intensivem Fragen beantworten und erklären schmerzt meine Schulter immer noch. Ich erkundige mich beim Gehen danach, ob man bei Boxkämpfen auf sie wetten könne und ernte ein amüsiertes, fast peinlich berührtes Kichern. Es wirkt, wie eine aus dem schlechten Gewissen resultierende Streicheleinheit für mich. Ich bin besänftigt und verabschiede mich mit dem Versprechen, dass ich die nächsten Male rücksichtsvoller bin. Ich werde es probieren, obwohl ich mir sicher bin, dass es nur bei dem Versuch bleiben wird. Rücksichtsvollsein gehört nicht zu meinen vorprogrammierten Eigenschaften. Davon können allerhand Leute ein Lied singen. Als mein Handy zu läuten beginnt, erscheint der Name einer dieser besagten Personen auf meinem Display. Der Anruf meiner überdrehten Lektorin ist die erwartete Konsequenz auf die Ignoranz ihrer Email.

„Wie geht es meinem liebsten Karamelltoffee?“, flötet Brigitta durch das Telefon.

„Besser, wenn du endlich damit aufhören würdest, mir chronische Zahnfäule zu bescheren.“

„Zuckerspatz, du bist zu empfindlich.“ Nicht sie auch noch. Ich stöhne genervt auf.

„Lass mich dir einen Vorschlag unterbreiten.“ Ich ahne wie immer böses, krame schon vorsorglich in meiner Jackentasche nach den umweltbelastenden Glimmstängeln und trabe missmutig nach draußen.

„Ich habe einen Vorschlag für dich“, wiederholt sie nach kurzer Stille.

„Sagtest du bereits. Wenn ich andauernde Wiederholungen hören will, besorge ich mir einen Anrufbeantworter!“, kommentiere ich. Brigitta faucht.

„Darf ich um mehr Trommelwirbel und Ahs und Ohs bitten!“ Ich verdrehe gekonnt und komplett ungesehen die Augen. Wieso kann sie nicht einfach damit herausrücken. Egal, wie viel Spannung und Neugier sie erzeugen will, ich sage sowieso nein. Ich ziehe mir den Rucksack über die Schulter und stecke mir die Zigarette zwischen die Lippen.

„Uh, ich bin ja so aufgeregt…“, nuschele ich trocken vor mich hin, bin mir sicher, dass Brigitta kaum etwas versteht und nun ihrerseits dramatisch die Augen verdreht. Solche Reaktionen kennt sie von mir zur Genüge. Ich zünde die Zigarette an.

„Okay, okay, ich sage nur vier Worte. Interaktive-themenbezogene Buchconvention für Fans.“

„Das sind 5.“ Dazu mache ich noch ein Falsche-Antwort-Geräusch, wie man es aus Quizshows kennt und ziehe eine Menge des giften Rauches in meine Lungen.

„Game over, wir hören uns“, sage ich, bin drauf und dran wirklich kurzen Prozess zu machen und aufzulegen. Doch ich werde weich. Der Sex ist schuld. Er macht mich umgänglich.

„Robin!“

„Brigitta“, gebe ich ihren Namen retour und klinge dabei deutlich weniger aufgeregt.

„Denk an deinen Bekanntheitsgrad!!“ Game over, die Zweite. Wie bitte? Ich bin fassungslos. Manchmal glaube ich, dass sie den Sinn eines Pseudonyms nicht versteht. Ich habe meinen nicht nur aus dem Grund, dass mir für die Glaubwürdigkeit von kitschigen Schnulzen der Vorbau fehlt, sondern weil ich keinerlei Interesse daran habe, dass mich jemand mit diesen Büchern in Verbindung bringt.

„Bekanntheitsgrad? Wenn ich Aufmerksamkeit möchte, hüpfe ich nackt durch die Mensa.“ Am anderen Ende der Leitung beginnt es hysterisch zu kichern und ich nehme einen weiteren tiefen Zug. Ich fühle mich nicht besser.

„Mein kleiner Bonbonadonis, wenn du das tust, dann bringe ich dich ganz groß raus.“ Sie quietscht nochmals und ich hadere ein weiteres Mal mit dem Wunsch, einfach aufzulegen.

„Ernsthaft Brigitta. Nein.“ Auf der anderen Seite höre ich sie seufzen.

„Es schadet nicht, wenn die Leser ein klein wenig mehr über den Autor erfahren. Die Leute interessiert, wer Quincey Bird eigentlich ist.“ In meinem Fall bin ich mir nicht sicher.

„Wie oft willst du diese Diskussion noch mit mir führen?“, frage ich nun langsam mit den Nerven am Ende.

„Schätzchen, du bist vertraglich dazu verpflichtet, dich an marketingwirksamen Strategien zu beteiligen“, schmettert sie mir auf ihre Weise ernst entgegen. Diesmal bin ich es der seufzt.

„Karsten will einige Spaten erweitern und dafür vor allem Jungautoren begeistern. Wir reden da bereits eine Weile drüber und du bist einer der Kandidaten, die er sich wünscht, um den Verlag zu repräsentieren.“ Das spricht nicht für den Verlag, hallt es in meinem Kopf umher. Ich schweige.

„Uns ist bewusst, dass dein Studium an erster Stelle steht und wir nehmen darauf natürlich Rücksicht. Die Integration von Ausbildung und Autorendasein ist ja ein Teil des Marketings“, erläutert sie den bereits vor der Vollendung stehenden Plan. Ich schweige weiter.

„Hör mal, Robin, deine Bücher laufen gut. Das sollte dich eigentlich freuen.“

„Ich tanze später“, kommentiere ich wenig begeistert und schnipse die halbe Zigarette ins Beet, statt ein weiteres Mal daran zu nuckeln. Der Gedanke mich mit derartigen Dingen auseinandersetzen zu müssen, bereitet mir Kopfschmerzen. Wenn nicht sogar Migräne.

„Ich will erst darüber nachdenken“, antworte ich zögerlich und warte nur noch auf den stechenden Blitz, der jeden Moment durch meinen Schädel fahren könnte. Nichts geschieht.

„Natürlich. Vielleicht solltest du in den nächsten Tagen einmal mit Karsten telefonieren.“

„Brigitta, ich habe für sowas keine Zeit. Die Klausuren stehen an und ich komme jetzt schon kaum zum Lernen.“

„Überhaupt kein Problem, Hase. Ich sage ihm, dass du dich meldest, sobald du wieder Luft hast.“ Mich erfasst ein kalter Schauer. Vielleicht sollte ich doch schnellstmöglich kündigen. Ich verabschiede mich mit einem neutralen Allgemeingruß und lasse sie damit spüren, wie wenig Begeisterung ich aufbringen kann. Brigitta ignoriert es, drückt mir eine weitere überschwängliche Zuckerbombe entgegen und erinnert mich daran, dass ich ihr noch immer das Essay schuldig bin. Im Moment fehlt mir die innere Ruhe um auch nur zwei zusammenhängende Sätze formulieren zu können. Mit Beendigung des Gespräches sehe ich auf die Uhr. Die reguläre Mittagszeit ist noch im vollen Gange und in meinem Magen fühlt sich die Leere sondergleichen Schwer an. Hunger habe ich keinen.
 

Ich sehe auf mein Handy und atme kurz auf. Es schweigt und damit es auch so bleibt, mache ich es komplett aus. Ich bewege mich gegen den Strom Richtung Bibliothek, verstaue alle unwichtigen Dinge im Spind und setze mich nur mit dem Laptop an meinen Stammtisch. Meine Stirn wandert auf die Tischplatte noch bevor der Rechner hochgefahren ist. Jetzt muss das mit der Ruhe nur noch mein Gehirn begreifen, doch dieses scheint mit dem restlichen Teil meines Körpers auf Kriegsfuß zu stehen. Am schlimmsten sind solche Momente, wenn man im Bett liegt. Die Zeit verrinnt und man will unbedingt einschlafen, doch je mehr man sich dazu zwingt, umso schwerer wird es. Meine Gedanken rasen und ich schaffe es nicht mich auf eine Sache zu konzentrieren. Diese Momente hasse ich. Es überfordert mich und es verbraucht Kapazitäten, die ich eindeutig für wichtigere Dinge verwenden könnte. Lernen zum Beispiel. Oder auch für den Roman, der in der letzten Zeit deutlich unter meiner Ignoranz und Sexdemenz gelitten hat.

Eine interaktive Buchconvention für Fans, wiederholt sich in meinem Kopf und ich seufze so laut, dass es garantiert einige Tische weit zu hören ist. Es beschwert sich niemand, also mache ich es gleich noch mal und lasse direkt danach meine Stirn für ein paar Intervalle aufs Holz prallen. Eine Convention zum Thema Jugendliebesromane! Mir wird wieder mulmig und ich bekomme Gänsehaut. Nicht die Gute. Was haben sie sich dabei gedacht? Es muss Brigittas Idee gewesen sein. Zu viel Wein und zu viele tränenreiche Stunden mit Kommentaren und Anmerkungen in einem Fanportal. Sie treibt mich noch mal in den Wahnsinn. Ich richte mich wieder auf, lehne mich zurück und starre auf meinen wenig kreativen Desktophintergrund.

Was würden Leser von mir wissen wollen?

Warum ich als Mann aus der Sicht von Frauen schreibe? Würde ich auch gern wissen, denn darauf habe ich keine konkrete Antwort. Ich könnte es damit erklären, dass 90% der Leserschaft von Liebesromanen weiblich sind und rein psychologisch kann man sich am besten in sein eigenes Geschlecht hineinversetzen. Romane mit einer Hauptfigur desselben Geschlechts, eines ähnlichen Alters oder mit einer gleichartigen Situation gehen einem als Leser einfach näher. Es ist dahingehend nur logisch, eine weibliche Protagonistin zu haben. Dennoch ist es keine wirkliche Antwort darauf, warum ich als Mann aus der Sicht von jungen Frauen schreibe.

Warum schreibe ich Liebesgeschichten? Eine weitere Frage auf die ich keine richtige Antwort habe und die offenbaren würde, wie wenig ich mit der rosaroten Thematik anfangen kann. Ich glaube nicht an die Liebe. Für mich ist sie im reinen Sinne des Wortes Fiction. Nichts weiter. Es fällt mir nur seltsam leicht, darüber zu schreiben. Mein Zeigefinger streicht über die glatten Tasten des Laptops. In meinem Kopf bilden sich weitere Fragen und ich schließe meine Augen, während ich den Fragen halbherzige Antworten zuordne.

Wie komme ich auf die Pairings für meine Romane? Klischees und Standards. Warum wählt sie ihn? In den meisten Romanen wählt sie stets das Neue. Viele gemeinsame Jahre einer Beziehung sind dann nichtig. Oder es ist oftmals einfach die logische Wahl, um dem Roman eine gewisse Note zu verleihen. Jedes Mädchen will letztendlich den kühlen, abweisendwirkenden Kerl bekehren oder mit Charme der Einfachheit den anspruchsvollen Prinzen gewinnen. Es ist immer das gleiche. Unrealistisch und absurd. Warum um alles in der Welt sollte man sich mit derartigen Widerständen rumplagen wollen? Sollte Liebe nicht einfach sein?

Ich denke an Kain und lasse meinen Kopf ein weiteres Mal auf den Tisch fallen. Wieso? Weshalb denke ich gerade jetzt wieder an ihn? Danach sehe ich wieder auf meinen Laptop und lasse meinen Finger über das Touchpad der Mouse wandert. Er gleitet über die zuletzt geöffneten Dokumente. Für einen Moment bleibt er bei der Geschichte, in der sich Kain wieder gefunden hat, stehen. Ich spüre, wie mein Herzschlag schneller wird. Wie sich das Pulsieren über meine Venen durch meinen Körper bewegt. Auf meinen Armen bereitet sich erneut Gänsehaut aus. Dieses Mal mit Gefallen. Ich öffne die Datei und lese die letzten Zeilen.

…es scheint unendlich. Es dringt tief in mich ein, während sich seine warmen, feuchten Lippen über die empfindliche Haut meines Halses küssen. Seine Hände scheinen überall. Sie sind mehr als nur ein Streicheln. Sie sind Glück. Sie sind Leben. Und obwohl das Prickeln immer durchdringender wird, fast unangenehm intensiv, recke ich mich ihm noch mehr entgegen. Meinen gesamten Körper biete ich ihm dar, wie ein Süchtiger…

Auch jetzt spüre ich es. Sogar noch deutlicher. Mein Herz flattert verräterisch. Ich lehne mich zurück und lasse meinen Blick über die Buchrücken des gegenüberliegenden Regals wandern. Oberflächennahe Geothermie. Bevölkerungsgeographie. Ich sitze am Übergang zur Geowissenschaft. Jeffs Fachgebiet. Mir wird klar, dass ich ihn noch nie hier angetroffen habe. Überhaupt sehe ich hier selten jemanden aus diesem Fachbereich. Vielleicht sollte ich meinen wuseligen Mitbewohner mal zur Bibliothekseinführung anmelden. Ein mögliches Geburtstagsgeschenk, echot es höchst amüsiert in meinem Kopf umher, während ich spüre, dass sich mein Puls noch immer nicht beruhigt hat.

Im Gegenteil, er rast weiter, weil sich in meinen Kopf weitere Sätze formulieren, die rein gar nichts mit dem Geburtstagsgeschenk meines Kindheitsfreundes zu tun haben. Ich setze den Mousezeiger hinter den letzten Punkt, atme tief durch und lasse meine Finger über die Tastatur wandern.

Wieder ist es die Bibliothekarin, die mich daraufhin weist, dass es bereits nach 21 Uhr ist. Ich klaube meine Sache zusammen und gehe zurück ins Wohnheim. Mein Magen knurrt und ich ziehe mir ein Päckchen mit Brotscheiben aus unserem Biomaten.

Jeff ist nicht da. Auch Kain nicht. Ich übertrage die Daten meines Laptops auf den Hauptrechner und lege mich ins Bett. Das Einschlafen fällt mir schwer, denn noch immer kribbelt es unruhig in meinem Inneren und meine Hände tippen weitere unsichtbare Worte in die Falten meiner Bettdecke.
 

Die restlichen Tage der Woche verlaufen erstaunlich ruhig. Ich verbringe meine Zeit überwiegend in der Bibliothek und habe dennoch das Gefühl, nichts zu schaffen, weil ich ständig mit meinen Gedanken woanders bin. Ich lese meine Vorlesungsnotizen bis ich sie auswendig kann und vervollständige meine Wissenslücken durch traniges Herumblättern in der Fachliteratur. Die Löcher scheinen so tief und endlos, dass ich nicht einmal mit den aufgestapelten Büchern über den Rand gucken könnte. Langsam bekomme ich die obligatorischen Beklemmungen und verfluche meine penetrante Semesterfaulheit.

Selbst Jeff hat Abel fürs Lernen bis zum Ende der Klausurphase kaltgestellt, jedoch nicht, ohne ihm zu versichern, dass er zu seinem Geburtstag eine Ausnahme machen wird. Ich will gar nicht darüber nachdenken. Trotzdem schaltet sich bei mir das Kopfkino ein und ich brauche den kompletten Abend, um die Gedanken an die beiden kopulierenden Männer wieder loszuwerden. Als ich im Bett liege, wähnt sich sogar für ein paar Sekunden Mitleid für Kain, weil dieser das in den letzten Monaten des Öfteren live und in Farbe miterleben musste.

Auch der Schwarzhaarige bleibt unserem Wohnheimzimmer fern und ich ertappe mich dabei, dass ich hin und wieder auf mein Telefon starre. Ein paar Mal verweile ich in unserem Chat und verschwinde scheinheilig, wenn ich sehe, dass Kain online kommt. Nach unserem letzten Gespräch erwartet er sicher eine Entschuldigung, doch darauf kann er lange warten.

Freitagabend besorge ich die Lebensmittel, die ich für den versprochenen Kuchen benötige und krame die Backform unter meinem Bett hervor. Sie ist extrem verstaubt, da ich sie nur einmal im Jahr benutze. Am frühen Samstagmorgen stelle ich mich in die Küche, während alle anderen noch schlafen. Schokoböden gefüllt mit Himbeeren und Frischkäse-Frosting. Das Ganze ummantelt mit einer Ganache aus Sahne und dunkler Schokolade. Ich brauche 4 Stunden und lege mich gegen 10 Uhr noch einmal ins Bett.

Bereits mittags beginnt mein Mitbewohner mit der quälenden Aufgabe, sich ein Outfit für den Abend herauszusuchen und scheitert an den Unmengen an Stoff, die sich alsbald auf seinem Bett türmen. Ich habe schon seit Jahren keinen Überblick mehr und Jeff wahrscheinlich auch nicht. Irgendwann fliegen mir mehrere Pullover entgegen, gefolgt von der Aufforderung sie anzuprobieren. Ich weigere mich wie ein kleines Kind beim Schuhkauf und kuschele mich stattdessen in meine flauschige Strickjacke, die ich mir ohne Probleme zweimal umwickeln könnte.

„Anziehen. Die könnten dir noch passen“, fordert er mich auf und ich schüttele verweigernd den Kopf.

„Was heißt denn hier noch?“, frage ich irritiert, nachdem ich mir seine Worte noch mal durch den Kopf gehen lasse. Mein Kindheitsfreund blickt mich einmal von oben bis unten an.

„Na ja, weiß ich, was du seit neusten unter diesem überdimensionalen Wollding versteckst. Vielleicht schlägt das dauernde Eisessen langsam zu Buche.“

„Hallo? Ich muss gar nichts verstecken…“, kommentiere ich diese lächerliche Anspielung empört.

„Na dann, hurry up and strip!“ Jeff wirft mir einen weiteren Pullover gegen den Kopf.

„Bin ich dein Anziehäffchen, oder was?“, murre ich und erhebe mich von meinem Schreibtischstuhl.

„Hab dich nicht so. Außerdem ist es schon eine ganze Weile her, dass ich dich entkleidet gesehen habe.“ Was für ein Kommentar. Jeff klingt besonders unschuldig, wäre da dieses verräterische Grinsen nicht. Ich streife mir die Strickjacke von den Schultern, werfe sie aufs Bett und ziehe mir die Oberbekleidung des Blonden über. Der Pullover sitzt locker und ist unheimlich angenehm auf der Haut. Jeff legt schon immer Wert auf hochwertige Kleidung. Zum Leidwesen seines Geldbeutels. Meine Finger gleiten über den weichen Stoff. Wirklich schön. Nur die Farbe stört mich, aber daran würde ich mich schon irgendwann gewöhnen. Jeff beobachtet mich und sieht zur Tür, als unser Schloss leise knackt. Sicher ist es Abel, der sich nach einer Stunde nicht mehr allein beschäftigen kann.

„Ist dir sogar etwas zu groß“, ergänzt er seine Analyse.

„Pah, dann sag noch mal, dass ich irgendwas verstecke…“ Ich ziehe den Pullover vorn hoch, zeige Jeff meinen fein definierten, flachen Bauch und spüre mit einem Mal zwei warme, vertraute Hände, die sich höher arbeiten und über meine Brust liegen bleiben.

„Verstecken musst du nichts, aber du könntest am Muskelaufbau arbeiten…“, kommentiert Kain, während er seine Hände wieder zu meinem Bauch gleiten lässt. Ich reagiere mit deutlicher Gänsehaut und enormer Steigerung meines Herzschlags.

„Sind wir hier im Streichelzoo? Nimm deine Hände weg…“, sage ich, als Kain keine Anstalten macht. Jeff beobachtet uns mit hochgezogener Augenbraue. Musternd. Fragend.

„Gibst du ihm endlich was Ordentliches zum Anziehen?“, fragt Kain und zieht den Pullover zurück in Position. Danach lässt er sich auf mein Bett fallen und schubst die Strickjacke beiseite, als wäre sie ein totes Tier.

„Er soll mich heute Abend nicht blamieren.“ Mein böser Blick soll ihn in Flammen aufgehen lassen, doch nichts passiert. Jeff zerrt ungerührt weiter Klamotten aus dem Schrank.

„Apropos Geburtstag! Wann bist du aus deinem Ei geschlüpft, Robin?“

„Ich wurde gebaut, schon vergessen!“, kommentiere ich trocken. Kains Braue wandert nach oben, damit wendet er sich an meinen Mitbewohner.

„Jeff, wann wurde Robin zusammengeschraubt?“

„Wenn ich dir darauf antworte, dann verscharrt er mich heute Nacht im Wald und ich bin zu jung und zu schön zum Sterben“, gibt Jeff keck von sich und ich kann mir ein ziemlich dämlich klingendes Lachen nicht verkneifen. Ich lasse mich auf meinen Stuhl nieder und vermeide es, zu dem Schwarzhaarigen zusehen.

„Hast du nicht auch bald, Kain?“, fragt Jeff und der Kitzel der Neugier regt sich in mir. Ich weiß nicht, wann er Geburtstag hat.

„Ja, im August.“

„Schon was geplant? Was willst du eigentlich hier?“, fragt Jeff verwundert.

„Abel hört seltsame Musik, weil er für deine Feier noch irgendwas zusammenstellen will und mir wäre der Schädel geplatzt, wenn ich noch eine Minute länger dageblieben wäre.“

„Besser wäre es, wenn er mal aufräumen würde.“

„Meine Rede!“ Kain lässt sich mit geschlossenen Augen zurückfallen und ich merke erst jetzt, dass ich meinen üblichen Einspruch zum Thema `Niemand Fremdes in meinem Bett´ vergesse habe. Ich sehe auf die Uhr.

„Ich bin noch mal weg.“ Ich greife nach meiner Tasche und Jacke und bin schon an der Tür, bevor mich Jeff zurückhält. Ein eindringlicher Blick und ich muss ihm versichern, dass ich nicht das Weite suche. Daran gedacht habe ich auch schon. Ich sehe kurz zum Bett. Kain hat sich wieder aufgerichtet und grinst mir amüsiert zu.

Danach besorge ich das überaus kreative Geschenk für Jeff. Das Parfüm von dem Lena gesprochen hat und bei dem Jeff jedes Mal so sehnsüchtig wimmert, dass man glauben könnte, er müsste mit seiner feinen Nase ununterbrochen im mittelalterlichen Paris leben. Es ist einfach nur teuer, aber eine andere Idee habe ich nicht. Jeff wird sich freuen und vielleicht erspart es mir für ein paar Wochen seine Meerschweinchengeräusche. Vorsorglich habe ich es mir neutral einpacken lassen. Er wird sofort wissen, was es ist und er wird mir Vorwürfe machen, weil es zu teuer ist.

Ich schinde so viel Zeit wie möglich. Mache noch einen Abstecher in die Bücherei und erinnere mich an den schwedischen Krimi, welchen ich vor ein paar Wochen gekauft, aber noch immer nicht aus der Einkaufstüte geholt habe. Auch meinen Ergüssen statte ich einen Besuch ab und ziehe mich schnell wieder zurück, als zwei plauschende Mädels direkt vor dem Regal stehen. Der Reiz, Mäuschen zu spielen ist da, aber die Scham zu groß, zu lange vor der Pupertierndenlektüre zu verweilen. Mit einem Snack mache ich mich auf den Rückweg.
 

Als ich ins Wohnheim zurückkomme, ist niemand mehr im Zimmer. Mein Bett ist gemacht und es ist keine Spur mehr von Kain zu erkennen. Ich setze mich an meinen PC und öffne das begonnene Essay für Brigitta. Ein grober Inhalt ist schnell verfasst und dann halte ich inne. Der Plot ist wenig aufbauend, fast schon tragisch. Ein Roman ohne kitschige Klischees. Ohne Rosa. Ohne Sahne und extra Streusel. Brigitta wird nicht sehr begeistert sein. Aber wer sagt, dass eine Dreiecks- Geschichte nicht mit dem Ursprungspaar enden darf? Niemand schreibt vor, dass es sich die Protagonistin immer für den neuen Mann entscheiden muss. Vielleicht lohnt es sich, manchmal zu kämpfen? Es gibt nur nicht sehr viele Menschen, die kämpfen. Unwillkürlich wandern meine Gedanken zu meinem Vater und mit ihnen kommen eine Menge schwere, unerwünschte Gefühle. Ich lehne mich zurück, streiche mir fahrig durch die Haare und merke erst jetzt die unüberhörbare Stimmung, die in der unteren Etage eingesetzt hat. Selbst hier kann ich die Musik hören. Den Beat, wie er sich durch die dünnen Wände presst. Die Vibrationen spüren, wenn ein besonders tanzfähiger Song einsetzt.

Ein Klopfen. Ich lehne mich zurück, als ich gleich darauf höre, wie sich die Tür öffnet. Kain bleibt neben dem Kühlschrank stehen, verschränkt seine Arme vor der Brust

„Dir ist schon klar, dass du mit jeder weiteren Minute fehlender Anwesenheit das Geburtstagskind verärgerst?“

„Er hat noch nicht Geburtstag“, erwidere ich knapp und sehe kurz auf die Uhr. Es ist halb 11 Uhr. Jeff feiert den Tag seiner Geburt, als wäre es ein schwer erarbeitetes Privileg. Doch im Grunde hat keiner von uns einen Anteil daran. Abgesehen von unseren Müttern.

„Haarspalterei. Na komm, nur auf einen Drink. Etwas Spaß…“

„Solche Veranstaltungen werden Spaßtechnisch ziemlich überbewertet.“

„Hast du Angst, dass Tanzen in deinen Schaltkreisen einen Kurzschluss verursacht?“ Wieder das Roboterklischee. Ich lächele müde und auch Kains Gesicht zeigt weniger spitzbübische Freude als beim letzten Schlagabtausch zu diesem Thema.

„Tanzen gehört nicht zu meinen Standardprogrammen“, kommentiere ich dennoch drauf eingehend und fahre meinen Rechner runter. Kain macht einen Schritt auf mich zu und stoppt damit meine Bewegung zum Kleiderschrank.

„Dann brauchst du dringend ein Update.“

Bevor ich etwas erwidern kann, dringt die Stimme einer Frau in das Zimmer.

„Kain? Kain, bist du hier?“ Es ist die Rothaarige, die an der offenen Zimmertür stehenbleibt. Im ersten Moment erwidert er nichts, sieht mir mit einem intensiven Blick entgegen. Ich verstehe ihn nicht. Erneut ertönt der Namen des Schwarzhaarigen.

„Bin gleich da“, erwidert er laut.

„Lauf, kleine Dorothy, die Hexe des Westens ruft“, flüstere ich und wende mich von ihm ab. Ich öffne die Tür des Schrankes, die in Kains Richtung aufgeht und weiß nicht mal, was ich darin suchen soll. Kain drückt sie wieder zu und ich spüre seinen Körper dicht hinter mir.

„Jawohl, Blechmann…“ Seine Lippen an meinem Ohr. Eine kurze Berührung und die Hitze seines Atems bleibt zurück, als er bereits aus dem Zimmer verschwunden ist.
 

Ich ziehe mir den ausrangierten Pullover von Jeff über und lasse mich wie beim letzten Mal auf eine der Sitzgelegenheiten nieder. Bereits im Flur nach unten sind mir Unmengen an Menschen entgegen gekommen. Das gesamte Wohnheim und auch die umliegenden scheinen mitzufeiern. Mein Blick wandert durch den Raum. Dem tristen Nichts der Einrichtung sind Ballons und ein paar Lichterketten auf dem Leib gerückt. Eine davon blinkt mit verschiedenen Farbe über den gesamten Küchentresen, malt bunte Effekte auf die dunklen und hellen Flaschen und Gläser. Eigentlich ganz hübsch. Jeff hat sich wirklich Mühe gegeben. Ein paar bekannte Gesichter verteilen sich im Raum. Es ist aber niemand dabei mit dem ich mich unterhalten möchte. Genauso, wie beim letzten Mal. Der Gedanke setzt sich fort, als plötzlich ein Glas vor mir auftaucht.

„Hier.“ Jeff drückt mir ein Getränk in die Hand. Diesmal ist es kein Bier, sondern eine orangefarbener Flüssigkeit mit einem dicken schwarzen Strohhalm.

„Ist das euer Ernst?“ Die darin schwimmenden Eiswürfel haben die Form von Penissen und ich verspüre den Drang, ihm das Glas augenblicklich wieder zurückzugeben.

„Die sind nicht auf meinem Mist gewachsen!“ Ich glaube ihm nicht.

„Ich schwöre!“ Jeff ist ein schlechter Schauspieler.

„Tu mir den Gefallen und lächele?“, setzt es nach und schenkt mir eines seiner lang erprobten Jeff Gesichter. Es hat bei mir keine Wirkung. Meine Erwiderung ist nur mit viel Fantasie ein Lächeln und es ist so schnell wieder verschwunden, dass man eine Zeitlupenaufnahme bräuchte, um es zu erkennen. Mehr kann ich nicht bieten. Jeff tätschelt mit kurz den Kopf und bleibt neben mir auf der Couchlehne sitzen, während er genüsslich seinen Drink süffelt. Seine Hand weilt an meiner Schulter, während er sich mit den Arm an der Rückenlehne abstützt. Ich möchte ihm sagen, dass er bei mir nicht Händchenhalten muss. Doch ich schweige.

Ich nippe an dem leicht bitteren Getränk, spüre, wie die Säure der Orange über meine Zunge tanzt und im nächsten Moment der Amaretto in voller Blüte steht. Das Aroma der Mandel ist angenehm, paart sich mit einer angenehmen Herbe und ich nicke es zufrieden gestellt ab.

„Hat Kain gemixt. Ich sag es dir, er hat ungeahnte Qualitäten.“

„Flüssigkeiten panschen! Er ist der nächste Dalai-Lama“, kommentiere ich und denke an einige andere seiner Begabungen.

Als die Musik lauter wir, packt auch Jeff das Tanzfieber. Er schnappt sich Abel, der bereits zappelnd bei ein paar Mädels aus der Erziehungswissenschaft steht. Ich schaue zu Bar, blicke direkt zu Kain, der sich mit ein paar seiner Fachkommilitonen unterhält und entspannt gegen die Arbeitsplatte lehnt. Sein Körper bewegt sich im Takt der Musik. Ein leichtes Wippen. Ein wiederkehrendes Nicken. Als ´Cheap Thrills´ von Sia einsetzt, blickt auch der Schwarzhaarige zu mir. Er winkt mich deutlich heran und ich lehne ebenso deutlich ab. Das kann nicht sein Ernst sein. Ich tanze nicht und schon gar nicht mit ihm. Er kommuniziert mir ein Füllhorn an kreativen Gesten und Mimiken, die mir alle mitteilen, dass ich ein feiges Huhn bin, bevor er von Sina und Kati weggezogen wird. Ich bleibe kopfschüttelnd und in einem hohen Grad amüsiert auf dem Sofa zurück.

Erst das Auftauchen Kaworus lockt mich aus der schweigsamen Katatonie der Partyunwilligkeit. Jedenfalls teilweise. Auch mein asiatischer Kommilitone hat heute einen schlechten Tag erwischt und wurde mehr oder weniger gezwungen, hier zu erscheinen. Er deutet auf eine hübsche Asiatin mit schulterlangen Haaren. Seine Schwester. Ihr Rock ist kurz und zeigt ihre ungewöhnlich tätowierten, langen Beine. Auf beiden Seiten zeigt sich ein aufwendig verziertes Strumpfband samt kleiner Schleifen. Ich sehe kurz zu Kaworu, der ermattet seinen Kopf nach vorn kippen lässt und sehe keinerlei Ähnlichkeiten zwischen den beiden Geschwistern. Ich fühle mit ihm. Dennoch rettet mir dieser Auftritt die Stimmung. Die Geschichten, die folgen, sind von Amüsement kaum zu treffen. Beide sind das perfekte Beispiel für die aufkommende Katastrophe, wenn die Pole ´enorm introvertiert´ und ´exponentiell extrovertiert´ aufeinanderprallen. Es ist wie ein böser Unfall, bei dem man weder hin-noch weggucken kann. Problematisch.

Irgendwann ist mein Glas leer. Aus dem Sammelsurium auf der Küchenzeile werde ich nicht schlau und suche hilflos nach meinem Mitbewohner. Er verweist mich an Kain und ich frage mich, ob es eine gute Idee ist, ihm gegenüber einzugestehen, dass ich sein Getränk so gut fand, dass ich noch mal möchte. Er wird es garantiert als Aufhänger benutzen. Orangensaft und Rum reichen theoretisch auch. Ich hadere mit mir. Wie schon die ganze Zeit. Es schadet nicht, auf ihn zuzugehen. Kain macht es auch ständig, obwohl ich ihn jedes Mal wieder abblocke. Unbewusst sehe ich mich bereits nach ihm um.
 

Ich schlängele mich durch die tanzenden Massen und treffe auf zwei bekannte Gesichter. Sina und Kati. Sie tanzen eng beieinander. Bei ihnen war Kain zuletzt gewesen. Ich atme tief durch bevor ich auf sie zugehe.

„Hey, habt ihr Kain gesehen?“, frage ich und kann nicht verhindern, dass ich den beiden näher kommen muss. Kati blickt auf. Sie deutet Sina meine Anwesenheit an, die augenblicklich ihre Hand nach mir ausstreckt und mich dichter an sich heranzieht. Ich finde mich zwischen ihr und Kati wieder, spüre ihren Körper, der sich lasziv gegen meinen bewegt. Wenig später spüre ich auch Kati. Ein passender Song wäre jetzt ´Dirrty´ von Christina Aguilera, doch das Lied was einsetzt, ist ebenso bekannt, wie nervtötend. Rihannes Regenschirm- Lied verursacht mir Gänsehaut und erinnert mich zu gleich an die Person, die ich gerade suche. Ich wiederhole ein weiteres Mal meine Fragen und komme kaum gegen die Musik an. Es wird scheinbar immer lauter. Ein nächster Versuch. Sina reagiert nicht, sondern legte ihre Hände an meine Brust. Ich schiebe sie von mir weg, ernte ein beleidigtes Schmollen und frage mich zu wiederholten Mal, wo ihre seltsame Vorliebe für mich herkommt. Ich erwarte keine hilfreiche Antwort mehr, doch dann deutet sie in den Flur.

Auch hier dauert es einen Moment bis ich einen Überblick über die Gesichter bekomme. Es ist nicht Kain, den ich als erstes erkenne, sondern ihr rotes Haar. Sie trägt ein gelbes Kleid. Kurz und leicht. Ihre schmalen Hände streichen über seine Brust, während er seine linke Hand über ihren Rücken gleiten lässt. Sie flüstern. Er lächelt. Sie lacht. Ihre Blicke sind tief, zeigen die Vertrautheit zwischen ihnen.

Ich sehe, wie sich ihre Lippen gegen seine betten. Erst nur hauchzart. Unterschwellig fordernd bis er es erwidert. Er drückt sie näher an sich heran und ich drehe mich weg.
 

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PS: vom Autor: Ich danke euch allen von Herzen <3 Gebt mich nicht auf!!!!!

Die Krux mit Stolz und Vorurteil…und Rothaarigen

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Deeskalationsknigge für angehende Ornithologen und Steinflüsterer

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

My Home is my Zirkuszelt

Bitte, entschuldigt alle vorhandenen Fehler. Korrektur wird in ein paar Tagen nachgeholt!!!
 

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Kapitel 19 My Home is my Zirkuszelt
 

Kains Schultern neigen sich nach vorn und obwohl seine Worte fest und sicher klingen, kann ich deutlich erkennen, wie viel Kraft ihn dieser Augenblick kostet. Paranoide Schizophrenie, wiederholt sich in meinem Kopf und trotz mangelnden Expertenwissen, bin ich mir durchaus bewusst, was eine solche Diagnose zu bedeuten hat. Für die Betroffenen und für die Angehörigen.

Sie, seine Schwester ist sein wunder Punkt.

Kain senkt seinen Blick auf die Berührung unserer Hände. Ich ziehe meine zurück. Mehr aus Unsicherheit als aus Unbehagen. Dennoch ist es Kain, der etwas Abstand zwischen uns bringt und meine Reaktion negativ auslegt. Ich weiß nicht, was ich sage soll und richte meinen Blick in das mäßig beleuchtete Zimmer und denke unwillkürlich an das vorhin Geschehene. Meine Körper reagiert, wie von allein. Gänsehaut zieht sich über meinen Hals und ich ärgere mich über die Unpassenheit. Auch Kain sieht sich bedrückt im Zimmer um und setzt sich zurück auf sein Bett. Er wirkt unruhig. Ich folge ihm ein paar Schritte in den Raum hinein und bleibe am Schrank stehen. Die Entfernung beruhigt mich. Innerlich und äußerlich.

„Wie lange ist sie schon in der Anstalt“, frage ich um mich von den Gefühlen abzulenken, die mein Gehirn benebeln. Kain sieht auf und die Intensität seines Blickes brennt sich in mein Inneres. Noch heftiger als sonst.

„Fast 10 Jahre.“ Er stützt seine Arme auf den Knien ab und seine Hände beginnen fahrig miteinander zu hantieren.

„Ist sie jünger als du?“

„Nein, ein paar Jahre älter.“

„Helfen keine Medikamente?“, frage ich einfach weiter. Fast hilflos. Er dehnt seiner Finger und scheint mit den Gedanken weit weg zu sein.

„Doch, schon. Aber sie stellen ständig irgendwas um und dann gehen die Höhen und Tiefen von vorne los. Es ist schwierig. Vor ein paar Jahren war Sahara mal in einer betreuten Wohneinrichtung. Das hatte ihr gut gefallen und es ging ihr viel besser. Sehr lange sogar, aber…“ Er seufzt resigniert. Die Schwere, die er empfindet, ist deutlich zu erkennen. Ebenso zu fühlen. Selbst für mich.

„Abel versteht nicht, dass ich nur möchte, dass sie da wieder daraus kommt und ein normales Leben führen darf.“ Während er das sagt, sieht er auf. Verstehe ich es? Die Frage ist still, aber eindringlich. Ja, ich verstehe es. Denn lange Zeit wollte ich nichts lieber, als das mein Bruder wieder nach Hause kommt und ein normales, langes Leben führen darf. Genauso, wie ich ist Kain nicht naiv. Er weiß, dass seine Schwester mit einer derartigen Diagnose immer unter Beobachtung sein wird. Genauso, wie ich weiß, dass mein Bruder niemals wieder nach Hause kommt.

„Mit meinen Eltern ist es, als würde man andauernd gegen Windmühlen kämpfen. Sie bezahlen lieber eine teure Klinik, als irgendeinen Aufwand mit ihr zu haben, dabei würde ihr ein stabiles, eigenes Leben bei der Familie oder bei eine betreuen Wohneinrichtung viel mehr bringen. Na ja,...ich gebe jedenfalls nicht auf“, sagt Kain, als meine Gedanken abzuschweifen beginnen. Dass Aufgaben keine Option für ihn ist, habe ich schon öfter gemerkt. Es entlockt mir ein Lächeln, was auch Kain bemerkt. Er erhebt sich vom Bett und kommt auf mich zu. Sofort verspüre ich das dringende Bedürfnis einen Schritt zurück zu machen, doch ich habe den Schrank im Rücken. Kains aufmerksame Augen beobachten mich. Er erkennt mein Zögern. Er weiß um meine Unsicherheiten.

„Du hast die Klausur bei Professor Wellers schon geschrieben, oder?“, frage ich bevor er bei mir angekommen ist. Ich muss das Thema wechseln. Solch intensive Gespräche liegen mir nicht.

„Hab ich.“ Kain bleibt neben dem Schreibtisch stehen und öffnet die Schublade. Er greift nach einen grünen Hefter und hält ihn mir hin. Bereits auf dem ersten Blatt erkenne ich die notierten Fragen, die sich mit den Themen der Vorlesung decken. Als ich ihm das Teil abnehmen will, zieht er seinen Arm zurück. Obwohl ich im Inneren damit gerechnet habe, gucke ich blöd aus der Wäsche, was Kain erwartend heiter grinsen lässt.

„Mein Gedächtnis hat auch etwas Gutes. Wenn man die Kopfschmerzen außer Acht lässt, die die Leserei mit sich bringt“ Ganz automatisch deutet er Richtung Bett. Doch ich denke an alles andere nur nicht an die Kopfschmerzen.

„Dann höre auf zu lesen“, sage ich ruhig und mein Blick richtet sich auf den Roman aus meiner eigenen Hand, der auf seinem Schreibtisch liegt. Ich merke, wie mich ein unangenehmes Gefühl erfasst. Ich kann mich noch immer nicht mit dem Gedanken anfreunden, dass er meine Bücher liest. Dass er überhaupt davon weiß. Kains Augen folgen meiner Blickrichtung.

„Es gibt schon einige Dinge, für die ich die Kopfschmerzen gern in Kauf nehme.“, sagt er und macht eine kurze Pause bevor er mit seiner Aufzählung beginnt.

„Batman Comics, Terry Pratchett, die Gebrauchsanweisung für meinen neuen Radiowecker mit Uhrzeit-Projektionsfunktion…“ Kains Worte sind voll purer absurder Erheiterung und sie bringen mich zum Schmunzeln. Nur für einen Moment. Denn als sich sein Gesichtsausdruck langsam wandelt, weiß ich längst um seine Intention.

„Quincey Bird“, folgt als Ende seiner Liste. Es war abzusehen und trotzdem durchfährt mich ein tosendes Gewitter. Ein Donner der Überraschung. Eins. Zwei. Drei. Das Blitzen der Aufregung und es folgt das prickelnde Grollen der Scham. Mein Puls beschleunigt sich und dennoch blicke ich ihm erstaunlich ruhig entgegen.

„Diese eine Geschichte…hast du sie weitergeschrieben?“, fragt er mit flatternder Neugier.

„Nein“, lüge ich ohne zu zögern. Ich weiß sofort von welcher er spricht und in meinem Kopf formen sich die letzten intensiven Passagen, die ich vor wenigen Tagen niedergeschrieben hatte. Sie sind mir Wort für Wort im Gedächtnis geblieben und ich spüre sie in seiner Gegenwart, so als würde ich sie gerade erst wieder aufs Papier bringen.

„Wirst du es?“ Kain macht einen Schritt auf mich zu. Ich nutze seine unachtsame Nähe um mir den Hefter zugreifen und zur Tür zu flüchten.

„Wieso sollte ich?“, antworte ich bewusst ablehnend, sehe wie er enttäuscht die Augen schließt und dann wenig überrascht aufblickt. Ich kann ihm nicht erlauben es weiter zu lesen. Und auf keinem Fall darf ich ihm ermöglichen noch mehr über mich zu erfahren. Er weiß schon zu viel.

„Danke für deine Notizen“, sage ich schnell hinter und verlasse das Wohnheimzimmer, bevor mich der Schwarzhaarige davon abhalten kann. Ich verschwinde jedoch nicht gleich, sondern lasse zu, dass Kain mir folgt und im Türrahmen stehen bleibt. Er streckt seine Hand nach mir aus, legt den Zeigefinger unter mein Kinn und den Daumen gegen meine Unterlippe. Ich spüre die Rauigkeit seiner Fingerkuppen. Es beginnt zu prickeln.

„Heute danke ich dir, Spatz.“, gibt er neckisch retour.

„Du kannst mich mal“, entflieht mir unaufgeregt, aber symptomatisch wegen dem Spitznamen und weil mir der unterschwellige Hinweis auf die oralen Aktivitäten im Grunde peinlich ist. Ich würde es niemals laut aussprechen.

„Beim nächsten Mal unbedingt“, grinsend wackeln die Augenbrauen des Schwarzhaarige nach oben. Seine Äußerung entfacht ein Kribbeln stärkster Sorte in mir. Es erfasst mich heiß und sehnsüchtig. Während ich mich kopfschüttelnd abwende, schließt er langsam die Tür. Als das Schloss klickt, drehe ich mich wieder um. Ich greife zur Klinke und halte in meiner Bewegung inne, als die die Tür vom Nachbarzimmer aufgeht. Fast sofort erkenne ich den Song, der mit einem Mal laut aus dem Zimmer dringt und im Flur verhallt.

´Because when the sun shines, we'll shine together. Told you I'll be here forever´.

Eine Blondine hüpft heraus und verschwindet Richtung Toilette. Meine Hand bleibt an der Klinke liegen, während ich ihr nachsehe. Es schleicht sich ein Lächeln auf meine Lippen, als ich an meinen ganz eigenen Regenschirmmoment zurückdenke.

Kains vertraute, angenehme Stimme, die den nervigen Takt von Rihannas Song wiedergab, während er im Flur auf mich zukam. Sein spitzbübisches Lächeln.

`Under my umbarella…ella ella ey ey ey…´. Das warme Gefühl in meinem Inneren ist intensiv. Genauso, wie damals. Was macht er nur mit mir?
 

Lächelnd wende ich mich zum Gehen um und werde von Abel gestoppt, der mit einem Mal vor mir steht.

„Huch“, entflieht mir leise. Ich mache schnell einen Schritt zurück und trotzdem hat der Moment der Nähe ausgereicht um, deutlich Jeffs Geruch wahrzunehmen. Genau genommen nur das Parfüm. Ich spüre, wie sich meine Laune augenblicklich wandeln. Das warme Gefühl verflüchtigt sich und macht meiner eigensinnigen Unterkühlung Platz.

„1311.“

„Was?“, frage ich irritiert bei der Aufzählung der Zahlenreihe und runzele meine Stirn. Ich spüre ein feines Rumoren in meiner Magengegend und ziehe meine Schachtel Zigaretten hervor.

„Unser Türcode. Du darfst ihn gern benutzen. Wir benutzen euren ja auch. Was sag ich, wahrscheinlich ist er dir längst bekannt." Es schleicht sich ein eigeneartiges Lächeln auf Abels Lippen. Und wieder dieser Blick. Wahrscheinlich haben sie den Code der Tür an Abels Intelligenz angepasst. Damit kann man wirklich wenig falsch machen und ich haben ihn sofort im Gedächtnis, ohne ihn mir merken zu müssen.

Ich verspüre wenig Lust mich noch länger mit Abel auseinanderzusetzen, erwidere nichts und stecke mir gelangweilt eine Zigarette zwischen die Lippen. Ungerührt gehe ich an den Blonden vorbei. Ich komme nicht weit. Jeffs Freund hält mich zurück und packt dabei grob meinen Arm. Die Zigarette fällt zu Boden.

„Hey, du könntest wenigstens antworten oder bist du dir selbst dafür zu fein“, bellt er mir gereizt entgegen.

„Nimm deine Hand weg!“, knurre ich und merke, wie sich seine Fingerkuppen noch etwas stärker in meinen Muskel drücken. Es schmerzt. Abel beißt die Zähne zusammen. Ich ebenfalls.

„Was ist dein Problem mit mir? Bin ich dir je blöd gekommen? Hab ich dich beleidigt? Was? Oder passt es dir einfach nur nicht das ich deinen Freund ficke?“

„Nimm deine verdammte Hand weg“, wiederhole ich und versuche ihm meinen Arm zu entreißen. Abel ist stärker als er aussieht. Er kommt mir näher. Ich rieche erneut Jeffs Parfüm gemischt mit dem Geruch seines eigenen Adrenalins. Ich stoße ihn angewidert von mir. Nun ist es amtlich. Ich kann ihn einfach nicht riechen. Abel strauchelt und geht fast zu Boden. Doch er fängt sich und hat erneut diesen Gesichtsausdruck, der mich jedes Mal wieder angewidert Schaudern lässt. Der Blonde streicht sich imaginären Staub von den Ärmeln und leckt sich die Lippen.

„Kain hat Recht, du bist ein ziemlicher Kampfspatz. Dich zu ficken wäre sicher eine willkommene Abwechslung.“

„Wie bitte?“, frage ich angewidert, aber ungewöhnlich überrascht. Mit so einem Kommentar habe ich nicht gerechnet.

„Du hast mich schon verstanden.“

„Du bist widerlich!“

„Man wird ja noch fantasieren dürfen.“ Erneut schleicht sich dieses Grinsen auf seine Lippen.

„Du solltest aufpassen, dass dir Jeff wegen solcher dummen Kommentare nicht davonzwitschert.“ Abel macht einen Schritt auf mich zu und ich weiche keinen Millimeter zurück.

„Würde er nicht. Er bekommt von mir all das, was er sich wünscht und was er braucht. Und vieles, vieles mehr.“ Ich schnaufe abwertend, als der Blonde den letzten Teil auch noch besonders betont.

„Du wüsstest nicht mal, was Jeff braucht, wenn er es dir bunt aufmalt.“

„Aber du ja? Kaufst du ihm deshalb teure Sachen?“, fragt er weiter. Es ist so unfassbar absurd. Wieder dieses Thema. Wieder diese einfältige Eifersucht.

„Er hatte Geburtstag, Abel. Was stört dich am meisten? Das bisschen Duftwasser oder die Tatsache, dass du für Jeff nur ein Lückenbüßer bist?“, stichele ich absichtlich weiter. Abels Blick wird noch eine Prise erzürnter.

„Du, Mistkerl…“ Ich spüre seinen Atem fast auf meinem Gesicht, als er dichter zu mir aufschließt. Ich weiche nicht zurück. Es wäre nicht meine erste Prügelei und würde nicht meine letzte sein. Im Hintergrund schlägt laut eine Tür zu und bricht die Stimmung. Ich sehe, wie der Blick des anderen Mannes an mir vorbeigeht. Die Blondine aus dem Nachbarzimmer ist von der Toilette zurück und ich nutze die Ablenkung um endlich das Wohnheim zu verlassen. Diesmal hält er mich nicht zurück. Gut so, die Situation war kurz vorm eskalieren. Draußen beginnt es zu nieseln. Ich beiße noch immer die Zähne zusammen und bleibe einen Moment stehen. Der feine Regen kühlt mich ab. Langsam, aber ausreichend.
 

„Hey, wo warst du so lange?“, begrüßt mich Jeff, als ich zurück in unser Zimmer komme. Er klingt ekelhaft fröhlich und sitzt noch immer in einem Berg von Kleidungsstücken. Er scheint kein Bisschen vorangekommen zu sein. Über die Gründe will ich lieber nicht nachdenken.

„Spazieren…“, antworte ich lapidar. Ich streiche mir die Feuchtigkeit aus dem Gesicht, die der Nieselregen hinterlassen hat, werfe meine Jacke beiseite und lasse mich aufs Bett fallen. Mein Arm schmerzt und ich merke, wie die Wut zurückkehrt, die der Regen so schön weggespült hatte.

„Zwei Stunden lang?“, fragt er argwöhnisch. Ich seufze leise und von Jeff unbemerkt.

„Ich bin ausdauernd und der Campus ist interessanter als man denkt“, gebe ich monoton von mir, klinge wie ein Roboter und wenig glaubwürdig. Ich klopfe mein Kopfkissen zurecht, verschränke die Arme vor der Brust und schließe die Augen. Das Paradebeispiel für eine abweisende und genervte Haltung. Doch mein werter Mitbewohner scheint nicht gewillt meine Körpersprache zu lesen.

„Ausdauernd?“, kichert er, “Und wo warst du?“

„Jeff!“, seufze seinen Namen so theatralisch, wie es sonst nur Jeff selbst schafft, „lass es.“ Ich komplettiere meinen Unwillen, in dem ich mich auf die Seite drehe und dem anderen meinen Rücken zuwende. Ihm gegenüber ist es nicht die feine englische Art, aber Jeff weiß, dass mit mir nicht immer gut Scones essen ist. Ich ziehe meine Kopfhörer unter dem Kissen hervor und drücke auf Play.

Ja, Jeff weiß es. Doch im Moment nerve ich mich vor allem selbst. Habe ich das mit Abel provoziert? Vermutlich. Sollte ich Jeff zu Liebe versuchen mich mit Abel gut zu stellen? Vermutlich. Kann ich über meinen Schatten springen? Er ist groß. Und es stapeln sich meine Charakterschwächen zu kilometerhohen Hürden. Also vermutlich nicht. Ich kann Abel einfach nicht leiden und das wird sich sicher nicht mehr ändern. Ich sehne den Tag herbei, an dem Jeff erkennt, dass er ohne ihn und seine großspurigen Geschenke besser dran ist. Jeff hat jemanden Besseren als Abel verdient. Jemanden, der nicht mit den Fantasien herumläuft jemanden anderen zu ficken. Der Gedanke daran erfüllt mich erneut mit Ekel und Zorn. Wie konnte er mir das einfach so ins Gesicht sagen? Fassungslos drehe ich mich zurück auf den Rücken und werfe der Decke einen niederstreckenden Blick zu. Sie zeigt mir die kalte Schulter und ich kann es ihr nicht verübeln.

Vielleicht ergibt sich für Jeff schnellstmöglich etwas mit dem netten IT-Fritzen unserer Uni. Laptop. Wer es glaubt wird selig. Jeffs Miniaturcomputer ist so alt, dass man ihn höchstens als Türstopper benutzen kann. Wenn Jake ihm etwas anderes erzählt und Jeff es glaubt, kann man meinen Kindheitsfreund maximale Naivität vorwerfen.

Neugierig drehe ich mich wieder zurück und sehe zu meinem Mitbewohner, der genau in diesem Moment auf seinem Handy herumtippt. Weiß ich, was Jeff möchte und braucht? Ich bin mir nicht so sicher. Bis vor kurzem hatte ich nicht einmal gewusst, dass mein Freund am anderen Ufer plantscht. Trotz all der Jahre, die wir nun schon gemeinsam unterwegs sind. Was mache ich mir also vor? Ich bin nicht besser als Abel. Im Grunde erkaufe auch ich mir Jeffs Zuneigung, in dem ich ihm ab und an teure Geschenke mache. Wohlwissend, dass er sich darüber freut und mir Fehtritte verzeiht. Den Hinweis mit dem Parfüm hatte mir Lena gesteckt. Ich bin nicht mal selbst draufgekommen.

Auch ich habe seine Loyalität und Freundschaft nicht verdient. Als Jeff aufsieht und bemerkt, dass ich ihn beobachte, lächelt er. Ich erwidere es und er widmet sich wieder dem Wäscheberg.

Wann er wohl merkt, dass ich es nicht Wert bin? Mit diesem Gedanken schlafe ich ein. Es ist nicht das erste Mal.
 

Die Klausur am nächsten Tag absolviere ich auch ohne die gestrigen Panikmaterialien. Es gab keine Aufgabe, die ich nicht zu beantworten wusste. Keine, die mich halbwegs ins Schwitzen brachte. Selbst Shari berichtet mir am Abend, dass sie ihre Biochemieklausur ohne weitere Probleme gemeistert hat. Sie bedankt sich ausschweifend, während ich weiter an den indischen Leckereien knabbere und sicher bin, dass sie auch ohne meine Hilfe eine sehr gute Leistung vollbracht hätte. Manchmal ist es einfach eine Sicherheit zu wissen, dass man mehr als das Nötige getan hat.

Das Wochenende nutze ich um die Notizen mit der Klausur aus dem vorigen Semester durchzusehen. Mein Eifer gerät ins Wanken, als mich der Hefterbesitzer am Nachmittag mit Fotos seiner Trainingsfortschritte traktiert und daraus mit Emojis eine witzige Rätselgeschichte macht. Anscheinend ist Kain nicht ausgelastet. Sie endet mit einem sehr zweideutigen Angebot und ich bin für kurze Zeit tatsächlich versucht ihm einen Besuch abzustatten. Ich bleibe hart. Das Plutonit lässt grüßen.

Doch Kain ist nicht meine einzige Ablenkung. Auch Lena scheint zu Hause nicht zu wissen, was sie mit ihrem Wochenende anfangen soll und startet einen weiteren Versuch mich von dem Konzert zu überzeugen. Ich bekomme schon bei dem Gedanken daran Ohrenbluten und bin zum ersten Mal glücklich über die Fülle an ablehnenden Emojis, die mein Handy zu bieten hat. Neben dem Schwarzhaarigen und meiner Schwestern kämpfe ich zur selben Zeit noch mit meinem Zimmerkumpan.

Jeffs Begeisterung geht mir auf den Geist. Das gesamte Wochenende hüpft er aufgedreht durch das Zimmer, packt seinen Koffer mehr als drei Mal neu. Immer wieder anders. Er berichtet mir von den Dingen, die er unternehmen will und präsentiert mir dabei eine Mischung aus klischeehaft schnulzig bis halsbrecherisch draufgängerisch. Dabei sind ein Ritt auf einem weißen Schimmel am Strand und das Tauchen mit Haien, die garantiert nicht so vegetarisch sind, wie in Findet Nemo. Jeff klingt zu Beginn total begeistert und überzeugt. Ich bin beeindruckt. Nur bin ich es nicht lange. Im nächsten Augenblick ist er sich so unsicher, dass ich mich gezwungen fühle ihm zu versichern, dass das Tauchen mit Haien gar nicht unsicher ist. Er macht mich wahnsinnig.

Als wie uns am Montagmorgen voneinander verabschieden, habe ich das Gefühl in den letzten zwei Tagen nichts geschafft zu haben. Zu dem wiederholt Jeff zum hundertsten Mal, dass ich unbedingt an Ben denken muss. Mittlerweile bin ich so weit, dass ich Jeff nur noch antworte, dass sein Ficus vorzüglich zu einem marinierten Steak passen würde. Vielleicht auch zu Fisch. Wahlweise gebe ich ihm auch den Hinweis, dass er das Zierbäumchen lieber mitnehmen sollte, weil es im Falle eines Flugzeugabsturzes auf einer einsamen Insel die einzige Chance auf ein Floß wäre. Er will es nicht hören.

Am nächsten Abend schubse ich selbst ein paar Klamotten in die Reisetasche und lasse mich ins Bett fallen. Morgen die Klausur und danach die Fahrt nach Hause. 3 Wochen Familie. Ich führe den Gedanken nicht fort. Ich will es nicht. Aus vielerlei Gründen. Kurz darauf erreichen mich erste Urlaubsgrüße. Sie sind gut gelandet Sie sind aufgeregt. Alles ist toll. Jeff schafft es nicht, sich eine weitere Ermahnung zum Thema Ben zu verkneifen. Unwillkürlich schaue ich zu dem Ficus, der allein bei der gedanklichen Erwähnung seines Papas freudig zu zittern scheint. Gruselig. Nachdem ich das Fenster geschlossen habe, geht es mir besser und ich widme mich den Fotos.

Die beiden Blonden am Flughafen. Weit und breit keine Palme, weil es noch unser Regionaler ist. Die nächsten 5 Bilder zeigen das Innere des Flugzeugs, das Boardessen, einen Flugbegleiter und die Toilettenkabine. Jeffs quirlige Freude ist unübertroffen und ich wünschte er würde mir solchen Fotosafaris ersparen. Dennoch tippe ich das Nächste an und werde mit einem sonnigen Palmenfoto belohnt, gefolgt von klarem türkisfarbenen Wasser und Ausschnitten aus der Unterkunft. Eine kleine Holzhütte mitten auf dem Wasser. Eine Hängematte und frisches Obst. Bei dem Anblick wird man wirklich neidisch. Doch, wenn ich an die Hitze denke, vergeht mir der Gedanke wieder. Damals in Italien kam ich bei den Temperaturen auch an meine Grenzen. Die Toskana bei 30°C im Schatten ist schon eine Herausforderung. Vor allem, wenn man ringsum keinen Schatten findet.

Zum Schluss starre ich auf ein Gute-Laune-Pärchenbild. Jeffs Augen sind nicht zu erkennen, denn er trägt eine Sonnenbrille. Auch Abels Gesicht wird von großen abgedunkelten Gläsern dominiert und doch fällt mir bei ihm wieder dieses seltsame Grinsen auf. Eine Mischung aus perversen Grienen und dümmlichen Feixen. In mir regt sich der Wunsch ihm dieses Grinsen aus dem Gesicht zu polieren. Ein letzter Blick, dann schiebe ich das Telefon unter das Kopfkissen und versuche ein weiteres Mal einzuschlafen. Keine Chance.

Wenn ich nicht über die anstehende Klausur nachdenke, gebe ich mich erneut der Inneren Diskussion hin, ob ich Abel gegenüber nicht einfach netter sein sollte. Das Resultat ist eine schlafarme Nacht und die Gewissheit, dass mein Schatten bis nach Afrika reicht und meine Charakterschwächen nur noch mit einem guten Hypnotiseur zu überwinden sind. Kurz, es gibt keine Chance darauf, dass sich meine Einstellung gegenüber dem Blonden ändert.
 

Ich bin als erstes im Hörsaal und der Erste, der die Klausur ausgefüllt wieder abgibt. Ich schultere meine Tasche und stiefele zum Parkplatz. Der Schwarzhaarige wartet bereits auf mich und lehnt mit verschränkten Armen gegen Jeffs Auto. Wieder erkenne ich bei ihm Anspannung. Mit etwas Abstand bleibe ich stehen und sehe einen Moment lang dabei zu, wie Kains Hand fast behutsam über seinen Oberarm streicht. Es ist in den letzten Tagen so warm geworden, dass er nur ein T-Shirt trägt. Er ist in Gedanken. Seine Finger gleiten über den definierten Muskel und über die glatte Haut. Ich weiß genau, wie sie sich anfühlt und der Gedanken daran lässt mein Inneres erregt beben. Bevor ich die letzten Meter überwinde, atme ich tief durch und verbanne die Gedanken an Kains Körper, den Sex und an alles anderen in eine hintere Ecke meines Kopfes. Weder für die Fahrt noch für die kommenden Wochen sind sie zweckmäßig. Ich brauche insgesamt drei Atemanläufe um es wenigstens so weit zu vergraben, dass sich das intensive Kribbeln in meinen Gliedern auflöst. Bis ich bei Kain ankomme, halte ich die Luft an, was er definitiv bemerkt, aber zum Glück nicht kommentiert.

„Hey, wie lief die Klausur?“, fragt er lächelnd und deutet mir an, dass ich ihm meine Tasche geben soll. Ich reiche sie ihm, während er den Kofferraum öffnet und alles ordentlich darin verstaut.

„War okay. Eigentlich waren nur drei Fragen neu und der Rest waren eins zu eins, wie in deinen Aufzeichnungen.“ Augenscheinlich sind die Dozenten unserer Uni wenig einfallsreich oder einfach nur faul.

„Willst du noch eine rauchen?“

„Nein.“ Auch ich bin kein Fan davon, wenn es in so einem kleinen Raum penetrant nach Zigaretten stinkt. Als ich die Wagentür öffne, strömt mir der künstliche Geruch von Zitrone entgegen. Ich schubse einige Krümel beiseite und lasse mich auf den Beifahrersitz fallen.

Danach nehme ich meinen Laptop aus dem Rucksack und lege ihn auf meinem Schoss ab.

„Ist das dein Ernst?“ Kain lässt sich neben mir nieder.

„Was?“ Der Schwarzhaarige deutet mit hochgezogener Augenbraue auf meinen Computer.

„Wir sitzen jetzt mindestens 5 Stunden in dieser Blechkiste zusammen fest und du willst arbeiten?“ Der Schwarzhaarige klingt übertrieben verständnislos. Doch ich habe keines falls Lust mit ihm Scharade zuspielen oder eine Ode an den Busfahrer trällern. Demonstrativ fahre ich meinen Laptop hoch, während Kain seufzend sein lautendes Telefon aus der Hosentasche kramt. Er schenkt ihm einen kurzen Blick und er legt es ohne ranzugehen kopfüber in der Mittelkonsole ab.

„Willst du nicht rangehen?", frage ich und blicke auf das noch immer lustig vibrierende Gerät.

„Nein.“

„Warum?“

„Darum.“

„Ist irgendwas?“

„Nein, nichts" Die Ausmaße dieses Nichts kann ich deutlich an seinem Gesicht ablesen.

„Das nichts also. Deine Eltern?", hake ich nach. Kain gibt erneut ein undefiniertes Geräusch von sich. Eine Mischung aus Raunen, Murren und Seufzen. Er fährt sich mit der flachen Hand über den Mund und scheint eher unwillig mit mir darüber reden zu wollen.

„Nicht meine Eltern. Es ist Merena." Bei der Erwähnung der Rothaarige merke ich sofort, wie meine Kommunikationsbereitschaft absackt. Symptomatisch weiche ich seinem Blick aus und versuche so jegliches Interesse auf eine Nulllinie zu drücken. Mit wenig Erfolg.

„Sie will etwas mit mir besprechen. Aber es ist nichts weiter“, beschwichtigt er.

„Dann hättest du ja rangehen können“, kommentiere ich ungewollt zickig und kassiere einen verständnislosen Blick. Heute bekommen wir keine Preise für gepflegte Konversation.

„Hätte ich.“

„Okay.“

"Gut!"

"Gut!", knurre ich streitlustig zurück.

„Wird das jetzt bei jedem Gespräch so ablaufen? Dann können wir uns das reden echt sparen“, erwidert er ebenso angriffslustig. Bei der Erwähnung der Rothaarige setzt bei mir der Verstand aus. Jedes Mal wieder. Auch jetzt.

„Na ja, wir können stattdessen auch für einen Quickie rechts ranfahren!“, schlage ich vor. Irgendwas in meinem Inneren schreit danach Kain zu verdeutlichen, dass er sich dieses Miststück in keiner Weise warm halten muss.

„Und wie lange willst du für die Strecke brauchen, wenn wir jedes Mal, wenn sich ein Gespräch zwischen uns anbahnt, anhalten und ficken?“

„Vorausgesetzt, wir nehmen den Sinn von Quickie ernst…“

„Du machst mich fertig. Weißt du das?“, kommentiert er ungeduldig und schnallt sich an. Er fordert mich ebenfalls dazu auf. Ich gehorche und vertiefe mich in mein Skript.
 

„Du bist wirklich ein lausiger Beifahrer!“, murrt er mich nach einer Weile von der Seite an. Als ich aufsehe, richtet sich Kains Blick stur auf die Straße. Doch je länger ich ihn anschaue, umso öfter schielen seine dunklen Augen seitlich zu mir bis er kurz komplett zu mir sieht.

„Was? Du bist wirklich ein grausiger Beifahrer. Ich schlafe gleich ein“, seufzt er mir entgegen und streckt seine Hand nach dem Radio aus. Er schaltet es ein. Als er seine Finger wegnimmt, greife ich direkt zu dem Regler und stelle es wieder ab. Mit lauter Musik kann ich nicht arbeiten. Jedenfalls dann nicht, wenn sie nicht aus meinen Kopfhörer kommt.

„Okay, wenn ich nicht mal Musik hören darf, dann rede mit mir.“

„Jeff möchte nicht, dass ich ihn vollquatsche“, kommentiere ich ungerührt.

„Ich bin nicht Jeff, falls dir das noch nicht aufgefallen ist“, knurrt mir Kain entgegen und ich komme nicht umher verwundert aufzublicken. Was war das denn?

„Ist mir aufgefallen, aber auch nur, weil du grundsätzlich 15 km/h zu schnell fährst. Ist dir das aufgefallen?“

„Sagt mir derjenige, der nicht einmal einen Führerschein hat.“

„Verklag mich“, nutze ich Kains Spruch diesmal für mich und ignoriere seine Grimasse, die mich tonlos nach äfft. Ich sehe zurück auf meinen Laptop und bin bei der Formulierung noch kein Stück weitergekommen.

„Warum eigentlich nicht?“, fragt er Kain nach kurzer Stille.

„Warum, was?“, frage ich abgelenkt und sehe nicht einmal auf.

„Wieso sind deine Augen grün und blau! Na, was wohl? Warum hast du keinen Führerschein?“

„Ich habe ihn nicht geschafft. Ganz einfach. Und ich finde Autofahren gruselig“, erkläre ich lapidar. Hinter dem Steuer fühle ich mich nicht wohl. Meine praktischen Fahrstunden waren der blanke Horror und das lag vor allem an der tiefsitzenden Angst irgendwas anzufahren.

„Das passt so gar nicht zu dir, Kampfspatz“, kommentiert Kain skeptisch. Ich zucke nur mit den Schultern und versuche die Gefühle zu verdrängen, die langsam, aber sicher meine Gedanken verdunkeln. Kain weiß, dass meine Augenfarbe grünblau ist. Verspätet, aber nun echot der Fakt durch meinen Kopf und verursacht mir ein seltsames Kribbeln in den Zehenspitzen.

„Und das passt auch nicht zu dir“, kommentiert Kain die untypische Nichtreaktion auf die Verwendung einer seiner Kosenamen für mich.

„Quickie?“, frage ich statt ihm eine ordentliche Antwort zu geben und erreiche das, was ich will. Kain seufzt. Dennoch schalte ich nach einem Augenblick das Radio für ihn ein. Es spielt eine interessante Version von ´I follow river´ interpretiert von Triggerfinger. ´ I follow you. Dark room honey, I follow you´.

„Du willst wirklich reden?“, frage ich, „Ich weiß von Sinas Angebot.“ Kains Daumen, der eben noch den Takt des Lieder auf dem Lenkrad mitgetippt hat, erstarrt.

„Tatsächlich?“, entgegnet er ruhig, vollkommen unaufgeregt und schaut weiterhin auf die Fahrbahn. Seine Reaktion irritiert mich.

„Ja, sie war noch immer Feuer und Flamme für die Idee“, stichele ich.

„Ist sie das?“ Wieder so eine seltsame Reaktion. Doch diesmal schaut er kurz zur Seite.

„Ich frage mich ja nur, warum du es nicht erwähnt hast. Sie übrigens auch.“ Fahrig streiche ich mir mit der Hand über den Bauch. Ich bekomme Hunger und das Bedürfnis nach einer Zigarette wird immer dringlicher.

„Willst du es denn?“, fragt er mit eigenartig ruhiger Schärfe, die mich aus der Bahn wirft. Überrascht sehe ich zu ihm, doch Kains Blick ruht auf der Straße. Ich weiß nicht, was ich ihm entgegnen soll und das offenbart das viel größere Problem. Ich weiß nicht einmal, warum ich es angesprochen habe. Was habe ich erwartet? Sina gegenüber habe ich es bereits verneint. Hat mir das nicht gereicht?

„Ich brauche eine Zigarette“, sage ich statt ihm zu antworten.

„Gut, ich nehme die nächste Ausfahrt.“ Kain streicht sich durch die schwarzen Haare.
 

An der Reststatte schwingt Kain seine langen Beine aus dem Wagen und steuert geradewegs die Toiletten an. Ich bleibe noch einen Augenblick sitzen und krieche danach mehr schlecht als recht auf den Asphalt. Meine Knochen knacken. Laut und unheimlich. Draußen greife ich mir in den Nacken, massiere unbeholfen die harte Stelle und strecke danach meine Arme in die Luft. Diesmal knackt es in meinem Nacken.

Es ist kühl, aber die frische Luft fühlt sich gut an. Die Stimmung eben im Auto war seltsam gewesen. Wieso hatte er so eigenartig verhalten? Ich lehne mich gegen das Auto und ziehe mir eine Kippe aus der Jackentasche. Nach kurzem Zögern stecke ich sie mir an und nehme einen tiefen Zug. Vermutlich wird es ein der Letzten sein für die nächsten drei Wochen. Fast wehmütig starre ich die Glut an und versuche das rauchige Kitzeln auf meiner Zunge zu genießen. Es funktioniert nicht. Ich sollte aufhören. Die Stimme meiner Mutter echot passend dazu durch meinen Kopf, wie ein zustimmendes Mahnen. Fast trotzig nehme ich einen weiteren tiefen Zug und blase den Rauch gen Himmel.

Als Kain zurückkommt, rauche ich die zweite letzte Zigarette. In seinen Händen hält er einen Pappbecher mit Kaffee und irgendwas Buntes.

„Hier!“ Er wirft es mir entgegen. Ich fange es, spüre Kälte und starre verwundert auf ein Eis.

„Jeff meinte, so kann ich dich bei Laune halten.“ Als müsste man mich besänftigen, wie ein kleines Kind. Mir fallen da noch ganz andere Dinge ein, die mich bei Laune halten würde. Eis ist aber auch gut. Kain grinst und kramt im Kofferraum nach einer Flasche Wasser. Zusammen mit den Getränken gesellt er sich zu mir. Das Wasser stellt er auf dem Autodach ab. Ich lasse den Stummel der Zigarette zu Boden fallen und fummele danach das Eis aus der Packung. Das Plastik werfe ich, an Kain vorbei Richtung Müllereimer. Wenige Zentimeter davor fällt es zu Boden. Kain seufzt, bückt sich und sieht mich verärgert an.

„Umweltverschmutzer“, kommentiert er gerechtfertigt. Ich schiebe mir demonstrativ das zylindrische Wassereis zwischen die Lippen, was Kain tatsächlich kurz stocken lässt. Was für ein Klischee. Ich widere mich gerade selbst an. Er vollführt ein beeindruckendes Augenkreisen und lässt das Papier im Mülleimer verschwinden. Danach greift er seinen Kaffee, pustet den Dampf beiseite und nimmt einen winzigen Schluck.

„Wow, der Kaffee hat die Konsistenz von Teer.“ Kain verzieht das Gesicht und nimmt darauf gleich einen weiteren Schluck. So schlimm kann es nicht sein. Ich sehe amüsiert dabei zu, wie er danach nochmal extrem das Gesicht verzieht und irgendwas von versuchtem Mord und Säureanschlag murmelt. Mein Eis ist definitiv besser. Ich kann nicht klagen und genieße es ohne verbale Ausfälle. Auch Kain scheint sich langsam, aber sicher an sein Getränk zu gewöhnen. Er hört auf zu fluchen und als ich zu ihm sehe, blickt er mich an. Irgendwas liegt ihm auf der Zunge.

„Wegen Sina…“, beginnt Kain.

„Sie ist nicht mein Typ… Also… lass es gut sein“, sage ich unterbrechend und seltsam zusammengestottert. Ich hoffe, dass Kain damit das Thema ad acta legt. Denn ich bin mir immer noch nicht sicher, warum ich es eigentlich angesprochen habe. Welche Reaktion habe ich von ihm erwartet? Dass er sich gegen die Stirn schlägt und lachend bekennt, dass er es vergessen hatte? Oder dass er peinlich berührt, gesteht, dass er es für ihn nicht in Frage kommt? Sowas lächerliches.

Kurz spähe ich in Kains Richtung. Noch immer sieht er mich. Forschend und ergründend. Ich frage mich wieder, ob er es schaffen wird mich zu durchschauen. Oder ob er nicht längst dazu in der Lage ist.

„Was?“, pöbele ich ihm abwehrend entgegen.

„Nichts.“ Kain widmet sich schnell seinem Kaffee und schafft es nicht sich ein deutliches Grinsen zu verkneifen.
 

Kaffee und Eis vertilgen wir schweigend. Die restlichen Kilometer der Fahrt verlaufen trotz alledem harmonisch. Das Radio spielt leise Musik, während wir uns über das Essen in der Mensa, die Snackautomaten, die Eigenheiten mancher Dozenten und die Spielleistung unserer unieigenen Footballmannschaft unterhalten. Fast normal. Fast angenehm.

Kain überlegt im kommenden Semester ins Footballtraining einzusteigen oder mit Rugby zu beginnen. Er ist sich uneins. Ei ist Ei. Ich frage mich nur, wann er dafür noch Zeit finden will. Andererseits kommen seine Muskeln nicht von irgendwoher. Wie oft er wohl Zeit im Fitnessstudio verbringt? Ich bin versucht ihn zu fragen, doch dann merke ich, dass wir am Eingangsschild meines Heimatortes vorbeifahren.

Es ist keine große Stadt. Aber weitläufig. Sehr grün und familienfreundlich. Eher ländlich als städtisch. Doch gerade die Anonymität einer richtigen Stadt hat mir hier immer gefehlt. Während ich Kain in die richtige Straße lotse, spüre ich, wie sich langsam, aber sicher Unruhe in mir ausbreitet. Ich weiß nicht mal, ob einer da ist. Ich habe weder gefragt, noch habe ich mein Kommen vorher angekündigt.

„Hallo?“, rufe ich in das ruhig wirkende Haus meiner Familie. Es dauert nicht lange und meine Mutter steckt ihren Kopf durch die Tür zur Küche.

„Robin?“, fragt sie verwundert und beginnt zu lächeln, als sie merkt, dass ich keine Fata Morgana bin. Mit einem Geschirrtuch in der Hand kommt sie auf mich zu. Ihre Arme schließen sich fest um mich. Sie riecht nach Spülmittel und einem von Hauch Zimt.

„Hey“, murmele ich, puste ein paar ihrer hellbraunen Haare davon, die mir im Gesicht rumkitzeln.

„Mit dir haben wir noch gar nicht gerechnet. Wie schön.“ Sie drückt mich ein weiteres Mal an sich und entdeckt dann Kain, der brav wartend hinter mir steht.

„Oh, Hallo“, sagt sie freundlich lächelnd.

„Hi, ich bin Kain, der neue Chauffeur.“ Der Schwarzhaarige nimmt mir die Erklärung vor weg, reicht meiner Mutter die Hand.

„Chauffeur? Herrje…“, kichert sie und erwidert die dargebotenen Begrüßung. Ich sehe mich genötigt den Schwarzhaarigen zusätzlich noch als einen Kommilitonen vorzustellen.

„Und wo habt ihr Jeff gelassen?“, fragt sie hinterher und lädt Kain ins Haus ein.

„Der brät irgendwo in der Südsee“, erkläre ich und halte nicht hinterm Berg, wie sehr es mich nervt.

„Ich würde auch lieber in die Südsee fahren, als mit dir stundenlang im Auto zu sitzen.“ Die klare, ungewöhnlich tiefe Stimme meiner Schwester dringt uns von der Treppe entgegen. Den Kommentar begegne ich nur mit einem trägen Brauenzucken, während sie energisch die Stufen runter tänzelt. Ihre schulterlangen dunkelblonden Haare hat sie zu einem kurzen Pferdeschwanz zusammen gebunden.

„Sei nicht so gemein“, mahnt meine Mutter und streichelt mir danach besänftigend durchs Haar. So, als würde sie befürchten, dass bereits jetzt der große Streit ausbricht. Ich bin zu müde und gelangweilt um darauf einzugehen. Lena wartet nicht bis ich meine Jacke vollständig ausgezogen habe, sondern empfängt mich mit einer enthusiastischen Begrüßungsumarmung bei der praktischerweise meine Arme noch in den Ärmeln gefangen bleiben. Ich kann mich nicht wehren. Lena ist schlank, aber trainiert und hat eine erstaunliche Kraft. Sehr zu meinem Leidwesen.

„Lena, meine Schwester“, sage ich gequält in Kains Richtung und winde mich aus der geschwisterlichen Umklammerung.

„Hi. Kain.“ Er reicht ihr die Hand. Sein Blick ist fragend. Ich weiß warum. Wir sehen uns nicht sehr ähnlich. Was größtenteils daran liegt, dass wir nur Halbgeschwister sind. Wir haben beide einen anderen Vater und schlagen jeweils nach diesen.

„Hi. Was macht Jeff in der Südsee?“

„Liebesurlaub“

„Na, wird auch Zeit, dass er endlich von dir weg kommt“, plaudert Lena freimütig. Ich will sie erwürgen. Meine Mutter erkundigt sich, aus der Küche rufend nach unseren Nahrungsbedürfnissen und schlägt Kaffee, Tee und Kekse vor. Lena begeistern die Kekse, Kain der Kaffee und ich sehne mich nach einer Zigarette.

„Wie war das gemeint?“, fragt Kain verspätet auf Lenas Andeutung und sieht zu meiner kessen, freudig nach Gebäck klatschenden Schwester.

„Lena ist der Überzeugung, dass Jeff in mich verliebt sein muss oder Masochist ist, weil sie sich partout nicht erklären kann, wie er es schon so lange mit mir aushält“, komme ich ihr zuvor.

„Es muss wahre Liebe sein“, flötet uns Lena entgegen und verschwindet in die Küche. Ich verdrehe die Augen. Jedes Mal wieder muss ich mir diese alte Leier anhören. Jedes Mal wieder geht es mir tierisch auf die Nerven.

„Sie hat zu viel Fantasie“, kommentiere ich gelangweilt und hänge meine Jacke endlich an der Garderobe auf. Ich nehme auch Kains und platziere sie über meiner.

„Scheint wohl in der Familie zu liegen.“ Ich sehe zu Kain, der sich neugierig umschaut. Ohne weitere Erklärungen greife ich meine Tasche und gehe nach oben. Ich höre, wie mir der Schwarzhaarige folgt und drehe mich nicht zu ihm um, sage auch nicht, dass er es nicht soll.
 

Meine Zimmertür ist offen. Die Rollläden sind unten, so dass nur wenig Licht in den Raum dringt. Ich ignoriere es und gehe weiter. Der Hauptteil meines Zimmers ist ein Anbau über der Garage. Davor befindet sich ein kleiner Raum, den ich als Arbeitsplatz benutze. Er hat einen großen Schreibtisch und einen direkten Übergang zu Lenas Ankleidezimmer und zu einem kleinen Bad.

Ich werfe meine Tasche aufs Bett und öffne die Rollläden vollständig. Ebenso, wie eines der Fenster. Kain folgt mir in den Hauptraum und bleibt neben einem der Bücherregale stehen.

„Du bist ein Verfechter des Minimalismus, oder?“, sagt er und sieht sich in dem spärlich eingerichteten Zimmer um. Ich selbst lasse meinen Blick schweifen. Vieles habe ich bei meinem Auszug mit ins Wohnheim genommen. Wirklich viel besessen habe ich jedoch nie.

„Ich suche nur nicht gern“, erkläre ich ruhig und spüre, wie mich Müdigkeit überkommt. Das Sitzen und die Fahrt waren anstrengend. Die letzten Wochen waren es. Außerdem spüre ich, wie jedes Mal eine innere Anspannung, wenn ich nach Hause komme.

„Ihr seht euch gar nicht ähnlich. Du und Lena“, bemerkt er beiläufig, was ich vorhin schon erahnt habe. Mit dem Zeigefinger kippt er interessiert einige Bücher nach vorn und dann zu mir.

„Wir haben nicht denselben Vater“, sage ich. Ich öffne die Tasche und lege meine Laptop und einige Klamotten zur Seite. Ich bin müde.

„Geht’s dir gut?“, fragt er und setzt sich neben meine Tasche aufs Bett.

„Sicher. Warum fragst du?“ Kain streckt seine Hand nach mir aus und zieht mich am Hosenbund zu sich heran. Ich wehre mich nicht gegen die Annäherung des anderen Mannes. Auch nicht, als seine Finger nicht aus meinem Hosenbund verschwinden. Meine Haut beginnt zu prickeln und er verhindert, dass ich mich wieder von ihm entferne.

„Du wirkst angespannt und von der Fahrt muss ich nicht anfangen, oder?“ Nein, muss er nicht. Ich weiß selbst nicht, was zwischendurch mit mir los war.

„Ich bin nur müde. Nachwirkungen der ganzen Lernerei“, sage ich fest, aber ausweichend. Auch, wenn es stimmt. Es ist nicht der eigentliche Grund. Kain nickt und ich spüre, wie sich seine warme Hand einen Weg unter meinen Pullover sucht. Meine Hand legt sich auf seinen Unterarm ohne ihn daran zu hindern. Auch er sieht müde und geschafft aus. Er streichelt sich über meinen Bauch. Immer höher. Bis ich ihn stoppe.

„Nicht.“ Es ist mir tatsächlich unangenehm bei dem Gedanken, daran dass meine Mutter und Lena unten rumlaufen. Wie zu Bestätigung ruft sie nach uns. Kain zieht seine Hand nicht sofort zurück, sondern lässt sie an meiner Hüfte verweilen und bettet einen Kuss auf den Stoff des Pullovers an der Stelle meines Bauchnabels. Seine Augen sind geschlossen.

Meine Mutter ruft erneut. Lena vertilgt bereits alle Kekse. Mich dürstet es nach einer Zigarette. Ich sollte dringend wieder auf Kaugummis umsteigen. Oder Gummibärchen. Wie brave Lemminge traben wir die Treppe hinunter. Im Flur wartet meine Mutter und trocknet per Hand einen Glasteller ab. Sie hat das gute Geschirr herausgeholt.
 

„Ich komme gleich nach“, sage ich, deute zur Seite und biege zur Toilette ab. Kain nickt und folgt meiner Mutter ins Wohnzimmer.

Ich beuge mich über das Waschbecken und betätige den Hahn. Die Kühle des Wassers ist hilfreich. Eine volle Ladung platsche ich mir ins Gesicht und streiche mir etwas Feuchtigkeit in den Nacken. Ich sehe eine Weile dabei zu, wie abperlende Tropfen über die Keramik in den Abfluss verschwinden. Ich höre meine Mutter und Lena lachen. Ebenso Kain. Die dunkle Nuance seiner Stimme hebt sich deutlich von den beiden Frauen ab und ist mir in diesem Moment vertrauter, als alles andere. Es ist eigenartig.

Was Kain ihnen wohl erzählt? Die Neugier in meinem Inneren beginnt zu explodieren. Langsam, aber stetig. Das Handtuch, an dem ich versuche meine Hände zu trocknen, ist nass. Ich streiche mir mit der Restfeuchte meiner Hände die Haare zurück und krame im Flurschrank nach einem weniger schmuddeligen Handtuch. Ich horche auf, als ich die Tür höre und wie etwas Massives auf den Boden aufschlägt. Dasselbe kippt wenig später vollends um und verursacht ein weiteres lautes Geräusch.

Ich beuge mich aus dem Türrahmen zur Quelle der Geräusche und sehe Hendrik, der seine schwere Arbeitstasche wieder aufrichtet und leise murmelnd den Tag verflucht.

„Hallo Hendrik“, sage ich aus dem Badezimmer heraus, hänge das Handtuch zurück nachdem meine Hände endlich trocken sind.

„Robin?“ Mein Stiefvater kommt auf mich zu. Eine kurze Umarmung. Ein ausweichendes Lächeln. Wir erkundigen uns der Form halber, nach dem gegenseitigen Befinden. Verwenden beide denselben Wortlaut, als wir uns erklären, dass alles gut ist. Nur ein kleinen wenig Stress, aber das seien wir gewöhnt. Hendrik ist Ingenieur bei einer großen Automobilfirma und betreut etliche Projekte. Ich weiß nicht, ob er jemals keinen Stress hatte.

Erneut dringt lautes Gelächter aus dem Wohnzimmer. Verwundert schaut er zu mir und kräuselt seine Stirn.

„Gehört der große Kerl zu dir?“ Die Vorstellung einer wie Kain könnte sich an seine kleine Tochter ran machen, lässt ihn innerlich brodeln.

„Ja, keine Sorge. Deine Tochter ist schlau genug, euch ihren Freund erst dann vorzustellen, wenn sie unübersehbar schwanger ist.“

„Nicht witzig.“ Sehe ich anders. Hendriks Miene versteinert sich. Er hat es nicht leicht mit mir. Nie gehabt.

„Kain hat mich gefahren. Er ist ein Kommilitone“, gebe ich als Erklärung von mir und sehen, wie sich sein Gesicht wieder entspannt.

„Das ist doch, aber Jeffs Auto in der Auffahrt, oder?“, fragt er. Natürlich weiß er, was Jeff für ein Auto fährt. Ich würde höchstwahrscheinlich stundenlang im Parkhaus danach suchen. Bis gestern wusste ich nicht mal, welche Farbe es hat. Ich weiß es auch jetzt schon nicht mehr.

„Ja, er hat es uns geliehen und holt sich irgendwo in der Südsee einen Sonnenbrand.“

Gemeinsam gehen wir zu den anderen ins Wohnzimmer.

„Kains Studiengang viel cooler als deiner...", merkt Lena trocken an, noch bevor ich mich richtig hingesetzt habe. Sie entlockt dem anderen Mann mit dem augenscheinlich cooleren Studiengang ein herzhaftes Lachen.

„Klar, wenn man drauf steht nutzlosen Organismen beim Wachsen zu zusehen, dann ist das total cool...", kommentiere ich exorbitant abwertend, greife nach einem der Kekse und spüre direkt danach einen leichten Rüffel am Hinterkopf. Ich drehe mich empört zu meiner Mutter um.

„Hey!!“, beschwere ich mich lauthals, aber zwecklos.

„Dass sahst du damals bei deinem ersten Hefeteig anders.“ Boden öffne dich. Sofort. Bitte. Ich werde nicht erhört. Kain lacht erneut, genauso, wie meine kleine Schwester. Mir wird klar, dass ich in dieser Konstellation immer den Kürzeren ziehen werde. Alle auf mich, kommt schon ich halte es aus. Ein leichtes, provozierendes Knurren kann ich mir trotzdem nicht verkneifen. Es folgt eine weitere Kopfnuss meiner Mutter, gefolgt von einen sanften Kuss, der sich gegen meine Schläfe drückt. Diese liebevolle Geste ist ein wichtiger Bestandteil ihrer Liebe zu mir. Es ist Beruhigung und Mahnung zugleich. Unwillkürlich sehe ich zu dem Schwarzhaarigen. Auch er vermittelt mir von Zeit zu Zeit diese sonderbare Form der Zuneigung. Nur etwas anders. Wahrscheinlich macht er es unbewusst. Vielleicht nicht mal gewollt. Mich bringt es zusätzlich durcheinander.

„Und Kain, fahren Sie noch weiter?“, fragt Hendrik, während er dankend eine Tasse Kaffee entgegen nimmt und seine Frau begrüßt.

„Ja, meine Eltern wohnen noch etwa 3 Stunden von hier entfernt.“ Kain deutet in mehrere Richtungen, weil er einfach nicht weiß, wo Norden, Süden oder Westen ist. Ich bin mir nicht einmal sicher, wo genau er nachher hinmuss. Nur die Lüge im Zusammenhang mit seinen Eltern fällt mir auf.

„Oh, Sie sollten nach so einer langen Strecke nicht mehr fahren. Wir haben ein gemütliches Gästezimmer, welches Sie heute Nacht gern nutzen können“, schaltet sich besorgt meine Mutter ein, sieht lächelnd zu Kain und danach zu mir. Auch Kains braune Augen suchen mich, so als würde er von mir eine Bestätigung hören wollen. Ich zucke nur zaghaft mit den Schultern und kaue auf dem Haferkeks herum.

„Ähm...ja, gern. Vielen Dank.“ Er entspannt sich sichtbar, als die Option Weiterfahren wegfällt.

Nach einer kurzen Inspektion über die Zustände meiner universitären Leistungen, Vorkommnisse und der letzten Klausuren, wird Kain gnadenlos als Vergleichsprobe herangezogen. Wenigstens teilweise bestätigt der Schwarzhaarige meine Versionen, lächelt und fügt sich unbeschwert in jede Unterhaltung ein. Selbst Hendriks kritische Fragen nach Jobaussichten und Möglichkeiten meistert er souverän und ich bin damit zufrieden, dass dieses Mal nicht ich zum Verhör geladen bin. Zudem ist es eine gute, unauffällige Chance etwas über Kain zu erfahren. Und es ist einiges. Er hat schon Pläne für seine Abschlussarbeit und verhandelt seit einiger Zeit mit einer Firma um einen bezahlten Praktikumsplatz. Solche Äußerungen höre ich zum ersten Mal. Als sich Hendrik erkundigt, wie es bei mir aussieht, verweise ich auf die zwei Semester unterschied, die zwischen mir und Kain herrschen. Für ihn ist es kein Argument und mir fehlt die Muße, um mit ihm darüber zu streiten. Da keiner aus meiner Familie weiß, dass ich nebenbei Bücher schreibe, ist die Diskussion über den finanziellen Zusatzverdienst und die damit fehlende Studienzeit immer groß. Sie befürchten, dass ich das Studium dadurch irgendwann vernachlässige. Ich korrigiere es nicht und kläre auch nicht auf, dass das Schreiben in keiner Weise benachteiligend ist. Ich merke, wie mich Kain beobachten und sich schwer zurückhalten kann. Ich bin ihm dankbar, dass er es trotzdem nicht macht.
 

Kain ist in jeder Hinsicht ein guter Gast. Freundlich. Zuvorkommend. Hilfsbereit. Als sich das Abendessen anbahnt, ist Kain der erste, der aufsteht und meine Mutter Hilfe anbietet. Ich bewege mich erst nachdem Hendrik fast ein Loch in meine Brust gestarrt hat und mehrere Mal den Eindruck erweckt er würde gleich Staubbällchen husten. Bei Lena reichen zwei Blicke. Ich schnappe mir das Besteck und brauche außerordentlich lange um es um die Teller zu arrangieren. Auch danach bleibe ich nur im Türrahmen stehen und sehe dabei zu, wie die beiden Frauen mit Gewürzen hantieren und Kain dazu verdonnert ist Kartoffeln zu schälen. Es scheint ihn nicht zu stören. Ich setze mich zu ihm an den Tresen und schnappe mir das zweite Messer. Kains Knie kippt gegen meines und er hält mir grinsend eine Kartoffel entgegen, die nach seinem Schnitt, wie ein Häschen mit drei Ohren aussieht. Nachdem ich es in hauchdünne Scheibe zerschnitten habe, ist nichts mehr davon zu erkennen. Während das Kartoffelgratin im Ofen gart, ist es Lena, die, die Fragerunde fortsetzt und ebenso freimütig über ihr aufregendes und skandalöses Schulleben berichtet. Es gibt nichts Interessanteres, als das Leben einer 16-jährigen. Bitte erschießt mich.

Als sie nach nur wenigen Minuten auf das Thema Sport kommen, haben sich Kain und Lena endgültig gefunden. Sie spielt seit Anfang des Schuljahres Hockey. Das ist selbst mir neu. Dass Kain während seiner Schulzeit ebenfalls eifrig dem Puck nachgejagt ist, überrascht mich allerdings wenig. Was hat er eigentlich nicht gemacht?

Beim Essen selbst haben wir jeden Sport einmal besprochen. Außer Eiskunstlauf. Sehr zum Ärger meiner Mutter, da dass das Einzige wäre, was sie sich anschaut. Ich bin bei C für Curling ausgestiegen und konzentriere mich darauf das seltsame Gemüse nicht mit zu essen, welches sich zwischen den Kartoffeln versteckt.

„Robin, nun folgt dein Part. Zutaten stehen in der Küche.“ Meine Mutter sieht mich auffordernd an und ich lasse meine Gabel samt Kartoffel sinken.

„Ich esse noch“, sage ich, deute auf meinen noch nicht leeren Teller und ignoriere die Tatsache, dass alle anderen schon fertig sind. Es ist mir ein Rätsel, wie meine Familie so schnell essen kann.

„Du sortierst seit 10 Minuten den Kohlrabi aus den Kartoffelgratin, das ist kein essen“, gibt Lena zum Besten und klaut mir ein Stück des benannten Gemüses vom Teller.

„Los ab, mach den Nachtisch“, fordert sie dann grinsend. Ich gebe mich den Blicken der Familie geschlagen und füge mich meinem Schicksal.

„Orangen?“, erkundige ich mich auf dem Weg in die Küche.

„Stehen im Kühlschrank“, flötet mir Lena hinterher und klatscht freudig in die Hände.

„Teig?“, frage ich bevor ich endgültig um die Ecke verschwinde.

„Musst du, bitte noch machen“, sagt diesmal meine Mutter.

„Eine Organisation zum Davonlaufen. Schlampig, Schlampig“, meckere ich und ernte nichts weiter als murmelndes Gelächter.

„Ich bin neugierig. Was zaubert er uns?“, höre ich Kain in die Runde fragen.

„Crêpe Suzette.“ Ich bin mir nicht sicher, ob Kain weiß, was das ist.

„Robin hat ein Talent für die Zubereitung von Süßspeisen“, plaudert meine Mutter freimütig drauflos. Anscheinend ist ihnen nicht bewusst, dass ich alles mithören kann, oder schlimmer noch, es ist ihnen egal. Sie berichtet ihm von ihrer Soufflé-Katastrophe und das es mir beim ersten Mal gelungen ist. Auch heute fühle ich einen gewissen Stolz.

Ich krame die wenigen Zutaten für den Teig aus dem Kühlschrank hervor und greife nach einen Rührschüssel. Vier Eier. Ein Viertelliter Milch. Etwas Mehl. Eine Prise Salz und Zucker. Ich lausche ins Esszimmer. Mittlerweile sind sie beim Thema Eis gekommen. Kain berichtet von dem Eiszwischenstopp an der Raststätte. Langsam, aber sicher fühle ich mich nackt.

„Robin ist eine Eisfressmaschine. Vor allem im Sommer. Ich frage mich, wo er das viele Eis hin frisst? Wenn ich nur die Hälfte davon vertilgen würde, hätte ich jetzt schon das Doppelte drauf.“

„Lena, halt den Mund, sonst kriegst du keinen Crêpe“, rufe ich aus der Küche und krame die Pfanne aus dem Schrank.

„Früher hat er kein Eis gemocht, weil es ihm dauernd runter gefallen ist…“, kommentiert nun auch meine Mutter und ich widerstehe dem Drang mir die Eisenpfanne über den Schädel zu ziehen. Ich kann das Eisen fast riechen, aber ich lasse sie doch auf die Herdplatte sinken.

„Mama“, stöhne ich mahnend und ebenso peinlich berührt. Ich verdrehe die Augen und stelle den Handmixer an. So muss ich mir das seltsame Gequatsche der anderen nicht mehr mit anhören. Ich verrühre die Eiermischung so lange bis sie eine homogene Masse ergibt. Ein Teil davon landet in der heißen Pfanne.

Ich merke erst, dass Kain hinter mir steht, als ich den ersten Crêpe fachmännisch zusammenfalte und auf einen Teller ablege. Er lehnt neben mir an der Arbeitsplatte. Sein Oberarm berührt meine Ellenbogen. Mein Puls klettert nach oben.

„Kann ich dir helfen?“, fragt er mich, schaut neugierig in die Schüssel und schnuppert an dem fertigen Flachkuchen. Danach an den Orangenschnitzen.

„Kannst du flambieren?“

„Meine Augenbrauen womöglich. Wenn ich mir Mühe gebe auch die Arbeitsplatte. …“ Er wackelt mit den vorher Genannten und ich kann mir ein amüsiertes Seufzen nicht verkneifen.

„Das sähe bescheuert aus, dass ist dir klar?“

„Einen hübschen Mann kann nichts entstellen.“ Kein bisschen eingebildet.

„Ist es wirklich in Ordnung, wenn ich hier übernachte? Von hier fahre ich noch eine Weile und...“, beginnt er zu erklären.

„Wie gesagt, wir haben ein gemütliches Gästezimmer“, kommentiere ich mit demselben Wortlaut, den auch meine Mutter gebrauchte. Ich fülle eine weitere Kelle flüssigen Teiges in die Pfanne, schwenke sie und sehe dabei zu, wie einer der flachen Kuchen entsteht.

„Robin, ernsthaft! Ist es okay für dich?“, hakt er nach. Als ob es nicht schon zu spät wäre.

„Ja“, sage ich direkt und meine es wirklich ehrlich. Seltsamerweise stört es mich nicht. Kain atmet erleichtert aus und seine Hand legt sich auf meinen Rücken. Sie gleitet über mein rechtes Schulterblatt bis in meinem Nacken.

„Du warst also ein Tollpatsch?“ raunt er amüsiert. Die Gänsehaut, die sich über meinen Hals zieht, ist intensiv und verräterisch. Wo ist die Eisenpfanne?

„Weißt du, dass Gästezimmer ist doch nicht so gemütlich“, gebe ich sofort retour. Das Grinsen verschwindet nicht von seinen Lippen. Im Gegenteil. Ich spüre, wie die Wärme seiner Hand vollends in meinem Nacken zum Stehen kommt. Die Stelle wird immer heißer und ich schließe meine Augen. Ich weiß selbst nicht, warum ich es zulasse. Doch in diesem Moment fühlt es sich einfach nur gut an. Es fühlt sich richtig an. Seine Hand verschwindet, als Lena mit einem Stapel dreckigen Geschirrs die Küche betritt.

„Ich gehe auch noch helfen.“ Ich nicke nur, während ich hektisch den Pfannkuchen wende und zusammenklappe. Die berührte Stelle an meinem Nacken kribbelt sanft nach.

Ein weiterer Crêpe wandert auf den Teller. Nachdem fünf Stück fertig sind, klappe ich sie noch weiter zusammen, während der Orangensaft, Butter und Zucker in der Pfanne zu köcheln beginnen. Zum Schluss schubse ich die Teigteilchen hinein. Genauso, wie ein paar Orangenschnitze. Den Alkohol und das Flambieren lasse ich weg. Viel Raffinesse ist nicht nötig um meine Familienmitglieder zu begeistern. Auch dieses Mal nicht. Als ich die duftenden Teller verteile, breitet sich diese beginnende befriedigende Stimmung aus. Und die Teller sind nach wenigen Minuten vollkommen leergefegt. Ich bringe sie für den Abwasch zurück in die Küche.
 

„Kain ist cool…“ Lena kommt und lehnt sich gegen den Küchentresen.

„Danke für diese obsolete Einschätzung“, kommentiere ich dieses merkwürdigen Gesprächsbeginn. Sie tunkt ihren Finger in den Rest Orangensirup auf einen der Teller und leckt ihn im nächsten Augenblick genüsslich ab. Ich greife ihn mir und entziehe meiner Schwester somit die Chance aufs Naschen. Ihre Stirn runzelt sich und auch ihre Lippen formen einen deutlichen Flunsch. Aus mehreren Gründen. Lena wendet sich zum Kühlschrank. Ich höre, wie sich die Tür öffnet und ein paar Gläser hin und her geschoben werden. Ein Knistern. Lena beginnt zufrieden zu summen. Die Frage, wieso sie nach einem so reichhaltigem Essen noch immer Hunger hat, stelle ich mir nicht mehr.

„Du hast noch nie jemand anderen als Jeff hierher gebracht.“ Sie schließt die Kühlschranktür und ich sehe auf ihre Beute. Eine Milchschnitte.

„Und?“ Ich weiß nicht, worauf sie hinaus will und werfe ihr meinen genervten Bruderblick zu.

„Du magst ihn…“ Eine weitere nichtige Aussage, die sie in den Raum wirft.

„Ich dulde. Das ist ein Unterschied.“

„Das ist bei dir gleichzusetzen mit mögen, also…“ Lena lehnt sich wieder neben mich an die Spüle und versucht das Plastik um die Pseudomilch-Leckerei zu entfernen. Es klappt nicht. Sie dreht die Verpackung einmal um und versucht es am anderen Ende. Ich sehe ihr einen Moment dabei zu, dann ziehe ich meine Hände aus dem warmen Wasser und nehme ihr die Schnitte aus den ungeduldigen Fingern. Ein Handgriff und das Plaste reißt ein. Meine Schadenfreude kann ich nicht verbergen.

„Scheiß Kindersicherung, nicht wahr?“ Bevor ich es ihr zurückgebe, beiße ich eine Ecke ab.

„Sehr witzig. Ich lache dann morgen.“ Sie happst meine Bissspur weg und versucht die Verpackung in den nahegelegenen Mülleimer zu bugsieren. Ich verdrehe nur die Augen, als es beim Versuch bleibt. Aus dem Wohnzimmer dringt Kains wohliges, warmes Lachen zu uns. Unwillkürlich halte ich in meinen Bewegungen inne. Auch meine Mutter frohlockt. Ein Kichern. Ich kann nicht leugnen, dass es mich neugierig macht.

„Beantworte mir die Frage oder eher die Vermutung. Du kennst ihn durch Jeff, oder?“ Lena hebt gerade eine Teigseite von der Milchschicht ab und schiebt sie sich feinsäuberlich gerollt in den Mund. Danach wird sie über die weiße Masse lecken. Das macht sie schon immer so.

„Nein, ich hab ihn gezüchtet…Du glaubst anscheinend auch, dass ich sozial völlig untergehe, wenn Jeff mir nicht die Hand hält“, kommentiere ich leicht angefressen. Dass sie im Grunde nicht Unrecht hatte, sage ich natürlich nicht. Lena kichert über meinen Kommentar mit der Züchtung und ich frage mich, was gerade in ihrem Kopf passiert.

„So viele Möglichkeiten gibt es ja nicht, wie du Leute kennenlernen kannst. Jeff erzählt mir jedes Mal, dass du dich sogar weigerst an Partys teilzunehmen.“ Nun leckt sie quer über den Milchkörper der Schnitte. Ihre Zunge wird weiß.

„Seit wann muss ich mich vor meiner Schwester erklären?“, knurre ich verärgert und stelle den Teller in den Abtropfbereich.

„Musst du ja nicht, mich interessiert es nur.“

„Okay, wenn du es wissen willst. Kain ist der Mitbewohner von Jeffs Freund, aber ich kannte Kain tatsächlich schon vorher. Wir hatten nur nichts miteinander zu tun.“

„Und wieso jetzt?“

„Weil er ab und an bei uns im Zimmer schläft.“ Den Rest spare ich aus.

„Warum?“

„Himmel Lena, du bist keine 3 Jahre mehr“, gebe ich genervt von mir. Wieso. Warum. Weshalb. Nerv. Nerv. Nerv.

„Ja, schon klar. Aber wieso schläft er bei dir? Er könnte doch zu seiner Freundin oder, was weiß ich.“ Der Großteil der Milchschnitte ist mittlerweile verschwunden und sie leckt sich weißen Creme vom Daumen.

„Frag ihn selbst und seine Freundin hat den IQ eines Brokkolis…“ In dem Moment, in dem ich das Ausspreche, frage ich mich, wieso ich es überhaupt sage. Selbst der Hund unserer Nachbarn würde den eifersüchtigen Touch heraushören und anklagend bellen.

„Und ich sagte ab und an“, merke ich an. Nun drehe ich mich wieder vollends zum Abwasch und geben Lena keine weitere Chance, dass Gespräch fortzusetzen. Nachdem Abwasch gehe ich zurück ins Wohnzimmer, setze mich zu Kain auf die Couch und merke eine ganze Weile nicht, wie die Zeit vergeht. Irgendwann verschwindet Hendrik und kommt auch nicht mehr wieder.
 

„So, meine Lieben, für mich wird es Zeit. Macht nicht mehr so lange. Robin, denkst du bitte daran Kain frische Handtücher rauszulegen und das Gästebett zu beziehen?“ Meine Mutter erhebt sich vom Sofa.

„Seit wann sind wir ein Hotel…“, setze ich an.

„Vielen Dank…“ Bevor ich meinen Satz zu Ende bringen kann, bedankt sich der Schwarzhaarige gewissenhaft und unterbricht meinen Nörgelversuch. Ich nicke es nur ab und winke meiner Mutter eine gute Nacht. Doch sie signalisiert mir stattdessen, dass ich das mit den Handtüchern und mit dem Bett sofort erledigen soll. Ich erhebe mich schwerfällig.

„Nacht, Mama“, ruft Lena lächelnd unserer Mutter hinter und streckt mir erheitert die Zunge raus. Ich folge ins dunkle Gästezimmer und lehne mich in den Türrahmen, während sie frische Bettwäsche aus der Schublade nimmt.

„Kain ist wirklich sehr nett.“ Noch eine von diesen überflüssigen Anmerkungen.

„Japp“, sage ich und sehe absichtlich desinteressiert zur Seite.

„Ich finde schön, dass du noch jemand anderen als Jeff hast mit dem du dich verstehst.“

„Mama, ich bin kein Eremit.“ Nun, sehe ich doch zu ihr.

„Das weiß ich doch.“ Sie lächelt, drückt mir den Wäscheberg in die Hand und streicht mir ein paar Haare zurück. Wieder gibt sie mir einen liebevollen Kuss. Diesmal auf die Wange. Für diesen Moment schließe ich meine Augen. Sie wird sich immer darüber sorgen machen, dass ich irgendwann allein da stehe, denn sie kennt mich.

„Schön, dass du schon da bist. Gute Nacht, Schatz.“

„Nacht“, murmele ich. Ich beziehe das Bett ordentlich, schüttele das Kopfkissen zurecht und schmeiße es an den richtigen Platz. Danach gehe ich wieder runter. Auf dem unteren Treppenabsatz bleibe ich stehen, als ich Kains Stimme höre.

„Ist das Robin?“ Ich weiß genau, wo er steht. Weiß sofort welches Bild er meint. Es steht auf der Kommode neben der Tür. Das Abbild eines lächelnden kleinen Jungens.

„Nein, das ist René…“ Lena ist bereits aufgesprungen und gesellt sich neben den Schwarzhaarigen. Durch die Türöffnung kann ich sie zum Teil sehen. Mein Herz beginnt wild zu pochen und nur langsam nehme ich die restlichen Stufen.

„Von Robin gibt es auch so eins. Das ist eines der wenigen Bilder, wo er noch drauf lacht… Warte, es müsste hier irgendwo sein“, sagt sie kichernd, zieht eine der Schubladen auf und kramt. Es dauert nicht lange und sie holt mein Pendant hervor. Ich bleibe im Türrahmen stehen. Kain nimmt es ihr aus der Hand und sofort ändert sich sein Gesichtsausdruck. Beide Bilder nebeneinander zeigen deutlich unsere Ähnlichkeit. Wir waren 5 Jahre alt. Der einzige Unterschied zwischen uns ist die Farbe unseres Pullovers. Renés war blau. Meiner grün. Das Pochen meines Herzens setzt aus. Immer dann, wenn ich daran denke, spüre ich, wie es mich bis ins Mark lähmt. Auch jetzt.

Überrascht sieht Kain auf.

„Zwillinge?“
 

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PS: Ich hoffe, ihr seid heil durch das Kapitel gekommen. Wie gesagt, die Korrektur wird in den kommenden Tagen nachgeholt. ^^ *schäm*

Wie immer muss ich mich entschuldigen, dass ihr so lange auf die Fortsetzungen warten müsst. Leider wird es mit der Uni nicht besser und ich kämpfe um jede freie Minute. Außerdem gestaltet sich das Schreiben auch nicht immer so einfach. Mittlerweile habe ich allein bei Between the Lines 37 Word-Seiten (13.965 Wörter) ausgesiebtes Material fabriziert und habe mich letztens erst selbst darüber erschrocken. Also, bitte entschuldigt die langen Wartezeiten T__T

Ich danke euch allen dafür, dass ihr so heldenhaft durchhaltet. Und umso mehr danke ich euch, dass ihr das Interesse nicht verliert. <3 Danke danke Danke,

Das del

Oxytocins Werk und Cortisols Beitrag

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Enemys at the kitchen floor

Kapitel 21 Enemys at the kitchen floor
 

-Brauche etwas Zeit-

Drei einfache Worte. Kain bleibt seinen Emojis treu. Doch dieses Mal sagt mir das Emojicon mehr als es ein Wort je hätte sagen können. Am Ende prangt mir eine Spielkarte entgegen. Ein Joker. Eines meiner Vetos. Es ist wie ein Schlag. Das Kain davon Gebrauch macht, bedeutet nichts Gutes. Unwillkürlich greife ich an meine Hosentasche. Es befindet sich keine der Karten darin und dennoch entbrennt ein schmerzendes Bersten in meinen Fingerspitzen. Ich lese die Nachricht erneut. So oft, bis das stechende Gefühl dumpf wird, aber nicht verschwindet.

„Hat sie mit dir Schluss gemacht?", spottet es mir von der Seite entgegen und ich lasse das Telefon in der Hosentasche verschwinden. Mandy ist mit ihrer Tochter aus dem Gästebad gekommen und beobachtet mich auffällig. Wir konnten uns noch nie wirklich leiden. Ich bin allerdings nicht ganz unschuldig daran. In der Grundschule kokelte ich unabsichtlich ihr Lieblingsstofftier an und verfütterte ein paar Mal ihre Hausaufgaben an den Nachbarshund. Alles im Sinne der Wissenschaft. Ich wollte wissen, wie effektiv die Verdauung von Tieren ist und wie hätte ich als 8- jähriger erahnen können, dass eine Lupe in Verbindung mit Sonnenschein gefährlich werden kann? Kinder sind einfach grausam. Allerdings habe ich in der 11. Klasse dann versehentlich ausgeplaudert, dass sie auf den Freund ihrer besten Freundin stand, weil ich noch nie sonderlich gut darin war, Gesichtern den passenden Namen zu zuordnen. Ich betone, es war ein Versehen. Es gab Drama ohne Ende und ich habe mich nie dafür entschuldigt. Wieso auch? Sie war auch nie nett zu mir. Mandy ist ein Jahr älter als ich und schien dadurch der Vorstellung zu unterliegen, dass sie höher gestellt war als ich. Die Tatsache, dass sie dazu auch immer körperlich größer gewesen ist, machte es nur noch schlimmer. Ein primitiver Klassiker und möglicherweise waren die Versehen nicht so versehentlich, wie ich es andeute. Ich werfe meiner Cousine einen genervten Blick zu und taste unbewusst erneut nach dem Telefon in meiner Hosentasche. Ich habe es versaut.

„Ich kann mir das gar nicht vorstellen“, lästert sie weiter und holt mich aus meinen Gedanken. Sie schüttelt ihre dunkelblonde Mähne und wischt Spucke vom Mund ihres Kindes. Ich verziehe das Gesicht und trabe missmutig in die Küche. Mandys Ausruf lasse ich absichtlich unerfragt. Ich will keine Konversation führen und vor allem keine der sich andeuteten Diskussionen beginnen. Leider sieht es meine Cousine anders und folgt mir unaufgefordert in den Nachbarraum.

„Du und eine Freundin…“ Sie lacht. Im Grunde eine Vorstellung, die mir selbst so fremd ist, dass mich ihr Gelächter kaum stört. Dennoch hat sie nicht das Recht, sich darüber zu amüsieren.

„Wer ist nochmal der Vater dieses Kindes?“, frage ich bewusst rabiat und erziele einen Treffer. Mandys Kiefer spannt sich an und sie weicht meinem Blick aus. Versenkt. Mandys kleine Tochter quietscht zur Bestätigung und beginnt zu brabbeln.

„Es ist trotzdem albern, was du tust.“

„Du weißt einfach nicht, wann Schluss ist, oder?“

„Und wenn schon, das ist nicht so peinlich, wie in deinem Alter seine Freundin zu verheimlichen“, sagt sie trotzig. Unser kindisches Spiel geht weiter. Wer wird das letzte Wort haben? Ich fühle mich nicht konzentriert genug, um effizient dagegen zu halten.

„Wer verheimlicht seine Freundin?“, fragt Lena, die genau in diesem Moment die Bühne betritt. Großartig. Sie bleibt neben Mandy stehen und wobbelt dem Baby am Ohr herum. Danach nimmt sie drei Gläser aus dem Schrank.

„Robin.“

„Du hast eine Freundin?“, fragt Lena belustigt und beobachtet meine Reaktion argwöhnisch. Sie wäre sicher beleidigt, wenn sie es durch jemand dritten erfahren müsste. Wobei es sowieso am wahrscheinlichsten ist, dass sie so etwas durch Jeff mitbekommt und nicht durch mich.

„Nein, hab ich nicht.“ Ich nehme mir eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank und übersehe absichtlich das hingehaltene Glas von Lena, als ich ansetze und daraus trinke. Selbst als das Glas direkt vor meiner Nase wackelt. Ich bin gnadenlos und lasse es meine Schwester wissen, indem ich ihr danach noch die frisch befeuchtete Zunge rausstrecke.

„Und wer ist dann Brigitta?“, wirft Mandy nach einer Atempause ein und ignoriert gekonnt den nächsten Schwall Spucke, der von den brabbelnden Lippen ihres Babys fließt. Nun richten sich Lenas Augen aufmerksam auf mich. Denn auch sie hört den Namen zum ersten Mal. Ich fühle mich genötigt, zu antworten.

„Brigitta ist... Wir arbeiten zusammen. Mehr nicht.“ Ich stoppe noch rechtzeitig, bevor ich die wahre Tätigkeit meiner Lektorin ausplaudere. Doch das verwendete Klischee macht das Ganze nicht wirklich besser.

„Klar…“, mischt sich nun auch Lena skeptisch ein. Ich versuche sie mit meinem Blick nieder zu strecken, aber leider ist er nicht mehr so wirksam, wie vor 10 Jahren.

„Es klang nicht wie eine Kollegin“, kommentiert Mandy und greift sich ein Glas.

„Hat man euch schon mal gesagt, dass ihr nervt!“, gebe ich trotzig von mir. Ich kann auch noch 10. Klasse. Lena stemmt die Arme in die Hüfte, fixiert mich und kommt auf mich zu. Sie bleibt direkt vor mir stehen und drückt mir ihren Finger gegen die Brust.

„Hat man dir schon mal gesagt, dass deine Geheimniskrämerei übertrieben und kindisch ist!“

„Ja, Jeff, täglich, doch es ist mir egal.“

„Du. Bist. Ein. Blödmann“ Bei jedem Wort wackelt ihr Kopf hin und her.

„Und? Du bist ja auch nicht ganz dicht…“, gebe ich neckend retour und komme nicht umher, zu grinsen.

„Aber ich bin immerhin niedlich…Und ist sie nun deine Freundin?“ Ich verdrehe nach diesem platten Versuch die Augen, greife meine Flasche und verkrümle mich zurück in mein Zimmer. Fast schon automatisch setze ich mich an den Computer, tippe mein Passwort ein und öffne das Buchskript. Ich beginne von vorn. Das erste Kapitel lese ich, ohne irgendwelche Korrekturen vorzunehmen. Danach lese ich es erneut und setze den virtuellen Rotstift an. Ich suche nach Wortdopplungen, nach präziseren Beschreibungen und entferne Worte, die nichts zur Stärkung des Satzes beitragen. An einigen Stellen frage ich mich, was ich mir dabei gedacht habe und kassiere den kompletten Absatz. So verfahre ich bis zum 10. Kapitel. Ich ignoriere den Aufruf zum Abendbrot. Auch die persönliche Aufforderung meiner Mutter, die bei mir an der Tür erscheint, wimmele ich mit einem Lächeln ab. Ich habe immer eine passende Ausrede parat.

Es ist bereits dunkel, als ich das nächste Mal von Bildschirm aufblicke. Meine Finger sind eiskalt und mein Magen verdeutlicht mir, dass ich zu wenig gegessen habe. Meine Augen gleiten über die letzten geschriebenen Zeilen und ich spüre, dass ich fast fertig bin. Dieses besondere Gefühl bekomme ich jedes Mal wieder. Es ist eine Mischung aus Erregung, Spannung und Zufriedenheit. Auch Stolz. Manchmal auch mit einer Spur Scham. Doch dieses Mal ist da noch etwas anderes. Etwas Negatives. Ich denke nicht weiter darüber nach, speichere das Dokument und streiche mir über den flachen, grummelnden Bauch.
 

Im Haus ist es ruhig. Meine Mutter und Hendrik sitzen scheinbar im Wohnzimmer. Ich höre die leisen Stimmen aus dem Fernseher, sehe das flackernde Licht und biege in die Küche ab. Ein langer Blick in den Kühlschrank. Ich bin unschlüssig. Mein Magen protestiert gegen die Leere, doch richtigen Appetit habe ich nicht. Unschlüssig greife ich mir die Käsepackung, Margarine und Senf. Ich krame zwei Scheiben Brot hervor und verteile das Streichfett und die Scheiben darauf. Ich stoppe, als ich Schritte vernehmen. Als ich zur Seite blicke, sehe ich Hendrik, der sich ein Bier aus dem Kühlschrank nimmt.

„Möchtest du auch eins?“, fragt er mich ruhig und ich bin mir nicht sicher, ob er es ernst meint, oder mich nur testet.

„Nein, danke“, lehne ich ab und verteile einen Klecks Senf auf meiner Käsestulle. Aus Bier mache ich mir sowieso nichts. Ich streiche den Senf überall hin. Danach klappe ich die beiden Enden zusammen und positioniere mich gegen den Küchentresen. Hendrik ist noch immer nicht gegangen, weshalb ich fragend zu ihm sehe. Mit der kühlen Flasche in der Hand lehnt auch er gegen dem Küchenschrank. Sein Daumen tippt gegen das feuchte Glas, bevor er einen Schluck trinkt. Er wiederholt es und sieht mich dabei an.

„Was?“, entflieht mir mit der Geduld eines Toasts. Hendriks Schultern straffen sich augenblicklich.

„Was ist los, Robin? Hast du mit irgendjemanden Ärger? Stress?“, fragt er endlich, bevor wir uns weitere 10 Minuten schweigsam anstarren. Ich seufze nur schwer als Antwort und knabbere appetitlos an den überstehenden Käseenden. Etwas Senf benetzt meine Lippen und ich lecke die Schärfe davon, während sich Hendrik strenger Blick tiefer in meine Zellen brennt. Seine vergangene und gegenwärtige Taktik, Antworten aus mir herauszubekommen. Damals, wie heute ein nutzloses Prozedere. Wenn ich nicht will, dann rede ich nicht. Es ist mir ein Rätsel, warum er es immer noch versucht, da es nie funktioniert hat. Aber es ist nicht das Einzige. Eigentlich hatte er es mit allem versucht. Freundlichkeit. Verständnis. Strenge. Wut. Nichts davon hatte wirklich geholfen, denn ich könnte und wollte keinen Vater in ihm sehen.
 

Wie so vieles wurde er mir nach dem Verschwinden meines Vaters vorgesetzt. Meine Mutter sah in Hendrik die Möglichkeit, aus der tiefen, dunklen Grube herauszukommen, in der sie sich nach Renes Tod gefangen fühlte. Sie wollte einen Neubeginn. Sie wollte einfach wieder Leben und ließ dabei unbewusst mein kindliches Ich in der Dunkelheit zurück. Denn ich konnte nicht einfach wieder leben. Auch ein Stiefvater und eine kleine Schwester hatten nichts daran geändert. Damals hatte ich das Gefühl, dass die Zeit stillstand. Es schien kein Ende zu nehmen. Doch wenn ich heute zurückrechne, liegt zwischen Renes Tod und Lenas Geburt nur ein Flügelschlag.

Erst jetzt nehme ich einen ersten richtigen Bissen von meiner traurigen Mahlzeit und kaue lustlos auf dem zähen Pamps herum, der sich kurz darauf in meine Mund bildet. Mein Hungergefühl ist schon wieder verschwunden und missmutig lege ich das Brot zurück auf das Holzbrett.

„Hör zu, deine Mutter macht sich Sorgen…“, setzt mein Stiefvater an.

„Muss sie nicht“, unterbreche ich ihn. Ich sehe aus dem Augenwinkel heraus, wie er einen Schluck aus der beschlagenen Flasche nimmt. Ich höre das feine Seufzen, welches von seinen Lippen perlt und vermute Resignation.

„Sie ist deine Mutter. Für sie ist sich Sorgenmachen, wie atmen. Und ich merke es auch.“

„Was merkst du?“, frage ich unbeeindruckt und irgendwie unangebracht belustigt.

„Dass es dir nicht gut geht. Ich meine, du warst noch nie der gesprächige Typ… schon klar, aber im Moment bist du…“ Er bricht unerklärt ab und seufzt erneut. „Geht es dir wirklich gut? Willst du über irgendwas reden?“

„Hendrik, es ist nichts. Nichts, was ich nicht allein lösen kann“, sage ich mit Nachdruck.

„Okay.“ Er gibt endlich auf. Ich beiße ein weiteres Mal appetitlos von meinem Brot ab. Hendrik deutet mir an, dass ich ihm die rausgeräumten Lebensmittel reichen soll und stellt sie zurück in den Kühlschrank. Unschlüssig starre ich auf die Stulle und in meinem Kopf wiederholt sich die Frage nach meinem Befinden. Nein, es geht mir nicht gut. Das mit Kain belastet mich. Mehr als mir lieb ist. Ich würde gern mit ihm reden, mich erklären und mich vor allem noch mal entschuldigen. Aber wer weiß, ob das noch etwas bringt.

Bevor sich Hendrik endgültig aus der Küche verabschiedet, kommt er an mir vorbei und drückt mir ein Eis in die Hand. Es ist ein Dominoeis. Meine Lieblingssorte. Ich sehe nicht auf, aber spüre, wie sich für wenige Sekunden seine kühle Handfläche gegen die Seite meines Kopfes legt, gegen meine Schläfe und wie sie sachte durch mein Haar streicht. Nur eine kurze liebgemeinte Geste, die mich tief in meinem Inneren wissen lässt, dass er allem Widerstand zum Trotz ein guter Ersatz gewesen ist.
 

Zurück in meinem Zimmer hole ich das Eis aus der Verpackung. Ich lecke die ersten getauten Nasen zwischen den Waffelhälften davon und lasse meine Zunge tief in das cremige Eis eintauchen. Ich widme mich erst der Schokoladenhaube, als ich mir sicher bin, dass mir die untere Hälfte nicht so schnell davon schmilzt. Der feine Knack ertönt, als die Schokolade an einer Ecke bricht. Ich spüre den zarten Schmelz auf meiner Zunge. Die erst süße und dann herbe Note, die sich mit dem vanilligen Aroma des Eises paart. Ich genieße die Kälte auf meinen Lippen und das seltsam befriedigende Gefühl in meinen Fingerspitzen. Als ich mich genießerisch zurücklehne, koste ich ein weiteres Mal das aromatische Innenleben und schließe die Augen. Mit Eis ist alles einfacher.

~Energie setzt sich frei, die das Herz immer schneller schlagen lässt. Blut pumpt sich durch die Adern. Pulsierend. Heiß. Die Atemfrequenz steigt. Der Puls rast...Ein guter Kuss macht süchtig.~

Ein heißer Schauer arbeitet sich augenblicklich von meinem Nacken über meinen Rücken, als ich mich an die gehauchten Worte des Schwarzhaarigen erinnere. Schlagartig setze ich mich auf. Kains Stimme echot in meinem Kopf umher und ich könnte schwören, erneut seinen warmen Atem an meinem Hals gespürt zu haben. Fahrig streiche ich mir über genau diese Stelle und merke, wie sich meine Körpertemperatur erhöht. Nichts als Einbildung. Jetzt fange ich schon an, zu halluzinieren. Frustrierend. Und die ganze Ungewissheit darüber, wie sich Kain entscheiden wird, macht alles nur noch schlimmer. Er hätte einfach gleich sagen sollen, dass ich seine Gutmütigkeit vollends überstrapaziert habe.

Genervt von dieser inneren Zerrissenheit wandere ich vom Arbeitsbereich weiter zum Bett und lasse mich samt Eisreste darauf fallen. Wiederholt blitzen Bilder unseres letzten gemeinsamen Zusammenseins auf. Es hat sich gut angefühlt und genau deswegen macht mich der Gedanke daran jedes Mal wieder wahnsinnig.

Ich vertilge die letzten Reste der kalten Köstlichkeit und bleibe mit dem dezenten Aroma von Vanille auf dem Rücken liegen. Meine Hand lege ich auf den Bauch. Ich bin mir nicht sicher, ob das seltsame Gefühl darin Unwohlsein oder nur Hunger ist. Vielleicht ist es auch etwas anderes? Nein. Sicher nur Hunger. Eine Zigarette wäre jetzt gut. Nur sind meine geheimen Vorräte aufgebraucht und die Packung, die ich noch hatte, liegt ungeraucht in Jeffs Wagen. Ich streiche mir langsam über den Bauch, treffe nach einer Weile auf blanke Haut und den stoppeligen Pfad zu meinem Intimbereich.

~ Ein guter Kuss macht süchtig~, wiederholt sich in meinem Kopf. Wahrscheinlich ist es das. Mein Körper lechzt nur nach dem Dopamin, nach dem Serotonin. Nach diesem verräterischen Cocktail von Glückshormonen, der nach jedem Orgasmus meinen willenlosen Leib durchfließt. Er will einen weiterer Schuss Endorphine. Mehr nicht.
 

Am späten Abend schickt mir Jeff eine reichlich belanglose Antwort auf meine ebenso nebensächliche Andeutung. Für einen Moment grübele ich darüber, ob er meine Anspielung nicht verstanden hat oder einfach nur nicht verstehen wollte. Ich entscheide mich dagegen, explizit nach zu bohren. Nach zwei weiteren Tagen ohne frivole Urlaubsimpressionen werde ich dennoch misstrauisch. Theoretisch kommen die beiden in zwei Tagen wieder und statisch gesehen ist Urlaub der größten Beziehungskiller schlechthin. Diskussionen ohne Ende, Unstimmigkeiten und Streit sind bekannte Symptome und die beiden Blonden sind schon ohne Urlaub um keinen Streit verlegen.

Eine Trennung wäre der bestmögliche Ausgang für jeden. Jeff könnte sich endlich wieder entspannen. Ich wäre Abels dummes Gesicht los und wenn Kain wirklich beschließt, unser lockeres Arrangement zu beenden, dann hätte er auch keinen Grund mehr, bei mir zu übernachten. Etliche Probleme weniger. Alles könnte wieder so werden wie früher, bevor Jeff die Bombe hat platzen lassen. Ja, eigentlich ist mein Kindheitsfreund an allem Schuld.

Ich seufze schwer und gestehe mir schnell ein, dass der Gedanke dumm und kindisch ist. Nur eine Ausrede, um mit meinen eignen Unzulänglichkeiten klar zu kommen.

Am letzten Tag ihrer Reise bekomme ich etliche Impressionen nachgeliefert. Noch einmal Sonne, Strand und Meer. Jeff und Abel. Genaugenommen ist es mein Mitbewohner und ein kleiner dressierter Affe, aber die Ähnlichkeit ist bemerkenswert. Danach folgt noch ein Bild mit dem echten Abel. Ich sehe kaum einen Unterschied.

Ich wünsche beiden einen guten Rückflug und bin mir nicht einmal sicher, ob Jeff zunächst zurück zum Campus fährt oder direkt zu seiner Mutter. Ich bin und bleibe ein schlechter Zuhörer.
 

Zwei Tage später lehne ich mich neugierig zurück, als ich aufgeregte Stimmen im Flur höre. Lena ist am lautesten. Meine Mutter lacht. Dann vernehme ich Jeffs Stimme und lächele unwillkürlich mit. Ein paar Minuten später lehnt mein Kindheitsfreund keck grinsend im Türrahmen.

„Aloha, du oller Stubenhocker! Bist du in den letzten Wochen überhaupt mal rausgekommen?" Jeff trägt kurze Hosen, die einen guten Blick auf seine braungebrannten Unterschenkel eröffnen. Eine Blumenkette um seinen Hals schreit förmlich nach Insel und billigen Plastik. Nur das langärmliche Shirt passt nicht wirklich in das Paradiesoutfit.

„Na wenigstens muss ich mir keine Sorge über maligne Melanome machen.“

„Schon mal etwas von Vitamin-D-Mangel gehört?“, gibt er retour. Treffer.

„Ist Aloha nicht hawaiianisch?“, frage ich ablenkend und richte meinen Blick zurück auf den Monitor, bevor sich Jeffs sonnengeküssten Arme um meinen Hals schließen. Seine Wange bettet sich gegen meine und ich nehme den vertrauten Geruch meines Jugendfreundes wahr. Er paart sich mit einem Hauch Kokosnuss und dem salzigen Aroma des Meeres. Bevor ich die Umarmungen erwidere, schließe ich meine Augen, erinnere mich an das Gefühl von Sand und Meer auf meiner Haut. Danach lege ich meine Hand gegen seinen Unterarm, streiche ein, zweimal leicht hin und her.

„Ist es seltsam, wenn ich sage, dass mir dein notorisches Gegrummel gefehlt hat?“, sagt er witzelnd.

„Es ist auf jeden Fall bedenklich“, merke ich ruhig an. Jeff drückt mich kichernd noch etwas fester und richtet sich dann wieder auf. Ich weiß, dass er lächelt.

„Wo genau seid ihr eigentlich gewesen?“, frage ich, lehne mich zurück und folge mit dem Blick meinem Mitbewohner in die andere Hälfte des Zimmers. Jeff bleibt neben dem Bücherregal stehen. Genauso, wie es Kain getan hatte. Auch er streckt seine Hand nach einem Buch aus und zieht es mit dem Zeigefinger nach vorn. Es kippt nicht, sondern bleibt am darüber befindlichen Regalbrett hängen. Mit einem rumsenden Geräusch fällt es wieder zurück.

„Fidschi Inseln. Es war traumhaft…Viel Sonne, warmer Sand und ununterbrochen leckere Cocktails.“ Mit diesem schwärmerischen Kommentar sieht er wieder zu mir. Sein Grinsen ist breit und übertrieben. Es wirkt gekünstelt.

„Ja, dank deines Bildermarathons fühlte ich mich selbst ununterbrochen betrunken…danke dafür“, sage ich sarkastisch. Jeff lacht laut auf und weicht auffällig meinem Blick aus, indem er aus meinem Sichtfeld verschwindet. Es war nicht ganz das Paradies, was er suchte.

„Und habt ihr euch da irgendwas angeguckt?“, hake ich nach und folge ihm notgedrungen in den anderen Teil des Zimmers. Jeff ist vor der schmalen Balkontür stehen geblieben und dreht sich um, als ich fast neben ihm stehe.

„Na ja, wir waren hauptsächlich zum Rumliegen, Cocktails trinken und Vögeln da…von daher haben wir nicht viel gesehen. Abgesehen vom Pool. Dem Balkon. Dem Strand und einmal auch ein Boot“, kommentiert er zwinkernd meinen kleinkarierten Versuch, wirkliches Interesse an seinem Urlaub zu heucheln. Jeff grinst dümmlich und hat es nur in so einer Deutlichkeit gesagt, um mich zu ärgern.

„Oh bitte…zu viel Information…“, sage ich weniger ablehnend, als es den Anschein erweckt.

„Du hast gefragt, also komm damit klar.“ Mein Mitbewohner lässt sich schwungvoll aufs Bett fallen und angelt nach der Zeitschrift, die ich mir aus Langeweile von Lena geliehen habe. Es ist noch immer die Seite mit den Beziehungstipps geöffnet. Als seine Augenbraue fragend nach oben wandern, versuche ich, ihm die Zeitschrift wegzunehmen. Ohne Erfolg. Ich werfe mich ans Fußende und blicke zur Decke. Jeff studiert aufmerksam die Seite mit den Tipps für besseren und befriedigenden Sex.

„Und hat es dir gefallen?“

„Es war sehr befriedigend…“ Ich verdrehe meisterlich die Augen und mir ist sehr wohl bewusst, dass er im Grunde meiner Frage ausgewichen ist.

„Wo ist eigentlich Ben?“, fragt er hinterher, schaut sich kurz um und blättert einmal vor und wieder zurück. Anscheinend sind die Tipps lesenswert.

„Hab ihn geraucht“, kommentiere ich trocken und betrachte ein paar Staubflöckchen, die sich im nicht spürbaren Luftzug bewegen. Ohne es zu sehen, weiß ich, dass für einen kurzen Augenblick Jeffs Gesichtszüge entgleisen. Obwohl er weiß, dass ich das seiner geliebten Grünpflanze niemals antun würde. Jeff wartet auf die Anzeichen eines Scherzes, doch ich rege mich nicht.

„Bisschen krümelig, aber ansonsten sehr… aromatisch...“, lege ich nach und werde auf der Hälfte meines fiesen Spruches von einem angeflogenen Kissen unterbrochen. Es landet mitten in meinem Gesicht.

„Oh, dafür lasse ich dich leiden…“, versichert er mir. Sein Blick spricht Bände und obwohl ich darüber lache, weiß ich, dass Jeffs Rache definitiv zu spüren sein wird. Jetzt mit der Anwesenheit meines Kindheitsfreundes wird es mit meiner selbst auferlegten Scheinisolation komplett vorbei sein. Wie schnell wird mir erst klar, als sein Handy summt und er nach dem lesen der Nachricht grinsend aufsieht.

„Eigentlich wollte ich dich noch einen Tag schonen, aber jetzt…gehen wir aus.“

„Wann?“, frage ich wenig beunruhigt und reichlich desinteressiert.

„Heute Abend.“

„Wohin?“

„In eine Bar.“ Ich sehe von der Zeitschrift auf, die ich mir heran gezogen habe.

„Nee …“, gebe ich nach minimalistischer Bedenkzeit von mir und drehe mich samt Schundblatt von Jeff weg. Ein kurzer Blick auf die Seiten bestätigt meine schlimmsten Ahnungen. Darin stehen Tipps wie zeitintensives Kuscheln und ein gutes, ausgiebiges Vorspiel. Anscheinend hatte bisher keiner der Autoren einen guten Quickie.

„Dir ist schon klar, dass ich dein ´Nee´ nicht gelten lasse.“ Jeff lehnt sich auf meine Seite und greift sich das Klatschblatt. Ich ächze übertrieben und gebe mich geschlagen.

„Ezra und Marten haben mir vor einer Weile erzählt, dass sie ein eigenes Geschäft eröffnen wollen. Nun ist es so weit“ Ezra und Marten sind zwei ehemalige Mitschüler.

„Hier in der Pampa?“ Entweder ist das die dümmste Idee des Jahrhunderts oder brillant. Der Laden könnte ein Hotspot der Jugend werden. Jedenfalls von den wenigen, die hier noch übrig sind.

„Japp.“

„Eine Bar voller Dummquatscherei und gegeltem Haar“, deute ich. Die beiden gehörten immer zu der besonders schnöseligen Sorte und wir waren schon zu Schulzeiten nur damit beschäftigt, uns gegenseitig zu foppen. Ich habe kein Bedürfnis, das aufleben zu lassen. Und im Grunde hatte wir nie viel miteinander zu tun.

„Frisch gezapftes Bier, Wodka und...Tequilaa…“, beginnt Jeff zu schwelgen. Er betont den Agaven-Brand besonders und in mir kommen Erinnerungen hoch, die eine brennende Zunge, einen Tag Übelkeit und malträtierende Kopfschmerzen enthalten. Trotz meiner mangelnden Begeisterung fängt Jeff an zu kichern und mimt ein hasenartiges Erdmännchen. Mein Blick bleibt skeptisch. Auch wenn mein Kindheitsfreund mittlerweile ein Meister im Machen dummer Gesichtsausdrücke ist.

„Du nervst“

„Ja, ja. Du, mein Lieber, bist von allem genervt, was nicht gleich Männchen macht.“

„Männchen macht?“, hake ich irritiert nach.

„Okay, wenn du mit mir zur Eröffnung kommst, dann...gehe ich mit Lena zu dem One-Direction-Konzert.“ Am besten war die dramaturgische Pause. Er präsentiert es als Idee des Jahrzehnts und leider muss ich zugeben, dass ich nicht abgeneigt bin. Großversammlung von kreischenden Teenwesen oder peinliches Aufeinandertreffen von alten Schulmenschen. Im Grunde ist es die Wahl zwischen Pest oder Cholera. Wobei aus medizinischer Sicht Cholera die eindeutig bessere Wahl wäre, denn das ist mit ausreichend Wasser und Elektrolyte relativ gut behandelbar. Genauso wie ein Kater. Die Frage, die bleibt, ist, woher er schon wieder von Lenas Plänen weiß.

„5 seconds to summer“, berichtige ich, ohne mich wirklich für oder gegen seinen Vorschlag auszusprechen. In der Bar gibt es Alkohol und der Tequila klingt mit einem Mal sehr verlockend. Es bleibt Pest oder Cholera.

„Dahin auch... Komm schon!“ Eben hieß es noch, er würde mich zwingen und nun blicken mir zwei bettelnde blaue Augen entgegen. Standhaft ist anders. Er sollte das dringend üben.
 

Ich schrecke zusammen, als mit einem Mal Musik erklingt. Passende Barmusik. Den Titel erkenne ich nicht. Doch nach nur wenigen Takten ist selbst mir klar, dass es ein Handy sein muss. Meins ist es nicht. Bei Jeff dauert es etwas länger.

„Oh, oh…wo ist es?“ Jeff beginnt zu suchen. Erst, nachdem er das Kissen zur Seite schiebt, wird das Geräusch lauter. Er blickt auf das Display und runzelt verwundert die Stirn.

„Sag dem IT-Futzi endlich, er soll aufhören rumzulabern und dich nach einem Date fragen“, kommentiere ich in der Annahme, dass Jeffs eigenartiges Verhalten nicht durch den sonstigen Anhang ausgelöst wird.

„Es ist nicht Jake….“, murmelt er errötet und geht ran, „Hey, Kain.“ Bei der Erwähnung des Schwarzhaarigen ist es an mir, beschämt zur Seite zu blicken. Zu meinem Glück bemerkt er die für mich untypische Reaktion nicht. Ich versuche, nicht genau hinzuhören. Natürlich funktioniert es nicht. Ich nehme nichts anderes mehr wahr, als die leise, gedämpfte Stimme Kains, die aus Jeffs Handy dringt. Es könnte jeder sein, der spricht, doch mein Kopf simuliert die vertraute Stimme des Biotechnologen, als würde er direkt neben mir stehen. Mein Körper reagiert und ich hasse ihn dafür.

Ich schmule in Jeffs Richtung. Sein Kopf bewegt sich beim Telefonieren leicht hin und her und seine Hände beginnen, an irgendwas herumzufummeln. Als er mich ansieht, weiche ich seinem Blick aus. Jeff wünscht dem anderen Mann eine schöne Zeit, legt sich wieder hin und bettet seinen Kopf zurück an meine Schulter.

„Was wollte er?“, frage ich beiläufig.

„Er fährt morgen zurück zum Campus und wollte mich fragen, ob er mein Auto noch woandershin benutzen kann.“ Ich horche auf.

„Woandershin?“, hake ich nach.

„Jup,…“, erwidert er unaufgeregt und ich möchte ihn erwürgen.

„Und wohin?“, bohre ich mit zusammengebissenen Zähnen weiter. Neugieriger, als ich wollte und aggressiver, als ich sollte. Das merkt auch mein Jugendfreund.

„Keine Ahnung. Er hat es mir nicht gesagt und ich habe ihn nicht gefragt. Du kannst ihn doch selbst fragen“, wirft Jeff gerechtfertigt ein und in meinem Magen wird es flau. Ich denke an Kains Nachricht und setze mich auf. Jeffs Kopf rutscht auf das Laken. Ich denke nicht, dass Kain will, dass ich mich nach irgendwas erkundige. Noch weniger will er, dass ich meine absurde Neugier stille, nur weil ich jedes Mal wieder dieses schrecklich beißende Gefühl verspüre. Er braucht Zeit. Seine Nachricht echot in meinem Kopf umher wie ein höhnender Peitschenknall.

„Hey…“, hakt Jeff verwundert nach. Anscheinend hat er mich etwas gefragt, doch ich habe es nicht einmal mitbekommen. Es ist zum Verrücktwerden. Gut, ich wähle die Cholera.

„Heute Abend, sagst du? Ich komme mit und du zahlst…“, sage ich und gebe damit meine Einwilligung für den feuchtfröhlichen Abend. Jeff grinst, angelt zufrieden nach der Zeitschrift und versucht danach herauszubekommen, was für ein hypothetischer Beziehungstyp ich sein könnte. Ich bin mehr Typ, als Beziehung.
 

Dank Jeff kommen wir nach der Eröffnungsansprache und der Lobhudelei bei der Bar an. Ich preise stillschweigend seine Unfähigkeit, sich für ein Outfit zu entscheiden an und will nichts weiter, als schnell an einen Drink kommen. Es sind bereits eine Menge Leute hier. Sie tummeln sich an der Bar, bilden kleine Grüppchen an Stehtischen und scheinen alle bester Stimmung. Meine hingegen scheint mit jedem weiteren Gesicht zu eskalieren. Ich habe schon drei Leute wiedererkannt. Jeff zieht mich zur Bar, wo wir nach nur kurzem Check vor Marten stehen. Die Begrüßung gleicht einer übertriebenen inszenierten Alte-Freunde-Zeremonie. Ich ergebe mich unwillig der aufgezwungenen Körperattacken und nicke wie ein braver Lemming, als Jeff ausplaudert, wie sehr wir uns freuen, an der Eröffnung teilzuhaben.

Marten hat sich optisch kein bisschen verändert. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er dasselbe Sakko trägt, wie zu unserer Abschlussfeier. Es hat jedenfalls dieselbe Matschfarbe, wegen der ich mich schon damals fragte, wo sein Geschmack geblieben ist. Der gleiche Gedanke jagt auch jetzt durch meinen Kopf und erzeugt seltsame Assoziationen von tanzenden Lurchen.

„Ah Moment, ich möchte eure Ausweise sehen!“, kommt es plötzlich von der anderen Seite und als wir uns umdrehen, kommt Ezra auf uns zu. Er war schon damals ein recht großer, breiter Kerl und hat noch etwas draufgelegt. Echt imposant. Er breitet seine Arme aus und die Begrüßungsphrasen beginnen von neuem.

„Ihr zwei hockt also immer noch aufeinander? Wie 90er.“ Marten blickt in meine Richtung und zwinkert dann zu Jeff gewandt mit dem linken Auge. Der lächelt nur.

„Und ihr teilt euch noch immer den Lebensvorrat an Hairstylingprodukten. Wie 50er“, kommentiere ich, nachdem mir beim besten Willen keine überzeugende Deutung für Martens Zwinkerei einfallen will. Von den beiden Männern mit Föhnfrise ernte ich dafür Gelächter und von Jeff einen beinahe unglücklichen Tiefschlag.

„Schön, dass ihr hier seid!“, greift Ezra auf und lächelt.

„Darauf sollten wir anstoßen.“ Marten schiebt uns 4 Gläser mit klarer Flüssigkeit und einer Scheibe Zitrone entgegen. Tequila. Das Salz folgt auf einen kleinen Holzteller.

„Wie war das noch mal?“, fragt Jeff. Er greift nach der Zitrone führt sie zu seinen Lippen und deutet dann auf das Häufchen mit Salz. Danach deutet er einen Wechsel an. Wer in unserem Alter nicht weiß, wie man Tequila trinkt, sollte sich verbuddeln lassen. Ich kippe das Glas ohne Schnickschnack runter und ignoriere die fragenden Blicke der anderen.

„So geht es natürlich auch“, kommentiert Ezra lachend. Ich genieße das Brennen in der Speiseröhre, welches bis in meinen Magen wandert und dort ein witzig kitzelndes Kribbeln erzeugt. Mein Magengeschwür feiert Fiesta. Genau das habe ich gebraucht. Ich hasse Smalltalk. Überhaupt hasse ich es, in belanglosen Erinnerungen zu schwelgen. Ich habe nicht umsonst keinen Kontakt mehr zu den Leuten aus meiner Schulzeit. Die Drei vollführen das übliche Prozedere und ich beginne zu bereuen, weichgeworden zu sein.

„Jetzt im Ernst, was treibt ihr so nach all den Jahren?“, fragt Marten und brüllt gegen die laute Musik an. Im gleichen Atemzug schiebt er uns eine der durchgestylten Karten hin. Ich greife danach, überblättere das ganze Vorgeplänkel des Sinns und der Entstehung und stoppe beim alkoholischen Angebot. Es sind nur 4 Jahre vergangen, seit wir uns das letzte Mal begegnet sind. Ein Katzensprung. Was soll schon passiert sein? Die meisten von uns hängen wie Jeff und ich in Hörsälen ab oder wechseln zum zweiten Mal ihren Ausbildungsberuf. Kontinuität war noch nie ein Zeichen von Mittzwanzigern. Aus diesem Grund bin ich kein Fan von Klassentreffen. Es ist nichts weiter, als ein übererhebliches und stumpfsinniges Gebären von nicht selbst erbrachten Leistungen und unverhältnismäßigen Vorstellungen. Ich frage mich, wie viel von Marten und Ezra wirklich in dieser Bar steckt und wie viel von ihren gönnerhaften Familien.

„Wir studieren beide an derselben Uni.“ Jeff platziert sich auf einen der leeren Barhocker am Rand des Tresens. Er schaut während der Erläuterung unseres bisherigen Werdegangs immer wieder zu mir, so als wolle er sich versichern, dass er nichts Falsches erzählt. Inwiefern er bei Lernen, Essen und Schlafen falsch liegen kann, ist mir ein Rätsel. Ich bin einfach nur froh, nicht reden zu müssen und studiere die Getränkekarte, gebe mich dabei ruhig und gleichgültig. Ich sehe mich um. Der Laden ist etwas zu gestylt für meinen Geschmack. Obwohl die Bar eine eigenartige Mischung aus modern und urig ist, wirkt es gewollt und nicht gewachsen. Aber wie sollte es auch? Zudem gibt es keine klare Linie. Wollen sie modern und hipp wirken oder rustikal und derb? Holzelemente treffen auf Metall. Eckkneipenidyll verbeißt sich in Industrieschick. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.
 

Mein Blick senkt sich zurück in die Karte. Sie ist umfangreich und enthält Unmengen an Cocktails, deren Namen ich noch nie gehört habe, teilweise nicht aussprechen kann und ich mir auch nichts darunter vorstellen vermag. Planters Punsch?

Cucumber Elderflower Mule. Hä? Ich frage mich, wie man den nach zwei oder drei Cocktails bestellt. Es sind auch die Klischeehaften auf der Karte. Jeff bestellte vor einigen Jahren mal einen Sex on the Beach und kicherte nach jedem Schluck, wie eine Horde japanischer Schulmädchen in Harry Potter-Land. Es war durchaus erheiternd. Ich blättere weiter und lande bei den hochprozentigen Angeboten. Etliche Whisky- und Scotch-Sorten aus verschiedenen Ländern reihen sich neben ebenso mannigfaltigen Wodkas. Polnischer. Ukrainischer. Klassisch russisch.

„Alle handverlesen und verkostet!“, merkt Ezra an und lehnt sich neben mich an den Tresen. Er tippt mit Zeigefinger auf einen schottischen Unblended Whisky, gleitet weiter zu einem irischen Pure Pot Still Whiskey.

„Das hier sind meine Favoriten.“ Er beschreibt mir den Geschmack des Irischen und ich kann es mir beim besten Willen nicht vorstellen. Rauchig und samt? Bei fast 50 Prozent Alkohol ist Geschmack kaum vorstellbar für mich. C2H6O. Ethanol. Nichts weiter als eine Formel für Kopfschmerzen.

„Ich hab nach dem Abschluss eine Rundreise durch die Destillen der Inseln gemacht. Oh man, echt raues Klima, aber kalt war mir nie.“ Er lacht bariton und lehnt sich in eine gemütlichere Position. Trotz des ganzen Trubels um ihn herum wirkt er seltsam entspannt.

„Und deswegen die Bar?“, frage ich nach, obwohl es mich nicht wirklich interessiert. So kann Jeff nicht behaupten, ich hätte es nicht versucht.

„Na ja, eigentlich hätte ich gern meine eigene Destille, aber meine Eltern wollten, dass ich etwas mit Zukunft mache...“

„Und da kamt ihr darauf, eine Bar zu eröffnen?“, erkundige ich mich erneut. Diesmal mit ironischem Unterton.

„Ein wenig gastronomisches und kaufmännisches Chichi und voilá…“

„Ein Hoch auf den Alkohol. Den wird es immer geben“, kommentiere ich ein klein wenig zu enthusiastisch. Ezra scheint es nicht zu bemerken.

„Genau das hatte ich Ihnen auch gesagt…“ Er lacht erneut. Vollmundig und laut. Dennoch scheint der größte Teil seines Gelächters in der lauten Musik zu verschwinden. Ich folge mit den Augen einer neu ankommenden Gruppe von Gästen, die in eine der hinteren Ecken verschwinden. Ich sehe zu Jeff, der Richtung Marten über den Tresen lehnt und sich verschiedene Biersorten vorführen lässt. Ich weiß nicht, was ich hier soll. Meine Tagesration an Small Talk ist vollbracht und zu mehr fühle ich mich nicht in der Lage. Zudem möchte ich, seit wir hier sind, am liebsten jeden anfallen, der den Eindruck erweckt, er könnte Zigaretten haben. Obwohl in dem Laden niemand raucht, scheint der Geruch von Tabak überall.

„Er hat dich überredet, oder?“ Mein ehemaliger Mitschüler steht noch immer neben mir und ich beginne, ihn langsam zu bemitleiden dafür, dass er anscheinend die Aufgabe bekommen hat, mich zu bespaßen. Oder sich zu mindestens dazu verpflichtet fühlt.

„Wie bitte?“

„Hierher zu kommen.“ Erwischt.

„Wir haben einen Deal“, erkläre ich unaufgeregt

„Was, musst du jetzt ein Semester lang seine Hausaufgaben machen?“, fragt er amüsiert.

„Nein, es ist etwas spezieller.“ Ezras Augen fixieren mich.

„Was gibt es bei euch etwa Sonderleistungen?“ Ich brauche einen Moment, um dem Begriff Sonderleistungen eine klare Bedeutung zu zuordnen und blicke meinem ehemaligen Mitschüler verdutzt entgegen.

„Was? Nein…er…er begleitet meine Schwester auf ein Teeniekonzert. Das hätte sonst ich tun müssen“, gebe ich irritiert von mir und suche unvermittelt nach meinem Mitbewohner. Jeff sitzt noch immer an der Bar und hat mittlerweile drei Gläser Bier vor sich stehen. Alle haben eine andere Farbe. Ezra folgt meinem Blick.

„Schon klar.“ Er stupst mir mit dem Ellenbogen gegen die Seite und grinst.

„Das ist Jeffs Ding, nicht meins“, stelle ich mit wenig Nachdruck klar. Ich brauche eine Zigarette. Dringend. Ich bin im Grunde seit fast zwei Wochen auf Entzug.

„Ich hätte ja nicht gedacht, dass es Themen gibt, die dich aus der Bahn werfen. Aber schön, dass sich Dinge ändern.“ Ich verstehe nicht, was er damit meint. Ezra sieht ein weiteres Mal kurz zu Jeff und dann wieder zu mir.

„Entschuldige, du sitzt ja die ganze Zeit auf dem Trockenen. Was kann ich dir bringen?“

Trotz Blick in die Karte, weiß ich nicht, was ich darauf antworten soll.

„Habt ihr einen Automaten für Zigaretten?“, frage ich stattdessen.

„Sicher. Auf dem Gang zur Toilette.“ Er deutet in die Richtung, in die auch die kleine Gruppe verschwunden war.
 

Der Automat schluckt mein Geld gierig, rödelt und wirft dann die Packung der ungesunden Glimmstängel aus. Ich weiß jetzt schon, dass meine Mutter es riechen wird, dass sie mich darauf anspricht und dass ich lügen werde. Immerhin kann ich behaupten, dass man in einer Bar kaum dran vorbei kommt. Am Geruch. Am Aroma. Sie wird trotzdem sauer sein, egal, was ich sage und ich kann es verstehen.

Beim Zurückkommen sehe ich Ezra bei Jeff an der Bar. Ich stehle mich ohne Laut zugeben vor die Tür. Augenblicklich legt kühle Luft sich auf meine Haut und erst jetzt merke ich, wie warm es in der Bar gewesen sein muss. Während ich mit geschlossenen Augen die Abkühlung genieße, friemele ich die Plastikfolie von der Packung. Ich stecke mir die Zigarette zwischen die Lippen, sehe in den dunklen Himmel und zünde sie nicht an. Im ersten Moment, weil ich es nicht will und dann aus Ermangelung eines Feuerzeugs. Verdammt. Ich atme tief durch, ziehe etwas des Aromas des Tabaks mit ein und spüre, wie meine Lunge schreit. Was würde ich dafür geben, jetzt einfach ins Bett fallen zu können. Ich könnte mir die Decke über den Kopf ziehen und müsste niemanden mehr etwas vorspielen.

„Interessante Methode.“ Ich erkenne Ezras Stimme und muss deswegen meine Augen nicht öffnen.

„Angst, dass ich die Zeche prelle?“, frage ich mit der Zigarette im Mund und nuschele.

„Nicht wirklich. Immerhin weiß ich, wo du wohnst. Na ja, zumindest, wo du…du weißt schon.“, sagt er lachend und ich höre, wie er das Rädchen eines Feuerzeuges bedient. Als ich zu ihm sehe, hält er es mir hin. Ezra stellt eine halbvolle Flasche Tequila auf den Fenstersims neben ihm ab, holt eine Packung Zigaretten aus seiner Hosentasche und zaubert zwei Schnapsgläser hinter seinem Rücken hervor. Wäre ich nicht so missmutig, würde ich applaudieren.

„Bist du nicht etwas zu entspannt für euren Eröffnungstag?“, frage ich, als ein weiteres Grüppchen aus drei jungen Männern und zwei Frauen in die Bar tigern. Die Lokation scheint bald über zu quellen, doch Ezra zieht ohne eine auffällige Reaktion eine Zigarette aus der Packung und lächelt. Er ist tiefenentspannt. Sehr verdächtig.

„Die größte Anspannung ist schon weg. Jetzt müssen wir es eh erst mal laufen lassen. Alles andere wäre unnötige Panikmache.“

„Scheint ja gut zu laufen... bisher...“

„Kleine Stadt und viel Mundpropaganda. Und wie du sicher noch weißt, gibt es hier nicht sonderlich viel Unterhaltungsprogramm.“ Soviel zum Thema Katastrophe oder Elysium. Im Moment scheint eher zweites zu zutreffen. Abgesehen von einer verqualmten Eckkneipe und dem Kino existiert in dieser Stadt nichts, was halbwegs zu Schandtaten einlädt. Der einzige Lichtblick unserer infantilen Rebellionen waren die Privatparties und die kleineren, die von der Schule organisiert werden. Der Brünette zündet seine Zigarette an und nimmt einen tiefen Zug. Ich sehe dabei zu, wie sich die Muskeln an seinem Hals bewegen, als sich der Rauch einen Weg über seine Lippen nach außen bahnt. Meine eigenen Geschmacksknospen ziehen sich zusammen, als ich mich an das Aroma der Zigaretten erinnere. Mein Gehirn rebelliert und schreit nach dem Nikotin. Trotz alledem lasse ich meine unangetastet. Statt einen erneuten Versuch, mit dem Feuerzeug zu starten, greift Ezra den Tequila und füllt die beiden Gläser. Er reicht mir eines davon.

„Auf die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft.“ Wie theatralisch. Wir kippen den Agavenbrand gleichzeitig runter und während sich der Alkohol meine Speiseröhre entlang brennt, meldet sich schon wieder meine Lunge. Wo ist nur die Bettdecke, wenn man sie braucht.

„Jetzt hast du dir extra Zigaretten gekauft und rauchst keine?“ Ezras lehnt sich an den Fenstersims und nimmt einen tiefen Zug.

„Ich sollte eigentlich aufhören und wenn es nach meiner Mutter geht, hätte ich nie anfangen dürfen. Das Übliche.“ Ich lasse die einzelne Zigarette in meiner Hosentasche verschwinden.

„Also Zwangsentzug?“

„Sozusagen…aber nicht nur deswegen.“ Ich denke an Kain. Er hat sich nie wirklich beschwert, aber gut findet er es sicher auch nicht. Unweigerlich denke ich an das Aroma fruchtigen Ingwers, welches ich hin und wieder bei dem Schwarzhaarigen schmecke.

„Ich hab auch schon gehört, dass Aschenbecher küssen nicht das Wahre ist. Hast du eine Freundin?“

„Nein,…“

„Aber du hörst doch nicht wegen deiner Mama auf.“

„Nein, wegen der Gesundheit…“, sage ich ausweichend. Ezras Blick nach, glaubt er mir kein Wort. Er schenkt uns ein weiteres Glas ein.

„Na dann, ein Hoch auf die Gesundheit….und die anderen Dinge, die uns bezwingen.“

„Lass das nächste Mal deine Sprüchebuch lieber zu Hause“, kommentiere ich diesen seltsamen Trinkspruch und kippe das nächste Glas weg. Wenn es in diesem Tempo weiter geht, dann werde ich morgen den schlimmsten Kater meines Lebens haben.
 

„Hier seid ihr!“ Wir drehen uns beide um. Jeff stolpert die Stufe nach draußen fast runter. Ezra und ich greifen beide nach dem Blonden. Ich bin ein kleinwenig schneller.

„Hey, vorsichtig…“, sage ich, ziehe meinen Kindheitsfreund in eine aufrechte Position und lasse ihn erst los, als ich sicher bin, dass er nicht über einen Fantasie-Elefanten fällt.

„Die Stufe war da vorher nicht, oder? Ich stehe…“, beschwichtigt er und stellt sich für zwei Sekunden auf ein Bein. Die Logik von angetrunkenen Gehirnen ist großartig.

„Wir haben das Gebäude extra 20 Zentimeter angehoben. Nur damit wir da eine Stufe hinbauen konnten“, erklärt Ezra mit einem deutlichen belustigten Unterton. Jeffs Stirn runzelte sich fragend, während er darüber nachdenkt, wie viel Wahrheitsgehalt in dessen Worten steckt. Vermutlich verhindert der Alkohol in seiner Blutbahn, dass das in einem halbwegs erfolgreichen Tempo geschieht.

„Okay,…ihr verarscht mich.“

„Niemals“, kommentiere ich ebenfalls belustigt und lege dann kurz meinen Arm um den anderen Mann. Es scheint ihn aus zu söhnen. Er lächelt.

„Lasst uns noch eine Runde Tequila trinken“, ruft er übertrieben in die Nacht hinein. Er weiß nicht, dass Ezra und ich bereits gut dabei sind. Jeff zieht mich wieder rein. Nach einer weiteren Stunde hat mich Ezra so weit, dass ich tatsächlich einen seiner favorisierten Whiskys koste. Ich schmecke das Rauchige, aber das Samtige bleibt mir verborgen. Nein, eindeutig nicht meine Welt.

Jeff ist guter Laune. Genauso, wie die andere beiden. Ich muss zugeben, dass es schon etwas Spaß macht. Was zum einen an der Menge Alkohol liegt und zum anderen an Jeffs Kommentaren, die verdeutlichen, wie viel grandiosen Mist wir damals gebaut haben. Ezra und Marten erinnern sich zusätzlich noch an Dinge, die ich längst verdrängt habe und irgendwann zaubert einer von beiden das Tanzvideo hervor, bei dem auch Jeff und ich mitwirken. Ich wehre mich vehement dagegen, es anzuschauen und werde lachend überstimmt. Dirrty ist definitiv anders. An Marten habe ich gar nicht mehr gedacht. Doch auch er bewegt darin seine scheinbar unfähigen Beine hin und her. Der Einzige, der neben den Mädels einen wirklich souveränen Auftritt hinlegt, ist Jeff. Es folgen zwei weitere Runden Tequila und weitere frivole Details, über die ich niemals Bescheid wissen wollte. Auch Marten und Ezra hatten etwas mit Tabea. Ich halte mich zurück und bin dennoch einigermaßen erschüttert, aber nur für ein paar Sekunden. Die Augen waren es einfach wert. Es folgen noch etliche Schenkelklopfer und die Zeit vergeht, ohne dass ich es merke. Nur mein Kopf beginnt mich langsam zu warnen, dass ich genug getrunken habe und ich weiß, dass es bereits zu spät ist. Auch den anderen merkt man den vielen Alkohol an. Allen voran Jeff, dessen Kopf bereits verräterisch nach unten absackt. Ich ziehe die Reißleine.
 

„Ich denke, wir sollten los“, merke ich an und taste meine Hosentaschen nach meinem Handy ab. In etwa 10 Minuten kommt der Bus, der uns direkt wieder nach Hause bringt und fast vor die Haustüren fährt. Einer der wenigen Vorteile, wenn man in einer kleinen Stadt wohnt. Alles relativ fußläufig und nah beieinander.

„Wie kommt ihr nach Hause?“, fragt Ezra und schaut zu Jeff, dessen Kopf nur noch Millimeter über dem Tresen schwebt. Bevor seine Stirn endgültig auf das harte Holz prallt, schiebe ich meine Hand dazwischen. Mein Mitbewohner zuckt wieder hoch.

„Noch nicht gehen…“ Wie aus dem Lehrbuch.

„Kommt das nächste Mal vorbei, wenn ihr hier seid“ Mehr eine Aufforderung, als ein Vorschlag. Jeff bestätigt begeistert Termine für die kommenden 10 Jahre. Ich greife den brabbelnden Blonden am Jackenkragen und ziehe ihn trotz Gezeter zum Ausgang. Wir bekommen den Bus in letzter Minute. Ich bugsiere den Blonden auf einen der leeren Sitze und lasse mich auf den Platz neben ihn fallen. Ich spüre, wie der Alkohol in meiner Blutbahn langsam aber sicher meine Gehirnzellen lähmt und mich ins Traumland schickt. Zum Glück sind es nur ein paar Stationen. Jeff schmatzt und gibt hin und wieder kleine Seufzer von sich. So zufrieden will ich mich auch mal wieder fühlen. Selbst mit dem ganzen Alkohol in meinem Blut schaffe ich es nicht, mein Gehirn abzuschalten.

„Was ist eigentlich los mit dir?“, nuschelt er ruhig und müde, als hätte er meine Gedanken gehört und nachdem er seinen Kopf auf meiner Schulter abgelegt hat.

„Was meinst du?“ Es dauert eine Weile, bis Jeff antwortet. Vermutlich braucht es immer noch alles länger, bis es bei ihm ankommt.

„Du wirkst so…“ Er stockt. „Mir fällt das Wort nicht ein… Ist es wegen René? Fehlt er dir? Ist nicht bald sein…?“ Die letzte Frage beendet er nicht. Trotz der vielen anderen, gebe ich Jeff keine klare Antwort.

„Hm.“ Mehr sage ich nicht. Auch Kain erwähne ich nicht. Mein Jugendfreund schmiegt sich für einen Moment dichter an mich. Ein kleines Zeichen seiner Zuneigung und seine Anteilnahme.

„Unausgeglichen…du wirkst unausgeglichen.“ Jeff strahlt mit geschlossenen Augen. Ich bin mir nicht sicher, was er damit meint und frage auch nicht nach, sondern mache nur ein hinnehmendes Geräusch.

„Weißt du was?“ Jeff beginnt zu kichern und schmiegt seinen Kopf etwas mehr in meine Halsbeuge. Jeffs Haut fühlt sich warm an.

„Was?“ Obwohl ich schrecklich müde bin, spiele ich mit.

„Du hattest Recht! Jake will mit mir ausgehen.“

„Möchte er das?“

„Ja, will er. Also, er hat noch nicht gefragt, aber er will… ich denke jedenfalls, dass er es möchte…. also vielleicht.“ Die wirren Worte eines Betrunkenen. Ich komme nicht umher, zu lächeln.

„Du hast aber einen Freund…“, erwähne ich, ohne dabei auch nur den geringsten Anschein einer Verurteilung zu erwecken. Nach Abel kann alles nur besser werden.

„Jaaa…ich weiß, dass ich das nicht gut finden sollte…aber es ist auch irgendwie aufregend. Und er ist einfach echt heiß…“ Ich versuche mir den ITler vorzustellen, doch es gelingt mir nicht. Ich habe immer nur einen Stereotyp im Kopf. Vermutlich würde ich sowieso nie das sehen, was Jeff sieht.

„Du solltest auch mal wieder mit jemanden ausgehen. Jemand heißen…“ Der Blonde wiederholt seine vorigen Worte kichernd. Der Kopf an meiner Schulter nickt übermütig und rutscht dabei weg. Ich mache meine Augen auf und sehe nachdraußen.

„Fuck! Wir sind vorbeigefahren!“, sage ich aufgebracht und betätige schleunigst den Halteknopf.

„Wir haben noch nicht einmal angehalten?“, stellt Jeff irritiert und verwirrt fest. Er versucht nach draußen zu schauen, aber ihm prangt nur sein reichlich verschwommenes Spiegelbild im verkratzten Fenster entgegen.

„Ja, wenn niemand den Knopf drückt oder an der Haltestelle steht, dann hält der Bus nicht an, du Steinchenkrabbler. Komm jetzt! Hoch!“

„Steinchen…“, beginnt er zu murmeln, „wunderschöne Silikate und…Karbonate. Oh Oh...ich muss dir mal den Glimmerschiefer aus der Gesteinssammlung zeigen. Wirklich chic…“ Während Jeff begeistert rumquatscht, ziehe ich ihn in eine aufrechte Position und signalisiere den Busfahrer, dass er uns an der nächsten Haltestelle etwas mehr Zeit zur Verfügung stellen muss, damit ich den betrunkenen Blonden halbwegs sicher rausbekomme.

Ein paar Minuten und weitere hübsche Funkelsteinchen später kommen wir bei Jeff an.

Ich helfe dem Blonden aus den Schuhen und sehe dann dabei zu, wie dieser quer auf sein Bett fällt. Vorsorglich schiebe ich Jeffs Papierkorb in greifbare Nähe und sehe auf den Wecker auf Jeffs Nachttisch. Es ist mittlerweile 3 Uhr morgens und ich habe keine Lust, nach Hause zu laufen. Ich lasse mich auf die zerfledderte Couch fallen, auf der wir in der Schulzeit häufig zusammen Hausaufgaben gemacht haben. Trotz Müdigkeit kann ich nicht schlafen. Hinzukommt, dass der Alkohol die Funktionen meines Kleinhirns hemmt und somit die die Feinabstimmung meiner Körper- und Augenbewegungen behindert. Dreht sich der Raum oder vielleicht nur die Couch?

Ich ziehe mein Handy hervor und lese zum wiederholten Male Kains Nachricht. Er braucht etwas Zeit. Zeit für was? Um endlich zu verinnerlichen, was für ein schlechter Freund ich bin? Ich dachte, dass wäre ihm längst klar.

Meine Umgebung schwankt immer noch. Ich rutsche die Rückenlehne wieder hoch und bleibe sitzen. Das Zimmer wird langsamer, mein Blick klarer und ich erkenne, dass Kain gerade online ist. Mein sowieso schon unruhiger Herzschlag nimmt an Tempo auf. Meine erste Reaktion ist es, das Handy zur Seite zu legen. Doch gleich darauf greife ich wieder danach. Ich beginne zu tippen, aber schaffe es nicht, die Nachricht zu Ende zu bringen. Ich kann nicht. Und Kain will es nicht. Er will Zeit. Ich breche nach wenigen Worten ab und kippe zurück zur Seite. Jeff regt sich, dreht sich aus seiner Bauchlage in eine Rückenlage. Mit einem Mal setzt er sich auf und jagt mir einen heftigen Schrecken ein.

„Fuck, Jeff…“, entflieht es mir aufgebracht, doch mein Kindheitsfreund stöhnt nur gequält und steht auf

„Schlecht“, murmelt er, bevor aus seinem Zimmer herausstiefelt und hoffentlich im Badezimmer landet. Folgen tue ich ihm nicht. Irgendwann höre ich die Spülung. Danach ein weiteres Mal. Als Jeff endlich zurückkommt, setzt er sich zu mir auf die Couch.

„Wieso hast du mich nicht davon abgehalten?“ Vorwurfsvoll.

„Von deiner Bierverkostung?“

„Nein, vom Tequila…“ Jeffs Kopf kippt auf die Rückenlehne. Ich sehe zur Seite und betrachte sein Profil. Auch mein Kopf fühlt sich langsam immer schwerer an.

„Du bist alt genug, um das allein zu wissen.“ Jeff dreht sich in meine Richtung und streckt mir die Zunge heraus. Ich rieche den Alkohol und dass er sich die Zähne geputzt hat. Ich würde es ihm gern gleich tun, aber meine Zahnbürste liegt etwas zwei Kilometer von hier entfernt. Allerdings könnte sie auch neben mir liegen und ich würde trotzdem überlegen, ob ich dafür wirklich aufstehen will.

„Du hast vorhin meine Frage nicht beantwortet.“

„Welches mein Lieblingssilikatgestein ist? Ich bin da ehrlich gesagt nicht so festgelegt“, murmele ich schlaftrunken und schließe meine Augen.

„Du bist doof! Das meine ich nicht…Was hast du im Moment? Familienüberschuss? Allgemeine Unzufriedenheit? Sexuelle Frustration?“ Wieder ein Fragenmarathon. Ich möchte ihm weiterhin nicht antworten. Wieso führen sich im Moment alle wie Samariter auf? Mir geht es gut. Wenigstens halbwegs, behauptet der Alkohol in meiner Blutbahn.

„Eine Freundin streitest du ab, aber du verheimlichst mehr als sonst. “ Jeff lässt nicht locker.

„Darf ich nicht auch meine Geheimnisse habe?“

„Sicher, aber…ich bin doch dein Freund…“ Ein Freund, der mir ein halbes Jahr lang seine Beziehung verschwiegen hat. Noch dazu mit wem. Ich bin ihm nicht mal mehr böse, aber das muss er ja nicht wissen. Nun kippt Jeffs Kopf auf meine Schulter. Er seufzt. Nur halb so theatralisch, wie sonst und dennoch weiß ich, dass er schmollt. Er riecht nach der Bar und nach Gummibärchen.

„Wie spät ist es eigentlich?“

„Spät…“, antworte ich und merke, wie Jeff seinen Kopf von meiner Schulter nimmt. Ich sehe auf, als es mit einem Mal heller wird.

„Oh, hast du dich mit Kain verkracht?“, fragt er verwundert. Der Blonde hat mein Handy ertastet und das Display aktiviert. Ich hatte den Chat mit Kain nicht geschlossen. Ich schrecke hoch und nehme ihm sofort das Gerät aus der Hand.

„Nein.“ Ich schüttele verstärkend dazu den Kopf. Auch wenn Jeff es gar nicht sehen kann.

„Wofür entschuldigst du dich dann?“

„Für nichts weiter.“

„Du hast dich noch nie für nichts entschuldigt…“, bohrt er weiter. Ich schlucke ungesehen und weiche Jeffs Blick aus. Selbst in der Dunkelheit merke ich, wie sich seinen blauen Iriden regelrecht in mein Gehirn bohren.

„Ich hab ihn auf der Fahrt hier her genervt…Alles halb so wild.“ Nicht einmal unwahr.

„Aha…“ Die Skepsis schreit mir förmlich aus den drei Buchstaben entgegen, die mein Kindheitsfreund hervorbringt. Mit angespannten Kiefer stehe ich auf und greife nach dem verräterischen Mistding von Telefon. Ich kann im Grunde froh sein, dass Jeff nicht zum Scrollen gekommen ist und die ganzen verräterischen Andeutungen und Bilder gefunden hat. Er packt mich am Handgelenk.

„Dir ist schon klar, dass dich dieses dauernde Weggerenne nur noch verdächtiger macht.“ Mit diesen Worten zieht er mich zurück auf die Couch. Der plötzliche Wechsel von stehend zu sitzend, hat meinen Kopf gar nicht gefallen. Ich ächze unter dem hämmernden Kopfschmerz und sehe Jeff flehend entgegen.

„Hältst du endlich die Klappe, wenn ich hier bleibe?“, gebe ich murrend von mir. Jeff drückt mit der flachen Hand mein Gesicht in die andere Richtung und steht von der Couch auf. Er wirft mir sein zweites Kissen zu.

„Schlaf gut.“ Ich quetsche mir das Kissen zurecht und schaffe es nicht, die Stille so zu genießen, wie ich es möchte. Schlafen kann ich immer noch nicht.
 

Das Erwachen startet genauso, wie der Abend endete. Mit Kopfschmerzen. Das grelle Tageslicht, welches unaufhörlich, gleißend und nervend in den Raum dringt, macht es nur noch schlimmer. Das Perfide an der Sache ist, dass nur an einer winzigen Stelle wirklich Licht durch die Jalousien dringt und genau dieser trifft mein Gesicht. Ich drehe mich auf der Couch um und drücke meinen Kopf in das abgelegene Polster. Als irgendwann einfach nicht mehr genug Sauerstoff in meiner Lunge ankommt, setze ich mich auf. Jeff regt sich nicht. Ich werfe das Kissen aufs Bett, treffe seine Kehrseite, doch auch das hat keine Regung zur Folge. Ich rappele mich hoch, höre wie scheinbar jeder Knochen in meinem Skelett zu knacken beginnt und ernte ein erstes Murren vom Schlafenden. Mehr jedoch nicht. Nach einer Katzenwäsche und gurgeln mit Zahnpasta, schleiche ich in die Küche. Ich treffe auf Jeffs Mama, die mich zur selben Zeit fragend, tadelnd und mitleidig anschaut. Ich glaube, das schaffen nur Mütter. Eine ihrer Spezialfähigkeiten neben dauerndes in Verlegenheit bringen und Überfürsorge. Auch sie fragt mich nach meinem Befinden. Ich beschreibe ihr eine Mischung aus draufgängerischem Pragmatismus und klassischem Runterreden. Kurz; ich atme, esse und unterliege dem Verfall. Marlis lacht immer gern über meine trockenen Witze. Ich genieße die lockere Konversation, während sie durch die Küche wirbelt und mir einen Teller mit Armen Rittern vor die Nase stellt. Bei meiner zweiten Portion trollt sich auch Jeff zu uns. Ich bin erst am Nachmittag wieder zu Hause.
 

Donnerstagabend machen sich Jeff und Lena auf zum Konzert. Ich verbringe den Abend mit meiner Mutter, die dankbar ist, dass sie nun nicht fahren musste. Hendrik ist bei einer Firmenfeier. Wir teilen uns einen riesigen Becher griechischen Joghurt mit Honig, trinken Tee und plaudern. Ich philosophiere über die Eigenarten meiner Dozenten und Professoren, höre zu, wie meine Mutter über ihre eigenen Erfahrungen spricht. Anscheinend haben sich die Lehrkräfte in den vergangenen Jahren nicht verändert oder erlernen automatisch die gleiche Verschrobenheit. Ich erzähle ihr von dem Tutorium, von Shari und dem indischen Essen. Von Jeff. All die Kleinigkeiten, die eine Mutter gerne hört, damit sie sich nicht ausgeschlossen fühlt. Ich genieße die Einfachheit. Solche Momente sind für uns nur noch selten. Einfach nur so sein, kann ich nur allein.

Als das Hauptkonzert startet, bekommen wir das erste Update. Jeff schickt mir ein Bild von Lena. Sie streckt ihre Daumen in die Kamera und grinst über beide Backen. Im Hintergrund erkenne ich die Bühne. Lichter. Instrumente. Eine Unmenge an kreischenden Teenager. Ich muss sie nicht einmal hören, um das zu wissen. Es folgt ein weiteres mit beiden. Gegen 23:30 Uhr sind sie wieder zurück. Sie sind aufgedreht und überschlagen sich gegenseitig bei ihren Erzählungen. Ich frage mich, wer von ihnen lauter kreischt und für einen Moment lang verspüre ich Wehmut, weil ich nicht Mäuschen spielte. Jeff und Lena sind eine beeindruckende und powergeladene Kombination. Für mich nur stufenweise erträglich.

Die nächsten Tage bleiben angenehm ereignisfrei und am Samstagmorgen steige ich in den Zug zurück zum Campus und das, obwohl ich jedes Semester wieder die gleichen Diskussionen führe. Meine Mutter bittet mich länger zu bleiben. Samstag noch. Sonntag noch. Bis zu René Todestag. Auch meine Argumentation ist immer dieselbe. Drei Wochen Familie sind mehr als ausreichend und nur Samstag gibt es noch Möglichkeiten zum Einkaufen. Und ich denke auch ohne ein bestimmtes Datum jeden Tag an ihn.

Auf der Hälfte der Strecke besorge ich mir einen Tee aus dem Speisewagon und schreibe Marie eine Nachricht, dass ich heute noch vorbeikomme. Sie antwortet nicht. Die restliche Zeit nutze ich dafür, die übrigen Kapitel des neuen Buches durchzugehen. Ich schicke es noch während der Fahrt ab. Vor der Zeit und eigentlich auch ohne bestätigtem Auftrag. Falls sie es nicht nehmen, ist es mir auch egal. Das rede ich mir jedenfalls ein.

Vom Bahnhof aus fahre ich direkt zu meiner Bibliothekskomplizin. Freundlicherweise hat sie während meiner Abwesenheit für Jeffs heißgeliebten Ficus Pflanzensitter gespielt und ich empfand diese Variante als am tauglichsten. Minimal invasive Eingriffe hinsichtlich Standort, Transport und Pflege. Optimale Lösung. Jeff sah es ein wenig anders.

Es ist nicht Marie, die mir die Tür öffnet, sondern einer ihrer Mitbewohner. Ein schlanker, müde aussehender junger Mann. Seinen Namen habe ich schon wieder vergessen. Auch er blinzelt mir erkennend, aber fragend entgegen und wir einigen uns stillschweigend darauf, dass Namen keinen weiteren Nutzen haben. Ich frage nach Marie und erfahre, dass sie bisher nicht auf meine Nachricht reagiert hat, weil sie am gestrigen Abend erst spät aus der Bibliothek nach Hause gekommen ist. Sie schläft. Ich bin versucht, sie zu wecken, doch ich möchte nicht daran schuld sein, dass sie irgendwann mit dem Gebäude verwächst. Außerdem braucht ihr Kopf schlaf, um zu funktionieren. Ben finde ich in der Küche. Ich begutachte ihn einen Moment lang argwöhnisch. Ich hatte ein vorher Foto machen sollen, damit ich auf der sicheren Seite bin. Der Ficus benjamina hat ein paar Blätter gelassen. Diese Pflanzen sind ziemliche Zicken. Jeder kleinen Irritation begegnen sie mit Kahlschlag und bitterer Selbstkasteiung. Photosynthese ersetzt eben keine Gehirnmasse. Wobei einige Menschen mit dem Syntheseprozess schon in neue Sphären aufsteigen könnten. Ein gewisser Blonder gehört definitiv dazu.

Ich schlage einen obligatorischen Kaffee aus und bitte darum, Marie Grüße auszurichten. Ich werde mich in irgendeiner Weise bei ihr revanchieren. Mit der Pflanze unter dem Arm laufe ich zurück zum Campus.
 

Micha begrüßt mich im Foyer. Ich frage mich, ob der arme Mann jemals nach Hause geht, denn im Grunde ist er immer da. Überschwänglich schiebt er mir meine Post zu und beginnt zu plappern. Ich lasse den Small Talk über mich ergehen, der mit der Frage nach der Pflanze in meinem Arm beginnt und mit der Klarheit endet, dass Micha verheiratet ist und Zwillingstöchter hat. Auf der Treppe stöpsele ich meine Kopfhörer wieder ein. Sina tritt aus der Gemeinschaftsdusche der Frauen und kommt auf mich zu, als sie mich im Gang erkennt. Ihre Kleidung besteht aus nicht mehr als einer bequemen Hose und ein Tanktop, unter dem sich deutlich die Konturen ihres Körpers abbilden. Ihre Haare sind noch feucht. Und aus irgendeinem Grund erwarte ich, dass im nächsten Augenblick auch Kati folgt, doch die Blondine bleibt allein.

„Heute ohne deine brünette Kopie unterwegs?", frage ich wenig galant, nehme einen der Ohrstöpsel heraus und puste ein paar von Bens Blättern aus meinem Gesicht. Sina lächelt unbeeindruckt und bleibt neben mir stehen.

„Kati ist bei ihrer Familie in irgend so einem Kaff am Ende der Welt. Freiwillig, 6 Wochen lang“, sagt sie fassungslos und in meine Richtung geflüstert, so als würde sie sonst jemand hören, der es nicht sollte.

„Und wo ist deine Entourage?", hängt sie hinterher, als mir ihre Ausführung nur ein mildes Lächeln abverlangt.

„Gesetzlicher Urlaubsanspruch. Immer nur Ärger mit dem Pack." Ebenso gleichgültig, greife ich ihre Beleidigung auf und führe sie weiter. Sina verdreht gekünstelt die Augen, kicherte amüsiert und deutet danach auf Ben ohne die Frage zu formulieren.

„Lange langweilige Geschichte“, antworte ich und stelle das Bäumchen am Boden ab.

„So, so. Du bist also doch ein braver Mitbewohner.“

„Bitte“, schmettere ich abwertend ab, „Was ist eigentlich aus eurem dämlichen Spiel geworden?“

„Was, willst du einen Nachschlag?“ Auf ihren Lippen entsteht ein amüsiertes Grienen. Kein richtiges Lächeln. Jede Regung ist vollkommen kontrolliert. Es ist Flirten für mein Niveau. Ich reagiere nicht auf reine Freundlichkeiten und das ist ihr mittlerweile sehr wohl bewusst. Sie kommt noch etwas dichter an mich heran. Ich gehe nicht darauf ein, sondern sehe dabei zu, wie sie direkt vor mir stehen bleibt. Nun rieche ich den feinen Duft von Seife, gemischt mit irgendeinem süßlichen Blumendeo und Zahnpasta. Ihre femininen Gesichtszüge unterstreichen auffallende Natürlichkeit. Sie trägt nur etwas von diesem schwarzen Wimpernzeug. Ungewohnt echt. Erfrischend ehrlich

„Wieso versuchst du es immer wieder?“, erfrage ich stattdessen.

„Du hast schon wieder diesen Blick und ich habe das Gefühl, dass du diesmal schwach werden könntest", erklärt sie selbstbewusst. Ich senke meinen Blick in ihr Dekolleté. Ihre Brüste scheinen makellos und ich erinnere mich noch immer gut daran, wie wunderbar sich dieses weiche und schöne Körperteil der Frau anfühlen kann.

„Läuft’s nicht gut zwischen dir und Kain?", fragt sie, sieht absichtlich kurz zur Seite statt direkt zu mir. Ich spüre, wie mein Herzschlag aussetzt. Nur kurz, um dann im doppelten Tempo zu schlagen. Es macht mich wahnsinnig, weil ich deutlich spüren kann, wie sich die Vene an meinen Hals hervordrückt.

„Da ist nichts zwischen mir und Kain", spule ich monoton ab. Es klingt falsch noch während ich es ausspreche. Ihr Blick ist intensiv. Ihre blauen Augen scheinen mich zu durchdringen. Sie weiß es. Durchschaut mich mittlerweile jeder? Sie stellt sich auf ihre Zehenspitzen und ich fühle, wie ihr warmer Atem über meinen Hals streicht.

„Gut… dann fick mich doch", flüstert sie mir auffordert zu. Ihre Hand stoppt über meiner Gürtelschnalle. Ihre Aufforderung hallt durch meinen Kopf. Das Gegenecho schreit nein, doch mit jeder Wiederholung wird es leiser. Solange bis es vollends verstummt. Ich bin seit gut drei Wochen ohne Sex und ihre frivolen Einladungen offeriert mir eine durchaus befriedigende Nacht. Ich habe keine Verpflichtungen. Es könnte genauso sein, wie früher. Nur Sex. Sie wäre perfekt dafür. Sina stiehlt sich einen kurzen Kuss von meinen Lippen und wartet darauf, dass ich den nächsten Schritt mache. Ich merke, wie sich ihre weichen Brüste gegen meinen Oberkörper drücken. Ich spüre die Wärme, die von ihrem Körper ausgeht, aber ich fühle sie nicht. Ich fühle nichts. Nicht einmal das verlässliche Kribbeln, verursacht durch die Berührung körperfremder Glieder. Was will ich mir eigentlich beweisen?

„Du bist echt in ihn verliebt, nicht wahr?“ Lüge.

„Sei nicht albern… Du machst mich nur nicht an“, sage ich kalt und gehe an ihr vorbei.
 

Ich greife mir den Ficus, der mich verächtlich zitternd empfängt. Sicher nimmt er mir übel, dass ich ihn stehen ließ. Er ist heute nicht der Einzige. Das Leben ist nun mal kein feucht warmes Gewächshaus. Im Wohnheimzimmer stelle ich die Pflanze zurück an ihren Platz, öffne das Fenster und lasse mich auf meinen Stuhl fallen. Ich blicke zur Decke und danach direkt wieder zu dem kleinen Baum. Ein weiteres Blatt.

„Bist du jemals zufrieden?“, frage ich murrend in die Dunkelheit hinein. Ich rede mit einem Baum.

Am Wochenende ertappe ich mich wiederholt dabei, wie ich mit Ben rede und mache mich daraufhin frustriert auf den Weg zu der hübschen Italienerin. Auch wenn mir die Inhalte unseres letzten Gesprächs noch immer auf den Magen schlagen.

Doch im Café ist nichts von ihr zu sehen. Ich setze mich draußen auf die Bank bei den Bäumen und zücke mein Handy.

-Mich dürstet es nach gefrorenen Köstlichkeiten, wo bist du, kleine Eismagd?- Die Antwort folgt schnell.

-Sitze im Verließ und darf es erst wieder verlassen, wenn ich Merlin Konkurrenz mache.-

-Versuchs mal mit Avada kedavra- Falscher Film. Es ist mir egal. Das erste Mal in meinem Leben bin ich versucht, einen traurigen Emoji zu benutzen. Frustrierend. Mein einziger Lichtblick des Tages ist hin. Ich bleibe noch sitzen und produziere Kohlendioxid.
 

Auf dem Rückweg komme ich am Parkplatz des Hauptgebäudes vorbei. Es dauert einen Moment, bis mir der Wagen auffällt. Ich gehe extra ein paar Schritte zurück, betrachte das Kennzeichen und bin froh, dass ich wenigstens das meinem bewohnten Landkreis zuordnen kann. Es ist Jeffs. Kain ist also wieder hier. Meine Hand zuckt zur Hosentasche, in der sich mein Handy befindet. Ich atme kurz durch, sehe auf die Uhr und gehe statt zum Wohnheim zur Mensa.

Als ich den Eingang zum Saal betrete, wähle ich Kains Nummer und höre im nächsten Moment, wie hinter mir ein Telefon zu singen beginnt. Die Melodie kommt mir bekannt vor, aber es dauert einen Moment, bis ich Teile des Gesangs verstehe. `… is aching me sadly. You know that it should make me happy…´. Kain drückt mich weg und auch der Song verstummt.
 

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PS: Ich kann es nur wiederholen: SORRY!!!!! Entschuldigung!! Gomen nasai!!! Dafür das ihr immer so lange warten müsst. Aber die Uni macht mich echt fertig und lässt mir kaum Zeit um irgendwas anderes zu schaffen T____T

Ich bitte um Verzeihung!
 

Ps 2.0: Würde es irgendjemanden interessieren, wenn es von mir Updates und Kram bei Twitter gäbe?

Slapstick für Fortgeschrittene und Bibliomane

Kapitel 22 Slapstick für Fortgeschrittene und Bibliomane
 

Als ich mich zur Geräuschquelle drehe, sehe ich wie der große Schwarzhaarige auf mich zukommt. Für einen Moment stockt mir der Atem. Mein Herz wappnet sich für einen Marathon, um dann kläglich zu versagen. So fühlt es sich jedenfalls an. Ich sehe dabei zu, wie er sich geschmeidig nähert, um dann verhalten seinem Blick auszuweichen. Nicht lange, denn ich kann nicht wegsehen. Kain trägt eine gutsitzende schwarze Jeans, die seine trainierten Beine betont, sowie ein dunkelblaues Shirt mit weißer Aufschrift und schlichte weiße Schuhe. Seine Arme und sein Gesicht sind gebräunt. Es wirkt, als wäre er, statt Jeff, in der Südsee gewesen.

Ich sehe zu dem Tisch, von dem aus Kain gekommen ist. Ich erkenne seinen besten Freund Marvin wieder, der auffällig unauffällig zu uns rüber schielt. Er kippelt mit dem Stuhl so weit nach hinten, dass es scheint, als würde er jeden Moment einfach umkippen. Nur noch ein paar Zentimeter, dann käme ihm der Boden auffällig nahe. Leider passiert nichts. Es sitzen noch drei weitere Kerle dort. Vermutlich sind sie aus Kains Ringerteam oder aus der Rugbymannschaft. Ich kenne keinen von ihnen. Ich nutze den interessiert wirkenden Blick nur als Ablenkung, um meinem Atmen unter Kontrolle zu bekommen und um zu verhindern, dass ich, wie so oft, über die Fahrlässigkeit meiner eigenen Worte stolpere. Nur leider scheint nichts davon zu funktionieren. Kain bleibt bei mir stehen, folgt meinem Blick zurück zu seinem Ausgangspunkt und schiebt währenddessen sein Handy in die Hosentasche. Das, was ich gehört habe, war wirklich sein Klingelton und wiederholt habe ich das Gefühl, den Song zu kennen. Ich kann mich nur nicht erinnern.

„Hey... ich hab Jeffs Auto draußen gesehen…“, plappere ich los aus Ermangelung eines sinnvolleren Einstiegs in dieses Gespräch und stoppe rechtzeitig eine allzu verräterische Geste der Hilflosigkeit. Mein noch immer heftig pulsierendes Herz ist ebenfalls keine Hilfe.

„Ja…“, sagt er ungewöhnlich neutral. Kains Blick geht zur Seite und er verschränkt locker die Arme vor der Brust.

„Können wir kurz reden?“, erfrage ich unnötiger Weise. Er würde kaum noch hier stehen, wenn er es gänzlich ablehnte. Dennoch ist auch Kain die Situation sichtbar unangenehm und für einen Moment wünschte ich, ich hätte uns dieses unüberlegte Aufeinandertreffen erspart.

„Kurz“, antwortet er betont lässig. Ein weiterer kleiner Hieb, genauso wie der Blick auf die Uhr, die er nicht trägt, um mir zu verdeutlichen, dass er eigentlich noch nicht dazu bereit ist, um mit mir darüber zu reden.

Kain macht eine auffordernde Geste, als ich nicht reagiere, doch in meinem Kopf herrscht Chaos. Ich weiß nicht wie. Solche Situationen sind nicht mein Ding. Ich hätte einfach ins Wohnheim gehen sollen. Ich hätte den Wagen ignorieren sollen. Jetzt ist es zu spät dafür und Kain lässt mich deutlich spüren, dass ich am Zug bin. Er wird mir nichts abnehmen. Keinen Schritt. Kein Wort. Ich kann mich selbst unruhig atmen hören. Kains Blick ständig auf mir. In meinem Kopf ergibt plötzlich nichts mehr einen Sinn.

„Hast du nun was zu sagen, oder nicht? Denn für gewöhnlich benutzt man fürs Reden Worte“, kommentiert er bissig und macht mit seinen Händen eine auffordernde Geste. Er provoziert mich und ich spüre das Kitzeln. Schlucke es jedoch runter.

„Okay,…“, beginne ich angestachelt und hole kurz Luft, “Ich hätte das damals nicht sagen sollen und…“

„Richtig, das war nämlich phänomenal unterirdisch von dir“, fährt er mir dazwischen und ich beiße mir sichtbar auf die Unterlippe.

„Ich weiß…“, sage ich für meine Verhältnisse seltsam unterwürfig, „Ich hätte… na ja, vielleicht drüber nachdenken sollen…“

„Ist das dein Ernst?“

„Ich weiß. Ich bin einfach nicht gut in diesem zwischenmenschlichen Kram und...“ Ich hasse mich gerade selbst für meine inhaltlose Druckserei. Viel schlimmer ist jedoch, dass Kain mir Zeit zum Kontern einräumt, die ich nicht vernünftig nutzen kann, nur um mich dann erfolgreich vorzuführen. So, wie ich es oft mache. Kein schönes Gefühl.

„Was du nicht sagst! Du bist unsensibel hoch 10.“

„Schon klar, aber…“, setze ich an und schwupp, fährt er mir dazwischen.

„Scheiße Robin, das war einfach verdammt mies, unfair und du machst es mir echt schwer...“, platzt es aus ihm heraus. Lauter, als ich es von ihm gewohnt bin. Ich bin ehrlich überrascht.

„Ich weiß“, wiederhole ich leise meine Phrase des Tages.

„Nein, weißt du nicht! Meinst du, mir machen diese ständige Diskussionen Spaß, Spatz?“, entgegnet er laut und aufgebracht. Kain kommt richtig in Fahrt und von seiner sonstigen Zurückhaltung ist nichts mehr zu spüren. Die Verwendung des Kosewortes irritiert mich jedoch. Es verärgert mich nicht. Im Gegenteil, irgendwas in mir ist erleichtert. Nur ein wenig, aber immerhin. Ich sehe auf. Direkt in das wutgezeichnete Gesicht meines Gegenübers.

„Du flippst wegen jeder Kleinigkeit aus. Du bist launenhaft und andauernd abweisend. Ich weiß einfach nie, woran ich bin. Mal abgesehen davon, dass du…“, führt er seinen Anfall fort.

„Du hast vollkommen Recht…“, unterbreche ich ihn ebenso laut und energisch, aber nicht sauer. Kain sieht mich entgeistert an.

„Mit allem…und es tut mir sehr leid.“, setze ich in Zimmerlautstärke nach. Seine verschränkten Arme lockern sich und nach kurzem Zögern atmet er merklich aus. Ich habe ihm den Wind aus den Segeln genommen und werde verhindern, dass er wieder Luft holen kann. Er streicht sich durch die Haare und bringt sie damit durcheinander.

„Kain, ich wollte dir nicht...“, fahre ich fort und mache einen Schritt auf ihn zu.

„Kain!“, ertönt laut der Name des anderen Mannes. Diesmal nicht von mir. Wir schauen beide zu der Rothaarigen, die präsent im Eingang zur Mensa steht. Ihr Lächeln ist breit und übertrieben, während sie auf uns zukommt. Kain neben mir wird unruhig. Ich kann deutlich sehen, wie er sich verspannt. Doch bevor er zu ihr gehen und sie abfangen kann, ist sie bereits bei uns.

„Hi,…“, raunt sie überschwänglich und flirtend. Sie lächelt, stellt sich auf die Zehenspitzen und haucht einen Kuss auf seine Lippen. Sie versucht es besonders verführerisch wirken zu lassen, doch es ist nichts weiter als Show und Kain lässt es geschehen. So wie jedes Mal. Eine Strähne ihres roten Haares bleibt am Stoff seines T-Shirts hängen. So dicht bleibt sie bei ihm. Sie ist sommerlich gekleidet und trägt nicht mehr als einen kurzen Rock und ein Tanktop. An ihren Ohren baumeln überdimensionale Ohrringe aus bunten Perlen und auch sie wirkt deutlich erholter, als ich. Sie wirft einen Blick zur Seite, der mich mustert und ich verschränke unwillkürlich die Arme vor der Brust.

„Robin...“ Sie spuckt mir meinen Namen fast vor die Füße und widmet sich dann wieder dem großen Schwarzhaarigen. Während ihre Ohrringe heftig hin und herschwingen, zieht sie einen durchsichtigen Plastikbeutel mit Zahnbürste, Deo und irgendeiner Tube mit gelartigem Inhalt aus ihrer riesigen Tasche hervor.

„Hier, das hast du in unserem Gästehaus vergessen“, flötet sie und sieht kurz zur Seite. Zu mir. Genauso, wie Kain. Doch er aus einem anderen Grund. So viel zu seinem Aufenthalt. Er nimmt die Utensilien nur zögernd entgegen. Die wollen mich doch beide verarschen? Er war bei ihr. Ausgerechnet bei ihr. Mein Brustkorb zieht sich zusammen und verursacht ein Schaudern, welches über meinen gesamten Körper jagt und mich niederzwingt, wie ein tonnenschwerer Bulldozer. Es ist mehr als unangenehm. Es schmerzt. Jegliche Gelassenheit und ebensolches Wohlwollen sind augenblicklich aus meinem Inneren getilgt.

Ich ziehe die Packung Zigaretten aus meiner Hosentasche und pfriemele einen weiteren Stängel hervor. Ich atme erschwert, weil der Druck auf meinem Brustkorb nicht verfliegt. Ich muss hier weg. Unerwartet werde ich durch Kains Griff an meinem Handgelenk gestoppt, als ich mich von der Scharade abwende.

„Robin,…“ Ich sehe auf die Berührung, spüre, wie sich mein Handgelenk erwärmt und bemerke den Blick der Rothaarigen. Ihre Augen kneifen sich zusammen und stieren mich regelrecht an. Ich stecke mir demonstrativ mit der freien Hand eine Zigarette zwischen die Lippen, entziehe mich Kains Griff und gehe. Mit jedem Schritt, den ich mich von den beiden entferne, fällt meine Fassade immer mehr in sich zusammen. Ich hätte einfach ins Wohnheim verschwinden sollen. Ich hätte den Wagen ignorieren sollen. Ich hätte das mit Kain nach dem Zwischenfall komplett vergessen sollen. Schallt es ergänzend in meinem Kopf, als ich die mahnenden Ausflüchte wiederhole, die sich bereits vorhin einen Weg in meinen Kopf gebahnt hatten. Die Wut verschwand schneller als mir lieb ist und machte einem anderen Gefühl Platz, mit dem ich noch weniger umzugehen wusste. Enttäuschung. Das heftige Reißen in meiner Brust scheint dabei nur die geringste aller Bestätigungen zu sein.
 

Auf dem Weg zum Wohnheim rauche ich drei Zigaretten. Ein trauriger Rekord. Meine Lunge schreit und diesmal nicht aus Sehnsucht, sondern als Präventionsmaßnahme. Bevor ich den angebrochenen Stängel in den Mülleimer befördern kann, klingelt mein Telefon. Jeffs Name taucht auf dem Display auf und ich nehme den letzten Zug der Zigarette doch noch.

„Was?“, frage ich mit dumpfer, rauchiger Stimme.

„Wow“, kommt es erstaunt von dem anderen, „Im Ernst, Robin, du solltest dich mal wieder flachlegen lassen. Dringend!“, spaßt mein Mitbewohner. Ich höre ihn gigglen, kann aber mit der Scherzerei gerade überhaupt nichts anfangen.

„Okay, dann beweg deinen Schwanz her. Ich bin bereit!“, knalle ich ihm fordernd vor den Latz. Das Kichern verstummt und am anderen Ende bleibt es still. Für den Moment sehr zufriedenstellend. Jedenfalls für wenige Sekunden. Danach setzt sogleich das katerartige Erwachen ein. Ich habe es schon wieder getan.

„Was willst du, Jeff?“, frage ich weniger aggressiv hinterher und streiche mir mit der flachen Hand über den Mund. Wenn Jeff jetzt einfach auflegt, würde ich es verstehen. Anscheinend ist unterirdisch mein neues On-top. Ich schließe meine Augen, sehe seinen getroffenen Blick vor mir und muss ihm nicht einmal persönlich gegenüber stehen. So oft habe ich ihn schon gesehen. Die Antwort meines Kindheitsfreunds kommt nur mit reichlicher Verzögerung.

„Ezra hat gefragt, ob er deine Nummer haben kann. Er hat mir aber nicht gesagt, was er will“, kommt es dann doch noch. Seine Stimme ist zurückhaltend. Ich streiche mir ermattet durch die Haare und seufze fahrig. Ezra? Ich weiß nicht, was der Barbesitzer noch von mir wollen könnte.

„Also?“, hakt er ungeduldig nach.

„Gib sie ihm einfach“, bestätige ich. Danach bleibt es still.

„Jeff…“, setze ich an.

„Hast du an Ben gedacht?“, fragt er mich unterbrechend.

„Sicher. Ich hab ihn Samstag gleich abgeholt und gegossen“, erkläre ich ruhig und gehe fast liebevoll auf die absurde Beziehung zu seinem floralen Haustier ein. Das bin ich ihm schuldig.

„Okay, danke. Bis dann.“

„Jeff, es…“, beginne ich kleinlaut meine Entschuldigung, doch er hat bereits aufgelegt. Obwohl es mich ärgert, bin ich mir mittlerweile sicher, dass es zu meinem besten ist, wenn man mich nicht ausreden lässt. Ich bleibe mit dem Telefon in der Hand stehen. Der Nächste auf der endlosen Liste meiner schwerwiegenden Komplettausfälle. Nein, eigentlich ist Jeffs Name darauf ein ständiger Wiederkehrer und das hat er nicht verdient. Ich verstehe mich im Moment einfach selbst nicht mehr. Logorrhoe ist eine Krankheit. Vielleicht sollte ich mich darauf berufen? So oder so, es macht nichts besser.
 

Diesmal schaffe ich es ohne Probleme, mich an Micha vorbei zu schleichen, der zu meinem Glück von einer redefrohen Gruppe Mädels abgelenkt wird. Im Wohnheimzimmer gehe ich schnurstracks auf den Kleiderschrank zu, hole meine Sporthose heraus und letztendlich krame ich den Basketball unter dem Bett hervor. Ich brauche Ablenkung und körperliche Ertüchtigung. Da ich anscheinend nicht mal mehr in der Lage bin, belanglosen Sex zu haben, ist das meine einzige sinnvolle Idee. Beim Hinausgehen werfe ich mein Handy aufs Bett, in der Annahme, dass so verhindert wird, dass ich weitere Fehltritte produziere. Ich nutze den Hinterausgang und mache mich schnellen Schrittes auf den Weg zum Sportplatz.

Dort angekommen sehe ich ein paar tapfere Läuferlein, die ihre Runden über den roten Insitubelag der Tartanbahn drehen. Ich schaue ihnen stillschweigend dabei zu, wie sie mit regungslosen, starren Gesichtern, scheinbar vollkommen in Gedanken versunken, an mir vorüberrennen. Geistloses Getrabe war noch nie mein Favorit, doch in diesem Moment, die Stille im Kopf herbeisehnend, bin ich hart am Überlegen, mich denen einfach anzuschließen. Einfach zu laufen, bis mir die Beine versagen. Selbst dazu kann ich mich nicht aufraffen.

Ich atme tief ein und betrete den leeren Basketballplatz. Irgendwann werfe ich die Körbe, wie in Trance. Erst langsam, dann immer schneller. Einen nach dem anderen. Bis es schummerig wird. Ich höre erst auf, als die Hälfte meiner Würfe daneben geht, weil ich den Korb nicht mehr erkennen kann. Mein Kopf fühlt sich endlich leer an. Meine Glieder brennen und dann ist mit einem Mal der Gedanke wieder da. Kain und die Rothaarige. Ich schleudere den Ball mit aller Wucht gegen den Ballfang. Das metallische Geräusch, welches entsteht, arbeitet sich laut durch die Dunkelheit. Die Vibrationen des Gitters scheinen sich über den Boden bis zu mir auszubreiten. Ich wiederhole es. Solange und so oft, bis ich vollkommen außer Atem bin und mein Herz im gleichen Takt der Vibration hin und her schwingt. Allerdings könnte es einfach nur sein, dass es einfach noch immer flattert, weil mich der Gedanke nicht losgelassen hat.

Ich fühle mich erst besser, als ich meinen ausgelaugten Körper unter die Dusche im Wohnheim verfrachte. Das warme Wasser ist heilsam. Mit dem Arm stütze ich mich neben der Brause an der Wand ab und schließe die Augen. Ich neige meinen Kopf in den Nacken, lasse mir die Flüssigkeit in den Mund laufen und spucke sie dann zu Boden.

Leider bedingt die Tatsache, dass sich Körper irgendwann auflösen, dass ich nicht ewig hier stehen bleiben kann. Daher genieße ich es umso mehr, wie der Wasserstrahl auf meinen verspannten Nacken trifft. Eine hauchzarte Massage für meine malträtierten Muskeln und für einen Augenblick spült es mir sogar die unangenehmen Gedanken fort. Ich brauche eine gefühlte Ewigkeit, um die Annehmlichkeiten der Dusche hinter mir zu lassen und ins Wohnheimzimmer zurückzukehren. Ich werfe mich direkt aufs Bett, lande auf mein Telefon. Nur mühsam und mit erheblichem Kraftaufwand ziehe ich es unter meinem Hintern hervor. Es blinkt. Ich seufze und spüre, wie sich mein Magen verkrampft. Ich sollte mich wirklich verbuddeln lassen. Dann würde mir und allen anderen mein destruktives Ego erspart bleiben.

Erleichtert stelle ich fest, dass es nur Brigitta ist. Mein Magen beruhigt sich. Sie hat das Skript erhalten und verspricht, es in den kommenden Tagen durchzuarbeiten. Sie schlägt ein Treffen für Dienstag vor und ich sag zu. Auch, wenn ich mir nicht vorstellen kann, dass sie es bis dahin bereits fertig hat. Danach vergrabe ich mich in meiner Bettdecke. Nur noch meine Füße, das linke Bein und der rechte Arm schauen hervor und es ist mir reichlich egal. Selbst, als meine Gliedmaßen immer kälter werden.

Lena versucht mich während meine Letharnei mehrfach zu erreichen. Ich ignoriere ihre Anrufe so lange ich kann. Doch irgendwann lese ich die Nachrichten, die sie mir parallel dazu schreibt und damit mein Handy in einen stetigen Wechsel zwischen Summen und Vibrieren zwingt. Es nervt. Sie will wissen, warum ich gemein zu Jeff war. Ich weiß es selbst nicht und möchte eher erfahren, wieso er es ihr erzählen musste. Allerdings wundert es mich nicht, denn sie bereden ständig allen möglichen Scheiß. Lena war für ihn schon immer sowas, wie eine Ersatzschwester. Er selbst hatte ja keine eigene. Dementsprechend gab es schon in der Vergangenheit etliche Momente, in denen ich ihm Lena ohne schlechtes Gewissen geschenkt hätte. Ohne Rückgabemöglichkeit. So wie jetzt. Mein Handy singt erneut auf. Sie sieht, dass ich die Nachrichten gelesen habe. Ich drehe mich auf den Rücken und seufze schwer. Kleine Schwestern nerven.

„Was willst du?“, murre ich ohne Umschweife. Sie kennt es gar nicht anders.

„Hat der Herr endlich den Annahmeknopf gefunden?“, flötet sie spottend.

„Mein Handy hat keinen Annahmeknopf mehr.“

„Dann, liebes Brüderchen, muss man nach rechts streichen.“ Sie klingt, als wäre ich 5 Jahre alt und dazu noch schwer vom Begriff. Ich spare mir den Vermerk, dass ich bei meinem Handy die Bewegung nach oben machen muss.

„Ich wiederhole, was willst du?“

„Macht es dir Spaß, dauernd jedem vor den Kopf zu stoßen?“, fragt sie mich und klingt dabei weder belustigt, noch anklagend.

„Ist wie eine Olympische Disziplin für mich“, kommentiere ich zynisch. Und im selben Moment ermüdet.

„Und, wie läuft es für dich?“ In den letzten Wochen habe ich schon dreimal Gold abgeräumt. Ich sage nichts. Durch das Telefon hindurch höre ich, wie sie sich auf ihrem Bett niederlässt. Irgendwo in der Nähe der linken Fußecke. Dort war vor etlichen Jahren einmal die innere Halterung des Lattenrosts abgebrochen. Hendrik hatte sie notdürftig wieder angebracht und seither knarrte ihr Bett, sobald man die Stelle belastete. Dieses Knarren höre ich jetzt. Laut und durchdringend.

„Ich werde mich entschuldigen, wenn er wieder hier ist und nicht einfach auflegen kann…“, sage ich ermattet und drehe mich auf die Seite.

„Solltest du unbedingt. Er ist dein Freund und so viele hast du davon nicht.“ Treffer.

„Gut, du hast deinen Soll erfüllt, mir ins Gewissen zu reden, lässt du mich jetzt in Ruhe schlafen?“, gebe ich von mir und schließe die Augen.

„Es ist noch hell draußen…“, kommt es ungläubig von ihr.

„Und? Gute Nacht!“ Ich lege auf. Bevor ich das Handy wieder unter das Kissen schiebe, blicke ich auf meinen Chatverlauf. Neben Lena hat mir auch Marie geschrieben. Ebenso eine unbekannte Nummer. Ich vermute es ist Ezra. Ich starre auf Kains Name und verspüre erneut diese eigenartige Mischung aus Wut und Verzweiflung. Wieso tangiert es mich, was er mit der Rothaarigen treibt? Es kann und sollte mir egal sein. Doch das ist es nicht.

Mit einmal zeigt es mir an, dass Kain schreibt. Ich lasse das Gerät beinahe fallen und überlege hin und her, ob ich es abwarten oder ignorieren soll. Ich überlege zu lange, denn mit einmal taucht die geschriebene Bitte nach einer ruhigen Unterhaltung auf. Ohne darauf zu antworten, schiebe ich das Telefon unter mein Kissen und ignoriere jedes weitere Vibrieren und Summen. Wirklich schlafen kann ich aber nicht.
 

Den Montag verbringe ich damit, mich in die Hausarbeit einzuarbeiten, die ich in drei Wochen fertig haben muss und für die ich bis auf ein Grundgerüst noch nichts getan habe. Mit Kopfhörern auf den Ohren lasse ich mich in der Bibliothek nieder. Ich verbleibe dort den gesamten Tag, hole mir einzig während einer kurzen Pause im Foodstore etwas zu essen. Selbst das Telefon habe ich im Wohnheimzimmer zurückgelassen und sehe es auch nicht an, als ich am Abend direkt ins Bett falle. Am Morgen darauf muss ich es wohl oder übel nachholen. Ich blicke auf das Display meines handangepasstem Telekommunikationsgerätes und mir prangt eine zweistellige Zahl an Nachrichten entgegen. Seit wann bin ich derart beliebt? Schließlich setze ich in der letzten Zeit alles daran, wirklich jedem klar zu machen, dass ich der Teufel in Person bin. Etliche Nachrichten sind von meiner Schwester. Immer noch die unbekannte Nummer, Marie und Kain.

Ich habe noch Zeit bis zum Treffen mit Brigitta im Café und sollte meinen Energiehaushalt wieder auf Vordermann bringen. Auch nach Renés Tod hatte ich eine lange Phase, in der die Nahrungsaufnahme nicht zu meinen Lieblingsbeschäftigungen zählte. Ich konnte einfach nicht, was etliche Diskussionen mit sich brachte. Darauf kann ich gut und gern verzichten. Ich weiß selbst, dass es nicht gut ist. Gerade, als ich die Mensa betrete, höre ich Kains Stimme. Er steht mit seinem übertrieben aufgepumpten Freund nur wenige Meter vor mir am Eingang. In seiner Hand hält er ein leeres Tablett, während Marvin unentwegt auf ihn einredet. Der Schwarzhaarige selbst wirkt abwesend, nickt nur hin und wieder bis er plötzlich grinst, so, als hätte der andere etwas Abwegiges gesagt. Als er gedankenverloren in meine Richtung sieht, halte ich die Luft an. Bevor er mich entdeckt, drehe ich mich um und schiebe mich an einer kleinen Gruppe vorbei ins Freie. Mit dem Fingern der linken Hand streiche ich mir über den Nasenrücken, während ich routiniert eine Zigarette aus meiner Tasche ziehe. Ich kriege Kopfschmerzen und mein Magen regt sich ebenfalls, doch wiedermal ins Negative.

„Robin…Hey…“, ruft es meinen Namen aus einiger Entfernung. Es ist die kleine Inderin. Schön wie immer sehe ich sie winken und obwohl mir nicht im Geringsten danach ist, zwinge ich mich zu einem Lächeln. Sie schwebt leichten Schrittes auf mich zu und startet ohne weitere Begrüßung direkt eine Umarmung. Mein Körper versteift sich unerwartet und ich brauche einen Augenblick, um die Geste zu erwidern. Ihre Arme legen sich fest um meinen Hals und ein paar ihrer schwarzen Haare kitzeln mein Gesicht. Erst jetzt nehme ich den Duft von Yasmine, Bergamotte und Mirabelle an ihr wahr. Süß und blumig. Shari ist der personifizierte Sommer.

„Ich hab die Klausur gerockt“, quietscht sie mir begeistert ins Ohr, kurz bevor sie mich aus der Umarmung entlässt. Die Formulierung passt so gar nicht zu ihrem sonst so sanften Gemüt.

„Freut mich zu hören.“

„Nur dank dir, Robin! Ehrlich, ohne dich hätte ich wahrscheinlich verzweifelt das ganze Lehrbuch auswendig gelernt, um es direkt danach wieder zu vergessen. Dank dir habe ich es aber verstanden.“ Sie scheint darüber wirklich glücklich zu sein, was mich etwas Grinsen lässt. Trotzdem habe ich keinen großen Anteil daran, dass sie die Klausur bestanden hat. Sie hat es ganz von allein geschafft. Denn es gibt nicht viele solcher fleißigen Studenten, wie sie.

„Und ich dachte, Bulimielernen sei das neuste Must-have für den Sommer?“, kommentiere ich trocken und seltsam freudlos. Sharis tiefbraune Augen mustern mich fragend. Eine ihrer perfekten Augenbraue hebt sich und ich bereue meinen unsensiblen Kommentar sogleich. Doch dann bildet sich ein breites Grinsen auf ihren Lippen.

„Gut, dass ich keinen Trends folge“, gibt sie gigglend von sich. Auch ihr Lachen ist ein Ruf nach Sommer. Warm und einladend. Ehrlich. Ich sollte mich mit ihr freuen, doch ich denke unentwegt an den Schwarzhaarigen, der in diesem Moment nur wenige Meter von mir in der Mensa sitzt und ebenso fröhlich unbedarft sein Leben frönt.

„Freut mich, wenn ich dir helfen konnte“, sage ich ablenkend, um meine ungewöhnliche Unruhe zu kaschieren. Mehr für mich selbst, als der Situation zuträglich. Shari nickt lächelnd und scheint mich noch nicht gehen lassen zu wollen.

„Ich habe einigen meiner Kommilitonen deine Übungsblätter gezeigt und sie haben mich angefleht, Kopien machen zu dürfen. Also habe ich ihnen vom Tutorium erzählt und jetzt sind sie alle ganz heiß darauf, im kommenden Semester daran teilzunehmen. Oh, und ich habe mit der Professorin gesprochen. Sie will sich bei dir melden und sie meinte, dass sie...“ Sie hat was?

„Fuck, nein!!! Wieso tust du das?“, fahre ich sie ungehalten an. Shari schreckt zurück und sieht mich verwundert an. Mit der Hand streiche ich mir durch die Haare, gleite danach über mein Gesicht und knurre.

„Robin, entschuldige bitte, ich wollte dich nicht übervorteilen. Ich dachte nur…“, setzt sie zurückhaltend zur Erklärung an. Ich will es nicht hören.

„Was? Dass du mir damit einen Gefallen tust. Tust du nicht!“ Sharis Blick senkt sich getroffen. Frustriert wende ich mich ab, raufe mir die Haare und drehe mich wieder um.

„Shari, ich habe es nicht freiwillig gemacht und ich werde mich garantiert nicht ein weiteres Mal von völlig überforderten Erstsemestern nerven lassen. Mach mit dem Übungsblättern, was du willst. Binde dir ein Buch draus oder benutze sie als Papierflieger. Aber lass es einfach…“, sage ich mürrisch und kühl. Ich ignoriere den getroffenen Blick der schönen Inderin und wende mich ab. Kurze drehe ich mich wieder zu ihr zurück, spüre sogleich die Reue darüber, ihr diese Worte so hart entgegen geschleudert zu haben. Ein weiteres Mal raufe ich mir durch die Haare und sehe mich missmutig auf dem Goldtreppchen für den unangenehmsten Zeitgenossen des Jahrzehnts.
 

Vorzeitig mache ich mich auf dem Weg zu dem Treffen mit Brigitta. Meine Stimmung sinkt mit jedem Meter, den ich zurücklege. Erst Kain, dann Jeff und jetzt Shari. Was um alles in der Welt stimmt nicht mit mir? Sie hat es nur gut gemeint. Im Grunde weiß ich es ganz genau und doch schaffe ich es einfach nicht, über meinen gewaltigen, hirnlosen und irrationalen Schatten zu steigen. Das macht mich alles wahnsinnig

Als ich am Eiscafé ankomme, möchte ich nichts lieber, als einen Ball ununterbrochen gegen die Wand schleudern. Oder gegen den Kopf der Rothaarigen. Oder wahlweise auch gegen Kains. Mit ihm hat alles angefangen. Vorher interessierte ich mich für niemanden und niemand für mich. Alles war so viel einfacher.

Schon von draußen kann ich Lucy ausmachen. Ihre langen Haare sind wie immer zu einem locker geflochtenen Zopf zusammen gebunden, der streichelnd über ihre Schulter fällt. Sie lächelt. Ich sehe eine Weile dabei zu, wie sie sich grazil hinter dem Tresen bewegt und gekonnt Eisbecher arrangiert und perfekte Kugeln formt.

Es könnte alles so einfach sein. Ich müsste nur zwei Jahre warten und dann könnte Luci meine Traumfrau sein. Vorausgesetzt ich wäre gut im Warten und sie würde weiterhin ihren Verstand nicht benutzen. Sehr unwahrscheinlich also. Außerdem würde ihr Vater niemals zulassen, dass der Tresen zwischen mir und ihr verschwindet. Es wäre auch nicht das Richtige. Beziehungen sind nicht das Konzept, dem ich folge und meine in den letzten Wochen bewiesenermaßen fehlende Sozialkompetenz beantwortet die Frage nach dem Wieso.

Als ich mich endgültig von den Gedanken von Friede-Freude-Eierkuchen-Rosa verabschiede, sehe ich, wie sich die kleine Italienerin ein paar Strähnen aus dem Gesicht streicht, während sie lachend einem Kind eine Kugel leuchtend blauem Eis reicht. Ich seufze schwermütig. Schlumpfeis. Ich bin zu alt für Schlumpfeis. Obwohl…

Die Scheibe beginnt zu vibrieren und ein lautes Klopfen entreißt mich meinen arglosen Gedanken. Ich zucke zusammen, als ich die schemenhafte Gestalt von Lucis Vater als Spiegelung erkenne. Seine Hand ist für ein weiteres energisches Bemerkbarmachen gehoben und ich bin mir sicher, dass mich sein Blick toten könnte, würde er nicht von der Scheibe reflektiert werden.

„Oh. Hallo… Signore di Santos“, sage ich ungewollt ertappt. Auch mein Alibiitalienisch ändert nichts an seinem Gesichtsausdruck. Ich wende mich zu dem großen Italiener um, der in der Hand mehrere Einkaufstüten hält und mich skeptisch mustert.

„Was genau tust du da?“, fragt er argwöhnisch, während sein Blick ebenfalls durch die Scheibe geht und dann wieder zurück zu mir. Ganz sicher hat er seine hübsche Tochter gesehen und kann sich sehr wohl vorstellen, was ich getan haben könnte.

„Schlumpfeis…“, entflieht es mir.

„Wie bitte?“

„Ich habe mich gefragt, wonach eigentlich Schlumpfeis schmeckt… und ob Schlümpfe tatsächlich blaues Blut haben“, konstruiere ich eine mehr als absurde Antwort und hoffe inständig, das Lucis Vater erkennt, dass ich weitaus harmloser bin, als ich es wirklich bin. In meinem Kopf entsteht ein selbst herbeigeführter Knoten und ich würde mich selbst fragend ansehen, wenn ich es könnte. Mein Spiegelbild, allerdings, straft mich unverhohlen mit dem scheinbar Unmöglichen.
 

Mit etwas Abstand folge ich dem Italiener ins Café und spaziere direkt zu dem gerade leeren Verkaufstresen. Luci hat mich sofort entdeckt, als ich den Laden betrat.

„Na, zurück von der Heimatfront“, begrüßt sie mich laut und ehrlich erfreut.

„Hey,…“ Meine Erwiderung fällt spärlicher aus als sonst und ich schaue zögerlich zur Seite, als Lucis Vater hinter dem Tresen verschwindet und dabei seinen skeptischen Blick nicht absetzt. Auch die junge Italienerin blickt ihm hinterher und sieht dann fragend zu mir.

„Was ist los?“, fragt sie flüsternd.

„Ich befürchte, dein Vater denkt, ich bin ein verrückter Stalker und wünscht sich, ich wäre ein Eunuch“, flüstere ich ihr entgegen und beobachte den Schatten, der aus dem Vorbereitungsbereich der Küche kommt. Als ich zurück zu Luci blicke, runzelt sich ihre Stirn und ihre Augenbrauen wackeln.

„Was ist ein Eunuch?“

„Eine arme Seele mit einem Schicksal, über das ich nicht nachdenken möchte.“ Ich mache eine Grimasse und die junge Frau beginnt zu lachen.

„Wie lief die Lernerei?“, erfrage ich. Nun ist es an Luci, zu seufzen.

„Semioptimal. Gandalf wird für mich nie ein Feuerwerk machen.“ Wieder der falsche Film. Ihr Kommentar lässt mich dennoch schmunzeln.

„Wie war es zu Hause?“, erkundigt sich Luci. Ich antworte nicht, sondern mache einem Kunden Platz, der wenig später mit einem gigantischen Eisberg und einem Kaffee davonzieht.

„Und?“, hakt Luci nach. Ich bin noch genauso unwillig, wie vor dem Kunden.

„Wie immer. Familie eben“, murmele ich ausweichend, greife mir einen der Holzstäbchen, mit denen man seinen Kaffee umrührt und beginne auf der Tresenoberfläche herum zu kritzeln. Als ich aufsehe, blicke ich in zwei forsche grüne Augen, die mich regelrecht niederstrecken. Seit neusten treffen mich diese wissenden Blicke besonders hart. Auch jetzt.

„Was ist los?“, fragt sie erneut und nimmt mir das Holzstäbchen weg. Erbarmungslos.

„Nichts. Gar nichts.“

„Gar nichts also?“, kommentiert sie wissend, doch bevor ich ihrem Blick nachgeben kann, meldet sich mein Telefon. Ich ziehe es hervor und sehe eine Nachricht von Kain. Er wiederholt seine Aufforderung nach einem ruhigen Treffen. Er hätte mich in der Mensa gesehen. Verdammt. Ich ignoriere es. Als ich wieder aufsehe, merke ich, wie sich Luci verschwörerisch auf dem Tresen nach vorn lehnt. So, als wollte sie verhindern, dass ihr Vater hört, was sie mir anbieten wird.

„Du hast noch ein Eis offen“, flüstert Luci. Ihre Augen wandern von mir zum Küchenbereich und wieder zurück. Ich folge ihrem Blick und beuge mich ebenfalls nach vorn, sodass uns nur noch eine halbe Armlänge trennt.

„Heute reicht mir ein Tee“, erwidere ich ruhig. Die schöne Italienerin sieht mich skeptisch an und nickt. Der Kunde ist schließlich König.

„Okay…wir haben Kamille, Frucht, Pfefferminz, Earl Gray und eine neue Sorte, die sich Asiens Sonne nennt. Das ist ein Grüner, der dir sicher Erleuchtung bringt….“, witzelt sie und lässt ihre schlanken Finger über die Gläser hüpfen, in denen sie dich dreieckigen Teebeutel türmen.

„Kamille reicht…“ Lucy lächelt und wendet sich zum Zubereitungsbereich.

„Kamillentee?“, kommt spottend von der Seite und ich blicke direkt in das bebrillte Gesicht meiner Lektorin, als ich mich wieder aufrichte.

„Besser als der arterienverklebende Scheiß, den du immer in dich reinkippst.“

„Von wegen, ich bin eine Genießerin.“

„Klar, mit einem Lächeln in den Tod, nicht wahr?“, spotte ich weiter.

„Mit einem Lächeln auf den Lippen ist man für jede Situation perfekt gekleidet“, kontert sie und setzt ein buddhaartiges Lächeln auf, während ich mich frage, wie viele Glückskekse sie heute schon hatte.

„Klar“, gebe ich argwöhnisch von mir.

„Was hat dir heut schon wieder die Laune geschwärzt, Lakritzstängel?“ Bei der Verwendung ihrer kariesfördernden Spitznamen für mich, vernehme ich von Luci ein vielsagendes Kichern. Brigitta lächelt der schönen Italienerin zu und sieht dann bedeutungsvoll zu mir. Ich verdrehe nur die Augen. Sie deutet auf einen der freien Tische im Außenbereich. Ich trabe ihr mit wenig Elan hinterher, falle mehr auf den Stuhl, als mich zu setzen und sehe dabei zu, wie sie nacheinander mehrere Schichten ihrer Kleidung ablegt. Danach lässt sich Brigitta seufzend auf einem Stuhl nieder und stellt die glänzende Lacktasche auf ihrem Schoss ab.

„Und?“, hakt sie nach. Ich blicke ihr irritiert entgegen.

„Und was?“, frage ich nach.

„Was ist los mit dir?“ Schon wieder. Ich will die Frage nicht mehr beantworten müssen. Ich lehne mich mit verschränkten Armen zurück und wende meinen Blick ab.

„Nichts…“, murre ich. Brigitta seufzt und holt das ausgedruckte Manuskript hervor, bevor sie die Tasche auf dem Boden abstellt. Sie knallt es auf den Tisch und obwohl ich damit rechne, schrecke ich heftig zusammen.

„Okay dann überspringen wir das. Was hast du dir dabei gedacht?“ Heute also kein Vorspiel. Ihr Zeigefinger piekt energisch gegen den fettgedruckten Titel des Buches. Meiner Lektorin hat es definitiv nicht gefallen. Ich sehe es an ihrem Gesichtsausdruck. Ihre Stirn kräuselt sich und ihre dunkel geschminkten Augen sind schmaler als sonst. Die Kellnerin bringt meinen Tee und Brigitta bestellt sich einen Latte Macchiato mit viel Sahne und Karamell. Ich lehne mich wieder nach vorn und greife behutsam nach der Tasse.

„Das ist wirklich übertriebener Herzschmerzstoff.“

„Übertreib es nicht“, seufze ich genervt.

„Du sollst jungen Menschen nicht knallhart ins Gesicht sagen, dass es die wahre Liebe nicht gibt.“ Brigitta lässt sich nicht von ihrer Theatralik abbringen. Ich finde, dass sie übertreibt.

„Warum nicht? Es ist schließlich so und ich bin nur realistisch.“

„Mag sein, aber du gibst den Menschen zu verstehen, dass Liebe scheiße ist und das jeder, der sich verliebt, einem grausamen Ende entgegen sieht.“

„Wenn es nun mal so ist“, amüsiere ich mich über ihre blauäugige Einstellung.

„Was ist los? Liebeskummer, mein Guter?“

„So ein Quatsch. Ich ertrage es nur nicht mehr, diesen übertrieben und heuchlerischen Mist zu schreiben, das ist alles.“

„Wieso nennst du das Buch nicht gleich ´Wahre Liebe ist scheiße´?“

„Gute Idee, benutze ich beim Nächsten.“

„Nein. Nein. Nein. In dem Nächsten wirst du wieder schön klebrig, kitschig und rosa. Verstanden?“

„Warum bist du so extrem gegen Realismus? Nicht alle Liebeleien enden in rosaroten Wolken. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Mensch, in den man verliebt ist, deine Liebe erwidert, ist derartig gering, dass es sich kaum errechnen lässt“; sage ich ungehalten.

„Gefühle kann man nicht errechnen, Robin“, erwidert sie laut.

„Gefühle sind nichts weiter als ein Cocktail aus Hormonen, Neurotransmitter und anderen körperlichen Reaktionen…“ Brigitta verdreht meisterlich die Augen.

„Schwarzmaler.“

„Realist“

„Pessimist“

„Optimist mit Erfahrung.“

„Robin, wir sind mehr als Biochemie…“

„Und darin liegt der Fehler. Euer aller Fehler. Wir sind nichts weiter als eine Ansammlung von chemischen Elementen und die daraus resultierenden Reaktionen. Sauerstoff, Wasserstoff. Kohlenstoff. Stickstoff. Alle Substanzen, aus denen unser Körper besteht, bestehen aus diesen Elementen und Gefühle sind nichts weiter als ein giftiger Cocktail…“ Ich breche ab, als meine Lektorin mit der flachen Hand auf den Tisch schlägt. Ein Schwall Tee ergießt sich über den Rand meiner Tasse und bildet eine kleine Pfütze auf dem Holz des Tisches. Die anderen Gäste um uns herum blicken uns ebenso erschrocken entgegen. Drei Tisch entfernt, beginnt ein Kind zu weinen.

„Es reicht.“ Aus Brigittas Gesicht scheint jegliche übertriebene Fröhlichkeit verschwunden. Sie seufzt, nimmt ihre Brille ab und streicht sich über die rötlichen Druckstellen auf dem Nasenrücken.

„Weißt du, Robin“, setzt sie ruhig an, “Ich bin eine 37-Jährige, alleinstehende Frau und die längste Beziehung, die ich je hatte, hielt ein Jahr. Auch ich gehöre zu den Menschen, die sich gern einfach mal in diese glückliche Scheinwelt flüchtet, weil das richtige Leben einfach nicht für jeden etwas Rosafarbenes bereithält. Ich möchte daran glauben, dass wir mehr sind, als die Summe unserer Elemente. Aber du gibst dir nicht einmal die Chance, glücklich zu werden und das ist wirklich armselig.“ Treffer. Es passiert selten, dass man mir derartig Paroli bietet. Ich starre auf die feuchte Tasse, auf den gefluteten Unterteller und sehe dann erst auf.

„Das Buch wird uns auf jeden Fall ein paar Leser kosten“, seufzt sie. Ihre hellen, braunen Augen wirken ohne Umrahmung irgendwie fremd.

„Aber ihr druckt es?“

„Karsten hat es gefallen, weil es dramatisch ist“, kommentiert sie. Welch qualitative Kritik. Obwohl es mich eigentlich freuen sollte, diesen kleinen Sieg eingefahren zu haben, entflieht mir nur ein lauteres Raunen. Ich lehne mich auf den Tisch, stelle die Ellenbogen auf und fahre mir mit beiden Händen übers Gesicht.

„Blaubeermuffin, was ist wirklich los mit dir?“ Sie blickt mich an und setzt ihre Sehhilfe wieder auf die Nase. In diesem Moment kommt ihre Latte. Sie sieht süß und klebrig aus. Genauso, wie sie es mag. Mir wird schon vom Anblick schlecht.

„Was soll los sein? Ich will mich nur nicht ständig wiederholen.“ Brigitta seufzt.

„Ich habe dir schon mal erklärt, dass ein Spartenwechsel schwierig wird. Du bist in diesem Genre integriert und hast eine kleine Fangemeinschaft. Sie wünschen sich übrigens vermehrt eine Fortsetzung zu Jeanne und Alex. Das Ende war nicht sehr befriedigend.“ Ich hebe meine Augenbraue, als sie mir das sagt. Wahrscheinlich hat sie schon wieder die Foren durchforstet.

„Ohne explizite Sexszenen hätte die Fortsetzung keine Wirkung“, kommentiere ich trocken, greife nach meiner halbleeren Teetasse und schlürfe daran rum. Brigittas Schweigsamkeit irritiert mich und so sehe ich auf. Sie grinst ungewöhnlich breit und im Blau-grün ihrer Augen ist dieses furchteinflößende Funkeln.

„War ein Scherz!“, relativiere ich.

„Nein, war es nicht“, säuselt sie, „So einer bist du also…“

„Und was für einer ist das?“, erfrage ich skeptisch. Sie zwinkert nur als Antwort und lässt mich dumm und elendig sterben.

Ich sehe dabei zu, wie sie das fertige Manuskript aufblättert und bereits bei der ersten Seite herbe Kritik walten lässt. Sie ist dieses Mal strenger und ihr Unwillen ist deutlich zu spüren, aber jede ihrer Anmerkungen ist hilfreich und konstruktiv. Brigitta hat ein System und eine Vorliebe für farbenreiche Post-its und Textmarker. Rot sind die Passagen, die ich streichen kann oder vollends überarbeiten muss. Es sind nur wenige. Blau sind Unstimmigkeiten in der Logik. Hellblau passend dazu fehlerhafte oder fehlende Zusammenhänge. Dinge, die ich mir in meinem Kopf komplett überlegt habe, aber dann vergaß nieder zuschreiben oder sie fielen bei meiner eigenen Streichwut weg. Es ist nicht immer einfach bei meinem chaotischen, affektiven Schreibtypus immer den Überblick zu behalten. Strategen haben eindeutig einen Vorteil. Allerdings habe ich die auch schon verzweifeln sehen, weil sie an dem Punkt, an dem sie waren, einfach nicht weiter kamen. Das passiert mir selten, aber auch ich bin nicht vollkommen intuitiv. Eine Grundstruktur ist mir immer lieber.

Die grünen Post-its signalisieren mir, dass Brigitta hier noch eine Kleinigkeit fehlt. Nichts inhaltliches, sondern Gefühl, Spannung oder auch einfach nur das transportierte Bild. Solche Momente, in denen jemand seine Hand nach etwas ausstreckt und sich in der nahen Scheibe die untergehende Sonne reflektiert. In einem malerischen Rot, durchzogen von zartgelben Lichteffekten, die sich passend in den sinnlichen, begehrenden Augen des Gegenübers spiegeln. Oftmals sind es Klischees, die hier zum Tragen kommen und dieser versuche ich zu vermeiden.

Diesmal ist auch Rosa dabei. Schnell stellt sich heraus, dass es ironischerweise genau die Stellen sind, die ihrer Meinung nach zu intensiv und zu dunkel sind. Allerdings lässt sie mir freie Hand, dort noch etwas zu ändern. Aus einem inneren Impuls heraus will ich es nun gerade nicht.

„Das nächste Buch muss wieder so rosa und glücklich werden, dass ich mich ein Jahr darin suhlen kann. Verstanden?“ Sie schnappt sich mit ihren krallenbestückten Fingern mein Kinn, lässt meinen Kopf ein paar Mal hin und her wackeln und gibt mir zu guter Letzt noch eine leichte Ohrfeige. Ich verziehe keine Miene und dennoch weiß ich, dass sie wirklich sauer gewesen ist.

„Von mir aus“, gebe ich ruhig von mir.

„Komm, ich lad dich auf ein Eis ein“, sagt sie nach einer Weile und ich schüttele den Kopf.

„Nein, danke.“

„Du willst kein Eis? Bei dir läuft gerade wirklich irgendwas nicht rund, oder?“, kommentiert sie meine Ablehnung und sieht verwundert aus. Normalerweise esse ich immer Eis. Doch diesmal ist mir nicht danach.

„Tja, rosa ist einfach scheiße“, sage ich, stehe auf und nehme mir das Skript samt Anmerkungen.

„Du kriegst die korrigierte Version nächste Woche. Lass es dir schmecken. Ich melde mich.“ Ich stecke die Papierberg in meiner Tasche, krame 5 Euro hervor und lege sie ihr hin. Brigitta sieht mir seufzend nach, als ich gehe.
 

Ich mache einen Abstecher in der Buchhandlung im Einkaufszentrum und stehe gedankenverloren eine Weile von dem Regal, welches auch einige meiner Bücher enthält. Ob das Neue wirklich schlecht ankommt? Ja, es ist anders, aber bei weitem nicht so tragisch schwarzmalerisch, wie Brigitta behauptet. Es ist nur etwas realistischer. Es enthält genau wie alle anderen meiner Bücher eine klassische Liebesgeschichte und eben eine Tragische. Ist es wirklich schlimm? Ich bin irgendwie verunsichert. Mein Blick wandert über die Buchrücken und ich ziehe das letzte ein kleines Stück heraus. Ich habe nie verstanden, was die Leute daran finden, für alles ein Happy End herbeizuwünschen. So ist es nun mal nicht. Aber vielleicht ist es genau das? Wie Brigitta es bereits sagte. Nicht jeder hat ein glückliches Ende und deshalb flüchtet man sich in die Wunschvorstellung, dass man es haben könnte. Doch macht man sich damit nicht bewusster, wie weit entfernt man wirklich ist? Wird man dadurch nicht noch angreifbarer? Für mich fühlt es sich jedenfalls so an. Seit Kain um mich herum schwirrt, habe ich das Gefühl, nicht mehr Herr meiner Gedanken zu sein. Schon eine ganze Weile nicht mehr. Sein andauerndes, stures Einfühlungsvermögen hat irgendwas in mir ausgelöst und ich bin mir immer noch nicht sicher, was das für mich bedeutet. Vielleicht sollten wir das Ganze wieder vergessen? Grandioser Sex hin oder her. Dieses ständige Auf und Ab macht mich wahnsinnig und ich weiß nur, dass es mir auf die Nerven geht. Ich will so nicht sein. Ich will das nicht fühlen. Seufzend stelle ich das herausgezogene Buch zurück in die Reihe und verlasse den Buchladen.
 

Auf dem Rückweg zum Studentenwohnheim nestle ich gedankenverloren an der Schachtel Zigaretten. Die Erste rauche ich schnell und ungeduldig. Die zweite langsam. Das brennende Gefühl in mir lässt nicht nach. Als ich an der Campusredaktion vorbeigehe, sehe ich die Rothaarige und die kleine Brünette, auf die ich schon einmal getroffen bin, am Eingang stehen. Kann der Tag noch schlechter werden? Die angerauchte Zigarette schnipse ich neben die Treppe ins Blumenbeet und gehe schnellen Schrittes an den beiden vorbei. Doch dann höre ich hinter mir das Klackern von hohen Absätzen und dann meinen Namen.

„Hey, Quinn“, ruft sie mir nach. Ich reagiere nicht. Aus ihrem Mund kommt sowieso nichts, was mich interessieren könnte.

„Okay, dann vielleicht Quincey Bird.“ Die Verwendung meines Pseudonyms setzt etwas in mir in Gang. Nun bleibe ich doch stehen. Auch, wenn es besser gewesen wäre, es einfach zu ignorieren.

„Wer?“, murre ich versucht neutral. Doch es funktioniert nicht. Sie schließt zu mir auf und ich widerstehe dem Bedürfnis, sofort einen kilometerweiten Abstand zwischen uns zu bringen. Ein Kontinent wäre auch gut. Ein Planet. Vielleicht der Saturn? Die Rothaarige ist schon wieder eigenartig angezogen. Sie trägt ein Etwas, was ich weder als Kleid noch als Hosenanzug identifizieren kann. Wahrscheinlich denkt sie, sie sei sexy. Doch es wirkt lächerlich.

„Dein Pseudonym ist nicht gerade einfallsreich…und…“, gluckst sie verächtlich, “… ich kann mir kaum vorstellen, dass irgendwas in den Büchern tatsächlich von dir stammt, aber anscheinend…“ Immer wieder lacht sie arrogant auf.

„Bist du fertig?“, frage ich gelangweilt. Sie presst ihre Lippen aufeinander. Meine Gleichgültigkeit gefällt ihr nicht. Sie will mich reizen. Sie will mich mit der Konfrontation bloßstellen. Darauf kann sie lange warten. Sie ist mir zu egal, um irgendwas in mir zu wecken, außer den Drang, sie selbst zu blamieren.

„Das ist so absurd und lächerlich, weißt du das? Du und Liebesromane. Du und so einfühlsames Zeug. Das ist wie Nonnen und Sex on the Beach.“ Ihr Vergleich hinkt.

„Hast du kein eigenes Leben?“, frage ich sie, statt auf ihre Worte einzugehen und verschränke die Arme vor der Brust. Obwohl es in meinem Inneren zu kitzeln beginnt, lasse ich mir nichts anmerken. Bis sie eines meiner Bücher aus ihrer Tasche zieht. Es ist gelesen und zerfleddert. Ich erinnere mich daran, dass sie einmal sagte, dass ihre Schwester meine Bücher liest. Sicher hat sie es von ihr. Ich ziehe nur fragend die Augenbraue nach oben und gebe ihr zu erkennen, dass ich bisher noch verstanden habe, was sie von mir will.

„Bist du jetzt doch Fan von guter Unterhaltungsliteratur mit intellektuellem Anspruch!“, kommentiere ich desinteressiert.

„Das ist nichts weiter als klischeehafter Schund“, gibt sie abwertend von sich und ich habe dem wenig entgegen zu setzen, denn ich sehe es ja ähnlich. Trotzdem kitzelt es meinen Stolz.

„Und ich weiß absolut nicht, was meine Schwester und Kai…andere…daran finden“ Die kurze Unterbrechung lässt mich stutzen.

„Trotzdem hast du es gelesen…“, merke ich an und kann mir ein überhebliches Grienen nicht mehr verkneifen. Anscheinend war ihre Neugier doch größer, als ihre Abneigung mir gegenüber. Meines Erachtens ist das ein kleiner Sieg. Dennoch, woher weiß sie, dass Kain meine Bücher liest? Sie wüsste es nur dann, wenn sie sie in seinem Wohnheimzimmer gesehen hat. Wieder regt sich meine irrationale Eifersucht. Ich versuche sie schwerlich zu unterdrücken.

„Du denkst immer, du wärst allen überlegen, oder? Aber du täuscht dich“, schmettert sie mir entgegen.

„Schätzchen, mag ab und an sein, aber… bei dir definitiv nicht“, sage ich abfällig und kann mir ein geringschätziges Grinsen nicht mehr verkneifen. Die Rothaarige presst ihre Lippen aufeinander und in ihren Augen entsteht dieses wütende Funkeln, welches ich schon des Öfteren bei ihr erblicken konnte.

„Was willst du eigentlich? Ich denke nämlich nicht, dass das hier auf ein Meet and Greet hinausläuft?“, frage ich sie direkt und von dieser nutzlosen Diskussion ermüdet.

„Ich will wissen, was das für eine Farce zwischen dir und Kain ist.“ Na endlich. Sie schiebt das Buch zurück in ihre Tasche.

„Farce? Wow, ich wusste nicht, dass du solche Wörter kennst. Fleißig im Duden geblättert? Oh, warte. Sesamstraße weiter geguckt, oder?“, reize ich sie zwinkernd einfach weiter. Sie ärgert sich und kann es weniger gut verbergen. Das ist wirklich eine Farce, wie sie im Buche steht.

„Meinst du ich bin bescheuert? Ich habe sehr wohl gemerkt, dass du und Kain seit Neusten mehr Zeit miteinander verbringen. Aber eins will ich dir mal sagen…es ist völlig egal, was du ihm über mich erzählst oder wir sehr du glaubst, ihn beeinflussen zu können. Kain gehört mir. Er wird bald wieder mit mir zusammen kommen.“ Die Rothaarige kommt mir während ihrer Ansprache immer näher, bis sie direkt bei mir steht. Ich weiche nicht zurück.

„Wie blind bist eigentlich?“, frage ich amüsiert.

„Wir lieben uns!“ Sie kann das doch nicht wirklich glauben?

„Wach endlich auf“, kontere ich.

„Ich will, dass du dich von ihm fern hältst.“

„Das ist nen Witz, oder? Glaubst du wirklich, nur, weil er sich dich warm hält, dass du irgendwann mit ihm in den Sonnenuntergang reitest?“, frage ich ungläubig, “Dann bist du ja noch dümmer als ich dachte. Du bist nichts weiter, als ein billiger Gelegenheitsfick. Mehr nicht!“ Ihre Hand hebt sich, doch ich fange sie ab, bevor sie mich trifft.

„Hey!“, mahne ich an.

„Er liebt mich! Wir haben wunderschöne Tage am Meer verbracht. Gemeinsame Essen. Intensive Gespräche und hatte sehr intime Momente“, reibt sie mir noch einmal deutlich unter die Nase. Sie entreißt mir ihre Hand, macht einen Schritt zurück und funkelt mir entgegen.

„Das ist echt lächerlich. Du bist echt lächerlich.“ Ich mache eine kreisende Handbewegung in ihrer Kopfhöhe. Die Gesichtszüge der Rothaarigen verhärten sich noch etwas mehr. Sie denkt es wirklich. Ich gebe ein belustigtes Schnaufen von mir und kann mir noch schwer einen gespielten Lachanfall verkneifen.

„Halt die Klappe!“, faucht sie mir entgegen. Sicher nicht. Ich kann gar nicht anders, als weiter zu machen.

„Wie kommst du darauf, dass er noch mit dir zusammen sein will? Ich meine, wenn du nicht so eine frigide, verklemmte und nervende Kuh wärst, dann hätte er dich doch niemals verlassen…wieso also sollte er…“ Ich schaffe es nicht den Satz zu beenden. Ihre Tasche trifft mich direkt am Kopf.
 

Ich beuge mich nach vorn und greife mir an die Schläfe. Der Schmerz ist stechend, arbeitet sich durch meinen Schädel, wie ein schallendes Lachen.

„Merena! Hey, bist du noch ganz bei Trost? Verdammt…“, ertönt es aufgeregt. Ich kann in dem Moment nicht erkennen, wer es gesagt hat. Ich höre wirres Durcheinander an Worten und dann wie sich klackernde Schuhe entfernen. Lange Beine kommen auf mich zu. Kain. Ich erkenne ihn an seinen Schuhen. Als sich seine Hand nach mir ausstreckt, mache ich einen Schritt zurück, spüre augenblicklich Schwindel und kann nicht verhindern, dass ich nun doch zu Boden gehe. Mit der rechten Hand lande ich im Gras. Mit der anderen im Kiesbett.

„Scheiße, die schleppt ein Bücherregal in ihrer verfickten Tasche rum…“, fluche ich haltlos, sehe nicht auf und betrachte die blutigen Druckstellen auf meiner Handfläche. Niedergestreckt mit meinen eigenen Worten. Pure Ironie.

Die Tasche war schwer gewesen und eine harte Ecke hat mich direkt am rechten Auge getroffen. Das macht sich mit jedem Zwinkern bemerkbar. Hinzukommt, dass ich abgesehen vom Tee mit Brigitta heute noch nichts zu mir genommen habe. Mein Schädel brummt. Weil ich nicht reagiere, hockt sich der große Schwarzhaarige zu mir. Ich sehe kurz auf. In seinen braunen Iriden spiegelt sich Sorge.

„Neues Hobby von dir?" Kains Stimme ist nicht halb so belustigt, wie sie es sein müsste.

„Urkomisch…“, erwidere ich sarkastisch. Er zögert, doch dann legen sich seine leicht rauen Finger an mein Kinn.

„Sieh mich mal an!", fordert er mich auf. Mir ist nicht einmal bewusst, dass ich weggesehen habe.

„Spatz, bitte. Sieh mich an.“ Ich blicke stoisch auf. Zum einen wegen des Kosewortes und zum anderen, weil seine Stimme so liebevoll klingt, dass es mich innerlich zerreißt. Mein Schädel dröhnt und ich habe Schwierigkeiten, den Schwarzhaarigen vollkommen zu fixieren.

„Ist dir schwindlig?"

„Nein." Lüge.

„Ist dir schlecht?"

„Nein." Lüge.

„Hast du Schmerzen?", fragt er als nächstes. Ich gebe ihm dieses Mal keine Antwort und sehe ihn nur finster an. Kain lässt sich nicht beirren, dreht meinen Kopf ein wenig hin und her, bevor er mit dem Daumen nahe an meinem Auge entlang streicht. Nun entziehe ich mich seinem Griff und starte einen weiteren Versuch, aufzustehen. Etwas wackelig, aber ich schaffe es. Ich ignoriere den Dreck und die vereinzelten Grashalme an meiner Hose und würde am liebsten direkt ins Wohnheim verschwinden, doch dazu fühle ich mich gar nicht in der Lage.

„Worum ging es in eurem Streit?“, fragt er und mustert mich. Er streckt seine Hand nach mir aus und zieht einen Grashalm aus meinem Haar.

„Das Übliche“, gebe ich unpräzise von mir. Er muss ja nicht wissen, weswegen wir wieder einmal aneinander geraten sind.

„Wirklich? Sah dieses Mal etwas weniger passivaggressiv aus!“, erwidert er sarkastisch. Ich knurre abschätzig.

„Ich hab ja geschnallt, dass ihr keine Freunde mehr werdet, aber...ernsthaft, das ist echt unnötig.“ Er macht eine ausholende Handbewegung und spricht damit die vorgefallende Situation an.

„Hey, ich bin hier der Leidtragende!“ Mein Schädel gibt ein deutliches Genau als Antwort und surrt.

„Wirklich?“, kommentiert Kain ungläubig. Ich starre ihn verärgert an. Allerdings schlucke ich meine aufkommende Wut runter, mache eine aufgebrachte, aber abschließende Geste in seine Richtung und wende mich von ihm ab. Ich gehe. Ich möchte nicht mit ihm reden, will nicht hören, wie unfair und irrational ich mich verhalte.

„Renn nicht wieder weg! Robin,…komm schon…was, wenn du umfällst?“ Kain folgt mir und holt mich dank seiner langen Beine viel zu schnell ein. Er greift nach meinem Arm und hält mich zurück.

„Du machst mit ihr Urlaub?", platzt es laut und ungehalten aus mir heraus. Es klingt getroffener, als ich es vorhatte. Leider ist es auch noch völlig unpassend. Ich verhalte mich schon wieder wie ein Vollidiot. Jedes Mal, wenn die Rothaarige auf den Plan tritt, ist es, als würde sich mein Gehirn von mir verabschieden. Ich hasse es, so unkontrolliert zu sein. Doch ihre Beschreibungen hallen unentwegt in meinem Kopf umher und malen unangenehme Bilder, die ich nicht mehr loswerde.

„Ich war nicht mit ihr im Urlaub.“ Glatte Lüge. Ich sehe ihn skeptisch an. Kains Haltung ändert sich, weil er genau weiß, was mein Blick zu bedeuten hat.

„Ja, ich war bei ihr. Aber nicht wegen dem, was du denkst.“

„Sicher,…“

„Wirklich nicht! Okay, lass es mich erklären…“ Kain seufzt.

„Sicher, jeder steht auf Fiktion…“

„Hey,…“, unterbricht er mich laut, „Du willst eine Erklärung, dann halt die Klappe.“ Seine Augen sehen mir ernst und intensiv entgegen. Ich wende meinen Blick ab, weil ich die Intensität nicht ertragen kann.

„Merenas Vater hat mich vor mehreren Wochen angerufen und mir ein Angebot gemacht. Das ist das, was ich zu Hause bei dir erzählt hatte.“ Ich erinnere mich. Auch, dass er es mir nicht erzählt hat und ich es damals zum ersten Mal hörte.

„Ihr Vater leitet die Hauptzentrale eines größeren Pharmazie-Konzernes und sie bauen ihre biotechnologische Abteilung aus. Er wollte wissen, ob ich Interesse daran habe, meine Abschlussarbeit mit einem Projekt dieser Abteilung zu koppeln. Er weiß, wie hart ich arbeite und meint, ich hätte Potenzial. Wir haben uns schon damals oft über die biotechnologischen Möglichkeiten im Zusammenhang mit pharmazeutischen Entwicklungen gesprochen. Ich finde es hochinteressant und er bietet mir die Chance, direkt dort einzusteigen und später masterbegleitend an Projekten mitwirken zu können."

„Und dafür musst du nur seine Tochter heiraten und den perfekter Schwiegersohn geben!", kommentiere ich bissig, statt ihm einen anerkennenden Glückwunsch auszusprechen. Ich hasse mich augenblicklich selbst dafür. Kain atmet schwer aus.

„Um Himmelswillen, Robin…was willst du eigentlich von mir? Was willst du von mir hören?“, entflieht es ihm aufgebracht. „Wir haben nur Spaß, schon vergessen? Aber das hier macht kein Spaß.“

„Okay, dann sollten wir endlich damit aufhören“, platzt es ungeduldig und angespannt aus mir heraus. Meine Hände sind mittlerweile eiskalt.

„Nein, verdammt!“, schmettert er mir aufgebracht entgegen und für einen Moment sehen wir uns einfach nur an. Mein Herz rast und es braucht eine Weile, bis die Bedeutung seiner Worte wahrhaftig zu mir vordringt. Bis sie das laute Pochen in meinen Ohren übertönen. Kain will es nicht beenden.

„Nicht?“, frage ich seltsam verunsichert nach. So als hätte ich es nicht richtig verstanden.

„Nein. Das ist schließlich keine Lösung“, sagt er ruhig. Gefasst. Ich merke, wie endlich wieder Blut in meinen Fingerspitzen ankommt. Wie sie sich kribbelnd erwärmen, weil die bedrückende Kälte verfliegt. Ich bin erleichtert. Wir sehen uns eine Weile schweigend an und keiner von uns beiden scheint zu wissen, wie wir das verbalisieren, was in unseren Köpfen geschieht. Ich, jedenfalls weiß es nicht.

„Wirst du das Angebot annehmen?“, frage ich.

„Ich denke schon.“

„Gut. Es ist eine tolle Chance“, zolle ich ihm die Anerkennung, die er verdient. Ich meine es ehrlich.

„Und die Bachelorarbeit kannst du auch schon dort schreiben?“ Kain nickt.

„Ja, ich bekomme ein paar Grundthemen vorgegeben, darf aber innerhalb dieser meine Abschlussarbeit frei wählen. Ich werde bezahlt und kann frei arbeiten. Außerdem garantiert er mir mehr oder weniger eine Übernahme nach dem Master." Kain sieht mich eindringlich an. Das ist ein unfassbar tolles Angebot. Ich schweige.

„Es war eine spontane Entscheidung hinzufahren und deswegen habe ich Merenas Angebot angenommen, das Gästehaus zu nutzen. Es waren nur vier Tage. Ich war hauptsächlich in der Firma ihres Vaters unterwegs und danach bei Marvin.“ Also keine lauschigen Strandspaziergänge, Candle-Light-Dinner und Wochenenden im Bett. Wenn dann nur mit dem aufgepumpten Trainingsjunkie, was wiederum eine äußerst eigenartige Vorstellung ist. Obwohl ich ihm glaube, bleibt ein Rest Unwohlsein zurück, den ich einfach nicht verdrängen kann.

„Habt ihr darüber gestritten?“, hakt Kain nach. Ich sehe auf, aber antworte nicht.

„Was hat sie gesagt?“, fragt er weiter.

„Den üblichen unsinnigen Mist…“

„Sicher und das hat dich so provoziert, dass deine Äußerungen sie dazu animierten, dir ihre Tasche um die Ohren hauen?“ Vereinfacht gesagt, ja. Nach einem kurzen unwilligen Moment nicke ich zögerlich. Kain schließt die Augen und seufzt.

„Sie weiß von meinen Büchern und denkt, dass sie und du…“, beginne ich und setze die Erklärung nicht fort, als es darum geht, dass die Rothaarige denkt, dass Kain zu ihr zurückkommt. Mein Gegenüber mustert mich eindringlich und wartet darauf, dass ich weiter rede.

„Sie und ich?“, hakte er nach, als ich meine Lippen einfach nur zusammenpresse.

„…dass sie und du gemeinsam in den Sonnenaufgang reiten werdet.“

„Und du glaubst das auch?“ Ich antworte wieder nicht, sondern weiche einfach nur seinem Blick aus, weil ich nicht weiß, wie ich darauf reagieren soll, ohne mich vollends zu verraten.

„Robin,…“ Ich schüttele den Kopf und sehe zu einer heranströmenden Gruppe von Kindern, die auf dem Fußgängerweg auf uns zukommen. Ich mache keine Anstalten, auszuweichen. Kain zieht mich jedoch zu sich heran und somit von dem heranströmenden Tross lauter plaudernden Schulkindern weg. Wir bleiben ruhig und schweigsam stehen. Seine Hand bleibt an meiner Hüfte liegen. In meinen Fingerspitzen beginnt es zu kribbeln, als ich den vertrauten Geruch des anderen Mannes wahrnehme. Kain hätte mich einfach nur zur Seite bitten oder schieben müssen. Doch das hat er nicht. Ich bin ihm so nah. Höre seinen ruhigen Atem und kann fast spüren, wie er meine Schulter trifft. Seine Hand schiebt sich von meiner Hüfte nach oben zu meinem Schulterblatt. Im ersten Moment blicke zu Boden, sehe, wie etliche beschmutzte Kinderschuhe in grausigen Farben an uns vorbeiziehen. Dann schließe ich meine Augen und langsam wird es wieder still um uns herum. Doch keiner von uns beiden rührt sich. Auch Kain nicht. Er steht einfach nur vor mir.

Kains Hand greift mir ans Kinn und er lässt seinen Finger über die gerötete Stelle unterhalb meines rechten Auges fahren. Die Berührung ist federleicht, sanft und warm.

„Du solltest dir dafür Eis besorgen...“, sagt er ruhig. Ich winke ab.

„Ich esse Eis lieber.“ Kain schmunzelt, lässt jedoch nicht von mir ab. Sein Blick ist abwesend.

Auch wenn mir seine Berührung Fürsorge bescheinigt, spüre ich die Zurückhaltung. Er hat es mir noch nicht vollends verziehen. Ich verstehe wieso.

„Wie geht es ihr?“, frage ich ruhig und drehe mein Gesicht aus seiner Hand heraus. Auch wenn ich die fehlende Wärme sofort vermisse. Kain lässt es geschehen und runzelt weiterhin besorgt seine Stirn.

„Was meinst du?“, fragt er irritiert. Ich ziehe eine meiner Karten aus der Hosentasche. Im ersten Moment stockt er, versteht nicht, dass ich sie keineswegs für mich anwende. Sondern, weil er sie in seiner Nachricht benutzt hatte.

„Dein digitaler Timeout…“, erkläre ich, „ Also, wie geht es deiner Schwester?“ Als ich meine Frage wiederhole, sehe ich auf. Kains Blick ist unruhig, so, als müsste er darüber nachdenken, was er sagt oder ob er es mir überhaupt sagen sollte.

„Sie ist okay. Sie bekommt neue Medikamente und die schlagen bisher gut an. Wir konnten uns lange unterhalten und ich hatte seit langem mal wieder das Gefühl, dass sie selbst nach vorne schaut. Also ein gutes Zeichen.“ Das Lächeln auf seinen Lippen wird unendlich sanft. Doch sein Blick wandert in die Ferne. Er liebt sie wirklich sehr.

„Und deine Eltern?“ Kain löst sich von dem fixierten Punkt. Er zögert wieder mit der Antwort, doch nach einem Augenblick lächelt er.

„Na ja, meine Eltern sind meine Eltern“, sagt er letztendlich. In seiner Stimme höre ich Resignation und sein Gesicht zeigt deutlich die Glücklosigkeit, die mit der Erwähnung seiner Erzeuger einhergeht. Ich will nicht, dass er bei der Nennung meines Namens so schaut.

„Es tut mir leid, Kain. Ich wollte dir…dich nicht verletzen“, sage ich ehrlich und hoffe, dass er mir glaubt. Doch statt etwas zu erwidern, greift er mir in den Nacken und ziehe mich in einen Kuss. Ich spüre den stetig schneller werdenden Herzschlag in all meinen Gliedern. Sein vertrauter Geruch und seine fühlbare Nähe scheinen meinen Zustand nur noch zu verschlimmern. Ich habe es vermisst. Sehr. So sehr, dass mir gerade sogar egal ist, dass wir hier mitten auf der Straße stehen.

„Ich bin immer noch sauer“, flüstert er, als er den Kuss löst und ich sehe dabei zu, wie er sich deutlich auf die Unterlippe beißt. Seine Zähne schaben über die empfindsame Haut, so als würde er das letzte bisschen Aroma hinfort schmecken wollen. Mir wird ganz heiß.

„Verstehe“, erwidere ich.
 

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PS: Ich weiß und es tut mir ser leid, dass ich eure wunderbaren, herzlichen Kommentaren vom letzten Kapitel noch immer nicht beantwortet habe! Mein Stresspegel ist mittlerweile so hoch, dass ich zum Kardiologen muss -.-.

Ich habe mir fest vorgenommen am Donnerstag allen zu schreiben, sobald ich aufgestanden bin!!

Aber hier schon mal: ICH DANKE EUCH VON HERZEN!!! Für eure Geduld! Für eure lieben und aufbauenden Worte, die mich jedes Mal wieder vor Liebe Quicken lassen! Ich danke euch einfach dafür, dass ihr mich schon so lange begleitet und ich durch euch so viel Energie und Freude schöpfen kann! Ihr seid alle wundervoll und großartig! Eure del

Vielleicht, vielleicht…erst recht

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Oxytocine mich!

Kapitel 24 Oxytocine mich!
 

Ich genieße das warme Pochen in meinen Gliedern. Es berauscht mich und es fühlt sich gut an. Ich versuche meine Atmung unter Kontrolle zu bringen, indem ich mich von ihm löse und mich an die Bettkante setze. Kain lässt sich schweratmend ins Kissen fallen. Ich beuge mich vor und angle nach meinen Klamotten, die neben dem Bett liegen.

Ich ziehe mir die Hose auf den Schoss und blicke über meine Schulter hinweg zu Kain. Während ich ihn dabei beobachte, streichelt er sich mit der flachen Hand über den trainierten Bauch, lässt sie einen Moment auf seiner Brust verweilen und tastet dann nach der Bettdecke. Das Pulsieren unter meiner Haut scheint nicht weniger zu werden, wandert von Körperregion zu Körperregion. Von meinen Fingern zu meinen Zehen. Von dort direkt wieder in meine Körpermitte. Ich seufze schwer und versuche, den Eingang zu meiner Hose zu finden.

„Bleib hier“, murmelt Kain hinter mir.

„Und dann? Quetschen wir uns gemeinsam auf diesen Meter von Bett?“, frage ich skeptisch, aber erstaunlich sanft. Allein Kain nimmt im seitlichen Zustand mehr als die Hälfte des Bettes ein. Für diese Variante gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder ich kämpfe die gesamte Nacht mit dem Abgrund oder mit der Hölle in Form von Kain als Hitzekern. Die Hose scheint in meinem jetzigen Zustand unüberwindbar und frustriert lasse ich sie auf meinen Knien liegen.

„Na ja, du kannst auch in Abels Bett schlafen, wenn dir das lieber ist oder du schleichst in der Kälte zurück“, kommentiert er gelassen. Die Kälte. Daran habe ich nicht mehr gedacht. Ich neige meinen Kopf in seine Richtung. Der Schwarzhaarige scheint so tiefenentspannt, dass er meinen Zweispalt nicht bemerkt. Nicht einmal seine Augen sind geöffnet. Ich sehe ein paar Strähnen seines schwarzen Haares zur Seite fallen. Ich weiß, wie weich sie sind, wie sie riechen. Ich spüre ein zartes Kribbeln in meinen Fingerspitzen, widerstehe dem, Drang sie zurück zu streichen und sehe zu dem Bett von Kains Mitbewohner. Es ist zerwühlt und sieht aus, als wäre Abel erst gestern dort aufgestanden. Allein die Vorstellung, dass es nach ihm riecht, verursacht mir Übelkeit. Niemals würde ich mich dort hineinlegen.

Der Mann hinter mir erweckt, zu meinem Leidwesen, nicht den Anschein, als würde ich ihn so wie beim letzten Mal überreden können, mit mir die Plätze zu tauschen. Im Moment wirkt er, als würde er nicht mal mehr einen Zeh bewegen wollen. Für nichts auf der Welt. Vermutlich schläft er bereits.

„Du wirst viel zu warm…“, beklage ich undeutlich als letzte mögliche Ausrede.

„Wie bitte?“, fragt er leise, aber verwundert. Er schläft wohl doch noch nicht.

„Warm... hochtemperiert… heiß“, wiederhole ich leise, stütze mein Kinn in die Handfläche und vernuschele dabei meine Beispiele.

„Was?“

„DU. BIST. ZU. HEIß…“, murre ich laut und genervt. Zwei braune Augen blicken mich perplex an und mir wird klar, dass mein Ausruf eindeutig mehrdeutig war.

„Du wirst extrem warm beim Schlafen…das ist unerträglich“, korrigiere ich schnell. Kain beginnt lauthals zu lachen und braucht einen Moment, um sich wieder zu beruhigen. Ich sehe ihm dabei zu, wie er seine Hand auf seinen flachen Bauch legt und wie er erheitert die Augen zusammenkneift.

„Wir können die Decke weglassen“, entgegnet er versöhnlich und pattet auffordernd neben sich auf die Matratze. Ich antworte mit einem Brummen. Ich schwanke zwischen dem dringenden Bedürfnis, mich einfach fallenzulassen und dem gewohnten Fluchtreflex. Kain streckt seine Hand nach mir aus. Seine Fingerspitzen streicheln meinen Arm entlang bis zu der Stelle, wo er zu meinem Oberschenkel übergeht. Gespannt folge ich der Berührung und das nicht nur mit den Augen. Sie ist so zart, dass sie mir augenblicklich Gänsehaut verursacht. Auch er bemerkt das Aufrichten meiner Haut, das seine Berührung hinterlässt und interpretiert es falsch.

„Wenn du noch länger da sitzt und auskühlst, wirst du dir meine Hitze bald herbeisehnen“, flüstert er verführerisch.

„Vielleicht sogar erbetteln…“ Kain hat sich lautlos aufgerichtet und haucht mir den letzten Rest seiner Provokation direkt ins Ohr.

„Und du nennst mich schamlos…“, erwidere mich. Er kichert leise, aber tief und brummend. Ich spüre es direkt in meiner Brust. Ich bin mir sicher, dass es nur der Alkohol sein kann, der aus ihm spricht. Federleicht haucht er mir einen Kuss in die Halsbeuge, greift mir in den Nacken und sorgt dafür, dass ich einfach seitlich umkippe und neben ihm zum Liegen komme. Ich ergebe mich meinem nächtlichen Schicksal. Mittlerweile bin ich auch zu müde, um mich meinem fruchtlosen Fluchtverhalten hinzugeben.

Ich spüre die gesamte Länge seines Körpers an meinem. Wie er mich nackt und heiß ummantelt. Obwohl ich mich eben noch beschwerte, fühlt sich Kains Wärme unbeschreiblich wohltuend an. Genauso, wie die leichte Reibung von Haut auf Haut, wenn er eines seiner Gliedmaßen regt. Die feine Bewegung seine Brust, die sich beim Atmen gegen meinen Rücken schmiegt. Im Liegen werden meine Lider schwerer und ich bin so schnell eingeschlafen, dass ich mir keinen Gedanken mehr darum machen kann, dass mich Kains sanfter, ruhiger Atem im Nacken kitzelt.
 

Am Morgen weckt mich ein betäubendes Pieken. Ich lokalisiere es nach komplizierter Hochrechnung mit meinem noch schlafenden Gehirn und geschlossenen Augen in meinem linken Arm. Der Versuch, meine Finger zu bewegen, verursacht einen weiteren heftigen Schub und lässt mich schmerzerfüllt wimmern. Meine Position zeigt mir, dass ich mich während der gesamten Nacht keinen Millimeter bewegt habe. Ich ziehe den tauben Arm unter meinem Körper hervor und jammere nur noch lauter.

„Fuck...“, grummele ich. Ich schmule zu dem Oldschool-Wecker, der auf Kains Nachttisch steht und frage mich, wo sein heißgeliebter Hightec-Wecker ist, dessen Betriebsanleitung er so gern liest.

Ich ignoriere die Gewissheit, dass ich in dieser Nacht zu keiner Zeit 4 Stunden am Stück geschlafen habe und richte mich mühsam seitlich auf. Ich höre meine Knochen lautstark knacken und erschrecke, als ich direkt wieder in die Horizontale befördert werde.

„Huch,…“, gebe ich von mir und rudere hilflos umher.

„Nicht weglaufen, Spatz“, sagt Kain mit rauer, schlaftrunkener Stimme.

„Zum Laufen bräuchte man funktionierende Beine ….“ Meine Beine fühlen sich an wie funktionslose Holzstümpfe, die von einem Zitteraal umschlungen sind. Als ich mich im Liegen strecke, folgen weitere laute Knackgeräusche und außerordentlich mühsam stütze ich mich auf dem Arm ab.

„Kommst du klar, alter Mann?“, fragt es kichernd hinter mir und ich sehe dieses kleine, schelmische Grinsen in seinem Gesicht, welches er zur Hälfte im Kissen zu verstecken versucht.

„Frechheit“, entgegne ich unaufgeregt und sehe weiterhin zu Kain, der seine Augen geschlossen hält und vor sich hin lächelt. Ich wende mich ab, streiche mir durch die zerzausten Haare und starte einen weiteren Versuch, mich aufzurichten. Diesmal werde ich schon auf dem halben Weg zur Senkrechten gestoppt und zurückgezogen.

„Noch nicht“

„Ich sollte zurück. Jeff wundern sich sonst, wo ich bin…“, seufze ich angesäuert.

„Der schläft bestimmt selbst noch…“, mutmaßt Kain, greift mir an die Schulter und presst sein Gesicht in meine Halsbeuge, als ich wieder ins Kissen sinke. Er verteilt federleichte Küsse auf meiner Haut, die mich besänftigen und einlullen sollen. Und es gelingt ihm. Jedoch nur für einen Moment.

„Ich meine es ernst…er ist sowieso schon misstrauisch…“, murmele ich und drehe mich von ihm weg. Ich keuche angestrengt auf. Ich würde es glatt genießen, wenn sich mein Körper nicht anfühlte, als würde er jeden Augenblick zu Staub zerbröseln.

„Wegen mir?“, hakt er nach.

„Nein, wegen meines überaus mitteilsamen Wesens...“, gebe ich sarkastisch von mir.

„Ist ja gut... nur noch eine Sache…“ Er macht eine kunstvolle Pause, „Dreh dich auf den Bauch“, fordert er mich auf.

„Wieso?“, frage ich misstrauisch. Der Gedanke gefällt mir ganz und gar nicht, denn wenn ich mich auf den Bauch drehe, liegt mein Rücken vollkommen frei und es ist tageslichthell.

„Tu es einfach…“, murrt er leise, aber mitnichten angefressen. Ich zögere immer noch, was Kain zum Anlass nimmt, seiner Forderung physischen Ausdruck zu verleihen. Er greift mir an die Schulter und drückt sie nach vorn, so dass ich mich auf den Bauch legen muss. Da jegliche Gegenwehr ins Leere laufen würde, lasse ich es geschehen. Ich spüre, wie sich der größere Körper mit einem zufriedenen Raunen auf meine Oberschenkel niederlässt. Die Hitze seiner Haut trifft direkt meinen Hintern. Seine Hände streichen über mein Schulterblatt und meine Wirbelsäule. Nervös zucke ich wieder hoch und blicke zurück.

„Was wird das?“, frage ich verunsichert. Erst, als er sich mir entgegen beugt, gelingt es mir, den anderen etwas zusehen.

„Null vertrauen, oder? Denkst du wirklich, ich würde etwas Unschönes machen?“, stichelt er.

„Das nicht, aber etwas unanständiges vielleicht“, säusele ich angestrengt und höre ihn lachen. Tief und voll. Ich stehe auf dieses Geräusch und mein Körper reagiert auf die feinen Vibrationen. Dass ich mich im Grunde nur wegen dem Tattoo unwohl fühle, erwähne ich nicht. Es ist auch albern. Er hat es längst gesehen und längst verstanden, für was es steht.

„Ich möchte dich nur massieren...“, erklärt er, beugt sich dabei dicht an mein Ohr und ich erschaudere, „…ganz harmlos. Nur, so lange bis du wieder im Einklang mit deinen Muskeln bist.“

„Im Einklang mit meinen Muskeln?“, wiederhole ich amüsiert, als die Anspannung von mir abfällt.

„Sportlereinmaleins“, begründet er überzeugt.

„Du klingst wie ein Glückskeks.“

„Ein sportlicher Glückskeks und jetzt halt still.“ Kain knufft mir in die Seite. Ich zucke zurück und schnappe gigglend nach Luft. Ich sinke mit einem gleichmütigen Seufzen ins Kissen, während seine Hände zu meinen Schultern fahren. Erst ertastend, dann immer bestimmter. Sie kreisen, finden jeden einzelnen Muskelstrang und gleiten diese entlang, bis mir nichts anderes übrigbleibt, als ergeben zu keuchen. Seine Daumen fahren fest an den Seiten meiner Wirbelsäule entlang und jedes Mal, wenn er einen dieser festen Punkte trifft, presse ich mich seinen Berührungen bettelnd entgegen. Auch, wenn es schmerzt.

„Fühlt sich gut an, nicht wahr?“, flüstert Kain, als er sich zu mir runter neigt. Sanft treffen seine Lippen mein Ohr. Ein Kuss. Ein zweiter an der Helix entlang. Sein warmer Atem. Ich keuche besänftigt auf. Es ist wirklich gut. Dann spüre ich seine Härte, wie sie unschuldig über meine Hintern streichelt. Nun entflieht mir ein erregtes Stöhnen.

Kain küsst sich meinen Hals entlang, über meine Schulter, während er seine Körpermitte immer fester an mir reibt. Allein die Vorstellung und das Gefühl, wie sein Schwanz immer wieder zwischen meinen Pobacken entlang gleitet, versetzt meinen Körper in Aufruhre. Trotz unserer leidenschaftlichen Nacht fühle ich ein unbändiges Verlangen nach mehr. Nach mehr seiner Berührungen. Nach mehr von dem erfüllenden Gefühl. Ich richte mich wieder mehr auf, stütze mich auf meinen Unterarmen ab und drehe meinen Kopf zur Seite. Kains Lippen finden meine. Ganz ohne Worte. Er nimmt meine Unterlippen zwischen seine. Lockt mit seiner Zunge.
 

„Fuck…“ Zur Untermalung des Ausrufes, fällt eine Tasche lautstark zu Boden. Kain und ich fahren erschrocken zusammen und direkt auseinander. „Ein Live-Porn nach meinem Geschmack.“

Beinahe instant habe ich das Gefühl, dass mein Herz etliche Etagen tiefer rutscht, als ich Kains blonden Mitbewohner im Bereich der Tür erkenne. Unwillkürlich ziehe ich die Decke höher, was allerdings nicht viel bringt, weil Kain mehr oder weniger drauf sitzt.

„Fuck, Kain, das ist echt hardco…Robin?“ Nun ist es Abel, der erst mich und dann Kain perplex anstarrt. Ein Albtraum.

„Fuck,…das ist...damit hab ich nicht gerechnet“, wiederholt Abel. Ich ringe nach einer Erwiderung, doch in meinem Kopf gibt es nichts als panische Leere.

„Okay, lasst euch nicht weiter stören“, sagt er, dreht sich grinsend um und verlässt das Zimmer. Ich fixiere noch einen Moment lang die zurückgelassene Reisetasche.

„Fuck, Fuck, Fuck, Fuck, Fuck, Fuck“, rattere ich runter, wie ein höhnendes Mantra, als sich mit einem Mal der Schock löst. In meinen Ohren scheint es übertrieben laut zu rauschen und so bekomme ich zwar mit, dass Kain etwas sagt, aber verstehe nicht, was es ist. Panisch falle ich fast aus dem Bett, als ich versuche aufzustehen. Ich greife nach meiner Hose und dem T-Shirt, welche am Boden liegen, ziehe mir die Hose über und stürze aus der Tür.

„Robin…“, ruft mir Kain hinterher, doch ich bleibe nicht stehen. Während ich Abel über den Flur hinterher renne, ziehe ich mir das Shirt über den Kopf.

„Abel warte!“ Er macht keine Anstalten, stehen zu bleiben und ich folge ihm notgedrungen mit schnellen Schritten. Ich erwische ihn erst am Ausgang.

„Bleib stehen, verdammt…“ Als ich ihn erreiche, packe ich grob seinen Arm. Abel sieht mich im ersten Moment irritiert an und reißt sich dann los. Er schnauft.

„Du fickst Kain…oder sollte ich sagen, er fickt dich“, entflieht es ihm grinsend, „Wie lange läuft das schon?“

„Spielt keine Rolle.“

„Jeff denkt, du vögelst mit Sina…“ Ich verdrehe die Augen und versuche ruhig zu bleiben.

„Ja…“ Jeff hat es sogar schon vor mir geäußert.

„…Aber ganz im Ernst…sie ist gar nicht dein Typ, oder?“, plappert er weiter. Woher will er wissen, was mein Typ ist? Abel weiß einfach gar nichts. Außer...Ich besinne mich auf das Problems des aktuellen Moments zurück.

„Hör zu, ich…“ Jeffs Freund lässt mir keine Chance, mein Anliegen zu formulieren und ich bin mir nicht sicher, ob das seine immer dumme, unhöfliche Art ist oder böswillige Absicht.

„…dann warst du der geile Blowjob“, grient Abel wissend und klatscht in die Hände. Ich weiß nicht, was ich darauf sagen soll. „Ich hätte es mir denken können. Merena weigert sich, seinen Schwanz auch nur anzusehen, geschweige denn, ihn in den Mund zunehmen.“ Ein weiteres Lachen hallt mir entgegen. Ich habe das Gefühl gleich zu explodieren und versuche, merklich ruhig zu atmen. Es fällt mir echt schwer. Gelaber. Sein dummes Gesicht. Ich verabscheue diese ganze verdammte Situation.

„Abel…“, setze ich erneut an, doch er gibt mir wieder keine Möglichkeit, sondern greift mir ans Kinn und betrachtet mein blaues Augen.

„Wo hast du denn das her?“, fragt er belustigt.

„Geht dich überhaupt nichts an und nimm deine Griffel weg“, patze ich grimmig und ungehalten. Abel mustert mich abschätzig mit diesen matten blauen Augen, während ich mein Gesicht seiner Berührung entziehe.

„Du solltest dringend damit aufhören, so mit mir zu reden und etwas netter zu mir sein. Ich denke nämlich, dass die Tatsache, dass du mir gefolgt bist, deutlich danach schreit, dass du nicht willst, dass jemand Bestimmtes davon erfährt.“ Sein Tonfall ändert sich schlagartig. Fast wird er drohend. Er macht einen Schritt auf mich zu, bleibt so dicht vor mir stehen, dass ich ein wenig aufsehen muss. Unter anderen Umständen hätte ich mich köstlich über die Tatsache amüsiert, dass der Blonde einen derartigen Satz zustande bekommt. Doch nun halte ich verbissen den Atem an.

„Also, was kannst du mir bieten, damit ich den Mund halte?“

„Ist das dein Ernst? Du machst eine Erpressung daraus?“, presse ich brüskiert hervor. Abel grinst.

„Wieso nicht? Du willst ja endlich mal etwas von mir.“ Die Überheblichkeit des Blonden ist wirklich das Letzte. Dann lacht er auch noch und ich möchte ihm dieses lächerliche Gesicht zu Brei schlagen.

„Weißt du, es ist nicht gerade einfach, so ein irrsinniges Geheimnis für sich zu behalten vor der Person, mit der man ausgeht“, setzt er nach und leckt sich dabei ungeniert über die Lippen. Ich stoße geräuschvoll die Luft aus und mache einen Schritt zurück, so dass mir Abel nicht mehr derartig nahe ist. Seine Worte hallen nach. Ich sehe ihn an und bin mir sicher, dass ihm gar nicht klar ist, was er gerade gesagt hat. Seinem lüsternen Blick nach zu urteilen, jedenfalls nicht.

„So ist das also“, kommentiere ich trocken. Absichtlich senke ich meinen Blick.

„So ist was?“, fragt er dümmlich und bestätigt meinen Verdacht. Er hat es nicht bemerkt, nicht verstanden. Seine mattblauen Augen sehen mir inhaltsleer entgegen.

„Du gehst mit ihm aus...“, wiederhole ich verächtlich. Abels Augenbrauen ziehen sich zusammen. „Jeff fände es sicher interessant, zu erfahren, dass er für dich nur irgendjemand ist, mit dem du AUSGEHST“, fahre ich fort. Jeff ist nicht die Person, die er liebt. Das erklärt einiges.

„So habe ich es nicht gemeint…das weißt du…“ Schwach. Ein mehr als mangelhafter Versuch.

„Weiß ich das? Tja, ich weiß nicht, ob ich es Jeff so rüberbringen kann, wie du es eigentlich meinst…“ Die Augen des blonden Mannes funkeln mir wütend entgegen, als er begreift, dass ich den Spieß umdrehe. Ich lasse mich nicht erpressen. Schon gar nicht von ihm.

Heftig stößt mir Abel gegen die Brust und ich taumele zurück. Ich fange mich, mache drei Schritte vor und erwidere die Geste mit Nachdruck. Abel geht zu Boden, ist aber schnell wieder auf den Beinen. Er packt mich beim Kragen meines T-Shirts und drückt mich gegen die Wand.

„Das tust du nicht.“

„Was willst du dagegen machen? Mich verprügeln?“

„Scheint dir ja nicht neu zu sein und vielleicht hältst du dann mal deine beleidigende Klappe.“

„Du kannst mich mal, Abel. Lieber beichte ich Jeff alles und glaub mir, ich beichte alles…vor allem, dass du mich mehrfach angegraben hast. Und dann wird er endgültig merken, was für ein gigantischer Fehler du bist“, belle ich ihm kampflustig zu.

„Er wird dir nicht glauben.“

„Oh, mit Sicherheit mehr als dir. Meinst du es überhaupt ernst mit ihm? Bedeutet er dir etwas? Warst du jemals ehrlich zu ihm?“ Abels Kiefer pressen sich aufeinander und sein Blick ist verbissen, als ich ihm diese Vorwürfe mache.

„Bist du es? Sicher nicht! Und was du sagst, wird er als das abtun, was es ist. Als Lügen, um uns auseinander zubringen, weil du mich nicht leiden kannst...oh oder stehst du selbst auf ihn?“

„Wie billig und dumm ist das denn? Jeff ist mein Freund, verdammt noch mal.“

„Würde aber einiges erklären...“

„In deiner verqueren Fantasiewelt vielleicht... und lass mich los...“, motze ich. Abel macht im ersten Moment keine Anstalten. Doch dann entlässt er mich aus seinen Fängen, streicht sich durch die wirren Haare.

„Du bringst uns nicht auseinander...“

„Glaub mir, das schaffst du ganz allein, aber meine Worte wären die Kirsche auf der Sahnehaube deiner Vernichtung.“

„Was hast du eigentlich für ein verficktes Problem mit mir?“ Wieder stößt er mir seine Hände gegen die Brust, doch dieses Mal pralle ich nur wieder zurück an die Wand. Eine Wohnheimbewohnerin kommt aus ihrem Zimmer und beäugt uns kritisch. Als keiner von uns beiden Anstalten macht, erneut handgreiflich zu werden, geht sie Richtung Gemeinschaftsbad.

„Begreif es endlich, du bist Geschichte, es ist nur eine Frage der Zeit...“, belle ich.

„Ja, vielleicht, aber du... was denkst du, wie oft er sich noch wegstoßen lässt? Sag schon?“ Ich schweige. Einen Moment lang starren wir uns einfach nur an. Beharrlich und wütend.

„Du hast viel mehr zu verlieren... nämlich deinen einzigen Freund.“

„Tja, wir sind wohl beide eine Enttäuschung für Jeff“, sage ich, versuche es fest und unbeeindruckt klingen zu lassen. Es bleibt bei dem Versuch. Wie heißt es so schön? Gegenseitige Zerstörung. Keine Gewinner, sondern nur Verlierer. Ich kann es nicht zugeben, aber die Vorstellung, dass sich Jeff von mir abwendet, reißt eine unangenehme Leere in mir auf. Abel ist der erste, der nach draußen verschwindet und ich folge ihm mit geringer Entfernung. Als der Blonde schnurstracks an Jeff und meinem Wohnheim vorbeigeht, atme ich erleichtert aus und bleibe stehen. Mit angespannten Fingern fasse ich an meine Hosentasche zu dem Ort, an dem normalerweise meine Zigarette sind. Doch ich ertaste nur Nichts. Ich trage noch immer meine Schlafhose und die hat nicht mal Taschen. Damit habe ich auch keine Zigaretten bei mir und mein Hirn kann so laut schreien, wie es will. Mit anhaltender Unzufriedenheit und wachsender Verunsicherung verschwinde ich rauf ins Wohnheimzimmer. Bevor ich den Code eintippe, bleibe ich kurz stehen. Ich versuche ruhig zu atmen, mich zu konzentrieren und mich nicht zu verraten. Wo ist das Pokerface, wenn man es braucht.
 

„Hey, wo warst du denn?“, begrüßt mich Jeff verwundert und lehnt sich in seinen Schreibtischstuhl zurück, sodass er zur Tür sehen kann. „Ich habe gar nicht mitbekommen, dass du aufgestanden bist.“

„Hier könnte ein Hurrikan durchfegen und du würdest es nicht merken…“, kommentiere ich leise und lasse mich auf mein Bett fallen. Ich bin seltsam gefasst. Jedenfalls äußerlich. Mein Mitbewohner dreht sich nun vollkommen zu mir um und mustert mich.

„Ist das nicht die Hose, mit der du sonst schläfst?“ Obwohl ich es nicht will und es auch nicht nötig ist, wandert mein Blick nach unten auf meine Knie. Ich betrachte den Stoff, der meine Beine bedeckt und auffällig knittrig ist.

„Ja, und?“, erwidere ich. Mittlerweile ist Jeffs linke Augenbraue nach oben geklettert.

„Warst du damit draußen?“

„Und?“

„Und?“, wiederholt er mit einer anderen Betonung, die auf pure Neugier hindeutet. Ich werde nervös.

„Casual …Satur…day?“, stammele ich zusammen. Ich hätte mir vorher etwas Plausibles überlegen sollen, aber das Zusammentreffen mit Jeffs dämlichen Anhängsel hat mich innerlich ganz schön durcheinander gewürfelt.

„Dein Ernst? Ich meine, ich verstehe schon, dass du mir nicht sagen willst, wo du gewesen bist…Aber das? Du warst definitiv schon kreativer.“ Ich murre als Antwort und stehe auf. Eine wirkliche Erklärung bleibe ich ihm schuldig.

„Okay, du könntest mir sonst was erzählen und ich würde es dir nicht glauben.“ Vor meinem Kleiderschrank bleibe ich stehen und sehe zu ihm. In dem Moment zeigt er mit dem Finger auf mich und deutet einmal hoch und runter und zählt auf, „Schlafanzughose. Fickfrise.“

„Fick-was? Ich war nur Luft schnappen… nichts weiter.“. Ich deute mit meinen Fingern eine klassische Rauchergeste an und streiche ich mir danach durch die wirren Haare.

„Klar.“

„Wirklich“, versichere ich.

„Sicher!“, donnert er mir siegesgewiss zu. Die Taschen. Meine Hose hat keine Taschen. Jetzt noch umzuschwenken, reitet mich nur weiter rein. Ich seufze gequält auf, mache ich ihm deutlich, dass ich jede weitere Konversation ablehne und greife nach meiner Jeans. Jeff betrachtet mich amüsiert. Wenn er wüsste. Fast in Zeitlupe dreht sich seinen Stuhl wieder in die richtige Position. Seine Finger huschen übertrieben über die Tastatur seines Laptops, während sich sein Kopf, mich noch immer ansehend, nur sehr langsam in Richtung Schreibtisch wendet. Sehr effektvoll. Mein Mitbewohner hatte einen Clown zum Frühstück. Ich folge dem Schauspiel mit einem Schmunzeln.

Vielleicht sollte ich es ihm einfach sagen. Grade heraus. Ohne Umschweife. Direkt. Ist doch gar nicht so schwer. Ich schlafe mit Kain. Direkt nach diesem Gedanken spüre ich, wie irgendwas in meinem Kopf Feuer schreit und mich augenblicklich Panik erfasst. Meine Hände zucken. Mein Herz rast, als wäre es mit einem Mal der Überzeugung, in einem Kolibri zu stecken.

Zum Glück nicht in einer Etruskaspitzmaus, dann würde ich vollends zusammenbrechen.

Okay, vielleicht ist es doch nicht so leicht. Ich versuche meine Atmung unter Kontrolle zu bekommen und starre auf eines der T-Shirts, das ich seit Jahren nicht mehr trage, weil es voller Löcher ist. Ich weiß nicht, warum ich es noch habe. Mit ungewöhnlich zittrigen Fingern ziehe ich es hervor, wende mich zum Schreibtisch und lasse es, so wie es ist, in den Papierkorb fallen. Gar nicht eigenartig, Robin. Mein Kindheitsfreund scheint es nicht mitbekommen zu haben und summt mit dem Lied mit, welches leise aus seinem Laptop dringt.

„Oh, hast du schon gehört, dass Kaworus Schwester jetzt auch hier an der Uni ist?“

„Er hat eine Schwester?“, gebe ich zum Besten.

„Sie spielt in einer Band.“

„Wow“, sage ich trocken und streife mir die Schlafhose von den Beinen. Darunter bin ich noch immer nackt. Noch während des Hosentauschs, meldet sich mein Handy. Unbewusst wende ich mich meinem Nachtisch zu, doch da liegt es nicht. Meine Augen wandern suchend dem Geräusch nach und ich entdecke es auf dem Schreibtisch. Ich greife nicht sofort danach, sondern blicke noch einmal zurück zu meinem Bett. Ich bin mir sicher, dass ich es dort liegen gelassen habe. Nicht am Schreibtisch. Fast sicher. Hatte ich es während Kains nächtlicher Aktion in der Hand? Ich kann mich nicht mehr daran erinnern. Aber falls es so war, hätte ich es sicher mitgenommen und nicht da gelassen. Ich greife danach, sehe kurz zu meinem Mitbewohner und aktiviere das Display.

Kain fragt mich nach Abel. Er ist nicht ins Zimmer zurückgekommen. Genauso wenig, wie ich. Er möchte wissen, wie es mir geht. Ich habe keine Ahnung, wie es mir geht. In meinem Kopf durchblättere ich eine Enzyklopädie möglicher Emotionen. Wut. Ärger. Bestürzung. Scham. Gleichgültigkeit. Nichts davon ist wirklich passend oder spiegelt das wider, was gerade in mir vorgeht.

Ich will meine Blase der Ruhe zurück. Doch darauf kann ich lange warten und eigentlich sehne ich mich einfach nur nach dem zufriedenen Gefühl zurück, welches mir Kains Nähe in der Nacht brachte. Es müssen Nachwirkungen des Oxytocins sein. Nicht mehr und nicht weniger. Seltsam unbefriedigt, setze ich mich ebenfalls an den Schreibtisch und mache den Computer an.

Unweigerlich beginnt es in meinem Kopf zu arbeiten. Was würde er sagen? Wäre er geschockt? Entsetzt? Wütend? Ich weiß es einfach nicht. Genauso wenig, wie ich weiß, weshalb mir der Gedanke solche Magenschmerzen bereitet. Wahrscheinlich würde es Jeff nicht mal stören. Er ist mein Freund. Warum sollte ihn die Nachricht, dass ich mit Kain schlafe, in irgendeiner Weise verärgern? Schließlich ist es auch nichts Ernstes. Nur ein Experiment. Nichts als Spaß. Einfach nur Neugier. Das sagt auch Kain. Obwohl ich versuche, es mir genauso einzureden, klingt es falsch.

Das ist doch albern. Kindisch und absolut idiotisch. Ich drehe meinen Schreibtischstuhl so, dass ich geradewegs in Jeffs Rücken starren kann. Als würde er es spüren, wendet er sich zu mir um.

Einfach grade heraus. Ohne Umschweife. Direkt.

„Hey, hör mal…ich muss dir was sagen…“, beginne ich und werde genau in dem Moment von Jeffs singenden Handy unterbrochen. Kurz starrt er mich an und dann auf das Display. Mit einem erhobenen Finger, der mir andeutet, dass ich warten soll, steht er auf und geht ran.

„Hey du…“ Die Stimme meines Mitbewohners klingt wie flüssiger Honig, während er sich mit der Hand durch die frisch gewaschenen Haare streicht. Er dreht sich ein wenig von mir weg, so als würde er befürchten, dass ich etwas sehe, was ich nicht sehen soll. Ich fürchte, dafür ist es längst zu spät. Schon an seinem Gesichtsausdruck kann ich sehen, dass es nicht Abel ist, mit dem er telefoniert, sondern jemand anderes. Jemand bestimmtes.

Sie sprechen eine ganze Weile miteinander und in der Zwischenzeit tippe ich meinen Gedanken nachhängend auf meiner Tastatur Fantasiewörter zusammen. Nowibidi und Quibbeldiwob. Gerade bin ich mir nicht mal sicher, ob Jeff weiß, dass Abel schon wieder zurück ist. Ich höre Jeffs Verabschiedung und drehe mich unauffällig wieder zu ihm, als er aufgeregt quietscht.

„Yes! Jake hat wohl einen Käufer für meinen Laptop.“ Klar, einen Käufer. Er kauft ihn vermutlich selbst. Ich behalte meinen Gedanken für mich und mache stattdessen eine freudige Geste. Die Faust schwingend vor meiner Brust und ich verziere das Ganze mit einem aufgesetzten Lächeln, was Jeff sofort durchschaut. Er zeigt mir mit einem ebenso übertriebenen Gesichtsausdruck den Mittelfinger.

„Er hat mir angeboten, die alte Schüssel auf Vordermann zu bringen und alles ordentlich zu löschen“, plappert er munter und springt von seinem Stuhl auf. Ich kann dabei zusehen, wie es in seinem Kopf zu rattern beginnt und wie er sich hektisch nach vernünftigen Klamotten umsieht, die sein momentanes Couch-Potato-Outfit ersetzen.

„Besser so. Nicht auszudenken, dass der Käufer deine geheime Pornosammlung entdeckt.“ Jeffs Kopf zuckt nach oben und dann sieht er einen verdächtigen Augenblick lang zu dem alten Laptop. Verräterischer geht’s kaum.

„Jake macht sicher vorher eine Datensicherung, dann hat es sich für ihn wenigstens gelohnt“, sage ich grinsend. Falls er ihn nicht wirklich behält.

„Nicht witzig.“ Bei dem Anblick meines verwirrten Mitbewohners kann ich mir ein Lachen nicht mehr verkneifen.

„Vielleicht sollte ich…“

„..das schmutzige Zeug vorher löschen? Ja, solltest du“, beende ich den angefangen Satz. Jeff verdreht meisterlich die Augen.

„Da ist nichts drauf, wofür ich mich schämen muss.“ Er zieht sich sein Gammelshirt über den Kopf und greift nach einem schwarzen, kurzärmeligen Hemd mit einem für mich seltsamen roten Blütenmuster.

„Ooh, da will ich widersprechen…Sex and the City…Shopaholic…Greates Hits von Elton John und Celine Dion. Weißt du, mir wird immer unklarer, wieso mir nicht früher aufgefallen ist, dass du schwul bist.“ Mein Mitbewohner zieht sich bei der Aufzählung gerade eine gutsitzende, fast schon enge Jeans über die schlanken Beine und ich sehe ihm unverhohlen dabei zu.

„Weil du unfassbar ignorant und manchmal schwer von Begriff bist?“, kontert er und ich nicke es einvernehmlich ab.

„Schon möglich.“

„Eher genau auf dem Punkt...“, erwidert er keck, streicht sich durch die Haare und sieht mich an, als müsste ich ihm bestätigen, dass er vorzeigbar ist. Ich mache eine hilfelose Geste mit der Hand und Jeff scheint damit zufrieden. Er greift sich sein Schrottgerät, schiebt es in die Tasche und wirft einen Blick auf sein Handy. Jeff nickt und atmet tief durch.

„Oh,..“ An der Tür dreht er sich zu mir um, „Reden wir später?“ Ich sehe seine Aufregung und dass es ihm Leidtut, dass er mich gerade irgendwie versetzt.

„Klar.“ Das komische Gefühl in meinem Magen kehrt zurück und ich bin mir nicht mehr sicher, ob ich später noch den Mut aufbringen werde. Immerhin ist er nicht bei Abel, wenn er bei IT-Jake ist. Ein kleiner Lichtblick, wenn auch nur kurz.

Als Jeff die Tür schließt, greife ich nach meinem Telefon und lese Kains Nachricht erneut. Ich weiß noch immer nicht, wie ich das emotionale Wirrwarr in meinem Kopf einschätze. Bin ich bestürzt. Ja, irgendwie schon. Bin ich beschämt. Nein niemals. Bin ich sauer? Ja, das bin ich definitiv. Abels Dreistheit und sein dreckiges Grinsen machen mich rasend. Aber nicht nur das. Jeff bedeutet ihm nichts und auch wenn ich noch nie der gefühlsduseligste Freund war, verspüre ich das dringende Bedürfnis, dafür zu sorgen, dass Jeff schnellst möglich in den Armen eines anderen landet. Also, wenn Jake den beknackten Laptop nicht kauft, werde ich es. Und dann werde ich Jeff dazu bringen, die Neuanschaffung auch über den IT-Fritzen laufen zu lassen. So lange, bis Jeff sich gezwungen fühlt, sich besonders aufmerksam bei dem Kerl zu bedanken. Oh ja!

Was ist nur los mit mir? Von meinen eigenen Gedanken überrascht und gleichwohl entsetzt, lasse ich mich vom Stuhl auf das Bett fallen. Im Grunde schafft es nur mein Oberkörper. Der Rest bleibt zwischen Boden und Bett hängen. Ich bin so erbärmlich. Und unsicher, wie ich mit allem umgehen soll. Wäre jetzt nicht der beste Zeitpunkt, das Ganze in den Limbus zu schicken? Das mit Kain vollends zu beenden. Unsere Neugier ist immerhin gestillt. Wir wissen, dass es sich gut anfühlt und dass es mehr als geil ist. Es ist zu dem ein Wunder, dass es bis auf Sina bisher niemand mitbekommen hatte. Dezent waren wir in der letzten Zeit nicht mehr.

Mein Handy macht sich bemerkbar. Es ist Kain. Ich ignoriere den Anruf und wundere mich nicht, als er es direkt danach schriftlich versucht.

-Können wir uns in einer halben Stunde vor der Mensa treffen? Wir sollten reden.- Keinerlei Emojicons. Kain meint es ernst. Ich richte mich wieder auf, sehe auf die Uhr und beschließe, in Ruhe duschen zu gehen.
 

Als ich aus dem Gemeinschaftsbad komme, wird es mit der halben Stunde knapp. Ich schreibe Kain, dass ich mich verspäte und trotte mit der Begeisterung einer Bittermandel zum Treffpunkt.

Der Schwarzhaarige hat es sich auf einer Bank gemütlich gemacht. Seine langen Beine sind in entspannter Pose von ihm fort gestreckt. Seine Augen sind geschlossen. In einiger Entfernung bleibe ich stehen. Ich spiele mit dem Gedanken, mir eine Zigarette anzustecken, doch ich komme wieder davon ab, als sich langsam der Geschmack von Zitrone und Ingwer auf meine Zunge schleicht. Es ist nur der Hauch einer Erinnerung und doch ist es intensiv und eigenartig erfüllend.

„Schläfst du??“, ruft es mir entgegen. Ich erwache aus meinen Gedanken und schaue zu Kain. Er hat sich nach vorn gebeugt und seine Beine angezogen.

„Kannst du es mir verübeln? Ich hab ja kaum geschlafen...“, rufe ich zurück. Ich streiche mir mit der Hand durch die Haare, die an den Spitzen noch feucht sind.

„Mehr als ich...“, erwidert er ebenso laut. Ich verdrehe die Augen und verringere den Abstand zwischen uns, damit wir uns nicht mehr anbrüllen müssen. Hinsetzen werde ich mich nicht. Als auch Kain das merkt, steht er auf. Seine Hände schieben sich in seine Hosentaschen und er sieht mich an, als würde er erwarten, dass ich mit dem Gespräch beginne. Ich war noch nie gut darin und weiche diesen lästigen menschlichen Angewohnheiten lieber aus. Aber gut, ich komme nicht Drumherum.

„Kain...“brüllt es uns entgegen und schon beim Klang dieser Stimme verdrehe ich genervt die Augen. Nicht sein Ernst! Marvin kommt mit wackelnden Armen auf uns zu. Als er fast bei uns ist, erkenne ich, wie er mich kurz mustert, um dann seine ganze Aufmerksamkeit Kain zu widmen.

„Da ist ja der Mann der Stunde. Nein, des Tages.“ Der Muskelprotz breitet seine Arme aus. Sie wirken wie ein anabolikagetränktes Omen. Ich hätte an Kains Stelle bereits etliche Schritte zurück gemacht. Doch er lässt es ohne Widerstand geschehen und lächelt dabei.

„Noch mal alles Gute, Großer. Du warst so schnell aus dem Club verschwunden, dass ich keine Zeit hatte, dir das noch zu geben.“ Marvin drückt ihm ein buchgroßes, grünes Päckchen in die Hand und bei mir fällt endlich der Groschen. Kain hat Geburtstag. Heute. Auch schon heute Nacht.

„Danke, Mann“, erwidert er lachend und betrachtet das Geschenk. Er schüttelt es. Ein weiteres Rückenklopfen folgt, während Kain kurz zu mir sieht. Ich starre fassungslos zurück.

„Kann ich es hier öffnen oder sollte ich das lieber allein im Zimmer tun?“, fragt er vorsichtig und sein bester Freund beginnt zu grinsen. Lachend und wissend steckt Kain es vorsorglich in die Tasche. Ich erinnere mich daran, dass Jeff vor kurzem noch davon gesprochen hatte, dass Kain bald Geburtstag hat. Aber ich hab es wie gewohnt überhört.

„Heute lade ich dich mal zum Essen ein. Worauf immer du Lust hast!“ Marvins Blick ist starr auf Kain gerichtet. Mich ignoriert er weiter.

„Bist du sicher?“, fragt Kain. Marvin nickt.

„Okay, dann wirst du wohl indisch essen müssen. Schönes scharfes Chicken tikka masala und du wirst nach Luft hecheln und deine Augen werden tränen...“, schwärmt er und fängt nach den letzten Worten an zu lachen. Wie nett. Ich denke augenblicklich an die Snackorgie von Shari, wie lecker die Teigtaschen gewesen sind und nehme mir ein weiteres mal vor, ihr zu schreiben.

„Du mieser Sadist!“ Marvin lacht übertrieben auf und hämmert seine Pranke ein weiteres Mal gegen Kains Schulter. Dieser scheint sich aber wirklich zu freuen. Nicht nur als Höflichkeit. Ich hätte längst blaue Flecke.

Marvin stürmt bereits in die Richtung, in die ich das Lokal vermute, doch bevor auch Kain hinterhereilen kann, halte ich ihn zurück. Marvin beschwert sich lautstark. Ich ignoriere es. Kain signalisiert ihm, dass er sofort nachkommt und blickt mir lächelnd entgegen.

„Wieso hast du nichts gesagt?“, frage ich, ohne den konkreten Grund noch mal aussprechen zu müssen. Kain lacht leise auf.

„Die Phase, in der ich jedem freudig davon berichte, dass ich heute Geburtstag habe, ist schon seit gut 15 Jahren vorbei... Obwohl ich schon irgendwie auf die vielen Umarmungen stehe.“

„Du hast mich quasi auflaufen lassen“, beschwere ich mich, ohne auf den Umstand einzugehen, dass der Schwarzhaarige weich wie Butter ist. Doch als ich Kains verständnislosen Blick sehe, presse ich die Lippen aufeinander und wünschte, ich hätte es nicht ausgesprochen.

„Okay, entschuldige, du solltest es gar nicht erfahren. Außerdem kenne ich deinen Geburtstag auch nicht. Wir sind also quitt.“ Er hat Recht. Mittlerweile habe ich sogar Jeff soweit, dass er trotz Folter niemanden verraten würde, wann ich Geburtstag habe. Dabei müsste Kain nichts weiter tun, als nach der zweiten Ziffer seines Türcodes einen Punkt zu setzen und schon hat er Tag und Monat. Doch das weiß er nicht und wenn es nach mir geht, wird er es auch nicht erfahren. Mir sind die vielen, unehrlichen Umarmungen nämlich zuwider.

„Kain, komm endlich, sonst gibt es keinen Geburtstagskuchennachtisch“, ruft Marvin dazwischen. Wir sehen beide zu dem Blonden, aber nur ich fixiere ihn einen Moment länger. Sein Blick sagt mir deutlich, wie weniger er von mir hält. Er kann mich mal kreuzweise. Geburtstagskuchennachtisch, äfft es in meinem Kopf. So ein Idiot.

„Lass uns später reden, okay? Ich melde mich“, sagt Kain und sorgt so dafür, dass ich mich ihm zuwende, aber seinem Blick ausweiche. Zum zweiten Mal werde ich versetzt. Auch jetzt nicke es ich es einfach ab. Kains Hand legt sich kurz auf meine Schulter und dann folgt er seinem besten Freund. Selbst in diesem Moment schaffe ich es nicht, ihn anzusehen, sondern starre den blonden Idioten an, der in der letzten Zeit scheinbar an Kains Seite zu kleben scheint. Hat er vorher schon so viel mit dem Blödmann zusammen gemacht? Ich weiß es nicht. Es hat mich bisher auch nicht interessiert, was Kain außerhalb der Uni unternimmt. Und mit wem. Warum also jetzt? Weil ich langsam den Verstand verliere, echot es in meinem Kopf. Mit diesem Gedanken fahre ich mir durch das Haar und widerstehe dem Drang, mir wie ein Verrückter die Haare zu raufen.
 

Zurück im Wohnheim setze ich mich direkt an den PC. Mache ihn aber nicht an. Meine Finger klopfen unruhig neben der Mouse auf dem Tisch.

Ich muss irgendwas machen, was mich ablenkt. Aufräumen. Ich sehe mich um. Unser Zimmer sieht trotz Jeffs Kleiderschrankaktion erstaunlich ordentlich aus.

„Allgemeine Ablage“, flüstere ich euphorisch und merke selbst die Ironie dahinter. Doch das ist mir gerade egal. Ich sammle die auffindbaren Briefumschläge zusammen. Tantiemenschreiben vom Verlag. Rückmeldungsaufforderung der Uni. Die Reiseunterlagen, welche ich brummend über den Tisch schleudere und dann doch sorgsam wieder zusammenfächere. Brigitta macht mich noch mal wahnsinnig mit ihren Ideen und Vorstellungen. Ich hefte die wenigen Blätter ordnungsgemäß in meinen unbeschrifteten Aktenordnern ab und sitze schon wieder auf dem Trockenen.

Seufzend hole ich das Buch für Pathobiochemie hervor und werfe mich aufs Bett. Ich muss drei Kapitel zurückgehen, weil ich mich beim besten Willen nicht mehr an die Inhalte erinnern kann. Ich unterbreche meinen Lesemarathon nur für einen Snack und ein Eis. Als es langsam dunkel wird, mache ich die Nachtischlampe an und sehe zum ersten Mal auf die Uhr. Jeff ist immer noch nicht zurück. Ob er vielleicht doch bei Abel ist? Mich erfasst ein Schauer und ich lasse das Buch sinken. Mein Blick richtet sich auf das leere Bett meines Mitbewohners und die Unruhe ist wieder zurück. Diesmal werde ich sie nicht durch intensives Lesen los und merke ab und an, dass ich ganze Absätze zweimal lesen muss. Immerhin schlage ich damit Zeit tot.

Irgendwann am Abend schreibt mir Kain. Auf dem Display erkenne ich nur seinen Namen und die ersten Worte seiner Nachricht. Er ist von Essen zurück. Bravourös, wiehert das Sarkasmuseinhorn in meinem Kopf, welches ich heute Pascal taufe. Es ist mintgrün. Mir egal, dass er wieder zurück ist, denn ich stehe heute garantiert nicht mehr auf. Ich drehe mich schmollend zur Seite, ohne den gesimsten Text komplett zu lesen.

Ich stürze mich wieder auf die Pathobiochemie, bis ich aus dem Schlaf erwache und meine Wange an der Buchseite fest geklebt ist. Müde rolle mich ich in die Bettdecke ein. Zum Glück bleibt mein Denkmotor abgewürgt und ich schlafe schnell wieder ein, bis mich beim nächsten Mal das Läuten meines Handys weckt. Auf dem Display sehe ich die Nummer meiner Mutter. Noch im Halbschlaf gehe ich ran und merke nicht mal, dass meine Mutter gegen unsere Abmachung verstößt. Es ist gerade so halb 9 Uhr. Ich setze mich langsam auf und wieder machen sich meine Knochen bemerkbar. Ich sollte mich mehr bewegen.

„Hey Mama“, sage ich leise, streiche mir die Haare zurück und sehe zum Bett meines Jugendfreundes. Ein Berg Bettdecke regt sich langsam und ich spüre eine einnehmende Erleichterung, die sich bedächtig in meinem Körper ausbreitet. Jeff ist da und er hat mich nicht wütend in der Nacht geweckt, um mir den Kopf abzureißen. Das ist ein gutes Zeichen, denke ich jedenfalls.

„Guten Morgen, mein Schatz“, ertönt die Stimme meiner Mutter heiter von der anderen Seite der Leitung, „Wie geht es dir? Und sag jetzt nicht wieder `Es lebe der Verfall´.“

„Das habe ich noch nie gesagt“, stelle ich gähnend klar und höre sie mit dem Kopf schütteln.

„Na oder das, was du sonst immer sagst.“

„Ich atme, esse und unterliege dem Verfall“, kläre ich auf. Ein definitiver Unterschied.

„Genau das. Mir wäre es allerdings lieber, wenn du Dinge sagst, wie: Ich bin gesund, glücklich…“

„Und mir scheint die Sonne aus dem Arsch?“, ergänze ich trocken.

„Robin!!“, mahnt sie, doch ich höre sie leise lachen.

„Was denn? Du hast es provoziert. Du weißt, ich würde sowas niemals sagen.“ Ich drehe mich zu Jeff, der mit hochgezogener Augenbraue und verschlafener Miene vor seinem Bett steht. Richtig wach scheint er nicht zu sein. Er streckt seine Hand nach ein paar zusammengerollten Socken aus und merkt erst danach, dass er welche an hat. Daraufhin streicht er sich durch die verwuschelten Haare und angelt nach einem abgelegten T-Shirt. Während er daran schnuppert, tritt er neben mich.

„Einen wunderschönen guten Morgen Marianne“, flötet Jeff laut gegen mein Handy belegtes Ohr. Meine Mutter hätte ihn bei dieser Lautstärke auch am anderen Ende des Zimmers gehört. Zu meinem Leidwesen erwiderte sie den Gruß ebenso prompt und lautstark. Nur, dass Jeff es definitiv nicht hören kann. Menschen sind so unlogisch. Ich rolle mit den Augen.

„Herrje, geht’s noch, Leute?“, murre ich ungehalten, aber kaum verärgert. Jeff stupst mir sachte mit dem Ellenbogen in die Seite und greift sich eine Hose. Noch während ich meiner Mutter dabei zuhöre, wie sie mir von den letzten Familiengeschehnissen berichtet, verabschiedet sich mein Kindheitsfreund in die Waschräume. Mein Onkel will wieder heiraten. Zum dritten Mal. Lena ist begeistert. Meine Mutter schwankt zwischen leiser Freude und irrsinniger Bestürzung. Ich hoffe nur, dass ich nicht dabei sein muss. Sie räuspert sich kurz und ein mulmiges Gefühl breitet sich in mir aus. Das Vorige war nur das Geplänkel und nun kommt der eigentliche Knaller.

„Robin...Schatz...“, setzt sie verhängnisvoll an. Ich wappne mich innerlich schon dafür, gleich wieder lügen zu müssen, „Ich möchte dich bitten, noch einmal darüber nachzudenken, ob du nicht doch herkommen magst. Wir könnten gemeinsam…“

„Mama,…“, beginne ich flüsternd.

„Es sind fast drei Jahre…seit wir das letzte Mal gemeinsam bei ihm am Grab waren.“ Ich erinnere mich. Ich erinnere mich genau an diesen Tag. Nur mache ich das nicht gern. Ich sehe sie nicht gern weinen, höre nicht gern dabei, wie sehr sie sein Lachen vermisst und ich verstehe den Sinn dahinter nicht, wieder und wieder daran erinnert zu werden. Das Prozedere ist keinesfalls heilsam, sondern eher mühsam. Sie kauft jedes Jahr Renés Lieblingssüßigkeit und stellt sie in einer kleinen Schale auf sein Grab. Dann redet sie. Über die Familie. Das Leben, welchem René nicht mehr beiwohnt und all die Dinge, die ihm vielleicht gefallen hätten. Dann weint sie.

„Wir bezahlen dir auch die Fahrt“, bietet sie mir an, als ich schweige und reißt mich aus dem herbeigeführten Trübsal. Mein Blick fällt auf die Reiseunterlagen, die auf meinen Schreibtisch liegen. Ich strecke meine Hand danach aus, berühre mit den Fingerspitzen das glatte Papier.

„Mama, ich kann nicht. Ich nehme an einer bezahlten Vortragsreihe teil und kann es nicht mehr stornieren."

„Genau an dem Wochenende?“

„Ja.“ Und ja, ich bin ein Heuchler. Ich könnte am selben Abend bei meiner Mutter und Lena sein. Und bei René. Der Schmerz in meiner Brust wird mit einem mal so heftig, dass ich mich nach vorn lehne muss, um den Druck zu verringern. Es hilft nur nicht. Ich kann ihre Enttäuschung förmlich spüren, auch wenn sie nichts sagt und nicht bei mir ist. Sie atmet einfach. Leise, aber eindringlich. Dann atmet sie plötzlich laut ein.

„Okay, mein Schatz. Tu mir nur den Gefallen und igle dich nicht ein, ja? Ich rufe sonst Jeff an, glaub mir!“, droht sie mir zärtlich.

„Daran zweifele ich keine Sekunde.“

„Pass auf dich auf.“

„Mach ich.“ Als ich auflege, fühle ich mich fürchterlich.
 

Jeff kommt erst nach einer Stunde zurück. Seine Haare sind nass. Er ist frisch rasiert, trägt nur ein Handtuch und ich kann sein Aftershave quer durch das Zimmer riechen.

Noch bevor er vollständig eingetreten ist, echauffiert er sich lautstark darüber, dass Tobi aus dem Zimmer schräg gegenüber seine Zehnägel schneidet und die abgeschnitten Stücke einfach rumfliegen lässt. Ich bestätige seine Beschwerde mit dem angewidertsten Gesichtsausdruck, den ich parat habe und sehe dabei zu, wie er sich als erstes Socken anzieht und danach erst Unterwäsche sucht. Jeffs Tirade findet aber dadurch kein Ende. Mit jedem weiteren Kleidungstück scheint er eine weitere Ungeheuerlichkeit in dem kunterbunten Lebensraum aufzudecken, in dem er existiert. Die Unterwäsche begleitet der allgemeine Zustand der Wohnheime. Sie sind nicht mehr die neusten und welche Uni hat noch immer Gemeinschaftsbäder? Zimmer mit eigenen Toiletten und Küchen, das ist die Parole. Ich nicke beständig. Die Hose ist ein Zeichen für die unzumutbaren Qualitäts- und Quantitätsunterschiede der geisteswissenschaftlichen und naturwissenschaftlichen Fakultäten. Heute hat er seinen Motztag. Nun bin ich mir sicher. Immerhin lenkt es mich ab. Beim T-Shirt driftet er zu seinem eigenen Fachbereich ab. Geologie ist steinhart, felsenfest, wenn nicht sogar eisern. Ich hätte fast Mitleid, wäre da nicht der Umstand, dass er Steinchen dreht. Gut, es ist im Grunde noch viel mehr, aber das mit dem Mitgefühl ist bei mir eben so eine Sache. Ich liege währenddessen die ganze Zeit im Bett und verspüre keinerlei Bedürfnis, aufzustehen. Was seltsam und eigenartig ist, weil ich normalerweise derartigen Tiraden auszuweichen vermag.

Beiläufig fragt er mich, ob ich weiß, ob der PC-Pool auch sonntags offen hat. Ich weiß es nicht und lasse es mir nicht nehmen, ihn daraufhin zu weisen, dass er, mein liebeswerter Mitbewohner, seit neusten an der Quelle sitzt. Er müsse sie nur nutzen. Jeffs Wangen färben sich unvermeidlich rot. Eine Reaktion, die ich schon lange nicht mehr bei ihm gesehen habe und erstaunlicher Weise weicht er dem Thema dieses Mal nicht aus, sondern berichtet mir von dem gestrigen Treffen. Selbst von den peinlichen Momenten, die es anscheinend reichlich gegeben haben muss. Aus alldem höre ich heraus, dass Jake nicht nach einem Date fragen wird. Vielleicht ist es eine gemeinsame Übereinkunft. Vielleicht eine stille Bitte. Ich vermute es nur. Doch irgendwas in mir will sich damit nicht zufrieden geben.

Es muss doch eine Möglichkeit geben, Jeff von Abel zu Jake zukriegen, ohne dass mein Kindheitsfreund der Böse ist. Vielleicht sollte ich an Jakes inneren Macho appellieren. Oder an Jeffs in Ketten gelegten Nymphomanen. Er müsste nur ein klein wenig mehr Arschloch sein und dann würde er sich etliches ersparen können. So, wie ich. Wieder schießt mir durch den Kopf, dass jetzt der perfekte Moment wäre, um es anzusprechen. Doch mein Kopf scheint augenblicklich in einem akuten Stillstand verfallen zu sein. Nichts regt sich. Ich habe Angst vor seiner Reaktion. Seinen Worten. Angst vor dem, was ich mache, wenn es Jeff wirklich stören sollte.

Ich sehe dabei zu, wie er murmelnd und flüsternd Unterlagen auf seinem Schreibtisch hin und herräumt, ohne, dass ich einen wirklichen Sinn dahinter erkennen kann. Jeff scheint wirklich durcheinander zu sein. Hin und hergerissen. In gewisser Weise kann ich es nachfühlen. Ich bin zurzeit auch kein gefestigtes Beispiel.

Langsam wühle ich mich wieder aus der Bettdecke. Ich brauche frische Luft. Saubere, durch Nikotin und Teer gefilterte Luft. Und ich muss hier raus.
 

Draußen stecke ich mir eine Fluppe zwischen die Lippen. Ich lasse das Feuerzeug klicken und nehme es runter, ohne die Zigarette entzündet zu haben. Was ist nur los mit mir? Ich stecke die Zigarette zurück, fahre mir durch die ungekämmten Haare und sehe mich um. Diese anhaltende Rastlosigkeit geht mir auf den Geist. In diesem Moment fällt mir Jeffs Frage wieder ein und nun habe ich immerhin ein gewisses Ziel. Ich setze mir die Kopfhörer auf und trabe los.

Beim Hauptgebäude angekommen, gehe ich, ohne weiter beachtet zu werden, in die zweite Etage und bleibe vor dem PC-Pool stehen. Heute ist er geschlossen. Jeffs Frage ist damit beantwortet. Ich ziehe mein Handy hervor, tippe eine Nachricht an Jeff. Danach lese ich endlich auch Kains. Ich sehe, dass er online ist und prompt zu schreiben beginnt.

- Wo bist du?-

- Unterwegs-, gebe ich kurzangebunden zurück.

-Wo?- Ich widerstehe dem Drang, etwas Dummes, wie Planet Erde oder Campus zu schreiben und antworte mit dem Tatsächlichen. Hauptgebäude. Ich erhalte keine Rückantwort, mache ein Foto vom Öffnungszeitenschild, weil Jeff danach fragt und trabe wieder zum Ausgang.

Als ich die Treppen runterkomme, kann ich in einiger Entfernung den Schwarzhaarigen erkennen. Lässig lehnt er an der Spintreihe und schaut geradewegs in meine Richtung. Unweigerlich verlangsamt sich mein Schritt und die letzten Stufen nehme ich bedächtig und zeitschindend. Wie um alles in der Welt kann es sein, dass er genau jetzt auch hier in diesem Gebäude ist? Im Ernst? Wie? Er beobachtet mich, ohne irgendeine Geste zu machen. Er sieht mich nur an. Ich folge ohne Aufforderung und bleibe mit den Steckern in den Ohren vor ihm stehen. Seine Lippen bewegen sich. Ich lausche dem Takt der Musik.

´In your mind. Hold me like you never lost your patience. Tell me that you love me more than hate me. All the time. And you're still mine´.

„…unhöflich ist…“ Ich höre nur die letzten seiner Worte laut, als er mir mit beiden Händen die Stecker aus den Ohren zieht. Er behält sie in seiner Hand.

„Ist das eine Beschwerde?“, frage ich ruhig.

„Vielleicht.“

„Ja oder Nein?“, hake ich nach. Kain schmunzelt und lässt die Kopfhörer los.

„Du hast meine Nachricht ignoriert.“

„Ich war schon im Bett.“ Kains wachsame, braunen Augen mustern mich. Sie gleiten mein Gesicht entlang, so als würde er dadurch besser einschätzen können, ob ich schwindle oder nicht. Ich lüge nicht, denn ich lag im Bett. Ich habe nur noch nicht geschlafen, auch wenn meine Aussage derartiges impliziert. Seinem Blick halte ich stand. Das erste Mal seit langem.

„Wie war dein Geburtstagskuchennachtisch?“, frage ich, als er einfach nicht weiter spricht. Ich schaffe es allerdings nicht, den spottenden Unterton zu kaschieren.

„Schokoladig“, antwortet er ruhig. Fast Schmelzend. Nun weiche ich seinem Blick doch aus.

„Mit viel Sahne?“, bohre ich weiter. Ich quäle mich eigentlich nur selbst. Kain atmet tief ein.

„Wollen wir jetzt reden oder weiter dieses kleine Spielchen spielen?“ Sein Finger zeigt ein paarmal zwischen uns hin und her.

„Weiß nicht, haben wir Zeit zum Reden oder planst du gleich wieder mit Marvin essen zu gehen?“

„Das Spielchen also.“

„Hm.“, erwidere ich zuckend.

„Wenn ich es nicht besser wüsste, dann könnte ich denken, dass du auf meinen besten Freund eifersüchtig bist.“

„Gut, dass du es besser weißt…“

„Okay, verstanden, du kannst ihn nicht leiden.“

„Wohl eher er mich nicht...“, berichtige ich. Kain schaut mich fragend an und scheint sich an etwas zu erinnern. Anscheinend ist ihm der Umstand nicht neu. Und ich kann einen weiteren Namen auf meine Anti-Liste setzen.

„Marvin kriegt sich wieder ein“, beschwichtigt er.

„Ist mir egal...“

„Robin...“ Mein Namenperlt mit dieser besonderen Betonung von seinen Lippen. Ich spüre einen feinen Schauer, der sich über meinen Nacken bis zu meinem unteren Rücken zieht. Ich weiß nicht wieso, aber ich bleibe still.

„Was hat Abel gesagt?“, fragt er gelassen, lehnt sich wieder zurück gegen den Spind und verschränkt die Arme vor der Brust. Ich hadere mit mir. Sollte ich ihm erzählen, dass mir Abel droht. Sollte ich ihm beichten, dass ich es ebenso tue? Dass wir uns gegenseitig fast an die Gurgel gegangen sind und dass meine Unterredung mit ihm im Grunde gar kein Ergebnis brachte. Abgesehen von dem offensichtlichem, dass ich Abel nur noch weniger mag. Nein, das muss er alles nicht wissen. Ich hole tief Luft, verschränke meine Arme ebenfalls und sehe überall hin, nur nicht ihn an.

„Er meinte, dass es ihm sicher sehr schwer fallen wird, vor Jeff zu verheimlichen, was er gesehen hat“, sage ich so ausdruckslos, wie ich nur kann. Mein Gegenüber mustert mich kritisch. Ich zucke mit den Schultern.

„Und da Arschkriecherei nicht in mein Repertoire gehört, nehme ich an, dass es bald jeder weiß“, ergänze ich und sehe, wie zur Bestätigung Kains Augenbrauen nach oben zucken. Er erwidert nichts, sondern schließt die Augen.

Möglicherweise ist nun doch der Zeitpunkt gekommen, um das Ganze zu beenden. Schnell und schmerzlos.

„Vielleicht sollten wir…“, beginne ich.

„Nein!“

„Du weißt gar nicht, was ich sagen wollte.“

„Aber ich kann es mir denken…und nein!“

„Und wenn ich jetzt vorgeschlagen hätte, für einen Quicki auf Klo zu verschwinden?“ Kain sieht mich an, hin und her schwankend, ob er meiner Aussage Glauben schenken soll oder nicht.

„Trotzdem nein“, sagt er und klingt dabei erstaunlich sicher. Wie kann er nur so ruhig sein? Es ist mir ein Rätsel. Stört es ihn nicht? Ich denke an nichts anderes mehr. Ich denke auch daran, dass es Sina weiß und dass mich das nicht ansatzweise aufgewühlt hat. Nicht mal ein bisschen. Doch dass Abel uns gesehen hat, macht mich rasend. Der Gedanke daran, dass Jeff es erfahren könnte, ausgerechnet von ihm, verursacht mir ungewöhnlich viel Unwohlsein. Ich weiß nicht mal wieso. Es ist schließlich nur Sex und Jeff hat mir selbst viel verheimlicht. Er braucht sich also nicht wundern, wenn ich damit bei ihm nicht hausieren komme.

„Es scheint dich überhaupt nicht zu stören. Wieso nicht?“ Kain antwortet nicht sofort, sondern zuckt erstmal nur mit den Schultern und wirft die Hände in die Höhe.

„Keine Ahnung, es ist nur Abel...“

„Der es Jeff sagt...“

„Und?“

„Das darf er einfach nicht“, belle ich aufgebracht.

„Wieso ist es ein Problem für dich?“

„Wieso für dich nicht?“, frage ich Retour. Immerhin hat Kain mehr Image einzubüßen als ich.

„Aber es ist doch nichts dabei. Es ist nur... Eigentlich wundert es mich nur, dass sie es nicht längst mitbekommen haben...Ich meine, Sina weiß es auch und wir sind nicht unbedingt zurückhaltend.“ Meine Gedanken hängen dem abgebrochenen Satz nach.

„Ist es, weil du noch sauer bist, dass Jeff dir nicht selbst von Abel erzählt hat?“, fährt er fort.

„Ich bin und war nie sauer, dass er mir nicht von Abel erzählt hat“, zische ich schärfer als gewollt. Kain legt bedeutungsvoll seinen Kopf schief.

„Ich war sauer, dass er mir nicht anvertraut hat, dass er schwul ist. Abel hätte er mir ruhig verheimlichen können. Ich wünschte sogar, mir wäre seine Existenz auch jetzt noch unbekannt“, erläutere ich. Kain schnauft leise und schafft es nicht, sich das Grinsen zu kneifen. Ich verstehe es trotzdem nicht. Er sagt, es sei nichts dabei. Es sei eben nur Sex. Also nichts von Bedeutung, weshalb es ruhig jeder erfahren kann. Kain lehnt weiterhin gegen den Spind und schaut mich an.

„Was?“, frage ich, weil ich seinen Blick nicht ganz deuten kann.

„Ich weiß nicht, ich kann mir nicht vorstellen, dass dein und Abels Gespräch so gesittet abgelaufen sein soll.“

„Von gesittet habe ich auch nie etwas gesagt. Ich hab es dir nur grob zusammengefasst. Ich wollte ihn einfach nur bitten seinen Mund zu halten...“ Kain seufzt.

„Was ist passiert?“

„Wie gesagt, ich wollte ihn einfach nur bitten seinen Mund zu halten... aber dann hat er etwas Fieses gesagt. Ich auch, dann wieder er und dann ich. Und dann hat er mich geschubst und ich ihn... Du weißt ja.“ Kains Augen weiten sich von Wort zu Wort.

„Habt ihr euch...“, beginnt er und streckt seine Hand nach mir aus. Er zieht mich am Kragen meiner Jacke näher. Und obwohl ich seine Vermutung gestisch verneine, spüre ich, wie seine warme Hand vorsichtig den Kragensaum meines Pullovers runterzieht und er einen kurzen Blick auf die freigelegte Haut wirft. Kain schließt seine Augen und atmet tief ein.

„Ich bin kein Wilder. Ein blaues Auge reicht mir“, beschwichtige ich. Mittlerweile leuchtet es schon Lila.

„Lass mich raten, du hast trotzdem weiter provoziert...“

„Nicht mehr, als er mich...“

„Und denkst du nicht, dass das zur Eskalation beigetragen haben könnte?“

„Möglicherweise. Aber ich kann mir ja nicht alles gefallen lassen...“

„Ich meine ja nur, dass du dieses Verhalten besser dossieren könntest“, erklärt er hoch diplomatisch. Ich bin beeindruckt und würde applaudieren, wenn es nicht harte Kritik an meiner Art und Weise wäre.

„Ab und an ein bisschen.“ Kain formt zur Verdeutlichung seines Maßnahmenvorschlags einen minimalen Abstand zwischen Daumen und Zeigefinger. Erweitert ihn, um ihn gleich darauf wieder zu verkleinern. Ich greife nach seiner Hand und ersticke die Geste im Keim.

„Ich hab es verstanden.“

„Wirklich?“, hakt er nach und betrachtet mich kritisch. Ich drücke seine Hand mit beiden Händen wieder runter und behalte sie gefangen. Kain lächelt und zieht sie nicht zurück. Ich spüre die Hitze, die von ihr ausgeht an meinen Fingern. Auf meine Haut. Erst nach einem Moment entferne ich meine linke Hand und danach auch die Rechte.

„Vielleicht“, relativiere ich, wie aus einem Zwang heraus.

„Wieso diskutierst du dauernd mit mir, Spatz?“, fragt er und ich funkle ihn wegen des Spitznamens an, zucke aber mit den Schultern. Spaß. Freude. Vielleicht finde ich es auch geil.

„Wäre doch sonst langweilig“, argumentiere ich flapsig. Kain sieht kurz an mir vorbei, packt mich ruckartig am Kragen und zieht mich zu sich heran. Ich stoße leicht quietschend die Luft aus, weil es mich überrascht.

Mein Körper durchfährt ein aufgeregtes Kribbeln, welches sich in meiner Magengegend bündelt und dort verweilt. Kain grinst gewinnend und fährt dann mit seinen braunen Augen mein Gesicht ab. Diesmal als zärtliche Geste.

„Du kannst einfach nicht anders, oder?“, flüstert er.

„Wäre doch son...“, setze ich wiederholt an, doch Kain unterbricht mich mit einem gierigen Kuss. Ich fühle mich sofort wie benebelt. Das vertraute Aroma seiner Lippen wird durch das fieberhafte Verlangen in mir nur noch verstärkt. Mein Körper bettelt und giert nach seinen Berührungen und dem Gefühl, ihn ganz nah bei mir zu spüren. Wir hätte niemals damit anfangen dürfen. Das Küssen macht mich weich und schrecklich dumm.

Wir hören eine Tür ins Schloss fallen und lösen uns augenblicklich voneinander. Kain räuspert sich und streicht mir die Jacke glatt.

„Ich werde noch mal mit Abel reden. Vielleicht bin ich etwas besser in Kehrseite tätscheln, als du.“ In meiner Hosentasche vibriert es.

„Wie eloquent du das ausgedrückt hast“, säusele ich und ziehe mein Handy hervor. Ein verpasster Anruf von Brigitta. Mehrere Nachrichten. Seit wann bin ich so beliebt?

„Du solltest es Jeff einfach sagen“, rät mir Kain.

„Was? Sonst machst du es? ...Ich muss los“, sage ich, schüttele den Kopf, ohne ihm zu erzählen, dass ich es gestern beinahe getan hätte und seither nur noch mehr zweifele. Ich wende mich ab und gehe ich ans Telefon.

„Sei gegrüßt, Sahnebaiser...“, flötet meine Lektorin durchs Telefon.

„Werden dir jemals diese zuckrigen Begrüßungen ausgehen? Sie sind scheußlich.“

„Niemals, mein kleiner Sour Drops.“ Ich stöhne gequält auf. Nicht nur wegen der sich anbahnenden Zahnschmerzen.

„Hey,…wir könnten auch mal zusammen essen gehen…“, ruft mir Kain hinterher und ich drehe mich wieder zu ihm um, lasse das Telefon dabei kurz sinken.

„Machen wir doch…ständig in der Mensa“, erwidere ich abschließend und ebenso laut. Ich lasse ihm keine Zeit, etwas zu erwidern und gehe schnurstracks Richtung Ausgang.

„Okay, was willst du?“, frage ich ruppiger als nötig, als ich wieder rangehe.

„Zuckerhase, du solltest das Angebot annehmen. Ein wenig Zerstreuung täte dir ganz gut...“

„Beim Mittagessen?“

„Für mich klang, dass nach einem Date.“

„Mach dich nicht lächerlich.“ Brigitta seufzt, als ich das sage und murmelt mehrere Male `Oh man, Oh man`. Ich kann mir vorstellen, wie sie ihre Brille zurück auf die Nasenwurzel schiebt und ihren Kopf schüttelt.

„Hast du die Reiseunterlagen bekommen?“, erkundigt sie sich, ohne weiteren Small Talk. Ich weiß es sehr zu schätzen. Ich bin sowieso nicht ganz bei der Sache.

„Ja.“

„Wirst du es schaffen?“

„Hab ich denn eine Wahl?“

„Du klingst, als würde ich dich zu einer Untat zwingen.“

„Ihr begeht die Untat, weil ihr mich auf naive Mädchen loslassen wollt. Ich werde Träume vernichten, das ist euch klar? Nicht, dass es mich stört“, erkläre ich wahrheitsgemäß und bleibe vor dem Wohnheim stehen.

„Du bist gar nicht so hart, wie du immer tust...“ Ich ziehe mir wieder eine Zigarette hervor, schiebe sie mir zwischen die Lippen und zünde sie diesmal an. Aus den Augenwinkel heraus sehe ich Jeff und Abel im Foyer stehen und reden. Sofort wende ich meine volle Aufmerksamkeit den beiden zu. Ich spüre, wie mein Herz zu rasen beginnt, wie die Zigarette auf und ab wippt, weil meine Hände zittern.

„...hast du gehört?“ Damit holt mich Brigitta kurz zurück.

„Ehrlich gesagt nicht. Ich melde mich später noch mal, okay?“; sage ich und lege auf. Im selben Moment blickt Jeff zu mir und bewegt sich zur Tür. Als Abel erkennt, wen sein Freund entdeckt hat, ändert sich sein Gesichtsausdruck schlagartig. Ich könnte schwören, dass es in seinen matten Iriden zu funkeln beginnt. Nur für einen Moment, aber so intensiv wütend, dass sich mein Magen einmal mehr verdreht. Jeff drückt energisch die Tür auf.

„Ist es wahr?“
 

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PS: Ich danke euch von Herzen! Aufrichtig und ehrlich, auch wenn ich eine schrecklich lahme und unbefriedigende Kommiebeantworterin bin!! Es tut mir echt leicht T__T Ich verspreche, dass ich es morgen nachhole und hoffe, ich kann euch mit dem neuen Kapitel gnädig stimmen.
 

Ihr seid die Besten <3

Von der Kunst, zwischen den Zeilen zu lesen

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Ich weiß nicht, was ich wollen soll

Kapitel 26 Ich weiß nicht, was ich wollen soll
 

Jeffs blaue Augen funkeln mir entgegen. Diesmal bin ich mir sicher, dass er von keiner meiner lang zurückliegenden Eskapaden spricht oder von Sina. Nein, diesmal meint er das, wovor ich mich schon so lange drücke. Jeff wartet darauf, dass ich etwas erwidere, aber ich kann nicht. Stattdessen sehe ich dabei zu, wie mein Kindheitsfreund hartnäckig seine Lippen aufeinanderpresst und jeden Moment wie ein Ballon anschwillt und abhebt.

„Und?“, entflieht ihn mit einem geblähten, ausstoßenden Laut.

„Es ist nicht, was du denkst“, sage ich aus der Gewohnheit heraus und bringe es nicht über die Lippen, es nur Sex zu nennen oder es überhaupt irgendwie zu benennen.

„Ach komm! Ist das dein Ernst, nicht mal jetzt kannst du es zugeben?“, blafft er wütend zurück. Er streicht sich fahrig durch die ungemachten Haare und schüttelt seinen Kopf.

„Ich weiß es schon eine ganze Weile… also lass es. Und ich verstehe es nicht.“

„Was genau verstehst du nicht?“

„Wieso du es mir nicht gesagt hast.“

„Was willst du denn jetzt hören?“, watsche ich zurück. Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, warum ich es ihm nicht gesagt habe. Am Anfang war es Sex und nichts anderes. Nichts, was ich Jeff jemals brühwarm aufgetischt hätte. Nie habe ich und nie werde ich.

„Die Wahrheit wäre ganz nett.“

„Hey, komm...“, entgegne ich angepisst, “Ich habe dich nie belogen und du bist doch genauso selbstverständlich davon ausgegangen, dass es mir vollkommen egal ist, dass du schwul bist und einen Freund hast. Also, bitte ... ich ging von der gleichen Annahme aus. Meine Sexgeschichten haben dich sonst auch nicht interessiert.“ Seine Überreaktion regt mich auf und das soll er wissen. Auch, wenn dieses `So, wie du mir, so ich dir` ziemlich kindisch ist.

„Ganz toll. Du gibst mir die Schuld, weil ich dir nicht sofort gesagt habe, dass ich schwul bin und einen Freund habe? Wärst du nicht so ein ignoranter Idiot, hättest du es von allein gemerkt. Und die Tatsache, dass du mir das mit Kain nicht erzählt hast, zeigt doch deutlich, dass du nicht denkst, dass es mir egal ist.“ Langsam dreht sich mein Schädel. Ich brauche von der letzten Tirade eine Kurzfassung.

„Was?“, entflieht mir demzufolge genervt und Jeff antwortet mir prompt.

„Du hattest nicht den Arsch in der Hose und es ist dir nicht egal, was ich denke“, bellt er mir das Resümee zu. Wäre ich nicht so verwirrt und sauer, würde ich ihm danken. Er hat Recht. Erst war es mir nicht wichtig und dann hatte ich einfach nicht den Mut.

„Nein, ist es nicht und es gibt gar nichts zu erzählen. Es ist Sex.“ Nun hab ich es doch gesagt.

„Sex mit Kain!“ Der ausgesprochenen Namen des schwarzhaarigen Mannes setzt in meinem Körper eine seltsame Regung in Gang. Alles beginnt zu kribbeln. Doch gerade ist es mir unangenehm. Ich wende mich frustriert von meinem Mitbewohner ab, fahre mir seufzend durch die Haare und einmal übers Gesicht. Wie heißt es noch mal? Fidibidiverschwindibus? Klappt nicht. Jeff holt gerade wieder Luft.

„Du vertraust mir nicht. Was denkst du denn, was ich getan oder gesagt hätte?“

„Keine Ahnung. Vermutlich, dass du es überdramatisierst und Dinge hineininterpretierst, die nicht stimmen. Genauso, wie du es jetzt machst“, pampe ich ihn an, als ich mich wieder umdrehe.

„Das mache ich nur, weil du mir nie etwas erzählst und mit Kain schläfst.“

„Kannst du damit aufhören!“

„Womit?“

„Na, es ständig auszusprechen!“

„Was, dass du mit Kain schläfst? Ihn vögelst? Dass ihr den Nacktboogie tanzt. Ihr beide miteinander fickt?“ Wie lautmalerisch.

„Oh, bist du endlich fertig?“, belle ich genervt, „Ja, genau das! Lass das.“ Wenn Jeff noch einmal ausspricht, dass ich mit Kain schlafe, dann werde ich garantiert zum Grinch. Mein Kindheitsfreund schaut mir unentwegt und seltsam entschlossen entgegen und mir wird deutlich, dass unser Gespräch noch lange nicht beendet ist. Ich wappne mich für einen weiteren hysterischen Jeffanfall und schiele unauffällig zu der Schublade mit meinen geräuschunterdrückenden Kopfhörern. Irgendwo habe ich auch noch Ohropax und ein Eis könnte ich auch gebrauchen. Oder Pudding. Jeff holt tief Luft und atmet dann zu meinem Erstaunen einfach nur langsam und beruhigend aus.

„Klär mich auf, bist du jetzt ... bi, schwul...pan? Und wieso Kain?“

„Was? Wie bitte...Was ist das für eine Frage?“ Ich stoppe mich selbst, als ich für einen Augenblick darüber nachdenke, dass die erste Frage durchaus berechtigt ist. „Keine Ahnung. Ist das wichtig?“, stottere ich erst energisch, dann seufzend resigniert. Grundsätzlich hadere ich mit den richtigen Worten. Denn mir fällt eindeutig auf die Füße, dass ich selbst noch nicht über all das nachgedacht habe. Verdrängen war so viel einfacher gewesen. Noch dazu stellt sich mir die Frage, ob ich mich wirklich kategorisieren lassen muss. Auf den zweiten Teil antworte ich nicht.

„Und das mit dir und Kain ist was genau?“

„Ähm...pff...eindeutig... Wahnsinn.“, druckse ich rum. Ich blase während meiner Erklärung ein paar Mal kurz die Wangen auf. Jeff starrt mich verbissen an. Anscheinend ist es nicht das, was er von mir hören will. „Okay, es war Neugier. Reine nackte Neugier.“ Jedenfalls zu Beginn, aber nackt sind wir definitiv.

„Neugier? Nackte Neugier.“, wiederholt er knurrend, „Verdammt Robin, willst du mich verarschen. Weißt du eigentlich, wie schwer es für mich gewesen ist? Wie oft ich früher vor Verzweiflung am liebsten geheult hätte? Ich habe das Jahre lang mit mir rumgeschleppt, gehadert und gezögert und du sagst, dass du einfach so aus reiner Neugier mit Kain fickst? Fuck, wie oft wollte ich dir...“, bellt er mir haltlos entgegen und stoppt. Jeff beißt die Zähne zusammen und schnauft. Er gesteht mir ein Teil seiner vergangenen und gegenwärtigen Gefühlslage und ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Ich sehe ihn eindringlich an und hoffe inständig, dass es nicht das ist, was ich denke.

„Das kann nicht dein Ernst sein! Verdammt Koch, wenn du mir jetzt erzählst, dass du in mich...“, werfe ich ihm erschrocken an den Kopf.

„Was? Nein!!!“

„Gut!“

„Gut!“, knallt er mir ebenso energisch entgegen. Wir beide halten kurz die Luft an. Ich spüre, wie ein wenig der angestauten Anspannung von mir abfällt und atme deutlich in die Stille hinein. „Na ja, vielleicht ein bisschen...“, hängt er mit einem Mal leise ran und mein Magen macht eine direkte Kehrtwende. Was ist das Gegenteil von Looping? Rückwärts, quer und dreimal um die eigene Achse.

„Jeff, was zum Teufel?“, entflieht mir entsetzt. Das ist ein Albtraum.

„Früher, okay!“, entgegnet er schnell, „Ich hatte eine Phase, da war ich ein bisschen in dich verliebt. Ich meine, du bist die Person, die mir neben meiner Mutter immer mit am nächsten war und als ich merkte, dass meine Mädchen-sind-doof-Phase nicht in eine Mädchen-sind-doof-aber-geil-Phase umschwenkte, da war ich ... na ja...eine Weile in dich verknallt.“ Ich starre ihn die ganze Zeit über ungläubig an.

„Verknallt?“, wiederhole ich apathisch.

„Alles ganz harmlos.“, versichert er mir.

„Harmlos?“ Ich kann es immer noch nicht fassen.

„Ja. Es waren nur ein paar Fantasien und es gab mir die Möglichkeit, mich mit dem Ganzen auseinanderzusetzen. Und mittlerweile weiß ich, dass du ganz und gar nicht mein Typ bist“, plappert er, „Aber du bist mein bester Freund und ich dachte nach dem ganzen Chaos mit Abel, dass wir endlich ehrlicher zueinander sind.“ Als er endet, erfüllt nur unser Atem den Raum. In meinen Ohren dröhnt er. Jeff dreht sich um, geht auf sein Bett zu und lässt sich rücklings darauf fallen. Ein Sockenknäul hüpft hoch und rollt zu Boden. Ich sehe dabei zu, wie es unter seinen Schreibtisch liegen bleibt und sehe dann erst zurück zu meinem Jugendfreund. Er stützt sich auf beiden Armen hoch und sieht mich an. Ich lasse mich achtsam auf meinen Schreibtischstuhl nieder und erwidere seinen Blick nur halbherzig. Meine Gedanken kreisen. Ich denke an all die Situationen, die mir hätten einen Hinweis geben können. Es gab sie. Etliche. Mit einem Mal kommt mir auch unser Kuss wieder in den Sinn. Zehnte Klasse. Es war eine verlorene Wette meinerseits und Jeff hat sich ganz uneigennützig zur Verfügung gestellt. So aufopfernd war er wohl doch nicht gewesen.

Ehrlicher sein. Jeffs Wunsch. Jeffs Vorstellungen. Er war schon immer ehrlicher, anhänglicher, nervig interessiert und hin und wieder sogar kuschelig. Er ist vertrauenswürdig und das schätze ich sehr an ihm. Auch, wenn es mein Leben manchmal schwerer macht, weil er das auch von mir fordert.

„Wow, ich hätte nicht gedacht, dass ich dir das jemals erzähle“, beichtet er und klingt dabei mehr als erleichtert. Mein Magen rumpelt lautlos, aber deutlich. Diese Art des Gesprächs ist mir unglaublich unangenehm und ich muss stark gegen meinen Fluchtreflex ankämpfen.

„Und ich wünschte mir nichts sehnlicher, als dass du es mir nie erzählt hättest“, gebe ich in gewohnter Weise knirschend retour. Jeff neigt seinen Kopf hin und her und ich bin mir sicher, dass er mich in seinen Gedanken nachäfft. Vermutlich habe ich das genauso verdient.

„Schon klar.“, kommentiert er dennoch. So sehr ich mich auch dagegen wehre, aber im Grunde überrascht mich die Offenbarung gar nicht. Jeff hat Recht, wenn ich all die Jahre aufmerksamer gewesen wäre, dann wären mir viele Dinge früher aufgefallen und mit Sicherheit hätte ich ihm damit einiges erträglicher gemacht. Aber so bin ich nicht und so werde ich auch nie sein.
 

Dieses Gespräch war wirklich lange überfällig und so sehr ich es auch verabscheue, umso mehr schätze ich Jeffs Offenheit und verteufele meine Rumdruckserei. Doch, was hätte ich ihm sagen sollen, wo ich doch selbst nicht weiß, was ich mit dem Schwarzhaarigen für eine bizarre Geschichte habe. Ich weiß noch nicht einmal, was ich von dieser Ausgehidee halten soll und am wenigsten verstehe ich, was Kain damit bezweckt. Er kann doch unmöglich denken, dass ich... dass wir...

„Okay, also Neugier und Sex... und das heute ist was? Ihr geht zusammen essen... also, ein Date?“ Jeffs Fragen lassen mein Gedankenkarussell innehalten. Fast sofort kippt mein Kopf verdrießlich nach vorn. Für einen winzigen Moment lang hatte ich die Hoffnung, es endlich überstanden zu haben.

„Was um Himmelswillen lässt dich diese Annahme treffen?“, frage ich fast schon entsetzt, aber allen voran genervt. Ich habe nichts Derartiges angedeutet, noch habe ich erwähnt, dass ich mich mit Kain treffe. Wie kommt überhaupt irgendjemand darauf, dass Kain und ich ein Date haben könnten? Na ja, abgesehen von Kain selbst.

„Wieso solltest du sonst ein Geheimnis darum machen wollen? Du triffst dich doch mit Kain, nicht wahr?“, kontert Jeff und lässt dabei seine Füße wackeln. Er hat Unrecht, denn ich mache aus allem ein Geheimnis. Ganz besonders dann, wenn es um so eine Thematik geht. „Außerdem ist Kain nicht so der Typ für lockere Sachen“, ergänzt er mutmaßend. Das hat er schon einmal gesagt und schon damals wusste ich nichts mit dieser Information anzufangen, außer, dass es mir egal war. Kain ist ein erwachsener Mann.

„Bist du jetzt auch Verhaltensexperte? Woher willst du das so genau wissen?“, erwidere ich ungerührt. Ich spare mir die Argumentation, dass, entgegen jeder Erwartung, Kain das lockere Fickverhältnis vorgeschlagen hat. Nicht ich. Und es hat auch recht lange funktioniert. Eigentlich war auch Kain derjenige, der mich verführte. Doch je angestrengter ich darüber nachdenke, umso mehr Momente fallen mir ein, in denen es weit intensiver war, als nur der Akt selbst. Und ich bin nicht ganz unschuldig daran, denn auch ich habe ihm mehr Raum zugestanden, als ich wollte. Außerdem habe ich es weitaus mehr genossen, als ich es dürfte.

„Also kein Date, oder doch?“ Ich stoße geräuschvoll die Luft aus und versuche, meinen Jugendfreund bestmöglich zu ignorieren. Gar nicht so einfach. Zudem interpretiert Jeff mein Schweigen als Bestätigung.

„Ist das eigentlich dein erstes... richtiges...?“, hakt er nach und lässt sich bei jedem Wort eine Unmenge Zeit. Ich unterbreche ihn als ich begreife, worauf es abzielt.

„Jeff! Du willst doch nächstes Jahr nochmal Geburtstag haben, oder?“ Der Name meines Jugendfreundes perlt resigniert von meinen Lippen.

„Ich frag ja nur...“

„Wir sind lediglich zwei Menschen, die sich der obligatorischen Nahrungsaufnahme widmen. Und jetzt hör auf zu fragen“, warne ich, nachdem ich dabei zusehe, wie Jeffs Augenbraue beeindruckend weit nach oben wandert. Im Grunde ist es genau die Definition, die ich Kain einmal per Nachricht geliefert habe, als ich mich über sein und Marvins Date lustig gemacht habe. An die Tatsache, dass Kain ebenso von einem Date sprach, als er mich fragte, versuche ich in diesen Augenblick nicht zu denken. So oder so, es ein Date zu nennen, macht es keineswegs einfacher oder sinnvoller für mich. Genervt wende mich nach einem kurzen Blick auf die Uhr meinem Kleiderschrank zu. Obwohl ich der Überzeugung bin, dass es sich nicht um eine wirkliche, echte Verabredung handeln kann, sollte ich wenigstens ein sauberes Oberteil anziehen. Damit spiele ich allerdings Jeffs fabulöser Schnapsidee nur noch mehr in die Hände.

„Du ziehst etwas anderes an!“, stellt er fest und schiebt noch ein Interessant hinter her. Ich lasse das Kleidungsstück in meiner Hand bezeichnend sinken.

„Und?“, entflieht es mir mit deutlich überstrapazierten Nerven.

„Ich könnte dir etwas Ordentliches von mir leihen“, schlägt er vor. Ich schnaufe.

„Ich weiß, dass ich in deinen Augen eine modische Katastrophe bin, aber nein... das ist nur ein Essen.“

„Klar“, erwidert er knapp und bleibt danach auffällig still. Ich drehe mich wieder zum Schrank und krame darin rum. „Wenn man es nur oft genug sagt...“, hängt er murmelnd mit ran. Ich verstehe es jedoch deutlich und ignoriere ihn. Jeff erhebt sich vom Bett und setzt sich zurück auf seinen Schreibtischstuhl. Seine Beine schlägt er übereinander. Sofort wippt sein Fuß unruhig auf und ab und verursacht dabei ein sehr nerviges reibendes Geräusch. Nach dem dritten aussortierten Shirt wende ich mich wieder um, weil der Laut immer penetranter wird.

„Okay... Was?“

„Nichts.“, sagt er. Zu schnell. Zu spitz. Jeffs Bein stoppt. Ich starre ihn an und sein Fuß zuckt. Danach seine Zehen.

„Sag einfach, was du sagen willst“, harsche ich ihn an.

„Okay!“ Abwehrend heben sich seine Hände in die Höhe. „Ich schnalle es einfach immer noch nicht.“ Erneut entsteht eine Pause.

„Was schnallst du nicht?“, frage ich, als Jeff allein keine Anstalten macht.

„Na, du und Kain. Wie kann es sein, dass ihr zwei Heten auf einmal auf die Idee kommt, miteinander ins Bett zu gehen? Im Ernst, Neugier, mehr nicht? Einfach so?", fragt er skeptisch. In Ermangelung einer plausiblen Erklärung nicke ich. Jeffs Blick straft mich voller Unglauben und ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Denn genauso ist es gelaufen. Kain klopfte an meiner Tür, offenbarte mir, dass Jeff schwul ist und nachdem er mich in Grund und Boden genervt hat, haben wir uns betrunken der frivolen Bettwühlerei hingegeben. Das nenne ich eine Geschichte, die man definitiv nicht seinen Eltern erzählt und besser auch niemand anderen.

„Du machst mich fertig, weißt du das?“, entfährt ihm geschafft, „Wie genau muss ich mir das eigentlich vorstellen?“

„Was bitte willst du dir vorstellen?“ Am liebsten wäre mir, wenn er sich gar nichts vorstellt. Niemals. Eine, der kleinen Warnleuchten in meinem Kopf beginnt zu rotieren. Das machen sie nicht allzu oft. Jeff streicht sich, bevor er mir antwortet, ein paar imaginäre Fusseln vom T-Shirt.

„Na, ist das nur so ein bisschen grabbeln, rubbeln und Frotting a la Highschool zwischen euch oder geht’s so richtig zur Sache?“ Ich beiße die Zähne zusammen und kann nicht verhindern, dass bei Jeffs Umschreibung mein Kopf verzweifelt nach vorn kippt. Frotting? Wieso macht er sich über sowas Gedanken?

„Wer liegt bei euch oben?“, fährt er fort. Nicht sein Ernst? Mir entflieht ein weiteres Mal sein Name und ich bin immer wieder begeistert, wie vielfältig die Betonungsmöglichkeiten sind. Diesmal ist es eine herzhafte Mischung aus Entsetzen und Genervtsein. Es ist tief und langgezogen mit einer passenden Welle nach dem Vokal. Ich atme tief durch, ordne die Reste meiner Fassungslosigkeit hinter meiner Fassade der Gleichgültigkeit ein und versuche, das Gespräch schnellstmöglich in eine andere Richtung zu lenken. Es zu beenden, hat ja leider nicht funktioniert.

„Woher weißt du es überhaupt?“, frage ich, statt ihm zu antworten. Ich werde jetzt nicht anfangen, irgendwelche Details mit ihm zu sprechen. Außerdem interessiert mich brennend, ob Abel seine Klappe nicht halten konnte oder ob Jeffs Intuition und Kombinationsgabe wirklich so herausragend ist, wie er gern behauptet. Ich würde Variante eins bevorzugen und Abel bei der nächsten Gelegenheit gern eine reinhauen. Dafür braucht man keine Intuition und Kombinatorik.

„Ich hab meine Quellen“, gibt er prompt von sich und sieht dabei mächtig überzeugt aus. „Hast du?“, hake ich ungläubig nach.

„Ja! Und entgegen deiner Überzeugung, bin ich nicht bescheuert. Die Zeichen waren eindeutig. Du warst noch geheimnisvoller als sonst, ständig weg und da waren die Knutschflecke und die Nachrichten“, präsentiert er mir seine Ermittlungsarbeit. Nichts weiter als Indizien und alles keine Erklärungen dafür, wie er auf Kain kommt. Immerhin war ich auch mehrmals weg, als Kain bei Jeff war. Eismesse sei Dank. Es hat mir das Zombiemassaker erspart.

„Muss ich dich jetzt Sherlock nennen?“

„Pff, Jefflock bitte und weißt du was? Es gab sogar Tage, da warst du derartig entspannt, dass es mir Angst gemacht hat... wie hätte ich also nicht drauf kommen können?“, fährt er fort. Ich verdrehe die Augen. Jeder ist mit regelmäßigem Sex entspannter. Selbst grummelige Steine, wie ich. „Und was ist das nun wirklich mit dir und...“

„Sag ich dir, wenn ich es raus gefunden habe.“ Diesmal unterbreche ich ihn, bevor er eine weitere dieser peinlichen Fragen stellen kann. Zu bestreiten, dass es überhaupt irgendwas ist, scheint bei Jeff sowieso nicht zu fruchten. Also lasse ich es. Mein Kindheitsfreund steht wieder auf, lässt sich zurück auf sein Bett fallen und reibt sich den blanken Bauch. Vermutlich war sein Pizzawunsch nicht nur so daher gesagt.

„Werden wir jemals normal darüber reden können?“ Jeff schmatzt leise.

„Wenn du aufhörst, nach Sex zu fragen... möglicherweise.“

„Witzbold.“ Ich kann nur ein leises `Das ist doch das Spannende` hören, reagiere aber nicht darauf. Er versteht, dreht sich murrend auf den Bauch, vergräbt sein Gesicht ins Kissen und beginnt danach zu meinem Leidwesen, irgendein Zeug zu plappern. Wenigstens scheint er nicht mehr sauer zu sein oder zu mindestens hebt er sich seine Rache für einen Moment auf, in dem ich nicht mehr damit rechne. Drauf hätte er es. Ich lasse die Geräuschuntermalung kommentarlos über mich ergehen, während ich ein halbwegs passables T-Shirt finde, über das ich mir letztendlich einen Pullover ziehe. Logik ist heute ausverkauft.
 

Bevor ich das Zimmer verlasse, vibriert mein Telefon. An der Tür bleibe ich stehen, ziehe es aus der Hosentasche und entdecke eine Nachricht von Kain. Im ersten Moment zögere ich, sie zu öffnen. Mein Herz stolpert blindlinks vor Aufregung. Etwas, was ich schon lange nicht mehr gespürt habe. Das Display wird wieder schwarz, bevor ich die Nachricht lesen kann. Was, wenn er absagt? Was wenn ihm klar geworden ist, dass es eine Schnapsidee ist, mit mir auszugehen? Ich weiß nicht, warum es mich derartig beunruhigt. Dann eben nicht, sage ich mir. Es wäre mir doch egal. Oder? Ich unterdrücke jeden weiteren Gedanken daran, schalte das Handy wieder ein und öffne seine Nachricht.

-Muss noch schnell ein Buch wegbringen. Die Bibliothekarin hat mir auf die Finger gehauen. Lauf nicht weg- Untermalt wird das Ganze von mehreren Zwinkeremojis. Unwillkürlich fange ich an zu lächeln und wische mir selbst mehrmals über den Mund, um es wieder weg zubekommen. Jetzt werde ich auch noch zum grinsenden Volldeppen.

Nicht weglaufen. Leichter gesagt als getan.

-Komme dir entgegen-, antworte ich ihm. Ganz ohne Smileys.

„Viel Spaß“, flötet mir Jeff zu, den ich, nach einem kurzen Blick zurück, grinsend und zurückgelehnt auf seinem Stuhl entdecke. Ich antworte ihm diesmal mit meinem Mittelfinger und verschwinde aus dem Wohnheim.

Fast automatisch ziehe ich draußen meine Packung Zigaretten hervor und stocke, bevor ich mir wirklich eine zwischen die Lippen stecke. Das feine Kribbeln in meiner Lunge ist nur ein Schatten meines sonstigen Bedürfnisses. Also schiebe ich die Zigarette zurück in meiner Hosentasche und atme stattdessen die abendschwere Luft ein.
 

Ich schaffe gerade die Hälfte der Strecke, als sich mein Handy erneut zu regen beginnt. Diesmal ist es ein Anruf. Seufzend versuche ich ihn so lange wie möglich zu ignorieren. Doch mein Anrufer ist hartnäckig.

„Ich bin nicht in Stimmung“, sage ich ohne lästige Begrüßung oder fadenscheiniger Freundlichkeit, als ich den Anruf meine Lektorin annehme. Ein unbeeindrucktes Kichern antwortet mir.

„Gut, dass mir das herzlich egal ist, mein kleiner luftiger Cronut. Also blas dich ruhig weiter auf.“ Ich kann nicht verhindern, dass ich mir genau das vorstelle und versuche seufzend die Szenerie aus meinem Kopf zu verbannen. Brigitta fühlt sich urkomisch und macht mir das geräuschvoll deutlich.

„Kriegst du Bonusmeilen für jeden unnötigen Anruf?“

„Schön wäre es. Dann hätte ich dank dir schon einen Freiflug nach Australien und wieder zurück. Und keiner meine Anrufe ist unnötig.“ Mit Sicherheit. „Mohnkringel, ich lass dich ja gleich wieder in Ruhe. Ich möchte nur ein paar Dinge wegen des Wochenendes mit dir abklären.“

„Wenn es sein muss.“ Sie startet noch einmal mit dem Ablauf des Treffens und fragt mich, auf welchem Stand ich bin. Allerdings erst, als ich den Vormittag schon im Quadrat kotzen kann. Wie sie richtig vermutet, habe ich irgendwann aufgehört, ihre Änderungsmails zu lesen und habe mich stattdessen mit Kain beschäftigt. Es war meiner Laune deutlich zuträglicher, als zum wiederholten Mal zu lesen, dass sich die Pause um eine halbe Stunde hin und her verschiebt. Solange ich meinen Pudding bekomme, ist es mir egal, wann ich ihn bekomme. Und ich bin der Überzeugung, dass ich das meiner Lektorin auch irgendwann auf die Mail antwortete. Brigitta bestätigt mir, dass ich das dem gesamten Verteiler kundgetan habe.

„Es werden noch drei weitere Autorinnen teilnehmen.“ Sie nennt mir ihre Namen. Mir kommt keiner davon bekannt vor. “Hoffentlich bekommen wir einen guten Austausch zustande und können einen ersten Fahrplan festlegen. Es wird bestimmt ganz toll.“

„Großartig!“ Meine Begeisterung lässt sich kaum bändigen. Mein internes Sarkasmuseinhorn macht einen doppelten Toeloop. Heute nenne ich es Vinny. Er kriegt nur 8 von 10 Punkten, denn der Abgang ist bitter.

„Und als letztes! Denkst du bitte daran, gute Laune mit zubringen“, mahnt mich meine Lektorin wenig subtil an.

„Ich dachte, sie sollen mein wahres Ich kennenlernen?“, bemerke ich trocken und kann mir nicht verkneifen, dass ich bei dem Gedanken kurz mit den Augen rolle. Sowas absurdes.

„Mein liebster Karamellbonbon, du sollst keinen beruflichen Selbstmord begehen. Sei einfach du selbst, mit ein bisschen mehr Flausch, Spaß und rosa Wolken.“

„Du willst also meine Hülle gefüllt mit Toffifee, Zuckerwatte und Karies.“

„Ganz genau!“, flötet sie melodisch. Ihre klare, direkte Antwort lässt mich resigniert seufzen. Das kann nicht ihr Ernst sein? Unwillkürlich streiche ich mir massierend über die Wangen, weil ich jetzt schon den Muskelkater vom vielen scheinheiligen Rumgelächele spüre. Mein Tod in Plüsch und rosafarbenen Salztoffis. Das Wochenende wird mein Untergang oder sie merken, dass es keineswegs sinnvoll ist, mich auf zahlende Kundschaft loszulassen. Wenn ich Glück habe, tritt die Erleuchtung noch vor der Mittagspause ein und ich kann mir einen Muskelkrampf ersparen.

„Ich glaube daran, dass du dich bestmöglich präsentieren wirst.“ Ja, als Ebenezer Scrooge des Verlags.

„Gut, dass das nur intern ist“, kommentiere ich und streiche mir durch die Haare. Ich bleibe zwischendrin hängen. Ich hätte sie mir vielleicht noch mal kämmen sollen. Überhaupt habe ich nicht noch mal in den Spiegel gesehen und fahre mir nun als Resultat dessen mit der Hand über meine stoppeligen Wangen.

„Du solltest mehr Vertrauen in dich selbst haben. Du wirst das sicher gut machen“, versichert sie mir euphorisch. Ich zweifele nur weiter. Brigitta kann mit mir umgehen. So als Geist meiner vergangenen, gegenwärtigen und beruflichen Zukunft. Viele können das nicht und für gewöhnlich endet das mit Tränen und ohne Eis für Robin.

„Ich muss jetzt los“, sage ich das Einzige, was mir noch dazu einfällt.

„Uuh, das Date?“

„Wieso sagst du das... so?“

„Also ist es eins?“, fragt sie prompt zurück. Ich hätte lieber auflegen sollen. In meinem Kopf ist es einen Moment seltsam leer, weshalb eine schnelle, ablehnende Erwiderung ausfällt. „Ah, fantastisch. Ich hoffe doch mit dem Schnuckelchen, den ich bei dir im Wohnheim getroffen habe! Der charmante Adonis mit diesem herrlichen dunklen Haar. Wie hieß er doch gleich? Matt... André...Es war etwas Kurzes...“ Brigitta klingt wie ein Fangirl. Ich kriege Zahnschmerzen und das nur vom Zuhören. Nur ungern denke ich an den Moment zurück, als mir Brigitta im Wohnheim entgegen stöckelte und sie ausgerechnet Kain meine neuen Bücher ausgehändigt hat. Der richtige Name des Schwarzhaarigen folgt erst nach einer erstaunlich langen Liste an Möglichkeiten, die mich so gleich erschüttert, als auch mit etlichen Fragen zurücklässt, die ich keines Wegs stellen werde.

„Ich weiß nicht, wovon du sprichst.“

„Du meinst von wem?“, korrigiert sie belustigt und quietscht erneut.

„Mal im Ernst, bist du zwölf? Und ganz ehrlich, das passt überhaupt nicht zu mir, also höre auf, dir das vorzustellen.“

„Ach, wie könnte ich nicht? Vor allem, wenn mein liebster Schokodrops endlich begreift, dass ein soziales Leben nichts Gefährliches ist.“ Dem möchte ich energisch widersprechen, komme nur nicht dazu, weil meine nun angeheizte Lektorin weitere zutreffende Spitzen verteilt.

„Ich habe...“

„... ein soziales Leben? Nein Zuckerspatz, grummelig ab und an mit mir ein Eis zu essen, ist keine soziale Aktivität. Egal, wie zauberhaft deine Lektorin und die junge Bedienung sind.“ Ich schmatze resigniert. Sie spielt auf Luci an. Auch bei ihr sollte ich mich langsam wieder melden und ein Eis könnte ich auch gebrauchen. Vielleicht ist nach dem Essen noch etwas Zeit, geht es mir durch den Kopf, bevor ich von Brigitta zurückgeholt werde, die eine weitere Kariesbombe über mir explodieren lässt. Irgendwann finde ich ihr zuckriges Notizbuch und werde es verbrennen!

„Bist du fertig?“

„Hach, wenn du mich nur lassen würdest...“, flötet sie und ich bin mir sicher, dass sie mir noch etliche weitere Lebensweisheiten mitteilen könnte, die ihrer Meinung nach mein Leben bereichern würden, wenn ich sie nur lasse.

„Niemals...“

„Ich weiß. Ich wünsche dir einen wundervollen Abend voller Amour und la Passion! Wir sehen uns morgen und dann will ich alle Details, mon petit four.“ Weitere Zuckrigkeiten folgen und diese sind alle auf Französisch. Noch mehr ertrage ich nicht.

„Ja. Ja.“, gebe ich von mir und lege auf, während ich weitere französische Säuseleien höre. Wenn Brigitta wüsste, dass ich schon längst unzählige Details habe, dann würde sie mich nicht mehr aus ihren Fängen lassen und wahrscheinlich nie wieder mit ihrem unmelodischen Französisch aufhören.
 

Als ich das Telefon in die Hosentasche zurückschiebe, streifen meine Finger erneut die Packung Zigaretten. Meine Lunge britzelt, schreit, doch der Geschmack auf meiner Zunge wird schon jetzt bitter. Also lasse ich die Zigarettenpackung an Ort und Stelle und gestehe mir ein, dass ich an einen ganz anderen Geschmack denke. Ich streiche mir über die unruhigen Lippen. Mehrmals, ohne eine Besserung zu verspüren.

Okay, ich bin nervös. Ich weiß nicht, wieso, aber ich bin es und es geht mir auf die Nerven. Noch dazu verstehe ich absolut nicht wieso. Immerhin ist es nur Kain. Und es ist nur ein Essen. Ein stinknormales und nichtssagendes Essen. Mittlerweile habe ich es so oft gesagt, dass ich es glatt glauben könnte. Nur tue ich es nicht. Immerhin hat auch Kain mehrmals dieses böse Wort mit vier Buchstaben in den Mund genommen und ich habe es ihm beim Nachfragen auch noch bestätigt. Ein Date. Ja, ein Date. Was habe ich mir dabei nur gedacht?

Erst das lauter werdende Geklacker von hochhackigen Schuhen auf Asphalt holt mich wieder ins Hier und Jetzt zurück. Ich sehe auf in der Annahme, eine dieser Barbies durch die Gegend stöckeln zu sehen, doch es ist noch viel schlimmer. Der Campus ist so gut wie ausgestorben. Nur noch wenige Studenten sind hier und mein Weg kreuz ausgerechnet den des großen roten Drachens. Wo ist der alles dahinraffende Virusausbruch, wenn man ihn braucht? Die Horde Zombies? Ich male mir aus, wie sie stolpert und... hach, soviel Blut. Leider bleibt meine Fantasie Fantasie.

Ich habe die beruhigenden Glimmstängel zu schnell ausgeschlossen. Vielleicht brauche ich sie doch. Denn sie hat mir gerade noch gefehlt. Meine Hand wandert zu meiner Hosentasche. Unauffällig beobachte ich, wie sie mich ebenfalls bemerkt, als sie von ihrem Handy aufsieht, kurz stockt und dann, wie sie ihren Weg fortsetzt. Vielleicht geht sie einfach an mir vorbei und ich kann mir Nerven und Stimme sparen. Zu meinem Leidwesen bleibt sie wirklich auf meiner Höhe stehen und ich schaffe es nicht, ein eindeutig unwilliges Raunen zu unterdrücken. Die Rothaarige verschränkt ihre Arme vor der Brust und bleibt augenscheinlich unbeeindruckt. Mein Blick wandert zu ihrer Tasche, die lässig auf ihrem linken Unterarm hängt. Ich mache demonstrativ einen kleinen Schritt zurück und behalte unablässig die Schwungwaffe im Auge. Diesmal ist es eine andere, als beim letzten Mal. Sie sieht wesentlich weicher und leichter aus. Auch sie mustert mich wie immer mit diesem despektierlichen Glanz.

„Ich entschuldige mich nicht“, sagt sie schnell und hoch. Ihre Nasespitze neigt sich dabei nach oben.

„Hab ich auch nicht erwartet...“

„Und ich meinte, was ich sagte. Ich werde Kain nicht einfach so aufgeben.“

„Klar! Findet er sicher ganz toll, seine verrückte Ex ständig im Nacken zu haben“, kommentiere ich abschätzig. Das ist doch verrückt. Wie kann man nur so verblendet sein? Die Rothaarige knurrt.

„Ich liebe ihn und ich bin mir sicher, dass ihm das noch etwas bedeutet. Es ist also vollkommen egal, was du ihm erzählst oder wie oft du ihm sagst, dass ich dumm bin“, palavert sie. Ich höre es mir an und schnaufe missbilligend. Unter anderen Umständen wäre ihre Entschlossenheit bewundernswert, doch in diesen Moment ist es einfach nur absurd. Sie beobachtet mich ganz genau und ihre Hände ballen sich wie schon beim letzten Mal zu Fäusten. Auch das wirkt einfach nur lächerlich.

„Du hast ein bisschen zu viele von diesen kitschigen Liebesromanen gelesen, oder?“

„Du meinst von dem Schund, den du schreibst.“ Obwohl ich es nicht zeigen will, trifft es mich trotzdem, wenn sie so über meine Bücher spricht. Ich schreibe schließlich keine Groschenromane.

„Mal im Ernst, Obsessionen sind nur in Büchern und Filmen attraktiv und das auch nur bis zu einem gewissen Grad. Hast du mal überlegt, dich untersuchen zu lassen? Du gibst eine gute Psychopathin ab.“

„Du kannst nur beleidigen, oder?“ Und erstaunt gucken, weil sie es verstanden hat.

„Immerhin... und was kannst du? Ehrlich, du bist fernab jeder annährend realistischen Charakterentwicklung.“

„Du treibst keinen Keil zwischen uns“, wiederholt sie wie eine Endlosschleife an Dummheit und Ignoranz und ich verdrehe wenig galant meine Augen. Es ist, als würde man einem Hunde Sitz zu rufen und er macht einen Purzelbaum.

„Erklärst du mir mal, wieso du überhaupt auf die Idee kommst, dass ich nur eine Minute damit verschwende, mit Kain über dich zu reden? Glaub mir, ich habe eindeutig besseres zu tun. Und ich weiß nicht, was es ist, was er je an dir mochte, aber du solltest langsam verstehen, dass auch er seine Gründe hatte, sich von dir zu trennen und du machst es nicht besser, indem du ihm auf die Nerven gehst“, knalle ich ihr deutlich vor dem Latz und für meine Verhältnisse sogar relativ freundlich. Sie geht mir auf den Kreisel. Dabei begrenzt sich unser Kontakt nicht mal auf das Nötigste und schon das könnte meiner Meinung nach noch weniger sein. Die Rothaarige beißt die Zähne zusammen. „Und die schlechteste Idee von allen ist es, mich damit zu behelligen“, lasse ich weniger freundlich folgen.

„Ich weiß das, du daran schuld bist, dass Kain sich von mir abwendet, denn bevor du auf der Bildfläche erschienen bist und dich in sein Leben gedrängt hast, wollte er wieder mit mir zusammenkommen.“ Ihre Stimme zittert. Vor Wut? Ärger? Erneut ballen sich ihre Hände angestrengt zusammen. Sie schnieft leise, versucht sich aber zusammenzureißen. Sich derartig vor mir zu entblößen, ist vermutlich das Letzte, was sie will.

„Sag mal, hast du ein Sprung in der Platte? Fass dir endlich an die eigene Nase und frag dich, wieso er mit mir mehr Spaß hat, als mit dir.“

„Ich werde kämpfen und ihn zurückgewinnen.“

„Wow, klar... Tu, was du nicht lassen kannst und spiel weiter die verrückte Ex. Die Rolle deines Lebens. Aber belästige mich nicht damit und ...“, setze ich an, doch dann breche ich es ab, “Nein, weißt du was, ich gehe jetzt einfach. Das ist mir zu dumm.“ Den letzten bezeichnenden Rest kriegt sie nur noch zurückgerufen zu hören, denn ich bin bereits beim Reden losgelaufen. Ich höre sie ein quietschendes Geräusch von sich geben und wie einer ihrer hochhakigen Schuhe klackend auf dem Boden knallt. Sie hat tatsächlich mit dem Fuß gestampft, wie ein kleines Kind. Ich bin nur halb so belustigt, wie ich es gern wäre. Sie geht mir so sehr auf die Nerven. Vor allem, weil sie Kain nicht in Frieden lässt. Noch ein weiterer Punkt mehr, der gegen den Ausbau unserer Verbindung spricht. Sie wird nicht locker lassen und ich würde sie irgendwann erwürgen. Ich hätte im Knast sicher keine Chance.
 

Als ich vor der Bibliothek ankomme, lasse ich mich ermattet auf eine der Bänke fallen. Trotz fortgeschrittener Tageszeit ist es noch immer warm und ich ziehe meine Jacke aus. Ich schließe für diesen Moment die Augen und genieße die Ruhe vor dem Sturm.

Das Gespräch mit Jeff steckt mir in den Knochen. Ich verstehe seine grundsätzliche Enttäuschung darüber, dass ich nicht früher erwähnt habe, was der Schwarzhaarige und ich manchmal so treiben. Immerhin empfand ich das Gleiche, als ich von Kain erfahren musste, dass Jeff auf Männer steht und seit einem halben Jahr mit einem Kerl liiert ist. Trotzdem ist es nicht vergleichbar. Kain und ich sind kein Paar und bisher war es wirklich nur Sex gewesen. Ich bin bis vor kurzem nicht mal auf die Idee gekommen, darüber nachzudenken, ob es mehr ist. Auch jetzt kann ich es mir schwer vorstellen. Doch auch Kain hat so etwas in der Art angedeutet. Ich hätte so gern eine Anleitung, die mir beschreibt, was die nächsten Schritte sind. Darüber muss es doch Bücher geben? Ratgeber oder Selbsthilfelektüre. Ich war schon lange nicht mehr so verunsichert. Auch die erneute Auseinandersetzung mit der rothaarigen Hexe macht ihr Übriges. Ich seufze leicht. Wenigstens scheint Kain sein Interesse an ihr wirklich runtergefahren zu haben. Ihre Verzweiflung spricht deutliche Bände und ich verspüre eine schaurig schöne Genugtuung. Es erheitert und erleichtert mich. Letzteres mehr, als ich dachte.

Ich bin so in Gedanken, dass ich nicht merke, wie sich jemand neben mich auf die Bank setzt. Ich zucke zusammen, als ich seinen warmen Atem an meinem Ohr spüre und sich augenblicklich die gesamte Fläche meines Halses hervorpellt.

„Buh…“

„Fuck, Kain“, gebe ich verärgert von mir. Der Schreck wandert in Form von bibbernder Haut von meinem Hals bis zu meiner Brust.

„Oh, ich habe eigentlich auf eines von diesen niedlichen ´Huch`s gehofft...“, kommentiert er. Ich schaue ihn entgeistert an und muss zum Glück nichts darauf erwidern, weil im selben Moment sein Telefon zu klingeln beginnt. Er schaut nur missmutig aufs Display und lässt es wieder sinken. Ich positioniere meine Augenbraue in eine fragende Stellung und zucke mit den Schultern, weil ich nicht weiß, was er mir mit seinem Blick andeuten will. Das Klingeln reißt nicht ab, also geht Kain ran und murmelt nach einem Augenblick den Namen der Rothaarigen. Sein freier Arm legt sich über seinen flachen, trainierten Bauch. Er kommt nicht zu Wort und ich bin mir sicher, genau zu wissen, was sie ihm da gerade ins Ohr wettert. Ich äffe sie von Kain unbemerkt nach, lasse meine Augen unbeeindruckt durch die Gegend wandern. Ich wiege dabei meinen Kopf leicht hin und her. Als ich zu ihm zurückblicke, beobachtet er mich ganz genau. Okay, er hat es doch bemerkt. Neckend tippt er mir an die Wange und lächelt. Der Mann macht mich fertig.

„Merena, hol tief Luft, geh shoppen oder baden. Ich habe jetzt keine Zeit für sowas.“ Damit legt er auf und überrascht mich im selben Moment. Kein umfangreiches Gespräch. Kein großspuriges Schönreden und Beschwichtigen. Er hat einfach aufgelegt. Mit dem Telefon in der Hand dreht er sich wieder zu mir und macht dabei einen seltsamen kleinen Ruck, so dass sein Knie gegen meins stößt und dort verweilt. Ich sehe auf die Stelle unserer Berührung und kann nicht verhindern, dass mir noch eine Spur wärmer wird.
 

„Du warst wieder unvergleichbar charmant, wie ich höre“, berichtet er mir.

„Ich weiß nicht, was du meinst“, sage ich ausweichend und weiß ganz genau, wovon er spricht. Ich suche mir einen neckischen Punkt in kurzer Entfernung und starre ihn an. Er fährt mit seinen Augen mein Profil ab, sucht nach der richtigen Antwort und wird keine finden.

„Wieso schafft ihr es nicht, euch wie Erwachsene zu benehmen?“

„Liegt nicht an mir“, watsche ich den Vorwurf ab, „Sie fordert mich jedes Mal praktisch heraus.“ Kain schnaubt belustigt. Er versteht nicht, was mein Problem mit ihr ist. Wird er vermutlich auch nie. Ich verstehe es manchmal selbst nicht. Immerhin kann sie mir eigentlich reichlich egal sein.

„Womit? Ihrer bloßen Anwesenheit?“ Ich nicke energisch. Kain greift sich an die Stirn und seufzt. „Du kannst einfach nicht damit aufhören, oder? Du provoziert und provoziert.“ Seine Stimme ist ruhig und gefasst und trotzdem höre ich die leise Verzweiflung heraus.

„Das ist nun mal meine Titelmelodie und jeder braucht ein Hobby“, kläre ich ihn abermals auf, ohne auf den Vorwurf einzugehen, dass auch er denkt, dass ich daran schuld bin. Kain sieht mich verständnislos an und ich bin mir sicher, dass er längst weiß, dass seine Rothaarige und ich niemals Freunde werden. „Ist dir klar, dass sie denkt, dass ich verhindere, dass ihr wieder zusammenkommt und du dir tief in deinem Herzen nichts sehnlicher wünscht, als sie zurück zu erobern?“ Den letzten Teil gebe ich mit besonders übertriebener Schnulzenstimme von mir und mache direkt danach ein Würgegeräusch. Danach blicke ich in verwundertes Braun.

„Wie kommt sie darauf?“

„Das fragst du mich?“, kontere ich baff, „Ich bitte dich! Allerdings hätte ich ein paar Theorien.“

„Na, die will ich hören“, entgegnet er prompt. Kains Arm legt sich auf die Rückenlehne hinter mich und er macht es sich gemütlich. Oberflächlich gesehen ist es nur eine einfache, legere Haltung. Doch ich spüre seine Finger, die meine Schulter treffen. Ein feines Streicheln. Nur ab und an. Sehr unauffällig und doch scheint jeder dieser kleinen, bedachten Berührungen durch meinen Körper zu explodieren und schwingen, wie ein Donnerhall. Die Härchen an meinem linken Arm richten sich angeregt auf, streichen über den Stoff des Pullovers und für einen Moment wünsche ich mir, ihn mir einfach über den Kopf ziehen zu können, damit Kain meine blanke Haut trifft.

„Als erstes Dummheit!“, starte ich meine Argumentationskette.

„Zu platt“

„Gut. Arroganz...“, schlage ich als nächstes vor. Kain schüttelt nur ablehnend den Kopf. „Wahrscheinlich sendest du ihr unklare Signale.“

„Welche Signale?“, hakt er amüsiert nach. Ich zucke symptomatisch mit den Schultern.

„DVDs gucken. Tanzen. Küsse. Gemeinsamer Urlaub.“ Die Aufzählung verlässt meine Lippen ohne, dass ich wirklich darüber nachdenke. Infolgedessen strafft Kain seine Schultern und ihm entflieht ein geräuschvolles Murren, während er sein Handy zurück in seiner Hosentasche schiebt.

„Komm schon, das habe ich alles erklärt und sie weiß auch, dass nichts davon eine Bedeutung für mich hatte und es war kein gemeinsamer Urlaub.“ Daran glaub ich nicht. Für sie waren seine Signale mehr als eindeutig, denn für mich waren sie ebenso missverständlich.

„Scheinbar versteht sie es nicht. Wie so vieles!“

„Ich rede mit ihr.“

„Genauso wie die letzten Male?“

„Nein, ich sage ihr deutlich was Sache ist.“ Nun bin ich es, der lacht. Kains Finger tippen mir sanft in den Nacken. Sie streicheln sich kreisend über die feinen Härchen, die am Haaransatz spitz zusammenlaufen.

„Und was bitte ist Sache? Du willst ihr doch nicht ernsthaft erzählen, dass du dich in anderen Gewässern tummelst.“

„Wieso nicht? Ist immerhin die Wahrheit und Interessen können sich wandeln, das ist menschlich“ Noch einmal fahren seine Fingerspitzen mein Genick entlang. Diesmal gleiten sie bis zu meinem Ohr, treffen dort auf die feinbehaarte Helix. Das Kitzeln ist intensiv und dringt tief in mich ein. Ich spüre es am gesamten Körper und mit Sicherheit kann Kain eine weitere Reaktion auf meinem Hals erkennen. Er ist mir ein Rätsel. Ich bin so durcheinander wie lange nicht mehr und er sitzt neben mir und sagt, dass er kein Problem damit hat, wenn es scheinbar jeder erfährt. Macht er sich gar keine Gedanken? Es ist absurd und ich kann es nicht vollkommen ernst nehmen.

„Wenn du meinst. Ich habe ihr jedenfalls gesagt, dass ich nichts beeinflussen kann und dass ganz allein du die Entscheidung triffst, ob du wieder mit ihr zusammen kommst oder nicht. Aber sie ist total verbohrt und verblendet... so eine blöde Kuh.“ Während ich das sage, wende ich meinen Blick ab, beuge mich leicht nach vorn und entgehe so auch seinen zärtlichen Berührungen. Etwas entfernt läuft ein Pärchen an uns vorbei, welches mit ihrem Hund spazieren geht. Sie halten Händchen. Sie unterhalten sich leise. Ich sehe ihnen nach. Kain beugt sich ebenfalls vor, greift mir unters Kinn und zwingt mich so, ihn anzusehen.

„Glaubst du das auch?“, fragt er mich. Ich zucke mit den Schultern.

„Was weiß ich.“

„Was, wenn ich dir sagen, dass du es sehr wohl beeinflussen kannst?“ Er beugt sich näher an mich heran. Für einen kurzen Moment spüre ich seine Lippen an meinem Mundwinkel. Nur als Hauch und als das Wegfliegen eines allesversprechenden Schmetterlings.

In meinen Büchern wäre das einer dieser Momente, in denen die Protagonistin versteht, was sie wirklich fühlt oder sich mit einem Mal ihrer Gefühle sicher ist. Ich merke das feine Kribbeln an der berührten Stelle, weiß, dass es etwas ist, was ich nur mit ihm fühle, aber ich verstehe noch immer nicht, was es genau bedeutet. Vielleicht kann ich es nicht verstehen oder will es auch nicht.
 

„Jeff, weiß es übrigens“, erzähle ich leise, breche damit den intensiven Moment und gebe das preis, was mir schon die ganze Zeit Kopfschmerzen bereitet. Kain hält in seiner Bewegung inne. Seine Finger, die eben noch meinen Hals berührten, sinken auf seinen Schoss zurück.

„Was genau?“ Ich mustere sein Gesicht. Mir fällt es schwer, in den dunkelbraunen Augen zu lesen. Ich verstehe bei ihm so vieles nicht.

„Er weiß, dass wir beide miteinander ficken“, kommentiere ich und betone es dabei deutlich. Kain zieht scharf die Luft ein. Ob er das wegen des Umstands macht, dass Jeff es weiß oder wegen meinen drastischen Worten, ist mir nicht klar. Allerdings merke ich, wie er neben mir ein paar Mal unruhig hin und her rutscht.

„Und er macht jetzt sicher Freudensprünge?“, fragt er mit zusammengebissenen Zähnen und einem übertriebenen Grinsen.

„Er war ziemlich sauer, weil ich es ihm verheimlicht habe. Er meinte, er würde nicht verstehen, wie wir zwei Heten auf die Idee kommen, miteinander ins Bett zu gehen“, gebe ich zum Besten. „Oh und noch dazu hat er mir gestanden, dass ich anscheinend seit der Schule hin und wieder Hauptakteur in seinen Fantasien gewesen bin. So viel zu den Freudensprüngen.“

„Bitte was?“, hakt Kain nichtverstehend nach.

„Soll ich dir ein Bild malen?“ Ich lasse es mir nicht nehmen, meine Worte mit einer eindeutigen Geste zu untermalen, bei der ich meine locker gefasste Faust über meinem Schritt auf und ab bewege.

„Oh... scheinbar ein sehr intensives Gespräch, was ihr da hattet. Und Lena hat also recht.“ Kain entweicht ein seltsames Lachen. Er streicht sich durch die schwarzen Haare und lehnt sich zurück.

„Früher. Ich bin nicht mehr sein Typ... und Lena hat keineswegs Recht“, entflieht es mir mit der gesamten Situation überfordert. „Verdammt! Sicher hat Abel gequatscht und glaub mir, wenn ich ihn das nächste Mal sehe, dann werde ich ihn...“ Kurz deute ich einen Punsch an, lasse die Hand aber wieder sinken. Ich lehne mich wieder nach vorn und stütze meine Arme auf den Knien hab, während ich mein Gesicht in die Handflächen fallen lasse.

„Er weiß es von mir...“, sagt er unvermittelt. Ich drehe meinen Kopf zu dem anderen Mann und erblicke nur sein Profil. Kains Mund bewegt sich unruhig hin und her und ich bin mir sicher, dass er sich auf die Wange rum beißt.

„Kannst du das wiederholen?“ Das muss ein Scherz sein. Ein schlechter noch dazu. Kain schließt seine Augen und seufzt.

„Ich befürchte, er weiß es von mir.“

„Wie bitte?“ Nun scharf. Unbewusst versteifen sich meine Schultern und ich setze mich aufrecht hin.

„Entschuldige! Ich... ich hab mich wohl verplappert.“

„Zu welcher Gelegenheit kann man sich bei sowas verplappern?“, frage ich entgeistert und schwelend sauer. Der Schwarzhaarige zuckt fahrig mit den Schultern und schlägt seine langen Beine übereinander.

„Im Gespräch halt.“

„Worüber?“ Kain stöhnt. Hat er wirklich gehofft, dass ich es mit der Begründung ruhen lasse?

„Jeff hatte sich irgendwann mal darüber beschwert, dass Abel nach dem Sex fast nie mit ihm kuschelt und wie scheiße er das findet und da rutschte mir raus, dass du auch so bist.“ Kain entschlägt seine Beine wieder und beugt sich nach vorn, um seine Arme abzustützen. „Ich habe mich gleich verbessert und erklärt, dass ich denke, dass du auch so bist... aber... na ja, er hat sich seinen Teil wahrscheinlich gedacht.“ Natürlich hat er das.

„Großartig. Wieso hast du nichts gesagt?“, frage ich anklagend. Nun weiß ich, wieso Jeff andauernd so seltsame Kommentare abgelassen hat und wieso er in der letzten Zeit so neugierig gewesen ist. Kain schenkt mir einen Blick, der mir sagt, dass meine Frage mehr als überflüssig ist.

„Okay, ich ziehe die Frage zurück.“ Er hat es mir nicht gesagt, weil er ganz genau wusste, dass ich sauer werde. Was ich ja auch bin. So offenkundig und klar, dass Vinny die Hufe aneinander schlägt und wiehernd im Kreis galoppiert. Da soll noch mal einer sagen, ich vertrage keinen Sarkasmus.

„Warum redet Jeff mit dir über sowas?“

„Mit wem soll er sonst reden. Immerhin kann ich etwas zu Beziehungsproblemen sagen und du nicht.“

„Ich kann dir auch etwas dazu sagen.“

„Ach ja?“

„Ja, wenn du keine hast, hast du auch keine Probleme.“

„Nicht hilfreich, Spatz!“, seufzt er mir entgegen und lehnt sich wieder zurück. Sein Arm wandert hinter meinen Rücken zurück und ich spüre fast sofort seine warme Hand in meinem Nacken. Die kitzelnden Finger. Die feinen Schauer.

„Mir Spitznamen zu verpassen ist auch nie hilfreich und dennoch machst du es andauernd“, erwidere ich schwach und weniger ablehnend, als jemals zuvor. Kain verdreht die Augen und geht nicht weiter auf meinen stupiden Ausbruch ein.

„Und was hast du ihm nun gesagt?“, hakt er nach und lässt ein weiteres Mal seine Finger über meinen Nacken tanzen. Das entstehende Prickeln beginnt im unteren Bereich meiner Rippen und zieht bis in meinen Kiefer, wo es mich beinahe schnurren lässt. Doch ich reiße mich zusammen. Auch, wenn es mir fast schon schwerfällt. Stattdessen beiße ich die Zähne zusammen.

„Ich hätte ihm lieber weiterhin gar nichts gesagt.“ Aber Jeff musste mich ja so lieb nerven. Ich werde weich.

„Das wollte ich nicht wissen… Also…“ Er macht eine dazu passende auffordernde Geste.

„Also….“, äffe ich ihn leise nach, „Nichts weiter. Nur, dass wir aus Interesse angefangen haben, miteinander zu schlafen.“ Schlicht und einfach wahr. Jeffs verwunderte Worte kommen mir in den Sinn und dass er sich nicht vorstellen könne, dass nur Neugier ausschlaggebend war. Als ich zu Kain sehe, merke ich, dass er mich mustert.

„Neugier?“, wiederholt Kain. „Das hat er dir abgekauft?“

„Ich denke schon, dass er mir das abgenommen hat. Schließlich war es Neugier, Alkohol und Geilheit.“, gebe ich die unrühmlichen Gründe unseres erstes Sexgetümmels wieder und vermeide den Gedanken an Kain als großer geiler Wolf. Trotzdem kann ich nicht verhindern, dass ich dämlich grinse.

„Weißt du, dass er mir vorgeworfen hat, dass ich ihm nur deshalb nichts erzählt habe, weil er mir seine Beziehung zu Abel verheimlicht hat? Als wäre ich derartig kindisch. Und dann wollte er wissen, ob wir jetzt ein Paar werden“, sage ich und lasse es so grotesk klingen, wie ich es empfinde. Ich lehne mich komplett zurück und lasse auch meinen Kopf nach hinten kippen. Der Baum, unter dem wir sitzen, scheint aus dieser Position heraus riesig zu sein. Doch die Stille neben mir lässt mir keine Ruhe. Erst als ich mich ihm zuwende, bricht Kain sein Schweigen.

„Okay, klär mich mal auf... was ist das hier für dich? Abgesehen von einer kompletten Lachnummer“, fragt er gerade heraus und deutete zwischen uns hin und her. Der Ton seiner Stimme sagt mir, dass er es nicht so witzig findet, wie ich. Hätte ich doch lieber die Klappe gehalten. Ich puste geräuschvoll Luft aus und lasse mein linkes Bein hin und her kippen, grabe dabei mit dem Hacken ein Kuhle in den Boden des Weges.

„Passabler Sex...“, gebe ich das erste von mir, was mir einfällt und was nicht unbedingt nett ist. Das beschreibende Adjektiv ist kreativ dazu gedichtet. Kains braune Augen sehen mich wie erwartet gekränkt an.

„Mal abgesehen davon, dass das beleidigend war, ist das keine richtige Antwort.“

„Komm, können wir einfach essen gehen. Ich habe keine Lust, auch noch mit dir darüber zu diskutieren.“ Ich stehe auf und werde direkt von Kain zurückgehalten, weil er nach meinem Arm greift. Ich lasse mich seufzend zurück auf die Bank fallen.

„Gut, keine Diskussionen, dann antworte mir einfach. Was ist das hier für dich?“ Kains fragender Blick durchdringt mich.

„Okay, wirklich befriedigender und abwechslungsreicher Sex. Ich hab wirklich Spaß mit dir. Besser?“, gebe ich noch immer leicht witzelnd von mir. Ich mache es mir einfach und hoffe, dass es wie immer damit erledigt ist. Der Schwarzhaarige sieht es anscheinend anders. Sein Blick wendet sich bei meinen Worten zur Seite. Er hat wissen müssen, dass ich genau das sagen werde, aber warum sieht er dann so niedergeschlagen aus? Was soll dieser verletzte Blick?

„Sex...“, wiederholt er und klingt dabei seltsam enttäuscht und ganz und gar nicht zufrieden. „... und wieso hast du dem hier zugestimmt?“ Ich zucke zunächst nur mit den Schultern, doch damit scheint mein Gegenüber nicht zufrieden zu sein.

„Keine Ahnung, sehr wahrscheinlich ist es sexumnebelter Wahnsinn…“, erkläre ich in klassischer Robinmanier und kann mir nicht mal ein dümmliches Lachen verkneifen. Hormone sind verteufelte kleine Biester. Kain starrt mich ungläubig an und ich fühle mich genötigt, noch mehr zu erwidern. „Herrje, wir gehen doch nur etwas essen und das mit dem Ausgehen ist doch aberwitzig“, stoße ich genervt aus.

„Du siehst das hier nicht als richtiges Date?“, pariert er augenblicklich hinterher und trifft damit den Kern meiner vorigen Diskussion mit Jeff.

„Richtiges Date“, wiederhole ich und schnaufe leise, was auch Kain bemerkt.

„Du nimmst es überhaupt nicht ernst. Es bedeutet dir nichts…“, stellt er fest und klingt dabei eigenartig verletzt. Ich stoße wiederholt angestrengt die Luft aus.

„Ich...ich weiß ehrlich gesagt nicht mal, was das heißen soll, ein richtiges Date. Date klingt einfach nur ernst. Wo bleibt die Neugier und der Spaß?“, krame ich ein weiteres Mal die anfänglichen Plattitüden hervor, die auch Kain damals runter betete. Doch es ist nur mein verzweifelter Versuch, diese Diskussion zu deeskalieren.

„Ich finde, wir sind schon weit über Neugier hinaus, Robin.“

„Ach komm schon. Du hast es selbst genauso gewollt. Nur Sex. Etwas Unkompliziertes. Also, wieso willst du es jetzt kompliziert machen?“

„Weil ich mich ganz einfach geirrt habe. Ich mag dich und ich will alles. Alles, was dazu gehört. Nicht nur den Sex.“

„Ist das echt dein Ernst?“, gebe ich baff zurück, „Kain, mich datet man nicht. Mich mag man nicht... Ich... ich date nicht. Das ist doch echt lächerlich.“ Ich kriege die Kurve nicht. Mich zu mögen, bedeutet für ihn nichts weiter als Verzicht und deshalb sollte er es besser wissen. Kain ächzt auf und ich bemerke, wie sich etwas in seiner Körperhaltung ändert.

„Für dich ist alles, was mit Gefühlen zu tun hat, dumm, oder? Deshalb kannst du auch Liebesgeschichten hinklatschen, als wären sie ein schnöder Alltagsfakt“, knallt er mir ungehalten an den Kopf. Nein, nicht dumm, aber Gefühle sind mein ganz eigener persönlicher Angstgegner und ich bin nicht bereit für einen Endkampf.

„Was hat das jetzt mit meinen Büchern zu tun?“

„Alles!“, entflieht ihm laut, „Weißt du, du könntest wahrscheinlich besser als die jeweilige Person selbst die Gefühle niederschreiben. Sie in wundervolle Sätze packen. Du kennst so viele Worte und weißt um ihre Bedeutung, aber du verstehst sie nicht. Du glaubst, dass du Fiktion schreibst, dass es solche Gefühle und Emotionen in Wirklichkeit gar nicht geben kann, oder? Denkst du jemals darüber nach, was du da schreibst?“ Das Braun seiner Augen ist dunkel und seltsam tief. Ich reagiere nicht und ertrage nicht, dass er so verletzt aussieht.

„Das hat doch nichts mit dem hier zu tun“, flüstere ich gezwungenermaßen. Beim letzten Mal habe ich mir geschworen, dass ich nicht der erneute Auslöser sein will. Nicht einmal das schaffe ich.

„Doch hat es! Stell dir vor, es gibt wirklich Menschen, die sowas empfinden, die sich verlieben, die sich danach sehnen, die andere Person auch nur zu sehen. Sie berühren zu können oder die einfach nur wissen wollen, dass ihre Gefühle erwidert werden. Liebe ist keine Fiktion. Sie ist real, Robin. Hormone hin oder her und selbst du, ein Idiot erster Liga, wird geliebt, aber du hast nichts Besseres zu tun als anderen ihre Gefühle abzusprechen und alles ins Lächerliche zu ziehen.“

„Aber es ist lächerlich“, wiederhole ich matt und leise. Ich weiche seinem Blick aus, weil ich nicht Gefühle per se meine, sondern die Wahrscheinlichkeit, dass Kain welche für mich hat. Was hätte er auch davon, mit mir zusammen zu sein? Nichts, denn ich kann nur negative Empfindungen zum Ausdruck bringen. Ich würde ihn unglücklich machen und er würde unweigerlich irgendwann gehen. Und das würde mich brechen.

„Hast du mir auch nur eine Sekunde zugehört?“, fragt er verzweifelt, weil ich schweige. Anscheinend habe ich das nicht.

„Gut, weißt du was…“, seufzt Kain ermattet und stützt sich mit den Händen auf den Knien ab, um sich aufzurichten, „Du datest nicht, dann lassen wir es. Viel Spaß in deiner Blase der Gefühllosigkeit“, knallt er mir entgegen. Ein Stich. Er ist so präzise, dass er mich fast lähmt.

„Kain...“, setze ich an.

„Nein, Robin. Unsere Neugier ist gestillt. Meine ist es jedenfalls. Ich will und kann das so nicht mehr und wir ... nein, ich sollte aufhören, etwas von dir zu verlangen, was du nicht willst. Ehe ich noch mehr...“ Er stoppt, schluckt und streicht sich durch die dunklen Haare. Er wendet sich von mir ab, macht ein paar Schritte, bevor er wieder stehen bleibt. Noch mehr was?, schreit es in meinem Kopf nach der Beendigung seines Satzes. Ich spreche es nicht aus und trotzdem weiß ich, dass ich ihn nicht gehen lassen will.

„Okay, was genau willst du jetzt von mir?“ Auch ich stehe auf und mache die Schritte, die er sich von mir entfernt hat, wieder auf ihn zu.

„Du weißt, was ich will und eigentlich solltest du es schon länger wissen. Noch dazu habe ich es dir eben gesagt. Also die Frage lautet eigentlich, Was. Willst. Du?“ Während er das sagt, tippt er mir bei jedem Wort der Frage mit dem Zeigefinger gegen die Brust. Ich sehe auf den Finger, höre den Schrei in meinem Kopf, der mir entgegen brüllt, dass ich mein Herz zum Schweigen bringen muss und weiß nicht, was ich ihm antworten soll. Also sage ich nichts, spüre, wie der Stein in meiner Brust rast und kann mich nicht dagegen wehren, dass ich wie schon des Öfteren bei ihm nicht die richtigen Worte finde.

„Du weißt es nicht, oder?“, stellt er resigniert fest und ich falle zurück auf die Bank. Meine Ellenbogen bohren sich in meine Oberschenkel. „Nein, vermutlich weißt du es sehr wohl, aber du willst es nicht. Weil es dumm ist, lächerlich oder weil du sowas nicht brauchst.“ Ein weiterer Stich. So zielsicher und direkt, wie es nur Kain schaffen kann. Ich sehe auf.

„Das ist nicht wahr“, sage ich schwach.

„Ach nein? Wie ist es dann? ...Hm?“, stichelt er zurück. Die Wut in seinem Gesicht wechselt stetig mit der Enttäuschung. Wieder macht er ein paar Schritte von mir weg. Unruhig und angespannt

„Okay, sag mir, was ich wollen soll!“, rufe ich ihm entgegen, springe erneut auf und schließe die paar Schritte auf, die er sich von mir entfernt hat. Kain schüttelt den Kopf.

„So läuft das nicht, Spatz“, sagt er, streicht sich über den Mund. Er lässt mich erneut diesen Blick sehen, der mich innerlich verbrennt und geißelt. Wieder verpasse ich den Moment, denn er geht, murmelt etwas, was ich nicht genau verstehe. Muss ich auch nicht. Er geht, weil er gehen muss. Er geht, weil ich ihm keine andere Wahl lasse.

„Aber ich weiß doch nicht, wie es laufen muss…“, erwidere ich schwach, als Kain bereits außer Hörweite ist. Ich sehe ihm nach, fühle mich eigenartig gelähmt und zu nichts anderem im Stande, als einfach dumm dazustehen. Was ist gerade passiert? Das drückende Gefühl in meiner Brust wird mit jeder vergehenden Sekunde heftiger und nur langsam sickert die Bedeutung seines Abgangs bis in die kleinsten Zellen meines Gehirns vor.
 

Zurück im Wohnheimzimmer ist von Jeff nichts zu sehen und mich umfängt Stille. Im ersten Moment bin ich erleichtert. Dann verwundert. Ich versuche mich daran zu erinnern, wohin Jeff wollte und ob er wieder hierher zurückkommt. Schlagartig bin ich mir nicht mal mehr sicher, ob er es mir überhaupt gesagt hat oder ob ich es schlicht vergessen habe. Die Tendenz geht zu Variante zwei. Doch eigentlich habe ich das Gefühl, dass ich gerade gar nichts mehr weiß. Ich bin mir nicht mal sicher, ob ich will, dass Jeff zurückkommt. Die Vorstellung, dass er mich bei seiner Rückkehr mit irgendwelchen Fragen löchert, aktiviert meinen genetisch einprogrammierten Fluchtreflex. Ich ziehe mein Handy hervor und checke die Möglichkeit, früher zu dem nutzlosen Autoren-Plausch zu fahren. Keine Chance. Der letzte Zug fuhr vor einer halben Stunde und die nächste Variante, die mir angezeigt wird, bescheinigt mir mehrstündige nächtliche Bahnhofsaufenthalte an mindestens drei Umsteigepunkten. Ich wäre etwa eineinhalb Stunden vor meiner regulären Ankunftszeit da. Für einen kurzen Moment erwäge ich es tatsächlich. Es würde mich immerhin beschäftigen. Ablenken. Danach lasse ich mich mit dem Wissen, dass es völliger Quatsch ist, aufs Bett fallen und drücke mein Gesicht fest ins Kissen. Vinny wiehert und bleibt dann breitbeinig und Zunge raushängend am Boden liegen. Nicht mal mein Sarkasmuseinhorn weiß eine passable Antwort auf diese Situation. Ohnehin fühle ich mich zu nichts im Stande, als apathisch rumzuliegen. Doch das macht alles nur noch schlimmer.

Ich rolle kurzerhand vom Bett, lande auf allen Vieren, störe mich nicht daran, dass meine Knie schimpfen und ziehe den Basketball unter meinem Bett hervor. Ich presse ihn zwischen meinen Händen zusammen. Er könnte etwas Luft gebrauchen, aber mir fehlt gerade die Muse, um stundenlang unter dem Bett nach der Pumpe zu suchen. Ich greife meine Kopfhörer und verschwinde zum Ballplatz. Diesmal muss ich ihn mir mit einer kleinen Gruppe teilen. Doch es stört mich nicht. Mit den Kopfhörern höre ich ihre Zurufe nur gedämpft oder sie werden durch die Beats vollkommen geschluckt. Ich werfe einfach nur wieder und wieder Körbe. Ärgere mich nicht mal darüber, dass mehr als die Hälfte vorbeigeht. Eine Dreiviertelstunde lang. Für etwa fünf Minuten schaffe ich es, den Schwarzhaarigen aus meinem Kopf zu verbannen.

Danach finde ich mich wie von allein vor Kain und Abels Wohnheimtür wieder. Mein Puls rast. Nicht nur von den schnellen Schritten. Nicht von dem Sport. Auch nach dem dritten Klopfen bekomme ich keine Reaktion aus dem Innenraum, also tippe ich kurzentschlossen den Türcode ein. Bevor ich die Tür etwas aufstoße, warte ich einen Moment ab. Nichts. Also öffne ich die Tür vollständig. Das Zimmer ist leer und dunkel. Was habe ich erwartet? Dass er auf seinem Bett sitzt und nur darauf wartet, dass ich einen Sinneswandel habe? Habe ich denn einen? Ich bin mir noch immer nicht darüber im Klaren, warum ich hier bin. Kann ich ihm denn eine Antwort auf seine Frage geben? Will er sie überhaupt noch hören? Für ihn wäre es besser, wenn er es nicht mehr will. Ich muss es wenigstens versuchen. Daher schließe ich die Tür, rutsche draußen einfach die Wand hinunter und bleibe am Boden sitzen. Den Basketball lege ich auf meinem Schoss ab und starre die raue Oberfläche an. Die schwarze Markierung ist an einigen Stellen bereits abgerubbelt und auch jetzt reibe ich meinen Finger gegen einen der Buchstaben des Markenaufdrucks.

Ich frage mich, wohin er wohl gegangen ist. Ob er bei ihr ist? Dieser plötzliche Gedanke setzt mit einem Mal alles in meinem Kopf lahm und verursacht mir eiskalte Schauer. Würde er das wirklich tun? Möglich, immerhin haben sie nun wieder ein gemeinsames Thema, worüber sie reden könnten. Ich und meine Unzulänglichkeiten. Ich greife unruhig nach meinem Telefon, öffne unseren gemeinsamen Chat und lasse meinen Daumen über das Tastenfeld schweben. Ich lese seine letzten Nachricht.

Lauf nicht weg. Mein Herz stolpert unkontrolliert. Ich lasse das Telefon sinken und greife mir mit beiden Händen an den Kopf, versenke sie in meinen Haaren. Mit den Fingerspitzen raufe ich mir energisch die Kopfhaut. Danach kippe ich meinen Kopf frustriert nach hinten und starre an die Flurdecke. Sie hat auch schon bessere Zeiten gesehen und ich fühle mich augenblicklich seltsam mit ihr verbunden. Seufzend schließe ich die Augen, fasse mein Telefon fester und angele mit den Füßen nach dem Basketball, der während meiner Haarrauferei von meinem Schoss gekullert ist. Wo ist er nur? Das ist so lächerlich. Ich bin lächerlich. Wieder öffne ich unseren Chat und tippe die Frage nach seinem Aufenthaltsort ins Fenster. Lösche es wieder. Schreibe es erneut. Schicke es nach dem dritten Mal endlich ab. Ich bin erbärmlich. Dennoch kriege ich es nicht aus meinem Kopf. Sind wir längst über Neugier hinaus, so wie es Kain gesagt hat? Woran hat er es gemerkt? Wie lange weiß er es schon? Die ganzen Fragen in meinem Kopf ernüchtern mich nur noch mehr.

Es sind nicht nur Kains, die mir durch den Kopf geistern, sondern allen voran Jeffs. Braucht es wirklich eine Definition? Kann ich mich in einer der Kategorien wiederfinden, die er mir vorhin fragend an den Kopf geworfen hat? Bisher habe ich es nicht für nötig gehalten, darüber nachzudenken. Mein Beuteschema war einstweilen sehr eindeutig, wenn auch nicht anspruchsvoll. Einzig er, Kain, bildet hier eine Ausnahme und je mehr ich darüber nachdenke, umso weniger Sinn ergibt es für mich. Andere Männer interessieren mich nicht. Nur Kain. Nur er.

Tiefer. Immer tiefer, wiederholt sich in meinem Kopf. Das hat er geschafft. Kain ist so tief in mich eingedrungen, wie kein anderer und jetzt kriege ich ihn nicht mehr aus meinem Kopf oder das Bedürfnis, ihn zu spüren, aus meinem Körper.
 

Ich weiß nicht, wie lange ich vor dem Zimmer der beiden anderen sitze, doch als der vierte Tross an potenziellen Nachtschwärmern an mir vorbeizieht und blöd guckt, rappele ich mich mühsam auf und trabe mit dem Ball zurück in mein eigenes Wohnheim. Unterwegs begegnen mir weitere illustre Menschengrüppchen, die mittlerweile schon gut angeheitert sind. Meine Stimmung sinkt nur noch weiter.

Die Duschen sind bereits geschlossen, also hänge ich mich über ein Waschbecken, vollführe eine umfassende Katzenwasche, die mehr an Pandababygeplantsche erinnert und werfe mich aufs Bett.

Ich habe es verbockt. Ich habe es so sehr verbockt. Wieder einmal. Nun hat Kain die Geduld mit mir verloren und ich kann es ihm nicht mal verübeln. Wenn ich meine Augen schließe, sehe ich jedes Mal die Enttäuschung in seinem Blick und mein Inneres beginnt zu rotieren. Wesentlich schlimmer sind jedoch die fortwährenden Gedanken, die mich auf eine zusätzliche Achterbahnfahrt schicken. Ich kann das nicht. Ich komme mit diesen Gefühlen einfach nicht zu recht.

Nach einer Weile unruhigem Hin-und-her-rollen, setze ich mich an den Schreibtisch. Ich öffne die Story, mit der alles begann, überfliege die bisherigen Seiten und empfinde ein stetiges Kitzeln, wenn ich bestimmte Passagen Wort für Wort vor mich hinmurmele. Wenn ich meine Augen schließe, kann ich sie teilweise noch immer fortsetzen. Ich kann nicht mal verhindern, dass sich in meinem Kopf jedes Mal einer der beschriebenen Körper in Kains wandelt. So sehr ich auch versuche, mir einzureden, dass er nicht das Vorbild gewesen ist. Tiefer. Immer tiefer. Ich stoppe bei der Zeile, die mir einen feinen, aber intensiven Schauer beschert.

´Das Gefühl seines heißen, bebenden Leibes über meinem. Ich spüre die Härte, die sich unentwegt gegen meinen willigen Körper drückt. Er hält sich bewusst zurück, lässt seine Lippen über meinen Hals wandern. Küssend. Beißend. Ich zergehe vor Gier. Ich strecke mich ihm entgegen, lasse ihn deutlich die Härte meiner eigenen Erregung spüren. Biete mich ihm schier an. Ich will ihn spüren. Ich will, dass er mich ausfüllt und fest nimmt. Tiefer. Immer tiefer.´. Kain hat es zitiert. Wort für Wort. Zeile für Zeile. Auch jetzt spüre ich, wie mein Körper vor Hitze und Erregung erbebt. Nicht nur, weil ich seine Stimme erinnere, die mir diese Textstelle heiß ins Ohr raunt, sondern weil ich genau weiß, wie viel Wohlgefühl es mir vermittelt hat. Doch die Erinnerungen daran werden von der Frage überschattet, die er mir zum Schluss gestellt hat. Was will ich? Wieder versucht sie am Schutzschild meiner Hilflosigkeit zu verebben. Doch diesmal lasse ich es nicht zu.

Was will ich?

Ich will meine Ruhe. Ich will mir nicht anhören müssen, was ich falsch mache. Ich will nicht verstehen müssen, dass ich es verbockt habe. Ich will diesen Schmerz nicht spüren müssen.

Was will ich wirklich?

´Meine Hände verweben sich in tiefem Schwarz, ziehen die glücksbringenden Lippen näher, sodass ich jeden Millimeter süßer Verlockung ertasten und erleben kann´. Genau diese Stelle geht mir in diesem Moment durch den Kopf und ich umfasse das Handy in meiner Hand fester. Ich will nicht, dass es vorbei ist.

Das will ich.
 

-Können wir reden?-, tippe ich in unserer gemeinsamen Chat und schicke die Nachricht ab, ohne länger darüber nachzudenken oder auf die feine Stimme zu hören, die mir einreden will, dass es vielleicht besser ist, es gar nicht erst zu versuchen.

-Bitte-, schiebe ich hinterher als ich bemerke, dass die vorige Nachricht direkt als gelesen markiert wird und bringe das Stimmchen dazu, zu verstummen.
 

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Ps: *auf die knie fall und verbeug* ENTSCHULDIGUNG! Ich weiß einfach nicht, wo das halbe Jahr hin ist T___T

Wenn Worte...

Kapitel 27 Wenn Worte meine Sprache wären… (1/2)
 

Ich sehe ihn tippen, doch es passiert nichts. Also drücke ich kurzerhand auf das grüne Anrufsymbol und spüre im selben Moment, wie sich mein Brustkorb in eine Bassbox verwandelt. Das Geräusch aus meinem Inneren wird immer lauter und eindringlicher. Die Vibrationen breiten sich in meinem gesamten Körper aus, sodass ich nichts anderes tun kann, als zu erzittern. Aber als er den Anruf bestätigt, herrscht mit einem Mal eine bedenkliche Stille. Nicht nur in meiner Brust, sondern vor allem in meinem Kopf. Auch von Kain kommt kein Wort, also kann ich die dudelnde Musik im Hintergrund wahrnehmen, die mir von der anderen Seite der Leitung entgegen schlägt. Irgendein Popsong gepaart mit irgendwelchen heiteren Gesprächen. Irgendeine Bar. Ich sammele mich und beginne mit meinem jetzt schon kläglichen Versuch, eine weitere Chance zu erbitten.

„Kain, können wir bitte darüber...“

„Nein, könnt ihr nicht...“, werde ich harsch unterbrochen. Es ist eine männliche Stimme, die definitiv nicht Kains ist. Ich brauche einen Moment, bis ich begreife, dass es Marvin ist, der spricht. Wieso geht er an Kains Telefon? Mit dieser Wendung habe ich nicht gerechnet. Ausgerechnet er. Aber wer auch sonst. Im Grunde gibt es nicht so viele Möglichkeiten, zu wem Kain gehen würde und Marvin ist mir allemal lieber als das rothaarige Dumpfbrot, mit dem er sich das letzte Mal vergnügt hat. Trotzdem regt sich mein innerer Drachen und es fällt mir schwer, ihn zu kontrollieren.

„Gib ihn mir... Bitte...“, fordere ich mit zusammengebissenen Zähnen und hänge das höflichkeitsheuchelnde Bitte verzögert ran. Dabei verliert es jegliche Wirkung und es ist mir herzlich egal. Höflich war noch nie mein Ding und wird es nie werden.

„Nein.“ Seine Antwort ist simpel und nicht unerwartet. Trotzdem kitzelt es meine Wut mehr, als es gut für mich ist. Mein gesamter Körper erbebt unter dem kaltbeißenden Schauer, welchen die Ablehnung auslöst.

„Im Ernst? Was soll das? Wieso gehst du überhaupt an sein Telefon?“, belle ich angestachelt und eines völligen Systemausfalls nahe. Noch schalten sich ein paar meiner Backups ein, doch ich weiß nicht, wie lange ich mich zurückhalten kann. Das Gefühl in meiner Brust wird zur tickenden Zeitbombe.

„Ganz einfach, ich hab´s ihm abgenommen, um zu verhindern, dass genau das hier passiert.“

„Das hier? Bist du jetzt sein Bodyguard, oder was?“ Marvin lacht bei diesem nichtigen Vergleich erheitert auf und ich wünschte, ich könnte ihm das Maul einfach stopfen. Ein Schlag mitten ins Gesicht. So einfach und schnöde. So viel Effekt. Mein eigenes blaues Auge zwiebelt.

„Ich würde eher Fullback sagen, aber vor allem bin ich sein Freund und ich werde ihn verteidigen, wenn er es nicht selbst kann. Und vor dir muss er scheinbar doch beschützt werden. Also hör genau zu! Er. Will. Nicht. Mit. Dir. Reden.“ Jeden Teil des letzten Satzes betont er besonders deutlich. Doch es ist nicht nur die Sportmetapher, die mich irritiert, sondern auch der Rest. Vor mir beschützen? Vor was genau will er ihn verteidigen? Meines Erachtens nach kann sich Kain effektiv selbst wehren, was er bei unserem Gespräch eindrucksvoll bewiesen hat. Schließlich sind es seine Worte, die noch immer nachwirken und mir keine Ruhe gönnen.

„Kann er mir das bitte selber sagen“, patze ich zurück und höre Marvin direkt auflachen.

„Kann er nicht. Er ist gerade beschäftigt.“

„Und womit?“, frage ich spitz und nur noch halb verbissen. Ich kann mir ausmalen, womit er in einer Bar beschäftigt sein könnte und dennoch favorisiere ich die Vorstellung, dass er mit einem Drink neben seinem Fitnesslakaien sitzt, jedes Wort mitbekommt und energisch mit dem Kopf schüttelt.

„Mit wem, meinst du wohl. Ich glaube, ihr Name ist Anni. Sie ist ganz sein Typ“, sagt er. Ich kann ihn grinsen hören und spüre, wie eine meiner Warnleuchten angeht.

„Sag mir, wo ihr seid!“ Prompt vernehme ich sein herablassendes Schnaufen.

„Garantiert nicht. Hör einfach auf, ihm zu schreiben. Ruf nicht mehr an...“

„Fick dich!“

„Ow, der Herr verliert bereits die Fassung? Das war aber einfach.“ Seine Stimme trieft förmlich vor Schadenfreude. „Lass es lieber gut sein, bevor es richtig peinlich für dich wird.“ Damit legt er auf, ehe ich eine weitere Beschimpfung vom Stapel lassen kann und lässt mich mit dem Gedanken an Kain und einer anderen Frau zurück. Ich hasse es noch im selben Moment und in mir entbrennt ein Kampf, der einer Supernova gleicht. Es macht mich wahnsinnig. Dabei bin ich mir sogar sicher, dass Marvin alles sagen würde, nur um dafür zu sorgen, dass mein schlechtes Gewissen weiter wächst und ich mir die schlimmsten Dinge vorstelle.

Die Schlimmsten, hallt es nach und mir den Schwarzhaarigen mit einer anderen Frau vorzustellen, gehört eindeutig dazu, egal welche Haarfarbe sie hat. Das wird mir gerade schmerzlich bewusst. Und wieder frage ich mich, wie viel Kains bester Freund eigentlich weiß. Ob Kain ihm wirklich erzählt hat, dass wir seit längerem miteinander schlafen? Ob er ihm gesagt hat, dass er darüber nachdenkt, mit mir auszugehen oder es zu mindestens vor hatte? Weiß er, dass Kain tatsächlich einen anderen Mann mag? Das Kain mich mag?

Er mag mich, wiederhole ich flüsternd. Auch das wiederholt sich in meinem Kopf, als würde ich es zum ersten Mal richtig verstehen. Allerdings begreife ich immer noch nicht, wieso und das sorgt dafür, dass sich ein stilles und doch verzerrendes Gefühl in mir ausbreitet. Ist es schon zu spät? Kain wird keine meiner Nachrichten lesen und er wird sich darin bestätigt fühlen, dass seine Entscheidung, die Notbremse zu ziehen, richtig gewesen ist. Welchen Sinn macht es also, es weiter zu versuchen? Die Chancen, die ich hatte, habe ich bravourös versaut. Grob gesagt, völlig vermurkst. Wieder einmal. Wieso sollte ich eine weitere bekommen? Welchen Grund sollte er haben, mir diese zu gewähren? Anscheinend kann ich nicht anders, als andere unentwegt zu enttäuschen, selbst, wenn ich es nicht mal bewusst darauf anlege, es zu tun. In diesem Fall habe ich es auch noch unabsichtlich bewusst getan, weil ich nicht dazu bereit bin, über meine Gefühle nachzudenken. Ich bin nicht mal wirklich bereit, mir einzugestehen, dass ich welche haben könnte. Egal, welcher Art sie auch sind. Doch genau diese überrollen mich gerade wie eine gigantische Dampfwalze und ich kann nichts dagegen tun, als dabei zusehen, wie all die heiße Luft aus mir herausgepresst wird, die ich so erbarmungslos zurückhalte. Es ist ernüchternd und ist genauso schmerzhaft, wie ich es stets befürchtete. Schlimmer noch, denn die bittere Erkenntnis, dass ich nicht so gefühlsfrei bin, wie ich es gehofft habe, reißt mich fast in zwei.

Ich lasse mich auf mein Bett fallen, fühle mich mit einem Mal unglaublich müde und doch bin ich hell wach, weil mein Kopf nicht aufhört, zu arbeiten. Es formen sich ganz unwillkürlich und ungehindert Szenerien vor meinem geistigen Auge. Das schummerige typische Licht in einer Bar, das Fantasien eher bestärkt als verhindert. Schlanke Finger, die über starke Arme reiben, die die kleine Narbe an seinem Ellenbogen ertasten und sie zärtlich liebkosen, als würde allein diese Geste jeden erlebten Schmerz davon streicheln können. Er würde es willkommen heißen, weil es das ist, was er vermisst. Es formulieren sich Dialoge. Flirtende Worte voller Neugier und Erwartungen. Seine Stimme ist eine Nuance tiefer, wenn er trinkt. Das weiß ich vom letzten Mal, als er mich aufs Dach entführte. Ich spüre deutlich, wie die Erinnerung daran mit der Sanftheit eines Seidenschal über meinen Hals gleitet. Und er zieht sich zusammen, als ich daran denke, dass seine Worte in dieser Nacht jemand anderen gelten könnten.
 

Trotz der fortschreitenden Uhrzeit mache ich kein Auge zu. Jedenfalls fühlt es sich so an, als ich mich am Morgen aufsetze und beginne, leise, aber derb vor mich hin zu fluchen. Es ist nicht mehr als ein kraftloses Flüstern und dennoch transportiert es meine gesamte Gefühlslage.

„Fuck!“, sage ich laut, als mit nichts Innovatives mehr einfällt. In meinem Kopf ist es matt und nebelig. Ich hasse es, mich so zu fühlen. Die Müdigkeit wabert durch meinen Körper und scheint mich regelrecht lahm zu legen. Dazu kommt dieses grässliche Gefühl, welches sich seit dem gestrigen Telefonat mit Marvin in mir ausbreitet, wie eine verdammte Seuche. Kains bester Freund ist ein echter Mistkerl. Nicht, dass ich das nicht bereits wusste, doch die Gewissheit macht es noch eine Spur schmerzhafter. Zumal er Kain damit wirklich ein guter Freund ist.

Nach einer kurzen Grundreinigungsaktion mit Zähneputzen und schlampiger Rasur leere ich meinen Rucksack auf dem Bett aus und ziehe mir ein paar Klamotten aus dem Schrank. Zusätzlich greife ich mir den Laptop, das von Brigitta bearbeitete Skript, die Reiseunterlagen und stopfe alles hinein. Danach lege ich Jeff einen Zettel auf den Tisch, auf dem ich ihm mitteile, dass ich das Wochenende über nicht anwesend bin. Dazu packe ich die Gummibärchen, die ich vor ein paar Tagen für ihn gekauft und dann aber vergessen habe. Bevor ich aus der Tür trete, werfe ich einen letzten Blick auf meinen handlichen Kommunikationsapparat. Nichts. Nur die schelmisch lachende Uhrzeitanzeige, die mich daran erinnert, dass es eigentlich viel zu früh ist, um auch nur den kleinen Zeh zu bewegen. Unwillkürlich versuche ich meinen linken wackeln zu lassen und scheitere. Auch das reiht sich perfekt in diesen Moment ein. Draußen greife ich automatisch nach der Packung Zigaretten in meiner Hosentasche. Ich ziehe einen Stängel hervor, starre ihn einen Moment lang an und habe das Gefühl, dass jegliche Willensstärke aus mir herausweicht, wie Luft aus einem löchrigen Schwimmreifen. Letztendlich rauche ich auf dem Weg zum Bahnhof drei Zigaretten, die mich weder beruhigen, noch befriedigen.

An einem Kiosk besorge ich mir ausnahmsweise einen Kaffee und einen Muffin, an dem Blaubeere dran stand und Apfel drin ist. Doch es ist mir vollkommen egal, während ich ihn mühsam runter würge. Der Zug ist ungewöhnlich pünktlich und erstaunlich leer. Ich lasse mich auf einen Viersitzer mit Tisch fallen, ziehe mir den Rucksack auf dem Schoss und lege meine Arme darum, als wäre er meine Rettungsboje. Das Gesicht drücke ich in den harten Stoff und bin leise, aber lustlos erfreut, als der Zug relativ schnell losfährt.
 

Die drei Sitze in meiner Nische bleiben auch nach dem vierten Halt leer und ich fange langsam an, mich zu entspannen. Müde streiche ich mir mit zwei Fingern mehrmals über den Nasenrücken. Weiter hinauf über die Nasenwurzel zur Stirn. Ich kriege Kopfschmerzen. Der Tag wird die Hölle, das weiß ich bereits jetzt. Das wusste ich schon nach den zehn Minuten Schlaf, die ich vermutlich letzte Nacht hatte und bevor mein Wecker klingelte. Und ich war mir absolut sicher, als ich am Bahnhof angekommen bin und die Nachricht meine Mutter bekam, die mir wie immer an diesem einem Tag versicherte, wie sehr sie mich liebt. Selbst Lena meldet sich jedes Mal. Meistens sind es nur kleine Belanglosigkeiten, die sie mir schreibt und ich weiß, dass sie es macht, um mir zu zeigen, dass sie an mich denkt. Und an René, der heute vor genau 17 Jahren starb.

Doch wie immer ist dieses Gefühlsgeplausche müßig. Darüber nachzudenken ist zwecklos. René kommt nicht wieder, das verstehe ich seit je her und der stetige Gedanken an ihn lähmt mich mehr, als dass er mich voranbringt. Auch das weiß ich nicht erst seit heute. Kaum einer versteht, dass ich, nur weil ich diesem Tag keine Besonderheit beimesse, nicht weniger an ihn denke. Im Gegenteil, es vergeht kein Tag, an dem ich ihn mehr oder weniger vermisse. Denn Fakt ist, Renè fehlt in jeder Sekunde meines Lebens.

Ich ziehe das Bild meines Bruders aus dem Portemonnaie, neige während des Betrachtens meinen Kopf gegen die kühle, vibrierende Scheibe und wünsche mich ausnahmsweise in mein fünfjähriges Selbst zurück. Damals war alles so viel einfacher, war so viel leichter. Unbeschwerter und frei. Denn mit René an meiner Seite war jedes Leid nur halb so wild. Wenn mein Lieblingskuscheltier kaputt ging, war es nicht so schlimm, weil er seins einfach mit mir teilte. Wenn mein Eis zu Boden fiel, gab er mir seine zweite Kugel. Auch dann, wenn diese seine Lieblingssorte gewesen war. Doch jedes weitere Eis, was danach fiel, war schlichtweg eine Tragödie für mich. Selbst, wenn ich direkt ein neues bekam. Denn jedes davon zeigte mir, dass ich von nun an allein war. Mein Bruder konnte nicht mehr mit mir teilen und die Lücke, die damals entstand, scheint auch nach all den Jahren nicht kleiner zu werden. Manchmal glaube ich, dass sie stellvertretend für die Distanz steht, die ich unweigerlich zu den anderen Menschen in meinem Leben aufbaue und einfach nicht schaffe zu überwinden.
 

Nach 20 Minuten Fahrt werden die Abstände zwischen den Haltestellen immer länger und ich muss mir kaum noch Sorgen machen, dass sich irgendwelche nervigen Menschen zu mir setzen. Ich sehe dabei zu, wie die Landschaft schnell an mir vorbeizieht und nehme es doch kaum wahr. Seufzend und nachdem ich feststelle, dass apathisch in der Gegend rumgucken keine Lösung für meine Probleme bringt, stecke ich das Bild von René zurück und hole ich das Skript des neuen Buches hervor. Zuerst blättere ich die markierten Stellen noch einmal durch und mache mir selbst ein paar Anmerkungen. Als ich damit fertig bin, bearbeite ich die restlichen Hinweise meiner Lektorin und meine eigenen am Laptop. Normalerweise wiege ich stets ab, wie viel von Brigittas Korrekturen ich umsetze und wie. Doch diesmal kassiere ich die von ihr rotmarkierten Absätze entschlossen und denke nicht mal über Alternativen nach. Wenn sie Brigitta nicht als nötig erachtet, dann sind sie es auch nicht. Der Rest ist ein übertrieben flauschiges, happy-end-glucksendes Kinderspiel, so wie ich es gewohnt bin. Auch, wenn sich diesmal kein rosafarbenes Ende für alle Parteien abbildet. Ryan ist definitiv Verlierer dieser Dreieckssituation. Seine Liebe bleibt unerwidert und seine Wünsche werden zu nichts anderem, als zur blassen Reflektion eines einst klaren Begehrens. Es ist das erste Mal, dass ich es bedauere, nicht für jeden etwas Gutes gefunden zu haben. Als ich mit allem fertig bin, ziehe ich die überarbeitete Version auf einen der USB-Sticks, die in meiner Federtasche rumkullern und stecke ihn in die Tasche, um ihn nachher Brigitta aushändigen zu können. Wir haben zwar noch immer nicht geklärt, wann das neue Buch ins Programm aufgenommen wird, aber das wird sich sicher ergeben. Vielleicht frage ich Karsten direkt danach. Immerhin wird er heute auch anwesend sein, soweit ich es verstanden habe. Eine willkommene Abwechslung. Mit dem Gedanken an die bevorstehenden Stunden wird meine Laune noch eine Spur schlechter. Seufzend schließe ich die Augen, was sich als schlechte Idee herausstellt, denn unwillkürlich schleicht sich der enttäuschte Blick des Schwarzhaarigen herbei und sorgt dafür, dass die eben noch abgewehrte Trübseligkeit weiter voranschreitet. Genervt richte ich mich auf und beginne durch die zuletzt geöffneten Dokumente zu scrollen. Ich schmunzele bei dem Titel, den ich einer Hausarbeit gegeben habe und stocke, als ich bei einer bestimmten Datei ankomme, die mich augenblicklich schwerer Aufatmen lässt. Ich zögere. Doch dann tippe ich das Touchpad zweimal an und sie öffnet sich. Ich bestätige das Pop-up-Fenster, welches mich an die zuletzt bearbeitete Stelle bringt und lande nicht am Ende des Dokuments.
 

Während ich mehr und mehr der geschriebenen Passagen überfliege, bemerke ich zum ersten Mal, dass es weitaus mehr ist, als das Aneinanderreihen von sexgeladenen Szenarien und Augenblicke. Es fühlt sich erlebt an und es zu lesen, greift tief in mein Inneres hinein. Die bedeutenden Stellen sind anders, als ich sonst von meinen Texten gewohnt bin. Sie transportieren Gefühl, ohne aufgesetzt zu sein. Es ist einfach, weich und subtil. Etwas, was ich schon lange nicht mehr für meine Bücher nutze. Meistens sind es eher viele dieser für mich abgedroschenen Floskeln, die beim Leser mit Wiedererkennung und Sehnsüchte verbunden sind. Sie erzeugen den größtmöglichen Effekt. Auch wenn sich Stile ändern und Autoren ihre Wortschätze erweitern, gibt es immer wieder bestimmte Phrasen oder Wörter, die in ihren Büchern auftauchen. Manchmal sind es ganze Szenerien, die sich in jedem Buch wiederfinden. Nur leicht abgewandelt und der Situation des Absatzes angepasst, aber die Notation ist die Gleiche. Sie sind fast wie eine Signatur, die sich einschleicht, ohne es zu bemerken. Bei mir ist es nicht anders. Doch im Gegensatz zu manch anderen bin ich mir dessen bewusst. Nicht zuletzt, weil meine Lektorin tolle Arbeit leistet und gnadenlos jede Szene auseinandernimmt, wenn etwas nicht stimmt. Aber ich ändere es nicht immer, denn ich nutze die Worte, auch weil ich sie mag, weil sie passen oder einfach nur weil sie funktionieren. Zugegebenermaßen ist es auch oft Faulheit und für meine vorigen Bücher ist es nie wichtig gewesen, wie ausgeklügelt oder raffiniert mein Wortschatz ist. Sie sind so voller Klischees und hirnloser Belanglosigkeiten, dass eine wortwörtliche Wiederholung kaum auffällt. Doch subtil ist eigentlich schöner. Subtil ist stärker. Denn zwischen den Zeilen wird jedes Wort wahrhaftiger. Auch, wenn es schwerer fällt, sie zu verstehen.

Witzig ist, dass sich Menschen oftmals ebenso verhalten. Häufig nutzen wir bestimmte Gesten und Reaktionen, weil sie sich, obwohl wir ganz genau wissen, dass sie nicht das gewünschte Resultat erzielen, dennoch bewährt haben. Oder weil wir uns selbst darauf konditionieren. Manchmal auch, weil wir es nicht besser wissen. Vielleicht auch, um Reaktionen zu provozieren, die uns eher zurückwerfen, als voranbringen, weil wir wissen, dass es einfacher ist, die Schuld bei jemand anderen zu suchen, als bei uns selbst. Ich bin ein unausgesprochener Meister darin. Ein Schritt nach vorn, zwei zurück. Das Gespräch mit Kain hat es mir eindrucksvoll bewiesen. Wieder einmal. Aus der Gewohnheit heraus habe ich abgeblockt, noch bevor es überhaupt eine Chance gab und die heftigste Regung, welche seither meinen Körper durchströmt, ist Bedauern. Es dominiert auf, während ich weiterlese und langsam begreife, dass sich zwischen den Zeilen eine ganz andere Geschichte verbirgt. Es ist eine abgewandelte Chronologie meiner und Kains vergangener Wochen und unserer gemeinsamen Momente. Erst vor kurzem fragte mich Kain danach, ob ich sie weitergeschrieben habe. Ich habe es verneint, aber es war gelogen. Mittlerweile hat sie mehr als 180 Seiten und ich habe sogar etliche Stellen auf gewohntem Weg korrigiert. Denn diese Passagen leuchten mir in einem hübschen dunklen Blau entgegen statt in schwarz. Meine Bearbeitungsmethode. Doch ein Ende hat sie nicht.

Mich erfasst genau derselbe Gedanke, wie am gestrigen Abend. Ich will nicht, dass es endet. Aber ich weiß auch, dass in der Literatur das Ende eines Buches nicht das Ende eine Geschichte bedeutet. Das Leben hat selten nur einen einzigen Teil und manchmal müssen wir Dinge abschließen, um ein neues Kapitel beginnen zu können.

Aber was bedeutet es in meinem Fall? Auch, wenn ich es anfangs vehement bestritt, dass Kain Modell für eine der Personen steht und ich auch noch immer widersprechen würde, stimmt es. Kain hat mich nicht mehr losgelassen. Nicht nur, weil mich der Geschmack seiner Bonbons bis in die Träume verfolgt, sondern auch, weil er einer der wenigen Menschen ist, die mich zur selben Zeit Wut, Zufriedenheit und Faszination spüren lassen. Zu ihm fühlt sich die Distanz nicht so groß an, wie zu den anderen. Dennoch ist sie da und nach dem gestrigen Tag scheint sie zusätzlich unüberwindbar für mich.

Kain wusste es, hat es längst verstanden. Vermutlich, weil er stets aufmerksamer ist als ich. Hat er es deshalb lesen wollen, weil das hier mehr aussagt, als ich es jemals persönlich könnte? Er hat mit allem Recht. Ich kenne die Bedeutung von so vielen Worten und in den seltensten Fällen verstehe ich sie. Doch, was soll ich tun? Gefühle sind meine Nemesis. Mein wunder Punkt. Außerdem bin ich bisher gut damit gefahren, das alles nicht an mich heran zu lassen. Oder nicht? Die in meinem Kopf geführte Debatte entscheidet sich diesmal nicht zu meinen Gunsten. Und deswegen beschaue ich letztendlich die leeren Seiten eines abrupt endenden Buches. René. Kain. Es ist keine gute Kombination. Meine Gedanken sind rastlos und der Druck in meiner Brust, verursacht durch das Gefühl des Verlustes, wird immer heftiger.
 

Aus einem inneren Zwang heraus ziehe ich mein Handy hervor und wähle Kains Nummer. Es klingelt dreimal, dann lege ich wieder auf. Statt vor mir auf das leuchtende Display zu sehen, starre ich direkt aus dem Fenster. Was habe ich erwartet? Sicher schläft er noch nach dieser feuchtfröhlichen Nacht mit Marvin und Anni. In meinem Kopf wiehert heute Nils. Ich lasse meine Hand samt Handy in meinen Schoss fallen und erschrecke als es sich plötzlich regt.

„Kain?“, frage ich, ohne auf das Display zu schauen.

„Tut mir leid, Mausespeck, nur deine stets nervende Lektorin.“ In mir lodert die Ernüchterung und das trotz des erschreckend selbstreflektierenden Kommentars, welches mich grundsätzlich erheitern sollte.

„Ich bin nicht in Stimmung...“, entgegne ich und schiebe es auf die Müdigkeit.

„Bist du das jemals?“

„Durchaus.“

„Ach ja und wann genau?“, hakt sie zu meinem Leidwesen auch noch nach.

„Etwa in dem Moment zwischen Aufsetzen und Beine aus dem Bettschwingen am Sonntag.“

„Das macht ein Zeitfenster von zehn Minuten, einmal pro Woche“, eruiert sie und lässt mich einen Moment lang zweifelnd schweigen. Zehn Minuten? In meinem Kopf sind es höchstens zwei. An schlechten Tagen drei.

„Dafür brauchst du zehn Minuten?“

„Meistens sogar länger“, erklärt sie, ohne sich auch im Geringsten daran zu stören, dass das regelrecht unverhältnismäßig ist.

„Okay... was willst du denn schon wieder?“

„Pah, ich wollte nur noch mal hören, wann du hier eintrudelst. Die Damen aus dem Sekretariat habe die Kopie deines Fahrplans verschlampt und ich würde gern wissen, wann ich dich am Bahnhof abholen muss.“

„Du musst mich nicht abholen.“

„Ach Schokotrüffelchen, das mache ich doch gern für dich... Apropos, wie lief das gestrige Date?“, flötet sie langgezogen und scheint in keiner Weise zu bemerken, dass die Überleitung mehr als dürftig ist. Wahrscheinlich ist das der Grund, aus dem sie überhaupt angerufen hat. Von wegen Fahrplan und Abholen. Am Arsch. Außerdem kann ich ihre Augenbrauen förmlich wackeln hören und beginne meinen Kampf gegen das wachsende Bedürfnis, einfach aufzulegen und zu schreien.

„Kurz vor zehn“, erwidere ich.

„Wie bitte?“, fragt sie irritiert. Sie hat mit einer anderen Antwort gerechnet, als die am wahrscheinlichsten Erwartete. Ein großer Fehler.

„Laut Fahrplan komme ich kurz vor zehn Uhr an“, sage ich als einziges und lausche der abwartenden Stille, die folgt. Sie hält erstaunlich lange an und ich zögere es noch weiter hinaus, indem ich den Teufel tue auch nur das kleinste Wort von mir gebe. Ich höre es fast Knistern und wie sie langsam vor Anstrengung zur pfeifen beginnt. Für sie wäre Auflegen definitiv erträglicher gewesen.

„Und?“, hakt sie ungeduldig nach.

„Und was?“

„Du weichst meiner Frage aus“, stellt sie nutzloserweise fest. Sie ist so schlau und liegt dennoch falsch.

„Ich bin nicht ausgewichen, ich habe bewusst nicht darauf geantwortet. Das ist ein Unterschied.“

„Du bist wie immer die Rosine im Studentenfutter, nicht wahr?“ Wer will schon eine Erdnuss sein?

„Ich leg jetzt auf.“ Ich atme tief aus, als ich das Telefon von meinem Ohr nehme und zurück in meinem Schoss plumpsen lasse. Es ist ein Albtraum. Das alles. Und Kain reagiert einfach nicht auf meine Kontaktaufnahmen. Wenn er nicht mehr in meiner Nähe sein will, dann fällt der Intelligenzquotient meiner Bekanntschaften deutlich ab. Bedauerlich. Mein Spaßfaktor ebenso. Vor allem aber der Sex. Mein innerer Sarkasmusindex klettert ins Unermessliche und fällt garstig lachend über mich her, wie ein schelmhungriges Tier. Ich kann es fast selbst nicht mehr hören. Wem mache ich eigentlich etwas vor? Was auch immer Kain und ich teilen, ist nicht nur das gemeinsame Stille sexueller Belange. Auch, wenn es das ist, was ich mir hartnäckig einrede. Alte Muster sind schwer abzulegen. Ich stoße frustriert die Luft aus und lehne mich in den Sitz zurück, weil ich selbst langsam merke, wie sehr ich mich im Kreis drehe. Mir wird langsam schwindelig und ich fühle mich überfordert. Denn es ist völlig egal, was ich versuche, mir einzureden, ich hatte mich auf das Essen mit Kain gefreut.
 

Kurz bevor ich an meiner Haltestelle ankomme, ziehe ich auch die andere Geschichte auf einen USB-Stick und stecke ihn in die Hosentasche. Ich verpacke alles zurück in meinen Rucksack, während ich mich in die Schlange für den Ausstieg einreihe und wie ein braver Lemming der strömenden Meute folge, bis die schmalen Zugänge in der Bahnhofshalle münden. Brigitta wartet bereits an einem Kaffeestand auf mich. Ich muss sie nicht mal suchen, denn ihre intensiv aubergineroten Haare scheinen fast zu leuchten. Unbewusst bleibe ich in einiger Entfernung stehen und merke, wie mein Fluchtreflex nach möglichen Verstecken Ausschau hält. Ich atme langsam tief ein und wieder aus. So viele Möglichkeiten und doch bleibe ich mitten in der Halle stehen. Meine Augen verfolgen ihren Bewegungen. Sie zirkelt mit einem übervollen Becher Kaffee, pumpt gerade das dritte Tütchen Zucker hinein und schafft es, das Getränk umzurühren, ohne dass das geringste Bisschen Schaum am Rand hinabläuft. Beeindruckend und im gleichen Maß verstörend. Währenddessen quatscht und flirtet sie mit dem jungen Barista und hat mich noch immer nicht bemerkt. Ich wiederhole meine beruhigende Atemtechnik und fühle mich kein bisschen besser gewappnet als vorher. Ich hoffe inständig, dass ihr Fragenkatalog verlorengegangen oder durch die überhöhte Koffeindosis in Vergessenheit geraten ist. Ich rege mich erst, als mir Brigitta energisch mit dem Arm entgegen wedelt. Denn damit ist die letzte Chance, mich einfach in Luft aufzulösen, verspielt. Ich schultere meinen Rucksack fester und gehe trotz Widerwillen auf die grinsende Winkekatze zu.

„Also das mit der guten Laune müssen wir noch üben“, begrüßt mich meine Lektorin, als ich nahe genug bin und sorgt dafür, dass mein Gesichtsausdruck einen Mü grimmiger wird.

„Was denn? Ich bündele nur jedes bisschen Freude, das ich aufbringen kann, für das Treffen“, pampe ich ihr mit zusammengebissenen Zähnen erklärend entgegen und zeige ein passendes Lächeln, welches auch als gruselig durchgehen würde. Ich bin so samtig, wie ein verkalkter Wasserkocher.

„Klar doch, Sonnenscheinchen. Es muss wahre Anstrengung für dich sein, dass du vor lauter positiver Energie nicht augenblicklich implodierst.“ Wenn sie wüsste.

„Können wir das bitte überspringen? Ich werde mich benehmen. Mehr kann ich dir heute nicht anbieten“, versichere ich ihr mit einem Übermaß an heuchlerischer Überzeugungskraft. Brigitta mustert mich kritisch, nickt es aber ab, denn sie weiß, wann sie nachgeben sollte. Sie deutet in die Richtung ihres Autos und ich folge ihr mit dem Elan eines Teilnehmers bei einer Bobby-Car-Rallye in der Wüste.
 

Während der Fahrt lasse ich meine Lektorin reden und das nutzt sie gnadenlos aus. Nachdem ich weiß, was sie in den letzten Tagen zum Mittag hatte und wie ihre Nichte und ihre Katze heißen, schaltet sich langsam aber sicher mein Gehirn ab. Ich schnappe nur noch einzelne Fetzen und Worte auf und gehe meiner heutigen Lieblingsbeschäftigung nach. Irgendwohin starren. Zum Glück erwartet Brigitta wohlwissend keine Erwiderung von mir. Selbst, als wir das Verlagsgebäude betreten, scheint sie noch immer neue Themen zu finden, was in Anbetracht der bereits abgehakten Liste eine Unglaublichkeit darstellt. Aber was wundere ich mich überhaupt. Brigitta gehört zu den Personen, die selbst nach ihrem Tod noch reden würden und damit der gesamten Trauergemeinde das Fürchten lehren.

Während Brigitta freudestrahlend mit ihren Kolleginnen schnattert, stehe ich desinteressiert daneben und sehe mich nach fünf unendlich langen Minuten ungeduldig um. Leider nicht unbemerkt. Sie schiebt mich seufzend zum vorbereiteten Konferenzsaal und zieht leise, aber übertrieben meckernd ab. Sie wusste, was auf sie zukommen kann.

Ich lasse mich auf einen der noch reichlich vorhandenen freien Stühle nieder und bereue es zutiefst, dass ich nicht versucht habe, während der Fahrt zu schlafen. Ein müder Robin ist noch dreimal missmutiger als der normale Robin. Was selbst für mich anstrengend wird. Ohne Kaffee hätte es vielleicht geklappt. Mein Fehler. Ich atme tief durch und sehe mich um. Keine Couch. Keine Hängematte. Wo kann ich mein Veto einlegen?

Weil der leere Raum auch nach mehrmaligem Seufzen keine Notiz von mir und meinen Belanglosigkeiten nimmt, lehne ich mich einfach zurück. Auf jedem Platz liegt eine dicke Mappe mit Papieren und Ausdrucken. Ich widerstehe mühelos der Neugier, hineinzuschauen, aber auch nur, weil der Inhalt für mich so spannend ist, wie die Klatschspalte eines Frauenmagazins. Darin wird nichts stehen, was uns Brigitta bei ihrem letzten E-Mailtsunami nicht schon mitgesendet hat.

In der Mitte des Tisches stehen Gläser und Tassen auf dem Kopf, Flaschen mit Wasser und eine Schale voller Gebäck und etwas Rosafarbenen. Ich beuge mich vor und ziehe die kleine Schüssel geräuschvoll zu mir heran. Sie ist gefüllt mit rosafarbene Salztoffees und bevor ich meiner Verzweiflung geräuschvoll Nachdruck verleihe, kippt mein Kopf mit der Stirn voran und einem leisen Plopp einfach auf die Tischplatte. Mein theatralisches Schluchzen erfüllt den gesamten Raum. Nun bin ich offiziell in der Hölle angekommen. Einem pinken Ort der Verdammnis voller hochtrabendem Liebesgeschwafel und klischeehafter Pseudorealitäten. Ich werde Happy End-Floskeln bald in allen Farben kotzen und mit Sicherheit nur noch glitzernde Rosé-Sekttränen vergießen können. Keine Fähigkeiten, die ich besitzen möchte und etwas, was selbst meinem inneren Sarkasmusgetier Einhalt gebietet. Es ist schon schwer genug, beim Schreiben nicht jedes Mal in den klischeeumwobenen Liebessumpf abzudriften, nur weil es als besonders wertvolles Prädikat eines Liebesromans gilt, dass sich am Ende die Hauptfiguren gemeinsam in den siebten Himmel verabschieden. Egal, wie abstrus oder weithergeholt es ist. Liebe auf dem ersten Blick ist so unwahrscheinlich, wie von einem vom Himmel fallenden Legostein am kleinen Zeh getroffen zu werden. Und selbst das ist vermutlich noch im Rahmen des absolut möglichen. Und dennoch wird auf nichts davon Wert gelegt. Wozu Realität, wenn man himmelhochjauchzenden Scheinsurrealimus betreiben kann. Es ist zum Verrücktwerden.

Mit einem gequälten Raunen greife ich mir eine der Wasserflaschen und trinke sie bis zur Hälfte leer. Danach geht sogleich die Tür auf und ich schaffe es nicht, meinen unwilligen Gesichtsausdruck zu kaschieren, den ich auch noch direkt ins Blickfeld der Tür richte. Brigitta und eine viel jüngere Frau stehen im Türrahmen. Ihre Haarfarbe kollaboriert akzentuiert mit der meiner Verlegerin. Vielleicht sollte ich mir beim nächsten Mal die Haare einfach blau färben. Beide mustern mich, aber nur ein Blick ist wissend. Ich lehne mich zurück und mache keine Anstalten, aufzustehen oder als erstes das Wort zu ergreifen. Für Höflichkeiten habe ich heute keine Energien übrig.

„Bemüh dich nicht. Robin, das ist Maren Dey und das, meine Liebe, ist Robin Quinn.“ Brigitta formuliert die klassischen Vorstellungsgesten und ich sehe, wie Maren eifrig nickt. Außerdem kann ich deutlich erkennen, wie es in ihrem Gehirn arbeitet. Nein, diesen Namen wird sie nicht kennen und garantiert wirke ich nicht wie der typische Schriftsteller. Wieso also bin ich hier? Eine Frage, die ich mir schon seit Wochen stelle. Ich bin mir auch nicht sicher, ob Brigitta absichtlich darauf verzichtet, mich mit meinem Pseudonym vorzustellen oder sie mich schlicht dazu zwingen will, selbst auszupacken. Den Gefallen tue ich ihr nicht. Hinter den beiden taucht noch eine weitere Frau auf. Kara Wang. Auch sie wird mir vorgestellt. Nur mir. Anscheinend sind die anderen Autoren untereinander gut vernetzt. Sie hat ungewöhnlich strenge asiatische Züge, aber wenigstens klassisch schwarze Haare. Ihr Name kommt mir im Gegensatz zu der anderen bekannt vor. Ich meine mich daran zu erinnern, dass ich erst vor kurzem eines ihrer Bücher in der Hand hatte und mich still darüber echauffierte, dass ihre Cover wesentlich hübscher sind, als meine. Darauf werde ich Brigitta noch mal ansprechen müssen. Es folgen noch zwei Kolleginnen von Brigitta, bei denen ich nicht weiß, ob sie ebenfalls als Lektorin arbeiten, oder ob sie andere Stellen innehaben, wie Marketing oder einen dieser anderen hübschen englischen Berufsbezeichnungen.

Direkt hinter der weiblichen Ansammlung kann ich Karsten, meinen Verleger, ausmachen. Er wirft mir einen Blick zu, hebt seine Hand und obwohl er alle überragt, verliert sich seine Spur plötzlich in der Menge. Vielleicht hat er die Flucht ergriffen? Vielleicht könnte er mich in sein Versteck einladen? Für einen kurzen Moment bin ich hoffnungsfroh, doch dann schiebt er die Frauen einfach durch die Tür und fordert alle auf, sich hinzusetzen. Eine der Sekretärinnen bringt eine Thermoskanne mit Kaffee und zusätzlich eine mit Tee. Ich bin freudig überrascht. Auch, dass ich nicht der Einzige bin, der Tee favorisiert. Fräulein Wang ebenso. Ich danke ihr, als sie mir ebenfalls eine Tasse eingießt und das Lächeln, womit sie den Dank erwidert, verdrängt mit einem Mal jede Härte aus ihrem Gesicht. Ein Unterschied von Tag und Nacht. Ich kann nicht verhindern, dass ich sie einen Moment länger ansehe und meinen Blick erst löse, als sie an ihrer Tasse nippt.
 

Die Begrüßung und überschwängliche Einleitung in das Vorhaben übernimmt Brigitta, während Karsten stetig und bedächtig nickend neben ihr sitzt und dabei wirkt als wäre er ihr Schoßhund und nicht ihr Chef. Ob er bellt, wenn man ein Leckerli aus der Tasche holt? Bei der Vorstellung schleicht sich ein Grinsen auf meine Lippen. Dabei kann ich meinen Verleger wirklich gut leiden. Er ist geradeheraus und hält sich selten mit Kleinigkeiten auf. Er sagt direkt, wenn ihm etwas gefällt oder nicht und damit kann ich wesentlich besser umgehen, als mit zurückhaltenden Weichspülerattitüden. Ich beobachte ihn noch einen Moment länger und erkenne nun, dass seine Finger unruhig unter die Tischplatte gegen das Holz klopfen. Er ist mit so viel Elan dabei, wie ich. Als er meinen Blick bemerkt, lächelt er und hält für zwei Minuten still. Brigitta skizziert wortreich ihre Vorstellungen und zieht währenddessen die zwei Flipcharts heran, die bis eben noch unschuldig an der Seite rumstanden. Oh oh. Ich ahne böses. Mein Gefühl bestätigt sich, als sie verschiedenfarbige Kärtchen und Stifte rumgeben lässt. Ich muss nicht nur zuhören, sondern auch mitmachen. Das war nicht der Deal. Ich setze zum Widerspruch an und werde von meiner Lektorin unterbrochen, ehe ich überhaupt einen Laut hervorbringe. Sie legt sogar noch ein paar Karten mehr auf meinen Stapel und grinst. Ich schnappe mir den Stift und schreibe mit Druckbuchstaben das Wort Rache auf eine der rosaroten Karten und halte sie in Brigittas Richtung. Karsten lacht laut auf und Brigitta winkt kokett ab, nachdem sie mir einen Luftkuss zu geworfen hat. Ich bringe sie nicht mehr aus der Ruhe. Daher ergänze ich das Schild noch mit `coming soon` und klebe es mir demonstrativ als Namensschild ans Oberteil. Sie lächelt und fährt fort.

„Natürlich sprechen wir auch von den klassischen Features im Sinne von Signierstunden, Buchverkäufen, Meet and Greets und Lesungen...“ Yippie. Ich, in einer Lesung. Eine derartige Szene malt sich augenblicklich in meinem Kopf und sie ist der reine Horror. Wo ist das bodenlose Loch, in das ich mich stürzen kann? Ich verstehe immer noch nicht, wieso ich hier bin. „Schön wäre es auch, wenn wir Diskussionsrunden aufziehen können, um zu erfahren, wohin sich die Vorstellungen der Leser*innen entwickeln. Wünschen Sie sich eher seichte Liebe auf dem ersten Blick oder spannende Versteckspiele mit Herzschmerz erfülltem Liebeskolla“, setzt sie begeistert und überschwänglich fort. Sie schreibt definitiv zu viele Klappentexte. Automatisch verdrehe ich die Augen und ich schaffe es nicht schnell genug, meinen Blick abzuwenden. Ich merke einen leicht zwiebelnden Schmerz an meinem Hals und wie etwas in meinen Schoss fällt.

„Au!“, gebe ich entsetzt von mir. Als ich nach dem Objekt greife, welches mich getroffen hat, erkenne ich einen der Salztoffees und blicke direkt zu meiner Lektorin, die mich mit blitzenden Augen durch ihre Brille hindurch fixiert. Oder wahlweise auch erdolcht. Ihr Gesichtsausdruck hat einen gewaltigen Interpretationsspielraum. Ich entferne die Hülle und stecke mir das süße Ding demonstrativ in den Mund. Großer Fehler. Das Wort Süß bekommt eine neue Bedeutung und paart sich mit der Definition von das Grauen. Es ist schrecklich.

„Hast du zu dem Thema eine Meinung?“, fragt Brigitta trotz alledem, als ich angestrengt mampfe, statt zu parieren.

„Habe ich, ... aber die will hier ... keiner hören...“, sage ich mit Verzögerungen, da der Toffee in meinen Zähnen klebt. Ich schmatze kurz auf und verhindere gerade so, dass sich meine Spucke verselbstständigt.

„Ah, du meinst, ich kenne sie bereits...“ Oder so. Gehopst, wie gesprungen. Oder gehoppelt? Ich zucke desinteressiert mit den Schultern. Brigitta lässt sich nicht beirren und blubbert einfach weiter, während ich gegen den Karieskleber kämpfe. Ein Kampf der Giganten und für einen Moment befürchte ich, zu unterliegen. Meine Kopfschmerzen nehmen weiter zu. Meine Zahnschmerzen auch. Ich blicke fast sehnsüchtig auf mein Handy, welches auf meinen Schoss unter dem Tisch liegt, während ich mit der Zunge versuche, meine Zähne zu reinigen und verspüre das dringende Bedürfnis, jemanden mein Leid kundzutun. Doch der Einzige, der mir einfällt, wäre Kain. Das steinerne Etwas in meiner Brust wird schwerer. Trotzdem öffne ich den Chat mit dem Schwarzhaarigen und das miese Gefühl wird nur noch schlimmer. Meine Nachrichten wurden gelesen, aber nicht beantwortet. Dafür gibt es nur zwei Gründe. Marvin hat sie vorher gelöscht oder Kain will mir nicht antworten. Keine davon gefällt mir und meine Konzentrationsfähigkeit verabschiedet sich endgültig.
 

Ich horche erst wieder auf, als die Diskussion um mich herum plötzlich mit den Phrasen ewiger Liebe und Wunscherfüllung rumwirft, wie mit Konfetti. Die fünf Frauen sind definitiv auf einem glitzernden Regenbogen unterwegs. Vielleicht sollte ich ihnen Nils zur Verfügung stellen, denn mein kleiner Sarkasmusfreund schabt bereits mit den Hufen. Die Runde tauscht sich über vergangene und aktuelle Bestseller des Genres und deren Plots aus und ich wage es kaum zu sagen, dass ich so gut wie nichts davon gelesen habe. Meine Gelüste werden eher von Fachliteratur und morbiden Thrillern gestillt. Oder von der Tatsache, dass mein Gehirn genügend eigenen Kram produziert.

„Was spricht eigentlich gegen Realismus in Liebesgeschichten?“, frage ich, als Maren nach einem ausschweifenden Monolog über die fantastische Welt des unbegreiflich unwahrscheinlichen Liebesobjektes Luft holt. Superreiche, aber kaltherzige Millionäre, frenetisch geliebte Idole und super strenge, aber super sexy Chefs. Ich scheine in einem anderen Universum zu existieren, weil ich den Sinn dahinter einfach nicht begreife. Sie jedoch behauptet felsenfest zu wissen, was genau ihre Leser*innen sich wünschen und wieso sie es sich genauso vorstellen. Die Chance auf das Erleben des Unmöglichen und ein Happy End sind das Einzige, was zählt. So als würde nur ein derartiges Ende ihre Existenzen rechtfertigen. Ich habe schon fast ein wenig Mitleid, wenn ihr Lebensinhalt einzig darin besteht, darauf zu hoffen, dass sie irgendwann ihren unantastbaren Traumprinzen besteigen können. Alle sehen mich an, als ich meine simple, aber ernstgemeinte Frage ausspreche. Karsten räuspert sich und in den Augen meiner Lektorin erkenne ich die wachsende Panik, dass ich gleich zum Meuchelmord des Liebesgenres ansetze. Es ist nicht meine Absicht. Ich möchte nur einen adäquaten Beitrag zur Diskussion leisten.

„Was genau verstehst du darunter?“, fragt mein Verleger und ich bin mir sicher, dass er ebenso, wie Brigitta meinen letzten Romaninhalt im Kopf hat. Ehe ich antworte, lasse ich meinen ungenutzten Stift auf die Mappe tippen, zucke mit den Schultern und weiche ihren unangenehmen Blicken aus.

„Na ja,...“, beginne ich zögerlich und versuche alle vorher angesprochenen Thema aufzugreifen, „... dass es nicht immer sofort klappt, zum Beispiel. Manchmal bedarf es einer zweiten Chance oder einer Dritten. Oder dass man nicht immer dem Neuen nachgeht, sondern auch mal für das Alte kämpft. Auch, wenn das Neue aufregend und glitzernd wirkt, kann man einen Menschen auch ein zweites Mal kennenlernen und dabei Dinge entdecken, die man vielleicht schon wieder vergessen hatte.“ Während ich spreche, bemerke ich, dass sich Brigitta beruhigt zurücklehnt und mich trotzdem ganz genau beobachtet. Auch Maren und Kara sehen mich aufmerksam an.

„Ich meine ja nur, dass es auch andere Wege gibt, eine gute Liebesgeschichte zu kreieren, ohne permanent das Unmögliche wahrzumachen. Ich sage es nur ungern, aber so viele Millionäre gibt es einfach nicht und Narzissten bleiben Narzissten, egal, wie devot man sich zeigt.“ Im echten Leben fällt niemand so einfach aus seiner Rolle, wieso sollten es Romanfiguren? Menschen lassen sich nicht einfach ändern. Wir sind, was wir sind und jede Veränderung kostet Kraft, Zeit und eigene Willen. Alles andere ist vergebliche Liebesmüh.

„Du bist also gegen den klassischen Mainstream. Das finde ich gut“, sagt Karsten und sieht zu Brigitta.

„Ich bin gegen die verschwenderische genutzten Kli....“, beginne ich, doch Brigitta fährt mir energisch in die Parade.

„Robin kann das auch bleiben, aber wir dürfen uns nicht gegen den Mainstream verschließen.“ Wie diplomatisch. „Die Zahlen zeigen einen deutlichen Trend und den greift Maren definitiv mit ihren Ideen auf.“ Trotz ihrer Worte sehe ich, wie sie sich etwas auf ihrem Block notiert. „Ich finde allerdings, dass das ein gutes Thema für eine Diskussion darstellt. Warum sehnen wir uns eigentlich nach dem Unmöglichen? Was reizt uns an dem Unwahrscheinlichen? Warum will jeder eine Prinzessin sein?“

„Ich nicht.“, lehne ich prompt die Hypothese ab.

„Okay, Robin, darf das schlosseigene Ungetüm im Burggraben sein“, kommentiert Karsten und deutet auf seine Uhr. Alle anderen kichern. „Gut, wenn das geklärt ist, machen wir erstmal Pause.“
 

Ich lasse mich draußen auf eine der Bänke fallen, während die anderen essen gehen. Brigitta versucht mich zur Nahrungsaufnahme zu motivieren, doch ich lehne dankend ab. Ich habe keinen Hunger und dank der Kariesbombe habe ich Zahnschmerzen. Nicht mal der Pudding und die Zusicherung, dass ich auch ihren bekomme, können mich locken.

Draußen ist es angenehm warm, so dass ich keine Jacke brauche. Nun bin ich froh, dass mir Brigitta vorher das Racheschild abgenommen hat. Aus der Gewohnheit heraus stecke ich mir eine Zigarette zwischen die Lippen, zünde sie aber nicht an. Ich lasse sie nur eine Weile hin und her wippen und starre gen Himmel. In der letzten Zeit ist das Bedürfnis nach Nikotin wirklich weniger geworden. Selbst in den letzten Stunden merkte ich keine übertriebene Unruhe. Jedenfalls nicht aus diesem Grund. Ich werde von Sonnenstrahlen geblendet und schließe die Augen. Ich bin müde und überhaupt nicht bei der Sache. Die Zigarette stecke ich mir hinters Ohr, pfriemele leise schmatzend mein Handy aus der Hosentasche und versuche auf dem Display irgendwas zu erkennen. Ein verpasster Anruf und mehrere Nachrichten. Es ist alles von Jeff.

-Hab mich von Abel getrennt.-, lautet die Erste. -Er kann so ein Arsch sein.- Nummer zwei. Für mich ist das Zweite keine neuwertige Information. Auch der Schritt zur Ersten nicht. Trotzdem bin ich überrascht, wie schnell es plötzlich ging. Ist es meine Schuld? Waren meine Worte dafür ausschlaggebend, weil ich ihm gesagt habe, dass er mich angemacht hat? Oder hat Jeff mit einem Mal begriffen, dass Abel nichts weiter als eine Luftnummer ist? Ich glaube nicht wirklich daran. Da ist sicher noch nicht das letzte Wort gefallen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Abel es so einfach darauf beruhen lässt und Jeff gehört nicht zu den Personen, die wirklich konsequent sind. Was das überstürzte Handeln noch eigenartiger macht. Ich lese die restlichen Nachrichten, um vielleicht einen Grund zu erfahren.

-Wo bist du überhaupt? Danke für die Gummibärchen. Sind schon alle- Eine Weitere.

-Hab Kain getroffen. Was ist los?- Nach dieser Textnachricht lasse ich das Telefon sinken und beiße mir auf die Unterlippe. Kain ist also schon wieder auf den Beinen. Unterwegs nach seiner feuchtfröhlichen Kumpelnacht. Gut. Fantastisch. Sein Handy hat er sicher auch wieder. Aber er hat noch keine Zeit gefunden, um auf meine Nachrichten zu reagieren. Oder auf meinen Anruf. Too busy. Gut. Fantastisch. Ich nicke nach jedem Satz und störe mich nicht mal daran, dass sie selbst in meinem Kopf vor Verzweiflung nur so triefen. Himmel bitte erschießt mich. Ein Treffer mitten in die Stirn. Dann hört auch endlich dieses kindische, selbstbemitleidende Gefasel auf. Ich bin selbst schuld, dass er sich zu dem Schritt gezwungen fühlt und jetzt muss ich verdammt noch mal damit leben. Allerdings bin auch niemand, der etwas einfach so ruhen lässt. Um zu verhindern, dass Jeff weitere Male versucht, mich zu erreiche, antworte ich ihm.

-Bin bis morgen unterwegs. Im Gefrierfach liegt Eis. Kommst du klar?- Ich frage mich für einen kurzen Moment, ob es schroff klingt und schicke es dennoch ab. Jeff ist nichts anderes von mir gewöhnt und übertrieben Freundlichkeit macht ihn eher misstrauisch. Trotzdem würde ich gern den Grund von ihm erfahren. Danach lege ich das Handy auf meinem Schoss ab. Ich habe keine Ahnung, wie sehr Jeff die Trennung mitnimmt. Weder er noch ich bringen da viel Erfahrung mit. Aber Eis hilft immer. Mit Eis kann man nichts falsch machen. Mein Kopf kippt in den Nacken. Die feinen Sonnenstrahlen treffen mein Gesicht erneut. Sie sind warm und angenehm. Sie winden sich mühelos durch die Verästelung des Baumes und werden davon getragen von einen sanften Luftzug. Was würde ich dafür geben, einfach einer dieser Sonnenstrahlen zu sein. Schwerelos und frei. Erneut geistern Kains und Renés Namen durch meinen Kopf. Mittlerweile kann ich die Intensität, die sie auslösen, nicht mehr voneinander unterscheiden. Im Gegenteil, sie scheinen sich gegenseitig anzustacheln.
 

Die leisen Stimmen und nahenden Schritte nehme ich kaum wahr. Erst, als sich jemand neben mir auf die Bank niederlässt, öffne ich meine Augen.

„Was ist mit dir los, Brausebär? Alles okay?“ Meine Lektorin hält einem Kaffeebecher in der Hand und ruft das Kosewort so laut aus, dass sich die anderen Teilnehmer noch mal umdrehen. Ich bin zu langsam, um angemessen auf Brigitta zu reagieren. Dementsprechend schenke ich ihr nur einen halbherzigen Blick und ziehe einen Flunsch. Sie legt mir als Reaktion darauf einen Vanillepudding in de, Schoss, der sich unter ihrem Kaffeebecher versteckt hat. Ich kriege sogar einen Löffel.

„Nichts. Ich bin so brav, wie du wolltest, oder nicht?“, ringe ich mir ab.

„Ich wollte dich friedlich, nicht apathisch“, kommentiert sie und schiebt ihre Brille etwas nach oben. Ich krächze theatralisch, nehme den Pudding in die Hand und lehne mich nach vorn. Meine Ellenbogen drücken sich in meine Oberschenkel. Mein Blick richtet sich auf eine weit entfernte Stelle. Einem orangefarbenen Fleck inmitten einer samtig grünen Hecke.

„Ich rate mal“, beginnt Brigitta neben mir. Ich seufze, sage aber nichts. Wohlwissend, dass ich sie sowieso nicht aufhalten kann. “Es geht um das Schnuckelchen und scheinbar ist euer Date gestern nicht so gelaufen, wie ich es mir gewünscht hätte.“ Treffer. Versenkt. Ob ich nun wieder in Ruhe vor mich hinvegetieren darf?

„Es war nur ein Essen und... es hat nicht stattgefunden“, gebe ich monoton preis. Nicht so, wie sie es sich gewünscht hat, wiederholt sich in meinen Kopf. Ich mir auch nicht. Allerdings mit dem Unterschied, dass ich im Grunde gar keine Erwartungen hatte. Warum also bin ich so enttäuscht?

„Oh“, gibt sie als einziges von sich und ich sehe auf den Kaffee in ihrer Hand. Ihre langen, türkisfarbenen Fingernägel kratzen über die bedruckte Pappe, pfriemeln an einen lockeren Papierfetzen rum und lenken mich kurz ab. Wir schweigen einen Moment lang und ich beginne das Plaste meines Puddings vorsichtig zusammenzudrücken, sodass sich die Abdeckung wölbt. Es knistert. Es knirscht und überdeckt das feine Seufzen, welche sich von meinen Lippen löst. Es ist fast eine Melodie. Eine Melodie des Trübsinns.

„Willst du mir gar nicht unterstellen, dass ich es verbockt haben muss?“, frage ich, nachdem sie etwa zwei Zentimeter Papier abgepellt hat.

„Würde dir das denn helfen?“, erkundigt sie sich und ich sehe auf. Durch die Brillengläser hindurch blicken mir zwei klare, graugrüne Augen entgegen. Nein, das würde es nicht.

„Robin, ich weiß nicht, was passiert ist und ich werde auch nicht weiter mutmaßen. Du kannst mit mir darüber reden oder du lässt es.“ Die beste Wahl für mich zu treffen war noch nie meine Stärke und auch jetzt mache ich das Typische. Schweigen. Schulterzuckend lehne ich mich zurück, verschränke die Arme locker vor dem Bauch und drehe den Becher Pudding mit einer Hand umher. Ich wechsele zur anderen und werfe die Süßspeise hin und her. Nur nicht lange. Brigitta greift sich den Pudding und zwingt mich so, sie wieder anzusehen.

„Weißt du, Mausespeck, du bist der Inbegriff von unromantisch und doch, liebe und glaube ich dir jedes Wort deiner Bücher. Und weißt du, wieso?“ Die damit herbeigeführte Pause zwingt mich erneut, sie anzusehen. Auf ihren Brillengläsern sind kleine Wasserflecke zu erkennen. „Weil es authentisch ist. Weil du nicht nur blind etwas fantasierst und ausschmückst. In jeder Zeile stecken Wünsche und Sehnsüchte, die so variabel, schön und farbenfroh sind, wie die Menschen selbst und das ist wunderbar. Selbst deine eigenen, auch wenn du sie leugnest.“ Mit einer einfachen Geste erstickt sie jede meiner typischen Ablehnungen im Keim, bevor sie sich auch nur ansatzweise über meine Lippen mühen.

„Ich weiß, wir haben diese Diskussion schon geführt. Ich kenne deinen Standpunkt und du meinen. Aber ich betone gern noch mal, Liebe ist etwas Gutes und sie ist weitaus vielschichtiger, als es uns die Wissenschaft diktiert. Ich denke, dass...“

„Was?“, unterbreche ich sie, „Wird sie dadurch weniger anstrengend oder sinnvoller?“ Ich reagiere gereizt und weiß nicht einmal, wieso. Ihr blinder Enthusiasmus ist wie immer beeindruckend. Aber ich bin es leid, diese Grundsatzdiskussion zu führen. Für manche Dinge gibt es keine allgemeingültige Definition und Liebe gehört für mich dazu.

„Du betonst zwar immer wieder, wie sehr du Emotionen verabscheust und wie wenig es dir bedeuten, aber im Grunde hast du einfach nur Angst. So wie alle anderen auch und das ist okay.“ Angst. Ja, ich habe Angst. Auch sie trifft den Nagel auf den Kopf, was es nicht einfacher für mich macht oder brauchbar.

„Vielleicht solltest du da ansetzen. Akzeptiere, dass es okay ist, Angst zu haben und dann merkst du endlich, dass du um dich herum Menschen hast, die dir die Ängste auch nehmen können... wenn du es zulässt.“ Langsam bin ich mir sicher, dass sie nebenberuflich Glückskekstexte schreibt. Ich greife nach der Zigarette hinter meinem Ohr, stecke sie mir zwischen die Lippen und taste nach meinem Feuerzeug. Doch statt diesem, ertaste ich in der Tasche nur den USB-Stick, ziehe ihn hervor und halte ihr diesen hin.

„Hier die Korrekturen zu `Niemals nicht´“ Es klingt vernuschelt, wegen der Zigarette in meinem Mund.

„Oh, du mein braver Vorzeigeautor“, säuselt sie und nimmt mir den Stick ab. Mitnichten. Ich verdrehe schon währenddessen theatralisch die Augen. Erst beim zweiten Versuch finde ich das Feuerzeug und zünde die Zigarette an. Brigitta steht auf und lässt mich mit meinem Krebserzeuger allein. Und mit meinen Gedanken.

...meine Sprache wären…

Kapitel 27 Wenn Worte meine Sprache wären… (2/2)
 

Auch für die zweite Runde fehlt mir deutlich der Elan und diesmal gebe ich mir weniger Mühe, das zu verbergen. Ein Prozent ist teilgenommen. Dennoch bleibe ich brav auf meinem Platz sitzen, nicke ab und an und versuche, mich einzubringen. Ich mache sogar zwei, drei nützliche Vorschläge, die danach von den anderen enthusiastisch aufgegriffen und diskutiert werden, was mir jedes Mal genügend Zeit zum Abdriften bietet. Am Ende sind die beiden Flipcharts bunt beklebt und beschrieben. Es zeichnet sich tatsachlich ein halbwegs deutlicher Fahrplan ab und auch meine Lektorin scheint sichtlich zufrieden, als sie ihre Hände in die Taille stemmt und es zusätzlich laut ausspricht. Dass ich mich augenblicklich fühle, wie ein Welpe beim ersten Gassi gehen, ist scheinbar beabsichtigt. Ein Leckerli kriege ich nicht, dabei habe ich so vortrefflich das Bäumchen gefunden.

Wir beenden das Treffen mit einigen letzten motivierenden Worten und obwohl ich nicht damit gerechnet habe, bitten mich Maren und Kara um meine Kontaktdaten. Ich kann ihnen nur meine Handynummer anbieten. Alles andere habe ich nicht. Vermutlich werden sie direkt Brigitta fragen, ob das mein Ernst ist. Sie fragen mich nicht nach meinen Büchern, weshalb ich mein Pseudonym nicht preisgeben muss. Bevor ich mich endgültig verabschieden kann, werde ich von Karsten abgefangen. Ich folge ihm in sein Büro. Er fragt mich nach meinem Befinden und meint damit zum Glück nur die geschäftliche Beziehung zum Verlag. Ich gebe ihm ein Stimmungsbild mit grundsätzlicher Zufriedenheit und versäume aber nicht anzumerken, dass ich den Wunsch nach Veränderung habe, wie auch immer diese dann aussieht. Er weiß, dass ich mich mit dem persönlichen Marketing und der öffentlichen Präsenz schwer tue. Er verteidigt Brigittas Wunsch, mich mehr in den Prozess der Convention mit einzubinden. Interessanterweise meine ich mich daran zu erinnern, dass Brigitta meinte, dass Karsten die Entscheidung traf, mich dazu zu verpflichten. Ich sage nichts. Als letztes sprechen wir über die Veröffentlichung des neuen Buches. Es wird in das Frühjahrsprogramm aufgenommen. Ich nicke dankend und verabschiede mich. Im Flur fängt mich Brigitta ab und bietet mir an, mich zurück zum Bahnhof zu fahren. Auch das nicke ich ab. Sie begleitet mich bis zum Bahnsteig.
 

„Fährst du jetzt noch zum Campus zurück?“, fragt sie und kramt in ihrer riesigen Tasche nach einem Kaugummi. „Du kannst immer noch einen der Hotelvoucher benutzen. Die Betten sind total bequem und das Frühstück ist fantastisch“ Sie schwärmt, während ich mir am Automaten ein Ticket ziehe.

„Nein und nein“, antworte ich und sehe auf die Uhr. Es ist spät. „Ich fahre noch nach Hause.“ Brigitta nickt. Sie weiß, wo meine Heimatstadt ist, da wir uns während des Lektorats meines ersten Buches mehrfach dort getroffen haben. Dort hat sich auch das kleine Ritual entwickelt, gemeinsam Eis zu vertilgen. Ich glaube, sie wollte mich nur aus der Reserve locken und ich bin mir sicher, dass sie das immer wieder von neuem versucht. Ich bin mir sicher, dass sie weiß, dass sich in diesen Monaten der Todestag meines Bruders jährt. Sie weiß wahrscheinlich das genaue Datum nicht mehr und ich bin mir auch nicht sicher, ob ich es jemals erwähnt habe, aber sie stellt keine weitere Frage darüber, wieso ich nach Hause fahre und nicht zum Campus. So, als würde sie es ahnen. Ich sehe sie einen Moment und sie hält mir die Packung Kaugummis hin.

„Oh, bevor ich es vergesse!“ Sie greift ein weiteres Mal in die Tasche, reicht mir den USB-Stick, den ich ihr erst heute Mittag gegeben habe. „Hier, ich denke, du hast mir den Falschen geben.“ Ich brauche einen Moment bis ich verstehe, was sie damit meint. Ich habe ihr versehentlich die Kopie von Kains Geschichte ausgehändigt. Peinlich. Brigitta ist schlau und hat anhand der Beschreibungen sicher erkannt, wer da meiner Fantasie nachgeholfen hat.

Ich greife den Stick ohne hinzugucken und presse die Lippen aufeinander. Ich hoffe, dass sie nicht allzu viel davon gelesen hat. Doch als ich endlich aufblicke, platzt die Hoffnungsblase ohne weiteres Zutun. Brigitta grinst. Ohne Ohren wäre es mit Sicherheit 360 Grad.

„Das war nicht für meine Augen gedacht...“, stellt sie fest und blinzelt mir entgegen, „Aber ich verspreche dir, dass ich jeder Zeit dazu bereit bin, abzustreiten, dass ich weiß, dass das von dir stammt.“ Ihr Grinsen wird wieder umfassend. Es hat ihr gefallen, geht mir durch den Kopf und ich beginne nervös mit dem Papier des Kaugummis zu spielen. Ehe ich ihn mir in den Mund stecke.

„Willst du es veröffentlichen?“

„Nein...“, sage ich etwas zu schnell, beiße mir auf die Unterlippe und versuche es nochmal, „Nein, es ist...es ist nur... eine Schreibübung.“ Etwas anderes fällt mir gerade nicht ein und im Grunde hätte ich es mir sparen können.

„Es ist also für ihn?“ Ich hasse sie. Inbrünstig.

„Nein, niemals.“ Das Lachen, was folgt ist gekünstelt und ich schlucke es schnell wieder runter. Meine Lektorin schüttelt ihren Kopf.

„Weißt du, wenn der Kerl und die Beziehung, die du in dem Text beschreibst, auch nur ansatzweise so sind, dann solltest du nicht mehr so viel nachdenken und handeln.“ Brigitta lehnt sich dichter an mich heran. Sodass ihre Schulter meine berührt. Sie grinst und verabschiedet sich mit wehender Mähne, während die Durchsage für meine Linie eine Verspätung ankündigt. Völlig normal bei Regionalzügen.
 

Ich steige in den Zug, der mich in meine Heimatstadt fährt. Diesmal habe ich kein Glück bei der Platzwahl und zwänge mich mit sieben Fahrrädern und etlichen Pendlern ins Fahrradabteil. Zum Glück stehe ich an einem geöffneten Fenster und spüre bei jedem Meter, den der Zug vorankommt, einen angenehmen Lufthauch auf meinem Gesicht. Ich lasse meine Augen geschlossen und konzentriere mich auf die vielfältigen Geräusche in dem Abteil. Jemand blättert in einer Zeitschrift und scheint die Hälfte der Artikel einfach zu überblättern. Irgendwo höre ich leise Musik. Die Lautstärke muss enorm sein, wenn ich sie bis hierher hören kann. Woher es kommt, kann ich nicht ausmachen. Das Geräusch der Motoren. Als mein Telefon zu vibrieren beginnt, habe ich neben dem akuten Unwillen ranzugehen, zudem große Mühe, es aus meiner Hosentasche zubekommen. Ich nehme ab, ohne nach dem Anrufer zuschauen, da mir diese Bewegung sonst eine splitternde Ulnafraktur verursachen hätte. Ich verdrehe mich bereits jetzt unangenehm und merke, wie sich ein Teil eines Lenkers in meine Hüfte bohrt.

„Hey,...“, seufzt Jeff mir entgegen.

„Den Eisvorrat schon aufgebraucht?“, frage ich ohne begrüßende Erwiderung und wohlwissend, dass mir mein frisch befreiter Mitbewohner nur sein Leid klagen will.

„Bin ich Eiszilla?“, erwidert Jeff empört und etwas zu schnell, „Ich hatte drei. Jetzt ist mir schlecht.“ Gesteht er quengelig. Ich höre meinen Jugendfreund ächzen und wie er sich scheinbar auf dem Bett hin und her wälzt. Danach ertönt ein folgenschweres Seufzen, welches mir den Beginn seiner Klagen ankündigt.

„Ich bin so sauer...“, startet er und ich verschlucke mich überrascht.

„Alles okay?“, fragt er, nachdem ich ihm volle 30 Sekunden ins Ohr huste, da ich das Telefon nicht runternehmen kann.

„Du bist sauer? Ich habe damit gerechnet, dass du am Boden zerstört bist und mir gleich die Ohren volljammerst.“, sage ich etwas zu ehrlich. Jeff murrt lautmalerisch.

„Ich bin am Boden zerstört, aber eben auch sauer, weil Abel ein totaler Lügner ist und...“

„...ein Vollpfosten?“, ergänze ich angespornt und freimütig nach der unerwarteten Offenbarung. Mein Mitbewohner knurrt erneut. Diesmal lauter.

„Dass du ihn denunzierst, habe ich erwartet. Wobei du ganz und gar nicht das Recht dazu hast.“

„Was, soll ich ihn plötzlich bemitleiden oder dir dazu raten, dass du das Ganze noch mal überdenken solltest? Darauf kannst du lange warten.“ Jeff weiß, wie ich über Abel denke. Mit ihm ist er nicht glücklich, wieso also sollte ich es schön reden? Mein Jugendfreund gibt wieder nur einen Laut von sich, der letztendlich alles bedeuten kann.

„Außerdem... endlich freie Bahn für deinen IT-Fritzen. Was willst du mehr? Greif zu“, gebe ich platt und gewohnt monoton von mir. Natürlich ist es nicht so einfach und das ist mit sehr wohl bewusst. Jeff hat schließlich nicht grundlos mehrere Monate eine Beziehung mit diesem Schokoladenhohlkörper geführt.

„Bist du wirklich so abgestumpft?“

„Ist es nicht das, was alle erwarten?“ Irgendwoher dringt Musik zu mir durch. Ich erkenne das Lied. Den gleichmäßigen Beat von Billy Eillishs `Bad guy`. Wie passend. Jedenfalls vom Titel her. Spontan denke ich trotzdem an einen anderen ihrer Songs.

„Ich bin nicht alle, Robin und das solltest du langsam wissen.“ Eindringlich. Sogar sein Tonfall ändert sich. Er klingt vorwurfsvoll.

„Tue ich, aber du solltest langsam wissen, dass ich nun mal so bin, wie ich bin.“ Ich schließe ermattet meine Augen, da ich selbst nicht verstehe, wieso ich dauernd darauf rumreite.

„Und das ist deine Entschuldigung für alles? Du machst es dir zu einfach.“

„Oh bitte, kannst du mir das heute einfach ersparen...“, johle ich genervt auf. Ich brauche nicht noch mehr Besserwissersprüche oder Moralpredigten.

„Weil nicht darüber reden einfacher ist, ja?“, kommentiert er bissig und trifft voll ins Schwarze. Bin ich heute voller Zielscheiben? Ich imitiere seine Lautepalette und erfinde noch ein paar neue hinzu.

„Ich habe mit Kain gesprochen.“, sagt er hinter.

„Und?“ Keine neue Information, denn das hatte er mir bereits geschrieben. Trotzdem beschleunigt sich mein Puls und ich reibe ein paar Mal unruhig die Fingerkuppen über den rauen Stoff meiner Jeans.

„Er sah nicht wie der taufrische Morgen aus, wenn du verstehst. Sehr mitteilsam war er auch nicht. Hast du dich deshalb in Luft aufgelöst?“ Wenn das doch nur möglich wäre. Physik ist Scheiße. Der Zug ruckelt und alle stöhnen auf. Ich spüre einen Ellenbogen, der sich auffällig stark in meinen linken unteren Rippenbereich drückt und rücke noch dichter ans Fenster, ohne den Mann hinter mir zu bemerken, den ich dabei anstoße. Auch er murrt und schafft es nicht rechtzeitig, die Flasche Bier zu stabilisieren, die er hält. Ein Schwall der Flüssigkeit landet auf meiner Hüfte und sofort schlägt mir der malzige, herbe Geruch entgegen. Großartig. Er entschuldigt sich nicht mal. Die nächste Station wird durchgesagt. Es ist meine Haltestelle und ich merke, wie die blecherne Ansage im heftigen Rauschen meines aufgeschäumten Blutes untergeht.

„Du bist nach Hause gefahren?“, stellt Jeff überrascht fest. Natürlich hat er das gehört und auch erkannt. Wie sollte es auch anders sein?

„Es bot sich an, denn ich hatte in der Nähe zu tun“, erkläre ich ehrlich in der Hoffnung, dass es er keine weiteren Schlüsse zieht.

„Wirklich?“ Ich kann die Skepsis quasi schmecken, riechen, sehen und ganz klar hören. Was für einen Sinn gab es noch? Ich kann mich nicht erinnern, nur dass es fünf sein müssten.

„Oh...“, entflieht ihm plötzlich und im ersten Moment, weiß ich nicht, wofür es steht. Er wiederholt es mit ein paar kleinen Ausweichlauten, wie Ähm und uh. Es dämmert mir. Er druckst herum, weil ihm eingefallen, was heute für ein Tag ist.

„Grüßt du deine Mama von mir? Und natürlich Lena...und...“

„Mach ich “, unterbreche ich das Gestammel, „Bin morgen zurück.“ Damit lege ich auf.
 

Nach der Ankunft bleibe ich auf dem Bahnsteig stehen. Es ist vollkommen idiotisch, aber trotzdem rühre ich mich nicht. Auch dann nicht, als die Masse an Menschen an mir vorüber ist und ich vollkommen allein zurückbleibe. Auch, wenn ich weiß, dass sich meine Mutter sehr freuen wird, dass ich hier bin, will ich nicht nach Hause fahren. Ich will nicht gefragt werden, wie es mir geht. Ich will nicht darüber reden, dass der Tod meines Zwillingsbruders eine Tragödie ist, wie unfair die Welt ist und wie sehr wir ihn vermissen. Ich möchte auch nicht hören, was ich anders machen muss, um besser damit klar zu kommen. Für jeden Ratschlag, den ich ungefragt in den letzten Jahren bekam und der mir erklärte, dass ich mich mit allem auseinandersetzen muss, hätte ich einen Baum pflanzen können und wir würden mittlerweile als Tarzan im Urwald leben. Reden ist einfach. Fühlen nicht. So einfach ist das.

Erst die sanften Vibrationen in meiner Hosentasche holen mich aus meinen Gedanken zurück und ich ziehe mein Handy hervor, während mein Rucksack zu Boden gleitet.

- Jeff sagt, du seist nicht im Wohnheim. Wo bist du?- Ich starre die Nachricht lange an. Mein Herz pulsiert flatternd. Erneut holt mich der Kolibri ein und ich schlucke trocken. So sehr ich es die letzten Stunden auch gewollt habe, so sehr überfordert mich nun die Tatsache, dass sich Kain meldet. Auch wenn es nur eine schnöde nichtssagende Nachricht ist.

- Hatte vom Verlag aus zu tun-, antworte ich und tippe mit unruhigen Fingern. Bei ihm brauche ich diesen Fakt nicht verschweigen. Auch, wenn er mir vermutlich sowieso nicht glaubt. Er denkt mit Sicherheit, dass ich wie immer vor allem weggelaufen bin. Doch diesmal ist es nur die halbe Wahrheit.

- Vom Verlag? Geht es um neue Bücher?- Weiteres oberflächliches Geplänkel. Was soll das?

- Nur eine langweilige Besprechung. War schon länger geplant.-, tippe ich. Ob er weiß, dass Marvin mich gestern abgewürgt hat? Wahrscheinlich nicht. Mir wird angezeigt, dass er schreibt, aber eine Weile lang passiert nichts. Mit dem Fuß stupse ich ungeduldig meinen Rucksack an und ich bin versucht, mir die Haare zu raufen. Stattdessen kratze ich mir mehrfach über den Hals. Doch auch das hilft nicht. Kain lässt sich Zeit oder er weiß nicht, was er mir noch sagen soll.

- Ich hab mehrfach versucht, dich zu erreichen-, gebe ich stattdessen preis und schicke es ab, bevor mir klar wird, dass das schrecklich vorwurfsvoll klingt. Jedenfalls wird er es so auffassen. Kain stoppt das Schreiben seiner Nachricht. Ich habe ihn aus dem Konzept gebracht.

- Ich war noch mit Marvin unterwegs.-

- Weiß ich -, schreibe ich und beiße mir dabei unbewusst auf die Unterlippe, um keine Beleidigung seines Freundes hinterher zu schicken. Das Telefon in meiner Hand beginnt zu singen und kündigt mir einen Anruf an. Es ist Kain. Ich zögere, bevor ich rangehe.

„Woher?“, erkundigt er sich direkt.

„Frag doch Marv“, patze ich erwartungsgemäß bissig zurück. Auch die verräterisch angeekelte Art und Weise, Marvins Namen auszusprechen, kann ich mir nicht verkneifen. Angemessene Zurückhaltung ist definitiv anders. Kein guter Start.

„Ich frage aber dich“, zischt er zurück und ich höre, wie er unvermittelt danach seufzt. Kain will das nicht. Er will nicht mit mir streiten. Und eigentlich will ich das auch nicht, also schlucke ich meine Wut über den anderen Mann runter. Auch, wenn es mir unsagbar schwerfällt.

„Ich hab... dich gestern angerufen und Marvin ging ran. Du seist nicht zu sprechen und er habe dir das Handy abgenommen, um zu verhindern, dass ich dich weiter...keine Ahnung, was ich seiner Meinung nach mache...“, erkläre ich unzufrieden. Meine Stimme ist nicht so ruhig, wie ich sie gern hätte. Erst seine Ex, nun sein Bastard von Freund. Ich bin es ja gewöhnt, nicht gut anzukommen, aber die beiden haben nichts mit mir zu tun und pissen mir trotzdem dauernd ans Bein. Ich höre Kain am anderen Ende der Leitung instant raunen.

„Davon hat er mir nichts erzählt.“ Natürlich hat er das nicht. Wahrscheinlich hat er wirklich meine Nachrichten gelöscht, wenn er schon mal dabei war. Danach fragen werden ich nicht. „Entschuldige, ich brauchte nach dem Gespräch gestern Zerstreuung und ich hab ihn darum gebeten, mein Handy zunehmen. Er hat das wohl etwas zu strikt aufgefasst... und ganz ehrlich ... ich hätte auch nicht damit gerechnet, dass du dich... meldest...“, gesteht er ebenso zurückhaltend. Seine Stimme wird ungewöhnlich leise beim letzten Teil. Er hat nicht damit gerechnet und trotzdem sein Telefon weggeben? Warum? Was dachte er, würde passieren? Hatte er vielleicht mehr Angst davor, dass er selbst nicht so strikt ist, wie er sein wollte? Ich spüre, wie sie sich mein Herzschlag heftig beschleunigt, gespeist von dem Funken Hoffnung.

„Können wir noch mal reden, wenn ich wieder zurück bin?“, frage ich vorsichtig und ohne weiter um den heißen Brei herumzureden.

„Hast du eine Antwort für mich, denn ich werde dir genau dieselbe Frage stellen.“ Seine Worte treffen mich mit einem stillem BÄMM und ich gehe ad hoc K.o. Kain nimmt kein Blatt vor dem Mund und er muss es auch nicht. Normalerweise finde ich das sehr angenehm an ihm. Doch diesmal trifft es mich mit voller Wucht.

„Dir sollte klar sein, dass ich nicht damit aufhören werde, Dinge über dich wissen zu wollen. Ich werde weiter Fragen stellen, weil es für mich einfach dazu gehört. Robin, ist dir auch klar, warum ich darauf poche?“ Mein Name. Kein Spatz. Mit einem Mal macht es mir Magenschmerzen, dass es mir aufgefallen ist und dass ich es mir anders gewünscht hätte. Ich bestätige mit einem raunenden Laut und schließe die Augen.

„Es ist nicht nur Sex, nicht für mich.“

„Ich weiß.“

„Warum fällt es dir so schwer, mir zu vertrauen?“, fragt er weiter und wieder habe ich darauf keine geeignete Antwort, die ich ihm aus dem Stand formulieren kann. Jedenfalls keine, die mir in diesem Moment Punkte bringt. Ich tue es nicht, weil ich es nicht will. Ganz einfach. Ich tue es nicht, weil mein Glaube an das Vertrauen einen so tiefen Knacks hat, dass ich es gar nicht mehr anders kann. Vertrauen zu schenken ist schwer für mich. Aber auch Brigitta hat Recht. Ich habe schlichtweg Angst davor. Ich will nicht verwundbar sein und Kain macht mich verletzlich. Der Wahnwitz jedoch ist, dass ich Kain schon mehr vertraue, als allen anderen. Das sollte er längst wissen, aber scheinbar ist das nicht genug für ihn.

„Liege ich denn wirklich so falsch?“ Kain füllt die Stille mit einer weiteren Frage, die mir beinahe das Herz zerreißt.

„Kain, ich...“, setze ich an und werde direkt wieder von Kain unterbrochen.

„Nein, schon gut... Ich... entschuldige, aber ich hab heute nicht die Kondition dafür, um mich im Kreis zu drehen“, sagt er und legt auf. Es ist nicht nur eine Metapher. Wahrscheinlich geht es ihm nach dem gestrigen Zerstreuungsversuch wirklich schlecht und meine Unentschlossenheit gießt nur noch Öl ins Feuer. Dabei will ich das gar nicht. Ich greife nach meinem Rucksack und verlassen den Bahnsteig. Mittlerweile regnet es.
 

Bewusst oder nicht, ich steige nicht in den Bus, der mich nach Hause fährt, sondern in den der entgegengesetzten Richtung. Vor dem Eingang zum Friedhof bleibe ich stehen und sofort ist nur noch dieses eine Gefühl da. Hilflosigkeit. Sie umfängt mich und all meine Sinne mit einer Kraft, die ihr nicht mehr zugetraut habe. Den Weg zu Renés Grab gehe ich ohne jegliche Wahrnehmung. Blind. Taub. Stumm. Ich finde den Weg, ohne auch nur einmal zu zögern. Es werden Erinnerungen geweckt, die tausendfach auf mich einströmen und so sehr ich auch versuche, es zu verhindern, es funktioniert nicht. Deshalb lasse ich es geschehen. Was bleibt mir auch anderes übrig? Ich starre auf einen entfernten Punkt, als ich vor dem Grab stehen bleibe. Die schweren alten Eichen des kleinen Wäldchens sind nur schemenhaft zu erkennen, da sie langsam von der Dämmerung verschluckt werden. Sie wirken als dunkle Giganten nur noch eindrucksvoller in dieser Szenerie. Ich höre das leise Rascheln regenfeuchter Blätter und blicke zum ersten Mal hinab. Meine Augen gleiten über die saubere Kante des Grabsteins, streicheln sich über die feinsäuberlich gravierten Buchstaben, die seinen Namen bilden.

Ich war damals der von uns beiden, der unsere Namen schreiben konnte. René tat sich eher schwer damit. Er hat auch nie gern gemalt. Stattdessen war er derjenige, der früher sprach und irgendwann redete ohne Unterlass. Jeden einzelnen seiner Gedanken teilte er mir mit. Ich erinnere mich noch an so vieles dieser Dinge. Fantastereien. Verrückte Ideen. Kindlicher Spaß. Ich erinnere mich vor allem daran, dass es in meinem Kopf seltsam leer schien, als er nicht mehr bei mir war.

Nur wenige Menschen erinnern sich an Dinge aus den ersten Jahren ihrer Kindheit. Neurologen nennen das Kindheitsamnesie. Dazu gibt es viele verschiedene Theorien. Aber neuere Forschungen ergaben, dass es womöglich einen starken Zusammenhang mit der sprachlichen Entwicklung eines Kindes gibt. Erinnerungen, die nicht mit Worten verknüpft werden, werden später auch schlechter von uns erinnert. Weshalb wir uns ab dem siebten Lebensjahr immer schlechter an die ersten sechs Jahre unseres Lebens entsinnen. René und ich hatten unsere eigene Sprache gehabt. Eine, die zwischen den Zeilen las. Vielleicht erinnere ich mich deshalb an so vieles mehr. Ich lasse meinen Blick über das hergerichtete Grab wandern. Meine Mutter und Lena waren vermutlich schon am Morgen hier. Sie haben frische Blumen gebracht und wie jedes Jahr eine kleine Schüssel mit Süßigkeiten dazugestellt. Diesmal sind es verschiedene Sachen. Auch Smarties sind dabei, die durch den feinen, aber stetigen Regen bereits ihre Farbe verlieren. Und Schlümpfe. Es sind die großen, die man nur bei bestimmten Ständen bekommt. Wir haben sie damals geliebt. Unwillkürlich schleicht sich der süße chemische Geschmack in meinen Mund. Genauso wie die Erinnerung an sein Lachen, wenn er mir zeigt, wie die blaue Masse überall in seinem Mund klebte. Die blaue Zunge. Ich hocke mich hin und rücke die Schale etwas dichter an den Grabstein heran. Danach lasse ich meine Finger über eine der weißen Lilien streichen und spüre das unangenehme Kitzeln in meinem Hals, welches sich die Seitenstränge entlang arbeitet. Ich verdränge es. Das letzte Mal war ich kurz nach dem Abi hier. Auch damals ging es mir nicht gut, denn ich war uneins mit mir. Ich hatte den Vertrag für das Buch in der Tasche. Brigitta überredete mich, über weitere Romane nachzudenken. Ich tat es. Mit dem Ergebnis, dass ich mir plötzlich nicht mehr sicher gewesen bin, ob ich wirklich studieren wollte. Letztendlich bin ich nach Italien gefahren, habe Eis gegessen und am Ende alles beides unter einen Hut bekommen. Keine Ahnung, was mir am Ende Klarheit verschafft hat.

So wie damals rede ich auch jetzt nicht, sondern hänge einfach nur meinen Gedanken nach und sie enden jedes Mal bei Kain.
 

Obwohl ich am Grab meines Bruders stehe, denke ich an ihn und so gleich entbrennt ein zerrissenes Gefühl in meiner Brust. Der Schmerz, meinen Zwillingsbruder verloren zu haben, sitzt tief in mir und die Angst, ein solches Leid wieder zu erfahren, scheint alles zu überdecken. Auch die vernunftbestärkte Gewissheit, dass ich nicht mein Leben lang davor weglaufen kann. Ohne Gefühle ist die Enttäuschung kleiner, wenn jemand geht. Das habe ich gelernt, nachdem René starb und als mein Vater mich verließ. Denn Liebe ist keine Garantie. Liebe ist keine Sicherheit. Mein Vater ging, weil er René liebte und er konnte nicht bleiben, obwohl er mich liebte. Also ist Liebe nicht genug. Was also bringt sie mir dann? Können die berauschend glücklichen Momente wirklich die zerstörerische Kraft aufwiegen? In meinen Büchern folgt nach Regen immer Sonnenschein, doch die Realität sieht meistens anders aus.

Doch erneut spüre ich die Schärfe auf meiner Zunge und das zitronige Prickeln als aromatisiertes Gewitter, welches alle meine Sinne elektrisiert. Alles um mich herum scheint für diese Sekunden stehenzubleiben. Ich fühle die kühle Brise nicht mehr auf meiner Haut, hören keinen Laut. Nicht einmal den Wind, der eben noch raschelnd durch die Bäume glitt. Ich merke nichts von dem Regen, der Tropfen und kleine Rinnsale auf meiner freiliegenden Haut bildet. Ich kann es nur anschauen und erahnen, dass es kitzelt. Spüren tue ich es nicht.

`You can stand under my umbrella`. Ein Flüstern. Es streicht warm über meine Haut. Es ist nur in meinem Kopf und doch verursacht mir die Stimme, die ich ersinne, eine Gänsehaut. Das Lied setzt sich fort. Nicht als der beatlastige Song, sondern als das sanfte Reden des anderen Mannes. Alles in mir schreit nach ihm. Selbst der Geruch der feuchten Erde um mich herum wandelt sich zu fruchtigem Ingwer. ´You can run into my arms. It's okay, don't be alarmed. Come into me.` Ich bin am Arsch und wünsche mir diesen Scheißregenschirm.

Ich weiß nicht, wie lange ich letztendlich hier knie, doch als ich mich aus meine Starre löse, ist es bereits stockdunkel. Meine Hose ist bis über die Knie von Feuchtigkeit durchzogen und fühlt sich klamm und schwer an. Als ich mich aufrapple, erkenne ich die feuchte Erde nur als dunkle Kleckse, die meine Glieder bedecken. Es ist mir egal. Ich richte meinen Blick zurück auf den Grabstein, strecke meine Hand danach aus und streichele ein letztes Mal über den oberen Rand.
 

Ich versuche die Tür so leise wie möglich zu öffnen, doch meine Hände zittern. Vor Kälte und wegen des brennenden Gefühls in meiner Brust. Dieser Tag, nein, eigentlich die letzten Tage habe mich viel Kraft gekostet. Noch dazu fühle ich mich genauso verloren wie damals, als René starb. Es ist sogar noch schlimmer. Denn neben dem Verlust meines Bruders und der Erinnerung daran, ist es diesmal mein eigenes Schuldbewusstsein, das mich zusätzlich quält.

„Robin?“ Ich sehe erschrocken zu der schemenhaften Gestalt im Übergang zur Küche. Ich weiß nicht, ob es einfach der Schreck ist, der mich bei den Gliedern packt und die gesamte Situation, doch es lösen sich ein paar Tränen. Meine Mutter tritt aus dem Schatten und stellt das Glas Wasser, welches sie sich geholt hat, auf der kleinen Kommode neben sich ab.

„Ist etwas passiert? Was machst du hier?“, fragt sie atemlos und schaltet im selben Moment das Licht an. Ich zucke zusammen und bewege mich nicht vom Fleck, sondern spüre nur, wie weitere Tränen über meine Wangen fließen. Sie wiederholt die Frage, während sie auf mich zu kommt und ich verneine gestisch. Es ist nichts passiert. Es hat mich nur eingeholt. Wieder einmal. Ihre Hand legt sich an meine Wange und erst jetzt sehe ich richtig auf. Ich erkenne die Sorge in ihren Augen. Ihr Blick wandert zu meinen feuchten, dreckigen Knien und zurück zu meinem Gesicht. Damit weiß sie, wo ich war und führt mich sofort in eine Umarmung.

„Er fehlt mir so…“, flüstere ich mit bebenden Lippen, als ich den vertrauten Geruch einsauge, der meine Mutter umgibt. Er gibt mir den Rest.

„Ich weiß… mir auch, mein Schatz, mir auch.“, erwidert sie zärtlich und drückt mich fester. Sie wiegt mich lange in ihren Armen, streichelt meinen Nacken und küsst wieder und wieder sanft meine Schläfe. Das Heilmittel meine Kindheit. Wir haben nach Renés Tod oft zusammen gesessen. Ich wollte nie reden. Ich wollte einfach nur weinen und genau das konnte ich bei ihr auch.

Als ich mich wieder von ihr löse, fühle ich mich dennoch geschafft und ausgelaugt. Meinen Blick wende ich ab. Es ist lange her, dass sie mich so gesehen hat und es wäre mir lieber gewesen, dass der Zeitraum länger angedauert hätte. Doch heute ist mir einfach alles zu viel. Sie schiebt mir eine widerspenstige Strähne hinters Ohr und sie lächelt mich an, trotz der feuchten Tränenspur auf ihren und meinen Wangen.

„Es ist schon sehr spät, versuch ein bisschen zur Ruhe zu kommen und morgen reden wir.“ Es ist kein Angebot, sondern ein Pflichttermin. Ich nicke und wende mich seufzend der Treppe zu.
 

Oben angekommen, sehe ich Lena im Schlafanzug im Türrahmen zu ihrem Zimmer stehen. Ihre Haare sind verwuschelt, ihre Augen müde. Doch als sie mich erkennt, atmet sie erleichtert ein und aus. Sie kommt ohne zu zögern auf mich zu und schlingt ihre Arme fest um meinen Bauch. Ich wehre mich nur zum Schein und eigentlich auch nur, weil eine Umarmung in solchen Situationen unweigerlich dazu führt, dass die Emotionen ein weiteres Mal hoch kochen. Das ist bei mir nicht anders. Wenn auch ich einmal die Grenze überschritten habe, kann ich mich nur noch schwer zusammenreißen. Ein Grund mehr, warum ich emotionalen Kram gern meide..

„Nicht du auch noch. Lena, hör auf. Dein Bett liegt doch voller Plüschtiere, nimm die“, motze ich mit ruhiger, aber belegter Stimme, drücke sachte ihren Kopf weg und erreiche so, dass sie die Umklammerung löst.

„Geht’s dir gut?“

„Fantastisch! Alles, was ich brauche ist Schlaf. Also gute Nacht“, erkläre ich resolut, drehe mich schon zu meiner Zimmertür und lasse keinerlei Widerspruch oder etwaige weitere Gefühlsduseleien zu.

„Und eine Dusche“, ruft sie mir zu, „Du riechst wie eine Bar und kannst froh sein, dass Mama das blaue Auge nicht gesehen hat.“ Sicher hat sie das und war nur so gnädig, nicht darauf einzugehen.

„Woher weißt du, wie eine Bar riecht“, kontere ich und hebe ertappend meinen Kopf in die Höhe. Auf die Bemerkung über meine unrühmliche Drachenkampfverletzung gehe ich nicht ein. Lena lächelt wissend und schenkt mir, statt zu antworten, nur ein neckendes Augenbrauenzucken. Während sie in ihr Zimmer schlendert, ruft sie mir einen Nachtgruß zu und ich tue es ihr gleich. Obwohl ich ihr mit der Dusche beipflichten muss, lasse ich mich einfach nur auf mein Bett fallen. Ich bin unglaublich müde und doch schließen sich meine Augen nicht, sondern richten sich an die Decke meines ehemaligen Kinderzimmers. Ich ziehe mein Handy aus der Tasche und lande wieder bei Kain. Ich scrolle in unserem Chat umher, ehe ich ihm doch etwas schreibe.

- Bist du noch wach?- keine Reaktion. Auch nach mehreren Minuten nicht.

- Es tut mir leid.-, hänge ich mit ran, lege das Gerät zur Seite und drehe mich um.
 

Das Erste, was ich nach dem Aufwachen mache, ist duschen. Lange und ausgiebig. Danach ziehe ich mein eingesautes Bettzeug ab und stelle mich dabei sondergleichen neanderthalerisch an. Beim Bettlaken ziehe ich die halbe Matratze mit und verursache ein lautes Rumsen, als sie wieder zurück auf den Lattenrost fällt.

„Herrje, ich hoffe, ihr habt zuvor ein Saveword vereinbart“, höre ich Lenas dunkle Stimme und drehe mich erschrocken um. Saveword? Ich muss verdattert drein schauen, denn meine kleine Schwester beginnt herzhaft zu kichern, so als hätte sie gerade den Joke des Jahrhunderts gerissen. Ich wundere mich eher über ihren kruden Humor.

„Ernsthaft, Lena? Saveword?“ Sie kichert weiter und wackelt auffällig mit ihren Augenbrauen. Meine Schwester scheint also auch dem Mainstream verfallen zu sein. Den numerologisch Schattigen vor allem. Ich bin entsetzt und trotzdem nicht verwundert. Ob Mama davon weiß? Vermutlich hat sie es selbst gelesen. Ich ziehe scharf die Luft ein und will nicht mehr darüber nachdenken.

„Spaßbremse!“, knallt sie plötzlich raus.

„Wie bitte?“

„Dein Saveword, oder?“ Nun bin ich es, der die Augen verdreht und ihr nur ein trockenes Haha zukommen lässt. Ich raffe das Bettzeug zusammen und lege es auf der Matratze ab. Danach beginne ich, meine schmutzigen Klamotten einzusammeln und zu verstauen.

„Du bist doch nicht nur wegen René so schlecht drauf, oder?“ Ich sehe nur kurz auf und räume weiter meine Sache zusammen. Meine Schwester. Lieb und reizend und hin und wieder so einfühlsam, wie ein Bulldozer auf Speed. Ich spüre, wie Wassertropfen den Kragen meines T-Shirts durchnässen und greife nach dem Bettzeug, um sie im Wäschekorb zu verstauen. Ohne ihr zu antworten, gehe in den Arbeitsbereich.

„Okay, was ist los? Hast du dich noch nicht mit Kain vertragen?“, fragt Lena, als sie mir folgt und im Übergang zu ihrem Zimmer stehen bleibt. Bei der Erwähnung des Schwarzhaarigen sehe ich überrascht auf. Ich versuche in den klaren graublauen Augen meiner Schwester zu erkennen, wieso sie gerade nach ihm fragt. Doch es ist aussichtslos. Ich kann sie so wenig lesen, wie chinesische Novel oder andere Menschen.

„Doch hatte ich, aber der Aufwärtstrend ging schnell wieder bergab“, witzele ich mit einem deutlich bitteren Unterton. Auch Lena scheint keineswegs amüsiert und sieht mich einfach nur mit ihren klaren Augen an. Ich hasse diesen Blick. Auch meine Schwester hat es drauf, mich zu durchschauen. Vielleicht nicht im gleichen Maß, wie Kain es vermag, aber dennoch ausreichend.

„Warst du wieder ganz du selbst?“, fragt sie und zieht eine Augenbraue nach oben. Nur ein kurzer weiterer Blick und sie wendet sich um, um in ihrem Zimmer zu verschwinden. Nun folge ich ihr und bleibe neben dem Bücherregal stehen, weil ich diesen unqualifizierten Kommentar nicht auf mir sitzen lassen kann.

„Wie sollte ich sonst sein?“, watsche ich zurück. Langsam muss sie wissen, dass ich es selten aus meiner Haut heraus schaffe. „Wieso fragst du ausgerechnet nach ihm?“ Ihre Augenbrauen hüpfen überrascht nach oben. Sie lässt sich auf ihr Bett fallen und greift nach einem ihrer Kissen.

„Ich habe euch beobachtet.“

„Klar und was bitte ist dir aufgefallen?“, frage ich amüsiert.

„Eure Blicke“, sagt sie verträumt und drückt das Kissen. Ich pruste haltlos.

„Unsere Blicke? Wow Lena, das ist klischeehafter Prosaschmunz und es ist absoluter Schwachsinn.“ Wo hat sie nur diese billigen Traumvorstellungen her. Blicke? Als nächstes erzählt sie mir, dass sie unsere verliebte Aura gespürt hat. Ich verdränge gekonnt, dass ich derartigen Kram auch in meinen Romanen verwende.

„Quatsch nur weiter, aber du würdest es nicht mal begreifen, wenn er es dir rot und in Druckbuchstaben auf ein Plakat malt.“ Kain hätte das drauf. Ich sehe sie ungerührt an und sie erwidert forsch.

„Und was soll das bitte bedeuten? Kain ist ein Kommilitone und wenn er nicht mehr mit mir reden will, bitte, ein Stressfaktor weniger. Whatever. Suíbiàn.“

„Du bist ein Schwachmat“, kontert sie schlicht.

„Und du Kitschiger als ich dachte. Wie kommst du nur auf solche Ideen?“

„Ich bin ein Mädchen“, kokettiert sie zuckersüß.

„Wage ich manchmal zu bezweifeln.“ Sie macht genau das, was ich warte und zeigt mir den Mittelfinger und rollt dann mit ihren schönen Augen.

„Robin, nach vierzehn aktiven Jahren mit dir als meinem Bruder kann ich deine Grimmigkeit lesen, wie ein Buch. Sie hat Abstufungen und diese...“ Sie malt mit dem Finger wilde Kreise in die Luft, „...ist geprägt von tiefer amouröser Verzweiflung.“ Ich rolle mit den Augen, weil das Schwachmatengen wohl in der Familie liegt. Ich bin wirklich voller Verzweiflung. Aber weil ich mittlerweile glaube, dass die Welt dank dieser Einstellung dem Ende entgegenblicken kann.

„Wow, bitte nicht... niemals wieder...nie... gib mir die Bücher. Los!“, fordere ich sie auf und greife nach dem, was auf dem Bett liegt. Mit der zitierten Stelle aus meinem eigenen Buch gibt sie mir den Rest.

„Wirklich!“, bekräftigt sie und nimmt mir das Buch sofort wieder aus der Hand, „Mal im ernst, sind da keine Schmetterlinge in deinem Bauch?“

„Schmetterlinge? Ich bitte dich. Dieser Effekt ist vollkommener Quatsch. Es ist nichts weiter als Epinephrinausschüttung, also Adrenalin, das dafür sorgt, dass Blut aus dem Magen in die Muskeln geschickt wird“, erläutere ich und mache dabei begleitende Handbewegungen, die ich auch lassen könnte, da nichts zur Erklärung beträgt.

„Bla Bla Bla...seit wann bist du der personifizierte Discovery Channel? Wenn ich das wissen will, dann schaue ich `Es war einmal...Das Leben` und erfreue mich an knubbelig gemalten Blutzellen“, kommentiert Lena mit tiefer Stimme und lässt schon während meiner Erklärung ihr Haupt hin und her wackeln, „Fragt dich doch eher, wieso der Körper das tut und denk da mal drüber nach, was der Auslöser ist. Oder sollte ich wer sagen?“

„Wie kommst du nur auf solche Ideen?“

„Was? Dass ich meinem Bruder jemanden wünsche, der ihn glücklich macht? Oh, verdammtes Familiengefühl.“ Wieder trumpft sie mit Over-acting auf und mir entflieht ein amüsiertes Schnauben. Ich nenne es Familienfluch. Apropos.

„Deshalb das Voodoopüppchen? Glaub ich nicht, dass ich den plumpen Versuch mit dem Zuckerherz nicht bemerkt habe...“

„Als ich fand ihn nicht plump. Immerhin hast du jemand wirklich Netten mit nach Hause gebracht, der nicht Jeff ist.“

„Hör auf.“, watsche ich zurück im zweierlei Sinn.

„Wieso?“

„Kain ist ein Kerl...“

„Ow, sei nicht so einfältig, das passt nicht zu dir, Brüderchen. Und in Anbetracht der Tatsache, dass du beim weiblichen Geschlecht sowieso kaum Sympathiepunkte sammelst, ist das doch die perfekte Lösung.“ Und wieder überrollt mich der schwesterliche Bulldozer.

„Boha, muss ich mir sowas wirklich von meiner kleinen Schwester sagen lassen?“

„Musst du!“, erwidert sie, ohne zu zögern. Sie beeindruckt mich hin und wieder doch mit ihrem Selbstbewusstsein.

„Okay, das glaubst du vielleicht, aber es macht keinen Unterschied.“ Wieder ist es Bitterkeit, die die Worte über meine Lippen trägt und ich bin mir sicher, dass sie Lena definitiv hört. Also presse ich sie direkt danach zusammen und wende mein Gesicht ab.

„Rede doch einfach mit ihm. Ich habe das Gefühl, dass man mit Kain sehr gut reden kann.“

„Mag sein, aber das ist keine meiner Stärken, wie du weißt“, sage ich ehrlich. Lena nickt zustimmend und grinst mich schief an.

„Okay, dann... dann schreib, was immer es auch ist, auf. Denn das kannst du.“

„Und woher willst du das wissen?“

„Weil ich noch immer lache, wenn ich den erzwungenen Eintrag durchlese, den du vor acht Jahren in mein Poesiealbum geschrieben hast und ich kenne den Leserbrief, den du an den Fernsehsender geschickt hast, weil sie Batman & Robin abgesetzt haben.“

„Woher denn bitte?“, frage ich sichtlich verwundert und durch die Erinnerung leicht amüsiert. Ich war damals 12 oder 13 Jahre alt. Es ist ewig her.

„Mama hat ihn aus der Zeitschrift ausgeschnitten und ich habe ihn in einem der alten Fotoalben gefunden. Hab selten so gelacht.“ Lena hätte sicher auch Freude an meinen ausgefüllten Evaluierungsbögen der Dozenten meiner Uni.

„Gib mir mal dein Handy!“ Lenas Hand streckt ihre Hand aus und ich gebe ihr mein Telefon. Gleichzeitig nimmt sie ihr eigenes zur Hand und nach ein paar Sekunden reicht sie mir meines zurück. Ich sehe, dass sie mir eine Datei geschickt hat. Ein Lied. ´Wenn Worte meine Sprache wären`. Ich kenne sogar den Interpreten, habe aber keine Melodie im Kopf. Damit gibt sie mir einen sanften Rüffel am Hinterkopf und stampft runter zu unserer Mutter in die Küche. Ich bleibe noch einen Moment auf ihrem Bett sitzen und streiche mir ermattet die feuchten Haare zurück.

Es aufschreiben. Im Grunde habe ich das bereits. Sogar ausführlich, detailliert und tiefgehend. Bei jeder von Kains Nachfragen habe ich verneint, dass ich weiter an der Geschichte arbeite und doch habe ich es immer wieder getan, weil es mich nicht losgelassen hat. Weil es mir ein dringliches Bedürfnis war und schlicht weg auch, weil es mir Freude bereitet hat. Mir ist auch klar, warum ich nicht will, dass Kain sie liest. Ich möchte nicht, dass er noch tiefer in mich hineinblicken kann, dass er all die Gründe herausliest, die mich anspornten, diese Worte zu formulieren. Er soll meine Wünsche und Sehnsüchte nicht sehen. Meine Ängste. Es ist genau das, wovon auch Brigitta gesprochen hat. Noch immer schreit ein großer Teil in mir Nein. Aber ein kleinerer ebenso laut Ja. Vielleicht ist es der beste Weg. Ich atme tief durch, stehe auf und gehe in mein eigenes Zimmer zurück. Ich suche nach einer günstigen Zugverbindung, speichere sie ab und gehe ebenfalls runter.
 

„Guten Morgen mein Schatz“, begrüßt mich meine Mutter herzlich, als ich die Küche betrete. Lena sitzt bereits am Küchentisch und blättert in einer Zeitschrift. Noch bevor ich die Chance habe, irgendwas zu erwidern, kommt meine Mutter auf mich zu und nimmt mich in den Arm. Es ist so herzergreifend liebevoll, dass mir nichts anderes übrig bleibt, als mich dankbar in ihre Halsbeuge zu schmiegen und die Augen zu schließen. Es ist nicht nötig. Mir geht es gut und doch weiß ich, dass es schon damals das war, was mir am meisten half. Sie streichelt mir eine Weile durch die noch feuchten Haare, löst sich von mir und reicht mir eine Tasse Tee. Ein Weißer mit einer sanften Note von Kirschblüten und Jasmine. Ich schnuppere daran, bevor ich koste und bin sehr zufrieden. Er ist köstlich und erinnert mich an den Frühling.

„Wo ist Hendrik?“, frage ich und nehme einen weiteren Schluck.

„Er ist schon weg. Er hilft einen Kollegen dabei, einen Baum zu fällen.“, erklärt meine Mutter und stellt einen Teller mit sorgfältig drapiertem Aufschnitt zu den anderen Frühstücksleckereien. Ich wusste nicht, dass Hendrik weiß, wie man einen Baum fällt, aber ich hake nicht weiter nach. Ich setze mich nicht zu den beiden Frauen an den Tresen, sondern bleibe an der Arbeitsplatte gelehnt stehen, während Lena beim Brötchen schmieren beginnt, über ihren anstehenden Wettkampf zu wettern. Sie nimmt kein Blatt vor den Mund. Ich bin dem Irrglauben erlegen, dass alle schulischen Sportaktivitäten während der Ferien ausgesetzt sind. Doch dem ist nicht so. Ich gestehe mir sogar ganz schnell ein, dass ich mir nicht herleiten kann, von welcher Sportart sie gerade spricht, da ich mittlerweile nicht mal mehr weiß, welchen sie nachgeht. Basketball? Volleyball? Rugby, so wie Kain? Vielleicht doch Fußball. Noch während des überschwänglichen Aufregens über ihre penetrante Trainerin hüpft Lena von ihrem Stuhl, drückt mir einen Teller mit zwei geschmierten Brötchenhälften in die Hand und tapst wild gestikulierend wieder zurück zum Tisch, ohne auf meine Reaktion zu warten. Verblüfft schaue ich auf das angereichte Mahl. Eine Hälfte des Miniaturbrotes ist mit Teewurst und eine mit Honig und Butter bestrichen. So mochte ich es als Kind. Ich sehe zu meiner Schwester, die sich gerade einen großen Schluck aus ihrer Tasse mit warmen Kakao gönnt. Sie fängt meinen Blick auf und lächelt. Ein Dank ist nicht nötig. Während ich die beiden Hälften verspeise, lausche ich ihren Gesprächen. Es fühlt sich vertraut und auch irgendwie vermisst an. Dennoch leere ich meine Tasse und bitte meine Mutter darum, mich zum Bahnhof zu fahren. Diesmal versucht sie mich nicht zum Bleiben zu überreden. Auch das am Abend angedrohte Gespräch bleibt aus, stattdessen drückt sie mich geschlagene fünf Minuten einfach nur an sich. Ich versichere ihr, dass ich auf mich aufpasse und dass es mir gut geht. Ich bin mir nicht sicher, ob sie mir glaubt.
 

Während der Fahrt gebe ich der Geschichte ein Ende und einen Titel und lasse mich durch eine besonders seichte Musikauswahl berieseln. Ich habe keine Ahnung, ob es das Richtige ist oder ob es ansatzweise befriedigend es. Es ist ehrlich und das ist es, was in diesem Moment für mich zählt. Ich weiß nicht, ob es überhaupt etwas ändert. Ich weiß nur, dass ich es versuchen muss. Mit dem letzten Punkt sende ich die Datei vorab zu meinem Printservice des Vertrauens, als es nur noch wenige Minuten sind, bis ich an meinem Zielbahnhof eintreffe. Mein Auftrag ist fast erledigt, als ich den Laden betrete und nur noch die Thermoklebebindung abwarten muss. Mehr war nicht drin. Alles andere würde zu lange dauern und das kann einfach nicht warten. Ich bedanke mich bei dem armen Kerl, der die Sonntagsschicht schiebt und mache mich auf den Weg zum Campus. Währenddessen schreibe ich Kain eine kurze Nachricht und erkundige mich nach seinem Aufenthaltsort. Binnen weniger Minuten habe ich eine Antwort. Er ist in der Mensa und ich gehe direkt dorthin. Mein Herz flattert. Genauso, wie der Rest meines Körpers.
 

Ich sehe Kain neben Marvin sitzen. Seine Schultern sind angespannt, während er in seinem Essen rumrührt und nur semiaufmerksam an dem angeregten Gespräch teilnimmt, welches die anderen drei Tischkollegen führen. Ich will gar nicht wissen, worüber sie reden, denn es kann nur etwas Belangloses sein, wie Sport, Steroide oder schlimmer noch Weiber. Ich atme tief durch, ehe ich mich dem Tisch nähere und lasse bewusst meine Kopfhörer auf. Marvin bemerkt mich als Erster. Sein Blick verfinstert sich und ich erwidere ihn ebenso störrisch. Kain sieht erst zu seinem besten Freund und dann zu mir. Er hat ihm nicht gesagt, dass ich komme. Marvins Blick sagt mir deutlich, dass ich nicht willkommen bin. Ich lege das Buch neben Kains Teller ab, ignoriere seinen verwirrten Gesichtsausdruck genauso wie die nichts wissenden Gesichter der anderen Anwesenden und wende mich ab.

„Hey, warte!“, ruft Kain mir hinter und steht so energisch auf, dass dabei der Stuhl umkippt auf dem er saß. Er kümmert sich nicht darum und ich reagiere nicht auf seine Aufforderung. Ich spüre, wie mein Herz einen fein erzitternden Satz macht und wie meine Fingerspitzen mit einem Mal zu kribbeln beginnen. So intensiv, dass es durch meinen gesamten Körper schreit und noch lauter wird, als prompt die ersten Töne von Rihanna `Umbrella` aus meinen Kopfhörern dringen. Ich bleibe stehen, als sich das Prickeln zärtlich kitzelnd über die empfindlichen Stränge meines Halses zieht und pulsierend in meinen Lippen verebbt. Wieso gerade jetzt dieses Lied? Kain bleibt dicht bei mir stehen. Das Buch liegt in seiner Hand. Ich sehe nur, wie sich seine Lippen bewegen und höre die Worte, die er spricht, nur gedämpft. Eine sich in der letzten Zeit wiederholende Szenerie, in der er mir eine Seite der Kopfhörer vom Ohr zieht und so meine akustische Barriere bricht.

„Was ist das?“, wiederholt er.

„Ein Buch“, gebe ich das naheliegende von mir und ernte einen passenden Blick meines Gegenübers, der mir klare Ungeduld signalisiert. Keine weitere Frage folgt, sondern einzig die eindringliche gestische Aufforderung zu erklären, indem er mir das Buch mehrfach gegen die Brust drückt, so als würde er es mir ohne die passende Begründung einfach wieder zurückgeben. Doch das will ich nicht. Marvin ruft Kains Namen. Doch Kain nimmt keiner Notiz davon. Er ist nur auf mich konzentriert.

„Du wolltest es lesen, also lies...“, sage ich. Kain stoppt mit der Stupserei und sieht auf den Band in seiner Hand. Ich weiß, dass er längst begriffen hat, was es ist und was es bedeutet. Sein Zögern ist mir Indiz genug. Neugier paart sich mit Angst. Er blättert bedachtsam auf die ersten Seiten und stoppt bei der Widmung. Sein Adamsapfel hüpft. Dreimal. Bei jedem Mal etwas weniger. Dann atmet er ein und wieder aus.

„Was willst du damit sagen?“, fragt er ruhig und sieht mich nicht an.

„... dass du nicht falsch liegst. Jedenfalls nicht mit allem“, antworte ich. Es ist nur ein Flüstern. Es kostet mich viel Kraft. Statt nachzuhaken, greift Kain in seine Hosentasche und zieht einen Satz Karten heraus. Ich sehe nur die Kartenrücken und doch weiß ich, was auf der Vorderseite geschrieben steht. Die Zahlen von eins bis sechs. Unwillkürlich halte ich die Luft an. Er will, dass ich ihn in Ruhe lasse, schreit die Furcht in meinem Kopf. Ich hab es wirklich versaut. Mein Blick haftet sich auf seine Hände, als er sie mir entgegen streckt und ich denke augenblicklich daran, wie es sich anfühlt, wenn sie über meinen Haut streicheln. Die raue Begebenheit seiner Fingerspitzen, die es schafft, alles in mir in Flammen zu setzen und doch nie Unbehagen auslöst. Ich würde es vermissen. So sehr.

„6 Karten. 1 Frage...Du antwortest“, stellt er ruhig klar. Unser Spiel auf Anfang. Ich sehe ihn unverwandt an und mein Herz hüpft als das sanfte, tiefe Braun meinen Blick erwidert. Die Karten nehme ich ohne eine zusätzliche Erwiderung an und akzeptiere damit seine Spielregeln. Die Erleichterung ist ein hauchzartes Huschen, welches nur für einen winzigen Augenblick in seinen Iriden glänzt. Nicht mehr als eine halbe Armlänge ist zwischen uns. Ich warte darauf, dass er endlich die Frage stellt und sehe dabei zu, wie Kains Daumen mehrfach zart über den Titel des Buches streicht.

Between the Lines.

Als er endlich zu sprechen beginnt, ist seine Stimme sanft und sein Blick klar.

„Hat es ein Happy End?“
 

             

~

Widmung

~ Für den einen, dem es gelingt zwischen den Zeilen zu lesen ~
 

Ende
 

BÄMM!! ✨🎉🎊🎇
 

Eure Karodel
 

PS: ♥️♥️♥️ an euch alle! Danke sehr! Für eure Unterstützung! Für euer unfassbares Durchhaltevermögen und eure Geduld! Ich habe so lange an dieser Geschichte gearbeitet und dabei das gesamte menschliche Gefühlsspektrum durchlebt beim Schreiben. 😵 Dass es nun endet ist für mich kaum zu fassen und unglaublich intensiv. Aber auch ein kleiner Meilenstein. Etwas zu beenden ist auch ein gutes Gefühl und ich hoffe, dass mein Chaotenhaufen dazu beitragen konnte euch zu unterhalten und witzige und auch nachdenkliche Stunden zu schenken!

DANKE SCHÖN!!!!!
 

PSPS: 🤫 PSSSCH! Schnell zum Epilog. Zack zack!

Epilog

Kleine Vorschau
 

Between the Lines Chapter 2 ~It's more than just words~
 

„Ich würde gern das auf Seite 167 ausprobieren.“

„Würdest du?“

„Oh ja...und vielleicht steigern wir uns dabei auf Seite 69?“ Ich verdrehe ungehalten die Augen, als ich Kains rauer Stimme dabei zu höre, wie sie mir die Anspielungen aus dem Buch durch das Telefon zu säuselt. Und ich gestehe, dass ich mir nur schwer ein Grinsen verkneifen kann, während sich die Inhalte der genannten Seiten ebenso vor meinem inneren Auge abspielen. Wesentlich nackter als ich sie in Erinnerung habe. Die Tatsache, dass Kain dank seines eidetischen Gedächtnisses dazu noch jede der Seiten auswendig weiß, macht es nicht unbedingt einfacher zu widerstehen. Der Schwarzhaarige ist definitiv mein Verhängnis. Ich atme geräuschvoll ein und blicke zu Jeff, meinen Mitbewohner und Jugendfreund, der neben mir steht und euphorisch mit den Augenbrauen wackelt. Dabei hat er gar nicht mitbekommen, worum es geht.

„Komm erst mal zurück auf den Campus, dann reden wir weiter“, würge ich das Telefonat ab, weil Kain mir daraufhin eindrücklich verdeutlichen will, dass ihm etwas anderes als Reden vorschwebt. Seufzend schiebe ich das Telefon in meine Hosentasche und lausche einen Moment lang dem leisen Ton, der aus meinen Kopfhörern dringt, die um meinem Hals liegen. Das Lied erkenne ich nicht. Es ist auch viel zu laut hier. Jeff und ich stehen in der überfüllten Mensa und machen einer Horde Erstsemestern Platz, die sich gierig über die Dessertstation hermachen. Hier steht alles, was einen auf schnellstem Weg Karies und verklebte Arterien verschafft. Es gibt eine neue Puddingsorte, die so gar nicht schmackhaft aussieht, weil sie mir mit einem unnatürlichen, quietschigen rosa entgegen leuchtet. Ich bin mir nicht mal sicher, um welche Sorte es sich handelt. Erdbeere. Himbeeren. Kotzbeere. Irgendetwas aus dieser Kategorie. Wieder sehe ich meinen Mitbewohner an, welcher grinst, als hätte er jedes Wort meines Telefonats gehört. Zum Glück hat er das nicht.

„Was?“, frage ich mit deutlich einschüchternder Stimme, greife mein sparsam gefülltes Tablett mit beiden Händen und gehe zur Kasse, ohne Nachtisch und ohne Jeffs Antwort abzuwarten. In den meisten Fällen will ich sowieso nicht wissen, was in seinem Kopf vorgeht. In der letzten Zeit schon gar nicht, denn es gibt nur drei Themen, denen sich mein Kindheitsfreund ausschweifend widmet. Wut auf Abel. Scham wegen Jake und das eigenartige, unanständige Interesse an mir und dem Schwarzhaarigen.

„Nichts“, ruft mir Jeff unnötigerweise hinterher, greift sich einen Nachtisch, der grün und wackelig ist und eilt mir nach. Noch bevor ich an der Kasse stehe, beginnt mein Handy im Zwanzigsekundentakt zu vibrieren. Kain tippt wirklich schnell und ist, obwohl ich ihn ignoriere, sehr ausdauernd. So einen Nachrichtenmarathon hatten wir bereits gestern Abend und das endete damit, dass ich vor lauter Anspannung nicht mehr einschlafen konnte.

„Wann kommt er denn wieder?“, fragt Jeff, platziert sein Tablett hinter meinem und inspiziert die reichhaltige Auswahl an Schokoriegeln.
 

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Between the Lines Chapter 2 ~It's more than just words
 

*Coming soon*


Nachwort zu diesem Kapitel:
Glossar:
Protanopie = Rotblindheit
Carboxylgruppe = funktionelle Gruppe –COOH der Carbonsäuren Komplett anzeigen

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Von:  Tomoaki-chan
2021-01-12T19:34:00+00:00 12.01.2021 20:34
Ich konnte mich endlich überwinden die letzten drei Teile zu lesen, weil ich einfach nicht wollte, dass es endet. (Bin ich die einzige, die nach jedem Absatz zur Seite an den Schieber geschielt hat, in der Hoffnung, dass jedes Kapitel noch ganz ganz lang ist???)

Ich weiß nicht wie oft ich beim Lesen der gesamten Geschichte herzhaft gelacht, geschmunzelt aber auch geweint habe oder Steine im Magen hatte, besonders zum Schluss. Ich liebe alles an der Geschichte und wie du sie so fantastisch erzählst hast, dass ich gespannt an Robins virtuellen Lippen klebe wie Honig.

Ich freue mich riesig, dass du eine Fortsetzung schreibst! -^^-
Zwischendurch hatte ich Angst, dass du es Robin gleichtust und eine Geschichte erzählst, die dem echten Leben ähnelt und kein Happy End hat. Das offene Ende kann mein romantisches Herz da bei weiterem besser verkraften als ein Sad End und gleichzeitig bin ich so überglücklich, dass du uns die Chance gibst noch mehr von Robin und Kain zu lesen <3
Egal wann du sie postest, ich werde sie dankbar lesen und wie immer jede Sekunde genießen! (Ich bin auch schon sehr gespannt auf diverse Ausführungen aus den Seiten 167 und 69 *höhö* °///°)

Vielen Dank für eine der tollsten Geschichten die ich je lesen durfte!
Von:  Satsuky
2020-10-23T18:38:31+00:00 23.10.2020 20:38
Einfach genial. Kann die Vortsetzung kaum erwarten :D
Ich liebe deine Geschichten ♥
Von:  Heshenyun
2020-10-15T00:07:38+00:00 15.10.2020 02:07
Ich hab diese Geschichte echt wahnsinnig gern verfolgt. Und kann es kaum erwarten den nächsten Teil zu lesen.
Die letzten Kapitel waren echt wahnsinnig gefühlsintensiv. Ich hab so viel geweint als Robin nach Hause gekommen ist und die Vertrautheit von zuhause über ihn gekommen ist, er loslassen konnte in der Nähe seiner Familie. Als er einfach nur weinen konnte. All die Umarmungen hat er so gebraucht und ich liebe seine verständnisvolle Familie. Ich fand das Ende zudem sehr passend! Das fertige Buch Kain in die Hand zu drücken. Seine Frage nach dem Happy End. Ich bin froh, dass es Hoffnung gibt, dass sie all die Missverstädnisse aufklären und der Epilog ist ja mal super süß!
Danke dir, Karodel, dass du auch so lange durchgehalten hast bis die Geschichte vollendet war und viel Durchhaltevermögen und Spaß beim nächsten Teil! <3
Von:  Heshenyun
2020-10-14T22:47:53+00:00 15.10.2020 00:47
Ahhh, ich spüre förmlich das Leid von Robin in den Zeilen. Kann es kaum glauben, dass die Story in zwei Kapiteln schon endet. Ich bin gespannt weiterzulesen!
Von:  Morphia
2020-10-04T19:34:53+00:00 04.10.2020 21:34
😍 Ich liebe es! Und noch mehr liebe ich, dass es weitergeht.
Die Story ist so fesselnd und die Charaktere so interessant.
Besser geht's nicht! 🥰
Von:  chaos-kao
2020-10-04T14:34:04+00:00 04.10.2020 16:34
Das war jetzt nochmal eine absolute Achterbahnfahrt der Gefühle - und ein absolut liebevoller, detailverliebter und emotionaler Abschluss (okay, laut Epilog wohl nur ein Zwischenabschluss) einer wirklich wirklich tollen Geschichte. Ich liebe deinen Schreibstil und die Charakterentwicklung. Es ist alles so lebensnah und realistisch und gleichzeitig unglaublich mitreißend. Vielen vielen Dank dafür dass du schreibst und es auch noch mit uns teilst. Und falls du deine Geschichten irgendwann als Bücher veröffentlichen solltest: sag Bescheid und ich stürme in die nächste Buchhandlung :)
Von:  Shiva0102
2020-10-04T13:46:07+00:00 04.10.2020 15:46
Ich lese gerne, viel und ausdauernd. Beim Schreibstil bin ich allerdings kritisch: Nur bei einer umfassenden, abwechslungsreichen, mitreißenden und natürlich passenden (!!!) Wortwahl bin ich bereit, einer Story lange zu folgen. Langweilt oder nervt mich irgendwann das Lesen einer Geschichte, muss ich abbrechen.

(Das alles ist MEIN Verhalten und an niemanden eine Kritik oder sonst etwas! Ich selbst habe zwar keinen kleinen Wortschatz, kann aber keine guten Geschichten erzählen. Jeder hat halt seine Talente und Schwächen;)

Was ich eigentlich sagen will:
DANKE, dass du schreibst :-) Kaum eine Geschichte hat mich so berührt, gepackt und nicht mehr losgelassen 💝 Ich musste immer wieder so lachen (was bei mir nicht leicht zu erreichen ist) und hab vor allem im Schlusskapitel so geweint (noch schwieriger) - ich bin emotional fix und fertig - und sooo glücklich ✨
Ich hab deine Story schon ein paar mal gelesen, und werde sie auch immer wieder herausziehen. Davon gibt es für mich nur eine Handvoll Bücher, aber die haben wirklich einen Platz in meinem Herzen!
Solltest du dich entschließen, deine Geschichte drucken zu lassen, lass es mich bitte, bitte wissen!

Ich verneige mich in Demut, Verehrung und Dankbarkeit, dass du uns so einen Schatz geschenkt hast 🌟

Deine Shiva ❄
Von:  -Chiba-
2020-10-04T09:24:06+00:00 04.10.2020 11:24
Gleich drei Kapitel auf einmal *~*
Bin fast vor Freude vom Stuhl gekippt XD
Ich habe geweint, gelacht und geweint...und könnte gerade wieder anfangen zu heulen, weil die Geschichte zu Ende ist.
Zum Glück gab es dann doch noch ein Happy End, sonst wäre ich wohl auch noch gestorben *lol*

Ich hoffe auf eine baldige Fortsetzung, mit der du mir dann wieder meinen stressigen Arbeitsalltag versüßt ^.~
Von:  Reija
2020-10-03T20:18:00+00:00 03.10.2020 22:18
Und sogar noch diese wunderbare Ankündigung T__T

Da verdaut man gerade erst, dass es nun (leider) vorbei ist und dann muss man auch schon auf Teil 2 warten.
Ich liebe dich wirklich für diese Story und kann nur hoffen, dass du ganz schnell für uns weiter schreibst
Von:  Reija
2020-10-03T20:14:01+00:00 03.10.2020 22:14
Puh... das.. das Kapitel war wirklich schön traurig und man hat mit gefiebert ob er sich nun endlich den letzten Ruck gibt oder doch wieder einen Rückzieher macht!

Ich liebe seine Schwester :D sie hat es verdient mehr in der Geschichte vor zu kommen.

Aber so sehr ich mich auch freue, dass sie nun endlich zueinander finden werden umso trauriger bin ich, dass die Geschichte endet. Es war meine Lieblingsstorys von all deinen Geschichten und ich werde sie definitiv (schon wieder) nochmal lesen müssen ♥


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