Between the Lines von Karo_del_Green (The wonderful world of words) ================================================================================ Kapitel 1: Keine Ruhe vor dem Sturm ----------------------------------- Kapitel 1 Keine Ruhe vor dem Sturm Das energische Klopfen an der Tür ist selbst durch meine Kopfhörer zu hören. Dumpf, aber so gleichmäßig, dass es mir nach wenigen Minuten auf die Nerven geht. Ich atme tief ein. Mein Mitbewohner übernachtet auswärts und für einen Augenblick wähnte ich mir einen ruhigen Abend ganz mit mir allein. Ich habe mich getäuscht. „Mach auf!", kommt es von der anderen Seite der Tür, gefolgt von weiterem, mittlerweile heftigem Klopfen. Ich schließe meine Augen mit der wahnwitzigen Vorstellung, dass die Geräusche damit weniger werden. Aussichtslos und reichlich naiv. „Robin, ich weiß, dass du da drin bist." Nun drehe ich mich doch um und blicke zur geschlossenen Tür. Ich knurre und stehe auf. Bevor er ein weiteres Mal zu hämmern beginnen kann, drücke ich die Kopfhörer von meinen Ohren und mache die Tür auf. Ich sehe direkt in verärgerte, braune Augen. Kain. In all seiner gloriosen Erscheinung. Er ist ein Kommilitone aus dem 6. Semester, der mit mir einige Vorlesungen besucht. Seine sonst gutfrisierten, schwarzen Haare stehen wild um seinen Kopf herum und unterstreichen den Wahnsinn, den seine Aktion mit sich bringt. „Was?", frage ich genervt, lasse meinen Blick absichtlich offen abschätzig über den anderen Mann wandern und sehe verwundert auf das Kissen in seiner Hand. Ich deute darauf und schaue dann wieder in sein grimmiges Gesicht. "Kissenschlacht verloren?", frage ich. „Dein Mitbewohner fickt meinen!", sagt er in einem Tonfall, an dem ich nicht gleich erkennen kann, ob es ein Scherz ist oder Ernst. Was, schallt es ungläubig durch meinen Kopf. Ich stocke und sehe in die funkelnden Augen des anderen Mannes. Er meint es ernst. Für einen Moment weiß ich nicht, was ich ihm entgegnen soll. Er muss fantasieren oder zu mindestens übertreiben. „Ja, und?", frage ich bewusst ruhig, nachdem keine genauere Erklärung folgt. Noch immer dringt die Musik aus meinen Kopfhörern. Mit Sicherheit hört auch Kain sie. Zero 7 mit 'In The Waiting Line'. Der chillige Song passt in keiner Weise zur angespannten Stimmung. „Er ist doch dein Freund, oder?" Kain spricht von Jeff. Kumpel, Kommilitone und Kindheitsfreund meinerseits. Ich bin mit Jeff zur Schule gegangen und wir haben uns an derselben Universität beworben. Ich studiere Biochemie im 4. Semester und habe außer Jeff keine Menschenseele, mit der ich über persönliche Dinge rede oder die ich ansatzweise einen Freund nennen könnte. Reden ist keine meiner Stärken. Dass wir ein gemeinsames Zimmer bekamen und Mitbewohner wurden, war reiner Zufall. Ich finde es okay. Ihm gegenüber muss ich mich wenigstens nicht andauernd verstellen, denn er weiß, dass ich im Grunde ein eigenbrötlerischer Einsiedler bin, der einfach nur seine Ruhe will. „Ja, und?", frage ich erneut weltmeisterlich gelassen. Nicht, dass ich es bereits gewusst habe. Im Gegenteil, es überrascht mich derartig, dass ich große Mühe habe, mich zusammenzureißen. Jeffs Neigung ist mir trotz der langen Zeit, die wir uns kennen, nie aufgefallen. Seltsam und irgendwie auch nicht. Ich verstehe nicht, warum Kain mir das erzählt und was er damit bezweckt. Was soll ich dagegen tun? Die Musik aus meinem Kopfhörer ändert sich in Magic! mit 'Rude'. „Rede mit ihm, denn das muss aufhören." Mein Blick wird verstört. Das ist nicht sein Ernst? Kain schiebt mit seiner großen Hand die Tür auf. Doch bevor er das Wohnheimzimmer betrete kann, stelle ich mich ihm in den Weg. „Was wird das?", frage ich warnend, leicht knurrend. „Ich bleibe hier.", folgt die schlichte Antwort. Er beugt sich zu mir. Kain ist um einiges größer und um breiter als ich. Wahrscheinlich, weil er seine Freizeit damit verbringt Gewichte sinnlos in die Luft zu heben. Er mustert mich unverhohlen und macht eindeutig klar, dass ich ihm kein Hindernis bin. Das weiß ich selbst, aber meine Ruhe würde ich nun mal mit dem Leben verteidigen. „Ganz sicher nicht", sage ich knapp und er fokussiert mich. Nun wandert eine seiner Augenbraue nach oben und ich bin mir nicht sicher, ob das ein gutes oder eher schlechtes Zeichen ist. „So lange dein Mitbewohner meinen gerade genüsslich von hinten nimmt, bleibe ich hier!" Das Bild, welches sich in meinem Kopf malt, ist farbenfroh und detailgetreu. Ich schüttele es so schnell, wie möglich davon. Daran will ich nicht denken. „Nein." „Robin, ich mache keinen Spaß. Ich bin sogar ziemlich angefressen, weil ich mir diese Szenerie jetzt schon mehrere Mal mit ansehen musste. Ich will meine Ruhe, einfach nur pennen und ich werde es in einem eurer Betten tun." Unwillkürlich bildet sich erneut eine Art besprochener Film in meinem Kopf. Sie beschreibt das Spiel von angespannten Muskeln, die durch den Schweißfilm der Lust nur noch deutlicher hervortreten. Wieder wische ich es hinfort. Dass ich mir auch immer alles gleich vorstellen muss. Ich zucke, gebe ein knirschendes Geräusch von mir und Kain sieht mich fragend an. „Na sowas, ich will auch einfach nur meine Ruhe und die habe ich nicht, wenn du dieses Zimmer betrittst. Außerdem ist es allein dein Problem, wenn dich das stört. Geh zu deiner Freundin oder zu einem Kumpel, aber lass mich in Frieden." „Nein", kommt es nun retour von ihm. Es ist schlicht, einfach und effektiv. Kain streckt seinen Zeigefinger nach mir aus und tippt mir sachte gegen die Brust. Er trifft genau die verknöcherte Mitte zwischen meinen beiden Brustmuskeln. „Sei dir Gewiss, ich werde es nämlich zu deinem Problem machen. Du wirst mit ihm reden und du wirst es ihm austreiben, denn wenn das öfter passieren, dann werde ich bei dir einziehen." „Du spinnst, ja. Das geht überhaupt nicht und wieso glaubst du, dass ich ihm das ausreden kann? Noch dazu scheint es dein Mitbewohner genauso zu wollen, also warum redest du nicht mit ihm?", erwidere ich auf seine haltlose Drohung. Ich schubse seinen Finger davon. Ich weiß nicht mal, wer sein Mitbewohner ist und es ist mir auch egal. Sein Problem, nicht meins. „Ich schimpfe meinen Mitbewohner aber nicht Freund, sondern böses Übel und er gibt einen Scheiß auf meine Meinung." Zwei Mädels kommen an uns vorbei. Beide gertenschlank und aufgehübscht. Eine von ihnen ist blond, die andere brünett. Ich sehe, wie sie uns beim Vorübergehen mustern. Ich kenne sie nicht, aber scheinbar kennen sie Kain. Sie tuscheln und kichern einander zu gewandt. Kain reagiert nicht. Noch immer hält er das Kissen in der Hand. Die Mädels bleiben stehen und betrachten unverwandt die Szenerie, die wir ihnen bieten. Ich stelle mir vor, was sie sagen und wie sie es sagen. Ein Flüstern, welches warm über den Hals der Brünetten streicht, während die Blonde vor Verzückung Gänsehaut bekommt. Kain folgt meinem Blick als merkt, dass meine Aufmerksamkeit nicht mehr bei ihm liegt. Er hebt eine Braue und mustert die beiden Frauen bis ihm die Blonde zu winkt. Nichts Ungewöhnliches für Kain, das sagt mir sein Blick. Vermutlich glaubt er, ich bin beim Anblick der Frauen vor Ehrfurcht und Scham erstarrt. Keineswegs. Allerdings weiß er auch nicht, dass sich die Szene in meinem Kopf ausformuliert und in eine Geschichte wandelt. Kain tippt mir gegen die Stirn und umgreift mit der anderen das Kissen fester. „Robin. Darf ich nun rein, oder nicht?" Aus meinem Kopfhörern erklingt Stroke 9 mit 'Just can't wait'. I just can't wait for you to say. That you want me. Niemals. „Nochmals. Nein! Du...Wie kommst du eigentlich an dein Kissen, wenn du die beiden erwischt hast?", frage ich irritiert und betrachte das weiße Ungetüm. „Ich bin rein und hab es mir geholt", sagt er schlicht und ich bin für einen Moment so überrascht, dass er es schafft sich an mir vorbei zu schieben. Jetzt bekomme ich ihn garantiert nicht mehr raus. Seufzend kippt mein Kopf voran und ich schließe kurz die Augen. „Obwohl sie da drin gerade bei der Sache waren?", hake ich nach. „Jup!", kommentiert er und sieht sich entspannt im Zimmer um. Ich sehe ihm fassungslos dabei zu und in meinem Kopf formt sich unwillkürlich ein weiteres detailliertes Bild, welches ich nie haben wollte. Wie schamlos kann man sein? „Geh wieder raus. Sofort!", sage ich mit Nachdruck. Doch der Angesprochene ignoriert mich, schaut zu meinem und dann zu Jeffs Bett. Das Kissen fliegt im hohen Bogen auf meins. „Nö! Und ich nehme deins." Woher weiß er, dass es mein Bett ist? „Wie bitte? Nimm dein Schweißfang da weg.", sage ich entsetzt und schließe abrupt die Tür, damit unsere Streitereien nicht in den Flur dringen. Mittlerweile hatte sich bereits ein kleiner schaulustiger Pulk gebildet. Die Tür fällt laut und deutlich ins Schloss. Damit ist leider auch endgültig besiegelt, dass er die Nacht über hier bleiben wird. „Nö! Ich will nicht in Jeffs Bett. Wer weiß, was er da schon alles drin getrieben hat" Er schüttelt sich theatralisch und wirft sich aufs auserkorene Bett. Ich blicke wenig begeistert zu dem unordentlichen Haufen Bettzeug auf Jeffs Nachtlager. Das darf doch nicht wahr sein. Ich werde nicht aufgeben. „Weißt du, was ich in meinem alles getrieben habe?", frage ich provokativ. Doch Kain drückt einfach seine Nase in mein Kissen, schließt die Augen und grinst. „Riecht jungfräulich." So ein Idiot. Ich bleibe einen Moment im Raum stehen und lausche der Musik, die aus meinen Kopfhörern dringt um mich zu beruhigen. Es funktioniert nicht. Warum ausgerechnet mein Bett? „Sag mal, geht's noch? Was soll das?" „Ich will doch nur pennen. Ich tue dir doch nichts!", sagt er mit geschlossenen Augen und macht keinerlei Anstalten sich zu erheben. Im Gegenteil, er quetscht stattdessen sein Kissen in Form und seufzt zufrieden. Ich werde irre. Warum? Wieso? Was habe ich getan? „Ich muss noch arbeiten", merke ich an und weiß nicht, was genau ich damit bezwecke. „Mach doch. Ich lasse mich von ein bisschen Getippe nicht stören." Wie erwartet. „Ich will in Ruhe allein arbeiten", verdeutliche ich mit zusammengebissenen Zähnen, doch Kain setzt sich nur auf und grinst. Seine wachsamen Augen erfassen mich. Sie sind seltsam einnehmend und intensiv. „Machst du irgendwas Verdorbenes, Verbotenes oder Abartiges?", fragt er amüsiert. „Was? Nein!", entfährt mir ein klein wenig zu schnell. Fast atemlos und so gar nicht verräterisch. Reiß dich endlich zusammen Robin. „Warum regst du dich dann so auf? Ich will wirklich nur pennen. Mich interessiert weder, was du an deinem Rechner machst, noch was du versteckst. Also, setzt dich einfach und mach mit dem weiter, was auch immer du machst." Er vollführt eine seltsam ausladende Handbewegung und sinkt zurück in sein Kissen. „Ich will einfach nicht, dass du hier bist", sage ich ungalant und ernte von Kain nur einen seltsamen Blick. "Finde dich damit ab", antwortet er schlicht und dreht sich demonstrativ auf die Seite. Ich blicke auf seinen breiten Rücken und bin noch immer nicht damit einverstanden, dass er einfach in meinem Bett liegt. Ich fühle mich bedrängt und etwas überfordert von dieser penetranten Schamlosigkeit, auch wenn er gar nichts macht. Allein seine plötzliche Anwesenheit beunruhigt mich. Ich bin kein Menschenfreund. "Ich rufe gleich den Aufseher!", drohe ich seltsam effektlos. "Gut, dann stecke ich ihm, dass dein Mitbewohner Sex hat und das obwohl es untersagt ist", murmelt Kain müde und desinteressiert. Mist. An die unzeitgemäßen und nutzlosen Richtlinien unseres Wohnheimkomplexes habe ich nicht gedacht. Als ob Sex in einem gemischten Wohnheim verhindert werden könnte. Ich bin mir nicht mal sicher, wie ernst es die Aufseher nehmen würden. Vermutlich so ernst, wie bei jeder anderen Lärmbelästigung. Ich würde Jeff nicht verraten, aber vermutlich dafür sorgen, dass er seine sexuellen Kontakte woanders pflegt. Ich brauche eine ganze Weile, um mich zurück an meinen Schreibtisch zusetzen. Aus den Augenwinkeln heraus sehe ich seine schlafende Gestalt und merke, wie mein linkes Bein unstet zu vibrieren beginnt. Ich habe keine Ahnung, wieso mein sonst immenses Durchsetzungsvermögen an Kain abprallt, wie ein geworfenes Plüschtier. Ich ziehe mir die Kopfhörer zurück auf die Ohren und stelle die Musik lauter. Die Musik beruhigt mich, aber dennoch bin ich unkonzentriert und diesmal ist es nicht der schwarzhaarige Störenfried, der meine Gedanken füllt. Sondern Jeff. Mein Mitbewohner und Jugendfreund, der gerade mit einem anderen Mann das Bett teilt. In mir regt sich eine leichte Fassungslosigkeit. Ich werde mit ihm reden, aber nicht in Kains Sinne. Auch, wenn Jeff daran schuld ist, dass ich mich jetzt mit diesem Idioten rumplagen muss. Erneut sehe ich auf den ruhigen und regungslosen Körper des anderen Mannes. Nach ein paar Minuten nutzlosem Starren, wende ich mich meinen Bildschirm zu. Mein Finger streicht zaghaft über die Leertaste und ich beginne zu tippen. Schon nach den ersten paar Worten tauche ich wieder in meine stille Welt der Worte ein. In meinem Kopf bilden sich Orte und Landschaften. Gesichter, Körper und Charaktere, die mit jedem Gedanken inhaltlicher und vollendeter werden. Das, was ich im wahren Leben nicht kann, bringe ich auf Papier. Dialoge und Situationen, in denen ich selbst wohl immer versagen würde, perlen in Form von geschriebenem Worten nur so über meine Lippen. Bereits in der Schule habe ich damit begonnen, die Fantasien, die sich in meinem Kopf manifestierten, niederzuschreiben. Seit ein paar Jahren veröffentliche ich in einem kleinen Verlag, der überwiegend auf Romane mit der Themenwelt rundum Young-Adult und New-Adult, aber auch Jugend- und Kinderliteratur spezialisiert sind. Ein Unmenge an konventionellen und klischeehaften Liebesgeschichten und juvenilen Abenteuer. Ich habe noch nie jemanden erzählt. Nicht einmal meiner eigenen Familie. Nach nur wenigen Zeilen stoppe ich mit dem Schreiben und lehne mich zurück. Jeff ist schwul oder auch bi. Und ich habe es nicht mitbekommen. Ich starre auf die Tasten meiner bereits stark abgenutzten Tastatur. Einige der Buchstaben sind kaum noch zuerkennen, doch das stört mich nicht. Ich kann nach all der Zeit quasi blind tippen. Erneut streichen meine Fingerkuppen über die Leertaste, fast streichelnd. Ungesehen zärtlich. Die eigentlich raue Beschaffenheit der Oberfläche ist in der Mitte der Taste bereits glatt. Allein der Anblick der Buchstaben lässt in meinem Kopf Worte entstehen, die zu Sätzen und Geschichten anschwellen. Jeff schläft mit anderen Männern, echot durch meinem Kopf. Ich habe tatsächlich nichts davon mitbekommen. Warum hat er mir nie etwas gesagt? Er vertraut mir nicht. Dabei ist Jeff im Grunde der Einzige, den ich als Freund ansehe. Aber ich gebe zu, dass ich nicht sehr viel für unsere Freundschaft tue. Ich höre mir an, was er mir zusagen hat oder was er mir berichten will, aber selbst fragen liegt mir fern. Ich bin nicht der Typ für lauschige Männergespräche. Vielleicht hat er mir deshalb nichts erzählt. Er denkt es wäre für mich nicht von Interesse. Er empfindet es nicht als wichtig, dass ich das weiß. Obwohl es nicht überraschend ist, bedrückt es mich, auch wenn ich selbst daran schuld bin, dass ich für niemanden eine derartige Rolle spiele. Dass mich Kain die ganze Zeit von der Seite beobachtet, bekomme ich nicht mit. In Gedanken versunken bleibe ich sitzen, starre auf die Zeilen meines begonnen Skripts. Ich brauche nur noch drei abschließende Kapitel und wie jedes Mal muss ich mir ein überraschendes, rosarotes Happy End herauskitzeln. Es ist das, was diese Geschichten brauchen und was auf Hängen und Würgen gewollt wird. So sagte man es mir, bläute es mir förmlich ein. Ich gebe es ihnen. Mein nächster Abgabetermin ist bereits in zwei Wochen. Dennoch öffne ich ein neues Dokument. Jeff schläft mit anderen Männern. Unwillkürlich schweifen meine Gedanken zu der weniger lautmalerischen Beschreibung von Kain. Doch auch in meinem Kopf wird die Szenerie detaillierter und weniger weichgemalt. Es schreibt sich schnell von der Hand. Wort für Wort. Szene für Szene. In diesem Moment fühlt es sich für mich an als könnte ich die warme Haut unter meinen eigenen Fingern spüren. Ich fühle, wie sich die Muskeln darunter bewegen, wie sich mir die feine Härchen entgegen schmiegen und meine Fingerkuppen sanft kitzeln. Die Bewegungen und die Berührungen. Warmer Atem, der meine Haut trifft. Die Vorstellung lässt mich erschaudern, zittern und sanft beben. Vor Aufregung. Vor Lust und Ekstase. Ich habe das Gefühl die erregten Stimmen in meinem Kopf zu hören, wie sie sich gegenseitig ihre Namen zu flüstern. Das Raunen und Keuchen. Ich merke, wie sie die Lust auf meinen Körper überträgt, schmecke das salzige Aroma heißer Körper auf meiner Zunge. Die maskuline Süße herber Lippen. Woher kommen mit einem Mal diese intensiven Gedanken und woher kommen die Bilder? Beim letzten getippten Wort lehne ich mich zurück. Mein Puls schwelt. Ich spüre den Schlag meines Herzens heftig in meinem Brustkorb. Meine Hände zittern verräterisch. Ich bin in keiner Weise weltfremd oder ignorant, aber das intensive Gefühl erschreckt mich. Ich werfe einen Blick zu Kain. Er rührt sich nicht und hat sich mittlerweile zu gedeckt. Erst jetzt wird mir die Kühle im Raum ebenso bewusst. Nachdem ich die Dateien gespeichert habe, stelle ich die Heizung an und sehe aufs Handy. Es ist spät. Bereits dunkel. Ich sehe zu Jeffs Bett und obwohl ich mir früher nie darüber Gedanken gemacht habe, widerstrebt es mir, mich dort hineinzulegen. Es gehört sich nicht. Es ist fremd und falsch. Auch, wenn ich weiß, dass es für Jeff kein Problem wäre. Ich habe noch nie gern in fremden Betten geschlafen. Es fühlt sich immer komisch an. Es kommt mir falsch vor. Außerdem liegt Jeff oft nackt drin und dieser Fakt arbeitet sich gerade unaufhaltsam durch meine Gehirnwindungen. Nein, ich kann es nicht. Ich will nicht. Ein weiterer Blick auf die Uhr. Ich gehe schnellen Schrittes in die Waschräume, um mich kurz zu duschen und um in irgendeiner Form Entspannung zu finden. Das brauche ich jetzt. Dringend. Als ich zurückkomme, schläft Kain noch immer. Er wirkt ruhig und entspannt. Ich beneide ihn für diese Unbedarftheit. Unsanft ziehe ich ihm mein Kissen unter dem Kopf hervor, ignoriere sein missmutiges Murren. "Geht's auch sanfter?", murmelt er schlaftrunken. "Verrecke", knurre ich unfreundlich als Antwort. Der Angesprochene dreht sich auf die Seite, hält kurz seinem Arm hoch und zeigt mir seinen Mittelfinger. Ich sehe ihn nur schemenhaft. Missmutig krame ich mir eine Decke aus dem Schrank, breite sie als ein Nachtlager auf dem Boden aus und blicke noch einmal auf das Bett meines Mitbewohners. Danach zu Kain. Unruhig fahre ich mir mit der Hand über den flachen Bauch. Kains Anwesenheit macht mich nervöser als ich vermutet habe. Ich tapse zu meinem Schreibtisch zurück und krame eine Schachtel Zigaretten aus einer Schublade. Drei sind noch drin. Eine nehme ich heraus, ziehe mir einen Pullover über und verschwinde über den Seitenausgang nach Draußen. Ich genieße die Zigarette nicht, aber ich brauche das Kribbeln, welches sie durch meine Lunge jagt. Den Stummel schnipse ich unachtsam zur Seite. Auch das Räuspern des Wohnheimaufsehers ignoriere ich bis er mich zurückhält. "Quinn, verlange nicht, dass ich es ausspreche...", sagt er barsch und warnend. Ich wende mich zu ihm. Sein Name ist Micha. Er ist einer der wissenschaftlichen Mitarbeiter der Universität, der sich ein Zubrot als Wohnheimaufsicht verdient. Es gibt eindeutig bessere und vor allem dankbarere Scheißjobs. Er deutet auf den glimmenden Stummel im Beet. Ich beiße mir auf die Unterlippe. Jedes Mal dasselbe. Micha erwischt immer mich. Augenverdrehend mache ich den Schritt auf die Zigarette zu und lasse die Reste im mülleigenen Aschenbecher verschwinden. "Das machst du jedes Mal. Fällt es dir so schwer, die dämliche Zigarette da rein zu hauen?", kommt es spöttisch. "Fällt es dir schwer, derartig zu nerven?", kommentiere ich retour. "Eigentlich nicht. Es liegt mir im Blut und macht ziemlich viel Spaß!" Micha grinst und deutet zur Tür. Ich mache zum Abschied eine winkende Bewegung und verschwinde zurück ins Zimmer. Kain hat sich gedreht. Sein ruhiges, schlafendes Gesicht blickt in meine Richtung und für einen Moment wirkt er nicht mehr so gigantisch auf mich. Ich widerstehe dem Bedürfnis ihm mein Kissen ins Gesicht zu werfen. Wie kann er so ruhig in einem fremden Bett pennen? In meinem! Es regt mich immer noch auf. Bevor ich mich hinlege, schalte ich den Rechner ab und sehe noch einen Moment auf den schwarzen Bildschirm. Danach versuche ich es mir auf dem Boden gemütlich zu machen. Ein sich ausschließender Prozess. In meinem Kopf arbeitet es weiter und verhindert, dass ich zeitnahe einschlafe. Ich werde durch das Öffnen der Tür geweckt. Jeff steht im Raum und blickt verwundert auf mich und Kain, der leise schnarchend in meinem Bett liegt. „Was ist denn hier los?", fragt Jeff verwundert und stellt seinen Rucksack neben seinem Schreibtisch ab. Ich richte mich müde auf. Mein Rücken ist steif und mein Hals auch. „Du fickst seinen Mitbewohner", sage ich gerade heraus. Jeff versteift sich augenblicklich. Es ist ihm unangenehm, aber er wird nicht wirklich unruhig. „Woher weißt du das?", fragt er dümmlich und ich deute schweigend auf mein Bett, in dem der Schwarzhaarige nächtigt. Jeff blickt zu Kain, der sich erwachend hin und her wälzt. Wahrscheinlich hat ihn Jeff gar nicht als diesen erkannt. „Er stand vor der Tür, nachdem er euch erwischt hat und ist leider nicht wieder verschwunden", erkläre ich knirschend, während sich Jeff perplex neben mir aufs Bett setzt. Mittlerweile hat auch Kain seine Augen geöffnet und sich aus dem Gespräch herausgehalten. „Warum hast du auf dem Boden gepennt?", fragt Kain verwundert, fährt sich durch die wuscheligen Haare und schaut zu meinem Mitbewohner. Ein Abbild völliger Unschuld. Bitte erschießt mich. „Weil du in meinem Bett liegst, du Vollpfeife.", bluffe ich laut. Diesmal schleudere ich ihm mein Kissen wirklich zu und treffe ihn direkt im Gesicht. Kain ist perplex. „Geht's noch? Du hättest doch Jeffs nehmen können", bemerkt er nörgelnd und hat Recht. „Ich lege mich aber nicht in fremde Betten", kommentiere ich und ernte von beiden Männern einen seltsamen Blick. "Wie absurd ist das denn?" Kain richtet sich auf, legt mein Kissen zur Seite und greift nach seinem eigenen. "Okay, wie auch immer. Ich hau wieder ab...Jeff..." Mein Mitbewohner erwidert den Gruß mit einem lächelnden Nicken. Mit einem verschmitzten Grinsen im Gesicht und dem Kissen unter dem Arm bleibt er vor mir stehen. „Äußerst bequem dein Bett. Nicht so ausgeleiert, wie manch andere." Ich will ihn erwürgen. "Bläue ihm ein, dass das aufhören muss.", hängt er noch mit ran, deutet auf Jeff und geht zur Tür. Ich hebe fassungslos meine Hände und sehe dabei zu, wie der muskulöse, aber schlanke Körper aus dem Zimmer verschwindet. Kain kann mich mal. „Fick dich! Und wehe, du kommst wieder", rufe ich ihm nach und sehe zu Jeff. Dieser schaut noch immer verwundert, aber im gleichen Maß amüsiert zur Tür. Ich finde es ganz und gar nicht witzig. „Ich wusste nicht, dass du ihn kennst. Tut mir leid, ich hätte im Leben nicht gedacht, dass er hier aufkreuzt.", bemerkt Jeff kichernd. Es klingt dennoch entschuldigend. Ich sehe Jeff unmissverständlich an und richte mich auf. Mein Nacken knackt. Danach mein Rücken und das Knie. Verdammt noch mal. „Ich wollte ihn gar nicht reinlassen, aber er hat das halbe Wohnheim niedergebrüllt." Ich lasse mich müde auf mein Bett fallen, doch bevor ich mich hinlege, blicke ich auf die Decke. Kain hat hier drin gelegen. Die ganze Nacht. ich kriege Gänsehaut. Ich stehe prompt wieder auf und setze mich stattdessen an den Schreibtisch. Jeff beobachtet mich argwöhnisch, sagt aber nichts. Wir schweigen uns einen Moment an. Doch dann ploppen die Gedanken des gestrigen Abends wieder auf. In voller Blüte mit all den Details. „Warum hast du es mir nicht erzählt?", frage ich ad hoc und klinge seltsam beleidigt. Ich drehe mich extra nicht zu ihm um, um nicht in sein Gesicht sehen zu müssen. Ich bin mir nicht sicher warum. „Robin, ich... weiß nicht...", beginnt Jeff und bricht schnell wieder ab. Ich warte nicht ab bis er sich gesammelt hat oder Ausflüchte findet. „Wir kennen uns schon so lange und du kommst nicht auf die Idee mir zu erzählen, dass du auf Männer stehst? Warum, Jeff?" „Es tut mir Leid, okay?", gibt er seufzend von sich, "Ich weiß auch nicht, warum ich es nicht erzählt habe. Ehrlich gesagt, bin ich nie auf die Idee gekommen, es zu erwähnen. Wir reden so gut, wie nie über so was und wenn ist es nur dummes Gelaber ohne Bedeutung." Jeff hat Recht und dennoch reicht es mir nicht. „Ich dachte, es wäre dir einfach egal", fährt er fort und sagt das Erwartete. Das macht es nicht besser. Es ist mir nicht egal, aber ich verstehe sehr wohl, wieso er es denkt. Ich atme kurz durch und nicke. „Ja, alles klar. Gut, es ist mir egal. Schlaf mit wem du willst", kommentiere ich schlicht und unaufgeregt. Ich gehe zu meinem Kleiderschrank und ziehe mir frische Klamotten heraus. Jeff seufzt. Für meinen Geschmack zu theatralisch. Er glaubt nicht, dass es mich wirklich getroffen hat. „Ach komm, es tut mir echt Leid", ruft er mir nach als ich das Zimmer verlasse. Ich hebe meine Hand und strecke ihm zum Abschied meinen Mittelfinger entgegen, so wie es gestern Nacht Kain getan hat. Meine Reaktion ist eindeutig übertrieben, aber es ärgert mich. Enttäuscht mich sogar ein bisschen. Auf dem Flur kommen mir die beiden Mädchen vom gestrigen Abend entgegen. Sie sehen mich an und beginnen erneut zu tuscheln. Wie die Szene von gestern wohl auf sie gewirkt hat? Wahrscheinlich fragen sie sich nur, was einer wie ich mit Kain zu schaffen hat. Nichts. Nur Ärger. „Macht ihr auch mal was Sinnvolles?", frage ich beim Vorübergehen, ernte pikierte Gesichter und verschwinde im gemeinschaftlichen Sanitärbereich. Ohne noch einmal ins Zimmer zurückzugehen, wandere ich zu meiner ersten Vorlesung. Auch Kain besucht sie. Er studiert Biotechnologie und einige unserer Seminare und Vorlesungen überschneiden sich. Nur deswegen kenne ich ihn überhaupt. Im letzten Semester hatten wir einige Projekte zusammen. In zweien waren wir derselben Gruppe zugeteilt, da es der Dozent witzig fand Pärchen weise die Anwesenheitsliste durchzuarbeiten. Kain stand mit seinem Nachnamen ganz oben. Ich, mit meinem ganz unten. Wir sind völlig verschiedene Charaktere und das haben wir auch während der Diskussionen bemerken dürfen. Unruhig tippe ich mit dem Finger auf dem Tisch umher. Ich brauche dringend neue Zigaretten. In meinem Hals beginnt es zu kribbeln. Der Seminarraum füllt sich. Ich leihe mir von einer Kommilitonin einen Stift und Papier als ich plötzlich eine Hand an meiner Schulter spüre. Ich wende mich um und sehe direkt in Kains braune Augen. In seiner Hand hält er einen großen Kaffee. Ich rieche das Aroma gerösteter Bohnen und will ich nur noch mehr eine Zigarette rauchen. Kaffee trinke ich keinen. „Und hast du schon mit ihm geredet?" Er setzt sich auf den Stuhl neben mich und streckt seine langen Beine aus. „Du nervst." „Hast du?" „Kain, du nervst. Rede du doch mit deinem Mitbewohner, wenn es dir so wichtig ist. Schließlich bringt er andere Männer mit in euer Zimmer ohne dich vorher zu warnen." Meine Stimme ist etwas zu laut, denn einige Kommilitonen sehen zu uns. "Kein Bedarf- Außerdem lag er heute Morgen noch nackt im Bett, da hatte ich einfach keine Lust, ihn auf Sex anzusprechen, falls du verstehst." Kain schüttelt sich angeekelt. Ich hebe meine Augenbraue. "Dabei wäre es doch die Gelegenheit gewesen!", kommentiere ich sarkastisch und beginne ausweichend auf meinen Zettel rum zu kritzeln. Kains Blick bohrt sich in meine Seite. Doch dadurch schweifen meine Gedanken nur noch mehr ab. Unbewusst kritzele ich immer weiter. Dass es Worte und sogar Sätze sind, merke ich erst als unsere Professorin den Raum betritt und das Licht angeht. Auf meinem Zettel stehen plötzlich die ausschweifende Beschreibung eines beobachtenden Mannes und nicht wenige von Kains Attributen. Schnell drehe ich das Blatt um und hoffe, das Kain es nicht gelesen hat. Ich spüre seinen Blick und ignoriere ihn. Nach einer Weile richtet er sich auf und verschwindet wieder zu seinen eigentlichen Platz. Unbewusst atme ich aus und merke zum Glück, wie sich mein heftiger Herzschlag beruhigt. Ich verstehe nicht, warum es ihm wichtig ist. Wenn es ihn stört, dass sein Mitbewohner und Jeff miteinander rumvögeln, muss er sich allein darum kümmern. Mir ist es schließlich egal, äfft es Jeff in meinen Kopf nach. Ich seufze. Eine beringte Hand, die in meinem Blickfeld auftaucht, lässt mich aufsehen. Meine Professorin steht vor mir. Sie lächelt. "Mister Quinn, darf ich sie am Ende des Seminars kurz sprechen?" Meine Antwort ist eine ungelenke Reaktion bestehend aus dämlichen Gesichtsausdruck, nicken und gleichzeitigem Hochzucken meiner Schultern. Sie lächelt einfach weiter und geht mit einem Nicken zurück nach vorn. Nach der Stunde bittet sie mich darum ein Übungsseminar, ein sogenanntes Tutorium zu unterstützen, welches sie für die Erst- und Zweitsemester betreffender Studiengänge organisiert. Sie ist der Überzeugung, dass die Studenten eher aktiv werden, wenn sie mit anderen Studenten zu tun habe. Ich bezweifele es. Noch dazu verstehe ich nicht, warum sie gerade mich anspricht. Ich nenne ihr prompt drei Kommilitonen, die besser dafür geeignet sind. Sie wiegelt es ab. Ich erkläre ihr mein enges Zeitmanagement. Sie beteuert, dass sie mich nicht damit allein lässt. Ich verweise auf meine fehlenden Kompetenzen in etlichen Bereichen. Sie versichert mir, dass es auch für meine akademischen Fähigkeiten und Möglichkeiten von Vorteil sein wird. Kurz, meine mündliche Note ist mies. Ich will ihr versichern, dass ich der völlig Falsche dafür bin. Sie lächelt. Darauf kann ich ihr nichts mehr erwidern. Reale Dialoge waren noch nie meine Stärke. Vor allem dann nicht, wenn ich doch einen gewissen Grad des Respekts verspüre. Was zu meinem Glück relativ selten zutrifft und ich damit ungeniert unfreundlich sein kann. Immerhin ist mir so viel egal. Ich soll es wenigstens probieren, sagt sie letztendlich und ich sehe ihr nach als sie geht. Was für ein Scheißtag. In der Mensa setzt Kain seine Attacke fort. Plötzlich sitzt er neben mir. Auf seinem Tablett steht ein Teller mit einem riesigen Berg Spaghetti. Mir wird schon beim Hinsehen schlecht. „Was willst du?", frage ich genervt. Er schweigt und beginnt seine Nudeln zu essen. Dabei sieht er mich immer wieder an und kaut. Ich widerstehe dem Drang einfach aufzustehen und zu gehen. Es fällt mir schwer. Irgendwann schiebe ich nur noch missmutig meine Kartoffeln rum. „Bist du von dem Bisschen wirklich satt?", fragt er mich, nachdem ich die Kartoffel in acht gleichmäßige Stücke zerteilt habe und sie umfänglich mit der zähen Soße ummantele. Kain lehnt sich zurück und greift nach seinem Schälchen mit Nachtisch. Es ist rote Grütze mit Vanillesoße. „Nein, aber mir ist der Appetit vergangen", kommentiere ich bissig. Daran ist nicht nur er Schuld, aber das sage ich ihm nicht. Kain sieht mich tatsächlich beleidigt an. Ich verspüre einen Kitzel von Genugtuung, schließlich habe ich wegen ihm die Nacht auf dem Boden geschlafen. Die Tatsache, dass es im Grunde meine eigene Schuld war, verdränge ich gekonnt. Mir fällt auf, dass der Reißverschluss seiner Strickjacke diagonal über seine gesamte Brust verläuft. Interessant. „Wie haben du und Jeff es überhaupt hingekriegt ein gemeinsames Zimmer zu bekommen?" „Was?", frage ich aus den Gedanken gerissen. „Du und Jeff. Ihr kennt euch doch von früher, oder?" Er lehnt sich wieder nach vorn und löffelt den letzten Happen der Grütze aus der Schale. „Ja, wir sind zusammen zur Schule gegangen." Ich streiche mir die Haare zurück und schiebe den Teller weg. „Und wie habt ihr das mit dem gemeinsamem Zimmer hinbekommen?" Anscheinend vermutete er ein schwerwiegendes Komplott. Ich sehe meinen Gegenüber zweifelnd an. „Zufall." „Kann ich mir nicht vorstellen. Mein bester Freund studiert an der Nachbarhochschule und wir haben sogar darum gebettelt und nix. Jetzt hocke ich bei Abel.", erzählt er mir malerisch. Ich sehe auf. Abel? Für einen Moment glaube ich, mich verhört zu haben. „Sag das noch mal", bitte ich amüsiert und kann mir ein Giggeln nicht verkneifen. „Ja, ja. Mach dich nur lustig, aber es ist wirklich so." „Kain und Abel? So wie im Alten Testament? Da hatte aber einer viel Humor." „Ja, aber ich hüte keine Schafe und bin mir sicher, dass die Typen von der Wohnheimvermittlung eigentlich aus einem Zirkus sind und sie spielen die Clowns." „Bauer...", kommentiere ich und stochere doch noch mal in meinem Essen rum. „Was?" „Kain war der Bauer. Abel der Hirte. Deswegen erschlug er ihn", stelle ich richtig. „Ich erschlag gleich dich", bellt Kain mit genervtem Gesichtsausdruck. Dann kramt er in seiner Jackentasche nach einem Ingwerbonbon. Das erste Mal fiel mir seine Vorliebe während einer dieser Projektarbeit im letzten Semester auf. Fast im Viertelstundentakt hat er sich die Bonbons hinter geschoben, die andere nicht einmal bei extremer Erkältung aushielten. Scharfe Zitrone in Kombination mit Kaffee. Das muss Kains Geschmack sein. Ich habe noch nie einen gegessen, aber so stelle ich es mir bei ihm vor. Hinter Kain taucht eine junge Frau auf. Schmale Hände mit langen manikürten Fingernägeln legen sich auf seine Schulter und er reagiert sofort. Kain blickt auf und eine dunkelrote Locke trifft seine Wange. Er pustet sie weg, weil sie seine Haut kitzelt. Ein einzelnes Haar verfängt sich in seiner Augenbraue, streift seine Wimpern und er blinzelt. Mein Blick haftet sich an diese Stelle ihrer Berührung. Erst Kains ruckartige Bewegung, in der er sich gänzlich zu ihr dreht, holt mich zurück. „Merena! Ich dachte dein Seminar geht länger?" Sie haucht ihm einen winzigen Kuss auf die Wange und blickt dabei zu mir. Auch ihr bin ich schon während eines der Projekte begegnet. Ich glaube, sie ist Kains Freundin. „Sollte es auch, aber dann haben wir angefangen zu betteln, weil wir alle Hunger hatten.", antwortet sie. Ein Lächeln blitzt über ihr ovales Gesicht. Dabei werden ihre roten Lippen schmal. Das Lächeln wirkt so falsch, wie ihre Fingernägel. Sie ist eines dieser Püppchen. Ihre langen Finger bewegen sich über seine Schultern, streichen zum Teil über seinen Nacken und zu seiner Brust. Meine Fingerkuppen beginnen zu kitzeln als ich mir vorstelle, wie sich die Reibung anfühlt. „Dann hol dir auch was. Ich warte auf dich", sagt Kain und blickt zu ihr hoch. Ich lege geräuschlos mein Besteck auf den Teller und stehe auf als sie seinen Vorschlag enthusiastisch bejaht. Beide schauen mich an, doch ich greife nur nach meinen Tablett und gehe. Ich höre, wie Kain meinen Namen ruft. Ich reagiere nicht, denn ich habe keine Lust ihrer Zweisamkeit beizuwohnen. Als ich ins Wohnheimzimmer zurückkommen, liegt Jeff auf seinem Bett und blättert in einer Zeitschrift, während neben ihm ein paar Fachbücher liegen. Er richtet sich sofort auf als er die Tür hört. „Hey, können wir noch einmal reden. Bitte, Robin." Der Klang seiner Stimme ist seltsam. Irritiert, statt entschuldigend. Er hat wirklich nicht geglaubt, dass es mich stört, wenn er es mir nicht sagt. „Wozu?" Meine Stimme hingegen ist eisig. Jeff seufzt. Ich setze mich an den Schreibtisch und schiebe mir die Kopfhörer auf. Mein Player läuft noch nicht und ich schalte ihn auch nicht an. Jeff zieht sie mir wieder runter und neigt mich samt Stuhllehne zurück. Ich blicke hoch und direkt in sein vertrautes Gesicht. Er beugt sich auf die Lehne und hält mich so zurück geneigt, dass ich kaum eine Wahl habe als ihn anzusehen. Ich verschränke die Arme vor der Brust, um ihm zu verdeutlichen, dass mir das nicht gefällt. „Seit wann bist du so zickig?", fragt er mich und ich hebe eine Augenbraue. „Wer bitte ist hier zickig?", gebe ich empört von mir und klinge zickig. „Okay, nennen wir es eben pissig.", revidiert er lächelnd. Ich schweige ihn an. Ich bin nicht pissig und schon gar nicht zickig. Zickig sind Mädchen. Ich bin höchstens verstimmt. Nein, halt, es ist mir egal. Der Sarkasmus in meinem Kopf trägt neue Blüten. Jeff lächelt weiter. „Ich musste es von Kain erfahren!", entflieht mir mosernd und ich blicke in die blauen Augen meines langjährigen Freundes. Jeff seufzt. Laut. Energisch. Für meinen Geschmack seufzt er heute zu viel. Sein warmer Atem streift meine Wange und er macht keine Anstalten sich zu entfernen. „Ich konnte doch nicht ahnen, dass er gleich hierher reitet. Ich dachte, er verkriecht sich bei seiner Alten.", rechtfertigt er sich. Ich sehe ihn ungerührt an. „Es tut mir Leid, dass ich dir nichts gesagt habe, aber ich bin mir auch noch gar nicht lange darüber im Klaren." Sein Gesicht ist mir so vertraut und doch habe ich einen Moment lang das Gefühl in ein fremdes zusehen. Sowas merkt man nicht von heute auf morgen. Er muss darüber nachgedacht haben. Wieder und wieder. Doch er hat seine Gedanken niemals mit mir geteilt. Nichts, aber auch wirklich gar nichts habe ich mitbekommen. „Stört es dich denn?", flüstert er mir entgegen, nachdem er mein Gesicht eine Weile ausgiebig musterte. Ob es mich stört? Ich weiß es nicht. Vielleicht schon. Nein, eigentlich nicht. Nein, es stört mich nicht. Nur, dass er mir vorher nichts anvertraut hat. „Nein." „Gut. Das finde ich sehr beruhigend und es ist mir sehr wichtig." Für einen kurzen Moment spüre ich seine Fingerkuppen, die sich leicht in meine Schulter drücken. Er lässt meinen Stuhl und meine Schulter los und fällt zurück auf sein Bett. Damit ist die Sache scheinbar für ihn erledigt. Diese Reaktion ärgert mich wieder. Ich setze mir die Kopfhörer auf und sehe noch einen Moment auf den ruhenden Körper des anderen Mannes. Unwillkürlich frage ich mich, was ich noch alles nicht weiß? Und dieser Gedanke lässt mir keine Ruhe. Zwölf Jahre lang habe ich nicht mit bekommen, dass der Mensch, den ich am ehesten als Freund bezeichne, schwul ist. Nun stehe ich vor vollendeten Tatsachen und obwohl ich es nicht will, sehe ich Jeff mit anderen Augen. Keineswegs im ablehnenden Sinn, sondern eher im Zusammenhang mit der Intensität unserer langjährigen Bekanntschaft. Jeff verhält sich mir gegenüber nicht anders, sondern wie sonst auch. Als hätte sich nichts geändert. Doch das hat es. Irgendwie. Noch weiß ich nicht genau, was es ist. An diesem Abend bringe ich kein Wort aufs Papier. Nach drei Tagen beendet Kain seine nervenden Aufforderungsversuche. Ich sehe ihn nur kurz in den gemeinsamen Vorlesungen und in der Mensa. Doch ich spüre seinen Blick auf mir, wenn er glaubt, dass ich nicht hinsehe. Ich werde aus ihm nicht schlau. Im Grunde habe ich meine Ruhe wieder, aber dennoch gerate ich jedes Mal, wenn Jeff über Nacht nicht im Zimmer ist innerlich in Aufregung. Ich ertappe mich dabei, wie ich ihn ansehe, seine Bewegungen studiere und wie meine Gedanken immer wieder in eine ganze bestimmte Richtung gehen. Jeffs Körper dicht an den Körper eines anderen Mannes gepresst. Feuchte Haut, die übereinander gleitet und erregende Reibung erzeugt. Meine Gedanken wandern unbewusst immer wieder zu der Vorstellung zurück einen männlichen Körper unter meinen Fingern zu spüren. Ich weiß weder, wo es herkommt, noch weiß ich, wo ich mit diesen Gedanken hin soll. Es fühlt sich an, wie ein Kitzeln, welches sich tief unter meiner Haut befindet. Ich kann es allein nicht stillen und es ist stets präsent. Ich will meine Blase der Ruhe zurück. Als ich von meinem Stuhl aufstehe und die Mensa verlasse, dringt 'It's My Life' von Bon Jovi aus meinen Kopfhörern. Kapitel 2: Das Für und Wider von Geselligkeit --------------------------------------------- Kapitel 2 Das Für und Wider von Geselligkeit Ein Woche vergeht ohne neue, gravierende Enthüllungen. Meinen auf Abwegen geratenen Gedanken hilft das nicht weiter. Ich habe das Gefühl mein Gehirn läuft phasenweise aus dem Ruder und ich werde diese seltsamen Empfindungen und Fantasien einfach nicht mehr los. Sie setzen unvermittelt ein. Zu wahllosen Tages- und Nachtzeiten. Ich beobachte Jeff auffällig oft, aber nicht nur ihn, sondern mittlerweile auch andere männliche Exemplare. Wie viele andere auch bin ich ein Ästhet. Schöne Körper sind etwas Herrliches und ich beginne Körper miteinander zu vergleichen. Jeffs schlanker, aber großer Körper. Definitiv männlich. Kains muskulöser, definierter. Absolut männlich. Kaworus zierlicher, fast femininer Körperbau. Er ist ein Kommilitone meines eigenen Studiengangs und Japaner. Ich fange an sie ausführlich zu beschreiben, winzige Details zu entdecken. Bei Jeff irritiert es mich bisher am meisten. Er steht in der letzten Zeit auch ständig halbnackt vor mir. Kurioserweise ich bin mir nicht sicher, ob das schon immer so war oder ob es mir nur mehr auffällt. Wenn ich Jeff zusammen mit Abel sehe, passiert das Gleiche und geht noch eine Stufe weiter. Sofort stelle ich mir vor, wie sie es miteinander treiben. Sowas sollte man sich bei einem Freund nicht vorstellen. Es irritiert mich zusehends. Zumal ich dieses Verlangen noch nie bei heterosexuellen Pärchen hatte. Jeffs Verhalten mir gegenüber hat sich nicht geändert und dennoch komme ich über eine Sache nicht hinweg. Erst habe ich es mir nicht wirklich eingestehen wollen, doch es hat mich tatsächlich enttäuscht, dass Jeff anscheinend nicht das Vertrauen in mich hat etwas Derartiges zu erwähnen. Seine Versuche um tiefere Gespräche blocke ich ab und versichere ihm einzig und allein, dass ich keinerlei Probleme mit seiner Homosexualität per se habe. Und so ist es auch. Unbewusst bestätige ich damit leider auch seine vorige Aussage, dass es mir egal sei. Mir ist nicht klar, warum ich es mache. Schließlich würde ich durch ein wenig Aufmerksamkeit zeigen können, dass er falsch liegt mit seiner grandiosen Einschätzung über mich. Auf jeden Fall bekomme ich den Mund nicht auf, so ist es fast immer, egal, wie sehr mich etwas stört. Bin ich vielleicht wirklich zickig? Nein, pissig. Was auch immer. Ich bin definitiv nur verärgert darüber, dass ich es von Kain erfahren musste. Kain. Der schwarzhaarige, gutaussehende Nervtöter. Er scheint seither auch überall zu sein. Jedenfalls fällt er mir unentwegt auf. Im Hörsaal. Im Flur. Auf dem Weg zum Hauptgebäude. In der Mensa. Nicht zuletzt weil er der Mitbewohner von Jeffs Gespielen ist. Mittlerweile habe ich Abel kennengelernt. Durch und durch Durchschnitt. Anders lässt es sich nicht sagen. Er muss gut im Bett sein, denn ansonsten kann ich mir nicht erklären, was Jeff an ihm findet. Abels mattblaue Augen sind der Inbegriff der Belanglosigkeit, aber am Schlimmsten ist seine ruhige, monotone Stimme, wenn er etwas erzählt. Einschläfernd und desinteressiert. Nun verstehe ich auch, warum Kain ihn sein Übel nennt. Zudem hat Abel eine Vorliebe für schlechte Witze und dumme Sprüche und obwohl wirklich niemand lacht, lässt er ständig welche von der Stange. Krusty der Clown trifft auf Paris Hilton. Er nervt und garantiert nicht nur mich. Noch bemüht sich Jeff um ein aufmunterndes Quieken. Kichert, wenn es kein andere macht. Aber lacht nur selten. Es sind mehr oder weniger Laute des Fremdschämens. Abel muss wirklich verdammt gut im Bett sein. Ich schüttle den Gedanken von mir. Ich speichere mein abgeschlossenes Skript und kopiere die Datei auf einen USB-Stick. Gekonnt ignoriere ich das blinkende Fenster meines Emailprogramms, welches mir erklärt, dass ich schon vor zwei Tagen hatte fertig sein sollen. Ich habe nur noch heute für die notwendigen Korrekturen gebraucht. Bereits jetzt spüre ich den mahnenden Schatten meiner Lektorin. Ein leichtes Zittern durchfährt mich und die feinen Härchen in meinem Nacken richten sich auf als ich daran, denke, dass sie sich jeden Moment melden könnte. Das unangenehme Schaudern wird noch verstärkt als mir einfällt, dass heute das Tutorium startet, für welches ich gezwungen werde. Bei dem Gedanken daran wird mir ganz mulmig. Der Stick gleitet in meiner Hosentasche und ich schalte den Rechner aus. Ein Blick auf die Uhr zeigt mir, dass die Vorlesung in ein paar Minuten losgeht. Der Minutenzeiger verschwindet hinter einem dicken Kratzer im Glas und das schwarze Lederband offenbart an bereits vielen Stellen sein naturfarbenes Inneres. Ich raffe alles zusammen und ignoriere Jeffs Frage nach meiner Abendplanung. Er schlägt gerade seine Decke auf und hat tatsächlich sein Bett gemacht. Eine Seltenheit. „Ich bin heute Abend mit Abel verabredet, aber ich denke nicht, dass du dir um Kain Sorgen machen brauchst. Der ist zurzeit mit einem Projekt beschäftigt und bis spät in die Nacht am Arbeiten." Ich verziehe meinen Mund zu einem irren Grinsen, ohne das Jeff es bemerkt. "Aber für alle Fälle hab ich ihm das Bett neu bezogen und du lässt ihn rein, ja?... Robin, hast du gehört?", fragt Jeff nach, während ich akribisch meine Bücher im Rucksack verstaue. „Ja, ja." Im Grunde habe ich es nichts mitbekommen, denn ich bin mit meinen Gedanken vollkommen woanders. Mein Handy vibriert und es ist, wie erwartet eine Nachricht meiner Lektorin. Sie bleibt ungeöffnet, denn ich weiß, was drin steht. Sie nervt mich schon jetzt. Herrlich. Das kann nur ein schlechter Tag werden. „Robin?", hakt Jeff noch einmal nach und bleibt in der Tür stehen. „Was denn?", entflieht mir genervt. Jeff zieht abwehrend die Schultern nach oben zieht und verschwindet. Mein Handy ertönt erneut. Diesmal ist es ein Anruf. „Quinn?", melde ich mich mit meinem Nachnamen, weil ich die Nummer nicht erkenne. Einen Moment nicht nachgedacht und das Rangehen entpuppt sich als grandioser Fehler. „Robin, mein Zuckerkringel, du lebst! Wie erfreulich. Du bist zwei Tage im Verzug." Die hohe Stimme am anderen Ende des Telefons gehört zu meiner Lektorin Brigitta. Ich verdrehe automatisch die Augen und widerstehe dem Drang sofort wieder aufzulegen. Sie ist ein ziemlicher Fuchs und Kariesverursacher zugleich. Ich wäre nie ran gegangen, wenn ich ihre Nummer gesehen hätte. „Ich habe jetzt keine Zeit für dich." „Ich kriege nicht mal eine Begrüßung? Schäm dich! Zwei Tage, Robin!!!!" Eindringlich. „Du bist Schlimmeres gewöhnt, also beruhige dich.", beschwichtige ich, greife nach meinem Rucksack und verlasse das Wohnheimzimmer. Prompt stoße ich fast mit jemanden zusammen. Es ist die Blondine, die auch letztens die Diskussion mit Kain miterlebt hat. Sie sieht mich erschrocken an. Ich reiche ihr die runtergerutschte Tasche, entschuldige mich nicht und laufe nach einem kurzen Blick weiter. „Ich beruhige mich erst, wenn du mir sagst, dass du das Skript fertig hast. Ansonsten. Zwei Tage. Zwei Tage....", wiederholt Brigitta unnachgiebig und ich halte mir genervt den Hörer vom Ohr weg. Ich sollte eine Schmerzenszulage verlangen. „Ich lege jetzt auf. Ich hab gleich Vorlesungen." „Robin, wehe, wenn du..." Den Rest ihres energisch gebrüllten Satzes bekomme ich nicht mehr mit. Im Laufen schalte ich mein Handy aus, um weiteren, störenden Anrufen auszuweichen und schüttele den Kopf. Brigitta entspricht dem klischeehaften Stereotyp einer Lektorin. Nervig und penetrant. Sie wird bissig, sobald ich nicht rechtzeitig abliefere oder erzwingt Themen, die ich zu gern umschiffe. Ohne sie würde es nicht funktionieren, das weiß ich mittlerweile. Und im Grunde weiß ich ihre Arbeit auch sehr zu schätzen. Die Vorlesung verbringe ich notgedrungen damit das Skript zu korrigieren und Änderungen vorzunehmen. Meine Leser mögen Happy-Ends und dank Brigitta bekommen sie sie auch. Laut einer eingehenden Analyse des Verlages liegen die Beliebtheit meiner Romane und damit meine Zielgruppe bei den 11- bis 17-jährigen Mädchen mit am Höchsten. Jippie, schallt es sarkastisch in meinem Kopf, während ich meiner Protagonistin ein tränenersticktes und heilfrohes Finale spendiere. Tief versunken in den Armen ihres Liebsten, um den sie in sage und schreibe 250 Seiten wie verrückt kämpfen musste. Gegen intrigante Mitschülerinnen, Eltern und verräterischen Freunden. So wollen es meine Leser und was soll ich sagen, sie sichern mir mein Einkommen. Meine Bücher finanzieren einen Großteil meines Studiums und in meiner feinen, kleinen Zielgruppe bin ich ein unbekannter Star, denn ich veröffentliche unter einem Pseudonym. Einem Weiblichen. Quincey Bird. Die Idee meiner Lektorin. Sie war der Überzeugung, dass sich Liebesgeschichten besser als Frau verkaufen ließen. Wahrscheinlich hat sie Recht. So wie immer. Mir ist es egal. Ich würde die Romane auch anonym veröffentlichen, aber das funktioniert leider nicht. Marketing und Wiedererkennungswert. Ich spule noch ein paar mehr dieser Fachbegriffe ab, die mir Brigitta regelmäßig an den Kopf wirft. Ich setze den letzten Punkt im Manuskript und schicke ich es ab. Nun wird mich Brigitta hoffentlich erstmal in Ruhe lassen. Mein Handy lasse ich vorsorglich aus. Von der Vorlesung bekomme ich nur noch wenig mit. Meine Augen wandern über die gutbesetzten Reihen und bleiben an einem roten Haarschopf hängen. Als sie ihren Kopf zur Seite neigt und mit ihrer Nachbarin quatscht, erkenne ich sie als Kains Freundin. Meines Wissens nach studiert sie Biologie. Auch im vierten Semester, so wie ich. Biologie. Ein Mädchenstudiengang. Im ersten Semester bin ich einmal mit ihr aneinander geraten und beiden Projekten im letzten Semester waren wir uns auch nicht unbedingt grün. Ich kann sie nicht leiden. Der Dozent beendet die Vorlesung und ich packe meinen Kram zusammen. Als ich aufsehe, blickt sie mich an. Ihre blauen Augen mustern mich. Sie hat für mich nichts Attraktives und wenn Kain auf so was steht, spricht das nicht für ihn. Ich erwidere ihren seltsamen Blick bis sie sich abwendet und mit ihrer Nachbarin den Hörsaal verlässt. Die restlichen Seminare meines Tages verlaufen erstaunlich ruhig und ereignislos. Kein Kain. Kein Jeff und keine schlechten Witze in Form von Abel. Nicht einmal beim Mittagessen. Ich verlasse das letzte Seminar ein paar Minuten früher, weil ich noch bei meiner Professorin vorbeischauen muss um mir einige Instruktionen wegen des Tutoriums abzuholen. Ich versuche ein letztes Mal es ihr auszureden. Keine Chance. Wenige Minuten später stehe ich vor dem notierten Seminarraum und seufze so schwermütig, dass ich man meinen könnte ich müsste aufs Schafott. Reden ist nicht meine Stärke und erklären schon gar nicht. Außerdem vertrete ich die Ansicht, dass sich jeder selbst der Nächste ist, also wer es nicht schnallt, hat Pech. Ganz einfach. Nur im Moment nicht hilfreich. Noch immer stehe ich vor der Tür und werde langsam unruhiger. Ich will eine Zigarette zu rauchen. Meine Fingerspitzen kribbeln bereits. Wenn ich Glück habe, wird das Tutorium niemand wahrnehmen und ich kann in Ruhe meinen Laptop anmachen. Ich habe extra keine Werbung gemacht, so wie es die Professorin von mir verlangte. Werbung! Sehe ich aus, wie ein Marktschreier? Werbung machen, absurd. Entweder die Studenten nutzen ihre Möglichkeiten oder sie lassen es sein. Noch immer starre ich auf die Tür als könnte ich damit sicherstellen, dass sie geschlossen bleibt. Durch die milchige Scheibe dringt ein wenig Licht, doch ich kann nicht ausmachen, ob sich im Raum jemand befindet. Ich kann das nicht. Frustriert lasse ich meinen Kopf gegen die Scheibe fallen und seufze. Unvermittelt geht die Tür auf und ich schrecke zurück. Ich verziehe keine Miene als eine Studentin vor mir auftaucht. Sie lächelt. Ihre Haut hat den feinen, fast schmelzenden Ton von Karamell. Ich glaube, sie ist Inderin. Sie lächelt immer noch, als ob sie nicht ahnte, dass vor ihr ein Verrückter steht. „Oh, entschuldige, bitte. Ich habe ein Geräusch gehört und wollte sehen, ob sich vielleicht jemand nicht reintraut." Wie Recht sie damit hat. Sie tritt zur Seite und ich linse in den sonst leeren Raum. „Bist du allein?", frage ich trotzdem vorsichtig und muss mich erst einmal räuspern. Mein Hals ist trocken. „Ja, bisher schon." Sie folgt mir in den Raum hinein und setzt sich zurück an einen der vorderen Tische. Ein paar Bücher liegen bereit. Einige erkenne ich. Grundlektüre der Biologie und der Biochemie. Sie gehört zu der fleißigen Sorte. Vorbildlich. Ihre dunklen Augen ruhen auf mir, während ich sinnfrei im Raum stehen bleibe und nicht weiß, wie ich fortfahren soll. „Setz dich doch. Ich bin übrigens Shari." Sie deutet aus Höflichkeit nicht direkt neben sich, aber in ihre Nähe. Ein paar Strähnen ihres langen, schwarzen Haares umstreicheln ihre Schultern, genauso wie es die roten Locken von Kains Freundin getan haben. Doch bei Shari scheinen sie wie Seide über ihren Körper zu fließen. Beeindruckend. Schön. Nach weiterem, kurzem Zögern stelle ich meinen Rucksack neben ihr auf dem Tisch ab und ziehe mir einen Stuhl heran. Ich platziere mich vor ihr, aber ihr nicht direkt gegenüber. Sie sieht mir dabei zu. Für einen Moment verwundert, dann verstehend. Ihr Lächeln wird weicher. „Robin", sage ich letztendlich, nicke und hoffe ein letztes Mal, dass es nicht mehr Leute werden. „Hi. Schön dich kennenzulernen. Dich darf ich also mit meinen Fragen drangsalieren?" „Sieht so aus.", kommentiere ich trocken und versuche diese Worte nicht allzu furchtvoll klingen zu lassen. Sharis Lächeln wird breiter, während ich mir wünsche energischer gegenüber Lehrpersonal Nein sagen zu können. Augen zu und durch, hallt es in meinem Kopf und ich bin mir bereits jetzt sicher, dass ich meiner Professorin am Montag erklären werde, dass der Versuch gescheitert ist. Ich bitte Shari, mir das letztes Thema herauszusuchen, welches sie in der Vorlesung behandelt habe und atme unbemerkt durch als die schöne Inderin beginnt das Buch zu durchblättern. Sie deutet mit einem schlanken Finger auf den Absatz mit Oxidations- und Reduktionsfermenten. Aminosäuren. Ich nicke und beginne in meinem Kopf zu kramen. Als dabei nicht viel rauskommt, ziehe ich mir das Buch heran und lasse meine Augen über die schwarzen Lettern wandern. Es hilft. Ich frage sie nach etwaigen Problemen und Shari holt sofort ihre Notizen hervor. Während sie ein paar Fragen zusammenstellt, schweifen meine Gedanken wieder ab. „Prinzessin", murmele ich leise vor mich hin, während ich geistesabwesend in das Buch schaue und versuche zu sinnieren, was es mit der nächsten Passage auf sich hat ohne sie wirklich zu lesen. Es sind ein paar komplizierte Formeln und Gleichungen dabei. Für mich ergibt es alles einen Sinn, aber wie erkläre ich es ihr? „Was?" Shari sieht mich verwundert an. Erst jetzt wird mir klar, dass ich es laut gesagt habe. Für einen Moment presse ich meine Lippen zusammen. „Dein Name. Er bedeutet Prinzessin, oder?" Sie sieht mich mit ihren großen braunen Bambiaugen erstaunt an. Danach folgt ein feines Lachen, welches von ihren Lippen perlt, wie süßer Honig. „Ja, woher weißt du das? Das ist ja tiefstes Hindi." „Irgendwo in einem Wörterbuch gelesen, wahrscheinlich." Ich zucke mit den Schultern. Gelogen. Eine meiner Kitschromanfiguren trägt genau diesen Namen. Sie ist eine zickige Kuh, die sich klischeehaft mit der Zeit in den Klassennerd verknallt. Ja, so was wollen die jungen Mädchen heute lesen. Ein Zeichen für die umfangreichen Wege der wahren Liebe, zitiert nach Brigitta. Ich bin der Überzeugung, dass diese Mädchen nur lesen wollen, wie das schüchterne Pardon an den heißesten Typen der Klasse kommt. Wahre Liebe im Zeichen der Unwahrscheinlichkeit, zitiert nach mir. „In einem Hindi-Wörterbuch? Du hast ja seltsame Lesegewohnheit." Shari stützt ihren Kopf auf ihrer Hand ab. „Beurteile niemand nach der Wahl seiner Lektüre." Ich deute auf das Exemplar von J.K. Rowlings Harry Potter und der Gefangene von Askaban in ihrer Tasche. Sie lächelt mir entgegen und ich kann nicht verhindern, dass auch meine Mundwinkel etwas nach oben zucken. Sie hat etwas Einnehmendes. In einer leichten Bewegung wirft sie ein paar der schwarzen Haarsträhnen über ihre Schulter zurück, doch sie gleiten gleich wieder nach vorn. Als würden sie, wie Schmetterlinge über ihre Haut streichen, sanft küssend und liebkosend. Sie entspricht sogar nicht dem Abbild meiner Romanfigur und das macht es so viel besser. „Eine verlorene Wette. Ich schlage mich gut und man sagte mir, dass sie mit jedem Band erträglicher werden", kommentiert sie meinen Hinweis ohne offensichtliche Gefühlsregung. Ich zucke absichtlich nur mit den Schultern, um ihr nicht zu verraten, dass ich sie selbst gelesen habe. Sie scheint mich zu durchschauen. Ihr Blick ist wissend und ich lenke ihre Aufmerksamkeit wieder auf die angesprochene Passage im Lehrbuch zurück, in dem ich auf eine der komplizierten Formel deute. Nach einer Stunde sehe ich dabei zu, wie sie sich zurücklehnt und seufzend an die Decke sieht. Sie fährt sich durch die dunklen Haare. Aus ihrer momentanen Erscheinung spricht die pure Verzweiflung. „Ich verstehe es nicht", sagt sie ehrlich und ich komme nicht umher schief zu lächeln. „Wärst du eine Blondine, würde ich jetzt was Blödes sagen.", gebe ich vom Stapel. Shari schlägt mir empört gegen den Oberarm. „Reiß dich zusammen, ich kenne dich noch zu wenig um Gnade walten zu lassen", kontert die schöne Inderin. Ihre Reaktion ist angenehm. Kein zickiges Wundern. Kein schmollendes Schniefen. Sie versteht den Scherz. Mein Magen beginnt zu knurren. Ich lege beruhigend die Hand auf meinen flachen Bauch und spüre, wie er das Geräusch wiederholt. "Genau das macht mein Kopf auch gerade." "Damit würde ich aber mal zum Arzt gehen!", kommentiere ich und merke, wie sie mir ihre beschriebenen Blätter gegen den Kopf haut. Ja, ich mag sie. Ich blicke noch einmal auf das Buch, lese die ersten Passagen und gebe es auf. Ich bekomme es nicht besser erklärt. Meine Lehrerqualitäten sind eindeutig zu wenig ausgeprägt. Schon in der Schule habe ich es gehasst Vorträge halten zu müssen. Meine mündlichen Noten und auch die Mitarbeitsnoten hatten Kellerniveau. Ich verstehe mich auf das textliche Formulieren und das wird letztendlich auch das gewesen sein, was meine Professorin dazu verleitet hat, mich um diese Stunden zu bitten. Meine Texte sind gut, aber verbal fabriziere ich nur Müll. Ich werfe einen Blick auf die Uhr. Wir sind schon eine gute Stunde dabei und ich finde, dass das reicht. „Okay, ich mache dir einen Vorschlag. Ich schreibe dir zu nächsten Woche das Wichtigste dazu auf. Vielleicht hilft das." „Ja, gern, wenn es dir keine Umstände macht." Wieder dieses bezaubernde Lächeln. Ich schüttele den Kopf. Umstände sind es wirklich keine. Ich schreibe sowieso. „Heißt das, du erwägst tatsächlich, dich nächste Woche wieder mit mir hinzusetzen? Und vielleicht auch mit ein paar Leuten mehr?" Erst ihre Worte machen mir deutlich, dass ich genau das, damit impliziert habe. Mir wird mulmig. Ich will eine Zigarette. Ganz schnell und Pudding. „Oh, ich habe dich jetzt verunsichert?", fragt sie weiter und wundert sich über mein Schweigen. „Ähm,...nein natürlich nicht. Aber du erwägst es tatsächlich dich noch mal hierher zu bemühen, obwohl ich dir nicht helfen konnte?" Ich packe demonstrativ meine Zettelwirtschaft zusammen. "Na, na. Du unterschätzt dich. Du hast mir geholfen." Ich grinse schief als Reaktion. "Wann habt ihr euren BC-Kurs?", frage ich sie, ohne weiter auf ihre vorige Aussage einzugehen. „Was?" „Euer Kurs für Biochemie." „Oh, Mittwoch." Ich nicke es ab und packe meine Sache in den Rucksack zurück. Ich reiße den Teil eines Blattes ab und schreibe Shari meine Handynummer auf. „Schreib mir Mittwochabend oder Donnerstag die Themen, dann werde ich was zusammenfassen und bringe es dir später mit." Sie nimmt mir den Zettel aus der Hand und nickt. Ich greife meine Tasche und verschwinde zur Tür. Ihre Stimme hält mich zurück. „Robin? Danke!" Ich blicke kurz zu ihr und nicke. In der Mensa besorge ich mir eine Kleinigkeit zu Essen und beruhige damit das nervende Grummeln meines Magens. Ein Mozzarella-Tomaten-Sandwich mit Pesto. Lecker. Den Pudding hat meine fehlende Muße mich hinzusetzen verhindert. Ich nehme einen Biss von meinem belegten Brötchen und sehe Abel und Jeff im Flur auf mich zu kommen. Die beiden blonden Männer wirken auffällig vertraut miteinander. Sie lachen. Abels Hand streicht über Jeffs Arm. Es ist nur eine winzige Berührung, doch irgendwie scheint sie bedeutend. Jeff lächelt als er mich sieht. Ich lecke mir einen Rest Pesto von den Lippen. Das Aroma von Basilikum kitzelt meine Geschmacksknospen. Feine Süße belebt meine Zunge. Abels Blick ruht auf mir, während sie die Distanz überwinden. Er mustert mich eindringlich. Irgendwie ist er mir nicht ganz geheuer. "Hey", grüße ich die beiden, sehe dabei zu, wie Abel seinen Arm um Jeff legt und wie ihn Jeff neckisch wieder wegschiebt. "Und bist du wieder besser drauf?", fragt mich Jeff und ich ziehe verwundert meine Augenbraue nach oben. "Ich bin gute Laune in Reinform", kommentiere ich, erlaube mir den Blitz eines Lächelns und verfalle zurück ins mein stoisches Allwettergesicht. "Ja, wie ein Clown aufm Friedhof", sagt Abel, kichert und schaut verblüfft auf sein Handy, weil es klingelt. Ich schicke ein stilles Danke gen Himmel und erspare mir damit die freundschaftliche Scheinreaktion. Meine heiteren Mundzuckungen sind dank Shari heute sowieso schon aufgebraucht. Abel wendet sich zum Telefonieren von uns ab. Ich beiße erneut von meinem Sandwich ab, schmecke Tomate und die harzige Note von Pinienkernen. Es ist fantastisch. "Wir wollen heute Abend in ein Improvisationskabarett. Du kannst mitkommen, wenn du willst?" Kabarett? Improvisation? Kabarett? Niemals. Jeff lehnt sich zu mir an die Wand. Tomatensaft läuft über meine Finger. Ich lecke ihn ab, bevor ich meinem Mitbewohner antworte. Die Säure lässt meine Muskeln arbeiten und es bildet sich eine angenehme Gänsehaut auf meinem Hals, die sich über meinen Oberkörper arbeitet. "Kannst du dich noch daran erinnern, dass ich der Einzige war, der in der Schule nie bei den Theateraufführungen war?", frage ich, während ich verhindere, dass mir Saft auf das T-Shirt tropft. Meine Zunge gleitet über die Fingerbeere meines Zeigefingers und danach über zwei weitere. Jeff sieht mir dabei zu. "Ja." "Dann verstehe ich die Frage nicht", erwidere ich und beiße ein weiteres Mal demonstrativ von meinem Essen ab. "Ach komm schon. Es wird witzig. Außerdem schadet es dir nicht auch mal raus zukommen. Du mottest mir noch ein." Jeff entfernt mir imaginäre Spinnweben vom Kopf und streicht mir etwas von der grünen Paste von der Wange. Ich sehe zum telefonierenden Abel. Er gestikuliert wild. Das Gespräch scheint nicht sehr positiv zu sein. Ich unterdrücke das Bedürfnis hämisch zu lachen. Ich will nicht mit Jeff und dem Kerl, mit dem er ins Bett geht, irgendwohin gehen. Dann werde ich meine seltsamen Fantasien ja nie wieder los. "Nein." Ich wische mir mit dem Ärmel noch einmal selbst über den Mund, schiebe mir den letzten Happen zwischen die Lippen und zerknülle das Papier. Erneut schmiere ich mir irgendwas Feuchtes in die Hände, doch es ist mir egal. Vorbildlich, weil ich hinter irgendeiner Ecke Micha vermute, bringe ich das Verpackungspapier zum Mülleimer. Wer das als Lerneffekt bezeichnet, irrt. Reine Ablenkung und Verzögerungstaktik in der Hoffnung, dass Jeff nach meiner Rückkehr nicht weiter nervt. "Warum nicht?", fragt Jeff, als ich wieder zurückkomme. Ein Fehlschlag. Mein Mitbewohner ist unerbittlich. Erneut sehe ich zu Abel und wenig später zu ihm. "Laienhaftes Schauspiel ist nicht mein Ding und das fünfte Rad am Wagen sein auch nicht." Unbewusst taste ich meinen Körper nach einer Zigarette ab. Nichts. Jeff beobachtet meine Bewegungen und verzieht das Gesicht. "Dabei kannst du das so gut", kommentiert er sarkastisch. Ich werfe ihm einen vernichtenden Blick zu und seufze schwer, als mir bewusst wird, dass ich keine Zigarette finden werde. „Ach komm, wir sind eine kleine Gruppe und hör verdammt noch mal auf damit! Deine Mama killt mich." Mit seiner letzten Aussage meint er meine Raucherei. Ich lasse meine Hände sinken. "Oh ja, ein garantiert schmerzhafter Tod. Und nein!" Mit meiner Mutter ist bei einigen Sachen nicht zu spaßen. Die Geschichte mit meinem Zigarettenkonsum zählt dazu. Sie erwischte mich und Jeff ganz klischeehaft im Alter von 14 Jahren im Schuppen. Ihr Gebrüll hatte mich das Trommelfell gekostet und Jeff durfte einen Monat lang unser Haus nicht betreten. Ich konnte mich dafür Wochen lang mit der Ausrede herauswinden, dass ich einfach nicht gehört habe, wenn jemand rief. Ich war praktisch auf einem Ohr taub. Auch Jeff scheint an diese Geschichte zu denken, denn es bildet sich ein feines, belustigtes Lächeln auf seinen Lippen. Es war kurios. "Ach komm, sei kein Frosch!" Lächelnd hängt sich mein Kindheitsfreund an meine Schultern. Seine warme Wange bettet sich an meine. Damals in unserer Heimat und zu unserer Schulzeit hat er das öfter getan. Der dezente Geruch, der mir durch seine Nähe entgegen weht, ist irgendeines seiner etlichen Parfüms. Dieses hat einen Hauch von Moschus. Sein Körper lehnt dicht an meinem und die Stelle unserer Berührung wird immer wärmer. Ich lege meine Hand gegen seinen Arm und klopfe leicht dagegen. Abel kommt wieder auf uns zu. Er wirkt nicht gerade amüsiert. "Nein", sage ich erneut, merke, wie mich Jeff kurz fester drückt und dann loslässt. Ein feiner Seufzer, den nur ich höre rinnt über seine Lippen. Was hat er denn erwartet? "Gut, mit dir zu diskutieren ist mir zu stressig. Du lässt dich sowieso nicht zu deinem Glück zwingen." Damit hat er Recht, denn er hat es oft genug versucht und ist kläglich gescheitert. Mit einer Wand zu reden ist einfacher und wahrscheinlich auch unterhaltsamer. "Ich wünsche euch aber viel Spaß!", klinge reichlich unehrlich. Ich ernte von Abel einen seltsamen Blick und von meinem Mitbewohner eine herausgestreckte Zunge. Danach folgt ein eindeutiges Grinsen. "Spaß werden wir haben. So oder so...", kommentiert Jeff letztendlich und ich verziehe angewidert das Gesicht als mir die versaute Komponente deutlich wird. Ich lasse ihn wissen, wie sehr es mich anwidert, in dem ich eine Würgegeste mache. Jeff grinst. Ich hebe zum Abschied meine Hand zum Gruß und blicke auf die Uhr. Jetzt brauche ich dringend ein paar Zigaretten. Ich mache einen Abstecher in die Stadt, hole Geld, esse ein Eis in meinem Lieblingscafé und besorge mir die ungesunden Glimmstängel. Eigentlich habe ich meinen Konsum schon drastisch reduziert, aber Dank Jeff artet es wieder aus. Er war auch daran schuld, dass ich mit dem Rauchen angefangen habe. Auf dem Weg zurück ins Wohnheim rauche ich gleich drei Zigaretten hintereinander. Es geht mir danach nicht mal besser, aber zu wissen, dass ich wieder welche habe, reicht mir schon. Dafür wird Jeff büßen. Ich schnipse den letzten Stummel ins Beet und laufe plötzlich gegen etwas Menschliches. "Huch.", entflieht mir leise und taumele zurück. „Robin, sie machen es schon wieder." Kain packt meine Handgelenke als ich abwehrend die Hände hochziehe und weiter zurück wanke. Das wäre in einem Sturz geendet. Garantiert. Trotz seiner Größe ist Kain ziemlich lautlos. Ich brauche einen Augenblick, um mich zu beruhigen. Er kann doch nicht einfach so vor mir auftauchen. hat er auf mich gewartet? "Schon wieder!", wiederholt er und lässt endlich meine Handgelenke los. „Wieder? Was...Oh!" Er meint Jeff und Abel. "Es ist zwei Wochen her, oder?", kommentiere ich und versuche, mich an der Gestalt vorbei zu schieben. In meinem Kopf gehe ich schon die Möglichkeiten durch ihn irgendwie abzuschütteln. Doch da er weiß, in welches Zimmer er muss, ist es alles aussichtslos. Zu dem greift er mir erneut an den Arm und hält mich zurück. Kain hebt nach meinem Kommentar seine Augenbraue und sieht mich an als hätte ich gerade etwas völlig Absurdes von mir gegeben. „Du wolltest, doch mit ihm reden!", sagt er bemitleidenswert. „Habe ich nie gesagt", wehre ich ab und sehe es nicht ein, mich schon wieder auf eine Diskussion mit ihm einzulassen. Davon hatten wir in den letzten Wochen reichlich. Kurze. Lange. Aber vor allem Nervtötende. Er ist es, der ein Problem damit hat, also muss er es auch selbst lösen. „Ach komm, warum können sie es denn nicht bei euch tun? Du setzt dir einfach deine Kopfhörer auf und drehst die Musik laut. Tadaa." Bei den letzten Worten fällt die Erregung seiner Stimme deutlich ab, so dass es fast gemurmelt klingt. Kurz deutet er mit dem Finger auf jene Kopfhörer, die still um meinen Hals liegen. Nun hebe ich meine Braue und sehe ihn seltsam an, weil er definitiv etwas Abwegiges gesagt hat. Ich setze zu einem dämlichen Kommentar an, doch ich breche ab. Kain wirkt abwesend. Seine Augen blicken mir müde entgegen. Mir fällt wieder ein, warum er so fertig aussieht. In seinem Studiengang gibt es in jedem Semester ein anderes großes Projekt, welches drei-stufig über die gesamte Vorlesungszeit verteilt ist. Die erste Woche war anscheinend schon vorüber. Von Erzählungen weiß ich, dass es unheimlich anstrengend sein muss. „Rede du doch mit Abel, wenn es dir so wichtig ist." Ich lasse ihn mit diesem Ausspruch stehen, doch nach nur wenigen Metern ist er wieder dicht hinter mir. „Aber der will es nicht verstehen." Er hat also schon mit ihm gesprochen. „Verpacke es in einen dämlichen Witz, dann versteht er es schon", rate ich belustigt. Kains Mundwinkel zucken minimal nach oben. „Komm schon. Ich bin echt müde und will pennen." „Kaffee soll helfen." „Schon zwei Liter gehabt. Hilft nicht mehr." „Such dir doch eine Parkbank", schlage ich vor. „Draußen ist kalt." Ich seufze und sehe auf die Uhr. Es ist halb Neun. Abel und Jeff werden reichlich spät zu ihrem Improvisationsding kommen. Vielleicht haben sie auch vor lauter Sex vergessen, dass sie dorthin wollten. Der Sex muss wirklich gut sein. Irgendwie regt sich in mir langsam der Neid. Schon wieder entstehen diese verräterischen Bilder. Ich versuche sie eilig zu verdrängen. „Geh doch zu Merino oder wie auch immer die Rothaarige heißt." „Merena. Sie ist kein Schaf." „Was?", frage ich minimal dümmlich, da mich das Schafkommentar etwas aus der Bahn wirft. Ich bleibe vor meiner Zimmertür stehen und sehe dem größeren Mann genervt an. „Merinos sind Schafe, die besonders feine Wolle produzieren. Ich hab einen Pullover davon. Schön kuschelig." Während seiner Erklärung klingt seine Stimme etwas kindlich, so als beschriebe er mir sein Lieblingsplüschtier. „Na dann vergrab dich doch in diesem." Ich tippe den Code für die Tür ein und verhindere, dass Kain mir ins Zimmer folgt. Ich schaffe es nur dank seiner Müdigkeit. Seine Hand drückt sich gegen die Tür. „Robin, bitte. Die treiben es gerade schon wieder in meinem Zimmer. Fast in meinem Bett. Diesmal im Stehen und vor dem Schreibtisch. Hab doch etwas Mitleid." Die Bilder in meinem Kopf werde ich garantiert nie wieder los. „Nein!" Ich schlage ihm die Tür vor der Nase zu. Ich bin mir hundertprozentig sicher, dass er genügend andere Ausweichmöglichkeiten findet. Ich verstehe nicht, warum er diese nicht nutzt. Er will mich nerven. Ganz bestimmt. Warum sonst kommt er freiwillig zu mir? Wir kennen uns kaum. Wir mögen uns eigentlich nicht. Jedenfalls ist mir nichts anderes bekannt. Also was ist der Grund, aus dem er mich einfach nicht in Frieden lässt? Ich höre ein dumpfes Geräusch an der Tür. Es ist kein Klopfen und es folgt auch kein weiteres. Mein Blick fällt auf Jeffs Bett. Er hat es neu bezogen. Warum hat er es neu bezogen? Es dauert einen Moment, doch dann fallen mir die Worte wieder ein, die er am Morgen an mich gerichtet hat. Es sind nur Bruchstücke, aber sie enthalten die Begriff Verabredung, Abel, Bett, Kain und reinlassen. Wahrscheinlich hat Jeff Kain den Floh ins Ohr gesetzt, dass es okay ist, wenn er hier schläft. Das wird er mir büßen. Er vergnügt sich und ich muss mich mit dem Quälgeist rumplagen. Garantiert kann ich mich wieder die ganze Nacht nicht konzentrieren. Doch während ich das denke, gehe ich zurück zur Tür und öffne sie. Kain fällt mir vor die Füße. Er hat das dumpfe Geräusch eben verursacht als er sich hingesetzt hat. Nun sieht er mich am Boden liegend an. Ich steige über ihm rüber und gehe zu meinem Schreibtisch. Kain regt sich nicht, sondern sieht mir auf dem Rücken liegend nach. „Was ist? Steh auf! Ich schleif dich nicht ins Bett. Wenn ich das versuche, hole ich mir einen Bruch." Ich lasse mich auf meinen Schreibtischstuhl fallen, verschränke die Arme vor der Brust und schlage die Beine übereinander. „Das steinerne Ding in deiner Brust funktioniert. Es ist ein Wunder!", sagt Kain enthusiastisch und ich bereue bereits jetzt den winzigen Augenblick von Freundlichkeit. „Ich schmeiß dich gleich wieder raus", erwidere ich auf seinen Kommentar und schalte meinen Rechner an. Der andere Mann rappelt sich schwerfällig auf und schlürft Richtung Bett. „Das musst du mir erstmal beweisen, bevor ich das glaube." Touché, denn dabei würde ich mir auch einen Bruch heben. Statt zu antworten, deute ich auf Jeffs frischbezogenes Bett. Diesmal wird er sich nicht in meins legen. Das werde ich diesmal definitiv verhindern. Auch Kain bemerkt den frischen Überzug und startet nicht einmal den Ansatz in mein Bett zu gehen. Immerhin. Kain legt seine Tasche auf Jeffs Schreibtisch ab und ich schaue dabei zu, wie er sich den Pullover über den Kopf zieht. Er trägt nichts anderes drunter. ich sollte wegsehen, doch ich tue es nicht. Wie erwartet ist sein Oberkörper muskulös und definiert. Ich sehe, wie bei der Bewegung seiner Arme die Muskeln seines Rückens hervortreten. Ein feines Spiel unter ebener Haut. Er hat ein Tattoo auf der Innenseite seines rechten Oberarms. Ich kann nicht erkennen, was es ist. Wahrscheinlich ein Schriftzug. Als er beginnt seine Hose zu öffnen, wende ich mich doch von ihm ab. Schlimm genug, dass ich mittlerweile Jeff anstarre. In meinen Fingerspitzen beginnt es zu kitzeln. Ich schiebe mir die Kopfhörer auf die Ohren. Noch während sich Kain bettfertig macht, beginnen sich erste Worte zu formulieren, die sich heftig nach draußen drängen. Soviel zum Thema Konzentration. Kain schläft schnell und tief. Er muss wirklich müde gewesen sein und nutzt keine Decke. Sein Oberkörper liegt frei und auch sein Unterleib. Nur seine schlanken Beine sind bedeckt. Seine Brust hebt und senkt sich sachte. Die gleichmäßige Bewegung hat etwas Hypnotisches. Ich starre ihn an bis sich sein Kopf plötzlich in meine Richtung dreht. Automatisch weiche ich zurück. Doch ich merke, dass er noch immer schläft. Ein paar Strähnen seines schwarzen Haares fallen über seine Stirn. Er sieht entspannt aus. Locker. Sogar etwas jünger, wenn er keines dieser übertriebenen Lächeln in seinem Gesicht hat. Mein Finger tippt gegen die Leertaste und irgendwann bin ich in der Mitte der Seite des geöffneten, leeren Dokuments angelangt. Kains ruhiger Atem, der den Raum erfüllt. Ich bekomme Gänsehaut, als ich mir vorstelle, wie sein warmer Atem auf Haut trifft. Kitzelnd. Streichelnd. Ich lösche die leeren Tabs und beginne zu tippen. Nach einer Weile wird Kains Atembewegung schneller und damit lauter. Ich stoppe mit dem Schreiben und drehe mich zu dem schlafenden Körper. Seine Lippen öffnen sich. Er träumt. Es muss etwas Anregendes sein. Ich lehne mich in meinem Stuhl zurück, vernehme das leise Quietschen der alten Scharniere und Schrauben. Kains Bauch spannt sich an. Ich folge der Muskelbewegung. Die leichte Abzeichnung seiner Rippen. Seine Brustwarzen sind hart. Ich frage mich, wie es sich anfühlt sie zu berühren und das löst ein feines Kribbeln aus, welches sich über meine eigene Brust arbeitet. Ich wende mich ab und schließe die Augen. Es fühlt sich sonderbar an. Die Luft ist schwer. Ein feines Keuchen entflieht Kains Lippen. Ich blicke zurück. Er neigt seinen Kopf wieder in die andere Richtung. Was er wohl träumt? Ich brauche lange, um mich von dem schlafenden Körper abzuwenden. Ich zwinge mich letztendlich dazu, in dem ich mit beiden Händen an die Tischkante fasse und meinen Stuhl zum Bildschirm drehe. Erst als ich wieder auf den Text starre, merke ich, wie heftig mein Herz schlägt und was ich geschrieben habe. Im Moment verstehe ich mich selbst nicht mehr. Wie kann mich so ein einfacher und trivialer Fakt derart aus der Bahn werfen? Jeff mag Männer! Na und? Es ist auch nicht das erste Mal, dass ich damit in Berührung komme. Allerdings waren Outings in unserer Schule eine Seltenheit. Wahrscheinlich lag das an der elendigen Kleinstadtmentalität. Nichts hören, nichts sehen und nichts sagen. Ich verfluche meine eigene Ignoranz. Ich bin mir sicher, dass es vor allem an Jeff liegt, der mich mit dieser Tatsache vollkommen überfahren hat. Es ist wie das plötzliche Auftreten des eigentlichen Drahtziehers als Höhepunkt des letzten Aktes eines Krimis, obwohl man sich die ganze Zeit sicher war, dass es nur der Butler gewesen sein kann. Oder der Gärtner. Jeffs Homosexualität versteckt im Schein des bügelfeinen heterosexuellen Anzugs eines Butlers. Ich brauche dringend mehr Schlaf. Ich stelle mir dauernd die gleichen Fragen. Gab nie Anzeichen oder habe ich sie einfach nur nicht gemerkt? In der Schule hatte Jeff eine Freundin. Auf Partys hat er Mädchen geküsst. Aber vielleicht auch Jungs? Ich weiß es nicht mehr. Ich war nie sehr aufmerksam. Noch immer umfassen meine Hände die Tischkante. Ich fasse sie fester bis meine Knöchel weiß hervortreten. Doch, einen Mann hat Jeff geküsst. Mich. Meine Nackenhaare richten sich auf, reagieren auf einen Luftzug im Raum. Vielleicht nur eine Ahnung. Dann taucht mit einem Mal Kains Gesicht neben mir auf. Obwohl er mich nicht berührt, spüre ich Wärme, die sich auf mich überträgt. Er sieht direkt auf meinen Bildschirm. Geradewegs auf mein Geschriebenes. Aus meinen Kopfhörer dringt Stroke 9 mit 'Do it again'. Ich bekomme Gänsehaut, während der Sänger fröhlich 'You're a freak. You're alone in your bed with graphic images in your head' in meine Ohren haucht. Kapitel 3: Reden ist Silber und Schreiben ist Gold -------------------------------------------------- Kapitel 3 Reden ist Silber und Schreiben ist Gold 'Let me do what I want to do with you. Let me tie you down, pick you up' dringt es vielsagend aus meinen Kopfhörern und nur dumpf vernehme ich Kains Stimme, die zusätzlich in Form seines warmen Atems über meine Wange streicht. Mein Herz prallt wild gegen meinen Brustkorb und ich muss schwer dagegen ankämpfen nicht zu erstarren. Ich neige meinen Kopf zu ihm und fixiere die Bewegung seiner Lippen. Ich brauche seine Worte nicht verstehen, denn egal, was er sagt, das erste, was ich tue ist panisch das Dokument schließen. Im gleichen Atemzug ziehe ich mir die Kopfhörer von den Ohren und mache ein vermutlich dämliches Gesicht. Ich bin so überrascht, dass ich es nicht mal schaffe, böse oder verärgert zu gucken, so wie ich es sonst mache. Das Alles zusammen bescheinigt meine Unfähigkeit für Multitasking. Es wird eh überbewertet. "Verdammt, Kain!", presse ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und sehe den dunkelhaarigen Mann neben mir mit viel Mühe und Konzentration verärgert an. Kain lächelt und ich weiß nicht wieso. Er steht nur in Shorts hinter mir und sieht abwechselnd von meinem Bildschirmhintergrund, einer Mischung aus Retrolandschaft und Musikplakat, zu mir. Er stützt sich auf die Rückenlehne meines Stuhls und neigt mich damit etwas zurück. Genauso, wie es Jeff letztens getan hat. Ich spüre seine warmen Arme in meinem Nacken und eine Berührung an meiner Schultern. "Was schreibst du da?", fragt er unschuldig und geht nicht auf meinen erschrockenen Ausruf ein. Ich denke an den letzten Absatz meines Textes. Der Geschmack seiner Lippen und den stiller Wunsch sie zu kosten. Und plötzlich denke ich an die Ingwerbonbons in Kains Hosentasche und an die Tatsache, dass er in diesem Moment keine Hose an hat. Ob er irgendwas lesen konnte? Wie lange steht er schon hinter mir? Mein Puls klettert weiter nach oben und verursacht ein dumpfes Rauschen in meinen Ohren und das stetige Echo in meiner Brust lässt mich zusätzlich erschaudern. "Wörter", sage ich flapsig und ausweichend. Ich sehe dabei zu, wie Kains linke Augenbraue nach oben wandert, so wie sie es seltsam oft macht. Es verleiht seinem Gesicht etwas Spitzbübisches, fast Kindliches. Ob ihm das bewusst ist? "Wow, wäre ich nie draufgekommen", gibt er trocken von sich. „Und was für Wörter benutzt du? Lustige, wissenschaftliche oder vielleicht sogar schweinische?" Er lehnt sich zu meinem Bedauern noch mehr auf die Lehne meines Stuhls und nimmt mir damit jegliche Chance für einen schnellen Abgang. Ich fühle mich, wie ein Käfer, der es allein nicht schafft sich wieder aufzurichten. Passend dazu wackele ich unruhig mit den Beinen. "Subjekt, Objekt und Prädikat. Nicht unbedingt in dieser Reihenfolge. Manchmal würze ich auch mit Adverbien und Adjektiven. Noch Fragen?", erwidere ich lapidar und bleibe meiner Spur treu. Leider hat es keinerlei dämpfende Auswirkung auf Kains Neugier. "Du schreibst ziemlich viel, oder? Was schreibst du Schönes? Schweinskram? Bist du einer dieser stillen Perversen, die in ihrem Kopf lauter lüsternen Fantasien haben?" Genauso einer bin ich, sagen werde ich ihm das natürlich nicht. Seine letzten Worte sind nur noch ein leises Raunen, welches mir durch Mark und Bein geht. Ein weiteres Rätsel ist, weshalb er ständig nach versautem Zeug fragt. Langweile? Ich versuche mir gerade krampfhaft einzureden, dass das, was er gelesen haben könnte, nicht allzu sexuell gewesen ist und dass er garantiert an den wenigen Sätzen nicht herausgelesen hat, über wen ich geschrieben habe. Ich bin verdammt gut darin mir Dinge einzureden. Ohne zu antworten ziehe ich den Stuhl wieder dichter an den Tisch, sodass Kain Halt verliert und sich sein Griff lockert. Er dringt zu sehr in meine Privatsphäre ein und das kann ich nicht dulden. Jeff weiß, dass er, sobald ich an meinem PC sitze und schreibe, nichts mehr in meiner Nähe zu suchen hat. Jeff respektiert meine verquere Anweisung, aber Kain weiß es natürlich nicht. Nichtsdestotrotz hat er sich nicht einfach an mich heranzuschleichen. "Wolltest du nicht schlafen?", frage ich barsch. "Ja, aber ich hab schlecht geträumt.", räumt er ein und nun bin ich es, der seine Augenbraue hebt und ihn verständnislos ansieht. Sind wir hier im Kindergarten? „Und das soll mir sagen, dass du mir jetzt die Ohren volljammern willst?" „Vielleicht ein bisschen." Kain grinst und beugt sich über mich. "Nicht dein Ernst?", entflieht mir deutlich genervt. Ich werde Jeff dafür, das er mir Kain auf gehalst hat, irgendwas antun. Ich habe eine Liste mit möglichen Gemeinheiten und diesmal werde ich sie definitiv benutzen. Ich habe auch genügend Fantasie um weitere Neue zu ersinnen. Ich könnte seinen Ficus killen oder die nervige CD von Jennifer Lopez verschwinden lassen. Unwillkürlich schweift mein Blick in Jeffs Zimmerteil. Der geliebte Ficus grünt lustig und unbedarft vor sich hin. Unschuldig und ahnungslos. Jeff schleppt ihn seit der Schulzeit überall mit hin. Manche Menschen haben eine tiefe, verquere und beängstigende Verbindung zu ihren Haustieren. Jeff hat diese Neigungen gegenüber dieser Grünpflanze. Er nennt ihn Ben. Wahrscheinlich von Ficus benjaminii. Vielleicht auch weil er den Namen schön findet. Warum auch immer. In meine Fantasie sehe ich, wie die Blätter in diesem Moment, wie vom Wind angefacht, wippen und tanzen. In der Realität ist das jedoch der warmen Heizungsluft geschuldet. Ich merke, wie mich Kain stirnrunzelnd beobachtet. "Beschäftige mich!", wiederholt er quengelig. Ich hasse ihn. "Alter, ich bin doch kein Kindergärtner! Werd erwachsen und höre auf, mich zu nerven." "Aber jetzt kann ich nicht mehr einschlafen und mir ist langweilig.", setzt er noch einen drauf und ich bin mir sicher, dass er so schnell nicht aufgibt. Ich rede mit einem Kleinkind. Grandios. Ich seufze genervt. „Dann nimm dir ein Buch und mach was Nützliches für deine Bildung." „Meine Bildung ist großartig und ich lese nichts, was ich nicht wegen des Studiums lesen muss", wiegelt er ab. Kain macht mir auch nicht den Eindruck als wäre er ein aktiver Leser. Bücher mit Bildern sind vermutlich das Höchste aller Gefühle. Mit seinem gesamten Körpergewicht lehnt er sich erneut auf meinen Stuhl und drückt mich weiter nach hinten, sodass ich fast waagerecht liege. Meine Finger krallen sich erschrocken in die Seitenlehnen meines Bürostuhls. Ich höre ihn ächzen und sehe Kain mit großen Augen an. „Kannst du das lassen", knurre ich ihm entgegen und richte mich hilfesuchend auf. Meine Füße berühren mittlerweile nicht mal mehr den Boden. Es behagt mir nicht. „Wie wäre es, wenn du mir was vorliest." Kain deutet minimal auf meinen Bildschirm und sieht wieder zu mir hinab. Nie und nimmer. Nur über meine Leiche. Sein Gesicht ist direkt über meinem. Nur verkehrt herum. Garantiert lese ich ihm nichts vor. Ich verkneife mir ein absurdes Lachen um es zu verdeutlichen. Wie kommt er auf diese Idee? Unglaublich. "Sehe ich aus, wie dein Großmütterchen?", kommentiere ich ablehnend und sehe in Kains abwartendes Gesicht. Er seufzt und lässt meinen Stuhl vorsichtig los. „Außerdem ist das nur ein Bericht über Oxidationsprozesse", kläre ich ihn zusätzlich auf. Meine Lüge klingt überzeugend. Aus meiner Sicht jedenfalls. "Oxidationsprozesse?", wiederholt er mit einem skeptischen Unterton und sieht mich noch immer an, wie ein nichts verstehendes Frettchen. Ich weiß, dass Kain ein ziemlich intelligenter Typ sein muss, denn er ist stets einer mit den besten Noten in allen belegten Vorlesungen und Seminaren. „Oxidation? Reduktion? Rost? Verwesung?", zähle ich erklärend auf und sehe, wie Kain die Augen verdreht. „Ja, ja, schon klar." „Wirklich?", frage ich ein klein wenig provozierend. "Dann hast du den Text deshalb so abrupt geschlossen, damit ich ja nichts dazu lerne?", fragt er sarkastisch von sich. Erwischt. ich merke, wie sich mein Puls augenblicklich beschleunigt. Er muss doch was gelesen habe. „Fall tot um Kain!" „Nö.", sagt er lapidar. Ich habe es gewusst. Von Anfang an. Ich würde diesen winzigen Moment Freundlichkeit von vorhin bereuen und siehe da, schon geschehen. Ich mache es garantiert nie wieder. „Es wäre eine absolute Verschwendung. Ich stehe in der Blüte meines Lebens, bin voller Manneskraft und Tatendrang. Außerdem ärgerst du dich so schön, wie könnte ich da aufhören?" Mit diesen Worten lässt er sich grinsend auf Jeffs Bett fallen, dreht sich auf die Seite und stützt seinen Kopf auf der Hand ab. Ich wiederhole still die Phrasen Manneskraft und Blüte des Lebens und habe das Bedürfnis mein Abendessen rückwärts zu genießen. Trotz alledem wandert mein Blick über den halbnackten Körper, den Kain mir förmlich auf dem Präsentierteller serviert und meine Augen haften sich zu meinem Leidwesen direkt an den Ort seiner Manneskraft. In meinen Fingerspitzen explodiert ein feines Kitzeln, welches zeitgleich in mehreren Stellen durch meinen Körper kribbelt. Es ist ungewohnt und neu. Schluss damit! Das ist zum Verrücktwerden. „Okay, ich denke, nun bin ich bereit eine Woche Rückenschmerzen in Kauf zu nehmen." Ich richte mich auf, lasse demonstrativ meine Finger knacken und kremple einen Ärmel meines Pullovers hoch. Kain sieht mir dabei zu und verzieht im ersten Moment keine Miene. Erst als ich auf ihn zu komme und richtet er sich auf. Vor dem Bett bleibe ich stehen. Er wirkt nicht sonderlich furchtvoll, aber das hilft mir vielleicht ihn zu überraschen. Ich habe genug von seinen Kindereien und bin angriffslustiger als man mir zu traut. Ich bin auch wesentlich bissiger als man denken könnte. Kain scheint den Ernst zuerkennen. "Hey Hey, ist ja gut. Bleib friedlich, Rambo! Und es wären garantiert zwei Wochen. Ich wiege gut zwanzig Kilo mehr." Kains Finger tippt leicht gegen meinen Unterbauch, während er mich mustert. Wie erwartet unterschätzt er mich. Das passiert oft. "Zwei Wochen sind auch okay, wenn ich dann endlich meine Ruhe habe." Ich packe seinen Zeigefinger und halte ihn fest. Das amüsierte Grinsen auf seinen Lippen ignoriere ich geflissentlich. Auf beiden Seiten herrscht noch keine Anstrengung. Wie starren uns nur an. Doch plötzlich greift Kain blitzschnell nach mir, schultert mich und drückt mich mit dem Bauch aufs Bett. Ich kann nicht reagieren und bin komplett übertölpelt. Demonstrativ setzt er sich über mich und zieht einen meiner Arme nach hinten. ich spüre seine warmen Oberschenkel an meiner Hüfte. Durch den Stoff meiner Jenas hin durch. „Du glaubst also, du könntest einen geschulten Ringer einfach so aus deinem Zimmer schmeißen?", gibt er amüsiert von sich und verlangt keinerlei Antwort. Ringer? Ich denke sofort an umeinander herum tänzelnden Typen mit seltsamen, knappen Outfits. Aber auch angespannte Muskeln unter schweißglänzender Haut. Keuchen und Stöhnen. Ringen ist ein lauter Sport. Außerdem ist Kain nur schwerer, weil er viel größer ist als ich. Kain ist größer als ale anderen hier auf dem Campus. „Ringer? Das sind doch die, mit den selten dämlichen Einteilern, oder?", spöttele ich. Diesmal kann ich mir ein Grinsen nicht verkneifen und versuche nach hinten zu linsen. Ich versuche meinen Arm zu befreien und verdrehe ihn mir damit nur selbst. Schnell lasse ich es wieder sein. Kain scheint darauf zu achten, dass er mir nicht weh tut. Wenigstens etwas. „In deiner Position bringst du es echt fertig, Witze über unsere Outfits zu machen? Mutig. Ich habe dich für wesentlich intelligenter gehalten!" Ein Trugschluss und ein Fehler, denn auch ich öfter mal selbst mache. Kain stößt ein deutliches Tze aus und steht auf. Ich schaffe es auf alle Viere, dann packt er mich erneut und dreht mich abrupt auf den Rücken. Mit einer weiteren Attacke habe ich nicht gerechnet und mir entflieht ein atemloses Huch. Er drückt mein linkes Bein nach oben und wirft es sich über die Schulter. Den rechten Arm dreht er mir über den Körper, sodass ich mich wieder kein Stück bewegen kann. Sein Gewicht drückt mich runter und mein Bein gleich mit. Ich sollte mich dringend öfter dehnen. Kain pinnt mich fest und beugt sich amüsiert lächelnd über mich. Alles mit einer Schamlosigkeit, die mir die Sprache verschlägt. Obwohl er schon eine Weile unbekleidet rumrennt, ist Kains gesamter Körper auffällig warm, fast heiß. Mein Herz pumpt pulsierendes Blut durch meine Adern und ich reagiere zusehend auf die Nähe seines Körpers. In meinem Kopf schreibt sich die Szenerie von ganz allein. Seine leicht geöffneten Lippen sind präsent und auffällig. Zartrosa Fleisch, das feucht zu glänzen beginnt als er seine Zunge langsam darüber gleiten lässt. Auffällig oft. Wie es sich anfühlt? Ein sanfter Biss auf seine Unterlippen und ein Lächeln, welches weiße, gerade Zähne offenbart. Ich stelle mir vor, wie er selbst das zitronige Bukett des Ingwers auf seinen Lippen schmeckt. Die Stränge meines Halses ziehen sich zusammen als ich das Aroma selbst fantasiere. Wie oft in letzter Zeit. Ich wende meinen Blick ab und versuche aus seinem Griff zu entkommen. Keine Chance. "Kain!", entflieht es meinen Lippen. Er packt mich nur fester. Ich seufze leicht auf und wackele mit den Fingern. „Glaubst du immer noch, dass du es einfach tun kannst?" „Was genau wollt ihr denn tun?" Kain und ich blicken beide verwundert auf als Jeffs unerwartete Stimme von der Tür zu uns dringt. Mein blonder Mitbewohner steht skeptisch blickend im Türrahmen und fixiert unsere verknoteten Körper. Auch Abel taucht hinter ihm auf und mustert die Szene. Das perfekte Timing für den falschen Zeitpunkt. Erdboden öffne dich! Bitte! „Na seht ihr denn nicht, wie mich Robin gerade rausschmeißt?", fragt Kain amüsiert und grinst. Er lässt meinen Arm los und richtet sich minimal auf. Mit der Hand hält er nun mein Bein auf seiner Schulter fest. „Eindrucksvoll", kommt es dümmlich von Abel. Noch dazu bildet sich ein fast dreckiges Grinsen in seinem Gesicht. Ich will mir nicht vorstellen, was gerade in seinem Kopf vorgeht und mache es leider trotzdem. Verdammt. Nicht, dass ich nicht gerade selbst eine solche Szenerie in meinem Kopf hatte. „Meine Position ist nicht halb so aussichtslos, wie es scheint", verteidige ich mich und ernte ein spöttisches Lachen von Kain. Auch Abel kichert. Nur Jeff reagiert nicht, sondern hebt auf beindruckende Weise seine Augenbraue. Verdammt noch mal. Ich versuche Kain ein weiteres Mal von mir runter zu bekommen und scheitere. Es ist aussichtslos. Ich verfluche diese verdammte Sportart und Kains lächerlich starken Körper. „Wovon träumst du nachts, Robin?", kommentiert Kain meine Bemühungen und beginnt mein Bein mit dem Knie ein paar Mal rhythmisch hoch zu drücken. Neckend beobachtet er meine Reaktion. „Was wird das, wenn es fertig ist?" Ich blicke an uns beiden hinab und beiße die Zähne zusammen. Kains Becken ist dicht an meinem und ich spüre das deutliche Ziehen in meiner Lendengegend. Nicht nur durch die unerwartete Dehnung. „Du bist ganz schön gelenkig, dafür, dass du dich kaum ein Meter von deinem Rechner weg bewegst." Ein weiteres Mal drückt er mein Bein hoch. "Robin ist sportlicher als du denkst!", sagt Jeff laut. Mittlerweile steht er am Bett und zieht Kain an der Schulter zurück. Ich bin endlich frei und nutze sofort die Gelegenheit um mich aufzurichten. In den letzten Jahren unserer Schulzeit spielte ich Basketball. Nur, dass ich so gar nicht der Typ für Mannschaftssportarten bin. Ich mag keine Menschen, befolge keine Anweisungen und mache oft, was ich will. Was dazu führte, dass ich mit dem Trainer und auch mit dem Rest des Teams andauernd in Konfrontation geriet. Ich brauche nicht zu erwähnen, dass ich nicht lange Teil des Teams war. Ich bringe meinem Mitbewohner mit einem Blick zum Schweigen, eher etwas darüber ausplaudern kann. Niemand interessiert sich für unsere alten Schulgeschichten. Die Erinnerungen durchströmen mich dennoch. Vielleicht hätte ich Ringer werden sollen, dann würde jetzt Kain dumm aus der Wäsche gucken und nicht Abel. "Ach wirklich?" Mehr sagt Kain nicht dazu, trotzdem mustert er meine sehnige Silhouette eingehend. Ich fliehe von Jeffs Bett und sehe unwillkürlich zu Abel, der noch immer wie fehl am Platz in der Tür steht. Danach blicke ich zu Jeff. Sein Gesichtsausdruck ist eine Mischung aus Missfallen und Aufregung. Ich verstehe nur nicht warum. „Was wollt ihr eigentlich hier?", frage ich die beiden blonden Männer und lasse mich auf meinen Schreibtischstuhl nieder. Sicheres Territorium. Fürs erste. „Ich wollte nur mein Handyladegerät holen." Jeff deutet auf das schwarze Kabel, welches auf seinem Schreibtisch liegt. Er kramt nach irgendetwas in seinem Nachttisch und holt das Ladekabel hervor. „Du kannst auch meins benutzen. Es klemmt hinterm Bett. Abel weiß wo", schlägt Kain vor und kriecht zurück unter die Bettdecke. Sie nicken es beide ab. Trotz dessen rollt Jeff das Kabel in seine Tasche und auch etwas anderes. „Können wir euch wirklich allein lassen? Nicht, dass ich morgen früh zwei Leichen finde?", witzelt Jeff halbernst. Er bleibt in der Tür stehen. „Eine! Ich werde seelenruhig schlafen", kommentiere ich trocken und sehe zu Kain, der nur amüsiert kichert und sich die Decke über den restlichen Körper zieht. Jeffs Blick wandert von mir zu Kain und wieder zurück. Jeff weiß, wie ernst es mir ist. Ich erwidere seinen Blickkontakt nicht, sondern versuche Kain nur mit meinen Willen in Flammen aufgehen zu lassen. Leider erfolglos. „Okay, dann schlaft gut." „Du auch", sage ich, ohne aufzusehen. Es wird still als die beiden endlich die Tür hinter sich schließen. „Du kannst mich so lange anstarren, wie du willst, aber ich gehe nicht in Flammen auf", bemerkt Kain schmunzelnd, ohne sich zu mir um zudrehen. Es ist als hätte er meine Gedanken gelesen. Kurios. Wie hat er das hingekriegt? „Meine Schwester hat das auch immer versucht. Ich bin feuerresistent. Glaub mir." Ich starre ihn noch immer verwundert an. Doch als er sich zu mir umwendet, drehe ich mich schnell weg und blicke auf meinen Bildschirm. Ich speichere schweigend mein Dokument und schalte den Rechner aus. Meine Konzentration ist im Eimer. Ich lasse mich auf mein Bett fallen, ziehe mich um und setze mir demonstrativ die Kopfhörer auf ohne ein Lied abzuspielen. Eigentlich kann ich beim Musikhören nicht einschlafen, aber in diesem Fall hält es mir lästige Gespräche vom Leib. Für gewöhnlich klappt das auch. Allerdings scheint mit Kain nichts, wie sonst zu laufen. "Robin?" "Was?" Ich reagiere erst, nachdem er meinen Namen dreimal wiederholt hat. "Wie findest du das mit Jeff und Abel?" Wie bitte? Was ist das für eine Frage? Ich drehe meinen Kopf so, dass ich ihn theoretisch sehen können müsste, doch ich erkenne sein Gesicht nicht mehr. Mittlerweile ist es stockdunkel. "Ist mir egal", sage ich und verwende dabei akkurat Jeffs Wortlaut. Ich bin aber auch nachtragend und das erschreckt mich gerade selbst ein wenig. Das muss dringend damit aufhören. Dank Kain hatte ich heute genug Kindergartenfeeling. „Echt? Ich dachte, er ist dein Freund?", hakt der Schwarzhaarige lästiger Weise nach. „Und?" „Na, müsste es dich dann nicht brennend interessieren, mit wem er zusammen ist?" „Warum? Er muss doch mit dem Kerl leben und nicht ich", gebe ich knapp von mir und lege mich hin. Für einen kurzen Moment verweile ich auf den Rücken, doch dann drehe ich mich auf die Seite. Obwohl er nicht weiter nachhakt, spüre ich seinen Blick auf mir. Brennend und intensiv. Dennoch bleibt es still. Irgendwann ziehe ich mir die Kopfhörer von den Ohren und lausche nach Kains ruhigem Atem. Er schläft. Endlich. Ich genieße die Ruhe und schaffe es trotzdem nicht endlich selbst abzuschalten. Wenn Jeff mit Abel zusammen sein will, kann ich es schlecht verhindern. Ich sehe auch keine Gründe dafür etwas dagegen zu unternehmen. Ich kann Abel zwar nicht leiden und werde es auch nie, aber das heißt nicht, dass es für Jeff nicht gut ist. Oder weiß Kain mehr? Ist Abel ein Arsch? Wird er Jeff verletzen? Nun ärgere ich mich darüber, dass Kain einfach wieder eingeschlafen ist. Missmutig setze ich mich auf, hebe meine Kissen an und bin drauf und dran es zu werfen. Ich mag gleichgültig wirken, aber ich möchte dennoch nicht, dass Jeff verletzt wird. Meine Hand zuckt und das Kissen raschelt erwartend. Doch ich lasse es in meinen Schoß sinken. Wenn ich ihn wecke, dann wird er mich wieder nerven und vielleicht noch weitere blöde Fragen zu meinem Text stellen. Ich umarme das Kissen, bette meine Wange in den weichen Stoff und bleibe sitzen. Ich werde Abel im Auge behalten. An die Dunkelheit gewöhnt, erkenne ich den schlafenden Körper des schlafenden Mannes als ich erneut einen Blick auf das andere Bett werfe. Seine Schulter senkt sich, hebt sich mit starken Atemzügen. Ein gleichmäßiger Takt. Ruhig und leise. Jeff würde längst schnarchen. Noch ein Grund mehr, warum ich öfter mit Kopfhörern schlafe. In diesem Moment fehlt es mir fast und ich brauche ewig um einzuschlafen. Am Morgen werden wir durch das Klingeln von Kains Telefon geweckt. Ich schiebe mir die Decke über den Kopf und murre. Irgendwann reagiert auch Kain auf das nervtötende Geräusch und geht ran ohne darüber nachzudenken, dass er nicht allein ist. "Ja?... Oh, ja... guten Morgen auch... Ja, habe ich vergessen. Tut mir Leid... Hm. Okay, dann heute Abend... Nein, Merena, hör auf. Bis heute Abend!" Ihr Name lässt mich aufhorchen und ich blinzele unter der Bettdecke hervor. Es ist viel zu hell. Ich höre, wie er leise seufzt. Ich weiß immer noch nicht mit Sicherheit, was die beiden für eine Verbindung haben. Eine richtige Beziehung scheinen sie nicht zu führen. "Frauchen ruft?", frage ich spöttisch und setze mich angestrengt auf. Ich bin müde. "Ich habe vergessen, dass ich mich gestern Abend noch mal melden wollte. Wir gehen heute Abend zu einem Konzert ihrer Lieblingsband." Mehr Information als nötig. Ich streiche mir durch die verwuschelten Haare und blicke zu dem anderen Mann. Kain sieht ebenfalls zu mir und mustert mich verschlafen. "Was?", blaffe ich übertrieben. Kain antwortet nicht, sondern hebt nur abwehrend die Hände in die Luft. Er schließt seine Augen und bleibt regungslos liegen. „Ist sie eigentlich deine Freundin?", frage ich, weil mir noch immer ihr Name im Kopf rumspukt. „Nein, sie ist meine Ex. Aber der Einfachheit halber, gehen wir ab und an noch miteinander ins Bett. Momentan habe ich keinen Bock auf Beziehungen. Ich ficke." „Zu viel Information." "Du hast doch gefragt", erinnert er mich prustend. Habe ich wirklich und ich bereue es. Ich schlage die Decke zur Seite, weil es mir zu warm wird und streiche mir über den Nacken. Ein paar meiner Wirbel knirschen und knacken. Noch immer ruhen die Kopfhörer um meinen Hals, denn ich habe vergessen sie abzunehmen. "Okay, dann verstehe ich nicht, weswegen du dich wegen Jeff und Abel so aufregst. Sie machen nichts anderes als du und Mera. Sie vögeln." Hemmungslos und pausenlos. Ich bin wirklich froh, dass ich das noch nicht mit ansehen musste. "Ja, aber in meinem Zimmer und irgendwie ständig vor meinen Augen. Und das ist ein Unterschied. Außerdem heißt sie Merena", berichtigt er mich. Das werde ich mir nie merken. Kategorie nutzloses Wissen. "Findest du nicht, dass du wegen den beiden übertreibst?" „Sicher nicht, vor allem, weil ich seit Monaten damit konfrontiert werde. Irgendwann wird man einfach kirre und beziehungsphob." Er soll sich mal nicht so haben und dann lassen mich seine Worte stocken. Monate? Mehrzahl? Ich sehe ihn entgeistert an. Doch Kain scheint meinen fragenden Blick nicht zu bemerken. "Ich gönne ihnen ja den Spaß, aber die beiden sind wie Kaninchen...und nein, es ist kein Neid." Kain gestikuliert wild mit seinen Armen, während seine ebenfalls durcheinander geratenen Haare um seinen Kopf wuseln. "Warte, warte. Was meinst du mit Monaten?", hake ich nach, als ich es endlich schaffe mich aus der Schockstarre zu befreien. Nun ist es der Schwarzhaarige, der verdattert guckt. "Wie? Monate eben. Die beiden haben jetzt seit Dezember ihren Spaß miteinander, Robin!" Das sind jetzt gut fünf Monate. Fast ein halbes Jahr. Mir wird bitter kalt. Fünf Monate und ich habe wirklich nichts mitbekommen. Warum hat Jeff nichts gesagt? Ich lege mir die Hand auf den Bauch und spüre, wie sich mein Magen verknotet. "Sag bloß, das wusstest du nicht?" Für ihn ist es sicher absurd. Jeff und ich nennen uns Freunde und trotzdem scheint es, als ob ich so gar nichts von ihm weiß. Seit Dezember. Ich bin wirklich schockiert. Ich ignoriere Kains Fragen nach meiner plötzlichen Schweigsamkeit und stehe von meinem Bett auf. Fahrig streife ich mir meine Jeans über und krame einen dicken Pullover aus dem Schrank. Mehrmals ruft er meinen Namen. Ich greife mir meine Zigaretten, verlasse das Zimmer und falle wenig später auf eine der Banken vor dem Wohnheim. Die Zigarette entzünde ich unbewusst und automatisiert. Der erste Zug hat keinerlei Effekt. Erst der dritte scheint meinen Verstand aufzuklaren. Nach dem vierten Zug merke ich endlich wo ich bin und nach dem sechsten ist die Zigarette bereits aufgeraucht. Jeff macht mich fertig. Wie kann das sein? Was ist mit mir und Jeff passiert, dass ich nicht mal mehr merke, dass er schwul ist und einen Partner hat? Ich habe den Stummel noch in der Hand, als ich mir eine zweite Zigarette anstecke. Micha, der Aufseher kommt an mir vorbei. Er deutet auf meine Zigaretten und danach auf den Mülleimer. Er kriegt einen unschuldigen Blick von mir und ich widerstehe dem Bedürfnis, ihm meine ausführliche, weniger freundliche Antwort mit den Händen zu gestikulieren. Ich ernte von ihm diese typische Ich-habe-dich-im-Blick-Geste und es tangiert mich herzlich wenig. Als ich zurück ins Zimmer komme, ist Kain verschwunden und mein Blick fällt auf das leere Bett. Er hat das Bettzeug ordentlich zusammengeräumt und ans Ende gelegt. Sinnvoller wäre es gewesen, wenn er es abgezogen hätte. Ich entdecke Kains Socken am Boden. Er hat sie hier vergessen. Sie hellgrau. Langweilig und trist. Unwillkürlich sehe ich auf meine eigenen Füße und wackele mit beiden. Meine Socken sind bunt und niemals gleich. Ich nehme die Kopfhörer ab, werfe den Player auf mein Bett und sehe zurück zu den Strümpfen. Bevor ich mir überlegen kann, was ich damit mache, höre ich mein Handy klingelt. Wieder ist es eine mir unbekannte Nummer, doch als ich sie eine Weile anstarre, bin ich mir sicher, dass es die von Brigitta sein muss, mit der sie mich bereits gestern genervt hat. Demonstrativ lege ich das Telefon einfach zur Seite und ziehe mir etwas anderes an. Diesmal ist sie echt hartnäckig. Ich habe ihr das Skript erst gestern geschickt und mir ist nicht klar, was sie jetzt schon für ein Problem haben kann. Vielleicht ist es ihr nicht rosa genug oder ihr fehlen die klischeehaften Äußerungen am Schluss. das obligatorische Ich-liebe-dich, was man scheinbar nach nur zwei Wochen Beziehung empfinden muss. Für immer und ewig. Ein Ja zur Beziehung und sie bestellen schon einen gemeinsamen Grabstein. Realismus ist etwas Feines, hallt es sarkastisch durch meinem Kopf. Ich bin kein Freund von diesen kitschigen Schwachmunz und halte damit auch vor Brigitta nicht hinterm Berg. Eine Vibration kündigt mir eine Nachricht an. Ich öffne sie, obwohl ich weiß, dass sie nur von Brigitta sein kann. Sie bittet mich um Rückruf. Ich strecke dem Telefon meine Zunge entgegen und beschließe erst am Montag wieder damit genervt werden zu wollen. Basta. Das Telefon versteht meinen Wink nicht und klingelt munter weiter. Selbst als ich beim Zähneputzen im Waschraum entgeistert in den Spiegel blicke, ringt es als Phantom in meinen Ohren weiter. ich seufze fahrig und blicke zurück in die grün-blaue Augen, die mir aus meinem eigenen Gesicht entgegen schauen. Ich bin eigentlich ein ganz anschaulich, aber ich kriege selten den grimmigen Blick aus meinem Gesicht und das macht unattraktiv. Das sagt jedenfalls Jeff. Mit einem extra finsteren Gesicht streiche ich mir über die stoppeligen Wangen. Zahnpastareste kleben in meinen Mundwinkeln und ich lecke sie mit der Zunge davon. Der Geschmack der Minze mischt sich mit dem Rest des Aromas der Zigarette, der auf meiner Zunge haftet. Eine seltsame Mischung. Ein bisschen wie zu lange gezogener Pfefferminztee. Ich drehe mein Gesicht ins Profil. Vielleicht sollte ich mir einen Bart wachsen lassen. Es hätte etwas Verwegenes. Rowdyhaftes. Jeff meinte einmal, dass würde gut zu meinem ruppigen Verhalten passen. Auch Jeff fantasiert viel, wenn der Tag lang und heiß ist. Es war im Sommer unseres Abschlussjahrgangs. Damals schien ich Jeff noch zu kennen. Missmutig spucke den letzten Schaum ins Becken, spüle mir den Mund aus und lasse einen Schwall Wasser gegen den Spiegel klatschen. Nichts ist mehr, wie es war. Nichts ist, wie es mal war, wiederhole ich auf den Weg zurück ins Zimmer. Dort angekommen, beginne ich den Plot für ein neues Buch zusammen zu stellen. Mit diesem Credo. Normalerweise gönne ich mir zwischen zwei Bücher mindestens drei Wochen Ruhe, aber in meinen Fingerspitzen kitzelt diese Idee und ohne es bewusst zu wollen, entsteht in meinem Kopf ein chronologischer Abruf meiner bereits erschienen Büchern. Die Gesichter meiner Protagonisten mit all ihren Besonderheiten, Eigenheiten, Gemeinsamkeiten und Unterschieden. Ihre Charakterzüge und die ineinander verwobenen Wege, die sich in jedem Buch zu einem glücklichen Ende verspinnen. Der Surrealismus in Reinform, wie ich so gern sage, denn nicht alle Liebesgeschichten haben ein zufriedenstellendes Ende und vielleicht wird es Zeit, eine solche zu verfassen. Die Möglichkeiten des Aufbaus von Liebesgeschichten sind im Grunde wenig vielfältig. Letztendlich begrenzen sie sich auf: Juchz, Heul und Tod. Natürlich sind geringfügige Abwandlungen möglich. Aber im Großen und Ganzen ist es dasselbe Schema. Sie kriegt ihn. Sie kriegt ihn nicht oder es nimmt ein jähes Ende durch frühzeitige Ableben eines der Protagonisten. Die dritte Variante kommt leider für meine Geschichten nicht in Frage. Brigitta würde es nicht zu lassen und jedes Mal wieder stelle ich mir vor, wie sie mich in einem solchen Fall geknebelt und am Stuhl gefesselt zwingt alles umzuschreiben. In einem Dominaoutfit samt Peitsche und mit irrem, rosafarbenen glitzernden Blick. Meine Lektorin kann zur Furie werden und sie hätte eine solche Aktion definitiv drauf. Ich wische die Gedanken schnell wieder davon, aber wie aufs Stichwort beginnt mein Handy erneut zu vibrieren. Eine weitere Nachricht. Die wiederholte Bitte um einen Rückruf, da sie mir einen Vorschlag unterbreiten will. Ich ahne Böses. Zumal mir das beigefügte Sternchenaugenemoji Gänsehaut macht. Ich lege das Handy ohne zu antworten beiseite und mein Blick wandert zurück auf das leere Dokument. Eine unglückliche Liebesgeschichte. Ich gehe die gängigsten Plotvarianten durch und schüttele den Kopf. Stereotyp Gradlinigkeit. Liebesgeschichten unterliegen meistens dem Drei-Akte-Schema. Sie trifft ihn. Sie verliert ihn. Sie bekommt ihn. Na ja, oder auch nicht, aber dann ist es eben keine kitschige, klischeehafte Romantik oder sie ist bewusst dramatisch. Ich persönlich empfinde es eher als frustrierend. Mir fallen zwei Charaktere eines meiner Bücher ein, die im Grunde den perfekten Hintergrund für eine tragische und unglückliche Liebesgeschichte hätten. Kindheitsfreunde. Ein gemeinsames Studium. Nein, nicht Jeff und ich. Nicht mal im Ansatz. Ich stehe auf, gehe zu meinem Bett und ziehe eine Kiste hervor, in der ich jeweils ein paar Exemplare meiner Romane aufbewahre. Nicht einmal Jeff weiß davon. Er weiß nicht mal, dass ich mich dahingehend professionell betätige. Das ist auch gut so. Er wäre sicher nicht damit einverstanden, dass ich die momentane Situation pseudo-verarbeite. Ich ziehe das gesuchte Buch heraus. Es ist der Dritte aus meiner Reihe in diesem Verlag. Aber es ist der vierte, den ich je schrieb. Ich gehe zurück zum Schreibtisch, nachdem ich die Kiste wieder tief unter das Bett geschoben habe. Ein einziges Mal habe ich eine existierende Beziehung als Vorlage genommen. Nein, es ist nicht ganz wahr. Ich habe es zwei Mal getan, aber ich zwinge mich nicht darüber nachzudenken. Das erste meiner Kitschbücher erzählt die abgewandelte Form der Geschichte eines unserer beständigsten Liebespaare im Abiturjahrgang. Sie ist die perfekt, klischeehafte Liebesschnulze, die sich kein Autor hätte besser fantasieren können. Liebe auf dem ersten Blick. Im Kindergarten. Eine gemeinsam verbundene Schulzeit. Ein unkaputtbarer Zusammenhalt trotz aller Widerstände. Nur ein einziger kleiner Makel. Die Tatsache, dass ich im letzten Jahr nach einem Streit der beiden mit ihr geschlafen habe. Das habe ich in dem Buch ausgelassen. Es hätte das perfekte Bild zerstört. Sich ein Leben lang nur an eine Person zu binden, ist meiner Meinung nach nicht möglich und mit Sicherheit auch nicht gesund. Es gibt immer irgendwas, was einen der Partner dazu veranlasst sich umzuschauen. Manchmal ist es nur ein schwacher Moment. Ein Kitzeln. Ein Funke und schon ist es geschehen. Verlassen werden und verlassen, das ist die Realität. Wahre Liebe ist Fiktion, dessen bin ich mir sicher. Der Biochemiker in mir erklärt nüchtern, dass Liebe eine chemische Reaktion zwischen Monoamin, Dopamin, Noradrenalin und Serotonin ist. Und damit ist es nichts weiter als eine Unmenge an Monoaminen, Neurotransmitter und Hormone. So schlicht und so einfach. Kein Mysterium. Im Grunde nichts, worüber es sich lohnt zu schreiben und dennoch tue ich es. Ich glaube, die beiden aus meiner Schule sind mittlerweile verheiratet. Sie wird es ihm nie erzählt haben und vermutlich ist das auch besser so. Die Geschichten, die danach folgten, entsprangen alle vollkommen meiner rosafarbenen Fantasie. Es gibt Tage, an denen ich mich so klebrig fühle, dass ich mehrere Mal angewidert unter die Dusche springe und man mich mit Süßigkeiten jagen kann. Ich bin seither auch regelmäßig beim Zahnarzt. Ich greife nach der Schachtel Zigaretten, die jetzt schon seit geraumer Zeit neben mir liegt. Ich habe so lange widerstanden, aber heute nervt mich Brigitta derartig, dass ich dringend eine rauchen muss. Draußen lasse ich mich wieder auf die Bank fallen und lehne mich zurück. Ich schlage die Beine übereinander und schließe die Augen. Meine Finger umfassen die Zigarette fester und ohne es zu merken, ziehe ich ein gutes Stück mit einem Zug weg. Warmer Qualm streicht über meine Lippen. Es kommt sogar etwas durch meine Nase. Im Trickfilm würde mir der Qualm jetzt noch zusätzlich aus den Ohren dringen. Mein Telefon bimmelt schon wieder. Ein feines Knurren rollt über meine Lippen und ich widerstehe dem Bedürfnis, es ins nächste Beet zu schleudern. Eine Wand habe ich leider nicht in unmittelbarer Nähe. Solche Aktionen haben mich im letzten Jahr drei Handys gekostet. Kein billiges Hobby. Ein genervter Laut und ich gehe ran. „Brigitta, du nervst. Ich melde mich, wenn ich Zeit habe..." „Wer ist Brigitta?" Die Stimme am anderen Ende des Telefons ist weiblich. Sie gehört aber nicht zu meiner Lektorin, sondern zu einer anderen Frau in meinem Leben. „Hey, Mama." Mir fällt wie in einem schlechten Film die Zigarette aus dem Mund. Sie kullert über meinen Oberschenkel und hinterlässt eine schwarze Aschespur. "Shit!", entflieht mir erschrocken und nicht unbedingt leise. Meine einzige, noch halbwegs passende Hose. Die anderen sind mittlerweile nur noch Jeansfetzen. Irgendwann sind Hosen mit Löchern wieder im Trend, dann krame ich sie wieder raus. "Ist alles in Ordnung bei dir, mein Schatz? Du klingst nervös." Meine Mutter klingt mehr als skeptisch. "Ja... nein...nein, alles bestens!", versuche ich sie zu beschwichtigen und trete den Stummel aus. "Rauchst du etwa wieder?" Oh nein. Unwillkürlich wende ich mich um, blicke von links nach rechts. Nichts. Um ganz sicher zu gehen, drehe ich mich noch mal komplett um und sehe ins Beet. Gelbe Tulpen und violette Stiefmütterchen, aber keine Mama. Ich starre kurz aufs Display, höre dumpf, dass meine Mutter irgendwas sagt, aber verstehe nicht, was es ist. Ich gehe wieder ran. "Schatz? Was ist denn los?" Nun klingt sie besorgt. Ich habe keine Ahnung, wieso sie anruft. "Alles fein. Nur etwas Stress. Was kann ich für dich tun?", frage ich schrecklich diplomatisch und hoffe, dass sie sich nicht weiter nach meinem Zigarettenkonsum erkundigt. "Du kannst mir versichern, dass es dir wirklich gut geht und wann wir in den Semesterferien mit dir rechnen können." "Okay. Ich lebe", sage ich schlicht zum ersten Teil und ernte ein verzweifeltes Ausrufen meines Namens. Meine Mutter kennt es nicht anders von mir und sollte mittlerweile daran gewöhnt sein. Auch Jeff hat mich vor ein paar Wochen gefragt, ob wir gemeinsam gen Heimat fahren. Doch mir ist nicht danach. Stunden lang allein mit Jeff im Auto. Im Moment ist mir ganz und gar nicht danach. Auch Freundschaften sind nicht immer für die Ewigkeit, greife ich meinen eigenen Gedanken von vorhin wieder auf. Seit fünf Monaten sind die beiden schon ein Paar und er hat es mir nicht gesagt. Ich kann es noch immer nicht wirklich fassen. "Ansonsten hab ich viel zu tun. Viel zu lernen. Ich weiß noch nicht, wie viele Hausarbeiten auf mich zu kommen und wann die Abgaben sind", sage ich vorsichtig ausweichend und es folgt ein schwerer Seufzer auf der anderen Seite. "Wir haben uns das letzte Mal zu Weihnachten gesehen, Robin. Ostern hast du dich schon gedrückt." "Ich sage ja nicht, dass ich nicht komme. Nur später." "Jeff ist viel öfter zu Hause. Warum kommst du nicht häufiger mit ihm mit, Schatz?" Der Vorwurf in ihrer Stimme ist unüberhörbar. Bei fast jedem Telefonat dasselbe. Jeff ist eben ein besserer Sohn. Zudem ist er ein Familienmensch und das bin ich nie gewesen. Jedenfalls bin ich es seit einigen Jahren nicht mehr. Am anderen Ende der Leitung wird es unangenehm still. "Mach es für René!" Nun spricht sie genau das aus, was ich nicht hören will. René schert sich nicht darum, ob ich da bin oder nicht. Trotzdem drückt sie die richtigen Knöpfe in mir. Im Hintergrund höre ich die Stimme meiner Schwester, gefolgt von der Antwort meiner Mutter, die ihr erklärt, dass sie mich gerade am Telefon hat. "Lieben Gruß von Lena. Wir fahren jetzt in die Stadt. Melde dich bitte noch mal, wann du kommst. Grüße Jeff und pass auf dich auf!", höre ich sie sagen, erwidere es fahrig und lege auf. Ich ziehe mir eine weitere Zigarette aus der Schachtel, doch als ich sie zwischen meinen Lippen spüre, erfasst mich dieses schuldbewusste Gefühl. Seufzend klemme ich sie mir hinters Ohr und gehe zurück aufs Zimmer. Im Flur kommen mir erneut die beiden Mädels entgegen. Ich sehe sie fast immer zusammen. Sie scheinen förmlich aneinander zu kleben. Ich nenne es die Unfähigkeit allein zu Handeln. Ob sie wohl eine Entscheidung treffen könne, ohne der anderen Meinung einzuholen? Ich bezweifle es. Die Hand der Brünetten streicht über den Arm der anderen und dann sehen mich beide an. Ich kann das leise Kichern nicht hören, aber ich sehe, wie die Mundwinkel der Blondine nach oben zucken, während ihre blauen Iriden auf mir ruhen. Ich sehe deutlich die Bewegung ihrer Lippen. Ein Flüstern. Ein Raunen. Ihre schlanken Körper lehnen sich aneinander. Ich würde lügen, wenn ich behaupte, dass es mich nicht interessiert worüber sie reden und ebenso, dass ich sie mir nicht ansehe. Beide sind nicht unbedingt mein Typ. Doch es ist sowieso selten, dass ich schon beim ersten Hinsehen an jemanden Interesse zeige. Ich habe so meine Eigenarten und dennoch bin ich kein Kostverächter. Ich stehe auf Sex und ich brauche definitiv Sex. Leider muss ich mir eingestehen, dass es auch schon eine Ewigkeit her ist. Vielleicht sollte ich heute ein paar Minuten früher duschen gehen, denn auf menschliche Nähe habe ich im Moment einfach keine Lust. Ich tippe geschwind den Code unserer Türverriegelung ein. Ein leises Piepen ertönt, dann kann ich die Türklinge betätigen. Im Gehen ziehe ich mir bereits den dicken Pullover über den Kopf, den ich vorhin übergeworfen habe. Ich stocke als feiner Lichtschein durch die Maschen meines Oberteils fällt und ich eine Gestalt an meinem Schreibtisch erahnen kann. Der Pullover fällt und ich erkenne Kain. „Was machst du da?", frage ich in die Stille des Raumes hinein und sehe zu Kain, der wie gebannt auf den Bildschirm schaut. Einer meiner Texte ist geöffnet und schon im nächsten Moment setzt mein Herz aus. Er dreht sich nicht sofort um, sondern atmet tief ein. Als nächstes kann ich sehen, wie sein Kopf ertappt nach vorn fällt. Danach wendet er sich zu mir um und blickt mir schuldbewusst entgegen. In seinem Gesicht steht das reine Unbehagen. „Robin, entschuldige. Ich..." Ich will keine Entschuldigung hören, sondern ich will nur, dass er aufhört meine Texte zu lesen. Er steht auf und ich bin schnell neben ihm. Der Pullover fällt unachtsam zu Boden. Ich erkenne auf dem ersten Blick, was genau er dort gelesen hat. Es ist der Text, den ich gestern Nacht weitergeschrieben habe und dessen Inhalt er unbedingt erfahren wollte. Das Unanständige. Das Versaute. Der Text dessen Hauptfigur eine unleugbare Ähnlichkeit mit ihm aufweist. Ich schließe das Dokument abrupt und beiße die Zähne zusammen. Kains Hand legt sich an meine Schulter und ich stoße sie energisch davon. Was zur Hölle? Meine Gedanken rasen. Mein Puls bebt. Wie kam er überhaupt hier rein? „Robin,..." „Hau ab." „Lass es mich bitte erklären und..." „Willst du etwas Bestimmtes?", frage ich kalt, nachdem ich seinen weiteren Erklärungsversuch gnadenlos unterbreche. Er schüttelt nur sachte seinen Kopf. „Gut, hab die Güte und löse dich auf", sage ich und spüre, wie meine Stimme leicht zu zittern beginnt. Wut. Zorn. Es ist mir unangenehm. Kain macht keine Anstalten zu gehen. „Verschwinde... Raus!!", belle ich mit Nachdruck und gehe zur Tür, um seinen Rauswurf zu beschleunigen. Er folgt mir ohne zu zögern, bleibt aber neben mir stehen und verhindert, dass ich die Tür öffnen kann. „Hör zu, es tut mir leid, dass ich einfach so an deinem PC rumgeschnüffelt habe, aber ich war echt neugierig. Du bist unentwegt am Schreiben und ich wollte gern wissen, was du eigentlich schreibst. Du wolltest es mir ja nicht sagen und..." „Es ist nichts, was dich angeht und jetzt hau endlich ab" Meine Hand umgreift die Türklinke fester und ich öffne sie dabei wenige Zentimeter. Doch Kain drückt sie wieder zu. Ich zucke zusammen als sich Kains Hand über meine legt. Sie ist trocken und kühl. Seine Fingerspitzen sind rau. „Du schreibst über mich!", sagt er schlicht, aber mit Nachdruck. Shit. Verdammt. Ich wechsele innerhalb von Sekunden vom Wutmodus in den Verteidigungsmodus. „Bitte? Schraub mal dein Ego runter, das ist absurd. Die Charaktere sind alle universell und haben keinen realen Personenbezug", spule ich ab und klinge als hätte ich es auswendig gelernt. Kain stupst mich mit der freien Hand gegen die Tür. Die andere liegt noch immer auf meiner. Ich bin zwischen ihm und dem Holz eingekeilt. „Universell? Dass ich nicht lache." Er wirkt seltsam aufgebracht. Nur warum? Nur ich habe allen Grund dazu. Mein Atem wird schwerer und hektisch. Ich habe das Gefühl, dass mir das Herz bald aus dem Brustkorb springt. Er entfernt sich etwas von mir und scheint sich zu sammeln. Niemand hätte diese Geschichte lesen soll. Niemand. Sie diente lediglich als Ventil. Nicht mehr und nicht weniger. Trotzdem fühle ich mich eigenartig entblößt. Warum musste er ausgerechnet diese öffnen. Warum? Jede andere hätte weniger über meine momentane Gefühlswelt offenbart. Ich bemerke zu spät, dass er wieder einen Schritt auf mich zu macht und ich immer noch keinen Platz habe um weiter zurückzuweichen. Beide Hände kommen auf der Tür zum Liegen und wieder pennt er mich fest. Seine Unterarme streifen meine Seiten und ich vergessen für einen Moment zu atmen. Es fällt mir schwer aufzusehen, doch dann tue ich es und blicke in intensives, warmes Braun. Kain fixiert mich. Sein Adamsapfel hüpft als er schluckt und ich beobachte, wie sie sich seine Pupillen weiten. „Der Geschmack seiner Lippen benebelt mich. Das Aroma von Kaffee und der Hauch von Ingwer auf seiner Zunge entfachen ein zitroniges Feuer und mein Geschmacksinn erblüht, wie tausende Knospen beim Empfangen erster Sonnenstrahlen. Explosionen der Sinne ausgelöst durch sanfte Berührung zarten Fleisches. Jeder Millimeter seines Mundes gleicht einer intensiven Sünde. Ich spüre, wie mein Körper zu gieren beginnt. Ich will mehr", zitiert er eine Stelle meines Textes und jedes Wort mündet in intensiver Gänsehaut. Keine Namen. Keine Zuweisung. Und doch wird allein durch diese Stelle deutlich, dass ich nur Kain damit meinen kann. Ich presse meine Zähne zusammen als er in seine Tasche greift und einen der Ingwerbonbons hervorholt. Ich fühle mich zu einer Erklärung genötigt. „Es ist nur eine Geschichte. Es hat nichts zu bedeuten." Ich klinge schrecklich unglaubwürdig. „In der ich einer der Figuren bin. Also, was bitte soll mir das sagen?" „Das hat überhaupt nichts zu sagen und die Ähnlichkeit bildest du dir ein", spiele ich runter. Ich weiche seinem Blick aus. Kain schweigt und das sorgt dafür, dass ich angespannt, aber neugierig zurück gucke. Genau darauf hat er gewartet. „Okay, dann lass es mich zu Ende lesen." Was? „Nein", erwidere ich schnell und deutlich. „Es hat doch nichts zu bedeuten, hast du selbst gesagt!" Er dreht mir die Worte im Mund um. „Nein!" Energischer. „Es ist nur eine Geschichte. Ich mag Geschichten. Lass sie mich lesen!" „Nein, verdammt. Es ist mein geistiges Eigentum." „Du benutzt mich für deine Fantasien und das berechtigt mich dazu es zu lesen!" „Bitte? Kein Chance und wozu?", erfrage ich seine Intention, denn ich verstehe einfach nicht, was er sich davon verspricht. Kain schließt die sowieso schon kleine Lücke zwischen unseren Körpern. Ich halte unbewusst die Luft an, so lange bis ich seinen Atem an meinem Ohr spüre. Ein heißer Schauer arbeitet sich über meine Brust. „Weil mich interessiert, ob er den anderen kriegt", raunt er mir entgegen. Ich erstarre. Kapitel 4: Lieber drei Spatzen auf dem Dach als ein Angry Bird im Bett ---------------------------------------------------------------------- Kapitel 4 Lieber drei Spatzen auf dem Dach als ein Angry Bird im Bett Ich atme flach, während meine Augen suchend über das ruhige Gesicht des anderen Mannes wandern. Was ich suche, weiß ich nicht genau. Doch, was ich sehe lässt mich den Atem anhalten. Es ist ihm ernst. Kein Scherz. Kein Witz. Keine seiner häufigen Sticheleien. Mir kommt kein Wort über die Lippen und die Spannung zwischen uns scheint dick und schwer. Ich weiß nicht, was ich darauf erwidern soll. Ich bin selten so sprachlos. Ein leichter Ruck und dann drückt sich die Türklinke in meinen Rücken. Die Tür öffnet sich ein paar Zentimeter. Ein leises, verwundertes Geräusch dringt durch den Schlitz und Kain macht endlich einen Schritt zurück. Ich trete an ihm vorbei zu meinem Schreibtisch bevor Jeff seinen Kopf durch die Tür stecken kann. Ohne ein weiteres Wort lasse ich mich an meinen Schreibtisch nieder, schiebe mir die Kopfhörer über die Ohren und höre dumpf dabei zu, wie mein Blut durch meine Venen rauscht. Kain bleibt neben unserem Kühlschrank stehen und setzt eines dieser unschuldigen Gesichtsausdrücke auf, während es Jeff endlich ins Zimmer schafft. „Hey, war etwas mit der Tür? Sie ging nicht auf" Jeff sieht irritiert zum großen Schwarzhaarigen und entdeckt mich am Schreibtisch. Die seltsame Stimmung scheint von ihm unbemerkt zu bleiben. Zum Glück. „Oh hey, du bist ja doch da. Sehr gut, ich habe dir..." „Wieso hast du ihm unseren Türcode genannt. Er hat hier drin nichts verloren", unterbreche ich meinen Mitbewohner wütend. „Kain hat mir geschrieben, dass du die Tür nicht aufmachst, also hab ich ihm den Code gegeben.", erklärt er schlicht und kramt in seinem Beutel rum. Er denkt, dass ich die gesamte Zeit über im Zimmer gewesen bin und Kain mutwillig ignoriere. Klingt ganz nach mir, aber diesmal ist es weit gefehlt. Und nichtsdestotrotz ist das kein Grund ihm ohne mich vorher zu fragen unseren Türcode zu geben. Das wird er mir büßen. Ich schiele auffällig zu Ficus Ben. In meinem Kopf formen sich Bilder, wie ich hysterisch lachend jedes Blatt einzeln vom Ast zupfe und sie wild kichernd ohne zu kauen hinunter würge. Während Jeff weinend und bettelnd vor mir sitzt. In meinen Fingerspitzen beginnt es bereits willig zu kitzeln. Ich beiße freudig erregt und immer noch deutlich sauer die Zähne zusammen. Als ich Kain kichern höre, wende ich mich um. „Bei Robin bekommt das Spiel Angry Bird eine ganze neue Bedeutung." „Du bist keine Hilfe, Kain." „Fick dich!", sage ich fast gleichzeitig mit Jeff. Wir sehen uns beide an und er macht mir deutlich, dass mein ausfälliger Ausruf unnötig war. Ich sehe es anders. Wie so oft. „Oh man, klärt, das unter euch, Jungs!" Kain hebt abwehrend seine Hände in die Luft und greift nach seiner Tasche, die ich bis eben gar nicht bemerkt habe, weil sie hinter Jeffs Papierkorb verborgen blieb. Jeff wirft den Beutel auf sein Bett. Ich bin immer noch sauer. Wie kann er Kain einfach unseren Zimmercode geben? Plötzlich spüre ich kühle Finger an meiner Wange. Kain zieht mir den Kopfhörer vom rechten Ohr und erneut merke ich, wie sein warmer Atem auf meine Haut trifft. Mein Körper reagiert verräterisch. „Wer liegt eigentlich in deiner Fantasie oben? Du oder ich?", flüstert es vielsagend. Seine Worte sind wie ein blitzender Schauer. Heiß und verwirrend. Nichts anderes folgt. Nur ein kleines, leises Lachen. Dann spüre ich, wie das weiche Material des Kopfhörers auf meinem Ohr zurückkehrt. Kain macht sich einen Spaß daraus und das verursacht zwiespältige Gefühle in meiner Brust. Blitzschnell springe ich auf, gehe an Jeff vorbei und greife nach Kains Socken, die noch immer neben dem Bett liegen. Ich werfe sie ihm nach, treffe zu meiner Genugtuung direkt seinen Hinterkopf und wünschte sie wären ein Ziegelstein. Leider kann man nicht alles haben. Egal, denn ich würde Kain so lange mit Socken bewerfen bis er blutet. Egal, wie lange es dauert. Der Beworfene wendet sich überrascht um und blickt suchend nach dem Knäul. Als er wieder zu mir sieht lächelt er. „Irgendwann, Robin...", sagt er, während er das Sockenpaar aufhebt. Ich weiß genau, worauf er anspielt. Er wird es niemals lesen. Niemals. „Nur über deine Leiche...", kommentiere ich seine Wahnvorstellung. Ein Lachen und er schließt die Tür. Es bleibt einen Moment still und ich starre wütend auf die geschlossene Tür. „Wie konntest...", bricht es hervor und ich drehe mich zu meinem Mitbewohner. Jeffs Hand kommt direkt vor meinem Gesicht zum Stehen. Ich sehe erschrocken auf seine Handfläche. „Wenn du immer alles ignorierst, bist du selbst schuld!", kontert Jeff energisch und bringt mich tatsächlich zum Schweigen. Seltsamerweise sieht er mich danach erschrocken an. Wahrscheinlich hat er nicht damit gerechnet, dass er damit durchkommt. Es passiert wirklich selten. Oft ist es Jeff, der sich zurücknimmt, weil er Streit vermeiden möchte. „Trotzdem kannst du nicht einfach..." Wieder setze ich an und schubse Jeffs Patschehand aus meinem Blickfeld. Er lässt sich nicht beirren. „Doch, ich kann, denn es ist genauso mein Zimmer und Kain ist vertrauenswürdig!" Ich möchte Jeff entgegen schleudern, dass Kain einfach an meinen Rechner gegangen und damit in meine Privatsphäre eingedrungen ist. Er hat meine persönlichen Texte gelesen! Da Jeff keine Ahnung von meinem „Schreibhobby" hat, verebbt der Wunsch so schnell, wie er gekommen ist, weil ich keine Lust auf weitere Erklärungen habe. "Du hättest mich, aber vorher fragen müssen." "Und du hättest nein gesagt." Gutes Argument. Es zählt nur nicht. Jeff seufzt, nimmt endlich seine Hand runter und setzt seinen üblichen, beschwichtigen Blick auf. „Okay, ja, hätte, aber du weißt auch, dass ich Recht habe und..." Ein erneutes tiefes Seufzen folgt, "Es tut mir Leid, dass dich das Alles so überfällt, aber..." „Ach kommen, spar dir deine billigen Entschuldigung. Schließlich hattest du jetzt fünf Monate Zeit um mich da langsam daran zu gewöhnen", belle ich. Jeff versteift sich augenblicklich. „Ja, da staunst du, was? Wieder etwas, was ich von dem vertrauenswürdigen Mitbewohner deines Partners erfahren musste." Das Vertrauenswürdig betone ich als Retourkutsche ganz besonders. Jeff beißt sich auf die Unterlippen und lässt sich rückwärts auf sein Bett fallen. „Verdammt Jeff! Fast ein halbes Jahr", schleudere ich ihm sauer entgegen. Mein Mitbewohner seufzt wiederholt. Eine von Jeffs nervigen Angewohnheiten. Die Art und Weise seiner Seufzer umfasst ein wahnsinnig variables Spektrum. Dieser ist schuldbewusst. „Ich dachte,...", setzt er an, doch ich unterbreche ihn und drehe den Spieß um. „Ja, ja, du dachtest, dass es mir egal ist Ich weiß! Zu deiner Information, dass ist es nicht", bekenne ich und sehe erneut ein feines Zucken, dass durch seinen Körper geht. Jeff senkt seinen Blick und schweigt. Ich lasse mich wieder auf meinen Stuhl fallen und drehe mich bewusst zum Bildschirm, von ihm weg. „Ich rede mit Kain, wenn du das möchtest.", bietet er an. Darum geht es mir nicht. Ich reagiere nicht. Soll er doch reden bis er schwarz wird. Ich höre es Rascheln und Knistern. „Ich hab dir die M&Ms mit Erdnuss gekauft. Die magst du doch." Jeff lässt die kleine Tüte in meinen Schoß fallen und ich spüre, wie sich seine Hand an meine Schulter legt. Ein leichter Druck, der beschwichtigend wirken soll. Es funktioniert. Eigenartiger Weise. Sein Daumen drückt sich mehrere Mal gegen meinen Trapezmuskel. Ein leichtes Streicheln. Ich murre als Antwort und setze mir die Kopfhörer auf. Jeff verabschiedet sich und schließt die Tür. Als ich wieder allein bin, schaue ich erneut zu Jeffs Ficus benjaminii, stehe auf und stelle mich vor die Pflanze. Nach einer Weile strecke ich meine Hand aus, um ein verwelktes Blatt zu entfernen. Ein feines Zittern erschüttert die Pflanze, als würde sie spüren, dass ich etwas Böses im Sinn hatte. „Ich tu dir ja nichts", murmele ich dem bibbernden grünen Ding entgegen und komme mir reichlich dämlich vor. Ich lache Jeff jedes Mal aus, wenn er mit Ben spricht. Jetzt nenne ich ihn auch noch beim Namen. So weit ist es mit mir schon gekommen. Ich mache einen Schritt rückwärts und atme kurz durch. Nun schalte ich endlich die Musik ein. Mein MP3-Player startet mit 'Lemon Tree' von Fools Garden. Eine Wahrscheinlichkeit von 1: 2000. Ist doch klar, oder? Missmutig stapfe ich vom Ficus weg und öffne den kleinen Kühlschrank, in dem wir einige Kleinigkeiten aufbewahren. Jeff vor allem Marmelade, Käsedip und Schokolade. Und ja, manchmal kombiniert er alles auf ein und demselben Brot. Ich bekomme Gänsehaut, wenn ich nur daran denke. Zuckersüßer Käsepamps. Es ist purer Ekel, der mich durchfährt. Ich beschlagnahme in erster Linie das kleine Kühlfach. Ich öffne es und nehme mir ohne lange darüber nach zudenken, nehme eines der gefrorenen Köstlichkeiten heraus, die ich darin bunkere, wie ein Schneehamster. Ich bin kein großer Esser, aber Eis kann ich immer vertilgen. Mit einem geschickten Handgriff entferne ich das Papier und lasse meine Zungenspitze über den unteren Rand des Eises entlang gleiten. Dort ist der einzige Punkt, an dem etwas der vanilligen Creme hervorlugt, während der Rest von einer hauchzarten Schicht Schokoladen umhüllt ist. Ich genieße die Kühle als ich meinen Mund um den schmalen Leckerbissen schließe. Zwischen meinen Lippen beginnt die Schokolade zu bröckeln. Sie schmilzt auf meiner Zunge, vermischt sich mit der feinen Süße der Sahnecreme. Einige Schokoladensplitter drücken sich in die weiche Masse. Ich schließe den Kühlschrank und lasse mich auf mein Bett fallen. Ich bin immer noch sauer auf Jeff, aber dank des Eises fühle ich mich besser. Mein Blick wandert durch das ruhige Zimmer. Die Blätter des Ficus wackeln noch immer. Wahrscheinlich ist es wieder die warme Heizungsluft. Ein weiteres Mal lasse ich meine Zunge über die cremige Substanz gleiten. Die Süße der Schokoladen und die damit einhergehende Ausschüttung von Serotonin lässt mein Blut pulsieren. Ich stelle mir vor, was in meinem Körper passiert. Das Andocken des Botenstoffes an den Rezeptoren. Ein klarer und verständlicher Prozess. Schön in seiner Einfachheit. So und nicht anders. Im Liegen vertilge ich den Rest bis mein Handy klingelt. Diesmal gehe ich ran. „Hey, mein arterienverklebender Lieblingsautor. Wie kommt es, dass du jedes Mal schwerer zu erreichen bist?", mosert die Lektorin sofort los. „Entschuldige, ich hatte eine ganztägige Sitzung beim Zahnarzt. Karies im Endstadium. Mir bleiben nur noch wenige Wochen." „Wie tragisch, dann hat die Welt ein Mufflon weniger." „Dir ist schon klar, dass ein Mufflon eine Schafunterart ist und nichts mit dem Charakterzug zu tun hat?" „Natürlich!", kommt es überzeugend von meiner Lektorin und damit weiß ich, dass ihr das definitiv nicht klar war. Ich lecke mir Eis von den Fingern und ein kleines Stück Schokolade fällt auf meine Unterlippe. Ich spüre, wie es zu schmelzen beginnt und sich der fein herbe Geschmack ausbreitet. Ich schließe meine Augen und lasse meine Zunge langsam darüber gleiten ehe ins Gespräch zurückkehre. „Okay, was willst du? Du hast einen Satz." „Ein Literatursymposium für Jungautoren Ende August." Im Grunde kein richtiger Satz. Es reicht dennoch aus. Ich richte mich auf. „Brigitta, nein!" „Robin, ja! Das ist deine Chance Kontakte zu knüpfen und dich weiter zu entwickeln. Du jammerst doch andauernd, dass du auch andere Genre in Angriff nehmen willst. Das ist die Gelegenheit für dich! Du könntest dich anderen Verlagen vorstellen." Sie hat Recht. Ich jammere wirklich oft, aber mir widerstrebte es, mit tausenden anderen Autoren zusammen zu sitzen und über unsere literarischen Ergüsse zu sprechen. Ich rede nie darüber und ich will es auch nicht. Wie es wohl für die anderen wirkt, wenn ich mit meinem grimmigen Gesicht dasitze und über die herzergreifende und durchs nichts zerstörbare Liebe zweier Schüler schwadroniere. Dabei verwende ich Phrasen wie Liebe auf dem ersten Blick, die tiefste aller Verbindungen und Treue, im Herzen verankert, sodass sie niemals vergeht. Ein Uns für alle Ewigkeit. Das glaubt mir kein Mensch. Niemals. „Nein. Ich möchte das nicht. Ich schreibe euch weiter euren Zuckerwatte-Luftschloss-Kram und damit muss es gut sein." Ich höre, wie sie seufzt. Wir haben schon oft solche Diskussionen geführt und im Grunde bin ich ihr sehr dankbar, dass sie trotz meines Widerstandes jedes Mal aufs Neue versucht, mich zu fördern und mich zu pushen. Brigitta gehört zu den zutiefst gutherzigsten Menschen. Sie lebt die Liebe. Manchmal zu sehr. Ich fühle mich in meinem jetzigen Verlag gut aufgehoben, auch wenn ich für das, was ich schreibe, nicht wirklich stehe. Bisher hat mir noch niemand gesagt, dass es unglaubhaft ist, was ich fabriziere. Im Gegenteil, die Kritiken und Reaktionen der Leser loben meine Feinfühligkeit. Es ist jedes Mal zum Totlachen. In meinem Kopf tanzt die Ironie in Form einer kleinen Softeistüte einen Cha-Cha-Cha. „Ich lasse dir einfach mal die Broschüren zukommen und du kannst einfach drüber nachdenken." Ein letzter Versuch von ihrer Seite. Ich antworte nicht und sie wartet auch nicht darauf. „Ich bin übrigens sehr zufrieden mit dem neuen Skript und ich melde mich, wenn ich ein Zeitraum für die Veröffentlichung kriege. Denk rosa, mein Zuckerwatteheld!" Eine typische Verabschiedung und sie legt auf. Ein Stechen durchfährt meine Zähne. Der Rest meines Eises ist geschmolzen. Eine große Menge der klebrigen Flüssigkeit ist direkt auf meine Bettdecke und mein T-Shirt getropft. Prima. Mit tut es vor allem wegen der kalten Leckerei leid. Auch wenn mir der Appetit darauf gehörig vergangen ist. Als ich mich zurück an meinen PC setze, denke ich sofort an Kain und es breiten sich gemischte Gefühle in mir aus. Wut. Verärgerung, aber auch das seltsame Kribbeln, welches ich habe, wenn ich beginne, über ihn zu schreiben. Auch jetzt bilde es sich und das trotz der überschwänglichen negativen Gefühle, die ich mir mehr einrede als alles andere. „Ob er den anderen kriegt", murmele ich laut, lehne mich zurück und starre gedankenverloren an die Decke. Mit einem Murren öffne ich das Dokument und scrolle zu der Stelle, die mir Kain eben einwandfrei zitiert hat. Wie hat er das nur hinbekommen? Und wieso musste er ausgerechnet diese Geschichte öffnen? Höchstwahrscheinlich passierte das nur, weil sie in meiner Dokumentenliste ganz oben steht. Verdammt. Er hat kein Recht sich darüber lustig zu machen. Es ärgert mich sehr. Als Jeff am Abend ins Zimmer kommt, liege ich bereits im Bett. Augenblicklich zügelt er seine Lautstärke. Auf Socken schleicht er durch das kleine Zimmer. Die Tür seines Kleiderschrankes geht auf. Er zieht eine Klamotte heraus und tippelt auf Zehenspitzen zu seinem Bett. Ich versuche ruhig und schlafsimulierend zu atmen. „Robin?", fragt er leise. Ich rühre mich nicht. „Ich höre dich nicht atmen. Du bist also noch wach!" „Du hörst mich nicht atmen, deshalb bin ich wach? Wie geht denn sowas?", frage ich verwundert und drehe mich langsam zu meinem Mitbewohner um. „Stell dir vor, aber wenn du schläfst, bist du wesentlich lauter. Deine Atmung ist ganz anderes. Und ja, manchmal redest du sogar und oft mehr als du manchmal in der Woche mit mir sprichst." „Ganz sicher nicht! Du übertreibst!" Er überspitzt maßlos, auch wenn ich wirklich nicht der Gesprächigste bin. „Nein." „Und du schnarchst wie ein Elch", kontere ich. Jeff beginnt leise zu lachen und ich spüre, wie sein Gelächter meinen Ärger langsam davon trägt. Verdammt noch mal. „Ich würde das ja gern verneinen, aber das hat man mir schon oft gesagt", gesteht er und lacht weiter. Ich kann es ebenso nur bestätigen. Ab und an, habe ich das Gefühl in einem Wald zu nächtigen der gerade dem Erdboden gleich gemacht wird. Ein wahrer Albtraumverursacher. Mein Mitbewohner beginnt sich auszuziehen und ich schließe automatisch meine Augen. Mit einem kurzen abcheckenden Blick, erkenne ich gerade noch, dass er sich komplett nackt unter die Decke schiebt. Solche Anwandlungen hat er eigentlich nur im Sommer. „Oh nee, zieh dir was an, sonst erkältest du dich. Ich habe keinen Bock auf dein kränkliches Rumgejammer." „Keine Chance.", sagt lediglich und knipst seine Nachtischlampe aus. „Was plappere ich denn so im Schlaf?", frage ich neugierig. Meine Augen brauchen einen Moment um den liegenden Körper wieder zu erkennen. Er schiebt sich die Decke über die Schultern und sieht zu mir. „Verschiedenes. Meistens habe ich das Gefühl, du würdest irgendwas vorlesen. Echt seltsam. Bisher leider nichts Peinliches." Leider! Mir entflieht ein leises Prusten. Ich stelle mir vor, wie Jeff grinst. Wenn er lächelt, ist sein Mund ein wenig schief und man sieht die Spitze seines rechten Schneidezahns. So was fällt mir auf, aber nicht, dass sich mein Freund zu Männern hingezogen fühlt und das sicher nicht erst seit fünf Monaten. Auch dieser Gedanke erzeugt er leises prustendes Geräusch, welches im Zimmer verhallt. Jeff plappert munter drauflos in der Annahme, dass meine Frage eine Einladung zu einer Unterhaltung gewesen ist. Ich kugele mich mehr in die Decke ein und bedecke damit auch meine Ohren. Jeff höre ich trotzdem noch. Des Öfteren wird er in der Nacht seltsam gesprächig. Klatsch und Tratsch. Die In und Outs der Uni. Seiner Meinung nach würden zu viele Mädchen Jeggings tragen, die das nicht sollten. Aha! Was ist eine Jeggings? In diesem Moment wundere ich mich nur noch, dass mir seine Homosexualität nicht aufgefallen ist. Noch eine weitere halbe Stunden berichtete er mir von seinen Beobachtungen und Theorien. Ich dämmere langsam weg und doch ich denke unentwegt an Kains letzte Worte. Wissen, ob er den anderen kriegt. Was sollte das? Ja, in der Geschichte haben sie letztendlich hemmungslosen Sex und fast sofort kommen mir die Bilder und Fantasien in den Sinn, die Grundlage dafür waren. Es sind vor allem Wünsche und Sehnsüchte. Ich weiß nicht, wo sie eigentlich herkommen, aber sie sind tief und intensiv und wenn ich sie nicht niederschreibe, dann werde ich durchdrehen. „Kriegt er ihn?", flüstert eine Stimme. Es ist Kains. Sie ist rau und nebelig. Seine Worte treffen heiß gegen meine Ohrmuschel. Die Frage, er wiederholt sie. Wieder und wieder. Bis sie sich irgendwann wandeln. „Er kriegt ihn." Seine Lippen betten sich an meinen Hals. Sie sind warm und leicht feucht. Sie verursachen ein wohliges Brennen. Ein Kribbeln, welche tief in meine Hautschichten eindringt. Seine Hände streicheln meine Seite entlang, folgen dem Kribbeln, während seinen Lippen zärtlich über meinen Hals küssen bis sie an meinen Kiefer gelangen. Ein weiteres Raunen dringt aus seiner Kehle. Doch diesmal kann ich die Worte kaum verstehen, die er an mich richtet. Seine Küsse sind der Hauch einer Berührung und dennoch verursachen sie blitzende Explosionen, die sich meinen Körper entlang arbeiten und sich in meinen Lenden bündeln. Ich öffne meine Augen und blicke in das schimmernde Braun. Seine Lippen berühren meine. Sie fruchtig, süß und paaren sich im selben Moment mit einem feinen Brennen der Schärfe, die die Seitenstränge meines Halses zusammenzieht. Ich will mehr kosten, will es noch mal schmecken und vor allem spüren. Jeden so kleinen erregenden Moment. Als hätte er es gehört, beginnen seine Hände zu wandern und seine Lippen intensiver zu schmecken. Ich möchte die Empfindungen, die meinen Körper durchströmen, aufschreiben. Jede noch so kleine Emotion in Worte fassen, so lange sie derartig intensiv und klar sind. Sie erfüllen meinen gesamten Körper. „Robin." Seine Lippen flüstern meinen Namen. Ich lechze nach ihrem Geschmack. Ein weiteres Mal wiederholt sich mein Name, doch diesmal klingt er anders. Ein Rütteln. Ein Ruckeln. Ich öffne meine Augen und sehe direkt in Jeffs fragendes Gesicht. Er hat meine Nachtischlampe angeschaltet und berührt meine Schultern. „Hey, alles okay?" „Was ist los?", frage ich schlaftrunken. Jeffs Augenbraue hebt sich. „Das will ich von dir wissen. Du hast wie im Fieberwahn gekeucht." Mit diesen Worten beginnt Jeff zu schmunzeln. Doch sein Gesichtsausdruck ändert sich als ich mich aufrichte und mir dabei die Decke von den Beinen rutscht. Beim Aufsetzen spüre ich bereits den Druck in meinen Lenden. Nur schwer verkneife ich mir ein Aufkeuchen. Als ich zu Jeff sehe, erkenne ich, dass er mir verdächtig in den Schritt starrt. „Wow, der Traum muss der Wahnsinn gewesen sein. Das kenne ich gar nicht von dir", kommentiert er mit einem verdächtigen Halbgrinsen. „Guck nicht so. Ich bin auch nur ein Mensch", erwidere ich schwach, raffe die Decke zusammen und verdecke meine verräterische Körpermitte. Damit versperre ich ihm die Sicht. „Ja, aber ein sonst so beherrschter. Willst du mir von deinem Traum erzählen? So lange hattest du noch gar nicht geschlafen." Ich möchte ihm erklären, dass man nicht nur in einer Phase des Schlafes träumt, doch ich lasse es. „Wieso bist du noch wach?", frage ich stattdessen. „Ich bin wieder wach. Deine Geräusche haben mich geweckt", stichelt Jeff weiter. Ich glaube ihm kein Wort. Jeff schläft normalerweise, wie ein Stein und nichts kann ihn wecken. Dementsprechend sehe ich ihn skeptisch an. Doch Jeff steigt nicht darauf ein. „An wen hast du gedacht?", stichelt er weiter und drückt mir auch noch seinen kalten pieksigen Finger in die Seite. Ich murre. „An niemanden. Wieso denkst du, dass ich an jemand bestimmten gedacht habe?" Es könnte auch eine tanzende Kuh gewesen sein. Oder ein Einhorn. „Die kleine Rothaarige aus der Mensa?", rät er drauflos. Garantiert nicht. Ich schenke ihm einen ablehnenden Blick. Jeff gibt keine Ruhe. „Oh, die kleine Inderin, von der du erzählst hast?" Shari. Schon eher, aber nein. Ich gähne aufwendig in der Hoffnung, dass Jeff meinen Wink versteht und denke trotzdem an ihre seidigen, schwarzen Haaren, die über ihre zarten Schultern fallen, wie warmer Sommerregen. Oh ja, ich stehe auf Schwarzhaarige. Jeff grübelt angeregt weiter und gibt noch ein paar Beispiele zum Besten. Nichts davon ist schlimmer als die Rothaarige, aber es wird auch nicht viel besser. „Jeff, es ist spät und du nervst. Lass mich in Frieden." Ich gähne erneut. „Ach komm schon. Verrate es mir!" Ich lasse mich demonstrativ wieder ins Bett sinken, wende ihm dem Rücken zu und drücke mir das Kissen aufs Ohr. Jeffs Hand liegt auf meinem nackten Unterarm und rüttelt augenblicklich an mir rum. Wie ein Kind. Dumpf höre ich sein Lachen und spüre die erhoffte Bewegung, die ihn in sein eigenes Bett zurückführt. Ich kann nicht mehr einschlafen, denn meine Gedanken kreisen um meinen Traum. Kain. Seine Worte und auch, wie er sie mir entgegen geraunte. Aber ich denke an das doofe Grinsen bei seinem Abgang vorhin. Ich schnaube missmutig in mein Kissen. Er hat nichts weiter getan, als mich aufzuziehen. Das Schlimme ist, dass ich es sogar irgendwie verstehe. Ich kann froh sein, dass Kain nicht wütend geworden ist. Immerhin ist es nicht unbedingt normal, dass man selbst zum Fantasieobjekt für einen verrückten Schreiberling wird. Der Gedanke an die Nähe seines warmen Leibes als ich mich in diese doofen Ringerposen zwang. Mein Gehirn knüpft automatisch wieder an die Sexszene in meiner Geschichte an. Kain ist sicher von der dominanten Sorte. Er sagt, was er will. Weil mich interessiert, ob er den anderen kriegt, wiederholen sich erneut seine Worte in meinem Kopf. Wieder durchfahren sie mich wie kleine, heiße Schauer. Gänsehaut auf jedem Millimeter meines Leibes. Nach einer unruhigen Stunde stehe ich leise auf und setze mich an meinen PC. Ohne Umschweife beginne ich zu tippen. Die Worte fließen nur so aus mir heraus. Mein Herz hämmert und brüllt, so laut, dass ich fast glaube Jeff würde es hören können. Als Jeffs Wecker leise klingelt, habe ich vier Stunden am Stück geschrieben. Mein Mitbewohner regt sich langsam und unmotiviert. Er dreht sich mehrmals hin und her bis er sich endlich aufrichtet. „Wie lange bist du schon wach?", fragt er mich verschlafen, nachdem er mich einen Moment angeblinzelt hat. Ich antworte ihm nicht. In meinem Kopf schwirren die Worte und Szenen der Geschichte umher. Meine Hand legt sich auf meinen Unterbauch und dann lese ich den letzten Satz des Textes erneut. Automatisch spult sich der gesamte Inhalt ab. Meine Hand wandert tiefer. Durch meine dünne Stoffhose spüre ich deutlich meine Erregung. Gut, dass ich mit dem Rücken zu Jeff sitze. Meine Atmung ist schwer, aber leise. Ich spüre die Aufregung in meinem ganzen Körper und trotzdem auch Müdigkeit. Ich sehe zu meinen Mitbewohner, der bedeppert in seinem Bett sitzt und keinen wacheren Eindruck macht. Seine Decke ist verrutscht und legt große Teile seines schlanken Körpers frei. Mir fallen zum ersten Mal die kleinen roten Male auf seiner Brust auf. Drei prägnante Bissspuren, die sich am unteren Rand eines Rippenbogens befinden. Jeff stellt sein Bein auf und die Decke rutscht noch weiter runter. Natürlich ist die freigelegte Seite mir zugewandt. Ich höre ihn leise seufzen und nutze seine Tranigkeit um mich in mein eigenes Bett zu setzen. Im Schneidersitz lehne ich mich gegen die Wand und ziehe mir die Decke über die Beine. Meine Bewegungen wecken Jeffs Neugier und er blickt zu mir. „Deck dich wieder zu Jeff. Ich kriege Frostbeulen, wenn ich dich nur ansehe." Ich schiebe meine eiskalten Finger unter die Decke und friere wirklich, aber das ist nicht der eigentliche Grund, warum ich will, dass er sich verdeckt. Obwohl ich gerade mehrere Stunden meinen Kopf entlüftet und alle meine verqueren Gedanken herausgeschrieben habe, beginnt es erneut in mir zu arbeiten. Die Bissspuren auf Jeffs Haut sind ein zusätzlicher Trigger. Er und Abel im Bett, wie sie wild und hemmungslos herumtollen. Jeff grinst, kommt aber nicht auf die Idee sich zu zudecken. „Selbst schuld, wenn du wieder Stunden lang an deinem Rechner rumhockst. Es ist mir ein Rätsel, wie du frieren kannst, obwohl du seit neusten langärmlig pennst. Das hast du früher nie gemacht." Seit Neusten ist gut. Ich mache es seit wir Zimmergenossen sind und verhindere damit, dass Jeff einen Einblick auf eine bestimmte Stelle meines Körpers kriegt. Meinen Rücken. „Es schützt mich vor deinen gierigen Blicken", gifte ich ihm entgegen und bin mir sicher, dass Jeff weiß, dass das nicht böse gemeint ist. Schließlich mache ich, dass schön länger als mir seine Homosexualität bekannt ist. Jeff zieht die Spitze seiner Decke etwas hoch, so dass der untere Knutschfleck verschwindet, mehr jedoch nicht. Ich versuche es auf einen anderen Weg. „Willst du nicht endlich aufstehen oder hast du deinen Wecker klingeln lassen, weil du das Geräusch so geil findest. Piep. Piep. Piep.", imitiere ich drauflos. Das Intervall meiner Piep-Geräusche zieht schnell an. Mit einem Mal kommt mir Jeffs Kissen entgegen geflogen. Es kommt auf meinem Schoss zum Liegen. Neugierig sieht Jeff, um zu gucken, ob er getroffen hat. „Bravo, in der freien Natur hättest du mich gegebenenfalls bewegungsunfähig gemacht. Aber nur vielleicht." „Gut, fehlt ja nur noch der gezielte Gnadenschuss." Nun wirft er mir sein einziges Kuscheltier entgegen. Dieses fange ich ab. Ich betrachte den kleinen Igel in meinen Händen und komme nicht umher zu lächeln. Jeffs ältester Freund. Ich finde mutig, dass er das Ding mit in die Universität gebracht hat, aber Jeff macht sich aus so was nichts. Irgendwie auch bewundernswert. „Tu mir einen Gefallen und schaue Borsti nicht an als würdest du ihm gleich den Kopf abdrehen.", jammert Jeff plötzlich. Ich kann gar nicht so schnell reagieren, wie er nackt auf mich zu kommt, das Kuscheltier und sein Kissen schnappt. Letzteres drückt er sich grinsend vor den Schritt und wandert zu seinem Kleiderschrank. Er ermöglicht mir den vollen Blick auf seinen Allerwertesten. „Jeff...", gebe ich quengelig von mir und halte mir entgeistert die Augen zu. Seit wann ist mein Jugendfreund so schamlos? Abel muss daran Schuld haben. Ganz bestimmt. Ich traue mich nicht aufzusehen. „Hast du heute noch etwas vor?", fragt er mich nach einer Weile und ich schüttele mit vorgehaltenen Händen meinen Kopf. „Nur die drei Sonntags-S", sage ich lapidar und schiele durch zwei meiner Finger hindurch. Mittlerweile hat Jeff etwas an und ich lasse meine Hände sinken. „Spielen. Spaß. Sex? Halt, das wäre mein Tag", kommentiert er grinsend und findet sich sagenhaft witzig. Er giggelt und hickst. Ich ärgere mich, dass ich gerade nichts zum Werfen habe. „Urkomisch. Ich meine lediglich schlafen. Schreiben. Smoken." „Ich dachte, du hast aufgehört?" Er meint das Rauchen. „Nur reduziert." Das ist immerhin nicht gelogen. Jeff raunt, aber nicht minder theatralisch als er normalerweise seufzt. Jeff würde mit der Vielfalt seiner Seufzer Preise gewinnen. Der nächste Sieger vom Supertalent. Er würde damit das Niveau deutlich heben. Wenigstens kommt er mir diesmal nicht mit meiner Mutter. Das nenne ich einen Sieg auf ganzer Linie. „Komm doch mit, dann hab ich wegen dem Rauchen ein Auge auf dich", schlägt er vor und zieht sich über sein Hemd noch einen dicken Pullover. "Wohin?", frage ich vorsichtig. "Da gibt es so ein Festival mit Livemusik und Rummelkram." Ich ziehe meine Augenbrauen derartige zusammen, sodass ich wirklich Ähnlichkeiten mit dem roten Vogel von Angry Birds haben muss. „Nee. Iié. No. Niet. Ugui. Ag. Nej und für dich auch noch mal: Nein. Nö. Näää~" Ich hab kein wirkliches Sprachtalent, aber Nein ist das einzige Wort, was ich in fast jeder Sprache sagen kann. Und Eis. „Oh, ein paar davon sind neu", kommentiert Jeff meinen Sprachsalat und ich frage gar nicht erst, warum er das erkennt. „Da kannst du mal sehen, wie aufgeschlossen ich bin." „Sicher doch. Ich bin bestimmt die Nacht über weg. Ist das okay für dich?", fragt er vorsichtig und verursacht sofort ein komisches Gefühl in meiner Magengegend. Wieder denke ich an den Schwarzhaarigen und beiße mir auf die Unterlippe. Mein Schweigen versteht er als Verneinung. „Soll ich mit Kain reden? „Und dann?" „Na ja, dann kommt er nicht mehr her. Er kann sich auch einen anderen Schlafplatz suchen. Zu seiner Alten gehen zum Beispiel!" Ich mag, wie Jeff die Rothaarige bezeichnet. „Sie ist seine Ex. Sie haben nur Sex miteinander.", berichte ich freimütig und weiß nicht, warum ich das an Jeff weitergebe. "Oh. Na gut, er kann ja trotzdem..." „Lass gut sein", unterbreche ich ihn, "Ich habe keine Lust der Oberböse dieser Geschichte zu werden." Obwohl ich einen fantastischen Lord Voldemort abgeben würde. Davon bin ich überzeugt. Ich weiß nicht, wie ich auf Harry Potter komme, aber in diesem Moment nehme ich mir vor die Bücher noch mal zu lesen. Vielleicht leiht mir Shari ihre Exemplare. „Für Kain sind das sowieso Abel und ich. Also mach dir darüber mach keine Gedanken." Ein seltsames Lächeln liegt auf Jeffs Lippen. Es belastete ihn. Wahrscheinlich blockte er Anfragen auf Stelldicheins in unserem Zimmer ab, weil er genau weiß, dass ich wirklich nirgendwo hin kann. Ungestört sind sie nur bei Abel und das nur, wenn Kain weg ist. Das ist weder leicht für die beiden, noch ist es das für Kain. Allerdings ist es auch nicht mein Problem. Immerhin hätte Jeff mich auch einfach fragen können, was er nicht tat. Fünf Monate lang. „Gut, ich hau dann ab und treffe mich mit Abel in der Stadt." Ich nicke es ab und sehe dabei zu, wie Jeff das Zimmer verlässt. Bevor ich die Augen schließe, nehme ich meine Kopfhörer vom Schreibtisch und lasse mich eine Weile berieseln. Die Situation ist wirklich seltsam. Jeff und Abel. Kain. Diese vielen seltsamen Gedanken, die unentwegt durch meinen Kopf geistern. Kains Reaktion darauf. Es sollte ihn nicht interessieren, was ich schreibe und über wen. Es sind meine Gedanken und ich hatte nicht vor sie zu veröffentlichen. Ich seufze fahrig und begreife immer noch nicht, warum es das Schicksal derartig schlecht mit mir meint. Andererseits, wie hätte ich darauf reagiert, wenn ich erfahren würde, dass jemand solche Dinge über mich schreibt? Ich würde mich wahrscheinlich nur wundern, weil ich für gewöhnlich nicht der Typ bin, der einen Starauftritt in den Fantasien anderer hat. Wäre mir jedenfalls neu. Ob Jeff manchmal so über mich nachdenkt? Wir kennen uns jetzt schon so lange und ich bin garantiert einer der ersten anderen Männer gewesen, die er ohne Bekleidung gesehen hat. Wir duschten zweimal wöchentlich in der Schule zusammen. Oft auch allein. Ich habe nie gemerkt, dass mich Jeff irgendwie anders angesehen hat. Meine Gedankenkarussell endet letztendlich damit, dass ich feststelle, dass alle Sex haben nur ich nicht. Jeff und Abel. Kain schläft mit Mera. Mira? Oder ist es doch Merino? Nein, das ist das Schaf. Egal! Alle haben Sex, nur ich nicht. Deprimierend, aber ich tue auch wenig dagegen. Ich begnüge mich zurzeit mit meiner eigenen Fantasie und das ist gar nicht schlecht. Immerhin weiß ich, was mir gefällt. Sofort denke ich an die Passage, die ich heute Nacht wegen Kain verfasst habe. Sein Körper ist wirklich ansehnlich. Ohne Frage. Meine Fingerkuppen beginnen zu kribbeln als ich darüber nachdenke, wie es sich anfühlt über die festen Muskeln zu streicheln. Tausende Bilder breiten sich in meinem Kopf aus. Es kitzelt und kribbelt überall. Es lässt selbst meine Zehen pulsieren. Abel und Jeff. Kain und die Rothaarige. Was findet er an ihr? Sie ist nicht mein Typ und doch formt sich in meinem Kopf das Bild, wie sie es miteinander treiben. Ihr langen roten Locken, die über ihren Rücken streichen, während sie sich rhythmisch auf ihm bewegt oder das Spiel von Kains Muskeln, während er sie von hinten nimmt. Meine Hand legt sich auf meinen Unterbauch, wo sich das Kribbeln langsam bündelt und in meine Lendenregion ausstrahlt. Mein Gehirn blendet ihr Gesicht vollkommen aus. Kains allerdings nicht. Und plötzlich gibt nur noch das Bild von Kains athletischen Körper in meinem Kopf, der sich dicht an den eines anderen gepresst wird. Die Hitze in mir schwelt und ergreift von mir besitz. Sie ist tief und intensiv. Meine Hand gleitet tiefer, trifft auf die Härte meiner eigenen Erregung, während die andere meine Stoffhose hinabzieht. Meine Augen halte ich geschlossen, male unbewusst das Bild der engumschlungenen Körper weiter. Rhythmisches Stoßen. Fahriges Keuchen. Tiefes Stöhnen. Wie sich wohl Kains erregte Stimme anhört? Wieso denke ich in diesem Moment ausgerechnet an ihn? Ich verstehe es selbst nicht, doch es ist mir auch egal. Er wird es nie erfahren. Meine Finger schließen sich um meine Härte. Mit Zeigefinger und Daumen bilde ich einen festen Ring. Ich lasse ihn gleiten, spüre die Reibung und den immer stetig werdenden Druck in meiner Lendengegend. Das habe ich schon lange nicht mehr getan. Es fühlt sich gut an. Meine Bewegungen sind nicht schnell, aber intensiv. Ich lasse meine Eichel in die Handfläche gleiten, verreibe die ausgetretenen Tropfen meiner Lust über die empfindliche Haut ehe ich die gesamte Länge abfahre. Meine Lenden zucken. Die Feuchtigkeit intensiviert das Gleiten. Die Wärme meiner Hand lässt mich wohlig keuchen und meine Bewegungen werden etwas schneller. Mein Puls beschleunigt sich zusehends, während sich mein Atem mehr und mehr in leises ekstatisches Stöhnen wandelt. Ich genieße den Druck, der sich in mir aufbaut. Als ich kurz davor bin, presse ich meine Finger an der Wurzel zusammen, hindere mich so selbst am Kommen. Für einen Moment spüre ich nur noch, wie sich mein Herz hart gegen meinen Brustkorb rammt. Wieder und wieder. Es fühlt sich gut an. Mein Atem ist schwer und stetig. Ich keuche und lehne meinen Kopf gegen die Wand. Mit der Zungenspitze gleite ich über meine Oberlippe und das entstehende Kitzeln lässt meine Haut pulsieren. Meine Augen sind die ganze Zeit geschlossen, während der gute Druck langsam abebbt. Ich beginne erneut, mich zu pumpen und genieße die stetige Reibung. Mit der freien Hand bedenke ich den Rest meines Körpers. Mein Shirt hebt sich dabei an und legt meinen Oberkörper frei. Kühle Luft trifft auf meine Haut und lässt meine Nippel hart werden. Es ist eine willkommene zusätzliche Stimulation. Ich spüre die feine Definierung der Muskeln meines eigenen Bauches unter meinen Fingern. Meine Figur ist eher von sehniger Natur, aber ich bin nicht so schmal, wie man glaubt. Und doch denke ich so gleich an den muskulösen Körper des anderen Mannes. Die Vorstellung den trainierten Leib zu streicheln, beflügelt mich. Ich beiße mir sachte auf die Unterlippe und pumpe schneller. Diesmal komme ich, sehe mir mit halbgeöffneten Augen dabei zu, wie ich mich über meine eigene Hand ergieße. Warme Feuchte auf meinen Fingern. Einen Moment lang bleibe ich einfach so sitzen. Ich lehne meinen Kopf zurück und versuche meinen Herzschlag wieder unter Kontrolle zu bekommen. Die gigantische Ausschüttung von Hormonen flutet mein Gehirn. Sie machen mich dösig und seelenruhig. Das Gefühl von Befriedigung durchrollt mich, wie eine allumfassende Welle. Ein fahriges Keuchen perlt von meinen Lippen als meine feuchte Hand betrachte. Ein leises Klicken. Ich blicke auf. Nichts. Nur Stille. Es folgt ein leichtes Knurren und Grummeln, welches in meiner Magengegend zu verorten ist. Hunger. Es ist nicht das einzige Gefühl, welches mich in diesen Moment erfasst. Ich empfinde tatsächlich ein wenig Scham, wenn ich daran denke, wer mich dazu getrieben hat. Kain. Ich muss unbedingt diese Fantasien loswerden. Irgendwie. Ich krame in meinem Nachtschrank nach ein paar Taschentüchern und schaffe es, noch ein paar Stunden zu schlafen. Kapitel 5: Asimov’sche Gesetze für Anfänger und Fantasiefiguren --------------------------------------------------------------- Kapitel 5 Asimov'sche Gesetze für Anfänger und Fantasiefiguren Jeff lässt sich nur kurz am Abend blicken. Die restliche Zeit habe ich meine Ruhe und schaffe es ein gutes Stück des neuen Buches zu skizzieren. Grobe Züge des Plots und die Konfliktpunkte. Die Storylines der Hauptfiguren und ein paar Ansätze der Nebenfiguren. Es wird ein Drama vom Feinsten. Brigitta wird mich lieben und rösten. Und danach wieder lieben. Sie ist eine Dramaqueen. Ich lese noch einmal die Passagen des vorangegangenen Romans, in denen die beiden jetzigen Protagonisten als Nebenpersonen auftreten und verfeinere deren Charakterzüge. Ich liebe es meinen Charakteren seltsame Eigenarten anzuhängen und ihnen damit Menschlichkeit zu offerieren. Niemand ist unfehlbar und keine Romanfigur sollte es versuchen, denn nichts ist langweiliger als Perfektion. Das weiß ich nur zu gut. Selbst solche Leute wie Kain, die scheinbar erhaben über Allem stehen, wissen das es unmöglich ist. Denke ich jedenfalls. Obwohl er vermutlich das Gegenteil behauptet. Kain. Schon wieder schummelt sich der Schwarzhaarige in meine Gedanken. Wie kann er sich einbilden, dass ich ihn irgendwann meine Geschichten lesen lasse und vor allem, wie kann er sich dessen so überaus sicher sein? Murrend widme ich meine Aufmerksamkeit wieder dem Roman in meinen Händen und lese ich noch ein weiteres Kapitel. Beim Lesen merke ich, wie sich das Gefühl wiederbelebt, welches ich damals beim Schreiben empfunden habe. Auch ich habe mich schon versehentlich und ungünstiger Weise in eine fremde Beziehung gedrängt. Genauso, wie es die Figur in meinem Roman tat. Ich möchte das Versehentlich betonen, da ich nach einem One-Night-Stand nicht damit gerechnet habe, dass sie weiterhin den Kontakt zu mir sucht. Für mich war es etwas Einmaliges und hatte rein gar nichts mit Gefühlen zu tun. Seither lasse ich die Finger von Mädels aus meiner unmittelbaren Umgebung. Das bringt nur Ärger. In meinem Roman baute ich daraus ein Intrigengespinst und muss mir eingestehen, dass ich mit dem wiederholten Lesen wieder Gefallen an einer der eher unscheinbaren Nebenfiguren finde. Ein rothaariges Miststück. Rena. Ein Wink des Schicksals? Kurz entschlossen entscheide ich mich dazu weitere Charaktere wieder aufzunehmen und entwerfe eine Prioritätenliste für ihr Auftauchen und Rolle im Skript. Danach tippe ich die Zusammenfassung für Shari zusammen. Ich organisiere es als eine Art Arbeitsmaterial, welches am Ende die wichtigsten Fakten und Daten als zu beantwortende Aufgabenstellung zusammenfasst. Schließlich möchte sie etwas lernen und nicht alles vorgekaut bekommen. Sechs Seiten. Ich bin zufrieden. Die Nacht verbringe ich allein. Kein Jeff. Kein Kain. Kein gesprochenes Wort. Unsagbare Erholung. Auch die nächsten Tage verlaufen erschreckend ruhig. Fast, wie früher. Jeff liegt am Abend brav in seinem Bett und Kain scheint mir aus dem Weg zu gehen. Womöglich hat mein liebreizender und schrecklich gutgelaunter Mitbewohner und Jugendkumpan wirklich mit ihm geredet. Seltsamer Weise bin ich mir nicht sicher, ob ich das gut oder schlecht finde. Am Dienstag fängt mich Jeff vor der Mensa ab. Das Funkeln in seinen Augen lässt mich Böses ahnen und ich habe Recht damit. Als Abel zu uns stößt, berichtet mir er gerade von den geplanten Wohnheimpartys. Anscheinend haben sich ein paar der weniger engagierten Studenten kreativ betätigt und einen Semesterpartyplan ausgearbeitet. Jede Woche eine Party. Jede Woche ein anderes Wohnheim. Simpel, aber effektiv und damit in seiner Einfachheit besonders grausam für die weniger Gesellschaftsaffinen Personenkreise. Wirklich jeder darf in den Genuss kommt, am nächsten Tag den Dreck anderer wegmachen zu müssen. Die beiden blonden Männer sind begeistert und für mich ist, wie immer Gegenteiltag. Obwohl ich es zum Ausdruck bringe, hindert es sie nicht daran, mich mit den Vorteilen einer solchen Veranstaltung zu bombardieren. Gespräche, Spaß und Abwechslung. Für mich eine Beschreibung der sieben Todsünden. Ich benutze seit etlichen Jahren das gleiche Shampoo, wenn ich Abwechslung möchte, wurde ich als erstes das verändern. Jeff nutzt sein Talent für das schnelle Plappern und versucht mich gedanklich abzuhängen. Ohne Punkt und Komma. Mein Gehirn schaltet sich unweigerlich langsam ab und das Gerede wird zur Geräuschuntermalung. Trotzdem habe ich das Gefühl, bald eine zentnerschwere Argumentationskette hinter mir her zu schleifen. Ziemlich hinderlich, wenn man dadurch nicht mehr in der Lage ist sich einen Nachtisch auszusehen. Bevor ich mich für einen Pudding entscheiden kann, zieht mich mein Freund schwadronierend zur Kasse. Jeff schwafelt noch immer über die evolutionäre Entwicklung des Menschen und die damit einhergehende Notwendigkeit von gesellschaftlichen Zusammenschlüssen als wir bereits fünf Minuten am Tisch sitzen. Säugetiere bilden Gruppen und das schon seit Jahrtausenden. Schön für uns. Auch die Dinosaurier bildeten Herden. Toll! Ich bin nie Dino gewesen. Nicht einmal beim Kinderfasching. Trotzdem beginne ich mich in diesen Augenblick zu bemitleiden, weil ich noch nicht ausgestorben bin. Ich will Pudding. Seine Argumente sind an und für sich gut, trotzdem habe ich keine große Lust mit ihm und seinem Anhang zu der Wohnheimparty zu gehen. Auch, wenn sie ausgerechnet in unserem Gebäudekomplex stattfindet. Jeffs Arm legt sich beschwichtigend auf meine Schultern. Dabei zieht er mich auf dem Stuhl zurück. Ein weiteres Mittel, um mir zu verdeutlichen, wie einnehmenden Jeff sein kann. ich ächze mürrisch und lasse genervt mein Besteck am Tellerrand liegen. Ich biete ihm entgegen meiner sonstigen Art, eine weitere Möglichkeit mich zu überzeugen und weiß, dass Jeff sie gut nutzen wird. "Komm schon! Es wird dir nicht schaden mal unter Leute zukommen. Im schlimmsten Fall lernst du ein paar nette Menschen kennen." Ich werfe meinen Jugendfreund einen angewiderten Blick zu. Menschen? Mir sind schon die zu viel, mit denen ich gerade am Tisch sitze. "Tja, das kann ihm sehr wohl schaden. Möglicherweise kommt es in seinen Schaltkreisen zu einem durch zu viel Freundlichkeit verursachten Kurzschluss. Nicht auszudenken!" Kain ernste Stimme durchbricht Jeffs Überzeugungstirade und sein Tablett landet lautstark auf dem Tisch als er sich auf den leeren Platz setzt. Er grinst. Seit Samstag treffen wir das erste Mal wieder aufeinander und er haut mir gleich so was um die Ohren? Das Spiel können zwei spielen. Doch ich halte mich erstmal zurück. Abel kichert und beginnt sein Mittagessen auf dem Teller zu ordnen. "Willst du damit andeuten, dass Robin ein Roboter ist? Schwachsinn", kommentiert Jeff verteidigend. "Bist du dir da sicher? Und meines Wissens nach bevorzugen sie den Begriff Androide.", spinnt Kain verschwörerisch weiter und lächelt mir ebenso entgegen. Es fehlt nur noch, dass er mir einen Finger in die Wange bohrt und sich über die Echtheit meine Haut echauffiert. "Ich habe ihn schon bluten sehen!", merkt Jeff an und nimmt damit keinerlei Wind aus den Segeln dieser absurden Diskussion. Im Gegenteil. "Die Humankybernetik und Robotik machen große Fortschritte!", kontert der Schwarzhaarige, "Es wird alles immer lebensechter." „Kain muss wissen. Er ist schließlich der Biotec-Typ.", mischt nun auch Abel mit und klingt dabei vollkommen überzeugt. „Kain begafft Hefe", berichtige ich abfällig und versuche nicht mal, es nicht lächerlich klingen zu lassen, "Biotechnologie hat nichts mit Bionik, Robotik oder biologischer Kybernetik zu tun." Trotzdem werfe ich danach einen kurzen Blick zu Kain und sehe zurück auf mein Essen als ich bemerke, dass er mich mustert. „Egal, ob Hefe oder Androide, beides sind asexuelle Lebensformen", gibt Kain ebenso provozierend zum Besten. Ich hebe wenig amüsiert meine Augenbraue, während Abel heftig zu lachen beginnt und das Gespräch gleich darauf auf die Möglichkeit von Sexbots lenkt. Es gibt wohl einen großen Markt in Japan. Woher er das bloß weiß? „Macht doch eine Massenbestellung, vielleicht bekommt ihr Rabatt", kommentiere ich deren Enthusiasmus als der sexuell angehauchte Schlagabtausch unangenehme Formen annimmt. „Wozu? Für Tests haben wir doch dich...", sagt Abel. Auf seinen Lippen ein verräterisches Grinsen. „Ein sehr echt wirkendes Exemplar", ergänzt Kain. Ich ziehe mir demonstrativ die Kopfhörer auf und verdeutliche dem scheinchristlichen Zimmerpärchen gestisch meine Ansicht dazu. Schon wieder ein dämlicher Kommentar über meine Sexualität. Was soll das? Es kann schließlich nicht jeder wie ein hormonverseuchter Lackaffe durch die Gegend vögeln und sich in Grund und Boden kopulieren. Sie diskutieren weiter. Ich erkenne es an ihren lachenden Gesichtern, aber muss es zum Glück nicht mehr hören. Schweigend und die Gruppe ignorierend vertilge ich die Reste meines Mittagessens. Ab und an sehe ich zu Abel, weil er mir direkt gegenüber sitzt und lächerlich auffällig mit seinem Essen kämpft. Irgendwann legt sich ein weiteres Mal Jeffs Arm an meine Schulter. Seine Finger berühren meinen Nacken und mein Blick wandert zum Profil meines langjährigen Freundes. Jeff nimmt mich in Schutz, das macht er seit unserer Schulzeit. Mir ist nicht einmal bewusst, warum und er muss es auch nicht tun, denn ich kann mich gut allein wehren. Jedoch sehe ich nur selten die Notwendigkeit darin, weil es mir schlichtweg egal ist, was andere von mir denken. Dennoch merke ich, dass sich Jeff in all den Jahren verändert, auch wenn die Gesten und Handlungen dieselben sind. Er hat sich weiterentwickelt und ich habe das Gefühl, dass ich irgendwie und irgendwo stehengeblieben bin. Und ich habe es nicht mal gemerkt. Jeff sieht zu mir, lächelt und ich wende meinen Blick ab, sehe direkt in Kains braune Augen, die mich erneut mustern. Auch von diesen wende ich mich schnell ab. Stattdessen schaue ich zurück auf Abels Teller. Seit gut zehn Minuten versucht er eine gleichmäßige Verteilung aller Menübestandteile seines Tellers auf die Gabel zu bekommen. Anscheinend ein Ding der Unmöglichkeit, da bei jedem Versuch das Arrangement zum Mund zuführen, mindestens ein Teil wieder herunter fällt. Es ist faszinierend mit anzusehen, dass er jedes Mal von neuem beginnt, statt den auf dem Besteck befindlichen Teil in den Mund zustecken oder die Menge zu verringern, die er verspeisen will. Mein Blick schweift über die anderen Teller. Jeffs und Kains. Bei ihm das gleiche Spiel, doch da sein Teller bereits leerer ist, scheint er im geringen Maß erfolgreicher zu sein als sein Mitbewohner. Erneut purzelt Abel Fleisch von der Gabel. Nun knurrt er leicht, kommt aber nicht auf die Idee, seine Taktik zu ändern. Ein Hoch auf die Evolution. Ich komme nicht umher, darüber nachzudenken, dass es ganz gut ist, dass Abel sich höchstwahrscheinlich nicht fortpflanzen wird. Ein kleiner feiner Kniff der Evolution oder Gott mit einem perfiden Sinn für Humor, je nach Glaubenseinstellung. Was will Jeff nur mit so einen Vollpfosten? Ein weiteres Mal leert sich seine Gabel bevor er etwas in den Mund stecken kann. Unfassbar. "Gut, dass wir es nicht mehr nötig haben unser Essen zu jagen", kommentiere ich nun doch. Abel blickt auf. Genauso, wie Kain und Jeff. "Was?", stößt Jeff verwundert aus. "Abel verhungert vor vollem Teller", ergänze ich trocken. Drei Augenpaare richten sich auf den Teller des blonden Mannes. "Wenn sich mein Essen nun mal wehrt." Abel lacht unschuldig auf. "Ja, mit Händen und Füßen! Pass auf, dass es nicht dich frisst", sage ich sarkastisch. Ich habe es lange genug mit angeschaut und sehe meine evolutionäre Notwendigkeit nach gesellschaftlichen Kontakten hiermit als erfüllt an. Möge der Stärkere gewinnen und Abel fressen. Ich greife mein Tablett und stehe auf. „Viel Glück beim Überlebenskampf", kommentiere ich Abels erneuten Versuch. „Äh, danke!", erwidert Abel dümmlich. „Ich meinte dein Essen." Damit gehe ich. An der Geschirrablage verstaue ich meine Essensreste im Müll und trabe schlecht gelaunt zum Eisautomaten. Seit dem letzten Sommer existieren diese herrlichen, glückbringenden Maschinen auf dem Campus und ich bin ihr bester Kunde. Sie nerven mich nicht, widersprechen nicht und geben mir was ich will. Eis. Ja, ich fühle eine tiefe Verbundenheit mit dem aus Plastik und Elektronik bestehenden Kasten und ich schäme mich nicht es zu zugeben. Ich suche freudig erwartend nach meiner Mensakarte und finde sie schnell in meiner Jackentasche. „Robin?", ruft jemand meinen Namen. Ich setze ungerührt meine Tätigkeit fort und ziehe mir ein Eis aus dem Automaten. Sicher bin nicht ich gemeint. Der einzige Vorteil eines Unisexnamen. Es könnten viele gemeint sein. Leider nicht in diesem Fall. "Können wie kurz reden?" Ich lasse mein Eis sinken als Kain neben mir stehen bleibt. Reden. Ich habe keine Lust mit ihm zu reden. Nun hätte ich doch gern einen Ausschalter, den keiner kennt. Die Finger meiner linken Hand betten sich gegen die Scheibe des Geräts und ich streiche kurz über das kühle Plastik. „Es hätte so schön sein können mit uns", murmele ich leise dem Automaten entgegen und widerstehe dem Drang einfach meinen Kopf dagegen zuschlagen. Kain räuspert sich und ich atme sichtbar ein. „Was sollte das eben?", fragt Kain. Ich atme aus. „Bist du wirklich hier um Abels Kämpfe auszufechten?", frage ich bissig. Kain schnauft. „Als würdest du deine Angelegenheiten selbst regeln. Du schickst auch Jeff vor..." Daher weht der Wind. Ich habe keine Lust auf weitere Gespräche. Noch einmal atme ich ein, doch ehe ich mich wehren kann, spricht er weiter. "Abel ist alt genug um sich allein zu wehren, aber ich habe mit dem Scheiß angefangen und nicht er." Doch er ist hemmungslos eingestiegen. Ich sehe Kain unbeeindruckt an und versuche dann mich an ihm vorbeizuschieben. „Schon klar, denn bei Abel würde so ein Scherz eine monatelange Vorbereitung in Anspruch nehmen und dann müsste er ihn sich auch noch aufschreiben." Kain Mundwinkel zucken nach oben. Nur für einen kurzen Moment, aber dennoch deutlich. Danach entsinnt er sich seiner eigentliche Mission und hält mich zurück. „Heißt nicht eines von Asimovs Gesetzen, dass kein menschliches Wesen wissentlich verletzt oder durch Untätigkeit zu Schaden kommen darf? Das betrifft physischen, wie psychischen Schaden. Sei auf mich sauer." „Kain, der heilige Samariter klingt besser als Kain, der tölpelige Bauer! Keine Sorge, ich bin auf dich sauer." Asimovs Gesetze? Sein ernst? Nicht zu fassen. Ich drücke mich deutlich an ihm vorbei und pfriemele endlich mein Eis aus der Verpackung. „Verdammt noch mal, was ist eigentlich dein Problem?" „Menschen sind mein Problem! Trotz meiner gewieften Elektronik verstehe ich einfach ihre Verhaltensweisen nicht", kontere ich angeheizt und lote dabei absichtlich das Roboterthema aus. Ich schiebe mir das Eis zwischen die Lippen und gehe. Kain folgt mir nicht und das ist auch gut so. Im Grunde sind es nicht einmal die Menschen an sich, mit denen ich Probleme habe, sondern die Nähe, die sich zwangsweise entwickelt, wenn man längere Zeit mit denselben Menschen umgeben ist. Sie ist Nährboden für Verlust, Traurigkeit und Enttäuschung. Nichts womit ich gut umgehen kann. Bestes Beispiel dafür ist Jeff. Obwohl ich es mir nicht eingestehen will, bin ich enttäuscht über sein fehlendes Vertrauen und doch werde ich nicht dazu in der Lage sein es adäquat auszudrücken. Am Abend finde ich mich trotz aller Widerstände zwischen einer Ansammlung anderer Menschen wieder. Meine Elektronik kocht, pfeift und schmorrt. Jetzt fange ich auch noch selbst damit an. Der Geruch von Bier und Schweiß ist überall. Zu viele Menschen sind auf zu kleinem Raum zu gegen. Musik dringt laut an mein Ohr. So laut, dass ich meinen Sitznachbarn nicht verstehen kann und das ist besser so. Als er beginnt über Geschöpfe der Nacht zu philosophieren, habe ich sofort ein Bild von Severus Snape aus Harry Potter im Kopf und das nicht nur, weil er eine ebenso gigantische Nase hat. Jeff setzt sich nach einer Weile auf die Lehne neben mir und drückt mir ein Bier in die Hand. Ich trinke es kommentarlos. Vorhin im Zimmer versprach er mir unter Benutzung all seiner Gliedmaßen, dass auch ich Spaß haben werde. Ich mag kein Bier. Bisher ist der Spaßfaktor gleich null. Ich erkenne nur wenige Gesichter. Jeff und Abel. Die Brünette und die Blonde, die ich öfter im Flur begegne und noch immer nicht weiß, wie sie eigentlich heißen. In einer Ecke sehe ich Kaworu. Ein Kommilitone aus meinem Fachbereich. Er ist Japaner und unweigerlich wandern meine Gedanken zurück zu den Sexpuppen. Ich habe erst letztens eine Reportage gesehen und die Bilder breiten sich gerade in meinem Gehirn aus. Ich nehme einen weiteren großen Schluck aus der Flasche und sehe mich wieder um. Die meisten Anwesenden sind aus unserem Wohnheim und trotzdem kenne ich kaum einen Namen. Ich begegne ihnen nur mal im Flur oder zufällig in den Duschräumen. Jeff erhebt sich und ich folge seinem Blick zum Eingang der Gemeinschaftsküche. Kain steht samt einem Rothaarigen im Türrahmen. Beide wirken im ersten Moment wie das Klischeepaar schlechthin. Barbie und Ken. Nur, dass sie nicht blond ist und keinerlei Vorbau hat. Sie flüstern kichernd. Ihre Lippen berühren dabei sein Ohr und ich erinnere mich an das Gefühl, wie sein warmer Atem gegen meinen Hals trifft. Das Lächeln auf Kains Lippen wird zu einem Grinsen, als sie sich ein weiteres Mal zu seinem Ohr beugt. Was sie ihm wohl erzählt hat? Ich schüttele unbewusst meinen Kopf. Wen interessiert’s. Als Jeff bei den beiden ankommt, weicht Kain etwas von ihr ab. Der Snapetyp neben mir säuselt 'Vampir' in mein Ohr und ich rieche deutlich seine Knoblauchfahne. Er ist definitiv keiner. Ich lasse mich zurück ins Polster der Couch sinken und seufze lauthals. Der Abend wird eine Katastrophe. Ich bin mir ganz sicher. Ich leere mein Bier ohne abzusetzen und bevor ich es wegstellen kann, drückt mir Snape ein Glas mit einer rötlich-braunen Flüssigkeit in die freie Hand. Er nennt es Bloody Bambi, wiederholt das Wort Bambi mehrere Mal enthusiastisch und schafft es geschlagene fünf Minuten am Stück zu lachen. Während ich ihm dabei zusehe, fällt mir zum ersten Mal auf, dass er Eyeliner trägt. Es ist seltsam passend. Ich schnuppere an dem Gebräu. Es riecht süßlich und etwas nach Medizin. Meine Augenbraue hebt sich verwundert und dann trinke ich es ohne weiter darüber nachzudenken. Der Drink besteht aus Kirschsaft, Kirschlikör und Jägermeister, wie mir Snape wenig später erklärt. Bloody Bambi passt. Ich habe mich schneller an den Geschmack gewöhnt als ich glaubte. Es ist besser als Bier. Gut, alles ist besser als Bier, wenn man mich fragt. Ein warmer Hauch trifft meinen Hals und im selben Atemzug taucht Jeffs Gesicht neben mir auf. „Lektion Nummer eins, trink nicht alles, was man dir in die Hand drückt.", säuselt er, drückt mir gleich darauf ein neues Bier in die Hand und setzt sich zurück an seinen vorigen Platz. „Sir, es tut mir Leid, aber mein Papa hat gerade gesagt, dass ich nichts von Fremden annehmen darf." „Fein!", erwidert er meine kindliche Ausführung und streichelt mir den Kopf. Gut, dass ich mir nicht die Mühe gemacht habe, mir die Haare zu stylen. Ich streiche mir die Strähnen von der Stirn und sehe zu meinem perfekt frisierten Mitbewohner. Wenn ich gegen seine Mähne tippe, wird sie wahrscheinlich in einem Stück vor sich hin vibrieren. Ich widerstehe dem Drang es auszuprobieren. Zumal ich keine freie Hand mehr habe. „Auch einen Schluck?" Ich halte ihm sowohl Bier als auch den Mix hin und grinse blöd. Mein Mitbewohner verzieht angewidert das Gesicht. „Nein, danke...Was ist das?", beäugt er meinen Drink kritisch. „Ein blutiges Rehkitz. Es schmeckt, wie diese roten Hustenbonbons... gar nicht so übel.", schätze ich ein und nicke übertrieben. Ich nehme einen weiteren Schluck. Jeff rutscht weiter auf die Sitzfläche des Sofas und verdrängt mich damit. Murrend mache ich ihm etwas mehr Platz. Seine schlanken Beine schlagen sich übereinander und er nippt an seinem Bier. Jeff trinkt schon immer das Hopfen-Malz-Gemisch. Bereits damals auf unseren Schulpartys war es stets sein Favorit gewesen und er verträgt viel. Ich kann mir nicht erklären, wo das herkommt und genauso wenig kann ich verstehen, was man an diesem herben Zeug mag. Noch dazu ist Jeff nicht mal der Typ für Bier, da er sonst eher auf süße und fruchtige Sachen steht. Auch Abel folgt Jeff auf die Couch und quetscht sich zu meinem Leidwesen zwischen uns. Missmutig rücke ich zur Seite und damit noch dichter an die Knoblauchfahne heran. Wenigsten muss ich in seiner Nähe keine Übergriffe von Vampiren fürchten. Da soll man mal behaupten, dass mir nichts Gutes passiert. Hinter Abel tauchen auch Kain und die Rothaarige auf. Es wird immer besser. Das Sarkasmusgetier in meinem Kopf schmeißt eine Runde Freibier und wiehert. Wie potenziert sich eigentlich Katastrophe? „Sieh mal an. Anscheinend hat Jeff wirklich irgendwas gegen dich in der Hand oder ist es der Tatsache geschuldet, dass du, den von einem Menschen gegebenen Befehlen gehorchen musst?", startet Kain das Gespräch als er mich auf der Couch sieht. Er setzt sich zu Snape auf die Sofalehne und grinst. Er hält ein Glas mit hellbrauner Flüssigkeit in der Hand. Vielleicht ist es Whiskey oder Scotch. Ich habe vorhin Jameson und Jack Daniels gesehen. Hartes Zeug und nicht sehr Studenten-like. Ich hätte nicht gedacht, dass Kain auf sowas steht. „Ehrlich gesagt, habe ich gute Kontakt zu seiner Mama und ich besitze etliche prekäre...", setzt Jeff an und ich unterbreche ihn schnell, in dem ich an Abel vorbei meine Hand auf seinen Mund presse. Automatisch ziehe ich meinen Kindheitsfreund damit in meine Richtung, so dass er sich über Abel lehnen muss. Jeff kichert und das folgende Gemurmel hinterlässt feuchte Spuren auf meiner Handfläche. Mit Händen und Füßen gestikuliert er, zu meinem Erstaunen, Kinderfotos und entkommt letztlich meinem Griff. „Robin war wirklich ein...", setzt er gleich darauf an und ich stürze mich ohne nachzudenken auf ihn. Jeff flieht kichernd zur Seite und ich lande größtenteils auf Abel. Ich kriege nur Jeffs Beine zufassen, während dieser versucht über die Lehne der Couch zu entkommen. Meine Finger verfangen sich eisern in den Schlaufen seiner Jeans. Er windet sich lachend. „Na warte,...", sage ich, schaffe es aber nicht ihn zurück auf das Sofa zuziehen. Er entkommt und es dauert einen Augenblick bis ich endlich von Abels Schoss wegrücke. Ich lasse mich schweratmend auf Jeffs Platz fallen und starre meinen giggelnden Mitbewohner scharf an. Unser Blickekrieg wird erst unterbrochen als sich der blonde Puffer schlagartig auf richtet. „Will noch jemand einen Drink?", fragt Abel hastig und stolpert fast über meine Beine. Kain hebt sein volles Glas in die Höhe und auch Jeff und Kains Freundin verneinen. Auf meine Antwort wartet er gar nicht und verschwindet. „Ich meine ja nur, dass deine Kinderfotos großartig sind." Noch immer ist Jeff erheitert am Giggeln. Er richtet sich auf und setzt sich wieder neben mich. Ich lasse ihn gewähren. Auch als er mir seinen Arm um die Schultern legt und lächelnd seinen Kopf gegen meinen tippt. „Robin war sicher ein ganz Süßer.", bestätigt Kain perfide lächelnd, "Schade, dass sich so was verwächst" Die kleine Spitze konnte er sich natürlich nicht verkneifen. Nun kichert auch die Rothaarige und ich schenke ihr einen kurzen bösen Blick, denn sie mit einem abfälligen Schnaufen kommentiert. Kains Name schallt durch den Raum und all unsere Köpfe drehen sich zur Tür, in der ein großer, muskulöser Typ steht. Ein Muskelberg, wie er im Buche steht mit blondierten, gegeltem Haar. Sogar die obligatorische Sonnenbrille klemmt in seinem T-Shirtkragen. Ein wandelndes Klischee. Auf Kains Lippen bildet sich ein ungewöhnlich breites Grinsen. Er springt von der Armlehne und überbrückt die Distanz mit nur wenigen langen Schritten. Die beiden Kerle werfen sich regelrecht in eine Umarmung und unweigerlich blitzt in meinem Kopf die Szene aus der Hobbit auf, als sich Balin und Dwalin freudig mit einem Kopfstoß begrüßen. Ich bin fast enttäuscht als keiner folgt. Während ich die Szenerie beobachte, setzt sich die Rothaarige auf Kains vorigen Platz. Auch sie schlägt ihre schlanken Beine übereinander und schiebt ihren Arm auf die Rückenlehne, so dass er hinter dem Snape-Typ liegt. Ihre langen Fingernägel streichen kratzend über den alten Stoffbezug der Sitzgelegenheit. Ihr Blick wandert von Jeff zu mir. Sie ist stark geschminkt und hinterlässt rote Lippenstiftspuren am Glas als sie einen Schluck von ihrem zuckersüßen Drink nimmt. „Ich habe gehört, dass du das Tutorium für die Zweitsemester über geholfen bekommen hast... und dass es niemand besucht." Sie streicht sich durch die lockige Haarpracht, als sie ihre Stichelei formuliert. Einzelne Haare verfangen sich in dem üppigen Ring ihrer Hand. Sie nimmt einen weiteren Schluck und leckt sich über die roten Lippen. Ich lehne mich entspannt zurück. „Vielleicht solltest du mal vorbeischauen. Ich habe nämlich gehört, dass du letztes Semester durch die Biochemieklausur gerasselt bist." Ich gehe nicht unbewaffnet in diesen Kampf und das soll sie wissen. „Ich wüsste nicht, was du mir beibringen könntest", spottet sie mir verächtlich entgegen, wischt sich mit dem Daumen über die Lippen und verschmiert dabei etwas von ihrem Lippenstift. Danach betrachtet sie kurz ihre manikürten Fingernägel. „Mit den Dingen, die du nicht weißt, kann man den Grand Canyon füllen.", kommentiere ich trocken und bin diesem Gespräch bereits müde. „Oder den Marianengraben", mischt sich Abel lachend ein. Ich habe nicht gemerkt, dass er zurückgekommen ist. Statt Gelächter erntet er einen Ellenbogenhieb von Jeff. „Mach was du willst.", ergänze ich Abel ignorierend. "Vermutlich lebst du die Taktik ´Weniger ist mehr`. Allerdings solltest du bei deinem Make up beginnen und nicht bei der Bildung. Rot steht Rothaarigen einfach nicht.", lege ich nach, höre, wie Jeff neben mir zischend die Luft einzieht und Abel zu kichern beginnt. Selbst Snape deutet ein seltenes schiefes Lächeln an. Auch an ihn habe ich nicht mehr gedacht. Kain taucht hinter ihr auf. Er schmunzelt fröhlich, also hat er nichts von unserem Gespräch mitbekommen. Bevor er etwas sagen kann, wird er von ihr mitgerissen. Ich habe fast etwas Mitleid. Sie verschwinden beide in der Menschenmenge und die Musik wechselt von chillige Smooth-Jazz zu einem Techno-Remix. Das Hochgefühl des kleinen Sieges hält nur kurz an. „Alter, das war böse. Du magst sie nicht, oder?", fragt Abel, nachdem sich alle etwas beruhigt haben. „Sie ist zu empfindlich", sage ich lapidar und ignoriere die Blicke meines Kindheitsfreundes, die mich mahnend durchbohren. In meinem Kopf spulen sich ein paar der Ansprachen ab, die mir Jeff im Lauf der Jahre zukommen lassen hat. Ich kann sie auswendig. Sei nicht immer so unfreundlich. Sei aufgeschlossen, denn so kommst du nicht weiter. Niemand will ein grimmiges Gesicht sehen. Bla bla bla. Bevor er mit einer weiteren Modifikation anfangen kann, stehe ich auf und fliehe. Ich schnappe mir mein halbleeres Bambiglas und verschwinde zur „Bar". Bei der Küchenzeile treffe ich auf Kaworu. Der zierliche Japaner lädt mich prompt in die Diskussion ein, die er mit weiteren Fachgebietskommilitonen hat. Ein junger schlaksiger Mann mit sackartigen Ökoklamotten. Ich würde die Tantiemen meines nächsten Romans darauf verwetten, dass die bräunlich schäumende Flüssigkeit in seinem Glas kein Bier ist, sondern eines dieser Modegesöffe. Mate? Ich habe keine Ahnung, denn ich war noch nie sehr trendy. Ihre Diskussion befasst sich mit einer Forschungsarbeit über evolutionärer konservierter Abwehrmechanismen gegen Viren aus dem Max-Planck-Institut. Auch ich habe den Artikel überflogen, habe aber keine vertretbare Meinung dazu. Gerade als ich beschließe, mich nicht weiter in die Diskussion einzubringen und mich davonzustehlen, werde ich dazu gezwungen. Kaworu hält mich eisern zurück und ich verschütte etwas Kirschlikör. Ich lecke mir die fruchtige Flüssigkeit von den Fingern, als ich erneut angestoßen werde. Diesmal von hinten. Kains Kumpel steht neben mir und vergnügt sich mit der Whiskeyflasche. Meine Augen richten sich auf seinen massiven Arm, der mich gerade angerempelt hat. Garantiert ist nicht alles so groß an ihm und ihm das zusagen, liegt mir gerade auf der Zunge. Ich bin dankbar als mich Kaworu zurück in die Debatte zieht und mir damit vermutlich ein blaues Auge erspart. Es ist nicht gut direkt neben dem Alkohol zustehen. Nach einer oder vielleicht auch zwei Stunden habe ich den Überblick über die Anzahl meiner Getränke verloren und ich merke es deutlich. Mein Kopf ist schwer. Mein Gehirn weich und meine Antworten kommen verzögert oder zu schnell. Ich bin mir nicht sicher. Auch die sticke Luft trägt dazu bei, dass mein Gehirn immer langsamer läuft. Mittlerweile sind wir von wissenschaftlichen Themen zu Klatsch und Tratsch gewechselt. Ich kann kaum mitreden und zu dem verärgert mich die Tatsache, dass ich dank meines Betrunkenseins viele der Informationen interessant und witzig finde. Ich ertappe mich dabei zu lachen als Kawuro erzählt, dass er Professor Wellers dabei erwischte, wie er sich mit einem anderen Kollegen angeregt über Brustwaxing unterhielt und meinte, dass das erste Mal eine Offenbarung gewesen sei. Es wird Zeit für mich zu gehen. Kurz sehe ich mich nach Jeff um, da ich wenigstens ihm Bescheid sagen will oder eher muss. Irgendwann war ich von einer Feier verschwunden und musste mir am nächsten Tag einen zweistündigen Vortrag von ihm anhören, dass ich mich abzumelden habe, weil er sonst der Vorstellung erliegt, dass ich totgefahren irgendwo im Graben liege. Er ist schrecklich theatralisch und meine Kommentare darüber, dass ich kein Wildtier bin, habe wenig geholfen. So viel zum blutigen Rehkitz. Ich entdecke ihn zusammen mit Abel an einem der aufgestellten Stehtische. Abel flüstert Jeff etwas ins Ohr. Sicher könnte ich sehen, wie sich Gänsehaut an seinem Hals bildet, wenn ich näher wäre. Kitzelnd. Kribbelnd. Es wäre ein Prickeln, welches sich über seine Haut zieht, wie Sekt, der auf der Zunge tanzt. Jeff nickt enthusiastisch und dann treffen sich ihre Lippen. Es ist das erste Mal, dass ich sehe, wie sie sich küssen. Jeffs Augen sind geschlossen und er scheint es wirklich zu genießen. Seine Finger berühren Abels Nacken, streichen über den Ansatz seiner Haare und gleiten vollends in dessen dichte Haarpracht. Er lächelt in den Kuss, während ihn Abel dicht an sich heranzieht. Die Bewegung ihrer Münder wird stetig leidenschaftlicher. Sie ertasten und erschmecken einander. Ich kann die Hitze förmlich sehen, die sich zwischen ihnen entwickelt und fühle mich zusehends unbehaglich. Für mich sind Küsse intimer als Sex und ich habe es noch nie gern in der Öffentlichkeit gemacht. Ich fühle mich unwohl, weil ich sie so schamlos dabei beobachte und wende meinen Blick ab. Meinen heftig vibrierenden Puls kann ich nicht so leicht ignorieren und zu meinem Leidwesen wirkt es sich langsam auf meinen gesamten Körper aus. Wieder atme ich auffällig tief ein und sehe mich im Raum um. Meine Augen bleiben bei Kain und seine Rothaarige hängen. Auch sie stehen in einer Ecke, dicht beieinander. Doch sie scheinen zu diskutieren. Ihre Körperhaltung spricht Bände. Merenas ist offensiv und aufgebracht. Kains hingegen defensiv, aber dennoch nicht zurückhaltend. Wieder habe ich fast etwas Mitleid mit Kain, weil er sich dieser Furien ausgesetzt sieht. Aber nur fast und dank meines Alkoholpegels auch nur wenige Sekunden lang. Mit einem Mal dringt '1000 Kisses' von Will Smith an mein Ohr und das nehme ich als endgültiges Stichwort um wirklich zu gehen. Scheiß auf das Bescheid sagen. Diesmal kann mir Jeff nicht mit dem Grabenbild kommen, denn ich muss nicht mal das Haus verlassen, sondern lediglich heil die Treppe überwinden. Ich meistere es erstaunlich gut. Nur zweimal mache ich stoppe und kralle mich am Handlauf fest. Die Architekten haben definitiv Wellen eingebaut, die mir jetzt zum Verhängnis werden. Es ist eine Weile her, dass ich derartig viel getrunken habe. Ich bin nichts mehr gewöhnt und laufe daher sehr langsam den Gang entlang. Ich greife mehrere Male demonstrativ an den Lichtschaltern vorbei als ich das Licht anschalten will. Doch geht es plötzlich an. Huch! Ich drehe mich verwundert im Kreis und schätze sofort ein, dass das eine sehr dumme Idee war. Ich taumele gegen die nahliegende Wand, bleibe einen Moment stehen und schließe die Augen. Die Wand kichert. Seit wann können Wände kichern? Ich drücke mein Ohr dicht ran. Das Kichern wird lauter und kommt näher. Ich blicke mit nur einem geöffneten Auge auf und sehe wie zwei Mädels auf mich zu kommen. Als sie vor mir stehen bleiben, erkenne ich sie. Die Brünette hat ihre Haare hochgebunden, so dass ihr schmales, aber durchaus hübsches Gesicht besser zur Geltung kommt. Sie beugt sich zu mir und mustert mich. Ich versuche halbwegs klar auszusehen und mich nebenbei zu sammeln. Keine leichte Aufgabe. Ein verschwörerisches Lächeln legt sich auf ihre Lippen und wieder ertönt das helle Kichern. Ich sehe von ihr zu ihrer Freundin. Die Blonde trägt große Locken, die perfekt zu ihrem puppenhaften Gesicht passen und ihre wimperngerahmten Augen betonen. Ob die Wimpern echt sind? Automatisch hebt sich meine Augenbraue. "Hi. Du bist Biologe, oder?", fragt mich die Blonde und lächelt. "Biochemiker", korrigiere ich automatisch. "Noch besser", kommentiert die Braunhaarige klatscht in die Hände und macht einen auffälligen Schritt auf mich zu. Nun steht sie direkt vor mir. Ihre Augen sind grün. Dann legt sie mit einem Mal ihre Lippen auf meine. Meine Hand liegt noch immer an der Wand und ich balle perplex zur Faust. Was passiert hier? Sie löst den Kuss mit einem lauten Schmatz und lächelt. "Danke sehr.", flötet sie und streicht mir mit ihren manikürten Fingern über die Haare. Nun rege ich mich doch. "Was soll das?", frage ich überrumpelt und stelle entsetzt fest, dass ich doch lalle, weil das S ein bisschen wie ein F klingt. "Wir sammeln nur ein paar Punkte", antwortet die Blonde zuckersüß und klingt dabei so als würde es alles erklären. Sammeln? Punkte? Ehe ich etwas erwidern kann, steht auch sie vor mir und ich spüre ihre Hand an meiner Schulter. Sie drückt mir ihre Lippen auf. Ich kurz sehe in malerisches Blau, dann schließen sich ihre Lider und ich schmecke den Lipgloss, den sie trägt. Als sie sich entfernt, streiche mir automatisch das klebrige Zeug von den Lippen und lasse ein angeekeltes Ächzen folgen. Lipgloss ist blöd. Ich starre entrüstet auf den glänzenden Rückstand auf meinem Zeigefinger und dann zu der Blondine vor mir. Das leise Klicken neben mir bekomme ich gar nicht wirklich mit. Das Blut in meinen Venen ist zu laut und dröhnend. "Weißt du, dass ich dich echt süß finde", flüstert sie mir neckend entgegen und schlingt ihre Arme um meinen Hals. In meinem Kopf dreht sich alles. Es ist dem Alkohol geschuldet, dass ich reagiere, wie ein Faultier. Ich greife mit entsetzlicher Langsamkeit nach ihren nackten Oberarmen. Ihre Haut fühlt heiß und weich an. „Selbst dieser grimmige Blick ist sehr süß", flüstert sie und ich hadere mit der Realität. "Lass das...Was soll das Ganze?", frage ich erneut, doch diesmal klingt meine Stimme etwas gefestigt. "Sagte ich doch", antwortet sie keck. Sie lehnt sich selbst gegen die Wand, zieht mich mit und küsst mich erneut. Diesmal ist es kein lapidarer Kuss. Kein Schmatzer. Ich spüre ihre warme Zunge, schmecke die faden Reste süßen Likörs. Ihre Zunge ist flink und einnehmend. Mein Körper reagiert, auch wenn ich es gar nicht will. Mein Gehirn ist so langsam, doch ich fange an mich zu wehren. Ich versuche mich von ihr wegzudrücken, in dem ich meine Hände gegen die Wand stemme, doch sie hält mich eisern umschlungen. "Sina, was machst du da?", vernehme ich eine bekannte männliche Stimme und das trotz des Rauschens in meinen Ohren, "Ihr habt schon mitbekommen, dass er das nicht will" Ich merke, wie sie mich loslässt, doch weil ich mich noch immer aktiv von der Wand wegdrücke, wirkt die Schwerkraft und ich gehe zu Boden. Physik ist scheiße. "Au!", entflieht mir murmelnd als sich Schmerz über mein Steißbein arbeitet. Ich höre Schritte und dann erkenne ich Schuhe neben mir, die ich meinem Mitbewohner zuordnen kann. Als ich endlich aufsehe, erkenne ich auch Kain. Jeff hilft mir auf und die beiden Mädels beginnen unbeeindruckt zu kichern. "Wir sammeln doch nur ein paar Punkte", sagt Sina beschwichtigend. Kati nickt. Sammeln? Ich schnalle es noch immer nicht und schaue dementsprechend bedröppelt drein. "Soweit ich weiß, reicht dafür ein herkömmlicher Kuss. Also, warum reißt du ihm fast die Kleider vom Leib und das im Flur?", fragt Kain weiter und wirkt irgendwie verstimmt. „Aber echt, nehmt euch das nächste Mal ein Zimmer", witzelt die Brünette kichernd und erntet einen mahnen Blick von Kain und ein Glucksen ihrer Freundin. Jeff seufzt. Ich versuche nicht wieder umzufallen. "Nicht hilfreich, Kati", mischt sich nun auch Jeff ein. Sina beißt sich auf die Unterlippe und lächelt verschmitzt. „Herrje Jungs, beruhigt euch. Es war doch nur ein Kuss und es ist ein harmloses Spiel. Ich bin ihm ja nicht an die Hose gegangen." Unwillkürlich schaue ich runter zu meinem geschlossenen Hosenknopf. "Ihr habt es, aber übertrieben und das ist nicht Sinn des Spiels. Also wenn ihr das noch mal macht, verpetze ich euch.", gibt Kain ernst von sich und schaue ihn verwundert an. "Spielverderber", kommentiert Sina diese Erziehungsmaßnahme und schaut im nächsten Moment bereits zu Jeff. "Du bist Geologe, oder?" Der Angesprochene nickt verwirrt. Nach nur wenigen Sekunden hat auch er zwei fremde Münder im Gesicht. Danach schießt Kati ein Bild von Jeff. Das war das Klicken. Die beiden Frauen nehmen sich bei der Hand und ziehen davon. Kain haben sie nicht geküsst und das ist für einen Augenblick lang, dass einzige, was wiederholt durch meinen Kopf schwirrt. Wieso nicht? Kain sieht den beiden Frauen nach und beißt sich auf die Unterlippe, ehe er sich eine Strähne seines dunklen Haares zurück streicht. Wahrscheinlich haben sie ihn längst geküsst und damit ihre Punkte gesammelt. "Immer dieser Ärger mit diesen verrückten Weibern", murmelt Kain und verdreht die Augen. Nicht so gekonnt, wie Jeff, aber nah dran. "Ich kann mich übrigens allein wehren", lalle ich daraufhin. Etwas Sinnvolleres fällt mir gerade nicht ein. "Hat man eindrucksvoll gesehen.", kommentiert er trocken, "Nach Asimov solltest du doch in der Lage sein deine Existenz schützen können, oder?" Schon wieder der Robotermist. Ich wackele als Antwort mit meinem Kopf, äffe ihn nach und bereue die schnelle Bewegung sofort. Jeff murmelt Kains Namen und hakt sich dann bei mir unter. "Was ist das für ein Spiel?", will ich wissen, während sie mich zu unserem Zimmer ziehen. "Ach, das ist so ein schwachsinniges Verbindungsding. Die Mädchen müssen in einer Woche so viele Studiengänge, wie möglich küssen", erklärt Jeff, "Und mit dir haben sie gleich dreifache Punkte. Bio, Chemie und Biochemie", giggelt Jeff weiter und ich sehe ihn dämlich an. "Aber das stimmt nicht", sage ich und verschlucke dabei die Hälfte der Endungen. "Die nehmen das nicht so genau und machen sich einfach nur einen Spaß daraus. Dämlicher Scheiß", motzt Kain und nimmt einen Schluck aus seiner Bierflasche, die er in den Händen hält. Langsam frage ich mich, warum er hier ist und nicht bei der Party oder bei seiner Freundin. Er sieht unzufrieden aus. „Was hat ihm die Laune verhagelt?", flüstere ich Jeff zu, bin dabei aber so laut, dass sich Kain im Laufen zu uns umdreht, finster guckt und weiter geht. „Du hast Merena die Laune verhagelt und sie ihm", erklärt Jeff lapidar und ohne ins Detail zugehen. „Wem habe ich...was? Oh." Jeff meint die Rothaarige. Ich spüre schon jetzt, wie ihr Name aus meinen Gehirnwindungen entgleitet. Nichts zu machen. Ich merke mir das nicht. Wahrscheinlich hat sie sich direkt bei Kain darüber beschwert, wie fies und gemein ich gewesen bin. Aber das erklärt nicht, warum er hier ist? Ich merke gar nicht, dass ich stehen geblieben bin bis ich Jeffs Hände in meinem Rücken spüre und er mich angestrengt weiterschiebt. Meine Schuhe habe so wenig Grip, das ich tatsächlich ein paar Meter nicht laufen muss und dann erst stolpere. Kain ist unbeirrt weiter gelaufen und wartet vor unserem Wohnheimzimmer. „Lass Kain nicht warten, wegen dir hat er heute keinen Sex gekriegt. Sei ausnahmsweise mal lieb, ja?", murmelt Jeff in mein Ohr und drückt seine Hände fester in meinen Rücken. „Wann bin ich nicht lieb?", entgegne ich empört und laut. Ich grinse meinem Mitbewohner betrunken entgegen und ignoriere Kains Blicke. Mittlerweile hat er die Arme vor der Brust verschränkt und Jeff stoppt erst als ich fast gegen ihn pralle. "So, Kain pennt heute bei dir. Seid artig!" Jeff gibt mir einen Klaps auf die Schulter, der härter ist, als es aussieht und tippt unseren Türcode ein. Ich jammere empfindlich auf und frage mich, warum Kain sich nicht selbst reingelassen hat. Beim letzten Mal hat es ihm schließlich auch nichts ausgemacht. „Ach wundere dich nicht, aber Robin quatscht beim Schlafen, wenn er besoffen ist." Mit diesem Hinweis dreht sich mein eigentlicher Mitbewohner um und verschwindet. seine Schritte verhallen in dem leeren Flur und ich sehe ihm nach. Ich bin zu müde, um zu reagieren oder in irgendeiner Weise zu protestieren. Kain hält mir die Tür auf und ich torkele zu meinem Schrank. "Ich gehe eben... putzen", sage ich schwerfällig, greife nach ein paar frischen Klamotten und wanke aus dem Zimmer. Kains Blicke ignoriere ich geflissentlich. Auch seine Frage, ob ich wirklich dazu in der Lage bin. Auf dem Flur bleibe ich stehen und atme kurz durch. Zu meinem Glück sind die Waschräume nicht allzu weit entfernt und das kühle Wasser in meinem Gesicht tut mir seltsam gut. Auch, wenn es den Alkohol nicht aus meiner Blutbahn tilgt. Um dennoch etwas dagegen zu wirken, nehme ich ein paar große Schlucke direkt vom Hahn. Entgegen meines eigentlichen Vorhabens mich zu beeilen, lasse ich mir Zeit. Das kühle Wasser hilft. Langsam, aber stetig. Die pfefferminzige Zahnpasta zaubert mir etwas Zufriedenheit ins Gesicht und ich gehe zurück. Vor dem Zimmer bleibe ich noch mal kurz stehen und versuche mich zu wappnen. Schon wieder Kain. Ich winke der Chance auf eine geruhsame Nacht gedanklich hinterher und bin froh, dass niemand in der Nähe ist, der sieht, dass ich nicht nur gedanklich winke. Als ich die Tür öffne, präsentiert sich mir das gleiche Bild, wie vor ein paar Tagen. Kain sitzt vor meinem Rechner. Der Bildschirm ist hell erleuchtet und Dokument geöffnet. Das feuchte Handtuch in meiner Hand fällt zu Boden. Ich spüre, wie mich ein Schauer erfasst, doch diesmal bin ich nicht so perplex, wie beim letzten Mal. Diesmal reiße ich ihn an der Schulter zurück. Scheiß auf Asimov. Jetzt gibt es Tote. Kapitel 6: Rotkehlchen und der böse Wolf ---------------------------------------- Kapitel 6 Rotkehlchen und der böse Wolf „Du verdammter...", setze ich an, komme aber nicht weit. Kain greift nach meinem Arm und zieht mich mühelos in den Schwitzkasten. Mein Körper kippt nach unten und fast sofort erfasst mich ein Schwindelgefühl, welche mein gesamtes Inneres in Aufruhre versetzt. „Schon zurück? Hast du dir Brotkrumen ausgelegt, damit du in deinem Zustand wieder her findest?", witzelt er selbstgefällig und ich möchte ihm den Hals umdrehen. Oder ihn zu mindestens treten oder hauen. Doch mein Körper gehorcht nicht, sondern zappelt nur hilflos rum. „Integriertes Navi. Ich funktioniere über GPS... Arghn, willst du mich verarschen? Verdammt noch mal...", presse ich hervor und versuche weiter mich aus seinem Griff zu befreien. Der Blick, den Kain mir schenkt, zeigt nichts weiter als Belustigung und Schadenfreude, aber in keiner Weise Schuld oder Scham. Ich habe ihn auf frischer Tat ertappt und er grinst mich nur an? Wenn er mir jetzt erklärt, dass ich selbst schuld daran bin, weil ich es noch immer nicht geschafft habe ein Passwort einzurichten, dann verprügele ich ihn. Ganz bestimmt. Wenn ich Glück habe, verleiht mir der Alkohol ungemeine Kräfte. Schließlich sorgt er schon jetzt dafür, dass ich meine Lage nur halb so aussichtslos einschätze, wie sie wirklich ist. Äußerst gefährlich und das sinnbildliche Klischee dafür, wie solche Nächte eskalieren. Kains Griff ist eisern. Er drückt meine Wange gegen seine Brust und ich spüre die Hitze, die von ihm ausgeht und die sich gnadenlos auf mich überträgt. Mein Puls sowieso schon rasender Puls nimmt weiter an Fahrt auf und die Effekte auf meinen Körper werden unleugbar. Diese auffällige Körperlichkeit, die seine kleinen Übergriffe mit sich bringen, irritierte mich schon beim letzten Mal. Seine Ringergriffe. Die Leichtigkeit, mit der er mich dadurch am Boden festgenagelt konnte. Das Flattern in meinem Körper als ich mich weniger dagegen wehrte als ich es hätte müssen. Auch jetzt. Ich spüre seine Wärme und merke deutlich, wie die Muskeln unter seiner Haut arbeiten. Die Worte in meinem Kopf bilden sich sekundenschnell und formulieren intensive Bilder. Dadurch angeheizt, wehre mich nur noch mehr, was Kain keineswegs zu stören scheint. „Reg dich ab, Hänsel. Ich bin nur der böse Wolf und du hast mir die Großmutter auf dem Präsentierteller serviert. Du bist selbst schuld." Wie bitte? Ich brauche einen Moment bis ich seine Worte richtig sortiert habe. Kain lässt mich los als er merkt, dass ich mit denken beschäftigt bin. Ich brauche einen Moment um den Schwindel los zu werden und kann nicht verhindern, dass ich mich dabei auf den Boden knie. Soviel zu meinem Vorhaben ihn zu verprügeln. "Alles okay?", fragt er vorsichtig. „Du... Du dringst schon wieder mut- und böswillig in meine Privatsphäre ein und dann wagst du es auch noch....", knurre ich aufgebracht. Meine Stimmung schlägt wieder um und die kurze Abkühle aus dem Waschraum ist endgültig verpufft. Er will Krieg? Er kriegt Krieg. Auch die Reste des Alkohols scheinen mit einem Mal wieder rasend schnell durch mein Ader zuschießen. Angefacht durch die Wut und die Verärgerung. „Ach komm, du machst es mir, aber auch verdammt leicht. Ich sagte doch, dass ich es lesen werde.", wiegelt er unbeeindruckt ab. Seine Dreistigkeit ist unfassbar und reine Provokation. Er greift ungesehen nach der Flasche Bier, die er auf meinem Schreibtisch abgestellt hat und nimmt einen großen Schluck. Danach deutet er mit dem Flaschenboden auf mich. „Aber jetzt mal zu dir kleines Rotkäppchen. Was denkst du dir eigentlich? Wie kommst du dazu so was über uns zu schreiben?" Während er spricht, deutet er abwechselnd mit der Bierflasche auf meinen Bildschirm und auf mich. Ich weiß nicht warum, aber seine Worte lassen meine Wut ein wenig schrumpfen und machen anderen Empfindungen Platz, die ich noch weniger mag. Ich richte mich schwerfällig auf und schiebe den Drehstuhl zur Seite, damit ich an meinen Rechner rankomme. „Ich sagte es schon mal, das hat nichts mit dir zu tun. Noch dazu hat dich niemand aufgefordert irgendwas davon zu lesen.", bluffe ich halbgar. „Schon klar, aber das war wie das Locken in ein Pfefferkuchenhaus für Erwachsene." Noch mehr Märchen. Kain geht mir mächtig auf den Keks und noch dazu fühlt sich mein Gehirn schwammig und fluffig an. Es frustriert mich, dass zu betrunken bin um mich gebührlich zu wehren und er dadurch die Oberhand hat. Vermutlich hat er es geplant. Warum habe ich nur nicht früher daran gedacht meinen PC auszuschalten? Leicht schnaubend beuge ich mich über die Tastatur und schließe das Dokument. "Was ist nun Rotkäppchen", hakt er nach. „Kannst du das mit dem Märchenonkel mal abschalten?", sage ich genervt ohne den anderen Mann auch nur eines Blickes zu würdigen. „Vielleicht, wenn du damit aufhörst einen auf dritten Bruder Grimm zu machen. Also, was soll das da mit dem Porno aus Worten, den du über uns beide schreibst, Pinocchio." „Porno aus Worten?", wiederhole ich ungläubig, "Und Pinocchio ist von Carlo Collodi. Nicht von den Gebrüder Grimm." Kain übertreibt maßlos. Diese Diskussion schlägt mir auf den Magen und Kains Getue erst recht. Niemand, wirklich niemand, zwingt ihn in diesen Zimmer zu sein und kein Mensch hat ihn dazu genötigt meine Geschichte zu lesen. „Ist das dein Ernst?", fragt mich der Schwarzhaarig sichtbar irritiert und verwundert. Na, wenigstens das habe ich hinbekommen. Ein Punkt für mich. Ich freue mich später. „Du übertreibst. Da steht weder dein Name, noch... irgendwas anderes, was man mit dir in Verbindung bringen kann. Und außerdem kann ich nur wiederholen, es hat nichts mit dir zu tun.", ergänze ich wegen des seltsamen Blicks, den er mir zuwirft. Nur langsam wird auch mir bewusst, dass er es wirklich gelesen hat. Jedes schmutzige kleine Wort. Mein Magen macht einen Salto und mir wird schummerig. Unbewusst lasse ich meine Finger knacken, wende meinen Blick ab und nehme den Schatten daher nur schemenhaft wahr, der sich mir nähert. Ich weiche zurück als er meine Hüfte berührt und drehe mich zu ihm um. Er greift an beiden Seiten an mir vorbei und stützt sich auf dem Tisch ab. Seine Augen scheinen mich zu durchdringen. Sie sind intensiv und dunkel. Ich schlucke hilflos. „Das Gefühl seines heißen, bebenden Leibes über meinem. Ich spüre die Härte, die sich unentwegt gegen meinen willigen Körper drückt. Er hält sich bewusst zurück, lässt seine Lippen über meinen Hals wandern. Küssend. Beißend. Ich zergehe vor Gier. Ich strecke mich ihm entgegen, lasse ihn deutlich die Härte meiner eigenen Erregung spüren. Biete mich ihm schier an. Ich will ihn spüren. Ich will, dass er mich ausfüllt und fest nimmt. Tiefer. Immer tiefer." Erneut zitiert Kain Wort für Wort eine Stelle meines Textes. Und jedes Wort sendet einen feinen, aber ebenso intensiven Schauer durch meinen Körper. ich weiß, was ich geschrieben habe und ich ebenfalls sofort die Bilder in meinem Kopf, die mich inspirierten. Die letzten Worte scheint er mir heiser entgegen zu flüstern, was es nur noch schlimmer für mich macht. Ich schlucke schwer und drücke ihn abrupt weg. Kain lässt mich gewähren und ich flüchte in die Mitte des Zimmers. „Triviale Erotik. Nichts weiter.", entgegne ich schnell. Meine Stimme ist einen Moment lang seltsam hoch. „Trivial? Erzähl keine Märchen. Das sind eindeutig du und ich, Hänsel." Ich beiße die Zähne zusammen. „Fick dich, Kain. Ist dein Ego so gigantisch, dass du wirklich glaubst, das du irgendwas damit zu tun hast?", belle ich und sehe dabei zu, wie die obligatorische Augenbraue in seinem Gesicht nach oben wandert. Es ist immer die Linke. Sie hat einen feineren Schwung als die andere. Er nimmt einen Schluck Bier und verschränkt die Arme vor der Brust. „Okay, wer erzählt es dann?" Sigmund Freud und C.G. Jung hätten ihre Freude mit diesem Egomanen. Mit mir wahrscheinlich auch. Leider muss ich mir eingestehen, dass ich selbst nicht verstehe, warum gerade Kain Teil meiner Fantasien ist. Jeff ist der Auslöser, aber von ihm fantasiere ich nicht. Jedenfalls nicht in diesem Sinn. „Eine x-beliebige Gretel", zwinge ich hervor und verfluche mich augenblicklich selbst, weil ich mit den blöden Märchen weitermache. Kain glaubt mir nicht, dass wird durch das brummende Geräusch deutlich, welches von den bierfeuchten Lippen perlt. „Die Aussage, dass du als Mann aus der Sicht eines Mädchens schreibst, finde ich nicht weniger verstörend. Als würde man Rotkäppchen plötzlich aus der Sicht des Wolfes lesen. Verstörend." „Ich bitte dich, bleib mal auf dem Teppich. Das ist vollkommen normal." Wahnsinnig viele Frauen schreiben Krimis aus der Sicht von männlichen Protagonisten. Trotzdem wage ich es nicht ihm zu erklären, dass das in meinen Bücher dauernd so mache. Ein kurzer Film all meiner weiblichen Hauptfiguren spielt sich in meinem Kopf ab. Sie haben viele unterschiedliche Charakterzüge und Persönlichkeiten und sind dennoch immer ein bisschen Ich selbst. „Ach ja? Na gut, dann erkläre mir aus der Sicht eines grundsätzlichen Biologen, der du ja bist, ob eine Verhärtung in der Lendengegend beim weiblichen Geschlecht unbedenklich ist?" Kain schwingt seine mittlerweile fast leere Bierflasche und fordert mich damit mehrmals gestisch auf zu antworten. Als ich nicht reagiere, nimmt er einen letzten großen Schluck. Meine Nicht-Reaktion scheint ihn zu bestätigen. Ich setze an, doch es ist zu spät. „Wie ich es mir dachte, du reichst mir hier den vergiftet Apfel und hoffst, dass ich anbeiße. Es sind doch du und ich. Warum schreibst du so was?" Überrumpelt und ertappt. Mein Gehirn funktioniert einfach nicht gut genug um jetzt etwas Sinnvolles oder Erklärendes wiederzukäuen. „Es überkam mich", erwidere ich lapidar und seltsam ernüchtert. Ich ernte einen verstörten Gesichtsausdruck und erkenne, wie mich Kains braune Augen aufmerksam mustern. Wahrscheinlich versucht er zu verstehen, wie ernst diese Aussage nehmen muss. Erstick dran. „Einfach so?" „Künstlerische Freiheit. Außerdem sind Jeff und Abel schuld!", patze ich quengelnd zurück. Erschießt mich! Bitte. Sofort! Nichts passiert. „Machst du jetzt einen auf Aschenputtel und schiebst die Schuld auf die zwei Stiefschwestern? Ich bitte dich! Okay, aber ich spiele mit. Wie meinst du das?" Noch mehr Märchen. Mein Kopf dreht sich. Ich schiebe mich an Kain vorbei zu meinen Schreibtisch, fahre rigoros den Rechner runter, während ich darüber nachdenke, wie ich es ihm erklären kann ohne die Diskussion fortzusetzen. Ich krame in der Schublade nach der angebrochenen Schachtel Zigaretten. „Es hat mich überrumpelt, okay? Dass Jeff auf Kerle steht", gestehe ich ein. Den letzten Teil verschlucke ich zur Hälfe, weil ich mir eine Zigarette zwischen die Lippen stecke und aufstehe. „Moment mal! Du wusstest nicht, dass er schwul ist?" Kain hält mich zurück. „Ding. Ding. Ding. Nein. Ich hab es erst durch dich erfahren." Ich drücke ihm hart meinen Zeigefinger gegen die Brust und schätze nach Eintreten des Schmerzes ein, dass ich das nie wieder machen werde. Der Kerl ist aus Stahl. Kain zuckt nicht mal und scheint ernsthaft erstaunt. „Oh!" „Ja, Oh. Mehr hast du dazu nicht zu sagen?", knurre ich. Eigentlich habe ich damit gerechnet, dass er jetzt das schadenfreudige Rumpelstilzchen macht, aber seine Reaktion überrascht mich. Ich sehe, wie er mit dem Kopf schüttelt, nickt und wieder wirkt als er würde er ihn schütteln. Für mein Gehirn ist das in diesem Moment zu viel. Schon vom Zusehen wird mir schwindelig. Ich taste haltsuchend nach der Schreibtischkante und schließe die Augen. Ich spüre Kains Hand an meinem Arm. Sie ist warm, fast brennend und ich mache einen Schritt von ihm weg. Seine Hilfe brauche ich nicht. „Ich dachte, ihr seid schon lange Freunde und wüsstest es. Hätte ich..." Er klingt fast als täte es ihm Leid, dass er es mir so mitgeteilt. Er hat nicht mal Schuld daran, aber das verschweige ich natürlich. Erneut spüre ich seinen Blick auf mir und wieder ist es eigenartig intensiv und suchend. „Was?", frage ich genervt, nehme die Zigarette aus meinem Mund und drehe sie in meinen Fingern umher. „Hast du schon mal mit einem Mann geschlafen?" „Wie bitte? Nein, habe ich nicht!", gebe ich überrumpelt von mir. Woher kommt diese Frage? „Aber in deiner Geschichte beschreibst du es so... Wir... Die Personen, sie... Es ist ohne scheu und als würdest du wissen, worüber du schreibst", erläutert er, ohne, dass ich danach frage. „Es ist nur Sex... und ausreichend Fantasie, das ist alles. Außerdem scheinst du zu vergessen, dass man mit Frauen auch allerhand machen kann, dass sage ich dir aus Erfahrung und als grundsätzlicher Biologe. Also, alles reine Spekulatius." Ich stocke bei meinem eigenen Wortsalat. Das sind eigentlich Kekse, oder? Egal. Kain grinst. „Wohl wahr, aber das erklärt nicht die präzisen Vorstellung, die du beschreibst" Kain grinst und scheint sich in diesem Moment irgendwas vorzustellen. Ich will es gar nicht wissen. „Herrje", seufze ich genervt, "Woher sollte ich bitte wissen, wie deine Küsse schmecken?" Nun klinge ich doch als würde ich sein Mitwirken in der Story bestätigen. Ich brauche dringend Schlaf. „Oder.. na ja, die von anderen Männern. Alles reine Fantasie", ergänze ich mit verräterischer Verspätung. Nun habe ich auch noch eingestanden, dass es mehr oder weniger zwei Männer sind. Wo ist die nächste Mülltonne? Ich will mich drin verkriechen. Kein Recycling nötig. Absolutes Fallobst. „Natürlich. Reine Fantasie und komplett ausgedacht!", echot mein Gesagtes mit deutlichem Amüsement und beugt sich zu mir vor. „Die Figuren sind universell!", kontere ich und klinge tatsächlich für einen Moment gefasst. ich schaffe es sogar ihm in die Augen zu schauen. „Universell. Du schreibst in der Ich-Erzählerperspektive, nicht wahr?" Nur eine rhetorische Frage, "Es heißt doch, der Leser soll es selbst erleben können... als heißt, dass auch, dass du es selbst erleben willst?", fährt er unbeirrt fort. „Ähm,... nein, also... nicht jeder Autor, der die Ich-Perspektive wählt, will damit das Geschehen erleben. Sonst würdest du ja Krimiautoren unterstellen, dass sie gern Leute töten wollen. Und ich meine nicht dich. Das wird langsam echt lächerlich." Die letzten Worte spreche ich mit Nachdruck und drehe mich von ihm weg. Lächerlich. Ganz genau. Lächerlich. Absurd und nervig. Was bildet er sich eigentlich ein? Ich atme gerade tief durch als Kain meinem Arm packt und mich zurückzieht. Er presst seinen Oberkörper gegen meinen Rücken und ich vergesse für den Moment wirklich zu atmen. Sein Arm drückt sich fest auf meine Brust und er hält mich so in Position. Sein warmer Atem trifft mein Ohr und ich erzittere als er zu flüstern beginnt. „Die fruchtige Schärfe des Ingwers. Sie breitet sich in meinem Mund aus. Wie loderndes Feuer, arbeitet es sich durch meinen Körper und scheint in meinen Lenden zu explodieren. Ich genieße das Brennen auf meinen Lippen, das nur durch die sanfte Süße seines Mundes gelöscht werden kann. Ich lechze danach, wie die Dürre nach einem ersten Regentropfen..." „Hör auf!", fahre ich ihn an und versuche mich loszureißen. Sein Griff ist eisern. „Deine Worte, Robin." Ich schlucke schwer als er einfach fortfährt. „Meine Hände verweben sich in tiefem Schwarz, ziehen die glücksbringenden Lippen näher, so dass ich jeden Millimeter süßer Verlockung ertasten und erleben kann. Ich versinke in der Leidenschaft seiner besitzergreifenden Hände, die mir die Kleidung vom Körper zerren..." Passend dazu wird sein Griff noch ein wenig fester und seine Finger verweben sich fest mit dem Stoff meines Oberteils. Ich spüre, wie mir die Hitze langsam zu Kopf steigt, wie sie kribbelt und pulsiert. Sein warmer Atem trifft meinem Hals in stetigen Wellen und mein Körper reagiert auch darauf. Die Schauer ziehen sich über meine komplette linke Körperhälfte. „Hör auf...", knurre ich erneut säuerlich. Wie kann er das so genau wiedergeben? Wie oft hat er es gelesen? Ich komme nicht dazu zu fragen. Kain lässt mich los. „Du beschreibst mich.", stellt er schlicht fest, "Also, was soll mir das sagen?" Zur Verdeutlichung kramt er in seiner Tasche nach einem der verräterischen Bonbons, die er sich gern in den Pausen in den Mund schiebt. Ich spüre, wie sich bei dem Gedanken an diesen Geschmack mein Hals kribbelnd zusammenzieht. Ich habe schon so oft daran gedacht. Schon viel länger als ich mir eingestehen will. Mein dröhnender Herzschlag ist so laut, dass ich mich fast taub fühle. „Die essen viele!", antworte ich verzögert, lecke mir selbst über die leicht trockenen Lippen und schaffe es nur ganz schwer meinen Blick von der gelblichen Zuckermasse zu entfernen. „Nenn mir einen Weiteren an der Uni!", kontert Kain prompt. Damit hätte ich rechnen müssen, aber noch immer merke ich deutlich den Alkohol in meiner Blutbahn. Ich weiß nicht, was sein Problem ist. Und wenn es nach mir geht, wird es kein anderer erfahren. Statt ihm zu antworten nehme ich ihm, das Bier aus der Hand und leere den Rest mit einem Zug. Für meinen Zustand nicht hilfreich, aber vielleicht kriege ich Kain damit endlich zum Schlafen. Ich lasse die leere Flasche demonstrativ in den Müll fallen und mache eine abschließende Geste. Kain reagiert nicht, sondern sieht mich einfach nur an. „Warum machst du eigentlich so einen Aufriss? Es sind bloß ein paar Worte. Nichts weiter. Sie tun niemanden weh", sage ich nun ehrlicher als ich eigentlich wollte. „Also was willst du von mir hören?" Ich klinge schrecklich ermattet und bin langsam wirklich genervt. Im Grunde bin ich vor allem müde. Kain hat leicht reden. Ihm kommen nicht ständig diese Worte in den Sinn und in seinem Kopf schreiben sich nicht ständig Szenen und Bilder. Das Knistern von Bonbonpapier dringt an mein Ohr und ich habe nicht gemerkt, dass ich die Augen geschlossen habe. Ich zwinge mich dazu, sie wieder zu öffnen. Kain schweigt und ich wende mich kopfschüttelnd meinem Bett zu, in der Annahme, dass das Gespräch endlich beendet ist. Ich verliere leicht das Gleichgewicht als ich mich nach unten beuge um mein Kissen anzuheben. „Dann wirst du nicht aufhören mit fantasieren?", höre ich Kain unvermittelt fragen und ich richte mich wieder auf. Wie könnte ich? Er klingt abgelenkt und gedankenversunken. So als würde er mehr über etwas nachdenken als aktiv mit mir zu kommunizieren. Mir entflieht ein leises Seufzen. „Fantasie kann man schlecht kontrollieren", antworte ich pampig. Wenn er mir eine Möglichkeit nennt, mit der es aufhört, nehme ich sie dankend an. „Dann bist du auch neugierig?" Natürlich. Ein bisschen jedenfalls, gestehe ich mir selbst ein. Warum sonst hätte ich so viel darüber nachgedacht? Auch jetzt bilden sich automatisch Szenen in meinem Kopf. Ich schubse missmutig mein Kissen zur Seite und höre wieder dieses leise Knistern. Es ist ein seltsamer Laut. „Auch Neugier kann man nicht kontrollieren.", erwidere ich und greife nach meinen achtlos unter das Kissen geschobenen Schlafklamotten. Als ich aufrichte, spüre ich seinen Körper hinter mir. „Huch", entfährt es mir leise. Kain umfasst meine Handgelenke und hält mich damit aufrecht. Ich lasse die Schlafklamotten wieder fallen. Sein Blick bewegt sich ruhelos über mein Gesicht. Suchend. Bittend. Es muss der Alkohol sein. „Ich bin neugierig", flüstert er. Ich bemerke seine Hand in meinem Nacken und spüre gleich darauf seine Lippen auf meinen. Ich bin zu erschrocken um sofort reagieren. Nicht das erste Mal heute. Auch nicht der erste Kuss, den man mir heute stiehlt. Betrunken bin ich anscheinend vollkommen wehrlos. Auf seinen Lippen hängt das Aroma von Bier. Malzige Herbe, die auf die prickelnde Minze meines Mundes trifft. Als ich langsam begreife, was hier passiert, ist es feine Süße, die meine Lippen umschmeichelt und mich vom Aufhören ablenkt. Sie wird intensiver und langsam schmecke ich das fruchtige Aroma der Zitrone. Es ist fast genauso, wie ich es mir vorgestellt habe. Ein Hauch von Schärfe breitet sich in meinem Mund aus als seine Zunge gegen meine schlägt. Sie prickelt über meine Geschmacksknospen als der Kuss innerhalb von Sekunden intensiver wird. Kain fragt nicht. Er nimmt und es gefällt mir. Seine Haltung habe ich die als Ablehnung interpretiert, aber es ist ebensolche Neugier. Was wohl seine Fantasien sind? Was passiert in seinem Kopf? Der Gedanken lässt meinen Körper erbeben. Ich spüre, wie seine geschickte Zunge meine lockt. Dem sanftes Stupsen folgt energisches Streicheln. Kain entlässt mein Handgelenk, bettet sich auf meinem unteren Rücken und drückt mich dichter an ihn heran. Es fühlt sich anders an den starken größeren Körper zu spüren. Aber es fühlt sich auch aufregend und gut an. Kanin beginnt meine Seite entlang zu streichen und findet schnell den Weg unter meinen Pullover. Seine leicht rauen Fingerspitzen gleiten über elektrisierte, willige Haut der angespannten Muskeln meines Rückens. Wieder bin ich wohligen Schauern ausgesetzt, die meinen gesamten Leib mit Gänsehaut überziehen. Dabei sind es nur diese winzigen Berührungen. Ich kann keinen klaren Gedanken mehr formulieren. Ich bin dominiert von dem herausragenden Gefühl seiner Körperwärme und seiner Lippen, sowie vom Alkohol, der zusätzlich mein Gehirn lähmt und alles noch intensiver macht. Je näher mich Kain an sich drückt, umso deutlicher merke ich, dass es auch ihn nicht kalt lässt. Es erregt mich nur noch mehr und entfesselt mich. Meine Finger gleiten in das tiefe Schwarz seiner Haare. Es ist wie ein niedergeschriebener Ablaufplan in meinem Kopf. Es ist das, was sich seit Wochen wieder und wieder in meinen Gedanken formuliert. Ich lasse meine Finger den von mir erdachten Pfad über seinen Nacken gleiten, über seinen Trapezmuskel zur linken Schulter. Es ist als überprüfte ich das Traumbild auf seine Richtigkeit und bisher gibt es kein Bereuen. Er liebkost meine Unterlippe, während mein Daumen über sein linkes Schlüsselbein streicht. Beim Übergang zur Schulter spüre ich eine leichte Erhebung am Knochen. Ein Bruch. Kain beißt mir sanft in die Lippe und zieht meine gesamte Aufmerksamkeit zurück auf seinen Mund. Seine Hand schiebt sich meine Seite hinauf, legt einen Teil meines Bauches frei. Sein Daumen stoppt über meiner Brustwarze. Ein feines Kribbeln durchfährt mich als er nur zaghaft darüber streicht. Nicht mehr als ein Necken. Meine Augen sind nur halb geöffnet und doch erkenne ich die Erregung in seinen. Sie ist deutlich und klar. „Ei, Großmutter, was hast du für große Hände?", murmele ich, weil es mit gerade durch den Kopf geht. Absurd, aber passend zu unseren vorangegangenen Märchenthema. Als ich meine Finger über seinen Bauch zu seiner Brust gleiten lasse, spüre ich, wie er seine Muskeln anspannen. Auch das habe ich mit vorgestellt und auch das ist etwas besser als in meiner Fantasie. „Damit ich dich besser packen kann!", steigt Kain nahtlos mit ein. Flüstert mit rauer Stimme. Er packt meine Hüfte und drückt unsere Becken aneinander. Unmissverständlich. Ein tiefes Raunen flieht über seine Lippen als er sich zu meinem Ohr beugt. „Lass mich ein bisschen den bösen Wolf spielen", schlägt er flüsternd vor. Ein federleichter Kuss trifft mein Ohrläppchen. Danach ein Biss, gefolgt von einem schmeichelnden Lecken. Blut rauscht in meinen Ohren, hämmert sich durch meinen angeregten Körper und der klitzekleine Rest Vernunft wird augenblicklich von einer Flutwelle aus Alkohol und Lust mitgerissen. Sie ertrinkt zusammen mit der bezifferten Kennung meiner Hemmschwelle. Ich sage weder ja, noch nein und muss es auch nicht, denn mein ganzer Körper signalisiert ihm meine Antwort. Schreit förmlich seine Zustimmung. Kain wartet nicht länger, greift mit dem Daumen in meine Hose und öffnet mit einem einfachen Handgriff meinen Jeansknopf. Trotzdem überrascht blicke ich an mir hinab und wieder auf. Kain grinst und zieht sich mit einer flüssigen Bewegung das Shirt über den Kopf. Er gewehrt mir so einen kurzen Blick auf seinen trainierten Körper, bevor er mich wieder zu sich heranzieht. Seine Lippen betten sich an meinem Hals und ich schließe automatisch die Augen, während sie sich küssend und beißend meine Haut widmen. Auch das ist, so wie ich es niedergeschrieben habe, aber intensiver. Als nächstes fällt mein Oberteil. Seine Hände legen sich an meine Taille. Seine Daumen streichen über meine weniger definierten, aber dennoch deutlichen Bauchmuskeln. Ich muss mich nicht schämen und Kains Blick bestätigt es mir. Seine Berührungen sind weder zurückhaltend noch scheu. Sie sind neugierig und wissend. Ob er sich vorgestellt hat, wie es sich anfühlt seine Finger über meinen Körper gleiten zu lassen? Hat er fantasiert, wie ich klinge? Mir reicht es nicht mehr nur darüber nachzudenken. Ich drücke ihn von mir weg, schubse ihn sachte in die Richtung von Jeffs Bett. Kains Blick ist kurz irritiert, doch als er mit einem weiteren Stoß gegen den Bettrahmen prallt, versteht er es. Wie im Film reißen wir uns die restlichen Kleidungsstücke von den Körpern. Zwischendurch nehmen wir unsere Münder in Besitz. Jeder Kuss ist eine kleine Offenbarung und gespickt mit Aufregung und Neugier. Wir küssen uns langsam und kontrolliert. Danach unordentlich und feucht. Es ist neckend und leidenschaftlich. Kains Geschmack lässt hunderte neue Worte in meinem Kopf entstehen. Adjektive, denen ich niemals eine solche Bedeutung beigemessen hätte. Doch nun wirken sie seltsam passend. Fast perfekt. Ich giere nach dem aufregenden Gefühl, welches seine Lippen in mir auslösen. Als nur noch unsere Unterwäsche übrig ist, bleiben wir schweratmend voreinander stehen. Mein Blick haftet sich an seine leicht geöffneten Lippen, während Kains erneut fast unfokussiert über meine Erscheinung wandert. Die Stille macht unsere schweren Atemgeräusche nur noch lauter. Es ist der letzte Moment um aufzuhören. Keiner von uns beiden regt sich. Ich will nicht aufhören. Ganz oder gar nicht. Ich schiebe es auf den Alkohol und der Tatsache, dass mein Kopf nur noch danach schreit mir das zu holen, worüber ich schon so lange nachdenke. Sex. Kurzerhand drücke ich Kain aufs Bett und setze mich demonstrativ über ihn. Seine braunen Augen beobachten mich neugierig und aufgeregt. Aber erwartend. Meine Hand streicht über die deutliche Ausbeulung seiner Unterhose. Ich zucke leicht zurück als ich die deutliche Hitze durch den Stoff hindurch spüre und dann die Härte bemerke. Ebenso die Größe. Nun flutet mich etwas Nervosität. Als würde er es bemerken, setzt sich Kain unvermittelt auf und greift mir in den Nacken. Seine Lippen schnappen amüsiert nach meinen und sehe ich ihn verschmitzt grinsen. Er zieht meinen Kopf tief in seine Halsbeuge, so dass seine Lippen ohne Probleme an mein Ohr kommen. Seine Zähne gleiten erst sanft und dann fest über das zarte Fleisch meines Ohrläppchens. Ich keuche laut, zucke zusammen und greife in diesem Moment nach seiner Körpermitte. Sein Stöhnen echot durch meine Gehörgänge, pulsiert durch meine Glieder und es fühlt sich wunderbar an. Kain hält mich in Position, während ich meine Handfläche nun weniger zögerlich über seine Härte gleiten lasse. „Ei, Großmutter, was hast du für einen großen...", raunt er mir entgegen. Das Wort Schwanz ist nur ein erregtes Flüstern. Ich fühle mich ertappt und schaudere deutlich. Diesmal bin ich es, der nach seiner Lippe schnappt als mir klar wird, wie sehr mich das angemacht hat. Kains Hand legt sich auf meinen Oberschenkel. Sie streichelt sich dichter an meine Körpermitte heran, zieht neckend an dem weichen Stoff. Ich keuche auf und erfülle so seine Vorstellungen. Ich keuche heftiger als ich spüre, wie sie sich tiefer in meine Shorts schiebt und ungeniert um meine Härte schließt. Die Wärme ist wohltuend. Die stetige Bewegung seiner Hand ist berauschend und befriedigend. Sie ist wissend, nicht schüchtern, aber auch nicht nur experimentierend. Die unbeschreibliche Hitze benebelt meinen gesamten Körper und der Druck in meinen Lenden wird immer stärker. Ich keuche fast enttäuscht auf als sich seine Hand zurückzieht. Doch Kain verfolgt ein anderes Ziel. Beide Hände legen sich auf meinen kleinen festen Hintern. Er zieht mich hoch, so dass ich mehr über ihm knie als sitze. Zunächst gleiten seine Finger von unten durch die Hosenbeine. Mit jedem Zentimeter, den sie tiefer in meine Hose fahren, durchzuckt mich ein aufgeregtes Schaudern. Kain offenbart mir seine Absichten und Vorstellungen und ich stelle schwer atmend fest, dass ich mich längst darauf eingestellt habe der passive Part zu sein. Der Gedanke daran macht mich nervös, aber er erregt mich auch. Und die Erregung übertrifft alles, denn sie aufregend und intensiv. Es fühlt sich gut an. Keine Furcht. Reine Neugier. Kains Lippen widmen sich genüsslich meinen Brustwarzen, während seine Hände spielerisch meine Shorts nach unten befördernd. Als ich mich von ihm entferne um das lästige Stück Stoff los zu werden, lässt auch Kain seine Shorts verschwinden, gewährt mir damit einen guten Blick auf seine Erregung. Sie ruht hart und perfekt auf seinem Unterbauch. Kain gibt mir die Zeit ihn ausführlich zu mustern. Ich schlucke schwer und merke, wie mein sowieso schon rasendes Herz kurz aussetzt und danach noch wilder weiterschlägt. ich bin so damit beschäftigt, dass ich nicht auf seinen Gesichtsausdruck achte. Leise lachend zieht er mich wieder an sich heran. Seine Hand umfasst uns beide. Ich sehe dabei zu, wie seine Härte gegen meine reibt, wie sich seine Finger genüsslich und intensiv über die zarte, heiße Haut bewegen. Der feuchte Glanz verteilt sich auf die gesamte Länge unserer Erregungen und die Reibung wird immer befriedigender. Ich neige mich ein wenig nach hinten, stütze mich mit den Händen an seinen Knien ab und halte nicht mit dem akustischen Gefallensbekunden hinterm Berg. Doch nicht nur meine Geräusche erfüllen den Raum. Auch Kain atmet heiß gegen meine Brust, keucht und raunt. Es ist tief und voller Wohlgefallen. Ein genüssliches Stöhnen perlt über seine Lippen und die wissende Hand ist verschwunden. Im nächsten Moment drückt er mich ins Kissen und richtet sich auf. Kain beugt sich schwer atmend zu Jeffs Nachttisch und nach kurzem Suchen landet ein Kondom auf meinem Bauch. Das kühle Aluminium fühlt sich seltsam an auf meiner erhitzten Haut. Ich greife danach, sehe Kain zwinkern und wie er zwei Tuben aus Jeffs Schränkchen holt. Stirnrunzelnd betrachtet er die Etiketten und wirkt leicht überfragt. Als nächstes zuckt mit den Schultern und ich beobachte, wie einer der Behälter in einem hohen Bogen vor dem Bett zu Boden geht. Ich setze mich auf und schaue über den Matratzenrand. Kain lässt den Verschluss des behaltenen Gleitmittels aufschnappen. Ein schmatzendes Geräusch ertönt und er leckt sich grinsend über die Unterlippe. „Letzte Chance um über deine Position zu verhandeln." Seine Stimme ist mehr als ein erregendes Raunen und es gefolgt ein belustigtes Grinsen. Kain wendet seinen Blick nicht ab und obwohl ihm bereits eine Ladung Gel über die Handfläche rinnt, schließt er die Tube nicht. Ich schaue dabei zu, wie ihm etwas der klaren Flüssigkeit auf den Oberschenkel tropft und Aufregung durchfährt mich, lässt mein Lenden zucken. Ich folge dem Tropfen, der fast streichelnd seinen Innenschenkel entlang gleitet. Eine weitere glitzernde Perle landet diesmal auf seinem Unterbauch. Kain packt mein linkes Fußgelenk, zieht mich mit einen kräftigen Ruck in eine liegende Position und dichter zu sich heran. In einer schnellen Bewegung beugt er sich über mich. Seine benetzten Finger tippen vorsichtig über meine Hüfte, malen kleine unsichtbare Spuren über meinen Bauch und die Oberschenkel ehe sie sich meiner Erregung widmen. Kain lässt die feuchten Fingerkuppen über meine Spitze tippen, kreist spielerisch über den empfindlichen Schlitz. Automatisch spanne ich den Bauch an und drücke mein Becken der Berührung entgegen. Ich halte den Atem an. Abwartend. Erwartungsvoll. Unwillkürlich suche ich seinen Blick. Das tiefe Braun seiner spricht von Leidenschaft, Neugier und purem Verlangen. Es beruhigt mich. Mein Herz macht trotzdem einen kleinen Satz und meine Vernunft verabschiedet sich vollständig. Mit einer schnellen Bewegung zieht er mich etwas weiter runter, so dass er sich bequem zwischen meine Beine positionieren kann. Er beugt sich über meinen Bauch. Küsst und knabbert, während mich zu befriedigen beginnt. Es sind gleichmäßige und rhythmische Bewegungen. Er pumpt mich in einem Tempo, bei dem ich weiß, dass ich so nicht schnell kommen werde und das ist beabsichtigt. Nachdem ich genüsslich zu keuchen beginne, spüre ich seine feuchten Finger tiefer wandern und meinen Eingang finden. Er fackelt nicht lange. Nach und nach wandert erst ein Finger tiefer, dann ein zweiter. Mal stoßend. Dann kreisend, massierend. Eine perfekte Kombination aus Vorbereitung und Ablenkung, denn jedes Mal, wenn er weitergeht, nimmt seine massierende Hand an meiner Erregung an Fahrt auf. Immer dann, wenn ich mich keuchend unter ihm winde und mich seinen Berührungen entgegen bewege, geht er weiter. Der Druck in meinen Lenden wird ekstatisch, katapultiert mich an meine Grenzen und er lässt wieder von mir ab. Seine Bewegungen werden wieder sanfter. Ich lege meinen Kopf in den Nacken als er etwas in mir berührt, was ich bisher nicht kannte. Ein lautes, begeistertes Stöhnen flieht von meinen Lippen. Ich bäume mich heftig auf und mit einem Mal sind Kains Hände verschwunden. Als ich los motzen will und aufsehe, rollt er sich das Kondom über und beugt er sich zu mir runter. Seine Lippen legen sich auf meine. Ich erwidere den Kuss nur fahrig. Seine Lippen an meinem Kiefer. An meinem Hals bis sie erneut auf mein Ohr treffen. „Jetzt werde ich dich verschlingen, kleines Rotkehlchen." Er richtet sich auf und zieht mit eine einfachen, schnellen Bewegung mein Becken in seinen Schoß. Mein linkes Bein landet zusätzlich über seiner Schulter und mein Gehirn ist nicht wirklich dazu in der Lage dem Ganzen zu folgen. Ich spüre, wie seine Härte gegen meinen Hintern streicht. Mein Keuchen wird hektischer, obwohl noch nichts passiert ist. Doch das ändert sich schnell. Unbewusst greife ich nach seinem Arm. Ich kann nicht verhindern, dass ich leicht verkrampfe als er sich stetig gegen und dann in mich drückt. Kains Hand umfasst ebenfalls meinen Arm und er beugt sich zu einem weiteren, langen zu Kuss zu mir runter. Er bewegt sich nicht oder nur langsam. Es wird besser. Seine Hitze. Ich spüre sie in mir. Mein Körper bebt aufgeregt und angeregt. Mit der Schulter drückt er mein Bein weiter nach vorn und seine Erregung noch ein Stück tiefer in mich. Kain stöhnt leise und beherrscht. Ich greife in das Kissen unter meinem Kopf und drücke mein Gesicht gegen meinen Oberarm. Ich bin dankbar für Kains Beherrschung. Seine warmen Lippen küssen sich über meinen Kiefer, zu meinem Kinn. Eine solche Geduld und Fürsorge habe ich ihm gar nicht zu getraut. Er gibt mir die Zeit, die ich brauche, doch als er spürt, dass ich mich vollends entspanne, gleitet er schnell tiefer. Ich stöhne laut auf, packe seine Schulter und entlasse sie erst wieder als Kain einige Male genüsslich, aber kontrolliert zugestoßen hat. Die Hitze ist atemberaubend. Kain greift meine Hüfte fester und seine Stöße werden härter und schneller. Es erfüllt mich mit absoluter Befriedigung. Er soll nicht aufhören. Kain packt mich am Becken, hebt mich an und lässt seine Hände genüsslich über meinen kleinen Hintern gleiten, während er sich tief in mir versenkt und innehält. Er ertastet den Punkt unserer Vereinigung, während seine Lippen meinen Hals hinabküssen, über meine Brust wandern und sich um meine harte Brustwarze legen. Er spielt. Er genießt. Er nimmt, was ich ihm biete und ich kann es ihm nicht verdenken. Trotzdem staut sich die Ungeduld in mir, also lasse ich mein Becken so gut ich kann rotieren, drücke mich ihm entgegen und biete somit etwas Widerstand. Ich will ihn animieren, will es ebenso gut für ihn machen und höre mit Genugtuung, wie Kain tief gegen meine Brust stöhnt. Seine Zähne knabbern an der empfindliche Haut meiner Brustwarzen. Ein Biss. Ich keuche auf. Dann spüre ich seine Zunge, die streichelnd und heilend kleine Kreise zieht. Ich nehme mein linkes Bein von seiner Schulter und schlinge beide Beine fest um seine Hüfte. Er wiederholt die Liebkosung meiner Brustwarze unbeeindruckt auf der anderen Seite und ich drücke ihm mein Becken härter entgegen. Es ist ein regelrechter Ruck, der auch die letzten Zentimeter tilgt. Seine Finger greifen erschrocken in das feste Fleisch meines Hinterns und er sieht auf. Seine Augen funkeln angeregt und das Lächeln auf seinen Lippen ist wild. Er packt mich und lässt sich gleichzeitig seitlich nach hinten fallen. Der plötzliche Wechsel lässt mich seine gesamte Länge noch deutlicher spüren, da er den Winkel ändert. Ich finde mich tief auf seinem Schoss sitzend wieder und stöhne nun selbst überrascht auf. Kains streicht beruhigend über meine Seite. Doch statt Erleichterung verursacht es mir ein prickelndes Kitzeln, welches mich zusammenzucken lässt und Kain ein überraschtes Stöhnen entlockt. Dann stößt probehalber nach oben. Ich keuche erneut. Kain setzt sich auf und legt seine Hände an meine Taille. „So, fress ich dich mit Haut und Haar", keucht er mir heiß entgegen. Sein Becken zuckt nach oben. Ich erwidere mit einem heißen Stöhnen. Ich greife an seinem Kopf vorbei und suche Halt der kühlen Wand. „Tiefer. Immer tiefer." Diesmal sind es meine Worte, die er zitiert. Sie machen die ganze Szenerie nur noch intensiver für mich. „Halt den Mund und fick mich", knurre ich ihm barsch entgegen. Kains Hände halten plötzlich still und er sieht zu mir auf. In seinem Blick erkenne ich eine Mischung aus Erstaunen und puren Verlangen. „Na, na, kleines Rotkehl..." Bevor er es beenden kann, drücke ich ihm meine Lippen auf. Kain redet zu viel. Eindeutig. Er erwidert den Kuss sofort leidenschaftlich, umgreift meine Hüfte und ich hebe mein Becken um ihm mehr Platz zu bieten. Er nutzt ihn bereitwillig, in dem er heftig und hart nach oben stößt. Seine Bewegungen sind schnell und ungemein befriedigend. Ich beginne mich selbst zu pumpen, lasse meine Augen genießerisch geschlossen und komme heiß, heftig, während mir Kain genüsslich sein Becken entgegen rammt. Kains Hand gleitet an meine Wange. Sein Daumen streicht über meine bebende Unterlippe, während der Orgasmus meinen Körper durchzuckt und der Druck endlich nachlässt. Ein paar letzte kräftige Stöße und auch Kains Körper versinkt in der wohltuenden Befriedigung. Seine Augen sind geschlossen, während seine Hand fahrig über meine hektisch hebende Brust streicht. Nachdem ich mich wieder etwas gesammelt habe, steige ich von seinem Schoß und stolpere fast aus dem Bett. „Wie unromantisch, Hänsel", kommentiert Kain mein abruptes Aufstehen. Er regt sich nicht, sondern liegt mit geschlossenen Augen auf den Rücken. Ich gehe rückwärts auf mein Bett zu und setze mich als ich den kühlen Bettrahmen an meinem Waden spüre. Ich habe das Gefühl noch immer seine Hände an meinem Körper zu spüren. Fest und intensiv. Meine Glieder pulsieren. Mein gesamter Körper vibriert als Nachwirkung dieser intensiven Bettgymnastik. Die Befriedigung durchrollt mich mit absoluter Genugtuung. Auch wenn ich jetzt schon merke, wie schwer sich meine Hüfte anfühlt. „Kuscheln kostet extra", sage ich plump, "Und ich schlafe nicht in fremden Betten" Ich ziehe mir die Decke über den Schoß. Kain gibt kein Wort mehr von sich. Rapide Einstellung der Serotoninausschüttung. Wahrscheinlich ist er augenblicklich eingeschlafen und hat nichts mehr von meinem dummen Kommentar mitbekommen. Ich spüre es ebenfalls. Obgleich auch extreme Aufregung durch meine Adern rast und mich in diesem Augenblick wach pusht. So wirklich klar ist mein Kopf noch immer nicht. Ich sehe zu dem anderen Bett, erkenne den trainierten Körper und merke das Pulsieren meines eigenen wieder stärker. Als ich mir sicher bin, dass Kain wirklich schläft, krame ich mir ein Taschentuch aus dem Nachtschrank und säubere meinen Bauch, der noch kleinere Spuren meiner eigenen Samenflüssigkeit aufweist. Danach ziehe ich mir meine Schlafklamotten über und lege mich hin. Ist das gerade wirklich passiert? Ich sollte nicht darüber nachdenken. In meinem Kopf klingt es nach einer beschlossenen Sache, doch als ich schon wieder zum anderen Bett sehe, wird mir klar, dass das nicht so einfach ist. Kains Anwesenheit macht mich nervöser als ich gedacht habe. Meine Glieder werden nur langsam schwer. Mein Kopf schaltet äußerst schwerfällig ab und ich brauche eine gefühlte Ewigkeit um einzuschlafen. Es ist Jeffs zartes Stimmchen, welches mich letztendlich aus dem Schlaf reißt. Ich ziehe mir automatisch die Decke mehr über den Kopf. Doch nur wenige Augenblicke später gleitet sie wieder über meine Schultern. Ich wiederhole das Spiel rupfe sie wieder hoch, verdrehe mir dabei den Arm. Doch die Decke wandert schneller wieder runter als mir lieb ist. Mein Mitbewohner schafft es drei Mal mein müdes Gehirn auszunutzen, bevor ich ihm wutentbrannt ein kleines Kissen entgegenschleudere. „Kommt schon ihr zwei. Immerhin seid ihr früher im Bett gewesen als Abel und ich und wir sind schon über eine Stunde wach", flötet Jeff fröhlich und Nerv tötend. „Willst du dafür einen Preis?", grummele ich ins Kissen. „Hätte nichts dagegen." Ich bin mir sicher, dass Jeff grinst. „Bei Gelegenheit verleihe ich dir den Oscar für den dümmsten Spruch des Tages", mischt nun auch Kain mit und richtet sich auf. Aus dem Augenwinkel heraus sehe ich, wie er, mit einer schnellen Bewegung, das benutzte Kondom in einem Taschentuch verschwinden lässt bevor sich Jeff zu ihm umdrehen kann. „Meinst du wirklich? Etwas voreilig, schließlich haben wir Abel heute noch nicht reden hören...", brumme ich ablenkend ehe mein Mitbewohner etwas erwidern kann und ernte den gewollten verärgerten Blick des blonden Mann. „So ungern ich, dem da recht gebe, aber da ist etwas dran." Kain grinst und angelt nach seiner Hose. Erst als er sich auch sein Shirt übergezogen hat, steht er von Jeffs Bett auf und räumt das Bettzeug zusammen. Er wirft mir einen undefinierten Blick zu und verschwindet mit einem einfachen Gruß aus dem Zimmer. „Wow, was für eine Katerstimmung. Ihr solltet unbedingt trinkfester werden." Ein weiterer preisverdächtiger Blödmannkommentar. Jeff hebt etwas vom Fußboden auf und ich erkenne die zweite Tube Gleitmittel in seiner Hand. „Kann ja nicht jeder so ein Alkoholvernichter sein, wie du. Dich braucht man später nicht mehr einbalsamieren. Du bist schon konserviert.", gebe ich nonchalant von mir und bin mir der kleinen Provokation durchaus bewusst. Ich versuche meinen Mitbewohner so gut es geht zu ignorieren, spiele weiter meine mürrische Morgenmuffelrolle und registriere mit klopfenden Herzen, dass er die Tube ohne zu fragen in den Nachtschrank zurücklegt. „Würdest du mehr vor die Tür gehen und leben, würdest du nicht gleich nach zwei Gläsern Bambi umfallen", schleudert mir mein Mitbewohner an den Kopf und das kleine Kissen von eben hinterher. „Saufen ist also leben? Da kann ich drauf verzichten." Partys sind scheiße und werden es immer sein. Dahingehend wird sich auch meine Meinung niemals ändern. Ich streiche mir durch die zerwühlten Haare, seufze leicht und schließe müde die Augen. Nun bekomme ich langsam aber sicher Kopfschmerzen. Jeffs folgende Worte sind nur dumpfes Gemurmel und nach einen Moment echot mir Kains melodisches Keuchen durch den Kopf. Ob ihn wirklich reine Neugier dazu getrieben hat? Wahrscheinlich eine ausgewogene Mischung aus Alkohol und Wissbegierigkeit. Ich seufze schwermütig als mir klar wird, dass mich nun diese Erinnerungen statt der Fantasien verfolgen werden. Es ist zum Verrücktwerden. Ob es Kain auch so geht? War es überhaupt neu für ihn? Ich bin mir nicht sicher. Er schien Erfahrung zu haben. Auch die Tatsache, dass ich weitestgehend schmerzfrei und relativ beweglich bin, bestätigt mir diese Annahme. Warum auch nicht? Analverkehr hat man auch mit Frauen und er kann durchaus Erfahrung mit dieser Sexpraktik haben. Wieso enttäuscht es mich? Jetzt reicht’s aber. Ich rubbele mir gedankenvertreibend durch die Haare und ignoriere Jeffs fragenden Blick. Genug ist genug. Ich werde den gestrigen Abend als studentischen Erfahrungswert abhaken und schnellstmöglich vergessen. Sicher wird es Kain nicht anders handhaben. Ein One-Night-Stand, der ungewöhnlich absurden Art. Nicht mehr und nicht weniger. „Kater? Brauchst du ein Aspirin?", fragt er mich lächelnd, fast besorgt und wirft mir im selben Augenblick die Packung zu. Wahrscheinlich habe ich unbewusst genickt, aber sicher bin ich mir nicht. Obwohl sich meine Kopfschmerzen noch in Grenzen halten, drücke ich mir eine Tablette raus und schlucke sie trocken. „Sag mal, ist dir aufgefallen, das Kain nichts anhatte? Schläft er öfter nackt?", fragt er mich mein Kumpan plötzlich. Meine Kopfschmerzen werden sofort stärker. Ich schüttele fassungslos den Kopf und schaffe es beim Rausgehen Jeff keines Blickes zu würdigen. Trotzdem höre wie er mir ein verstörtes Was nachruft und verschwinde kurz in den Waschraum. In der Bewegung merke ich meine Hüfte und den Arsch doch. Ich brauche eine Zigarette. Dringend. Als ich aus dem Wohnheim komme, habe ich nur noch wenige Minuten um es rechtzeitig in die Vorlesung zu schaffen. Ich unterdrücke mein brennendes Bedürfnis nach einer Zigarette und mache mich auf den Weg. Zähneknirschend. Mein Handy vibriert noch auf dem Weg zum Hauptgebäude. Ich stecke mir dir ungerauchte Zigarette zwischen die Lippen und lese die Nachricht. Sie ist von Shari. Sie fragt mich nach meinem Befinden und nennt mir das Thema ihrer gestrigen Vorlesung. Der Gedanke an das morgige Treffen und die Vorstellung, dass es diesmal nicht nur Shari sein könnte, beängstigt mich schlagartig. Ich hoffe, dass sie keine Werbung gemacht hat. Ich sehe auf die Uhr als ich den Hörsaal betrete. Die Professorin verspätet sich zum Glück. Ich klappe meinen Laptop auf und schrecke zusammen als sich Kain plötzlich neben mich stellt. „Reden.", fordert er knapp. So viel zum einfach vergessen. Ich verdrehe unzufrieden die Augen. Schon wieder reden. Er kann mich mal am Arsch lecken. „... ist ein mündliche Gedankenaustausch oder die Fähigkeit sich mit Sätzen sprachlich zu äußern", kommentiere ich klugscheißerisch, aber undeutlich, weil mir die Zigarette zwischen den Lippen klemmt und sehe mit Genugtuung das Kain ein dämliches Gesicht macht. Er nimmt mir kommentarlos die Zigarette aus dem Mund und legt sie neben meinem Laptop auf dem Tisch ab. Kain macht keine Anstalten zu gehen. Im Grunde blocke ich das Reden ab, weil ich gar nicht weiß, was ich ihm sagen soll. Da ich für meine Romane keine Sexszenen schreiben darf, musste ich noch nie After-Sex-Talk zu Papier bringen. Zu dem gehöre ich zu der Sorte, die sich One-Night-Stands suchen und vor allen anderen Peinlichkeit abschwirren. Der mündliche Gedankenaustausch ist einfach nicht meine Stärke und wird es nie sein. Warum mache ich mir eigentlich so viele Gedanken? Es gibt an und für sich nur vier Reaktionsmöglichkeiten. Peinliches Schweigen. Wütende Schuldzuweisung. Überhebliche Gleichgültigkeit oder wie es Brigitta ausdrücken würde, der Beginn einer wunderbaren Liebesgeschichte. Ihre Augen formen dann jedes Mal imaginäre Herzchen und ich widerstehe dem Bedürfnis mich zu übergeben. Variante Nummer 4 ist die absurdeste und unrealistischste aller Reaktionen also klammere ich sie automatisch aus. Kain beißt sich auf die Unterlippe und lässt sich auf den leeren Platz neben mir fallen. „Wir müssen nicht darüber reden. Ich hab es schon vergessen", gebe ich gleichgültig von mir und ignoriere das leichte Pochen in meinem Unterleib. „Müssen wir, weil..." „Weil, was? Hast du Angst, dass ich mich verplappere und damit hausieren gehe, wie toll du warst? Keine Sorge, das werde ich ganz bestimmt nicht...", unterbreche ich abrupt und verstehe selbst nicht, warum ich bei dem letzten Teil derartig provozierend und sarkastisch klinge. Ich sehe wie der Schwarzhaarige stockt, sich aufrichtet und sich mit dem Armen an der Lehne meines Stuhls und dem Tisch abstützt. Er beugt sich provokativ zu mir runter. Er setzt an und wird vom Rufen seines Namens unterbrochen. Wir schauen beide zu der rothaarigen Frau, die zu seinem eigentlichen Platz gefunden hat. Ich schnaube und hole damit leider Kains Aufmerksamkeit zurück. „Hör zu, das hätte nicht... na ja, ich war frustriert, weil Merena..." „Oh, der böse Wolf hat Angst, dass sein rothaariges Flittchen etwas spitz kriegt? Keine Sorge, sie erfährt nicht, dass du anderswo deinen Spaß hattest.". fahre ich ihm wiederholt über den Mund. Noch während ich das sage, ändert sich Kains Blick. Er packt mich am Kragen und zieht mich hoch. Ich greife abwehrend seine Handgelenke, doch Kain stoppt von allein, in dem Moment, in dem mir der erste Hauch von Ingwer entgegen schlägt. Als ihm die Nähe klar wird, lässt er mich schlagartig los. „Warum provozierst du mich? Ich wollte nur klarstellen, dass das nichts zu bedeuten hatte...klar?" Erneut dringt Kains gerufener Name zu uns durch. Der Größere reagiert nicht, sondern sieht mich weiter mit diesen durchdringenden, ernsten Augen an. Sein größtes Problem an der Geschichte ist also die Angst, dass ich da mehr hinein interpretieren könnte? Blöder Arsch. „Klar! Aber warum du glaubst, MIR das extra sagen zu müssen?", erwidere ich bissig. Wenn hier jemand gleichgültig gegenüber all diesem Gefühlsscheiß ist, dann bin das wohl ich. Kains Name ertönt erneut. Diesmal starre zu der Rothaarigen und ihr Blick will mich in der Luft zerreißen. Ich spüre nicht mal ein winziges Kitzeln. Sie wäre eigentlich die typische böse Stiefmutter, doch in diesem Märchen ist es etwas anders. Ich möchte mir eine Kugel durch den Schädel jagen, weil ich noch immer in Märchenmetaphern denke. „Geh lieber zu deinem Rotkäppchen, sonst gibt es nachher wieder Ärger im Paradies und wer weiß, mit welchem Hänsel du beim nächsten Mal im Bett landest...", belle ich leise, so dass es wirklich nur Kain hören kann. Ich lege noch mal nach. Bevor Kain diesmal antworten kann, geht das Licht aus, weil unsere Professorin den Hörsaal betritt. Notgedrungen verschwindet er zu seinem Platz und lässt mich endlich in Ruhe. Es dauert einen Moment bis sich mein Kiefer wieder entspannt und ich merke, wie heftig ich die Zähne zusammengebissen habe. So ein Idiot. Vollarsch und Dumpfbrot. Vielleicht werden mit dieser ernüchternden Reaktion die Fantasien endlich aufhören und ich kann mich wieder vollständig auf meine rosaroten Zuckerwatteromane konzentrieren. In meinem Kopf ein höhnisches Lachen. Ich versuche selbst genügend Gleichgültigkeit aufzubringen und hätte nie gedacht, dass es mir so schwerfällt. Die gesamte Vorlesung über bin ich unkonzentriert und vergesse darüber hinaus, dass ich eigentlich direkt danach einen Termin mit der Professorin habe. Sie holt mich auf dem Flur ein und möchte wissen, wie das Tutorium läuft. Da aber bisher nur Shari aktiv daran teilnimmt, kann ich ihr sowieso nichts erzählen. In der Mensa mache ich bewusst einen großen Bogen um den Tisch mit den drei kleinen Schweinchen und komme nicht umher darüber nachzudenken, ob Jeff oder Kain, das Schweinchen ist, welches das Steinhaus baut. Wahrscheinlich Kain und dann mache ich den bösen Wolf mit einer Abrissbirne. Das Lachen in meinem Kopf ist diabolisch, aber leider nicht so befriedigend, wie ich erhoffe. Meine plötzliche Abkehr bleibt leider auch nicht unbemerkt. Erst ist es Jeff, der nach mir ruft und daraufhin drehen sich auch Abel und Kain zu mir um. Ich ignoriere ihre fragenden Blicke und setze mich an einen weitentfernten Tisch, der nicht mal im Blickfeld des anderen liegt. Bevor ich anfange, krame ich in meiner Tasche nach meinen Kopfhörern und muss mit Ernüchterung feststellen, dass ich sie vergessen habe. Als sich auch noch drei Mädels an meinen allein besetzten sechser Tisch setzen, ohne mich zu fragen, verabschiedet sich auch der Rest meiner normalen Laune. Nach dem gestrigen Partybesuch bin ich davon ausgegangen meine evolutionsbedingte Veranlagung nach sozialen Kontakten mindestens für eine Woche befriedigt zu haben. Falsch gedacht. Vielleicht ist an dem Spruch, dass Gott Sünden sofort bestraft, doch etwas dran. Es sind Literaturstudentinnen. Sie diskutieren über John Irvings Roman Gottes Werk und Teufels Beitrag. Ich höre mir eine Weile die Diskussionen über das Für und Wider von Homers Entscheidungen an und stehe in dem Moment auf, in dem Jeff auf mich zukommt. Er holt mich erst ein als ich bereits in unserem Zimmer bin und unter dem Bett nach meinem Basketball angle. Ich höre die Tür in meinem Rücken leise klicken. Gleich geht die Tirade los. „Ich hasse es, wenn du das tust... Robin, was ist los?" Mein Mitbewohner macht schon wieder ein Gesicht als hätte ich ihm sein Mittagessen geklaut. Ich hab es nur einmal getan und das war in der sechsten Klasse. Verzeihen wird er mir das wahrscheinlich nie. „Nichts", sage ich knapp und prüfe den Ball nach seinem Luftdruck. „Dein Gesicht sagt etwas anders und der Basketball in der Hand auch." Nach dem Rausschmiss aus der Basketballmannschaft habe ich nur noch selten gespielt. Meistens dann, wenn es mir nicht gut ging oder wenn ich abschalten wollte. Genau das brauche ich jetzt. Es passiert nur ein paar Mal im Jahr, dass ich das Bedürfnis verspüre meinen Kopf vollständig zu entlüften und ich hätte nicht gedacht, dass der Sex mit einem Mann zu einem Grund werden könnte. So kann man sich irren. „Rede einfach mit mir.", bietet er an und provoziert einen lauten, genervten Seufzer meinerseits. „Ich will einfach nur meine Ruhe, okay." Um meine Aussage zu verstärken, krame ich meine Kopfhörer aus der Tasche und hänge sie mir um den Hals. „Was ist dein Problem?" „Jeff, verdammt, du zwingst mich auf diese Scheißparty zu gehen. Ich habe Kopfschmerzen, bin müde und außerdem habe ich wegen dir jetzt dauernd diesen schwarzhaarigen Großkotz an der Backe und... Verdammt noch mal, ich brauche diese Scheiße einfach nicht", belle ich aufgebracht. „Entschuldige bitte, dass ich dich bei normal menschlichen Aktivitäten dabei haben möchte.", wehrt Jeff sofort ab. Seine Stimme zittert überrascht. Ich gebe ein verächtliches Geräusch von mir, sehe augenblicklich die Enttäuschung in den blauen Augen meines Mitbewohners. „Ich habe dich nie darum gebeten...", knalle ich ihm zu guter Letzt noch an den Kopf. Jeff schluckt und schweigt. Er macht keine Anstalten zu gehen oder irgendwas zu erwidern, sondern sieht mich einfach nur mit diesem enttäuschten Blick an. Ich hasse es. „Musst du nicht deinen Kerl ficken gehen?" Damit schiebe ich mich an ihm vorbei aus dem Zimmer. Vor dem Wohnheim stecke ich mir eine Zigarette an und trabe missmutig zum Sportplatz. Kapitel 7: Das Schreiben der Lämmer ----------------------------------- Kapitel 7 Das Schreiben der Lämmer Ich rauche die Zigarette in nur wenigen Zügen komplett auf und beginne dabei den Ball vor meinen Füßen zu dribbeln. Das Tippen des Balls auf den Boden und das stetige Geräusch, welches entsteht, beruhigen mich bereits. Ein Hoch auf die Selbst-Konditionierung. Es befinden sich noch andere Studenten auf dem Sportplatz. Ein großer dunkelhaariger Typ zieht seine Kreise auf der Aschenbahn. Schnell. Dynamisch. Ein gleich bleibendes Tempo. Zwei jungen Frauen mit weniger sportlichen Ambitionen joggen quatschend im Kreis. Ich schnipse den Stummel der Zigarette in die Büsche und sehe ich mich ad hoc um in der Annahme, dass Micha plötzlich hinter mir auftaucht und mich wegen der Müllverbreitung rügt. Nichts. Wie beruhigend. Meine Wahnvorstellungen betreffen also nur eine Person. Mal davon abgesehen, dass Micha eigentlich Recht hat. Ich öffne meine Strickjacke und dehne mich, bevor ich mit den ersten Würfen beginne. Dribbeln. Wurf. Dribbeln. Dunking. Dribbeln. Ich bewege mich über das gesamte Feld und gerate zusehends außer Atem. Ich spüre, wie meine Muskeln anfangen zu brennen, wie meine Hüfte meckert und stelle dennoch mit Zufriedenheit und Freude fest, dass ich erstaunlich zielsicher bin. Nach einer Weile belasse ich es bei Würfen aus verschiedenen Distanzen, gönne meinen Körper etwas Ruhe und lauf dem Ball nur hinterher, wenn er wieder erwartend in eine ganz andere Richtung rollt. Ein guter Drei-Punkte- Wurf. Der Ball rollt leger und kontrolliert von meinen Händen. Mit jedem weiteren Wurf spüre ich, wie mein Gehirn abschaltet und ich mich nur noch der Aktivität hingebe. Ein paar In-n-out's. Ein Sprung und ein weiterer Wurf, der diesmal perfekt sitzt. Ich sammele den Ball wieder ein, lasse ihn gekonnt auf meinem Finger rotieren und werfe erneut. Danach powere ich mich weiter aus und diesmal richtig. Ich genieße die Ruhe in meinen Kopf und summe einfach nur die abgespielten Lieder aus meinem Player mit. Es ist wohltuend. Es ist genau das, was ich brauche. Bis 'Apologize' von One Republic in meinen Kopfhörern erklingt. Ein Tritt in den Arsch. Der nächster Wurf geht so akkurat daneben, dass es mir fast wehtut und das nur, weil ich sofort an meinen Mitbewohner denken muss. Der Ball prallt vom Brett ab und rollt in die hintere Ecke des Feldes. 'That it's too late to apologize, it's too late', ertönt es weiter und ich seufze schwermütig. Ich nehme mir vor, meine Playlist auszumisten und diesen grausigen Weichspülerkram ein für alle Mal zu verbannen. In der letzten Zeit habe ich das erstaunliche Glück, dass sich die Musik meinen momentanen Situationen anpasst. Ein Wink mit dem Zaunpfahl? Ich perfektioniere einfach meine Talente zum Thema Ignoranz. Ich ziehe mir die Kopfhörer vom Kopf, weil ich das Gefühl habe, dass meine Ohren darunter immer heißer werden. Ich reibe mir über beide Seiten und trete murrend gegen den Ball. Er prallt gegen das abschirmende Gitter und rollte zu mir zurück. Das laute Geräusch, welches das Gatter verursacht, lässt einige der anderen Studenten zu mir sehen. Ich greife mir den Ball, klemme ihn mir unter den Arm und ziehe mein Handy aus der Tasche. Wie von selbst öffne ich den Chat von Jeff und mir und tippe eine Entschuldigung. Ich sende sie aber nicht ab. Verdammter Stolz. Ich hätte Jeff nicht so angehen dürfen, das weiß ich sehr wohl, aber er nervt mich mit seinen ständigen Versuchen mich zu integrieren. Langsam sollte er wissen, dass mir daran einfach nichts liegt und selten jemand meine Anwesenheit wünscht. Ich werde einsam sterben, hallt es in meinem Kopf und ich fantasiere einen Sensenmann, der eine Dose mit der Aufschrift 'Mitleid' in den knochigen Fingern hält. Als er sie öffnet, dringt ein kurzes, amüsiertes 'OH' heraus. Als es gleich darauf endet zuckt die Gestalt mit ihren schwarzbemantelten Schultern. Ganz kalt lässt mich der Gedanken dennoch nicht. Ich trete ein letztes Mal gegen den Ball und nutze ihn stellvertretend für die bescheuerte evolutionäre Entwicklung des Menschen und die damit einhergehende Notwendigkeit von gesellschaftlichen Zusammenschlüssen. Jeffs Stimme ertönt in meinen Kopf, die mir wie immer erklärt, dass ich auch nur ein Mensch bin und ich raufe mir die Haare. Ich ignoriere die fragenden Blicke der anderen Studenten, die meinen kleinen Trotzanfall mitbekommen haben. Selbst der junge Mann, der auf dem Sportplatz energische seine Runden drehte, ist stehengeblieben und sieht, mit in die Seite gestützten Händen zu dem Ort des Kraches. Er hat eine ähnliche Statur wie Kain, ist aber etwas kleiner und vermutlich auch weniger egoman. Wieso denke ich schon wieder an Kain? Die Abbildung des Todes in meinem Kopf klatscht und lacht mir mit im Schatten verstecktem Gesicht zu. Der Gedanke an den anderen Mann verursacht mir ein gewaltiges Magengrummeln und ein Gefühl, welches ich nicht definieren kann. Es macht mich mürbe, weil ich es nicht bestimmen kann. Das alles sind weitere Aspekte gegen Gesellschaft. Menschen verunsichern mich. Kain verunsichert mich. Seine Reaktion. Seine Worte. Die Tatsache, dass ich den Sex mit ihm mehr als genossen habe. Alles. Und wieder wird mir deutlich, dass Jeff keine Schuld trifft und er nur erneut Opfer meiner Unzulänglichkeiten geworden ist. Wie so oft. Als auch noch Bruno Mars mit 'Count on me' einsetzt, ist es aus. Mein schlechtes Gewissen treibt mich vom Sportplatz in die Stadt. Mit dem Ball unter dem Arm betrete ich eines von Jeffs Lieblingsgeschäften und sehe mich um. Vor ein paar Wochen waren wir hier vorbeigekommen und mein, nun langsam eindeutig schwuler Mitbewohner jammerte mir eine halbe Stunde die Ohren voll, nachdem er zum wiederholten Male einen Pullover sah, den er sich nicht leisten konnte. Für gewöhnlich durchwandern solche Tiraden meine Gehörgänge fließend, aber diesmal blieb ein Fitzelchen wegen seines nahenden Geburtstags hängen. Ich brauche ein paar Anläufe bis ich das Exemplar wiederfinde und weiche auf meiner Suche gekonnt drei penetrant hilfsbereiten Mitarbeitern aus. Sie beäugen mich kritisch und frage sich zu Recht, weshalb jemand mit meinen Klamottenstil einen Fuß in den Laden setzt. Es mangelt mir an Stilbewusstsein und weiß es auch. Nur, wie vieles ist es mir schlichtweg egal. Klamotten müssen nur eine Funktion erfüllen und alles andere ist optional. Am frühen Abend betrete ich ein leeres Zimmer. Ich hab es nicht anders erwartet. Leise seufzend werfe ich die Tüte mit dem gekauften Wogen-glätten-Pullover auf Jeffs Bett, kritzele ein Sry auf einen Zettel und lege ihn oben drauf. Für die fehlenden zwei Buchstaben des bedeutungsschweren Wortes habe ich schon keinen Nerv mehr. Lange Entschuldigungen waren noch nie meine Stärke und werden es auch nie werden. Egal, ob es klappt oder nicht, mein schlechtes Gewissen hat es beruhigt. Ich lasse mich an meinen Schreibtisch nieder, öffne die Zusammenfassung, die ich bereits vor ein paar Tagen für Shari geschrieben habe und entwerfe eine Weitere mit dem neuen Thema nach demselben Schema. Im Grunde sind es hübsche kleine Lernschemata mit zusätzlichen Herausforderungen in Form von kleinen Denkaufgaben. Niemand hat gesagt, dass ich es einfach halten muss. Noch dazu ist es auch für mich eine gute Wiederholung. Doch irgendwann schweifen meine Gedanken ab. Ich lehne mich auf dem Stuhl zurück, lasse meinen Kopf nach hinten fallen und schließe die Augen. So sehr ich mir auch einrede, dass mir das Ganze mit Kain gleichgültig ist, so sehr irritiert mich noch immer dieses seltsam aufgeregte Gefühl, welches sich in meinem Körper hält. Es kribbelt tief und intensiv. Die Leidenschaft, betrunken oder nicht, hatte mir gefallen. Das Gefühl seiner fordernden, wissenden Hände auf meinem Körper war angenehme Überraschung. Ich schließe die Augen und so gleich hallen die von ihm verwendeten Worte durch meinen Kopf, die ich selbst geschrieben habe. Das Raunen. Das tiefe Wispern. Er hat mit mir gespielt und ich bin mir sicher, dass er es bewusst getan hat. Ich versuche mir vorzustellen, wie ich eine solch verzwickte Lage in meinen Romanen lösen würde und komme auf keinen grünen Zweig. Trotz einer mentalen Auflistung all meiner Romanpaare und ihrer Eigenarten und der Konstruktion einer ähnlichen Szene, habe auch noch gründlichem Grübeln keine adäquate Lösung. Alles endet in den rosaroten Zuckerwattewolken, die mein Gehirn verpesten und ohne Frage nicht in die Realität übertragbar sind. Kein gutes Zeichen. Ein Autor sollte in der Lage sein das gesamte Spektrum der menschlichen Gefühle darzustellen, sollte verschiedene Charaktere kreieren und deren Verhalten typgerecht modellieren. Auch solche, die nicht dem eigenen Naturell entsprechen. In meinem Fall entspricht keiner der Charaktere meinem eigenen Naturell und genau das macht es zum Problem. Allerdings ist es gar nicht so einfach Figuren zu entwickeln, die einen gewissen Wiedererkennungswert haben ohne die ständig auftretenden Plattitüden und Klischees. Reiche Kerle sind immer Arschlöcher. Arme immer naiv und träumerisch. Ich kenne genügend arme Arschgeigen. Viele meiner Charaktere sind Stereotypen und das nur, weil es in der breiten Masse so gewünscht ist. Sie folgen einem gewünschten Schema, welches bestimmte Gefühlsregungen im Leser hervorruft. Das schüchterne Mädchen, welches beim bösen Jungen nichts weiter als das Bedürfnis zu beschützen auslöst. Ebenso beim Leser, der förmlich erwartet, dass es zu errettenden Situationen kommt. Harte Schale. Weicher Kern. Natürlich lässt sich das Ganze auch umdrehen, in dem das taffe, abgeklärte Mädchen auf einen Kerl trifft, der ihr deutlich macht, was wahre Liebe ist. Verständlicherweise unter Komplikationen und Umwege, aber letztendlich steht er zu ihr egal, wie sehr sie jeden normal denkenden Menschen nervt. Fortsetzen kann man es mit der naiven Unschuld, die sich zuerst in den falschen Typen verliebt, um zu verstehen, dass die Liebe ihres jungen, unbedarften Lebens längst an ihrer Seite gewesen ist. Als bester Freund oder Freund der idealisierten Kindheit. Diese Figurenkonstellationen sind so vielfältig, wie die Kelly Family und auch genauso altbacken und farblos. Es ist so absurd und doch habe ich zu jedem dieser Fälle ein Buch parat. Ich hasse mich selbst dafür. Ich starre eine Weile an die Decke und bin mit meinem Problem kein Stück weiter gekommen. Wahrscheinlich ist es das Beste das Ganze als das zu nehmen, was es ist. Sex. Nichts weiter. Nur Sex. Eine reine körperliche Ertüchtigung mit dem Austausch von Körperflüssigkeiten. Sex halt. Guter und sehr befriedigender Sex, sagt eine kleine Stimme in meinem Kopf und mein Körper erschaudert im passenden eloquenten Rhythmus. Soviel zu der Hoffnung, dass sich die Fantasien damit erledigt haben. Ich richte mich ruckartig auf, schiebe die Gedanken beiseite und lasse mich auf mein Bett fallen. Ich schlafe ein ohne daran zu denken den PC auszumachen und erwache mit dem Kopf am Fußende des Bettes. Die Perspektive irritiert mich. Obwohl ich von allein wachgeworden bin, habe ich das Gefühl nicht richtig in die Gänge zu kommen. Ich brauche Ewigkeiten um mich umzuziehen und doppelt so lange um meine Sachen zusammenzusuchen. Ich drucke ein Exemplar der Zusammenfassungen für Shari aus und schiebe meinen Laptop in den Rucksack. Draußen krame ich mir eine Zigarette aus der Packung und seufze genervt als mein Handy zu klingeln beginnt. "Nein", sage ich knapp und klemme mir das Telefon zwischen Schulter und Ohr, während ich versuche meine Zigarette anzuzünden. Es kommen nur kleine Funken aus dem Feuerzeug, aber keine Flamme. "Nein? Egal, guten Morgen Baiserschmankerl. Welch freudige Überraschung, dass du gleich rangehst", flötet mir Brigitta entgegen. Ihre Worte untermalt mit einer summenden Melodie. Obwohl ihr meine negierende Begrüßung aufgefallen ist, scheint sich meine Lektorin nicht daran zu stören. Ich habe auch nichts anderes erwartet. "Hätte ich aufs Display geschaut, hätte ich dich ignoriert", murmele ich monoton und nehme nach dem dritten gescheiterten Versuch den Glimmstängel aus meinem Mund. der Tag ist jetzt schon zum Kotzen. Wehe es gibt nachher in der Mensa keinen Pudding. "Schnuckelspatz, das trifft mich gar nicht", kommentiert sie meinen haltlosen Ekelversuch. Schnuckelswas? Das ist neu. Es gefällt mir nicht. Sie nutzt mein verstörtes Schweigen sofort aus. "Ich bin heute Nachmittag in der Stadt und würde gern mit dir die Korrekturen besprechen und eventuell noch ein paar Sachen redigieren. Kriegst du mich in deinen vollgepackten Terminkalender unter?" "Habe ich eine Wahl?", frage ich und taste meine Taschen nebenbei nach einem anderen Feuerzeug ab. Das Glück ist mir nicht hold. Ich gebe es auf und betrete das Hauptgebäude der Uni. "Nicht, wenn du weiterhin bei uns Veröffentlichen willst." Ich hab es geahnt. Im Flur kommt mir eine riesige Studentenmenge entgegen. Sie scheinen alle gleichzeitig aus einem Hörsaal gekommen zu sein und drängen sich rücksichtslos und lautquatschend in den Gang. Die Lautstärke ihrer Gespräche verhindert, dass ich Brigittas Zeitvorschlag verstehen. Eine Hand streift meine Hüfte. Ein Rucksack trifft mein Schulterblatt und dann prallt eine fremde Schulter gegen meine. Das Handy fällt mir aus der Hand und geht scheppernd zu Boden. "Heeey, du Vollpfeife, pass doch auf...", rufe ich aufgebracht, kann aber die Person, die mich angestoßen hat nicht mehr ausmachen. Knurrend bücke ich mich nach dem Telefon. Die Abdeckung des Akkus hat sich gelöst, aber zu meiner Verwunderung ist das Gespräch mit Brigitta noch immer aktiv. "Robin?", fragt eine weibliche Stimme hinter mir, bevor ich meiner Lektorin eine Erklärung abliefern kann. Shari greift nach meinem Arm. Die schöne Inderin lächelt mir freundlich entgegen und ich deute ihr an, dass sie einen Moment warten soll. „Brigitta? Entschuldige, aber hier sind gerade Horden von Vollidioten unterwegs. 13 Uhr im Café?" Ich muss den Ort nicht weiter ausführen, denn Brigitta weiß, dass ich mein Lieblingseiscafé meine. Dort treffen wir uns fast immer. Sie bestätigt und ich lege auf. Mittlerweile hat sich der Flur geleert. "Willst du dich etwa vor dem Tutorium drücken?", fragt Shari amüsiert und streicht sich eine Haarsträhne hinter das Ohr. Ob ihr bewusst ist, wie verführerisch diese kleine Geste bei ihr wirkt? Ich bezweifele es. „Erwischt, wirst du mich jetzt verpetzen?", frage ich gespielt furchtsam und sehe, wie sie kichert. An ihrer linken Wange bildet sich dabei ein kleines Grübchen. Sie nimmt die Aussage nicht ernst und ich sage auch nicht, dass es im Grunde ernst gemeint war. Ich ziehe mir den Rucksack von der Schulter und krame die zwei Lektionen heraus, die ich für sie zusammengefasst habe. "Hier, du kannst ja schon mal einen Blick drauf werfen und Fragen formulieren, falls ich mich verspäten sollte." Sie nimmt die Blätter erstaunt entgegen. "Wow, hast du das alles gestern geschrieben? Fleißig, fleißig." "Siehst du, so sehr opfere ich mich für das Tutorium auf...", erkläre ich trocken, mache eine mir in den Kopf schießende Geste und sehe, wie sie amüsiert den Kopf schüttelt. "Wahrhaftig heldenhaft.", erwidert sie ebenso lapidar und zeigt eindeutig kein Mitgefühl. Shari ist knallhart. Meine Vorlesung beginnt in den nächsten Minuten, also verabschiede ich mich von der kleinen Inderin und kriege sogar ein Lächeln zu Stande. Ich trage es noch immer als ich mich in eine der mittleren Reihen des Hörsaals niederlasse. Mein Blick schweift über die Bänke und bleibt bei Kain hängen. Als wäre das nicht schlimm genug, sieht er in diesem Augenblick auf und mich direkt an. Er macht den Anschein aufzustehen. Seine Glieder zucken, doch er bleibt sitzen. Meine Hand verkrampft sich im Stoff meines Rucksacks als sich glücklicherweise das Licht ausschaltet und der Dozent mit der Vorlesung startet. Ich löse meinen Blick von dem anderen Mann und ziehe den Laptop aus der Tasche. Nach der Vorlesung mache ich mich auf den Weg in die Stadt. Bis zu meinem Treffen mit Brigitta habe ich noch einige Stunden Zeit und ich nutze sie zum Einkaufen. Meine Schwester hat bald Geburtstag und auch Jeffs rückt langsam näher. Eine Idee habe ich weder für den Einen, noch für die Andere. Ich mache einen Abstecher in die Buchhandlung und laufe zielstrebig zu den Regalen mit der Jugendliteratur. Noch immer erfasst mich ein gewisser Stolz, wenn ich meine Bücher im Verkauf sehe. Auch, wenn ich dieses Genre gern verteufele, es sichert mir mein Einkommen. Darauf kommt es an, das sagt jedenfalls Brigitta immer. Jedes Mal, wenn ich meinen Ärger über die eingeschränkten Motive und die ewigen Liebesplattitüden Luft mache, drückt sie mir eine Liste mit Kommentaren und Rezensionen in die Hand. Oft auch E-Mails von jungen Mädchen, die ihre Begeisterung zum Ausdruck bringen. Es berührt mich, auch wenn ich ihr die Blätter jedes Mal ungerührt zurückgebe. Mein Blick wandert über die Bücherreihen und stoppt bei dem Ersten, welches einen vertrauten Namen trägt. Von Anfang an Liebe. Es ist auch das Erste, was ich für den Verlag geschrieben habe. Ich suche nach dem Roman, aus dem die beiden Figuren für die neue Romanidee stammen. "Stockst du deine Lieblingslektüre auf?", ertönt es neben mir. Ich fasse das herausgezogene Buch fester und halte in meiner Bewegung inne. Ungerührt werfe ich einen Blick zur Seite und erkenne Kains rothaarigen Anhang. Rothaarige waren noch nie mein Fall gewesen. Ich habe einfach keine guten Erfahrungen mit ihnen gemacht. Im Kindergarten hatte mich der Stereotyp eines rothaarigen Rotzbengels vom Klettergerüst geschubst. Mehrmals. Bei einem dieser Male brach ich mir das Handgelenk. In der Grundschule lachte mich die rotblonde Marie Schubach aus, weil ich mich nicht an die Triangel traute. Aus gutem Grund, denn der Lehrer hatte mich zuvor für unfähig erklärt, weil ich die anderen Kinder ständig aus dem Takt brachte. Auch mit der Triangel, die man im Grunde nur am Anfang und am Ende anschlägt. Ich bin eine musikalische Vollkatasthrophe und mache keinen Hehl daraus. Mittlerweile hat es sich etwas gebessert oder ich habe es vollkommen akzeptiert, aber damals war das für mein Grundschülerherz eine harte Klatsche. In der Oberstufe gab es ein ähnliches Spiel. Marie wollte partout nicht meine Tanzpartnerin im Sportunterricht sein. Dabei war ich nicht die schlechteste Wahl. Ich weiß bis heute nicht warum. Irgendwann erbarmte sich eine Andere und mit der bin ich im Bett gelandet. Immerhin. Im ersten Semester hatte ich meine bisher letzte Kotzerfahrung mit Rothaarigen. Brigitta erzwang innerhalb einer Woche die Reste eines Romans von mir. Ich habe es total verpennt und schrieb mehrere Nächte am Stück um den Roman fertig zubekommen. Übermüdet und schlecht gelaunt nahm ich während einer Vorlesung Korrekturen vor. Oder eher gesagt, ich wollte es, denn ich hatte nur eine schreibgeschützte PDF-Datei bei und musste mir daher mühsam alle Änderungen auf einen Zettel notieren. Es war die besagte und gerade ebenfalls hinter mir wartende Rothaarige, die die gesamte Zeit über hinter mir saß und mitlas. Noch während der Vorlesung sprach sie mich darauf an und ich schaffte es geradeso sie davon zu überzeugen, dass ich es nur für ein Nebenfach kommentiere. Sie machte sich trotzdem darüber lustig, weil sie nicht dachte, dass Männer meines Alters solche Geschichten lesen würden. Diese Art der Bücher seien allgemein langweilig und öde. Seither ist sie unten durch und sammelte auch bei dem späteren Aufeinandertreffen bei Projekten und Gruppenarbeiten keine Pluspunkte. "Die liest meine kleine Schwester auch...Quincey Bird. Lächerlich", kommentiert sie und lehnt sich gegen das Holzregal. Ich starre sie nur an, während ich versuche nicht zu stark die Zähne zusammenzubeißen. Ihre langen roten Haare fallen in großen Wellen über ihre schmalen Schultern. Sie trägt eine viel zu kurze beige Lederjacke und betont damit ihren bubenartigen Oberkörper. Sie ist flach, wie ein Brett und da kaschiert auch der wasserfallartige Ausschnitt ihres Tops nichts. Jeff wäre stolz auf mich, denn ich höre ihm wohl mehr zu als mir bewusst ist. Ich blicke auf das Buch in ihren Händen. Ein Lehrbuch für Biochemie. Es gehört zum Standardrepertoire und ich kann es fast auswendig. "Wie ich sehe, machst du endlich etwas für deine Bildung. Wenigstens einen Rat hast du angenommen." Nun lasse ich meinen Blick einmal auffällig abschätzig über ihre gesamte Erscheinung wandern. Ich streiche mir kopfschüttelnd über die Lippen und sehe mit Genugtuung, wie sich ihre Augen zu schmalen Schlitzen verziehen. Sie weiß genau, was ich andaute. Diesmal trägt sie neben ihrem roten Haupt, dem Lippenstift auch noch rote Sneakers. "Pff, ich lasse mich doch von dir nicht über Stil und Mode belehren. Du trägst zwei unterschiedliche Socken." Sie deutet auf meine Füße und meine hervorschauende Strumpfware. Ich blicke nicht mal nach unten. "Tja, käme Jeff mit der Wäsche hinterher hätte ich den passenden Komplementärton zum roten Socken getragen, aber nun muss es der Blaue machen." Weit gefehlt, wenn sie denkt, mich damit beschämen zu können. Ich trage schon seit Jahren keine passenden Sockenpaare mehr und ihr Kommentar dazu tangiert mich kein bisschen. Sie schnaubt auf. "Daran sieht man, dass du überhaupt keinen Geschmack hast. Du bist lächerlich!", giftet sie mir zu und ihr ist deutlich der Ärger anzusehen, den meine Nicht-Reaktion mit sich bringt. "Ja, sagt der armselige Clown auf Freigang", entgegne ich diesen halbherzigen Angriff und verkneife mir das passende Lachen nicht. Langsam nimmt ihr Gesicht den gleichen Ton an, den auch ihre Lippen und Haare haben. "Wie hat es jemand, der sich morgens nicht mal zwei gleiche Socken anziehen kann auf die Universität geschafft?", startet sie einen weiteren Versuch mich zu diffamieren und ich bin geradezu enttäuscht als sie kein neues Angriffsthema wählt. Für gewöhnlich sind solche Zicken kreativer. Bedauerlich. "Ich hatte den passenden NC für den Studiengang und habe gedacht, wieso nicht. Immerhin kann nicht jeder mit dem Grund an die Universität gehen, sich einen Namen als modeverqueres Dummchen zu machen. Machst du aber gut", erwidere ich ohne länger darüber nachzudenken und nicke ihr beim letzten Teil bestätigend zu. Ihr Mund öffnet sich fischartig und sie atmet angestrengt ein. Sie braucht etwas länger um eine Erwiderung zu finden, also wiederhole ich meine aufmunternde Geste, was sie natürlich verärgert. "Zu deiner Information mein Studiengang hatte auch einen NC und die Reaktionen deines eigenen Geschlechts sprechen für sich." Sie deutet an ihrem posierenden Körper entlang, um mir deutlich zu machen, was sie mit ihrem Kommentar meint. "Ich denke, du siehst aus als wärst du leicht zu haben und das mögen Männer. Dann müssen sie sich nicht anstrengend. Und so unter uns Biologen. Noch dazu ist die Wahrscheinlichkeit einer Rot-Grün-Schwäche bei Männern größer. Kennst du den Spruch 'Bei Nacht sind alle Katzen grau'? Bei dir bekommt er eine völlig neue Bedeutung. Und glaube mir, seit ich dich kenne, wünsche ich mir nichts sehnlicher als eine ausgeprägte Protanopie, damit mir dieser ... " Ich deute mit dem Zeigefinger einmal ihre gesamte rotdominierte Erscheinung an und schüttele wiederholt den Kopf. „... Anblick erspart bleibt. Ein Hoch auf diesen rezessiv vererbten Gendefekt", vollende ich. Das Tolle daran mit einem Biologen zu reden ist, dass man solche Vokabeln nicht erklären muss. Für gewöhnlich. Bei dem Blick, den mir die Rothaarige zu wirft, bin ich mir jedoch nicht sicher, ob sie vor unverdauter Wut gleich an die Decke geht oder einfach nicht versteht, womit ich sie gerade beleidigt habe. "Wow, der Grand Canyon füllt sich rapide. Vielleicht hat Abel ja Recht und wir müssen bald den Marianengraben mit dazu rechnen", ergänze ich amüsiert als sie nicht sofort reagiert. "Du bist ein Arsch", schleudert sie mir fast spuckend entgegen. Sie spielt die Schimpfwortkarte. Ich bin ein wenig enttäuscht und verkneife mir ein Lachen. "Schwach. Vielleicht solltest du fürs nächste Mal einen Blick in deine Lehrbücher werfen, statt dir stundenlang ein Clownsgesicht zu malen. Ist effektiver", gebe ich abschließend von mir und wende mich wieder dem Regal zu. Ich schiebe den Roman zurück in die Reihe und merke, wie sie aus meinem Blickfeld verschwindet. Ich verschränke die Arme vor der Brust und starre noch einen Moment auf die Buchrücken. Sie sind komplett durcheinander. Eins fix zwei habe ich sie nach dem Erscheinungsjahr geordnet und mache mich auf die Suche nach meinen stärksten Konkurrenten. Leider muss ich wohl eher Konkurrentinnen sagen, denn es gibt durchweg weibliche Autoren in der Romanzensparte. Sicherlich sind etliche davon auch Pseudonyme, so wie es bei mir der Fall ist, aber dennoch ist es ernüchternd. Ich schwenke zu einem der Nebenregale und stoße dort auf ein paar Bücher mit gleichgeschlechtlichen Paaren und LGBTQIA*-Inhalten. Das Bild, welches sich hier zeichnet, ist weniger rosa. Auch hier finden sich viele klischeehafte Elemente resultierend aus verstörenden Missverständnissen und Unverständnisse. Viele Bücher mit theatralischen Coming Outs, die entweder dramatisch enden oder in völligem Wohlgefallen. Kaum etwas, was sich dazwischen bewegt. Nichts, was beide Seiten aufzeigt oder eine schnöde Alltäglichkeit skizziert. Ich nehme ein Buch heraus, in dem es um jemand geht, der bereits in der Schulzeit um seine Homosexualität weiß, aber erst viele Jahre später in seinem Freundeskreis und in seiner Familie dazu steht. Ich erkenne Jeff darin, obwohl ich mir eingestehen muss, dass ich gar nicht weiß, ob seine Familie, also seine Mutter Bescheid weiß. Ob es die Anderen aus unserer Klasse wissen? Vermutlich bin ich wirklich der einzige Blindfisch, der es einfach nicht geschnallt hat, weil ich ignorant und ichbezogen bin. Nach fünf gelesenen Seiten lasse ich mich auf einen der Lesesessel fallen und blicke erst auf als ich den Roman zur Hälfte durchhabe. Noch immer habe ich etwas Zeit bis zu dem Treffen mit Brigitta. Ich lege das Buch dennoch zurück und kaufe mir einen schwedischen Kriminalroman. Brigitta lässt mich warten. Selbst, wenn ich zehn Minuten verspätet käme, würde sie dennoch erst eine Viertelstunde später auftauchen. Wie sie das macht? Keine Ahnung. Genauso, wie die Leute die am Dichtesten an der Schule wohnen grundsätzlich verspätet ihren Weg ins Klassenzimmer finden. Solche Dinge gehören zu einer äußerst absurden Form von Gesetzmäßigkeiten. "Sieh mal an, wer sich mal wieder her traut?" Eine belustigte Stimme lässt mich aufsehen. Luci. Tochter des italienischen Cafébesitzers. Ihre langen dunkelbraunen Haare sind zu einem Zopf geflochten, der ihr leger über die Schulter fällt. Sie hievt einen metallischen Eiscontainer auf den Tresen, in der sich eine hellrosafarbene Substanz befindet. Ich erhebe mich von meinem gewählten Sitzplatz und gehe auf die Anrichte zu. "Na, sieh mal an, wer da nicht in der Schule ist", erwidere ich amüsiert und beuge mich über den Verkaufstresen. Luci grinst schelmisch und wirft ihren Zopf zurück als sie sich runterbeugt um einen Abdeckung unter dem Tresen hervorzuholen. "Wir haben Praktikumswochen. Also darf ich das machen, was ich sowieso schon immer in meiner Freizeit mache. Herrlich, oder?", erklärt sie trocken, schiebt das Metall in die vorgesehene Kühlvorrichtung. "Absurd würde ich eher sagen.", antworte ich und hebe passend dazu meine Augenbraue. "'Als ob du nicht immer das Gleiche machst. Du bestellst sogar immer den gleichen Eisbecher." "Ja, mache ich und sei dir gewiss, dass ich die Erdbeeren jedes Mal ganz genau zähle." Luci mustert mich lachend und lehnt sich zu mir auf den Tresen. Ihre schönen grünen Augen blitzen aufmerksam und lebendig. Es ist ein Hingucker. Ihre Hände kommen vor meinen zum Liegen. Darin hält sie ein Probierstäbchen, auf dem sich die zartrosafarbene Masse befindet. Mein Blick wandert von ihrem Gesicht zu ihren Händen. "Und was hat meine Eisprinzessin heute für mich?", säusele ich. "Für meinen Eisprinzen nur das Beste", sagt sie zuckersüß und hält mir den Holzlöffeln hin. Ich nehme ihr diesen ab, schnuppere zuerst und lasse meine Zunge danach über die zarte Creme wandern. Säure. Süße. Schärfe. Jede dieser Geschmacksrichtungen explodiert so gleich auf einem anderen Bereich meiner Zunge. "Himbeer-Trüffel mit rotem Pfeffer auf Sahne-Mascarpone-Basis", erklärt sie als ich ein weiteres Mal über den Holzspatel lecker und mit den Rest tilge. Sie beobachtet mich interessiert und ich versuche meinen Gesichtsausdruck halbwegs unbeeindruckt zu halten. Der vollmundige, leicht saure Fruchtgeschmack der Himbeere tanzt auf meine Zungenspitze. Ein dezenter Hauch von Trüffeln, der sich aber nur erahnen lässt ohne alles andere zu überdecke. Abgerundet durch feine Schärfe, die sich meinen Hals entlang arbeitet, aber viel zu schnell verebbt. Es ist köstlich und das zeige ich ihr nun auch mit einem breiten Grinsen. Luci und ihr Vater stellen Eis in eigener Produktion her. Original italienischer Art und in ebensolche Perfektion. Seit ich hier studiere, haben sie bereits hunderte verschiedene Sorten hergestellt und denken sich immer wieder etwas Neues aus. Fantastische und manchmal auch sonderbare Kombinationen. Kuriose Geschmacksrichtungen. Ich erinnere mich an ein Eis mit dem Geschmack von Senf und Majoran. Biereis und Weinsorbet. Sie versuchen sich wirklich an allem Essbaren und ich genieße es, es zu testen. Ich bin ein dankbarer Tester. Einer meiner Favoriten war eine Kombination aus Nougat und Baileys. "Lucrezia!", ruft aus dem hinteren Ladenbereich. Der Eiskönig. Ihr Vater. "Was?", brüllt sie unbeeindruckt zurück. "Kommst du bitte her." "Gleich! Und?" Das letzte Wort ist nur geflüstert. Ich beuge mich über die Lippen leckend zu ihr. "Köstlich, aber ich würde nur Mascarpone oder Sahne nehmen. Beides zusammen unterdrückt die sanfte Schärfe des Pfeffers zu sehr." Kaum endet meine minimale Kritik und schon drückt sie mir mit der flachen Hand das Gesicht leicht zur Seite. Ich grinse in ihre Handfläche. "Ach, du hast doch immer etwas zu meckern", sagt sie kichernd. "Darauf stehst du doch und es ist kein meckern, es ist konstruktives verbessern", kontere ich, sehe mit Vergnügen dabei zu, wie sie leicht rot wird. "Wirklich?", brummt es uns entgegen und mit einem Mal steht ihr Vater neben ihr. Ich richte mich erschrocken auf und hebe abwehrend die Hände in die Luft. Er weiß, dass es zwischen uns nur kleine Späße sind, aber wenn er so grimmig schaut, werden selbst meine Knie weich. "Luci, ich brauche dich hinten in der Küche. Buon giorno, Robin.", verabschiedet er mich übertrieben höflich und mit einem ganzen Zaun statt nur einem Pfahl. Meine gehobenen Hände machen nur eine leichte Winkbewegung. Luci verdreht meisterlich die Augen und wartet darauf, dass ich eine ebensolche Regung von mir gebe, doch ich stehe unter totaler Beobachtung und würde es nicht wagen ihrem Vater zu widersprechen. "Ich komme ja schon", sagt Luci kichernd und schiebt sich an ihrem Vater vorbei zur Küche. "Robin hat übrigens Recht. Das nächste Mal lassen wir die Mascarpone weg.", sagt der große Italiener und nickt. Nun stupst Luci auch ihrem Vater gegen die Schulter und verschwindet im Zubereitungsraum. "Sie macht das toll", merke ich an und meine es wirklich ernst. Sie ist kreativ und innovativ. Sie hat im letzten Sommer sagenhafte Kreationen gezaubert, die bei allen sehr gut angekommen sind. "'Ja, ich bin sehr stolz auf sie.", sagt er warm lächelnd, "Und kann ich noch etwas für dich tun?" Er deutet auf die Vitrine mit den einzelnen Eissorten und danach auf die Karten im Hintergrund. Ich folge seinem Blick sehnsüchtig "Nein, noch nicht. Ich warte noch auf jemand. Obwohl alles wieder mal extrem verlockend aussieht." Lucis Vater nickt, sieht sich nach weiteren nicht vorhandenen Kunden um und verschwindet ebenfalls zurück in die Küche. Ich trabe zu meinem Tisch zurück und blicke erneut auf die Uhr. Unfassbar. Irgendwann kommt Lucrezia zurück zum Tresen, ist aber schwer beschäftigt. Ich schaue ihr eine Weile dabei zu, wie sie sämtliche Oberflächen reinigt und die To-Go-Becher auffüllt. Ich grinse als daran denke, wie wir uns kennengelernt haben. Es ein verregneter Tag und involviert war schlechte Laune auf beiden Seiten und eine Tonkabohne. "Sie ist wirklich sehr hübsch anzusehen, aber doch etwas zu jung für dich, oder?" Brigitta reißt mich aus den Gedanken und lässt sich auf den nächstgelegenen Stuhl fallen. "16 Jahre alt", bestätige ich ihre Annahme und hoffe damit jeden weiteren dummen Spruch zu unterbinden. Doch ich irre mich. Meine Lektorin klatscht in ihre Hände, die durch ihre langen Fingernägel ein bisschen, wie Krallen wirken. Wie schafft sie es damit zu tippen? Selbst ich treffe auf meinem Handy manchmal die Tasten nicht und meine Hände sind eher schlank. "Großartig. Sie ist genau deine Zielgruppe!", quietscht sie freudig und sagt damit etwas völlig Unerwartetes für mich. Zielgruppe? "Wie bitte?", frage ich verstört. Ich mustere die erwachsene Frau vor mir. Sie trägt eines dieser Businesskostüme in Marineblau. Ihre beigefarbenen Schuhe passen zu dem gleichfarbigen Schal um ihren Hals, aber keineswegs zu den kirschförmigen Ohrringen und der auffälligen Brille. Ihre pflaumenfarbenen Haare sind diesmal hochgesteckten Stil. Sie wirkt strenger als sonst. Ihr heutiges Äußeres passt nicht ganz zu ihrem quirligen, manchmal anstrengenden Wesen. "Als Leserin, meine ich natürlich... Robin, ich bitte dich...", erläutert sie zwinkernd. "Hast du ihr mal eine Leseprobe gegeben?" Brigitta strahlt und ich merke, wie meine eigene eher gelangweilte Mimik flöten geht und einer leichten Fratze Platz macht. "Nein, natürlich nicht und du wirst das auch schön bleiben lassen.", warne ich, erwecke aber mehr den Anschein als hätte man mir gerade erklärt, dass der Weihnachtsmann nicht existiert. Sie versucht zwei weitere Male mich davon zu überzeugen, wie gut es wäre einen feste Stammleserin zu haben, doch ich werde nur deutlicher. Irgendwann seufzt sie resigniert, beugt sich zu ihrer Tasche und holt ihr Tablett heraus, ich meinen Laptop. Wir bestellen bei einer der Kellnerinnen und ich höre mir bei meinem typischen Erdbeer-Eisbecher an, welche Änderungsvorschläge sie hat. Es sind vor allem Kleinigkeiten und Missverständnisse. Manche Formulierungen sind in meinem Kopf prägnanter als im Text. Das muss ich ausbessern. Hin und wieder gibt es fehlende Bezüge. Diese Passagen müssen entfernt oder ausgeweitet werden. Irgendwann habe ich mehrere Seiten Stichpunkte im Laptop und das restliche Eis in meinem Becher ist zu einer zähflüssigen Masse geschmolzen. "Wir streben die Veröffentlichung für das kommende Quartal an also hast du für die Ausbesserungen noch etwas Zeit." Sie nimmt einen großen Schluck ihres abgekühlten Kaffees und behält einen Schaumbart auf ihren dunkelrot geschminkten Lippen zurück. Es dauert einen Moment bis sie die Rückstände vollkommen entfernt hat. Ich denke derweilen an die neue Romanidee, die ich habe und bin noch nicht sicher, was Brigitta dazu sagen wird. In meinem Kopf hat sich bereits ein gesamter Plot formuliert. Dialoge und deren Auslöser haben sich gefestigt. Die negativen Gefühle durchschwimmen meine Gedanken, zeichnen Szenen von tränenverhangenen Augen, bebenden Lippen und brechenden Stimmen. Es wird kein zartrosafarbenes Ende geben. Viel mehr wird es eine verzweifelte Liebe voller Sehnsüchte und dem letztendlichen Verstehen, dass es manchmal keine Erwiderung gibt, egal, wie sehr man sie sich auch wünscht. Ich frage mich, ob ich ein Klischee fabriziere, wenn ich gerade dieser unerwiderten Liebe einen gleichgeschlechtlichen Aspekt gebe. Ich denke an den Roman zurück, denn ich vorhin in der Buchhandlung gelesen habe. Auch dort schwelte das Unglück. Es ernüchtert mich ein wenig. Vielleicht finde ich noch eine bessere Lösung. Ein Hoffnungsschimmer. Ein Funken. "Hast du den Termin auf dem Schirm?", höre ich meine Lektorin fragen, doch anstatt ihr zu gestehen, dass ich gerade nicht zu gehört habe, lecke ich meinen Eislöffel ab. "Sag mal, du hast doch auch einen Blick auf die anderen Genrebereiche und Splittergruppen, oder?", frage ich mit meinen eigenen Gedanken beschäftigt. "Unseres Verlags? Nun ja, das sind ja nicht sehr viele. Aber ich hab dir schon mal gesagt, dass du beim Liebeskram bleiben musst." Sie rührt ein weiteres Mal ihren Milchkaffee um und leckt den Schaum vom Löffel. "Schon klar, ich kann deine Tiraden schon auswendig. Nein, mich interessiert, wie gut wir in dem Bereich für gleichgeschlechtliche Liebe vertreten sind?" Ich angele in dem geschmolzenen Eissee nach einem Stück Erdbeere und sehe erst auf als Brigitta mir nicht sofort antwortet. Ihre, hinter Glas verborgenen Pupillen sind geweitet und damit gigantisch. "Will mein Marshmallowritter etwa über Zuckerstangen schreiben?", lässt sie plötzlich fallen. Irgendwann trage ich von diesen Kosenamen ein Trauma davon. Garantiert. Ein schrilles Quietschen ertönt als Untermalung ihres mehr als verstörenden Kommentars. Mich verunsichert, dass ich nicht einschätzen kann, ob es pures Entsetzen oder freudiges Übertreiben ist. "Hast du einen Schlaganfall?", frage ich irritiert und sehe dabei zu, wie ihr übertrieben verzogenes Quietschegesicht in sich zusammenfällt. "Für wie alt hältst du mich?", fragt sie mürrisch. Ich zucke entschuldigend mit den Schultern und schiebe das Eisglas weg. Ich schätze sie auf Mitte dreißig, aber bei Frauen kann ich es immer nur schwer einschätzen. Brigitta fängt sich schnell, trotz ihres enormen Entsetzens und klatscht erneut in die Hände. Sie lächelt mir breit entgegen. "Oh Robin, was planst du? Ich finde es schon jetzt fantastisch. Wirklich! Großartig. Ich sehe großes Potenzial. Wie kommt es dazu? Das hätte ich ja niemals gedacht.", plappert sie freudig erregt. Sie klingt wie ein Fan-Girl. Mein Verstand winkt das Trauma immer näher. "Moment mal, beruhig dich wieder. Ich plane gar nichts dergleichen", wiegele ich ab. Ihr Gesichtsausdruck wird zum Lehrstück der Enttäuschung. Ihr Mund verschmälert sich auf die Hälfte und wird zu einem Strich. "Warum fragst du dann?", fragt sie schmollend. "Okay, hör kurz zu. Ich arbeite an einer neuen Idee. Sie ist etwas anders und greift zwei Charaktere aus 'Potenzierte Versüßung' wieder auf", erläutere ich und sehe, wie Brigittas Mund zu einem O wird. "Martin und Sandra, oder? Du hast bereits damals eine Verbindung zwischen den beiden angedeutet. Das wäre klasse", beginnt sie zu fantasieren. Ihre Augen glänzen erwartungsfroh. "Nicht ganz. Martin und Ryan." Brigitta stockt. "... und Sandra", ergänze ich. "Eine Dreiecksbeziehung?" Sie wirkt skeptisch erregt. Wahrscheinlich hat sie eine typische er- liebt- sie -und -er- liebt- sie- auch- Geschichte im Kopf. Der klassische Klischee-Stempel. "Ja, aber ein unkonventionelles Dreieck" Sie braucht eine Weile, bis sie meine Anspielung versteht. Ihr entflieht ein leises Oh, welches zum Ende hin aufgeregt wird. Ich gebe ihr einen kurzen Abriss und Brigitta nickt es ab. Wir vereinbaren, dass ich ihr einen Vorentwurf zukommen lasse und sie sich mit dem Verleger zusammensetzt. Zwei diabetesverursachende Kosenamen später habe ich das Bedürfnis meinen Zahnarzt aufzusuchen. Brigitta verabschiedet sich und ich bin nur haarscharf an einem Trauma vorbeigeschliddert. Ich lehne mich geschafft zurück und sehe meiner Lektorin nach, die enthusiastisch und bereits telefonierend davon stöckelt. Sie winkt sich ein Taxi heran und verschwindet aus meinem Blickfeld. Ich sehe mich nach Luci um, doch sie ist nirgends zusehen. Ich gehe, stecke mir draußen eine Zigarette an und laufe zur Universität zurück. Das Tutorium steht an und ich habe so viel Lust, wie beim letzten Mal. Vor dem Seminarraum atme ich noch einmal tief durch und öffne die Tür. Neben Shari steht ein junger Mann mit dunkelblonden Haaren. Er berührt zärtlich ihren Unterarm. Auf ihren Lippen liegt ein sanftes Lächeln. Sie flüstern und schmunzeln. In meinem Kopf spinnt sich ein Dialog. Gehauchte Worte voller Zuneigung und Anspielungen. Gibt er seine Wünsche preis oder genießt sie einfach nur das Gefühl gewollt zu werden? Es könnte auch etwas Amüsantes sein. Ein Moment für die Ewigkeit. Sie blicken auf als ein paar geräuschvolle Schritte mache. Ein weiteres Flüstern folgt und ein kurzer Abschiedskuss. Als er an mir vorbeikommt, grüßt er lächelnd. Dann bin ich mit Shari allein. "Du verfluchst gerade meine Pünktlichkeit, oder?", gebe ich neckend zum Besten, während ich dem jungen Mann nachsehe. Ein wahrer Glückspilz, wenn täglich in diese hübsche Gesicht sehen darf. "Du sagst es. Jetzt bist du nur noch halb so heldenhaft für mich.", neckt sie zurück. Eine Anspielung auf den Spruch von vorhin. Ich fasse mir gespielt getroffen gegen die Brust, ziehe mir den Rucksack von den Schultern und hole mir einen Stuhl ran. Auf dem Tisch liegen unsere Lehrbücher und auch die Ausdrucke der Zusammenfassung. Ich erkenne einige Notizen und auch, dass die von mir erstellten Fragen darauf, bereits beantwortet sind. Neugierig ziehe ich die Blätter zu mir heran. Es sind vor allem ein paar ergänzende Worte in feinsäuberlich geschwungenen Buchstaben. Eine typische Mädchenhandschrift. Shari legt mir schonungslos das Lehrbuch vor die Nase und tippt mit ihrem schlanken Zeigefinger auf eine Überschrift. Darunter zeigt sich direkt eine schöne chemische Abbildung von Carnosin. Ein Peptid, welche im menschlichen Körper in den Muskeln, Nieren und der Leber zu finden ist. „Hübsch, oder? Ich mag vor allem diese schnuckelige Carboxylgruppe", sage ich, nachdem von Shari keine Erklärung kommt, warum sie gerade diesen Abschnitt raus gesucht hat. Ich erreiche, was ich bezwecke. Sie beginnt zu lachen und stellt ihre Frage. Ich versuche, es ihr zu erklären. Sie nickt und schreibt sich lauter kleine Notizen. Als ich ende, schreibt sie einen größeren Abschnitt nieder und ich lasse meinen Blick entspannt wandern. Ich erfasse ihr ebenmäßiges Gesicht, ihren schlanken Hals, der durch den Kragen ihrer Bluse beschnitten wird. Der obere Knopf ist geöffnet und gibt Teile ihres Dekolletés preis. Ihr linkes Schlüsselbein tritt deutlicher hervor durch die Schreibbewegung ihrer Hand. Meine Gedanken schweifen davon. Ihr Haar ist ein einziger Schwall seidenen, schwarzen Wassers. Einzelne Strähnen kitzeln zärtlich über ihre sonnengeküssten Schultern, legen sich liebevoll und verdeckend über wohlgeformte Brüste. Sie geben nur so viel Preis, dass es die Fantasie anfacht. Es erweckt den Wunsch mit den Fingerspitzen die abgeschirmten Hautpartien freizulegen. Mehr zu entdecken. Alles zu erforschen. Die zarte Haut darunter zu ertasten und durch die Berührung feinste Härchen zu stimulieren. Es ist, wie ein stilles Feuer, welches tief im Inneren schwelt. Das erregende Kitzeln der Fingerspitzen, wenn die Vorstellung einer hauchzarten Berührung immer ekstatischer wird. Eine leichte Bewegung und ein klein wenig mehr Haut legt sich frei, offenbart den feinen Schwung ihres Schlüsselbeins. Ihre Haut mit dem Glanz von sonnengeküsstem Honig. Ob sie auch so süß schmeckt? "...bin...Robin? Hey, alles okay bei dir?" Shari lächelt mir entgegen, stupst mir gegen den Atm und streicht sich danach ihre langen, schönen Haare hinters Ohr, sodass ihr Dekolleté freigelegt wird. Es ist kaum etwas zu sehen. Nur zu erahnen und dennoch spinnt mein Kopf weitere Worte der fantasierten Vorstellung. Der Übergang von den festen Brüsten zum flachen Bauch. Der zarte nach innen verlaufende Bogen der Taille, der am unteren Ende in einem zart angedeuteten Beckenknochen verläuft. Sie hat Rundungen an den richtigen Stellen. Weiblich. Sinnlich. Wunderschön. 'So, fress ich dich mit Haut und Haar! Tiefer, immer tiefer'. Kains raunende Stimme in meinem Kopf. Das Kitzeln seines erregten Atems in meinem Nacken als er mir genau diese Worte zu flüsterte. Mein Kreislauf kommt in Fahrt und mein Puls ist plötzlich so laut, dass ich Shari kaum noch verstehen kann. Was ist nur los mit mir? Wieso denke ich auf einmal wieder an Kain? „Träumst du?" Diesmal verstehe ich sie. "Entschuldige. Ich habe extrem schlecht geschlafen." Tolle Aussage. Boden öffne dich. Nichts passiert. Simsalabim. Noch immer nichts. Abrakadabra? Ich gebe es auf. "Wirklich?" Sie kichert. "Hat man dir schon mal gesagt, dass du eine auffällige Gesichtssymmetrie hast?", gebe ich von mir. Nun denke ich an Avada Kedavra, aber ich falle einfach nicht tot um. Sharis Blick wechselt von verwundert zu erstaunt und danach zu verstehend. Nun wird sie leicht rot. Bezaubernd. "Mit diesen Worten hat man es tatsächlich noch nie gesagt... ", erwidert sie lächelnd. Ich nicke nur, tippe etwas nervös mit dem Bleistift gegen den Rand der Zusammenfassung und schiele auf mein Handy. Zwei neue Nachrichten. "Hey,..." Sharis schlanke Finger legen sich auf meinem Arm. "Danke schön", sagt sie lächelnd und noch immer ist zarte Röte auf ihren Wangen zu erkennen. Sicher sagt man ihr öfter, wie schön sie ist und doch wirkt sie als wäre es das erste Mal. Ihr naiver Charme ist umwerfend. "Hast du noch Fragen dazu?" Ich deute zurück auf das dicke Lehrbuch und auf die Zusammenfassungen. "Nein. Ja, wie lange hast du daran gearbeitet? Ich hab alles verstanden. Einfach so." Sie wirkt komplett irritiert als sie auf die Blätter deutet. "Ist doch gut, oder?" "Ja, toll!" "Na dann können wir das Ganze abkürzen. Bis nächste Woche", sage ich und richte mich auf. Ich greife gerade nach meinem Rucksack als ich kurz in ihr perplexes Gesicht blicke und daraufhin stoppe. "Hinsetzen!", ordert Shari streng. Ich lasse mich nach kurzem Zögern wieder auf den Stuhl fallen. "Dein Fluchverhalten ist komplett unnötig. Du machst das richtig gut." "Okay, mag sein, aber tue mir den Gefallen und lass das niemand wissen. Du darfst den armen anderen Unwissenden gern den Kram hier kopieren, aber sie sollen nicht auf die Idee kommen sich hier hinzusetzen." Damit schlage ich demonstrativ eines der Bücher zu und stehe wieder auf. Ich schließe meinen Rucksack und schiebe mein Handy in die Hosentasche. Ich hebe meine Hand zum Gruß und bin schon halb aus der Tür. "Ich treffe mich gleich noch mit Freunden in der Mensa. Möchtest du mitkommen?" "Beim nächsten Mal, vielleicht", lehne ich ab und sehe, wie sie nickt. Beim Heraustreten nehme ich mein Handy zur Hand und lese die Nachrichten. Eine ist von meiner Schwester. Sie fragt im Auftrag unserer Mutter, wann genau ich bei ihnen vorbeikomme und ich weiß es erst, wenn ich Jeff danach frage, wann er plant nach Hause zu fahren. Da er ein Auto besitzt, fahren wir oft zusammen, was mir ein Zug- oder Flugticket erspart. Ich lasse die Nachricht von meiner Schwester unbeantwortet und schaue mir die zweite an. Sie ist von Kain. Ich werde beim Lesen gestoppt als ich plötzlich gegen etwas Großes stoße. "Huch", gebe ich von mir, starre in Kains braune Augen und erkennen das feine Blitzen darin. Genau diesen Ausruf habe ich gemacht als er mich am Abend zuvor überrascht hat. Auch er denkt daran. Ich sehe es deutlich an dem amüsierten Lächeln auf seinen Lippen. "Augen auf im Straßenverkehr", giftet eine andere bekannte, weibliche Stimme. Erst bemerke ich, dass Kain das rothaarige Biest im Arm hält oder ihr zum mindestens die Hand an die Hüfte gelegt hat. Ich weiche automatisch ein paar Schritte zurück. "Oder hast du die roten Warnschilder nicht gesehen? Fortgeschrittene Protanopie?", ergänzt sie und fühlt sich in diesem Moment unheimlich schlau. Während ich an ihnen vorbeigehe, antworte ich ihr gestisch und lasse sie meinen ausgestreckten Mittelfinger sehen. Kapitel 8: Die existenziellen Mechanismen von Vermeidungsverhalten bei Regenschirmen ------------------------------------------------------------------------------------ Kapitel 8 Die existenziellen Mechanismen von Vermeidungsverhalten bei Regenschirmen Im Zimmer schmeiße ich den PC als auch den Laptop an. Währenddessen werfe ich einen kurzen Blick auf Jeffs Bett und ich sehe, dass die Tüte mit dem Pullover verschwunden ist. Ein Fortschritt an der Entschuldigungsfront. Ich nehme mir die Liste mit den Anmerkungen von Brigitta vor und schätze nach nur wenigen Seiten ein, dass ich dafür heute keinen Nerv habe. Die Szene, bei der das Liebespaar erneut zueinander findet, soll intensiver werden. Brigitta nannte es herzzerreißender und meint kitschiger. Ihr Wunsch ist mir Befehl. Herzzerreißend, wiederhole ich still. Ziemlich blutige Angelegenheit, wenn man mich fragt. Ob ich gute Horrorgeschichten schreiben könnte? Ich sollte es mal ausprobieren. Ich versuche ein letztes Mal mich zusammen zu reißen, um wenigstens den Absatz zu beenden. Doch es fällt mir weiterhin schwer. Denk rosa, mahne ich mich an. Rosa. Rosa. Pink. Pink. Die beiden Farben murmele ich eine Weile vor mich hin und es wird zu einem Ohrwurm. Meine Augen schließen sich und ich denke an die Umgebungs- und Personenbeschreibung, die die Szene färben. Ein weißes Auto, dessen Scheinwerfer die Straße in ein kühles Licht hüllt. Der laue Wind, der über erhitzte Wangen streicht. Ihr blondes Haar, was an diesem Abend durch Wind und Eile geformt ist. Sanft geschwungene Strähnen, die über ihre tränenbenetzte Wange streichen und dort haften bleiben. Die Lippen einen Hauch geöffnet, so, als würden sie jeden Moment die Worte formulieren, die sie schon so lange brennend und verzweifelt im Herzen trägt. Ihre feuchten Augen blicken zu dem Mann, den sie seit Kindheitstagen liebte und der sich nun anschickte für immer aus ihrem Leben zu scheiden. Sein letzter Blick gefüllt mit Trauer und Enttäuschung als die Worte einfach nicht von ihren Lippen perlen und so seine schlimmsten Befürchtungen bestätigten. Obwohl es Hoffnung war, die durch seinen Körper pulsierte als sich ihre bebenden Lippen sanft übereinander bewegen. Keine weiteren Worte und er wendet sich von ihr ab. Ihr Puls steigt als sie beobachtet, wie sich die samtbraunen Haare im Wind bewegen. Welch schweres Gefühl füllt ihr Leib als sie erkennt, dass nun die letzte Gelegenheit heran gebrochen ist. Sie durften die Chance ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen nicht verstreichen lassen. Zittrig, aber stark ist ihr Griff. Ihre schmalen Finger vergraben sich dem rauen Stoff seiner Jeansjacke. Flehend und bittend. Befreiend und beglückend, als er sich zu ihr umwand. Erst, als die blauen Augen des jungen Mannes von ihren Händen zu ihrem Gesicht wandern, beginnen die Worte aus ihrem Mund zu fliehen. Die unglaubliche Pein über seinen so ungeschickten Betrugsversuch. Die blinde Wut, die so grässlich Worte hervorgerufen hat. Das selbsthassende Gefühl als sie verstand, dass sie alleinige Schuld daran hatte, dass er fort gegangen ist. Die bittersüße Liebe, die sich in jeder ihrer Körperzellen sammelt und sich mit jeder einsamen Sekunde zu schmerzhaften Vermissen wandelt. Es erfüllt ihr Leib und es umwindet ihre Seele wie tonnenschwere Ketten aus Stahl. Ohne ihn ist sie nicht frei. Das weiß sie nun. Solche Worte zu formulieren, sorgt jedes Mal dafür, dass ich selbst ein reißendes Gefühl verspüre. Eine andere Person vermissen, egal mit welchem Hintergrund ist schwer. Unbewusst tastet meine Hand nach dem Portmonee in meiner Hosentasche und dann habe ich sie auch schon in der Hand. Ich weiß genau, was ich suche und blicke einen Augenblick später auf das zerknitterte Foto, welches hinter meinem Personalausweis versteckt ist. René. Das brennende Gefühl in meiner Brust wird zu einem Flächenbrand. Meine Brust pulsiert schmerzhaft und ich schiebe das Bild schnell wieder zurück, ohne es wirklich angesehen zu haben. Ich tippe noch das letzte rührende Liebesflehen und greife nach der Flasche Wasser vor meinem Bett, weil ich das Gefühl habe, dass mir in den letzten Minuten und mit den letzten Worten ein flauschig, rosafarbener Pelz auf der Zunge gewachsen ist. Fürchterlich. Ich überspiele den wahren Grund für das Verlangen aufzuhören. Ich habe normalerweise eine gut funktionierende Realitätsabwehr. Doch diesmal klappt es nicht hundertprozentig. Vermissen ist kein schönes Gefühl. Von jemand abhängig zu sein und ohne diese Person keinen klaren Gedanken mehr fassen zu können, ist auch kein gutes Gefühl. Was also war daran so schön, von jemand zu hören, dass man ihm diese Art der Gefühle verursacht? Ich würde es nicht wollen. Niemals möchte ich diese Form der Gefühle wecken, denn ich sehe darin keinerlei positiven Effekt. Ich nehme einen weiteren Schluck Wasser und lasse mich auf mein Bett fallen. Im ersten Moment bleibe ich auf dem Rücken liegen, doch nachdem sich meine Gedanken einfach nicht von diesem Thema abwenden, drehe ich mich auf die Seite und rolle mich zusammen, wie ein pelziges Nagetier. `Jetzt werde ich dich verschlingen, Rotkehlchen.` Es ist nicht mehr als ein heiseres Raunen in meinem Kopf. Ein Flüstern, welches sich durch meine Gehörgänge arbeitet. So nah. So intensiv. Die Erinnerung an seine Lippen an meinem Hals. Jeder einzelne Kuss schickte tausende kleine Stromschläge durch meinen Körper und nur der Gedanken daran lässt mich spüren, wie meine Haut zu pulsieren beginnt. Kains Körper über mir. Stark und unnachgiebig. Seine Wärme. Sein Geruch. Ich denke an seine Hände, die meinen Körper wissend und verstehend erkundeten. Es ist als würde ich sie noch immer auf meinem Leib spüren. Heiß und klar. Mit einem Mal sind sie verschwunden. Diesmal folgt ein helles Flüstern. Protanopie. Kains Lippen, die sich auf ihren feuchtglänzenden Mund legen. Ich schrecke zusammen, richte mich auf, streiche mir ein paar Haarsträhnen zur Seite und seufze schwer. Soweit ist es mit mir schon gekommen. Kain und das rothaariges Flittchen. Was findet er nur an ihr? Ich überlege lange. Sex. Er ist das Einzige, was mir einfällt. Aber nur weil er einfach zu haben ist, muss man sich doch nicht unter Niveau verkaufen. Automatisch fantasiere ich mir zusammen, wie die beiden sich kennen gelernt haben könnte, wie sie zusammengekommen sind und was sie wohl für eine Beziehung geführt haben. Ob Kain ein Beziehungsmensch ist? Ob er zum Vorzeigeteddybär wird? Er behauptet das Gegenteil, aber dem kann man wohl kaum Glauben schenken. Es hat nichts zu bedeuten, hallen Kains Worte in meinem Kopf wieder. Klar, äffe ich den Schwarzhaarigen weiter nach. Ich verziehe, während ich das Gespräch wiederhole das Gesicht und ärgere mich noch mehr darüber, dass es mich so aufregt. Wieso denkt er, dass es mir etwas bedeutet hat? Es war Sex. Nur Sex aus Neugier. Reiner Wissensdrang. Guter Sex aus akademischem Interesse. Eine der billigsten Phrasen überhaupt und wer es glaubt, wird selig. Diese Begründung ist selbst für einen gut trainierten Leugner wie mich abwegig. Ich war geil und betrunken. Schlicht und einfach. Eine denkbar schlechte Kombination. Alkohol ist noch nie mein Freund gewesen und die Geschichte mit Kain bestätigt mich nur noch mehr darin. Mein Problem mit der ganzen Geschichte ist im Grunde auch ein ganz anderes. Eines, was ich mir ungern eingestehe, aber kaum weiter leugnen kann. Ich fand es gut. Sehr gut sogar und das durfte nicht sein, schon gar nicht mit so einer Luftblase wie Kain. Missmutig robbe ich aus dem Bett, mache einen Abstecher zum Klo und danach einen Ausflug zur Mensa. Ich besorge mir eine Kleinigkeit zu essen und rauche unterwegs ein paar Zigaretten, um den Kopf frei zubekommen. Mit Tee und einem belegten Brötchen setze ich mich wieder an den PC. Jeff ist noch immer nicht zurück, dabei sind seine Vorlesungen längst vorbei. Vielleicht reicht diesmal der Pullover nicht aus? Quatsch. Es ist ein teurer Pullover und Jeff ist schon bei weniger eingeknickt. Manchmal reicht eine Packung Gummibärchen und er wird zum Mochi mit Eiscremefüllung. Aus meinem Kopfhörer dringt in diesem Moment Aloe Blacc mit 'I need a dollar'. In unserer langjährigen Freundschaftslaufbahn ist es schon des Öfteren vorgekommen, dass ich Jeff etwas gekauft habe, weil ich zu stolz und auch ein klein wenig zu unfähig bin, um mich schlicht zu entschuldigen. Es läuft immer nach demselben Schema ab. Ich bin ein Idiot. Jeff ist sauer. Ich kaufe ihm etwas. Jeff ist sichtbar happy und erfreut, will es aber aus Vernunft heraus nicht annehmen. Als nächstes sage ich ihm, dass ich die Quittung nicht mehr habe und dass er es auch wegwerfen kann, wenn er das will. Es ist, wie ein einstudiertes Theaterstück zwischen uns, mit nur wenig Improvisationsspielraum. Jeff nimmt meine Entschuldigung eigentlich immer an, weil er die hilflose Geste dahin erkennt. Mein Kindheitsfreund ist unfassbar berechenbar, aber genau das beruhigt mich jedes Mal aufs Neue. Ich weiß, dass es nicht die Lösung aller Probleme ist, aber zwischen mir und Jeff funktioniert es. Geistesabwesend schlürfe ich an meinem Tee und starre eine Weile auf das Bett meines Mitbewohners. Ich vertilge den Rest meines Abendbrotes und öffne den Entwurf für den neuen Roman. Noch immer klafft eine riesige Lücke an der Stelle des Titels. Ich notiere mir ein paar Ideen. Niemals nicht. Liebe lieber aktuell. Blutendes Herz. Der letzte Titel verspricht pure Theatralik. Das wird Brigitta sicher gefallen. Ich unterstreiche die Vorschläge, die mir am meisten zusagen und lege das Blatt beiseite. Nachdem ich weitere Details für die Personen und die einzelnen Akten herausgearbeitet habe, lege ich noch einen Beziehungsstammbaum der Charaktere an. Beziehungstypen. Verwandtschaften. Feindschaften. Ich muss erneut ein paar Dinge in dem vorigen Roman nachlesen als ich merke, dass ich mir bei einigen Personen hinsichtlich des Status nicht mehr sicher bin. Ich wende das Buch ein paar Mal in meinen Händen und fahre dann, wie ich es bereits in der Buchhandlung getan habe, den Buchrücken entlang. Danach lege ich es in meinem Schoß ab. Ich lehne mich zurück als mein MP3-Player ein neues Lied beginnt. Mein linker Arm hängt an der Seite hinab, während der andere über der Rückenlehne liegt. Es gibt nur wenige Lieder, die tatsächlich dafür sorgen, dass ich mich im Rhythmus dazu bewege und 'Dirrty' von Christina Aguilera ist eines davon. Mit den Fingern klopfe ich den Takt des Liedes gegen die schwarze Plastikverkleidung des Stuhls. Mein Knie lehnt gegen die schmale Tischkante und mein Kopf beginnt sich nickend auf und ab zu bewegen. „It's about time that I came to start the party. Sweat dripping over my body...", flüstere ich den Text mit und lasse meine Augen geschlossen. Mein Becken hebt sich im Beat des Liedes. Uralt, aber der Song beflügelt mich. Nicht zuletzt, weil sich in meinem Kopf gleichzeitig das Musikvideo abspielt. Leider nicht nur dieses. Ein feines Erschaudern erfasst mich und arbeitet sich in Sekundenschnelle durch meinen Körper. Die damit einhergehenden bösen Erinnerungen verdränge ich gekonnt. Mit einem Mal spüre ich, wie sich Arme um meinen Hals legen. Ich schiele zur linken Seite und sehe Jeffs glatte Wange in Nahaufnahme. Für einen Moment drückt er seinen Kopf gegen meine Kopfhörer. Er lauscht und atmet mir dabei in die Halsbeuge. Die linke Seite ist hochgradig empfindlich. Ich schiebe die Musikspender auf der anderen Seite von meinem Ohr und Jeff macht genau das, was ich damit bezwecke. Er wechselt die Seite. Ich atme erleichtert aus. Mein Mitbewohner summt kurz mit und legt sein Kinn auf meine Schulter fallen. „Du bringst ihn wieder zurück, verstanden?" Jeff meint den Pullover und sieht mich mit einem Blick an, der mir deutlich sagt, dass er dann aber in Tränen ausbricht. Nachher muss ich ihm noch mehr kaufen, damit er aufhört zu heulen. Wie konnte ich nur all die Jahre nicht schnallen, dass er vom anderen Ufer ist? Meine Fantasie malt ihm einen regenbogenfarbigen Heiligenschein. Um den lästigen Diskussionen zu entgegen, mache ich es ihm leicht. Im Grunde so wie immer „Ich hab die Quittung nicht mehr. Verkauf ihn, wenn du ihn nicht willst oder wirf ihn weg." Damit wende ich mich wieder meinem Rechner zu. Jeff rührt sich nicht. Wahrscheinlich hat er ein Déjà-vu. „Mach einen Abgang, Koch", setze ich nach. Ich benutze absichtlich seinen Nachnamen, weil ich weiß, dass er es nicht mag. Er grunzt theatralisch mit einem Hauch Verzweiflung. Wirklich nur eine Nuance. „Jetzt behalte ich den Pullover aus Trotz." Tanz, Püppchen tanz. Ich verkneife mir ein zufriedenes Lachen. Jeff ist glücklich und ich spüre, wie das schlechte Gewissen endlich in die Tiefen meiner Gefühlsschlucht zurück sickert. Wenigstens Geschenke machen kann ich oder eher bestechen. Jeffs nett gemeinter Würgegriff wird kurz fester und lockert sich dann. „Wir müssen mal wieder tanzen gehen", schlägt Jeff prompt vor und summt das Lied einfach weiter. „Träum weiter, Satansjünger. Nein. No. Net. Non. Iié. Nahi.", erwidere ich diesen wahnwitzigen Vorschlag. Das letzte Nein in Hindi ist neu. Shari sei Dank. Jedoch verhindert der Gedanke an die schöne Inderin nicht, dass sich die bösen Erinnerungen erneut hervorpellen. „Ach komm. Du schlägst dich doch immer gut und ich fand, es hat beim letzten Mal viel Spaß gemacht." Sein Lächeln ist lieblich mit einer tiefgründigen Diabolik. Er geht auch nicht auf meine Nein-Tirade ein und greift über meine Schulter hinweg zu meinem Roman. Bevor er etwas erkennen kann, nehme ich ihm diesen aus der Hand und werfe das Buch blitzschnell aufs Bett. „Weiche von mir, Teufel!", fluche ich lautstark, "Du musstest nicht unter Schmerzen aus dem Bett kriechen oder die Treppe runtergehen. Ich habe zwei Stunden in der Badewanne festgesessen, weil ich nicht mehr rausgekommen bin und...und versuch mal etwas zu essen, wenn man seine Arme nicht mehr heben kann." Ich höre, wie Jeff während meiner Erzählung vergnügt kichert. Die Erinnerungen an das Tanzdesaster im letzten Schuljahr sind wieder vollkommen da und ich spüre, wie der Hass auf meine damalige Sportlehrerin wieder aufflammt. Es war das erste Mal, dass ich meine eigenbrötlerische Art verflucht habe, denn sie hatte mich nicht nur aus Basketball-AG, sondern auch aus der normalen Unterrichtsgruppe getrieben und das direkt in die Arme der einzigen, noch suchenden Teamsportart. Tanzen. Jeffs Favorit. Er ist wirklich talentiert und hat all das Rhythmusgefühl und die Eleganz, die mir fehlt. Trotz flehen und betteln hatte mir unsere schadenfrohe Lehrerin erklärt, dass ich keine andere Wahl habe, weil sonst meine Sportnote flöten ginge. Insgeheim spekulierte sie darauf, dass ich während des geplanten Auftritts am Ende des Schuljahres gnadenlos untergehe. Was nur nicht passiert ist, weil Jeff mich wochenlang brutal quälte. Highschool Musical trifft Nightmare on Elmstreet. Hinter Jeffs harmloser und freundlicher Schweinchen-Babe-Fassade steckt nämlich ein Sadist. Es einen Drill zu nennen, wäre zu harmlos. Pein zu milde. Tortur zu lieblich. Folter zu rosa. Er bereitete mir die Hölle auf Erden und ich bin mir sicher, dass er Spaß daran hatte. Ich spürte monatelang Muskelgruppen, die garantiert kein normaler Mensch braucht. Jedenfalls für nichts Sinnvolles oder Existenzielles. Jeff war wortwörtlich ein tanzender Freddie Krüger für mich, der mich bis in meine Träume verfolgte. Dennoch habe ich den Auftritt gemeistert. Die damals entstandene Aufnahme habe ich bis heute nicht gesehen und ich garantierte Jeff einen schmerzvollen Tod, sollte er es jemals jemand zeigen. „Oh, armes Tweety... Du lebst doch noch, also beschwere dich nicht." Mein blonder Mitbewohner pattet mir den Kopf als wäre ich ein kleines Kind, dem er erklärt, dass es spinnt. Erbaulich. „Das habe ich nicht dir zu verdanken, Beelzebub", funkele ich ihm entgegen und möchte ihm die Hand abbeißen. Ein Versuch misslingt. Ich bin zu langsam. In der Savanne würde ich gnadenlos verhungern. Vermutlich auch im Zoo. „Sondern?", fragt Jeff kichernd. „Tabea... Sie hatte heilende Hände", säusele ich schwelgend. Sie war meine zugewiesene Tanzpartnerin und unglaublich ausdauernd und biegsam. Nicht nur beim Tanzen. „Ernsthaft?", fragt er überrascht, "Du Filou! Sie hatte so wunderschöne Augen. Sie hat sogar mir gefallen", sagt Jeff, wirkt weiterhin total verblüfft, so als würde er nicht glauben, dass sie mich rangelassen hat. Aber sie hat. Es war mein Badboy-Charme. Und ja, ihre Augen waren der Wahnsinn. Seegrün und tief. Sie waren wie sonnengeküsstes Meer an einem lauen Sommertag. Ein echtes Highlight. Wenn sie sogar Jeff aufgefallen ist, muss das etwas heißen. „Ja, da warst du noch nicht schwul", entflieht es mir trocken und ohne wirklich darüber nachzudenken. „Dir ist schon klar, dass ich bereits damals schwul gewesen bin und es nur nicht gesagt habe?" Er drückt säuerlich mit der flachen Hand mein Gesicht weg und wieder mal ist bestätigt, dass ich niemals den Oscar für einfühlsames Verhalten bekommen werde. Eher eine goldene Himbeere für den schlechtesten Freund aller Zeiten. Was mir aber wiederum einen Akademie Award für den fiesesten Bösewicht einbringen könnte. Ein echter Zwiespalt. Jeff mustert mein abwesendes Gesicht. Will er noch eine Antwort? „Du, Chamäleon, du", plappere ich drauflos, aber mit einer Verzögerung. Wie sinnreich. „Du, Elefant, du!", gibt er mir aufgebracht retour und verdeutlicht mir damit das imaginäre Glashaus, welches ich in Begriff bin zu zerlegen. „Entschuldige, ich bin nun mal ein Stein. Was soll ich dagegen machen?" „Stein? Du bist ein ganzer Talus." Geologen-Talk. Ich kann mithalten. „Mit Findling wäre ich noch einverstanden." „Pah, ein Felsblock mit gigantischen Ausmaßen", schmettert er mir entgegen. Ich wäre lieber ein handlicher Stein geblieben, aber Jeff hat Recht. Mein empfindsames Gefühlsspektrum schlägt nicht nur eine Scheibe ein, sondern verursacht gleich einen ganzen Scherbenhaufen. Ich gestehe meine Niederlage ein. Was diskutiere ich auch mit einem Geologen über Steinvariationen? „Das liebst du doch so an mir...", kommentiere ich trocken und wenig ernst gemeint. Jeffs Gesichtsfarbe wechselt von aufgebrachtem Rot zu beschämten Rosé. Er macht mir gegenüber eine Kopfnuss-Geste und ich spüre seine Fingerknöchel, die aber nur hauchzart über meinen Kopf gleiten. Kurz bleibt seine Hand in meinem Nacken liegen und dann entfernt sich mein Mitbewohner von meinem Schreibtisch. Ich sehe ihm nach. „Was ist eigentlich schon wieder mit dir und Kain los?", fragt Jeff und lässt sich auf sein Bett plumpsen. „Wer?", frage ich ungerührt, während mir der Gedanke an den anderen Mann ein Füllhorn an Gefühlsregungen durch den Körper jagt. Nicht nur die zuckersüß-teuflischen, wie Wut und Verärgerung. Sondern auch die Absonderlichen, wie Geilheit und Aufregung. Grässlich. Es macht mich verrückt. Ich drehe mich schnell wieder zu meinem Rechner, damit sich nicht irgendeine verräterische Gefühlsregung in meinem Gesicht widerspiegelt. „Du weißt schon. Kain. Groß. Gutaussehend. Er hat diesen perfekt gestählten Hintern, ein Sixpack und diese schönen dunkelbraunen Bambiaugen." Noch während seiner malerischen Aufzählung drehe ich meinen Stuhl in seine Richtung und runzele die Stirn. Ich schelte mich selbst, weil ich mir bei der Erwähnung seines Hinterns in Erinnerung rufe, wie er sich angefühlt hat. Ich sollte das mit dem Avada kedavra noch mal üben. „Kriegst du auch eine weniger schwule Beschreibung hin?" Jeff setzt sich in den Schneidersitz, tippt sich gegen das Kinn und grinst. „Groß, laut und studiert Biotechnologie?" Ich frage mich unwillkürlich, wie wohl meine Beschreibung bei ihm aussieht. Mittelgroßer Typ mit braunen Haaren, der Biochemie studiert? Irgendwie erbärmlich. Gar traurig. „Nein, sagt mir nichts.", gebe ich verarschend von mir. Damit wende ich mich wieder meinem PC zu. „Ach komm. Habt ihr euch nach der Wohnheimparty in die Haare bekommen? Normalerweise bist du betrunken doch sehr friedvoll." Und ich war übermäßig friedvoll! Friedvoller geht es nicht. Fast gefügig. Warum geht er eigentlich davon aus, dass ich Schuld habe? Ich bin beleidigt. „Komm schon, was ist los? Elefanten sind doch Herdentiere und eigentlich sehr sozial", kommentiert Jeff und legt sich hin. Haha. „Seit wann bin ich sozial?", antworte ich mit meinem berechtigten Einwand. Jeff seufzt. „Ich habe eigentlich gesagt und ich verstehe dich nicht. Kain ist ein toller Typ, intelligent und echt nett." Nett? Ich erinnere mich an Kains Robotervergleich und definiere nett anders. „Was ist dein Problem mit ihm?" „Jeff!", gebe ich mahnend von mir. Zur Verdeutlichung werfe ich ihm meinen Kugelschreiber entgegen. Er landet neben Jeff auf der Bettdecke. Es gibt genügend Gründe, die meine mürrische Zurückhaltung dem Schwarzhaarigen gegenüber bekräftigen, aber Jeff muss sie nicht alle erfahren. Kain missachtet meine Privatsphäre und liest einfach meine Texte. Das allein begründet lebenslange Isolationshaft. Und dann noch diese rothaarige Mistkuh. Außerdem nervt er mich und er sorgt dafür, dass ich manchmal nicht Herr der Lage bin. Das geht mir am Meisten gegen den Strich. Mal ganz davon abgesehen, dass ich mit ihm geschlafen habe. Seltsamerweise bildet sich in meinem Kopf diesmal das Bild eines mit Schellen schlagenden Äffchens. In Fernsehserien käme jetzt eines dieser Dadomm-Geräusche. Ich lege meinen Kopf etwas schief und sehe zu meinem Mitbewohner. Jeff wartet noch immer auf eine Antwort. Er wird sie nicht bekommen. „Hast du dich jemals länger als zwei Minuten mit ihm unterhalten?" Jeff gibt keine Ruhe. Ich gebe ein genervtes Geräusch von mir und werfe diesmal den Bleistift nach hinten. Ich höre, wie er gegen die Wand prallt. Viel zu weit. Physik ist scheiße. „Habe ich", antworte ich, ohne näher auf unsere Gespräch einzugehen. So ist es besser. Jeff muss nichts davon erfahren. Ich spüre, wie die Frequenz meines Herzschlags zunimmt, höre Kains Stimme, die mir Passagen meines Textes ins Ohr raunt. Lass mich noch ein bisschen den bösen Wolf spielen, wiederholt sich in meinem Kopf. Mein Ohrläppchen beginnt zu kitzeln, weil ich das Gefühl habe, ich würde erneut Kains Lippen dort spüren. Der federleichte Kuss und der kribbelnde Schmerz, verursacht durch den erregenden Biss. Unwirsch rubbele ich mir über das Ohr. Auch meine Fingerspitzen beginnen zu kitzeln. Ich will es aufschreiben. Jeffs Stimme reißt mich aus den Gedanken. „Gib ihm doch eine Chance." „Kannst du bitte aufhören. Ich habe keine Lust dir noch einen Pullover kaufen zu müssen", gebe ich warnend von mir, weil Jeff langsam meinen Nervtoleranzpunkt erreicht. Augenblicklich hält er den Mund. Sieg. Ich schüttele imaginäre Pompons. Oh weh. Ich darf mich nicht mehr so oft mit Brigitta treffen. Leise seufzend nehme ich mir den skizzierten Personenbaum hervor. „Du könntest...", ertönt leise hinter mir. Ich werfe meinen Radiergummi in die Richtung. Jeff muss diesmal ausweichen. „Ich warne dich..." Es folgt noch ein kurzes Zucken seiner Mundwinkel. Ich deute an, dass ich gleich noch etwas nach ihm werfe und diesmal wird es größer und schwerer. Er lehnt sich an die Wand. „In Blau gefiel er mir aber auch.", sagt er schelmisch und presst die Lippen aufeinander. Ich knülle eines der Blätter der Korrektur zusammen und werfe es Jeff zu. Einen halben Meter vor seinen Füßen geht der Papierball zu Boden. Mein Wildtierlevel erreicht heute gerade so das eines Stubentigers. Miau. Jeff lacht erheitert auf. Jeff schafft es den restlichen Abend das Thema Kain kein weiteres Mal an zu sprechen. Dafür kriegt er es fertig eine halbe Stunde mit seinem Ficus zu reden und meine dummen Kommentare dazu vollkommen zu ignorieren. Während ich meinen Mitbewohner dabei beobachte, wie er vertrocknete Blätter von der Pflanze zupft, denke ich ein paar Mal darüber nach, dass ich sehr froh sein kann, dass Ben ihm nicht antworten kann oder ihm irgendwelche Dinge erzählt. Das wäre für mich eine ziemlich peinliche Nummer. Ich bin manchmal wirklich unfreundlich zu dem grünen Teil. Und er hat Dinge gesehen, die ich selbst lieber vergessen möchte. Nackte Dinge. Kain Dinge. Vermutlich hat Ben längst ein Traum davon getragen und wartet nur darauf, die Welt von den Menschen zu befreien. Mein vibrierendes Handy reißt mich aus der Fantasie, in der menschenfressende Pflanzen, allem voran Ben, den Campus terrorisieren. Es ist eine Nachricht von Kain und ich schiebe das Fenster weg, ohne sie zu lesen. Am nächsten Morgen stelle ich fest, dass die einzige Vorlesung des Tages ausfällt. Mitgeteilt wird es den Studierenden durch einen kleinen, weißen Zettel, der an der Tür des Hörsaales klebt. Ein Hoch auf die Digitalisierung. Alle Mitarbeiter und Studenten haben E-Mailadressen. Es gibt ein Lern- und Informationsportal, aber warum sollte man das nutzen? Ich bin genervt. Ich sehe auf die Uhr und sie zeigt mir das, was ich befürchte. Zu spät um wieder ins Bett zugehen. Zu früh für Mittagessen. Ich trabe missmutig zurück ins Wohnheim, bleibe einen Moment ratlos an meinem Schreibtisch sitzen. Ich angele meinen Terminkalender aus der Tasche und stelle fest, dass ich in ein paar Wochen ein Referat halten muss. Das Thema habe ich auch schon. Signaltransduktion. Gemeint sind damit die Signalübertragungsprozesse, mit denen Zellen auf äußere Reize reagieren, diese dann umwandeln und in die inneren Bereiche der Zelle weiterleiten. Meine Magen beginnt schon jetzt zu rumoren und das nicht, weil ich freudig das Mittagessen erwarte. Auch nicht wegen der Komplexität des Themas, sondern wegen der alleinigen Vorstellung vor dem Seminarteilnehmer zu stehen und zu reden. Leider sind Referate in vielen Seminaren und in einigen Vorlesungen obligatorisch für den erfolgreichen Abschluss. Missmutig öffne ich die Internetseite unserer Bibliothek und beginne nach Material zu recherchieren. Ich finde ein paar Bücher und interessant klingende Artikel. Ich notiere mir die Signaturen auf einen Zettel und nehme mir erneut Brigittas Anmerkungen zum neuen Buch vor. Diesmal erledige ich sie mehr oder weniger zufriedenstellend und wechsele danach zur neuen Romanidee. Seit dem in der Buchhandlung angelesenen Roman bekomme ich den Wunsch nach einer Sexszene nicht mehr aus dem Kopf. Gut, vielleicht hat auch die Katastrophe mit Kain und Jeff daran schuld. Es juckt mir in den Fingern. Ohne länger darüber nach zudenken, öffne ich eine neues Dokument und beginne zu tippen. Ich bin so in Gedanken, dass ich nicht einmal Jeff bemerke, der am Nachmittag ins Zimmer kommt. Ich schrecke zusammen als mit einem Mal meine Stuhllehne runtergedrückt wird und der Kopf meines Mitbewohners über mir auftaucht. Auch Jeff starrt direkt auf meinen Bildschirm, sowie es Kain beim ersten Mal getan hat. Nur kurz und sieht daraufhin zu mir runter. Ich sehe direkt in die blaugrauen Augen meines Kindheitsfreundes. Er lächelt und macht zu seinem Glück keine Anstalten weiterzulesen. „Was ist das da in deinem Gesicht?", frage ich mit gerunzelter Stirn und pieke ihm in die Wange. Jeffs Augenbrauen runzeln sich ebenfalls und er fährt sich mit der Hand über seine Wange, so als hätte er ein Krümel im Gesicht. „Was meinst du?" „Dieses... na... die seltsame Verformung da..." Jeff seufzt, als er versteht, dass ich das Lächeln meine. „Ein Lächeln. Ein Ausdruck für Freude, Glück und des guten Willens. Kannst du auch mal versuchen. So lernt man Menschen kennen", kommentiert Jeff und ich machen noch während er spricht ein angeekeltes Gesicht. „Iieh, Menschen.", erwidere ich. Jeff patscht mir mit der flachen Hand einmal über das komplette Gesicht und lässt meinen Stuhl wieder los. „Und wieso lächelst du?", setze ich nach und bin wirklich interessiert. „Ich hab ein Date!", flötet mein Mitbewohner enthusiastisch, "Also was ziehe ich an?" Eine rhetorische Frage. „Hose und Oberteil? Alles andere ist optional!", sage ich trocken und ernte einen unaussprechlichen Blick. Ich bin ihm, wie erwartet keine Hilfe. Als ob er es nicht vorher gewusst hat. "Im Ernst? Daran merkt man, dass du echt noch keine Freundin und kein Date hattest." "Pah, das hat nichts damit zu tun. Ich mache mir über sowas einfach keine Gedanken. Das Geheimnis für meine Tiefenentspanntheit." „Natürlich hat es damit zu tun. Dein Mangel an Dates sorgt ja auch dafür, dass du dir keinen Gedanken machen musst.", motzt er und versucht mich ein klein wenig provozieren. Wir bewegen uns im Kreis, weil jeder von uns beiden einen anderen Ausgangspunkt hat. „Aber jetzt weißt du, wieso ich so zufrieden bin." „Ich weiß ja nicht, wie man ohne Sex zufrieden sein kann. Ich wäre an deiner Stelle schon verrückt geworden. Eingegangen...verdorrt... krepiert...verrottet", kommentiert Jeff, macht eine Erschießungsgeste und danach gleich eine, die eventuell eine Strangulationsgeste, aber auch eine seltsame SM-Praxis darstellen könnte. Wie anschaulich. Wenn er wüsste. Automatisch denke ich an Kain und den gar nicht so sexlosen Sex, den wir hatten. ich muss damit aufhören dauernd an ihn und den Vorfall zu denken. Dringend. Jeff macht währenddessen ungerührt weiter mit seinen lautmalerischen Aussagen. Wieder schleicht sich Kain in meinen Kopf und diesmal mit der Äußerung über das kaninchenhafte Verhalten der beiden Männer. „Okay, es reicht. Ich hab's verstanden.", watsche ich ihn endlich ab, "Erst einmal braucht man für Sex keine Freundin und Zweitens verfolgt nicht jeder die Taktik von r-Strategen." Qualität statt Quantität ist die Devise. Nur bei den beiden Blonden nicht. Dass ich im Grunde über die Qualität ihre Geschlechtsaktes nichts aussagen kann, verdränge ich gekonnt und frage mich sofort, wieso ich darüber nachdenke. "r-Was?" „Kain meinte, du und Abel seid wie Kaninchen! In der Biologie nennt sich das fortpflanzungstechnische r-Strategen", erläutere ich und mache nebenbei ein Häschengesicht. Ich wackele mit der Nase und nutze meine Hände noch als Ohren. Jeff beginnt bei der ungewohnten Vorstellung zu lachen. Ich höre Jeff gern lachen, denn es ist wirklich ansteckend. „Ow, mach das niemals in Kains Gegenwart. Ich weiß von Merena, dass er ein Faible für Spitznamen hat.", gibt Jeff lachend von sich. Leider lenkt die Erwähnung der Rothaarigen sofort den Grad meiner Stimmung ans Nullende des Koordinatensystems und tiefer. Nicht proportional sondern gradlinig gen minus unendlich. „Für die fällt mir auch der ein oder andere Spitzname ein.", gebe ich bissig von. Nur sind das keine Netten. „Sie ist buchstäblich dein rotes Tuch oder?", bemerkt Jeff und greift nach seiner Tasche. „Buchstäblich oder wortwörtlich würde voraussetzen, dass sie tatsächlich ein rotes Tuch ist. Du meinst metaphorisch", berichtige ich ihn. Jeff äfft mich in Gedanken nach, das erkenne ich an der typischen Kopfbewegung, die er macht. Ich bedenke ihn mit einem Blick, der deutlich nach seinem Alter fragt und ernte eine herausgestreckte Zunge. Vielleicht sollte ich beim nächsten Mal von Jeffs Mutter Betreuungsgeld verlangen. „Das tangiert mich in keinster Weise und ich meine buchstäblich", kommt es daraufhin von Jeff. Er deutet auf seinen Kopf, meint ihren roten Haarschopf und bei mir richten sich die Nackenhaare auf. Einer der populärsten Fehler. Klar, dass Jeff genau das mitnimmt. Noch dazu macht er es mit purer Absicht, weil er genau weiß, wie sehr es mich aufregt. Im Gegensatz zu mir hatte Jeff einen Englisch-Leistungskurs in der Oberstufe und bereits in der 10. Klasse eingeschätzt, dass ihm seine eigene Mutter nicht liegt. Zu viele Wörter und so seltsame Beugungen. Aha. Klar, das ist als Muttersprachler entsetzlich schwierig. Böse Wörter. Teuflische Konjugationen und dann noch die vier grausamen Fälle. Im Russischen gibt es sechs. Wahrscheinlich wäre er nach jeder Stunde heulend aus dem Klassenzimmer gelaufen. Gerade die Vielfältigkeit und die Variabilität unserer Sprache macht sie für mich so attraktiv. Denn dank ihr lässt sich die Welt so wunderbar beschreiben und deuten. „In keiner Weise. Verdammt noch mal", pfeffere ich ihm berichtigend entgegen. „Ich weiß, aber wenn du mich ärgerst, nerve ich dich eben. Du bist schließlich nicht der einzigste Schlaue hier!" Schon wieder. Jetzt wird das kratzige Gefühl unter meiner Haut akut. Es ist wie ätzende Flüssigkeiten, die sich durch die Schichten meiner Epidermis fressen. „Einzige. Einzige!", pfeffere ich ihn entgegen und halte mir die Ohren zu. Ich stehe von meinem Rechner auf, greife nach meinem Laptop und dem Zettel mit den notierten Kennziffern für die Bücherstandorte. Jeff höre ich nur noch zufrieden lachen als ich zur Tür gehe und die Flucht antrete. „Ich werde mich jetzt mit richtiger Grammatik umgeben. Viel Spaß bei deinem Date.", wünsche ich meinem Jugendfreund und setze mir die Kopfhörer auf. „Viel Spaß in der Bibliothek", höre ich ihn trotzdem sagen und ich bin jedes Mal aufs Neue überrascht, wenn Jeff das letzte Wort hat. Das passiert nicht allzu oft. Draußen stecke ich mir eine Zigarette an, spüre das kitzelnde Gefühl in meiner Lunge und bevor ich es genießen kann, sehe ich Abel auf mich zu schlendern. Vor mir bleibt er stehen und ich verfluche die höheren Mächte, dass sie mir nicht mal die Gelegenheit zur Flucht gegeben haben. Ich ziehe mir sogar aus der Gewohnheit heraus die Kopfhörer vom Kopf. Glanzleistung. Mir entgeht nicht, dass Abel mich unauffällig mustert, was ich auf meine Klamottenwahl schiebe. „Hey.", begrüßt er mich und grinst. "Jeff ist im Zimmer und veranstaltet ein Klamottenchaos.", erwidere ich so neutral, wie möglich. Abel lacht monoton auf. Seine Stimme ist echt zum Einschlafen. Ich sehe an ihm vorbei und versuche ihm anzudeuten, dass ich weiter muss. Ich schaffe einen Schritt, ehe mich seine Stimme wieder zurückhält. "Und wo willst du hin?" „In die Bibliothek", erwidere ich. Unwillkürlich hole ich eine neue Zigarette hervor, stecke sie mir zwischen die Lippen und suche nach dem Feuerzeug. Alles nur Ablenkung und der Versuch aus der Situation zu fliehen. „Brauchst du Feuer?", fragt Abel und zieht ohne Umschweife und Antwort ein Feuerzeug aus seiner Jackentasche. Er reicht es mir nicht, sondern betätigt das Rädchen und die Flamme entzündet sich. Ich beuge mich etwas widerwillig vor und lasse mir von ihm die Zigarette anzünden. „Wieso hast du ein Feuerzeug in der Tasche? Du rauchst doch gar nicht, oder?", frage ich und ignoriere das seltsame Gefühl in meinem Nacken, welche seines Nähe bei mir verursacht. Irgendwas an ihm lässt meine Armglocken klingeln, auch wenn ich, abgesehen von seiner akkuraten Dummheit und der Angewohnheit für schlechte Witze, nicht sagen kann, was es ist. Es ist einfach so ein Gefühl. „Ist für Kerzen", antwortet er ruhig, steckt das Feuerzeug zurück in seine Jackentasche und lächelt. „Kerzen?" „Ja, Jeff steht auf diesen Romantikkram und manchmal, wenn er getrunken hat, will er auch mal eine Zigarette." „Ach!", kommentiere ich überrascht. Jeff, dieser miese kleine Heuchler. „Verrate ihm nicht, dass ich dir das erzählt habe, sonst dreht er sich aus mir einen Jahresvorrat." Abel lacht und ich ringe mir ein gekünsteltes Lächeln ab. Wahrscheinlich wirke ich in diesem Moment auf Außenstehende als hätte ich einen Schlaganfall. Abel merkt es nicht. „Apropos Romantikkram." In Abels Gesicht bildet sich ein sonderbares Grinsen und er deutet in die Richtung Wohnheim. Ich will keine weiteren Informationen und wende mich zum Gehen. „Hey Robin", ruft er plötzlich und ich wende mich zögerlich um, "Mal so unter uns, dass mit dem Rauchen ist ein Abtörner beim Küssen." Auch Abel wartet keine Antwort ab und verschwimmt nach ein paar Metern mit der Dunkelheit. Ich brauche noch einen Moment bis ich weitergehe. Bis ich bei der Bibliothek angekommen bin, habe ich die zweite Zigarette aufgeraucht und komme noch immer noch nicht über diesen Kommentar hinweg. Was sollte das? Abtörner beim Küssen. Wieso interessierte ihn das überhaupt? Ich knurre unverhohlen und schüttele den Kopf. So ein Vollidiot. Trotz voranschreitender Uhrzeit ist in der Bibliothek noch Einiges los. Überall sitzen fleißig arbeitende Studenten vor Bücherstapeln oder bewegen sich durch die Gänge. Darunter sind sogar ein paar Gesichter, die ich kenne. Marie sitzt mit einem Stapel Bücher an einem Tisch in der Nähe der Fachabteilung für Biologie und hat den Handapparat geplündert. Sie ist, wie ich, im vierten Semester, aber für reine Biologie. Ich habe bereits ein paar Gruppenaufgaben mit ihr zusammen durch gestanden und wir haben uns im letzten Jahr erfolgreich gegen Kains Rothaarige verbündet. Allein das macht Marie zur Heiligen für mich. Als ich an ihr vorbeikomme, klopfe ich kurz auf ihren Tisch. Als sie aufblickt und mich erkennt, schiebt sie ihre Brille zurecht und lächelt. Ohne ein Wort mit ihr zu wechseln, mache ich mich auf die Suche nach meinen Signaturen. Die Bücher finde ich sofort, aber die Magazine bleiben auch nach einer Viertelstunde suchen unauffindbar. Mir scheint als wäre mir etwas Wichtiges entfallen. Bei der obligatorischen Führung im ersten Semester durch die Bibliothek, bei der uns alles erklärt wurde, habe ich gefehlt. Ich lege die bereits gefundenen Wälzer auf eine der Ablagen und bleibe vor einem Übersichtsplan stehen. Eine Auflistung der Abteilung und deren Signaturbestandteile. Nur werde ich werde daraus nicht schlau. Ich lege meinen Kopf schief um die Perspektive zu ändern, aber auch das hilft nicht. Bis ich merke, wie auf der linken Seite mein Kopfhörer vom Ohr gehoben wird. „Du hast nicht auf meine Nachrichten geantwortet.", flüstert eine bekannte männliche Stimme. Kain. Er lässt meinen Kopfhörer wieder los und der Bügel rutscht mir auf den Hals. Ein Seufzen verkneife ich mir ebenfalls nicht. „Hab sie nicht mal gelesen.", erwidere ich, sehe nicht zu dem Schwarzhaarigen, sondern fahre mit den Augen erneut die Liste ab. Danach blicke ich auf meinen Zettel und beiße mir sachte auf de, Wangeninneren herum. Ich kann die Signaturen einfach nicht zu ordnen. „Hab ich gesehen", entfährt es ihm laut. Für ein paar Sekunden warte ich auf einen klischeehaften Psch-Laut, aber er bleibt aus. Die Bibliothek ist so groß, dass es hier einige Ecken gibt, in denen man sich lauthals anschreien könnte, ohne, dass es jemand merkt. Gerüchten zur Folge werden diese Ecke auch gern für Stelldicheins benutzt. Ich suche mir gern solche Plätze, um von niemanden angetroffen zu werden. Kain lehnt sich neben die Liste an das Regal, verdeckt die komplette linke Seite und damit die Hälfte der Regalnummern. Seine Arme verschränkt er vor der Brust und sieht mich unverwandt an. „Was willst du?", frage ich genervt. „Wenn du meine Nachrichten gelesen hättest, wüsstest du es.", kontert er. Ich versuche mein Gesicht noch ein Stück genervter aussehen zu lassen und bin mir nicht sicher, wie wirkungsvoll es ist. Kain zeigt keine Regung, also wende ich mich ab um eine Mitarbeiterin zu suchen, die mir helfen kann. Kain lässt es nicht zu. Seine Hand gleitet widerstandslos zwischen meinen Arm und Oberkörper und packt zu. Der Ruck lässt mich etwas taumeln und ich pralle gegen ihn. Das ist nicht effektlos. Das ewig Körperliche macht mir zu schaffen und ich suche automatisch den Abstand. Kain hält mich eisern fest und nun sehe in sein grimmiges Gesicht. „Du tippst aus dem Stand tausend Worte Erotikkram, aber schaffst es nicht eine Kurzmitteilung zu verfassen?", bellt er leise, aber mit Nachdruck. „Verklag mich! Ich hatte keine Lust dir zu antworten. Klar?" Boden öffne dich. Ein Blitz wäre auch gut. Das Einzige, was mich trifft, ist die Stille und Kains verstehender Blick. Noch deutlicher hätte ich es ihm nicht machen können. Das Klar. Ich hab es gefressen und nun weiß er es. Ich sehne mich nach einer plötzlichen Feuersbrunst. Bitte. Noch immer nur Stille. Ich versuche meinen Arm aus seinem Griff zu befreien, doch es klapp erst, als Kain mich freiwillig loslässt. „Sicher wartet doch irgendwo dein Rotflittchen.", spucke ich hinterher, setze mir demonstrativ die Kopfhörer auf und schalte die Lautstärke höher. Ich wende mich ab. Unser Gespräch oder was auch immer das war, ist beendet. Ein paar Meter weiter bleibe ich wieder stehen und sehe mich um. Der Song wechselt und es erklingt Rihanna mit 'Umbrella'. Klasse, das garantiert mir für den restlichen Tag einen Ohrwurm. 'Ella ella, ay ay ay. Under my umbrella'. Prima, es geht schon los. Die feinen Härchen in meinem Nacken richten sich auf als ich den warmen Körper des anderen Mannes plötzlich hinter mir spüre. Er zieht mir die Kopfhörer von den Ohren. 'When the war has took its part. When the world has dealt its cards', schallt es leise aus meinen Musikgerät. Auch Kain hört es. Sein Arm greift an mir vorbei und ich halte still. Seine Hand schiebt sich zwischen meinem Händen, die meine Notiz halten und meinem Bauch nach oben, ohne mich weiter zu berühren. „Die musst du bestellen", flüstert mir Kain zu, "Das ist Magazinware und die ist nicht zugänglich." Sein Zeigefinger tippt auf die zwei Signaturen auf meinem Zettel. Gut zu wissen. „Das kannst du alles in den Anmerkungen nachlesen. Solltest du nachholen." Ich höre deutlich die Ironie in seiner Stimme. 'Ella ella, ay ay'. Die Hitze an meinem Rücken verschwindet. Die leisen Schritte des großen Mannes verstummen schnell. 'Under my umbrella'. Erst, nachdem ich glaube, dass er es nicht mehr merkt, sehe ich ihm nach. Weit gefehlt. Kain hat bei einer Kommilitonin gestoppt und sieht in diesem Moment zu mir. Blitzartig biege ich in den nächstbesten Regalgang ein und halte die Luft an. Ich greife blind nach einem und atme aus. Verräterisch hoch fünf. Ich bin reflexartig geflohen und Kain hat es definitiv gesehen. Ich sehe auf das Buch in meiner Hand und lese den Titel. Quantentheorie. Gegen ein schwarzes Loch hätte ich in diesem Moment überhaupt nichts und ich überlege auch, es als Strafe zu lesen. Doch stattdessen schiebe ich es zurück ins Regal, greife mir meine Bücher und lasse mich auf einen der freien Arbeitsplätze nieder. Mein Laptop fährt hoch und ich ziehe mein Handy aus der Tasche. Ich versuche es beiläufig aussehen zu lassen, aber ich scrolle direkt zu Kains Nachrichten. Es ist eine Entschuldigung. Er hat sich von mir angegriffen gefühlt und er war verwirrt. Er möchte mit mir reden. Reden. Was erhofft er sich davon? Wir reden und damit ist es vergessen? Sicher nicht. Ich schiebe das Handy missmutig zurück auf den Tisch, nehme mir das erste Buch vor und ertappe mich dabei, wie ich andauernd auf das dunkle Display des Telekommunikationsgeräts starre. Kommunikation, die Quintessenz jeder humangesellschaftlichen Beziehung und meine Nemesis. Irgendwann tippt mir dir Bibliothekarin auf die Schultern und erinnert mich daran, dass sie schließen. Ich werfe einen Blick auf die Uhr. Es ist kurz nach 9 Uhr und ich habe nicht einen nützlichen Stichpunkt gemacht. Im Zimmer ist es dunkel und mir wird bewusst, dass Jeff nicht erzählt hat, wo die beiden heute hingehen. Irgendwas Romantisches vielleicht? Wieder kommt mir Abels seltsamer Kommentar in den Sinn und ich schüttle energisch den Kopf um ihn wieder loszuwerden. Ich brauche eine Dusche. Eine warme, ausgiebige Dusche. Dringend. Ich sehe auf die Uhr. Es ist reichlich spät. Laut unserer Wohnheimordnung müssen wir bis 22 Uhr die Duschräume verlassen haben. Der Grund ist die akute Gefahrenvermeidung bei unsachgemäßer Bedienung von Sanitäreinrichtungen. Kurz, Studenten sind unverantwortlich und dämlich. Leider gab es in den letzten Jahren tatsächlich mehrere Unfälle, bei denen eine nicht unbedeutende Menge an Alkohol und eine verschwenderische Bedienung der sanitären Einrichtungen eine Rolle spielten. Ich habe einen Deal mit dem Aufseher Micha, der mich bis halb 11 Uhr in Frieden lässt, sodass ich in aller Ruhe duschen kann, wenn niemand anderes mehr da ist. Vorausgesetzt ich betätige vor 22 Uhr den Wasserhahn und pflege einen sorgsamen Umgang mit den Resten meiner Zigaretten. Daran arbeite ich noch. Ich mache auf den Absatz kehrt und gehe zu den Duschräumen. Im Flur vibriert mein Handy. Als ich auf das Display schaue, erkenne ich die Nummer meines Elternhauses. Bisher habe ich noch nicht mit Jeff gesprochen und weiß daher noch immer nicht, wann er genau er nach Hause fährt. „Hm?" Nach kurzem Zögern gehe ich ran. „Sag, haben sich deine Gliedmaßen zu zu kurzen Dinosaurierärmchen zurückentwickelt? Oder leidest du an Aphasie? Hm, vielleicht auch Analphabetismus, Bruderherz?", rasselt mir Lena augenblicklich entgegen und ich bekommen im ersten Moment nur einen mürrischen Brummton zur Stande. „Also doch das akute Verstummungssyndrom", kommentiert meine kleine Schwester weiter. Im Hintergrund höre ich meine Mutter, wie sie mahnend Lenas Namen sagt. Ich betrete den Umkleidebereich. "Bist du fertig?", frage ich ruhig und höre sie glucksen, "Hat wieder jemand vergessen deine Zelle abzusperren?" Ich krame nebenbei meine Duschutensilien aus dem Spind. „Wir hatten Tag der offenen Tür. Den Fehler machen sie jedes Mal", kichert sie mir übertrieben verrückt entgegen. Erneut höre ich meine Mutter etwas sagen, verstehe aber nicht, was es ist. „Ja, doch...Mama will endlich wissen, wann du hier aufschlägst und sie duldet keine weitere Ausrede." „Dann sag ihr doch bitte, dass sie einfach Jeffs Mutter fragen soll." „Na, ich weiß ja nicht, ob sie das hören will. Moment, ich gebe sie dir." Ich kann hören, wie sie sich vom Tisch wegbewegt und wie sie Mama ruft. Hilfe. „Lena, nein!!" So laut ich kann. Ich habe keine Lust auf mehr von diesem verzehrenden Gefühl namens schlechtes Gewissen. Jeff hatte meinen Jahresvorrat in den letzten Tagen aufgebraucht. Solche Gefühle liegen mir ganz und gar nicht. Irgendwann wird davon mein Gehirn weich. Garantiert. ich widerhole ihren Namen und sie geht wieder ran. „Mit etwas anderem kann ich ihr nicht dienen. Ich habe Jeff noch nicht gefragt." Meine Schwester schweigt einen Moment. Schweigen ist nicht gut. Gar nicht gut. Ich stelle mir vor, wie sie eine Strähne ihres dunkelblonden Haares zwischen den Fingern eindreht und ein nachdenkliches Gesicht macht. Ich weiß, dass sie sich dabei auf die linke Hälfte der Unterlippe beißt und wenn ihr etwas eingefallen ist, tippt sie mit der Zungenspitze gegen ihre Oberlippen. „Das kostet mich meinen Freigang, das weißt du? Was kriege ich von dir dafür?" „Einen kostenlosen Grammatikgrundkurs." Ich denke an Jeff. Auch Lena steht ein wenig mit ihrer Muttersprache auf Kriegsfuß. Dafür ist sie ein Ass in Mathe, Physik und Sport. Mit den ersten beiden Fächern kann man mich jagen. „Oh, ich weiß! Du begleitest mich und eine Freundin auf das Konzert von 5 Seconds of Summer." „Haha. Eher lasse ich mich von dir lebendig in Säure auflösen.", entgegne ich daraufhin. Ich ziehe mir nebenbei die Strickjacke von den Schultern und streife die Schuhe ab. „Ach komm schon, wenn du uns begleitest, sagt Mama bestimmt ja. Sonst denkt sie, wir werden dort an einen Mädchenhändlerring verschachert." „Darüber braucht sie sich keine Sorgen machen, dich bringen die wieder zurück und lassen noch Geld da." „Haha, du Traumbeere. Nicht witzig. Komm schon, du mir den Gefallen." Was haben nur alle mit diesen nervigen Kosenamen? Sehe ich aus, wie jemand, bei dem man niedliche Bezeichnungen anwenden kann? Zum Glück sieht niemand, dass ich kindisch mit dem Kopf wackele und dazu das Gesicht verziehe, während ich zu den Duschen laufe. „Ich lege jetzt auf. Gruß an Mama", sage ich, warte keine Erwiderung ab und schiebe das Telefon in meine Hosentasche. Ich werfe meine Klamotten der Reihe nach auf die Bank in der Mitte des Raumes und blicke noch mal zur Tür, bevor ich mir als Letztes das Shirt über den Kopf ziehe. Danach husche ich in die Kabine. Warmes Wasser trifft meinen Körper und ich schließe genießerisch die Augen. Es fühlt sich gut an und ich entspanne mich. Leider führt es dazu, dass auch meine Gedanken zu rotieren beginnen. Kain hat sich tatsächlich entschuldigt. Damit habe ich nicht gerechnet. Ich lasse mir Wasser ins Gesicht prasseln und fahre mir mit den Händen den Hals, weiterhinab zur Brust. Unwillkürlich entsteht das Bild von Kains Oberkörper in meinem Kopf und ich erinnere mich daran, wie sich seine Haut unter meinen Fingern anfühlte. Sie war so warm und die Härte seine Muskeln so deutlich. Wie sie unter meiner Berührung arbeiteten. Mein Puls beschleunigt sich und das Kribbeln in meinem Bauch gleitet tief. Es war eine gute Erfahrung. Alles daran. Allen voran diese tiefgehende Befriedigung, die ich danach spürte. Auch wenn sie schnell in etwas Anderes übersprang. Ich verstehe, warum Kain beim weiblichen Geschlecht so gut ankommt. Sein Körper ist ein Hingucker. Definiert und muskulös, aber in genau dem richtigen Maß. Ein Körper, über den ich auch in meinen Büchern schreibe. In meinem Kopf spulen sich automatisch die verzückten Ausrufe und das Staunen meiner weiblichen Protagonisten ab, wenn sie das erste Mal den Mann ihrer Träume oben ohne sehen. Beim Baden. Beim Sport. Beim zufälligen und komplett unerwarteten Regenschauer. Wieder so eine Phrase in den rosaroten Liebesroman-Himmel. Niemals ist es Sex, was sie als erstes verbindet. Dabei kann man meine Romane schon eher zu den Genre New Adult zählen, bei denen sexuelle Erfahrungen durchaus berechtigt wären. Noch dazu bin ich der Überzeugung, dass das durchaus das ist, was der Realität am Nächsten käme. Gerade bei so jungen Leuten, wie wir es sind. Ein Treffen und man geht miteinander ins Bett. So mache ich es jedenfalls. Man kauft doch nicht die Kuh im Sack. Oder den Esel. Irgendetwas daran ist falsch, aber ich komme nicht auf die richtige Redewendung. In meinen Geschichten gibt es keinen Sex. Schließlich schreibe ich für einen Jugendverlag. Dennoch passiert es in meinem Kopf ständig, dass ich weiterdenke ohne es zu tippen. Dabei würden diese Szenen manchen meiner Bücher mindestens 50 Seiten mehr bescheren. Meiner Meinung nach fehlt es meinen Romanen oft an Tiefe. Zu meinem Glück verlangen die Teenager-Geschichten, die ich schreibe, keine Tiefe, denn sie stehen für ein unerreichbares Ideal, was es sowieso niemals geben wird. Es ist reine Fantasie, die hier bedient werden muss. Oft muss ich zu heftige Reaktionen abmildern oder rausstreichen. So was wollen die Leserinnen nicht hören. Am Anfang bat sie, mich niemals das aufzuschreiben, was ich denke. Mittlerweile weiß ich warum. Ich bin schlichtweg nicht verkaufsfördernd. Das hat mir Brigitta sogar mehrfach an den Kopf geworfen. Hart, aber ehrlich. Sie tut es heute noch. Im Moment würde dabei auch nur übererotischer Kram rauskommen, was mein geschriebener Exkurs rundum Kain deutlich aufzeigt. Doch was soll ich machen? Ich kann einfach nicht abstreiten, dass sich die Worte, wie von allein formulieren, sobald ich an den schwarzhaarigen Mann denke. Obwohl ich selbst nicht der Typ dafür bin, gehört es dennoch dazu. Wenn man jemanden anziehend findet, will man ihn berühren. Ich würde diese Person spüren wollen, genauso, wie ich Kain gespürt habe. Wieder durchbreche ich seufzend meine Gedankengänge. Es reicht. Ich muss damit aufhören. Sicherlich war es gut. Ja auch, besser, als in meiner Fantasie und wahrscheinlich auch besser, als ich es jemals beschreiben könnte. Eine Fantasie kann noch so gut sein und dennoch ersetzt sie niemals die eigene Erfahrung. Das eigene Erlebnis. Ich lasse meinen Kopf gegen die gekachelte Trennwand der Dusche fallen und schließe die Augen. Erneut brummt das tiefe Keuchen Kains in meinen Ohren nach. Meine Hand streicht fast automatisch über meinen Hals, meine Brust entlang und stoppt an meinem Unterbauch. Da ist es wieder dieses Gefühl, dass ich noch nicht genug habe. Ich wende mich um und lasse das warme Wasser direkt auf mein Gesicht treffen. Ich halte die Luft an, zähle bis 30 und atme wieder aus. Mein Körper hat sich wieder etwas beruhigt. Ich greife nach dem Shampoo, streiche mir zu nächste die feuchten Haare zurück und lasse mir etwas der wohl duftenden Substanz in die Hand fließen. Ich schrecke leicht zusammen als ich die Tür höre. „Gib mir noch zehn Minuten", rufe ich auf Verdacht. Für Micha ist es eigentlich noch zu früh. Doch wer sollte es sonst sein. „Machst du mir dann den feuchtfröhlichen Ententanz?" Ich erstarre in mitten meiner Bewegung. Kain. Was macht er hier? Nur der dünne Vorhang trennt uns voneinander und ich spüre sofort eine leichte Unruhe. Was will er hier? Ich stelle das Shampoo weg und schiebe den Vorhang etwas zur Seite. Vielleicht habe ich mir seine Stimme nur eingebildet. Leider nicht. Der Schwarzhaarige lehnt mit verschränkten Armen an der Duschkabine gegenüber. Ganz unverhohlen mustert er die Stellen meines nackten Körpers, die hervorschauen. Ich hebe meine Augenbraue und starre zurück. Mehrere Sekunden lang ist es still. „Du bist nackt", folgt danach seine äußerst intelligente Schlussfolgerung. „Ich dusche. Danke für dieses Gespräch", kommentiere ich trocken und ziehe den Vorhang wieder zu. Ich verteile die noch übriggebliebenen Reste des Shampoos in meinen Haaren und schäume es auf. Vielleicht geht er wieder, wenn ich ihn ignoriere. „Können wir kurz reden?" sagt Kain und ich höre, wie er sich auf die Bank niederlässt. Ignorieren funktioniert also nicht. Nur schwer kann ich mir das Seufzen verkneifen, welches sich geradezu drängend auf meine Lippen legt. Ich stelle mich zurück unter den Duschstrahl und entferne das Shampoo. „Robin?", hakt er nach, als ich nicht antworte. „Muss es jetzt sein?" Ich stecke meinen Kopf erneut durch den Vorhang. Kain sitzt nach vorn gebeugt auf der Bank. Seine Finger verschränken sich in seinem Schoss ineinander. „Ehrlich gesagt, gefällt es mir, dass du da in der Kabine fest sitzt und dass ich von hier einen Blick auf deine Kopfhörer habe", sagt Kain und ich folge seinem Blick zu meinen feinsäuberlich gestapelten Habseligkeiten. Perfide. „Worüber willst du denn noch reden? Es ist doch alles geklärt. Es hatte nichts zu bedeuten...klar...", äffe ich seinen Kommentar vom Morgen danach nach und „Dafür habe ich mich doch entschuldigt. Gott, ich wusste nicht, dass du derartig zickig bist...", murrt er und ich muss dem Drang widerstehen wütend auf ihn zu zustürmen. „Geht's noch? Ich bin nicht zickig. Ich habe lediglich deine Worte wiederholt." „Okay, dann bist du eben pissig." „Pissig bin ich auch nicht. Ich bin allerhöchstens..." Ich stoppe als mir klar wird, dass ich diese Diskussionen schon mit Jeff durch habe. Es bringt für einen Moment aus dem Konzept. Bin ich vielleicht doch...Nein, unmöglich. „Wir hatten im betrunkenen Zustand Sex. Shit Happens. Das können wir nicht mehr ändern. Also lebe damit und geh mir nicht dauernd auf die Nerven", sage ich klipp und klar und versuche es weiterhin abzutun. Ich schüttele den Kopf und stelle mich wieder unter das warme, angenehme Wasser. „Sex mit einem anderen Mann, falls du es nicht mitbekommen hast." „Danke, ich habe in meiner Position sehr gut gemerkt, dass du ein Mann bist.", bekenne ich lapidar. „Scheiße, lässt dich das wirklich völlig kalt?", fragt er mich und im Grunde müsste ich ihm antworten, dass es nicht so ist. Doch das tue ich nicht. „Du hast selbst gesagt, dass es nichts zu bedeuten hatte, also, was willst du jetzt von mir hören? Wir waren betrunken. Es wird nicht wieder vorkommen. Neugier befriedigt. Jetzt lass mich in Ruhe duschen." Ich greife nach dem Duschgel und beginne mich einzuseifen. Kain antwortet nicht und ich schöpfe Hoffnung, dass er mich endlich in Ruhe lässt. Dann höre ich wirklich die Tür. Meine innere Ruhe ist trotzdem verschwunden. Ich verkneife mir das Nachsehen und schaue stattdessen dabei zu, wie mein Körper immer mehr Schaum hervorbringt. Der Geruch des Duschgels umnebelt mich. Ich stehe nicht auf die herben Männergerüche, deshalb ist es etwas Neutrales. Genauer gesagt eine Cremedusche, die ich beim letzten Besuch zu Hause von meiner Schwester mitgehen lassen habe. Ich mochte das Gefühl der weichen, cremigen Substanz auf der Haut. Außerdem zaubert das Zeug eine erstaunlich zarte Haut und egal, wie seltsam es klingt, weiche Haut ist auch bei Männern toll. Ein letztes Mal drehe ich die Flasche in meinen Händen umher und drücke mir noch eine weitere Ladung der weißen Substanz in die Handfläche. Während meine Hände über meinen schlanken Körper gleiten, schließe ich meine Augen. Neugier befriedigt. Bei Weitem nicht. Es hat mir nicht gereicht, das weiß ich, das merke an ich an dem aufgeregten Kribbeln in meinem Körper. Aber das Kain nun so ein Drama darum macht, ernüchtert mich. Ich spüre einen feinen Luftzug, der auch eingebildet sein kann. Trotzdem drehe mich um und sehe, wie Kain in diesem Moment seinen Kopf durch den Spalt vom Vorhang schiebt. Wasser trifft auf seine Kleidung als er mit einem Mal komplett in meiner Kabine steht. Sofort ist seine linke Körperhälfte komplett nass. „Deine Neugier ist befriedigt, ja?", wiederholt er meine Worte. Ich weiche leicht Schritt zurück und treffe direkt auf die kühle Kachelwand. Mein Puls beschleunigt sich bei dem Anblick seines durch das feuchte Shirt scheinenden Körpers. Es sind nur schemenhafte Ausschnitte, wie seine dunkele Brustwarze, die sich hauchzart hervordrückt. Die Wellen seiner Bauchmuskeln, die dem T-Shirt ein unnatürliches Muster verleihen. Ein Tropfen Wasser, der an seinen Lippen haftet und dann sein Kinn hinabfließt. Ich sage nichts, aber lecke mir vielsagend über die Lippen. Mein Körper antwortet mit Gänsehaut und dem heftigen Ziehen in meiner Lendengegend. „Meine auch nicht.", flüstert er mit rauer Stimme. Kapitel 9: Ein Mann und kein Piepmatz ------------------------------------- Kapitel 9 Ein Mann und kein Piepmatz Kains Worte sind nichts weiter als ein heiseres Flüstern und doch gehen sie mir durch Mark und Bein. Er überbrückt den letzten kleinen Schritt zwischen uns, drückt seine Unterarme neben meinem Kopf gegen die Wand und pinnt mich beidseitig damit fest. Trotz der Wärme meines eigenen Körpers merke ich die deutliche Hitze, die von ihm ausgeht. Sie scheint sich direkt in mich hinein zu brennen, verursacht pures Verlangen, welches in sanften, aber tiefen Wellen durch meinen Körper jagt. Mein Kopf sagt, dass es vor allem der Ausschüttung von Noradrenalin und Unmengen von Adrenalin geschuldet ist. Meine Glieder pulsieren und mein Herzschlag wird immer heftiger. Die Berührung unserer Lippen ist nur einen Hauch entfernt. Es ist kein richtiger Kuss. Nur ein neckisches Andeuten und dennoch überrollt mich die Erinnerung an den Geschmack von Ingwer, feiner Süße und prickelnder Schärfe. Unwillkürlich folge ich seinen Lippen ein Stück, als er sich wieder von mir entfernt. Kain beobachtet meine Reaktion und ich presse ertappt meine Lippen aufeinander, was es nicht weniger offensichtlich macht. „Womöglich doch noch neugierig?", fragt Kain provozierend. Ein verschmitztes Grinsen folgt und dann beißt er sich auf die Unterlippe. Ich verstehe den Wink und erwidere nichts, denn egal was ich sage, mein Körper ist ein mieser Verräter. Meine Hand drückt sich gegen seinen Oberkörper. Ich spüre die Härte seiner Muskeln unter meinen Fingern und wie die Atmung seine Brust bewegt. Die Nähe des anderen Mannes erregt mich und ich kann es nicht verstecken. „Was ist? Willst du mir gar keine Ausrede zu zwitschern?" Genau in dem Moment, in dem ich versuche ihn halb empört wegzudrücken, legt er seine Lippen auf meine. Ich schmecke das Wasser, welches sich mit der herben Süße seiner Lippen mischt und schon das wird zu einem ersten heftigen Schauer. Der Hauch Ingwer kitzelt sich erst dann über meine Geschmacksknospen, als ich meine Hand in Kains nasses Shirt kralle und meinen Mund einladend öffne. Prickelnde Schärfe paart sich mit sanfter Süße und umschmeichelt meine Lippen. Der zitronige Hauch von Ingwer ist beglückend und mich durchfährt eine tiefgehende Befriedigung. Kains Hand legt sich in meinem Nacken, während seine andere meine Hüfte packt und mich dichter an ihn heranzieht. Der Kuss wird intensiver und ich kann mich nicht dagegen wehren. Ich will es auch nicht und es irritiert mich. Warum sind seine Küsse so wohltuend? Warum fühlt es sich so berauschend an? Warum will ich mehr? Meine Finger gleiten unter sein feuchtes Oberteil, streichen über die festen Muskeln seines definierten Bauches nach oben. Als er meine Initiative bemerkt, löst er den Kuss. „Neugier ist etwas Schönes...", flüstert er vielsagend. Mein Atem ist schwer. Kain fasst über dem Stoff nach meiner Hand, die auf seiner Brust ruht und hält sie in Position. Ich beobachte, wie Wasser sein Gesicht hinabrinnt und einer der Tropfen an seiner Nasespitze verbleibt, im nächsten Moment fällt und über sein Kinn perlt. „Tatsächlich?", erwidere ich seltsam dösig. Es ist die Hitze, die mir zu Kopf steigt. „Oh ja..." Ich sehe auf, schaue direkt in intensives Braun. Erneut beugt er sich zu mir, sucht meine Nähe und belässt es bei dieser ungehörigen Spannung, weil er nicht den letzten Schritt macht. Wieder ist es der Hauch auf meinen Lippen und doch beginnt die geneckte Stelle intensiv zu prickeln. Ich widerstehe diesmal dem Bedürfnis die Distanz zu überbrücken und schaffe es dennoch nicht die Fantasien über den Geschmack und dem Gefühl von Sehnsucht zu entgegen. Ich weiß nicht, wo es herkommt, verstehe es nicht und doch scheint es mich vollkommen zu überrollen. „Denn wir finden uns anziehend", setzt er fort, nachdem ich nicht darauf eingehe. Er klingt dabei, als wäre daran nichts zu rütteln und das ist fast schon lächerlich. „Träum weiter...", entgegne ich ihm harsch, starre, wie gebannt auf einen Tropfen Wasser, der auf seiner Oberlippen hängt und schier danach schreit gekostet zu werden. Es sind nur wenige Millimeter, die unsere Lippen voneinander trennen, die mich am Schmecken hindern. Er reizt mich absichtlich. Er liest ihn mir, wie in einem Buch und das macht die Schauer, die durch meinen Körper fahren nur noch intensiver. Kain stützt seinen linken Unterarm neben meinen Kopf ab, bildet mit der Hand eine lockere Faust, die mehrmals rhythmisch gegen die feuchten Kacheln schlägt. Das Rauschen in meinen Ohren folgt diesem Takt. "Aber ich habe Recht... und das weißt du", flüstert er unnachgiebig. "Lächerlich...", entflieht mir atemlos. Ich drücke meine Hand fester gegen seine Brust. Neugier ist eine grandiose Sache. Ich stehe nackt vor ihm, während er mir weismachen will, dass das, was wir beide hier tun gar nicht so kurios ist. Doch ist es wahr? Anziehung, schön und gut, aber nichts davon ändert die Situation. Sie ist eigenartig. Ungewöhnlich und überfordert mich ein wenig. Seine Nähe benebelt mich und ich kann es nicht leugnen. Der Gedanken an ihn erregt mich und auch das kann ich nicht leugnen. Ich denke an nichts anderes mehr, als ihn zu spüren. Ich denke darüber nach, seinen bebenden Körper ganz nah an meinem zu wissen, erneut die Hitze in meinem Inneren zu fühlen und mich hemmungslos nehmen zu lassen. Ich will die Befriedigung. Nur die Befriedigung. „Bist du sicher?", raunt er mir entgegen und deutet mit seinem Blick nach unten. Ich brauche ihm nicht zu folgen, denn ich spüre deutlich worauf er anspielt, denn im selben Moment merke ich, wie Kain spielerisch einen Finger gegen die Spitze meiner Erregung bewegt. Es ist kaum mehr als ein neckisches Streicheln. Zwei Finger gleiten meine gesamte Länge entlang und stoppen am Übergang zu meinem Bauch. Ich keuche auf als sie weiter nach oben fahren und er dabei mit dem Handrücken meinen Unterbauch entlang streicht. Ich verschlucke das verräterische Geräusch, welches nur schwer zu unterdrücken ist. Absichtlich berührt er meine Härte nur hauchzart. Er wiederholt es provozierend und entlockt mir ein weiteres Keuchen. Die Feuchtigkeit und die Seifenreste auf meiner Haut erleichtern sein neckisches Spiel. Mein Blick richtet sich abwärts als mich seine Hand ohne Scheu umfasst. Daumen und Zeigefinger bilden an der Wurzel einen festen Ring. Seine Bewegung ist langsam und kontrolliert. Als sich seine Finger langsam zu meiner Eichel bewegt, spüre ich, wie mit jedem Millimeter sein Handballen neckend über meine Spitze streicht. Ein Zucken fährt durch meinen Unterleib und ich drücke meinen Kopf fester gegen die kühle, feuchte Wand. Ein weiteres Keuchen dringt über meine Lippen. Diesmal ist es tief und eindeutig. Meine Hand gleitet von seiner Brust tiefer, bleibt über seinem gestählten Bauch liegen. Er spannt ihn an, während meine Fingerspitzen über die definierten Wellen gleiten. „Es gefällt dir...", haucht er frech und neigt sich zu meinem rechten Ohr. Es folgt ein sanfter Biss in mein Ohrläppchen, der mich erschaudern lässt. Noch bevor er seine Lippen gegen meinen Hals tippen lässt. Mehrere Male. Hauchzart. Federleicht. Er will mich reizen und er schafft es. Nur ein amüsiertes Schnaufen perlt von meinen Lippen. Genauso, wie beim ersten Mal. Es reicht mir nicht. Mit beiden Händen beginne ich sein Shirt höher zu schieben, sodass er es ausziehen muss. Ich versuche meinen Atem zu normalisieren, als er sich zwangsweise von mir entfernt. Ein kurzer Blick auf seinen Oberkörper. Der feuchte Glanz auf seiner Haut und mein Kopf spinnt etliche Beschreibungen. Die absurdesten Kitschfantasien. Er kommt wieder näher, lässt seine Hand kurz über meine Brust und tiefer zu meinen flachen Bauch gleiten. Er hat wirklich keinerlei Berührungsängste. Keine Scham. Keine Zurückhaltung. Das Wissen darum erregt mich nur noch mehr. Die Hitze seiner Hand ist atemberaubend. Sie umfängt mich mit Wohlgenuss und Sehnsucht. Er beginnt mich langsam zu pumpen und ich ziehe scharf die Luft ein, weil ich spüre wie mehr und mehr Serotonin meinen Körper durchströmt, mich pusht und mein Verlangen fördert. Mittlerweile habe ich meine Augen geschlossen, konzentriere mich nur noch auf dieses wunderbare Gefühl in meiner Lende. „Und, wie es dir gefällt.", wiederholt er mir einen tiefen Raunen. „Halt den Mund.", erwidere ich knapp. Kain grinst. Auch meine Hand gleitet über seine stoffbedeckte Körpermitte und ich fühle, wie sich sein deutlich erregter Körper gegen meine Handfläche drückt. Ich öffne problemlos den Hosenknopf und in meinem Kopf herrscht nur noch ein Gedanke. Sex. Kains freie Hand legt sich an meine Wange und er zwingt mich so ihn anzuschauen. Auch in seinen Augen sehe deutlich, was er will. Nichts anderes als ich auch. Er küsst mich. Kurz, aber intensiv. Aufregung pulsiert durch meinen Körper und trägt den Rest der übriggebliebenen Vernunft weit weg. Ich brauche anscheinend keinen Alkohol, um mich vollends bei ihm zu vergessen. Es reicht eine warme, verdammt warme Hand an meinem Schwanz und ich schmelze dahin, wie ein Stück Butter im Solarium. Es ist gefährlich. Extrem gefährlich. Und so gut. „Du willst es...", sagt er, haucht einen Kuss gegen meinen Kiefer. Einen weiteren gegen meinen Mundwinkel. Der aller letzte Funken Vernunft in meinem Kopf schreit, niemals, während die unbändige Lust auf sie einprügelt. Auch die Verwunderung darüber, dass noch immer genügend Blut in diesem Teil meines Körpers geblieben ist, verhallt nach und nach im blutleeren Raum. Kain keucht als ich mit der Hand in seine Hose fahre. Ich spüre seine Erregung und es pusht mich. Das zarte, heiße Fleisch in meiner Hand ist wohltuend und aufregend. „Lass uns einen Deal machen...", fährt er fort. Ich sehe dabei zu, wie er sich über die Lippen leckt und seinen Blick nach unten richtet. „Hörst du eigentlich irgendwann auf zu reden?", murre ich leise und umfasse ihn daraufhin fester um meine Unzufriedenheit zu verdeutlichen. Seine Reaktion besänftigt mich. Er schließt seine Augen und ein feiner Laut des Wohlgenusses perlt von seinen geöffneten Lippen. Es wird zu einem tiefen Brummen. Auch Kains Atem ist unstet und schwer. Seine eigenen Bewegungen werden fahrig, weil er beginnt jede winzige meiner Berührungen zu genießen. Ich weiß, wie gut es sich anfühlt und ebenso ahne ich, was er braucht. „Sex...", murmelt Kain mit geschlossenen Augen, als ich den Reißverschluss seiner Jeans weiter auseinanderdrücke, um besser an ihn heran zukommen. „Sex,...", wiederhole ich bestätigend. Der Deal steht. Wir sind wie zwei Neandertaler. Es fehlt nur noch das Knurren und Grunzen. Egal. Es ist noch immer nur Sex und gegen guten Sex hat niemand etwas. Selbst so ein eigenbrötlerischer Gefühlsstein wie ich. Kain befreit sich selbst von der vollgesogenen Jeans. Mit dem Fuß schubst er sie aus der Dusche, so dass sie über den gekachelten Boden rutscht. Er bleibt unter der Duschbrause stehen, neigt seinen Kopf vollkommen unter den Strahl. Das Wasser trifft auf seinen nackten Oberkörper, bildet feine, blitzschnelle Wasserstraßen, die die Senken und Hebungen seines Körpers umschmeicheln. Es ist nur noch die weiße Shorts übrig, die feucht an seiner Hüfte klebt und im Grunde nichts verdeckt. Ich sehe deutlich, wie sich seine Erregung unter den fast durchsichtigen Stoff hervordrückt. Meine Kitschromanfantasien laufen bereits in diesem Moment Amok. Nur die Beschaffenheit ist durch den dünnen Stoff kaschiert. Die pulsierenden Adern, die sich nur erahnen lassen. Die zarte, glatte Haut, die eben noch meine Fingerbeeren liebkoste. Wohltuende Hitze, die hunderte kleine Feuer in meinem Leib entfacht bis ich vollends in Flammen stehe. Wieder erfasst mich ein kribbelndes Gefühl der Aufregung, weil ich es mir vorstelle. Die Erinnerung an das Gefühl ihn tief in mir zu spüren, ist keineswegs verblasst. Kain mustert mich, sieht dabei zu, wie meine Erregung erwartungsfroh zuckt. Seine Augenbraue wandert amüsiert nach oben. Ich ziehe ihn, bevor er einen dämlichen Spruch von sich geben kann an der Shorts zu mir heran. Seine Lippen suchen seinen Weg auf meine. Diesmal bin ich es, der neckisch zurückweicht. Er versucht es erneut, doch ich lasse meine Hand in seine Unterhose gleiten, umfasse seine Erregung ebenso ohne Scheu und Bedenken. Kain zuckt selbst zurück, blickt an sich hinab und beobachtet meine flinken, frechen Finger dabei, wie sie über das heiße, feuchte Fleisch gleiten. Ich drücke seine Shorts tiefer und lege ihn langsam frei. Es dauert einen Moment bis auch Kains Hände ihren Weg zurück an meine Erregung finden, weil er schamlos genießt, was ich mit ihm anstelle. Wohliges Keuchen vermengt sich mit dem Geräusch des laufenden Wassers. Tiefes, fast brummendes Stöhnen dringt an mein Ohr, verursacht mir mehr und mehr Gänsehaut. Unsere rhythmischen Bewegungen sind berauschend. Ich genieße den immer heftiger werdenden Druck, wohlwissend, dass damit auch die ersehnte Befriedigung einhergeht. Meine Bewegungen werden schneller und intensiver. „Warte...", keucht Kain. Er stoppt mich, drückt meine Hände nach oben, als ich freiwillig keine Anstalten mache von ihm abzulassen. Sein Kopf kommt auf meiner Schultern zum Liegen, während er meine Handgelenke umfasst und gegen die Wand drückt. Er war wohl dichter dran als ich. Kain raunt und dann spüre ich seine Zähne über mein Schlüsselbein schaben. Ein deutlicher Biss, der sowohl Erregung als auch Schmerz durch meinen Körper jagt. „Lass das,...", knurre ich. Spuren kann ich nicht gebrauchen. Ohne etwas zu erwidern, hebt Kain seinen Kopf und küsst mich. Ich bin zu überrascht um auszuweichen und auch zu erregt um auf meinen Verstand zu hören. Der Kuss ist intensiv und leidenschaftlich. Der Geschmack von Ingwer ist diesmal deutlich. Die feine Schärfe lässt meinen Körper pulsieren. Ich habe meine Augen genießerisch geschlossen und verfluche das heftige Verlangen, welches nach mehr dieser Küsse schreit. Nur Sex. Keine weiteren Küsse. Sex, wiederhole ich, wie ein Mantra. Leidenschaftliche Küsse oder Küssen im Allgemeinen sorgen dafür, dass sich mein Gehirn abschaltet und das kann ich definitiv nicht gebrauchen. Ich küsse nicht gern, denn es macht mich gefühlsduselig. Ich löse den Kuss und drücke stattdessen mein Becken auffordernd gegen seines. Der Schwarzhaarige lässt sich nicht lange bitten. Er entlässt meine Hände und legt seine auf meinen festen, kleinen Hintern. Auch er drückt unsere Becken aneinander. Ich spüre, wie seine Finger zwischen meine Pobacken gleiten und ein feines Schaudern erfasst mich. Kain packt mich mit beiden Händen an der Hüfte und zieht mich hoch. Es scheint ein Leichtes zu sein mich anzuheben. Ich greife an den oberen Rand der Duschwand und halte mich fest. Die kühlen Kacheln in meinem Rücken verursachen mir einen weiteren Schauer. Ich spüre, wie sich meine Brustwarzen erhärten und ziehe damit Kains Aufmerksamkeit auf meinen Oberkörper. Seine Augen wandern gierig über meinen dargebotenen Leib, über meine Brust, über meinen Bauch hinab zu meiner deutlichen Erregung. Er blickt auf und merkt, dass ich ihn dabei beobachte, wie er meinen Körper abtastet. Ich will, dass er es fortsetzt und weiche seinem Blick nicht aus. Kain versteht. Er beugt sich vor, haucht einen Kuss gegen mein Sternum und schließt seine Lippen um meine rechte Brustwarze. Ein sanftes Lecken. Ich bestätige das gute Gefühl mit einem Keuchen. Einem Kuss folgt ein Biss. Ich genieße das Zwirbeln und Zwicken. Die Berührungen des anderen Mannes sind fest und leidenschaftlich. Er wechselt zur anderen Seite und vollführt das gleiche Spiel und mein Körper antwortet willig. Meine Hände krallen sich fester in die Oberseite der Trennwand. Ein lautes, durchdringendes Klopfen durchdringt den Raum und Michas klare Stimme lässt mich zusammenfahren. „Robin, werd endlich fertig. Ich gebe dir noch zehn Minuten, dann musst du draußen sein..." Ich ziehe augenblicklich meine Hände zurück, sodass er sie keinesfalls über der Trennwand sehen kann und presse sie auf Kains Schulter. Er lässt mich augenblicklich runter, presst seine Lippen sichtbar aufeinander und legt schwer atmend seine Stirn gegen die kühle Wand. „Die Uhr tickt...", mahnt mein Aufseher weiter. Kain äfft ihn mimisch nach und ich kann den Unmut verstehen. Ich fühle ihn auch. „Ja, ich komme...", belle ich, versuche nicht allzu atemlos zu klingen und bin der Überzeugung, dass mir das niemand abkauft. Kain kicherte leise und legt seine Hand mit einem Mal um meine heiß pochende Erregung. „In zehn Minuten kann ich das einrichten...", lässt der Schwarzhaarige amüsiert vom Stapel. Wie unpassend. Er macht mich fertig. „Das ist nicht hilfreich.", zische ich und drücke ihn von mir weg, jedoch nicht ohne vorher ein erregtes Stöhnen zu unterdrücken. „Zack, Zack, Robin!", fordert der Wohnheimaufseher laut und diesmal klingt er weiter weg. Er ist nicht mehr im Duschraum und ein wenig Anspannung fällt von mir ab. Trotz der Ernüchterung legt sich meine Erregung nicht, was möglicherweise Kains warmen Fingern geschuldet ist, die weiterhin neckend über mein empfindliches Fleisch streicheln. Sein intensiver Blick macht es auch nicht besser. Ich greife hinter den muskulösen Körper des anderen Mannes und drehe kurzerhand den Temperaturregler auf kalt. Kain quiekt. Ich zucke als mich die ersten kalten Tropfen treffen. „Verdammt, nicht gleich Antarktis, bitte!", motzt Kain und schnaubt. Mit zusammengekniffenen Augen bleibt er unter dem Strahl stehen und macht, dass was ich erwarte. Er kühlt sich ab. Ich schiebe den Größeren etwas zur Seite und stelle mich neben ihn unter den Wasserstrahl. Das Resultat ist unbefriedigend, so wie das ganze Ereignis. Ich schiebe mich seitlich aus der Kabine, schließe dicht hinter mir sofort den Vorhang und stolpere vor lauter Hektik fast über Kains achtlos herumliegende Klamotten. Jetzt noch eine Platzwunde und eine Fahrt ins Krankenhaus und der Abend ist perfekt. Ich fluche leise vor mich hin. „Fuck ist das ist kalt." „Sei ein Mann!", watsche ich ihn ab. Sein Gezeter ist nicht hilfreich. „Sagt der Piepmatz...", entgegnet er prompt. Er streicht den Vorhang zur Seite und ich pfeffere ihm für diesen Kommentar sein nasses Shirt entgegen. Zu meiner Genugtuung bekommt er es gegen den Kopf und sieht mich verstört an. Ohne mich großartig abzutrocknen, streife ich mir meine Strickjacke über und steige in die Jeans. „Kehrst du jetzt wieder den Kampfspatz raus? Glaub mir, ich hätte dich auch lieber mit der Front voran gegen die Trennwand gepinnt." Lautmalerisch. Und was zum Teufel! Kampf-was? Ich unterbreche seinen Wahnsinn, in dem ich ihm ein Handtuch zu werfe. Diesmal fängt er es. Nachdem ich mir die Haare etwas trocken gerubbelt habe, schaue ich kurz in den Spiegel. Hätte ich es bloß gelassen. „Hast du auch ein paar trockene Klamotten für mich?" Kain hebt seine klitschnasse Jeans auf. Das gesamte Bild hat etwas Jämmerliches. Aus den Taschen zieht er drei feuchte Ingwerbonbons. Kain wirft sie zum zusammengelegten Shirt auf die Bank. Dann beginnt er die Beine auszuwringen. „Das hättest du dir vielleicht früher überlegen sollen. Bevor du bekleidet zu mir unter die Dusche kommst", gebe ich stichelnd von mir und sehe mich um. „Ich hätte also gleich nackt kommen sollen, ja?", kontert Kain und genießt meine kurze Gesichtsentgleisung. Ich hab genug, seufze und drehe mich von ihm weg. Er folgt mir in den Umkleidebereich und trocknet sich nebenbei die Haare, aber nicht den Rest seines Körpers. Noch immer perlen hunderte Wassertropfen über seinen Körper, scheinen seine Haut zu streicheln, zu kosten. Ein Tropfen verebbt in seinem Bauchnabel. Die Muskeln seines flachen Unterbauchs kontrahieren rhythmisch. Ich weiß, was diese Bewegung in seinem Schritt bewirkt. Stopp! Ich schaffe es erst mich zusammenzureißen, als mein Blick am inneren Rand seiner Beckenknochen angelangt ist. Mein Körper reagiert. Deutlich und intensiv. Was ist nur los mit mir? So verzweifelt kann ich doch gar nicht sein? Bis auf weitere Handtücher und einem alten T-Shirt habe ich nichts in meinem Spind. Für gewöhnlich brauche ich auch keinen zweiten Satz Klamotten. Pech für Kain. Ich verkneife mir weitere sarkastische Gedankenkommentare, obwohl etliche davon aufploppen und begreife langsam, dass ich Kain halbnackt ins Zimmer kriegen muss. Ich reiche ihm aus der Ermangelung anderer Möglichkeiten meine nicht angezogene, frische Unterhose und mein T-Shirt. Der größere Mann blickt auf die Stoffstücke und sieht mich an, als würde ich ihm Matsch als Eis verkaufen wollen. „Da pass ich nicht rein.", kommentiert er, nachdem er die Unterwäsche kurz auseinander faltet. Ich reiche ihm schulterzuckend das Handtuch. Der skeptische Blick bleibt. Kain seufzt, knotet sich das Handtuch um und mustert mich. Ich erwidere den Blick ungerührt. Er winkt mich mit einem Finger an sich heran. Ich schüttele demonstrativ den Kopf. Er nickt. Als ich mich weigere, packt er mich blitzschnell am Kragen und zieht mich an sich heran. „Wir tauschen. Du kriegst das Shirt und ich deine Jacke." Ich schüttele erneut den Kopf. Garantiert nicht. Zur Verdeutlichung ziehe demonstrativ den Reißverschluss meine Strickjacke nach oben. „Komm schon!", fordert er mich auf. "Wieso sollte ich?" Immerhin habe nicht ich ihn mit Klamotten in die Dusche gelockt. „Na, weil ich gerade deutlich gespürt habe, dass das Ding in deiner Brust nicht nur eine Attrappe ist. Sei also so gütig", gibt Kain von sich und ich entreiße mich seinem Griff. Schon wieder eine Provokation. „Alles nur gut geölte Schaltkreise. Schon vergessen", knurre ich ihm entgegen. Wir funkeln uns gegenseitig an. Kains braune Augen sind so intensiv, dass ich Probleme haben ihnen standzuhalten. Sowas liegt mir einfach nicht. Ich will keine Nähe. Ich will keine lästigen Auseinandersetzungen. Ich will einfach nur meine Ruhe. Sex ist gut und schön, aber wenn ich dadurch diese Konfrontationen habe, kann ich drauf verzichten. Bisher haben mir schnelle One-Night-Stands ausgereicht und dabei sollte ich es auch belassen. Wir zucken beide zusammen, als im Flur eine Tür zu schlägt. Ich werfe einen kurzer Blick in die Richtung, streife ich mir widerwillig die Jacke von den Schultern und stülpe mir schnell das T-Shirt über. Es ist niemand zu sehen. Erst als wir um die Ecke zum Zimmer verschwinden, erkenne ich wie die Tür zum Treppenaufgang geöffnet wird und Micha pfeifend in die Teeküche huscht. Er hat uns nicht gesehen und ich atme leise aus. Ich habe nicht mal gemerkt, dass ich die Luft angehalten habe. Bevor ich den Code für die Tür eingeben kann, hält mich Kain zurück. Was kommt jetzt wieder? „Was? Kommt jetzt noch eine Ansage?", patze ich zähneknirschend und starte erneut einen Versuch die Tür zu öffnen. Kain packt mein Handgelenk und hält mich erneut davon ab. Er gibt ein schnaubendes Geräusch von sich und dreht mich zu sich um. Ich sehe ihn verbissen an. „Wir sind noch nicht fertig", flüstert er und beugt sich zu mir runter. Eine Strähne feuchten Haares umschmeichelt sein linkes Ohr und ein paar Tropfen treffen auf mein T-Shirt. Ich sehe hinab auf die dunklen kleinen Flecken und dann langsam wieder auf. Ein paar Topfen haften an seinem Hals. Ich beobachte, wie sie den linken Halsmuskel hinab perlen. Den gesamten Musculus sternocleidomastoideus entlang. Kain ist perfektes Anschauungsmaterial für einen Anatomiekurs. Der Tropfen folgt dem feinen Bogen, bis er in der kleinen Kuhle zwischen Trapezmuskel und Schlüsselbein verebbt. „Doch sind wir...", erwidere ich fahrig. Ich kriege Gänsehaut ohne es verhindern zu können und lasse mich weiter von dem pulsierenden Gefühl in meinen Fingerspitzen ablenken. Mein Bedürfnis nach menschlichem Kontakt ist nach der Unterbrechung und der Provokation zwar gemindert, aber die Nähe des anderen hinterlässt deutliche Spuren. In meinem Kopf schreit es nach Sex. So laut, dass ich keinen anderen Gedanken mehr wahrnehme. Das ist ja nicht zum Aushalten. „Dein Körper ist anderer Meinung....", raunt er mir zu, drückt seinen Zeigefinger gegen die Ausbeulung meiner Hose und scheint sich in keiner Weise daran zu stören, dass wir hier mitten im Flur stehen. Mein Körper ist ein Verräter miesester Sorte. Ich atme tief durch und schließe meine Augen um mich kurz zu sammeln. „Was versprichst du dir eigentlich hiervon?", frage ich nonchalant und sehe ihn an. Kain macht keine Anstalten zurückzuweichen. Er sieht mich einen Moment lang an und ich erkenne deutlich, wie er seine Antwort abwägt. „Na ja, ein bisschen Spaß. Einen guten Fick... Abwechslung. Spaß.", zählt er auf und neigt er seinen Kopf kurz zur Seite. Er grinst schelmisch. So ist das. Seine Rothaarige macht nicht bei allem mit und jetzt sieht er die Chance auf ein neues, willigeres Opfer. Das ist ein Witz für ihn. Ich schnaube verächtlich. „Fick dich, Kain." Ich wende mich von ihm ab, tippe den Türcode ein und verschwinde ins Zimmer. „Was? Ich dachte, wir hätten eine Abmachung", ruft er mir aus dem Flur nach. ich verdrehe von ihm ungesehen meine Augen. „Ich bin nicht dein Rotkäppchen 2.0....", merke ich säuerlich an und schlucke die nächste Beleidigung runter als ich Jeff auf seinem Bett sitzen sehe. Ich spüre, wie Kain energisch gegen mich stolpert, weil ich unvermittelt stehen bleibe. Mein Mitbewohner sieht von seinem Buch auf, wackelt mit den Zehen und mustert ungeniert unsere seltsamen Aufzüge. Er schweigt und das ist mehr als bezeichnend. Diese Situation ist von Peinlichkeit kaum zu übertreffen. Wo ist der Meteoritenhagel, wenn man ihn braucht? „Jeff. Du hier und nicht in Hollywood?", plappert Kain plötzlich. Hollywood? Ernsthaft? Noch verdächtiger konnte sich Kain kaum verhalten. Ich werfe ihm einen verstörten Seitenblick zu und schüttele minimal den Kopf. „Was machst du hier?", frage ich verwundert, weil ich in Erinnerung habe, dass er gar nicht hier sein dürfte. Was ist aus dem rosafarbenes Candlelight-Dinner geworden? Ich traue mich gar nicht nachzufragen. Vor allem als mir Abels Worte durch den Kopf schießen. Rauchen ist nicht gut beim Küssen. Das seltsame Gefühl lässt mich erneut erschaudern. Jeffs Schultern zucken nach oben und er zieht eine deutliche Schnute, die sogleich das Gegenteil behauptet. Er wirkt seltsam desinteressiert und abwesend. Zu unserem Glück kann man wohl sagen. „Ich wohne hier, schon vergessen?", murmelt er trocken. Nun bin ich mir sicher, dass irgendetwas zwischen den beiden blonden Männern vorgefallen sein muss. Herzschmerz. Drama und Heulerei. Es sind nur ein paar der Dinge, die mir sofort durch den Kopf schießen. Das kann ja heiter werden. „Aber sagt, wieso seid ihr nass und er halb nackt", fragt Jeff weiter und deutet dabei auf den Schwarzhaarigen. „Ja, Kain, warum bist du nass und halb nackt...?", frage ich ebenfalls und kann nicht verhindern, dass es etwas provokativ klingt. Zudem ist es eine wirklich gute Ablenkung. „Euer Aufseher ist ein strenger Mistkerl und meine vollbusige Bekanntschaft nicht sehr spielfreudig", plaudert Kain ohne zu zögern und lügt, ohne rot zu werden. Ich bin fast beeindruckt. Jeff nickt geistesabwesend, während Kain mir andeutet, dass er trockene Klamotten braucht. Ich gestikuliere ihm ein Nicht-mein-Problem und zucke nun meinerseits mit den Schultern. In meinem Kleiderschrank werden wir nichts finden, was ihn im Endeffekt nicht wie einen zu großgeratenen Schuljungen aussehen lässt oder wie den Typen aus der Coca-Cola-Werbung. „Wo ist Abel?", fragt Kain, während ich mich resigniert Jeffs Kleiderschrank zuwende und Kain seine nasse Jeans auf unserer Heizung ablegt. „Ich hoffe dort, wo der Pfeffer wächst...", antwortet Jeff mit einer Mischung aus trotzigen Kind und schmollenden Schoßhund. Ich entdecke einen passenden Pullover und werfe ihn dem Schwarzhaarigen zu. „Na immerhin, hat er es dort dann schön warm...", kommentiere ich trocken und kassiere einen beleidigten Blick von Jeff und einen mahnenden von Kain. Pfeffer wächst vor allem in Indien, Brasilien und Malaysia. Dort ist es warm, oder nicht? Ich verstehe das Problem nicht. Ich zucke mit den Schultern, gebe die Suche nach einer legeren Hose in Jeffs Kleiderschrank auf und trabe zu meinem. Irgendwo habe ich noch eine weitere Sporthose. Ich finde sie in der hintersten Ecke. Kain hat sich mittlerweile an Jeffs Schreibtisch gesetzt und richtet das lockersitzende Handtuch. Er neigt sich zu dem blonden Mann, der mit einem Kissen auf dem Bauch auf dem Bett sitzt. Sein Gesicht liegt im Schatten. Besser so. Ich ertrage Jeffs Hundewelpenblick nicht. „Was ist passiert?", fragt Kain. Erstaunlich sanft und einfühlsam. Vor allem ehrlich interessiert. „Abel ist ein Idiot...das ist passiert", blufft mein Mitbewohner und ich verkneife mir den Kommentar darüber, dass er uns etwas Neues erzählen soll. Solche Gespräche sind nicht gerade meine Stärke. Ich werfe Kain auch die Hose zu, setze mich an meinen eigenen Schreibtisch und halte vorsorglich den Mund. Soll Kain mal machen. Doch er schweigt und wartet darauf, dass Jeff von allein darüber berichtet. Es funktioniert. Nach einem der theatralischsten Seufzer, die ich je von meinem Jugendfreund gehört habe, beginnt er zu erzählen. Sie waren in einem Restaurant und Abel flirtete mit dem Kellner. Jeffs Äußerungen nach sind die beiden wohl fast noch im Restaurant übereinander hergefallen. Das wage ich zu bezweifeln. Abel stritt alles ab und redete sich damit raus, dass sie so vielleicht etwas gratis bekämen. Am Ende rückte er aber damit raus, dass es sich wohl um einen Ex-Freund handelte. Wahrscheinlich ist das der Hauptpunkt, der es in Jeffs Kopf dramatisierte. Er spricht von einer Telefonnummer. Streit. Böse Worte und ich komme irgendwann nicht mehr hinterher. Ich bin ein schrecklicher Freund. Behutsam redet Kain auf ihn ein und führt etliche Möglichkeiten an. Jeff solle noch einmal in Ruhe mit Abel reden, wenn sich beide entspannt haben. Sicher sei es nur ein Missverständnis. Eine potenzierte Missdeutung. Kurz, Jeff übertreibt, aber das sagt er ihm nicht deutlich ins Gesicht. Das sollte ich mir vielleicht auch angewöhnen. Jeff solle sich in Abel hinein versetzen. Himmel bewahre. Ich müsste schon mehrfach meinen Kopf gegen die Wand schlagen, um das zu schaffen. Es folgen weitere Äußerungen einer Liste belangloser Phrasen, doch sie scheinen zu funktionieren. Kains ruhige Stimme verursacht ein seltsames Gefühl in meiner Magengegend und obwohl ich meinen Rechner angemacht habe, höre ich den beiden still zu. So etwas hätte ich ihm nicht zu getraut. Jeff ist beruhigt, nickt und gibt Kain am Ende sogar Recht. Gefühle machen uns übersensibel. Mein Kindheitsfreund ist das beste Beispiel. Abgesehen davon, dass er auch so schon zum Dramatisieren neigt. Jeff greift sich das Telefon, verschwindet auf den Flur und lässt Stille zurück. Ich sehe dabei zu, wie sich Kain mit der Hand übers Gesicht fährt, dann aufsteht und ohne Umschweife das Handtuch von seiner Hüfte zieht. Er streift sich die Hose über und grinst. „Da kann man mal sehen, wozu eine große Schwester gut ist...", gibt er amüsiert von sich und klingt gleichzeitig bedrückt. Ich drehe mich wieder um und sehe das Display meines Handys aufleuchten. Drei neue Nachrichten und ein verpasster Anruf. Sicher Brigitta. Ich öffne die erste Nachricht. Lena. Sie droht mir noch einmal mit dem Konzert von 5 Seconds of Sommer. Wenn sie Karten für 30 Seconds to Mars hätte, hätte ich sofort ja gesagt. Aber das. Nur über meine zerstückelte oder aufgelöste Leiche. Oder beides. Die zweite Nachricht ist von Brigitta. Ich soll sie zurückrufen. Die Nachricht ist ausstaffiert mit kleinen Eiswaffeln. Ob Karies durch Textnachrichten ein anerkanntes Krankheitsbild ist? Eine wahre Freude für meine Krankenkasse. Ich habe das Bedürfnis mir die Zähne zu putzen. Die dritte Nachricht ist von Luci. Ein eher seltenes Vorkommnis. Sie nutzt meine Nummer gewöhnlich nur um mich mit neuen Eissorten zu teasern. Sie fragt, ob ich morgen Zeit habe, um kurz in den Laden zu kommen. Okay. Normalerweise versuche ich den Kontakt zu ihr so gering wie möglich zu halten, weil ich befürchte, dass man mir das falsch auslegen könnte. Meine Gefühle für sie sind eher geschwisterlicher Natur, aber ich bin mir nicht sicher, ob sie das wirklich weiß. Den Blicken ihres Vaters nach zu urteilen, weiß er mich auch nicht einzuschätzen. Ich will Eis und ich mag die Gespräche zwischen mir und der süßen Italienerin. Mein Stuhl neigt sich nach hinten und ich drücke eilig die SMS weg. Kains Gesicht taucht über mir auf. Er trägt noch immer meine Strickjacke und sein nackter Oberkörper blitzt zwischen den halbgeschlossenen Reißverschluss hervor. Mein kleiner Anatomieexkurs setzt sich unbewusst fort. Die Clavicula. Das Sternum. Wieder das Musculus sternocleidomastoideus, welches zwischen den beiden Enden des Schlüsselbeins diese kleine Kuhle bildet. Warum Gehirn, warum? Es ist mein Abwehrmechanismus. Wenn ich in eine Situation gerate, die mir unangenehm oder ungewohnt ist, verfalle ich in Fachchinesisch. So ist es schon immer gewesen. Ich rattere geeignete Fachtermini runter und versuche damit die anderen zu verblüffen und zu diffamieren. So, wie ich es im Buchladen mit Kains Rothaariger getan haben. Dass ich es aber mittlerweile gegen mein eigenes Gehirn einsetze, ist mir neu. „Ich werde aus dir nicht schlau, weißt du das?", bemerkt Kain mit gerunzelter Stirn. Er lutscht einen seiner Ingwerbonbons und ich sehe, wie er es zwischen seinen Wangen hin und her schiebt. Die Seitenstränge meines Halses ziehen sich unbewusst zusammen. „Tja, vielleicht bittest du Jeff bei Gelegenheit um meine Gebrauchsanweisung", antworte ich sarkastisch. „Können wir bitte kurz ernst sein?", fragt er murrend. Wieder reden, reden, reden. Nimmt das nie ein Ende? „Was willst du von mir hören?" „Wie wäre es mit einem klaren ja oder nein." "Wozu?" "Du weißt wozu." Ich weiß es noch im selben Moment. Mein Puls beschleunigt sich, weil mein Körper deutlich Ja schreit. Jeff steckt seinen Kopf durch die Tür und ruft nach uns. Ich sehe, wie Kain sich nach hinten lehnt und um die Ecke schaut. „Ich gehe zu Abel... ist doch okay für euch?" „Ja", antwortet Kain. „Nein", sage ich fast zur selben Zeit, aber leiser, sodass es nur Kains Antwort hören kann. Der Schwarzhaarige mustert entschlossen mein Gesicht und versteht. Ich höre wie erwartet, wie die Tür ins Schloss fällt. Kain lässt meinen Stuhl endgültig los. Seine Hand klopft gegen das Plastik der Lehne und ich merke, wie er sich entfernt. Mein Puls pusht sich stetig nach oben, vibriert durch meinen Körper. Ich greife mit seltsam klammen Fingern nach meinen Kopfhörern und lege sie mir über die Ohren. Nun hat er seine Antwort. Nun habe ich endlich wieder Ruhe. So ist es besser. Warum glaube ich mir das nicht? Aus dem Augenwinkel heraus beobachte ich, wie Kain sich der Strickjacke entledigt und auf Jeffs Bett fällt. Dumpf höre ich das leise Quietschen des Bettgestells durch meine Kopfhörer. Genauso, wie das Rascheln der Bettdecke. Noch immer habe ich die Musik nicht angestellt. Kain schaltet das Licht aus, mit dem Jeff vorhin noch gelesen hat und mit einem Mal ist der gesamte Raum bis auf meinen Monitor dunkel. Meine Konzentration ist dahin. Nicht, dass sie heute irgendwann mal vorhanden gewesen ist. Bereits in der Bibliothek habe ich keinen Satz zu Stande bekommen und schuld daran war der Schwarzhaarige hinter mir. Ob ich je wieder zur Ruhe komme? Zum Schreiben ist es im Grunde auch schon zu spät. Ich schalte den PC wieder aus, richte mich auf und gehe ebenfalls auf mein Bett zu. Kurz davor bleibe ich stehen und sehe zu dem anderen Mann. Kain liegt auf den Rücken. Beide Hände verschränken sich hinter seinem Kopf. Er schläft nicht, dessen bin ich mir sicher und das lässt meine Fingerspitzen pulsieren. Erwartend und aufgeregt. Nur Sex. Schlicht und einfach Sex. Einfach nur One-Night-Stands mit derselben Person. Warum nicht? Was soll schon passieren? Wenn wir es nicht mehr wollen, werden wir es einfach wieder lassen. Ganz einfach. Ein weiterer Kurzschluss in meinem Kopf setzt meine Beine in Gang. In einer schnellen, geschmeidigen Bewegung knie mich über den Schwarzhaarigen. Kain schreckt auf und ich halte ihn an den Schultern zurück. „Sex, ja?", frage ich leise. „Ja." Nur ein Hauch und dann spüre ich bereits seine Hände an meiner Hüfte. Seine Finger, die sich unter mein Shirt schieben und gierig warme Hand streicheln. Meine Klamotten sind schnell verschwunden, genauso, wie die schmuddelige Sporthose bei Kain. Haut trifft auf Haut. Es ist befriedigend und wohltuend. Kains Hände sind wissend und intensiv. Die Erregung in meinem Körper ist seit dem begonnenen Stelldichein in der Dusche nie wirklich verschwunden und entfacht sich nun noch heftiger. Diesmal keine Spielereien. Keine Provokationen. Unsere Berührungen sind eindeutig und klar. Seine Lippen erkunden meinen Brustkorb, beginnen an meinen Brustwarzen zu knabbern, doch das brauche ich nicht, denn ich will ihn spüren. Ich drücke ihn in die Laken und beuge mich zum Nachttisch. Ich brauche einen Moment bis ich die Tube Gleitmittel ertastet habe. Zum einen, weil ich nicht weit genug heranreiche und zum anderen, weil ich andauernd zurückzucken muss. Kains Lippen necken mich. Sie küssen sich über meinen Bauch, treffen meine Seite und jagen mir Schauer durch den Körper. Auch seine Hände streichen kitzelnd meinen Brustkorb entlang. Sie tasten sich über meinen Rücken bis sie hauchzart über meine Pospalte gleiten. Das aufregende Kitzeln explodiert in meinem Inneren als er die Backen schamlos auseinander zieht. Die Erregung pulsiert durch meine Adern. Ich spüre sie deutlich und intensiv. Ich will mehr. Kain gibt mir, was ich ersehne. Seine feuchten Finger, denen kein Widerstand dargeboten wird, gebe ich mich hin. Sie sind flink, gleiten tief. So wohltuend. Kains Mund umspielt meine Brustwarzen, während er mich geduldig vorbereitet. Der Druck in meiner Lendengegend wird mit jedem weiteren Finger unerträglich. Ich will mehr. Demonstrativ beuge mich ein weiteres Mal nach oben, greife fahrig in das kleine Schränkchen und taste suchend nach einem der Alupäckchen. Erneut spüre ich Kains Lippen an meinem Bauch. Seine Zunge dippt in meinem Bauchnabel, während sein stoppeliges Kinn meine Eichel streift. Die unerwartete Berührung lässt mich scharf die Luft einziehen. Gott, wie sich wohl seine Lippen um meinem Schwanz anfühlen? Warm und feucht. Sanft und gierig. Sein Atem streicht heiß und zugleich lindernd über erregtes Fleisch. Ich erzittere als Kains Kinn wiederholt über meine Spitze streicht. Ich ergreife endlich das Kondom. Ich richte mich auf, knie dicht über ihm und Kain folgt mir in die Senkrechte. Seine Finger gleiten tiefer, bewegen sich schnell und strikt in mir. Es reicht mir nicht. Seine Härte reibt gierig an meinem Oberschenkel. Ich umfasse uns beide, gönne uns ein klein wenig Reibung, bevor ich die Kondompackung mit den Zähnen öffne. Kain fackelt nicht lange und nimmt mir den Gummi aus der Hand. Ich sehe dabei zu, wie er ihn sich überrollt und mich geführt auf sein Becken drückt. Kains Hand in meinem Nacken. Er zieht mich in einen Kuss und ich lasse es geschehen. Die Süße beruhigt mich. Die Säure entspannt mich und die Schärfe lässt mich vergessen. Er löst den Kuss erst, als ich ihn tief spüre und unbewusst beginne, mich über ihm zu bewegen. „Tiefer. Immer tiefer", murmelt der Schwarzhaarige leise, zitiert, wie beim letzten Mal eine Stelle meines Textes. Ich reagiere sofort mit einem deutlichen Schaudern. Die Haut an meinem Hals perlt sich hervor und wandert von dort über meinen gesamten Oberkörper. Seine Hände umfassen meine Hüfte und er zieht mich etwas höher. Sein Becken folgt mit langsamen, tiefen Stößen. „Seine Wärme. Überall. An mir. In mir. Seine wissenden Hände schenken mir mehr und mehr Befriedigung." Mit jedem Wort stößt er zu. Rhythmisch und intensiv. Ich bin hin und hergerissen zwischen dem Wunsch ihn zum Schweigen zu bringen und zu gleich noch mehr Worte von seinen Lippen perlen zu hören. Es erregt mich. Kain spielt damit. Bewusst oder unbewusst. Es ist auch egal. Er beginnt mich zu pumpen. Die Hitze seines Körpers nimmt mich vollkommen in Besitz. Ich spüre ihn so tief. Die Gleichmäßigkeit und die intensive Reibung an genau den richtigen Stellen bringen mich schnell zum Abschluss. Ich unterdrücke das befreiende Stöhnen nicht und spüre deutlich, wie Kain in diesem Moment tief in mich eindringt und die Kontraktionen meines Körpers genießt. Ich lege meinen Kopf in den Nacken, spüre die Befriedigung, die mich durchrollt und wie der Druck nachlässt. „Sein Körper. Ein heilbringendes Pflaster voller Verlangen und Sehnsucht...", flüstert er mir entgegen, bevor er mich packt und mit nur einem Griff ins Bett drückt. Er nimmt mich fest und hart. Seine Stöße sind intensiv und schnell. Ich genieße es, merke, wie sich das abflauende Verlangen wieder regt. Ein letzter harter Stoß und Kains Stirn kommt auf meiner Schulter zum Liegen. Sein heißer Atem streicht über meine Haut und ein leises Summen erklingt. „Ich kriege... deinen Text...nicht mehr aus meinem...Kopf...", gesteht Kain schweratmend. Er lässt sich neben mir auf das Bett fallen, dreht sich auf den Rücken und streicht sich die dunklen Haare zurück. Seine Augen bleiben geschlossen und er räkelt sich entspannt im Kissen. Ich richte mich auf und ziehe mir die von Kain abgelegte Strickjacke über. Bevor ich den Reißverschluss zuziehen kann, greife ich in etwas Feuchtes. Vortrefflich. Erst als ich aufstehe und zu meinem eigenen Bett gehe, regt sich der andere Mann. „Ich möchte sie zu Ende lesen...", sagt er plötzlich und ich halte in meiner Bewegung inne. „Wozu? Und sie hat kein Ende...", sage ich schlicht und ziehe meine Schlafklamotten unter dem Kissen hervor. Im Grunde hat die Geschichte nicht einmal einen richtigen Inhalt. Sie beschreibt nur das Zusammentreffen zweier Menschen, die sich anziehend finden. Kein Inhalt. Keine wirklichen Beweggründe. Keine Bedeutung. So, wie das zwischen mir und ihm. Kain schweigt. Die Stille irritiert mich und ich sehe zu dem anderen Mann, der sich mittlerweile aufgesetzt hat. Ich erkenne seine schemenhafte Gestalt in der Dunkelheit. „Wie machst du das?" Es beschäftigt mich schon eine ganze Weile. Wie hat er sich die Zeilen meines Textes so schnell merken können? „Was meinst du?" „Wie schaffst du es, Wort für Wort die Zeilen wiederzugeben?" Ich krame in meine Nachtschränkchen nach einem Taschentuch und entferne mir die Überreste unseres nächtlichen Abenteuers. Ich werfe das Tuch Richtung Mülleimer, aber es landet daneben. Physik ist zum Kotzen. „Jahrelange Übung...", Mehr sagt er nicht. Keine Erläuterung oder genauere Erklärung. „Du hast ein eidetisches Gedächtnis, oder?", frage ich verblüfft. Das würde einiges erklären. „Sowas in der Art. Ich präge mir nur schnell Dinge ein, die ich lese. Mehr nicht. Deshalb lese ich nicht gern. Ich kriege es nämlich nicht mehr aus meinem Kopf." Dass er nicht gern liest, hat er schon mal erwähnt. Kain lässt sich wieder aufs Bett sinken. Ich höre, wie er leise seufzt. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es sein muss. Ich lese Bücher und er erfasse den Inhalt, mehr nicht. Nur bei meinen eigenen Texten bin ich in der Lage, Wort für Wort und Zeile für Zeile wieder zu geben und das auch nur bei wenigen Teilabschnitten. „Vergiss es einfach...", murrt er. Damit dreht er mir den Rücken zu. Ich weiß nicht genau, worauf er seine Aussage bezieht. Soll ich vergessen, dass er dieses Talent hat oder dass er meine Geschichte lesen will? Beides verursacht ein seltsames Kribbeln in meiner Magengegend. Da Kain sich nicht mehr rührt, mache ich noch einen kurzen Abstecher in die Waschräume. Dort säubere ich meinen eingesauten Bauch, putze mir endlich die Zähne und widerstehe dem Bedürfnis vor dem Schlafengehen noch eine Zigarette zu rauchen. Kain schläft selig als ich zurückkehre. Ich habe meine Probleme damit einzuschlafen. Noch immer scheint mein Körper zu pulsieren. Meinen Herzschlag höre ich noch lauter, weil ich meinen Kopf fest ins Kissen drücke. Am Morgen erwache ich vor dem Schwarzhaarigen. Kains ruhiger Atem erfüllt den Raum. Ich richte mich auf, strecke meinen Kopf höher, um auf den schlafenden Körper zu sehen und falle zurück in mein Kissen. Mein Körper pulsiert bei jeder Bewegung. Aber es ist gut, belebend und befriedigend. Ich krame leise meine Klamotten zusammen, verschwinde in die Umkleideräume und mache mich auf den Weg zur Bibliothek. Dank meines Manövers entgehe ich den möglichen, leidigen Diskussionen, die im Zimmer auf mich warten würden. Ich erkundige mich, ob die bestellten Fachartikel für meinen Vortrag bereits hinterlegt sind und werde enttäuscht. An Samstage ist der Bibliotheksbetrieb nur eingeschränkt und damit gibt es feste Abholzeiten. Keine weiteren Diskussionen. Da kann ich nichts machen. Ich nutze die Wartezeit, um mir die anderen Bücher zu Gemüte zu führen und komme diesmal ein ganzes Stück weiter als gestern. Ist auch nicht schwer, schellte ich mich selbst, als mein Kopf wagt, sich lobend zu äußern. Gegen Nachmittag schalte ich meinen Laptop ab und besorge mir eine Kleinigkeit zu essen. Das Angebot der Mensa sagt mir nicht zu. Ich brauche fast eine halbe Stunde bis ich mich für Nudeln mit irgendeiner Gemüsesoße entschieden habe. Es ist ungewöhnlich grün und ich erkenne nur bei der Hälfte der Gemüsestücke, was es eigentlich ist. Selbst bei den Nudeln habe ich Probleme. Wahrscheinlich waren es mal Bandnudeln, aber davon sind nur noch Teigfetzen übrig. Ich schwor mir nach jahrelangen Schulkantinenessen nur noch das zu essen, was ich mindestens zu 50 % identifizieren kann. Das hier ist hart an der Grenze. Mit dem Tablett in der Hand sehe ich mich um. Viele der Tische sind bereits leer. Es ist weit außerhalb der normalen Mittagszeit und so sitzen nur wenige Studenten beim Essen. Außerdem ist es Wochenende und die nicht am Campus wohnenden Studenten verbringen lustige Familientage. Gut, dass meine rund 700 Kilometer entfernt ist. Ein Tisch voller tuschelnden Mädels zieht meine Aufmerksamkeit auf sich. Sie sehen aus wie Pädagogikstudentinnen. Ich setze mich möglichst weit von ihnen entfernt ans Fenster und klemme mir sofort die Kopfhörer auf die Ohren. Zwei Lieder schaffe ich, dann lässt der Akku nach und es folgt eine verheißungsvolle Stille, die die ganzen äußeren Geräusche offenbart. Lauter leise Gespräche, die dumpf an mein Ohr dringen und freudiges Lachen des Mädchentisches. Unweigerlich sehe ich zu dem vollbesetzten Tisch. Es ist schlimmer, als ich gedacht habe. Schon wieder Literaturstudentinnen. Trotz meiner Affinität für Literatur und dem kreativen Schreiben habe ich eine Abneigung gegen literarische Wissenschaften entwickelt. Meine Deutschlehrerin startete im letzten Schuljahr einen Versuch mich für die Literaturwissenschaften zu begeistern, da sie nach etlichen Aufsätzen bemerkte, dass meine sprachlichen Fähigkeiten, über denen des normalen Schüler hinausgingen. Ich würde einen umfangreicheren Wortschatz besitzen und mit lyrischen Formulierungen arbeiten. Was niemals meine Absicht gewesen ist. Ich redete mich heraus. Schließlich orientierte man sich oft an den Werken, die man gerade analysierte. Maria Stuart zum Beispiel. Effie Briest. Interessanterweise ist es nicht nur im schriftlichen Bereich ein Phänomen, dass sich die Menschen ihrem Gegenüber anpassen. Bei Verabschiedungen wird es aller höchster Wahrscheinlichkeit nach so sein, dass der Gegenüber den selben Wortlaut verwendet, wie man selbst. Überhaupt wiederholt der Mensch gern im selben Wortlaut. Es ist kurios. Meine Lehrerin wiegelte damals alle meiner halbgaren Erklärungsversuche einfach ab. So etwas las sie selten und wenn dann eher beim weiblichen Geschlecht. An der Tatsache, dass mein Wortschatz umfangreicher war, als der anderer armer, männlicher Wichte hatte sie wahrscheinlich auch gemerkt, dass ich Jeffs Hausaufgaben schrieb. Mein treuherziger Kindheitsfreund belegte zwar nur einen Deutschgrundkurs, der aber zu unserem Leidwesen ab der 12. Klasse von derselben Lehrerin geleitet wurde, wie mein Leistungskurs. Ab dieser Zeit bedeuteten die Einsparungen im Lehrpersonal auch Einsparungen in der positiven Variabilität von Jeffs Deutschnoten. Es ging ziemlich bergab und er riss sich nur noch mit guten Mitarbeitsnoten heraus. Was wiederum mein Todesurteil war. Was das angeht, haben Jeff und ich uns immer sehr gut ergänzt. Erst eine bekannte Stimme holt mich aus der Vergangenheit zurück. Kain. Ich blicke mich unauffällig um und sehe ihn mit seinem Kumpel in der Ecke sitzen. Nur zwei Tische zwischen uns und ich sitze mit dem Rücken zu ihnen. Zum Glück haben sie mich nicht bemerkt. Der Anabolikasportler, der auch auf der Wohnheimparty war, wäre keine Gesellschaft für mich. Auch heute spannt der Bizeps sein Shirt bis ins Unermessliche. Ich weiß noch immer nicht, wie er heißt, aber mit Namen habe ich es sowieso nicht. Beide scheinen aus dem Fitnessbereich zukommen. Kain sitzt mit dem Rücken zu mir und ich kann erkennen, wie er wild mit den Armen herumfuchtelt. Er gehört zu der Sorte Menschen, die mit dem ganzen Körper reden und das ist nicht das erste Mal, dass es mich amüsiert. Die Mensa leert sich weiter und die Stimmen der beiden Männer werden lauter. „... nein, wirklich. Es war der Oberhammer. Ich habe noch nie etwas Geileres gesehen." Der Mund des blonden Muskelbergs formt sich zu einem übertrieben Grinsen, während er mit der flachen Hand mehrfach auf den Tisch schlägt. "Ich kann dir die DVD gern mal ausborgen..." „Ich weiß ja nicht... eine Ex-Freundin von mir hat es auch mal vor meinen Augen gemacht. Ich fand es nicht so toll", sagt Kain. Ich sehe sein Gesicht nicht. Nur seine Gabel, die sich wedelnd hin und her bewegt. „Echt nicht? Mit Sophie war es immer der Hammer... hat mir dann die ganze Zeit diese Blicke zu geworfen und dieser geilen Geräusch gemacht. Ich musste mich echt zusammenreißen, um nicht sofort über sie herzufallen." Ein lautes kehliges Lachen folgt zur Untermalung. Sie haben ein wirklich interessantes Gesprächsthema. Mitten in der Mensa. Als nächstes schauen sie zusammen Pornos auf dem Laptop. Ich versuche nicht weiter zuhören und krame mir ein Buch aus der Tasche. Lektüre über Pathobiochemie. Mein momentaner Lieblingszweig, da er eng mit der Toxikologie zusammenarbeitet. Leider werden erst im nächsten Semester Kurse dazu angeboten, aber es schadet ja nicht sich vorzubilden. Gifte. Krankheiten und andere interessante Sonderheiten. Ich freue mich tierisch darauf. Erneut ist es Kain der spricht und unwillkürlich höre ich wieder zu. „Das ist doch gekünstelter Scheiß...", watscht er den anderen an, "Normalerweise würden so doch keine gucken, das machen die nur, weil sie denken, das würde gut aussehen." „Ja, aber es ist genau wie im Porno. Heiß und Geil. Sag bloß, du stehst nicht drauf?" „Nicht wirklich. Diese übertriebenen Gesichtsausdrücke. Das gekünstelte Stöhnen. Nicht meins." „Du bist manchmal echt seltsam, mein Bester!", kommentiert der andere daraufhin und äußert sein Unverständnis. Kain lacht und ich weiß, dass ich den Kerl niemals leiden können werde. Er ist ein typischer Proll. „Ein einziges Mal habe ich jemanden beim Masturbieren gesehen.", beginnt Kain und ich horche auf, "Ich habe heimlich dabei zugesehen und das war wirklich geil. Es war natürlich und echt. Intensiv und leidenschaftlich. Das Natürliche, das war gut." Er fuchtelt erneut mit der Gabel rum, dreht Kreise und Ellipsen. Ich spüre, wie sich mein Herzschlag beschleunigt bei der Erzählung. „Du Schlingel. Du siehst also heimlich Mädels beim Masturbieren zu? So, so...", brüllt der Blonde fast durch die Mensa wird bei den letzten Worte aber wieder leiser. Kain beugt sich aufgebracht nach vorn. „Hey, geht´s vielleicht etwas leiser?" „Wer ist ein Schlingel?" Jeff taucht hinter Kains Freund auf und ich kann deutlich sehen, wie der Schwarzhaarige zusammen zuckt. „Kain steht auf Masturbation!" „Wer nicht", entgegnet Jeff ungerührt und setzt sich mit seinem Tablett neben den Schwarzhaarigen. Er scheint Kains Freund bereits zu kennen, denn es folgen keinerlei Kennenlernphrasen. Es wundert mich nicht. Auch nicht, dass Jeff mich entdeckt und fröhlich zu winkt. Natürlich will er mich wieder in die Gesellschaft eingliedern. Als wäre ich ein aussätziges Tier. Ich verneine deutlich und widme mich meinem Buch. Ich lese den Absatz bereits zum dritten Mal. "Kain ist ein kleiner Spanner", witzelt der Blonde. Kain schnaubt als Antwort. „Ich habe Robin mal dabei erwischt", mischt nun auch Jeff mit. Ich will ihn erwürgen. „Jeff, er hört uns. Hör auf", fährt ihn Kain an und schielt zu mir. Ich rege mich nicht, kann mir aber einen kurzen Blick nicht verkneifen. „Er trägt Kopfhörer und liest. Er bekommt nichts mit und da ist ja nichts bei. Wir sind Mitbewohner, da passiert so was. Er erwischt mich andauernd und ich erzähle euch ja nichts Detailliertes", wiegelt Jeff und beugt sich über seinen Teller. Ich erinnere mich an dieses eine Mal. Es war im ersten Semester. Jeff hatte gar nicht da sein sollen und dann stand er mit einem Mal in der Tür. Ich streiche die peinliche Erinnerung fort, räume meine Sachen zusammen und greife mir mein Rucksack. Demonstrativ setze ich mich Kain gegenüber. „Hey,...", sage ich lapidar. Jeff grinst mit vollen Backen. Der Muskelprotz ebenso und bei Kain scheint es tatsächlich einen Moment lang so als würde er rot werden. Er rettet sich damit, dass ihm einfällt, dass ich seinen Kumpel noch nicht kenne. Glück gehabt. „Robin, das ist Marvin. Mein bester und ältester Freund... Der gehört zu ihm." Der Rest ist an Marvin gerichtet und soll anscheinend verdeutlichen, dass ich Jeffs Anhang bin. Kains Formulierung kann man mächtig falsch verstehen und ist auch in keiner Weise freundlich. „Was er meint ist, dass ich sein Mitbewohner bin...", erläutere ich und schenke Kain einen deutlichen Blick. Der große Blonde nickt und grinst. „Hab mich schon gewundert. Zwischen Abel und dir wäre schon ein krasser Unterschied.. aber gut, manchen Leute ist der Typ ja Wurst..." Er lacht. Kain grinst und Jeff blickt verlegen aus der Wäsche. Wir sind ein schlechtes Laientheater. Schwachmaten beim Abendmahl oder das Einmaleins der unakademischen Konversation. Ich schüttele meinen Kopf und widme mich wieder meinem Buch. Ein Kaffeebecher taucht vor Kain auf. Das Logo lässt erkennen, dass er vom uninahen Coffeeshop kommt, der wohl den besten Kaffee der Stadt hat. So hat es Jeff ausgedrückt. Ich trinke zu wenig von der schwarzen Brühe um mir diesen Umweg und die Mühe zu machen. Tee ist mir lieber. Der Becher wird von langen, manikürten Fingern gehalten und spüre sofort, wie mir der Appetit flöten geht. Sie schon wieder. „Grand Mokka mit zwei Tütchen braunem Zucker", flötet die Rothaarige und haucht einen Kuss auf Kains Wange. Sie platziert ihn absichtlich kurz vor seinem Mundwinkel und nutzt dabei den Überraschungseffekt aus. Danach schaut sie einmal durch die Runde, macht sich aber nicht die Mühe, uns ebenso zu begrüßen. Ihre glorreiche Anwesenheit muss uns wohl reichen. „Oh, hi! Was für ein Service.. womit hab ich das verdient?", fragt Kain, öffnet den Deckel und schnuppert. Der Geruch von stark gerösteten Bohnen umfängt uns fast augenblicklich und er ist wirklich angenehm. Jeff lehnt sich neidisch blickend zu dem Kaffeebecher. „Nur so und weil du noch immer mein Liebling bist.", flirtet sie viel zu offensichtlich. Ich möchte mich übergeben. Zum Glück zeigt Kains falsches Lächeln, wie unangenehm ihm das ist. Ihre schlanken Finger betten sich auf seine Schulter und berühren sein Schlüsselbein. Sie streicht darüber. Hauchzart, aber für alle gut sichtbar. Kain lässt es geschehen. „Du weißt, was ich mag.", erwidert er und lächelt weiter. Er nimmt endlich einen Schluck der warmen, koffeinhaltigen Flüssigkeit. Soviel zum Thema Mann und Piepmatz. Unwillkürlich gebe ich ein angeekeltes Geräusch von mir und täusche einen glaubwürdigen Huster vor. Dabei ziehe ich die fragenden Blicke aller Anwesenden auf mich und bin gezwungen zu erklären. „Entschuldigt, ich bin allergisch gegen übertriebenes Diabetesgeschwafel... Da schnürt sich mir jedes Mal der Hals zu.", sage ich. „Wie gut, dass du wahrscheinlich selten nette Worte zuhören bekommst, sonst wäre die Trachealstenose bald chronisch", kontert die Rothaarige und ich bin tatsächlich für einen Moment verblüfft. Ein medizinischer Begriff. Nicht schlecht. Bevor ich ihr antworte, deute ich ihr an einen Moment zu warten. Ich reiße ein Stück Papier aus meinem Notizblock und notiere darauf ihren Studiengang. „Wow, du hast dir meinen Ratschlag in die Lehrbücher zu schauen zu Herzen genommen. Das finde ich gut... Aber beim nächsten Mal klappt es sicher auch mit der richtigen Fachrichtung. Hier zur Erinnerung." Ich reiche ihr den Zettel. Ihr Blick wird finster. „Bio-Lo-Gie, solltest du nach vier Semestern langsam drauf haben.", kommentiere ich ihren Gesichtsausdruck. „Zum Anfang empfehle ich dir übrigens die Werke von Purves und Champbell... Die Was-ist-Was-Reihe soll auch ganz toll sein", setze ich nach. Ich weiß eben nie, wann Schluss ist. Sie knüllt das Papier zusammen, wirft es in meine Richtung und trifft Marvin. „Du bist ein Arsch...", wettert sie mir entgegen. Das hat sie sicher viele Gehirnzellen gekostet. Bevor ich ihr etwas erwidern kann, stoppt mich Jeff. „Robin, nicht..." Er schüttelt seinen gutfrisierten Kopf. Ich hebe abwehrend meine Hände in die Luft und lehne mich zurück. Ich habe es absichtlich vermieden zu Kain zu sehen und tue es auch jetzt nicht. Es ist das erste Mal, dass er eine solche Diskussion zwischen mir und seiner Was-auch-immer-Freundin mitbekommt. Doch er schreitet deswegen nicht ein. „Hey, du wolltest mir doch gestern Abend noch irgendwas zeigen, oder?", fragt Kain die Rothaarige und umfasst sachte ihr Handgelenk ehe sie abrauschen kann. "Oh ja, ich habe endlich die DVD bekommen." Automatisch kommen mir ein paar Filme in den Sinn, die die beiden wohl schauen könnten. Girls United. High School Musical. Findet Nemo. "Okay, dann heute Abend?" „Nein, ich kann nicht. Ich habe heute noch ein Meeting mit der Redaktion." Sie streicht sich aufreizend eine ihren roten Haarsträhnen zurück. Ihr Blick geht für einen Sekundenbruchteil zu mir, dann legt sie Kain eine Hand auf die Schulter. Ihre Finger gleiten direkt zu seiner Brust, sodass daraus eine besitzergreifende Geste wird. Als ob die Tatsache, dass Kain mit ihr ins Bett geht, irgendwas über ihre allgemeine Anziehungskraft auf Männer aussagt. Keine Ahnung, wer sie attraktiv findet. „An einem Samstag?" Kains Augenbraue zieht sich nach oben. „Ja, wir haben eventuell jemand Neues für die Comicseite und für den Wirtschaftsteil. Ich weiß nicht, wie lange wir brauchen." Dass die Rothaarige für die Campuszeitung arbeitet, ist mir neu. Ein weiterer Grund niemals einen Blick in dieses Käseblatt zu werfen. Noch einmal haucht sie ihre Lippen gegen seine stoppelige Wange, streicht mit ihren schlanken Fingern über die breite Schulter. Sie flüstert ihm etwas ins Ohr, was ihm ein seltsames Lächeln auf die Lippen legt. Ihre Fingerspitze tippen gegen seinen Hals. Ich kann es gar nicht erwartet, dass sie endlich wieder verschwindet. „Ich ruf dich an", säuselt sie Kain zu und hebt für die anderen nichtsnutzigen Wichte am Tisch ihre Hand zum Gruß. Es ist deutlich das höchste aller Gefühle. Ich sehe ihr genervt nach und blicke unglücklicherweise danach direkt zum Schwarzhaarigen. „Was ist dein Problem?", fragt er mich direkt und scheint wirklich zerknirscht. „Was denn? Ich bin nur ein durch Allergien geplagter Mann. Dummes Gequatsche. Chronische Armleuchter. Weichgespülte Mannsbilder. Rothaarige. Allergien sag ich dir...", kommentiere ich, greife in meinem Rucksack und stecke mir die Schachtel Zigarette in die Hosentasche, nachdem ich mir eine der Glimmstängel zwischen die Lippen gesteckt habe. „Wie hältst du es mit dem nur aus, Jeff?" Kain deutet auf mich und macht ein übertrieben genervtes Gesicht. „Oww, wird der große starke Mann plötzlich zum Piepmatz...", äußere ich und weiß sehr wohl, dass Jeff und Marvin damit nichts anfangen können. Dafür Kain umso mehr. „Er hat Piepmatz gesagt", entfährt es Marvin lachend. Herrje, noch so ein Leuchte. Gab es die im Sonderangebot? Kains Blick verfinstert sich getroffen. „Ernsthaft, hat er irgendwann mal eine annähernd menschliche Phase in seinem Leben gegeben, weil ich mir sonst nicht erklären kann, wie du dich mit ihm befreunden konntest.", wettert Kain weiter. „Oh bitte" Das Roboterthema? Wie kreativ. Du und Asimov können mich mal", gifte ich ihm entgegen und Jeff blickt verwirrt zwischen mir und dem Schwarzhaarigen hin und her. „Um ehrlich zu sein, habe ich ihn ursprünglich durch René..." Als ich diesen Namen höre, reagiere ich augenblicklich. „Koch, ich warne dich..." Meine Stimme ist eiskalt. Der Angesprochene schluckt. Er weiß, dass ich nie wieder ein Wort mit ihm rede, wenn er es noch einmal wagt, vor den anderen diesen Namen zu erwähnen. Zähneknirschend zerbrösele ich die Zigarette in meiner Hand, greife nach meinem Rucksack und gehe wütend. Wie kann er nur? Er weiß ganz genau, dass das ein Tabuthema ist. Draußen stecke ich mir als Erstes eine neue Zigarette an, nehme ein paar tiefe Züge und spüre dann erst, wie das schmerzende Kribbeln in meiner Brust verebbt. Ich habe das Bedürfnis gegen irgendwas zu treten, aber zum Wohle meiner Haftpflichtversicherung ist in diesem Moment nichts in meiner Nähe. Stattdessen suche ich mir eine Ecke voller Gras und lasse meinen Fuß so lange darüber reiben, bis nur noch ein trauriger brauner Fleck zurückbleibt. Die Wut weicht und macht der Trauer Platz. Das ist noch schlimmer. Noch ein paar Mal malträtiere ich den Grasfleck und sehe auf die Uhr. Es ist bereits später Nachmittag. Ich muss mich beeilen, wenn ich es noch zu Luci und ins Café schaffen will. Noch im Laufen tippe ich der jungen Italienerin eine Entschuldigungsmail und kündige mein verspätetes Erscheinen an. Ich schaffe es erst nach Ladenschluss. Glossar (Ist das eigentlich erwünscht?): Trachealstenose = Luftröhrenverengung Pathobiochemie: Zweig der Biochemie, der sich mit den Veränderung der biochemischen Vorgänge im menschlichen Körper, während einer Krankheit befasst Kapitel 10: Die Leiden des alten J.R.R. Tolkien ----------------------------------------------- Kapitel 10 Die Leiden des alten J.R.R. Tolkien Trotz dreier Zigaretten, die ich auf dem Weg rauche, besänftigen sich meine Gedanken einfach nicht. Die stille Wut ist alt und zäh. Sie ist schwer und tiefgehend. Sie schwelt in mir und ich spüre, wie sie langsam glühend mit jedem verschwiegenen Tag immer heißer wird. Auch, weil sie heftige Trauer in mir weckt, mit der ich noch schlechter umgehen kann. Im Laufen ziehe ich mir eine vierte Zigarette aus der Schachtel. Es ist die Vorletzte. Ich drehe sie in meinem Fingern umher, stecke sie aber erst an als ich in der Straße zum Café ankomme. Die Lichter sind bereits aus. Doch erkenne ich eine Gestalt, die sich auf einer der gemauerten Baumscheiben niedergelassen hat. Lucrezia blickt auf, als ich näher komme und schiebt ihr zuvor genutztes Handy zurück in die Hosentasche. „Werte Eismagd, ein Humpen ihres besten Stoffs! Eilt Euch!", rufe ich, wohlwissend, wie peinlich es ist. Gut, dass ich gegen sowas immun bin. Bei Luci hingegen, bin ich mir sicher, dass gerade eine ihrer Augenbrauen skeptisch nach oben gewandert ist. Auch, wenn ich es nicht genau sehen kann. Ich grinse trotzdem. "Eismagd? Aus welchen Mittelalterroman bist du denn gestolpert?", begrüßt sie mich fragend. Lucis schlanker Körper steckt in einer gigantischen, roten Strickjacke, die ihr bis zu den Knien geht. „Games of Thrones?", versuche ich mein Glück und weiß, dass sie eher an `die Ritter der Kokosnuss` denkt. Als ich vor ihr stehenbleibe, wandert ihr Blick direkt auf meine Zigarette und sie runzelt die Stirn. Mir wird klar, dass sie mich noch nie rauchen gesehen hat. Bei den Besuchen im Café verkneife ich es mir für gewöhnlich. „Ja, ich rauche und ich stehe auf die Zeit des Folterns und des schwarzen Todes. Informativ, oder?", kommentiere ich scherzhaft, nehme einen Zug von dem verteufelten Glimmstängel und puste den Qualm in den Nachthimmel. „Inquisition und Eis. Unser Themenspektrum wird immer breiter. Großartig", sagt sie trocken. Ich mag ihren Sarkasmus. „Du hast die Pest vergessen...", werfe ich dazwischen. „Eitrige Beulen, yeah... Folter, wuhu... Streckbänke, grandios. Ich frage mich, wie du überhaupt etwas schmecken kannst..." Der erste Teil klingt, als würde sie mir Teenagerlike von ihrer Lieblingsband berichten. Zum Ende hin deutet sie ein weiteres Mal skeptisch auf meine halbgerauchte Zigarette und ich verstehe die Kritik auch durch die Blume hindurch. „Ein Tipp am Rande. Eiserne Jungfrauen sind die Besten, obwohl du es mit der Folter schon gut drauf hast. Ich sag nur Gorgonzola-Eis...", entgegne ich und lasse sie den eindeutigen Schauder sehen, der mich sogleich erfasst, "Es ist ein Segen, dass sich das Schmecken bei mir manchmal abschaltet." Schimmel und Käse haben in Eis einfach nichts verloren, auch wenn sie sich Edel schimpfen. Damit hatte sie wirklich den Vogel abgeschossen. Mich ebenso. Ich habe danach drei Tage unter üblen Magenschmerzen gelitten. Lucis Lippen pressen sich übereinander, dann zieht sie einen Flunsch und streicht sich die Haare zurück. Schuldbewusst sieht anders aus. „Spricht von eisernen Jungfrauen und jammert wegen einer kleinen Magenverstimmung. Ich habe mich dafür entschuldigt... und bin immer noch der Überzeugung, dass du sie nicht von meinem Eis hattest." Drei Tage! Ich bin ein Kerl. Ich jammere auch bei einer Erkältung, als wäre es die Lungenpest. Gegenüber Jeff bin ich aber noch pflegeleicht. Luci greift nach der Zigarette und nimmt sie mir ab. „Und im Übrigen bringt dich das wirklich um..." Oder auch nicht. Mein Großonkel mütterlicherseits ist 90 Jahre alt und raucht seit seinem 13. Lebensjahr jeden Tag eine halbe Schachtel Zigaretten. Er ist ein medizinisches Wunder. Bewunderung bekommt er trotzdem nicht. Nur jedes Jahr eine einfallslose Karte aus dem Supermarkt. Eine Ansprache von einer 16-Jährigen hat mir gerade noch gefehlt. Ich seufze theatralisch und stinke gegen Jeff definitiv ab. Zusätzlich krame ich einen meiner super genervten Blick hervor, doch Luci zuckt nur mit ihren schmalen Schultern und schmiegt sich etwas mehr in ihre übergroße Jacke. Das Lächeln auf ihren Lippen ist unschuldig und lieblich und lässt auch den letzten Rest an Antipathie absterben. Sie ist zauberhaft. „Okay, ich habe bereits eine Mutter, die mir wegen dem blauen Dunst auf die Nerven geht. Können wir das überspringen?" Jeff nicht mit eingerechnet, denn der nervt mich auch. Ich deute ihr an mir die Zigarette zurückzugeben und sie gehorcht. „Wärst du brav und würdest hören, würden wir die Diskussion gar nicht führen müssen", schmettert sie ungerührt ab. Punkt für sie. Ich nehme einen letzten Zug von der Zigarette und schubse den Stummel davon. Nur das feine Glühen in der Dunkelheit lässt erahnen, wo genau sie gelandet ist. Auch Luci blickt in diese Richtung. Ich setze mich zu ihr auf die Mauer und stelle meinen Rucksack vor mir ab. Da ich nicht weiß, was ich nun mit meinen Händen machen soll, ziehe ich mein Feuerzeug hervor und drehe es in meinen Fingern umher, ehe ich sie auffordernd ansehe. In ihren Augen schimmert das warme Licht der Straßenlaternen, färbt das intensive Grün ihrer Iriden in ein sanftes Braun. Ein paar Strähnen lösen sich aus ihrem langen Zopf und streicheln vom Wind angeregt über ihre Wangen. Eine Szenerie, wie aus einem meiner Kitschromane. Der perfekte Moment für eine erste zarte Berührung zweier Liebenden mit der passenden peinlichen Stimmung. Bei uns bekäme das Märchen 'Die Schöne und das Biest' eine ganz neue Bedeutung. Auch, wenn ich nicht weiß, warum ich schon wieder auf Märchen komme. Luci wischt das Haar davon und seufzt laut. „Ich möchte dich etwas fragen", sagt sie knapp und schweigt erneut. Diesen Informationsstand habe ich bereits durch ihre Nachricht. Also warte ich geduldig darauf, dass sie fortfährt, auch wenn ich äußerst schlecht darin bin. Erneut spielt der Wind mit Lucis langen Haare und diesmal ignoriert sie es. Es ist zu spät, denn meine Gedanken driften schon wieder ab und die Szene entsteht von ganz allein. Es ist dieser Moment der einvernehmlichen Stille in der ihr die Strähnen zärtlich aus dem Gesicht gestrichen werden. Das kurze Zögern bevor seine Hände die Bewegung ausführen und auf ihre zarte Haut treffen. Das Kitzeln der Berührungen, die sie sehnsüchtig in sich aufsaugen. Es folgt ein intensives Kribbeln, welches seinen Weg in die entlegensten Winkel ihres jungen Körpers findet, gefolgt von einem intensiven Pulsieren, welches unbekannte Bedürfnisse weckt. Der Blick trifft auf jungfräuliche Lippen, die beben und erzittern, weil auch ihr Körper vor nervösem Verlangen jede vergehende Sekunde zählt. Die Zeit steht still, während ihre Berührung anhält. Es zählt nur das Gefühl. Es ist der Geschmack der Unschuld, der besonders lieblich ist und gefährlich. Ich merke erst nach einem Moment, dass ich sie anstarre. Lucis sonst so frecher und gefestigter Gesichtsausdruck ist seltsam beschämt. Das habe ich noch nie bei ihr gesehen. Ich wende mich ab, rücke unbewusst etwas von ihr weg. Für gewöhnlich begrenzt sich unser Kontakt auf schnippische Bemerkungen und harmloser Neckereien unter Aufsicht ihres Vaters. Absolut jugendfrei. Ich bin einzig der Typ, der massig Eis kauft und dumme Kommentare liefert. Nichts anderes. In diesem Moment verfluche ich meine Fantasie. Ich hebe ablenkend meine Augenbraue und verursache mit meinem skeptischen Blick noch mehr Röte in ihrem Gesicht. Sie wendet sich ab und besinnt sich auf den Grund unserer späten Zusammenkunft. „Erinnerst du dich an unser erstes Treffen und die Diskussionen?" Wie sollte ich das vergessen? Wir haben uns gegenseitig verbal in den Boden gestampft und noch nie habe ich eine 14-Jährige erlebt, die das drauf hatte. Abgesehen von meiner Schwester. Ich hatte einen schlechten Tag und Luci ebenfalls. Zwei Luftströme, die zu einem Tornado heranwachsen und absolute Zerstörung anrichten. Es war großartig und schlichtweg befreiend. „Ich habe eine Eissorte kreiert und bin damit unter die besten fünf Kandidaten eines regionalen Wettbewerbs gekommen." In ihrer Stimme schwingt Stolz, doch mir fehlt der Zusammenhang. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass sie mir von einem Wettbewerb erzählt hat. „Das ist großartig." Wie platt. „Ja. Jedenfalls wäre in zwei Wochen das Finale und da du maßgeblich an dem Rezept beteiligt gewesen bist, würde ich dich gern dabei haben. Das würde einfach nur heißen, dass du gratis Eis essen kannst und mir dabei ziehsiehst, wie ich untergehe", setzt sie fort und sieht erst auf, als sie endet. Ich sehe ihr überrascht entgegen. Anscheinend hat mein Gedächtnis Lücken, denn ich weiß nicht, inwiefern ich daran beteiligt gewesen sein kann. Ich versuche mich daran zu erinnern, worüber wir neben Tonkabohnen und schlechtem Wetter noch gesprochen haben, doch es fällt kein Groschen. Nicht mal ein Penny. „Es ist eine Kreation aus Tonkabohne, Zitrone und Ingwer", ergänzt sie, weil ich wahrscheinlich genauso aussehen, wie ich mich fühle. Dämlich. Bei der Erwähnung der Zutaten merke ich, wie sich die Stränge meines Halses zusammenziehen. Zitrone und Ingwer. Mein Puls beschleunigt sich, weil ich augenblicklich an das Aroma der Bonbons in Kombination mit dem schwarzhaarigen Biotechnologen denke. Meine Gedanken bleiben nicht bei der Süßigkeit, sondern wandern zu dem Gefühl seiner warmen Haut unter meinen Fingerspitzen und der Feuchte seiner fruchtgetränkten Lippen. Nun fällt ein ganzer Münzhaufen. Unser erstes Zusammentreffen fand während einer dieser grausigen Projektwochen unserer Uni statt und war damit Grundlage für meine Negativlaune. Lauter Gruppenarbeiten und pausenloses Herumexperimentieren. Absprachen. Gemeinsame Konfliktlösungen. Und das Schlimmste, andere Meinungen akzeptieren. Nicht mein Ding. Neben zwei dauernd quatschenden Mädels gehörten auch Kain und Kaworu in meine Gruppe. Für meinen Geschmack waren das vier Meinungen zu viel. Meine Laune war dementsprechend jeden Tag auf dem absoluten Nullpunkt. Kain übernahm dabei ganz selbstverständlich die Rolle des Schiedsrichters. Er war sehr darauf bedacht, dass sich alle im gleichen Maß an den Aufgaben beteiligen und wirklich jeder zu Wort kommt. Eine Idee, die mir schnell schlecht aufstieß, denn wenn es nach mir gegangen wäre, hätten sich die beiden Frauen weiter um ihre Fingernägel kümmern können. Ihre Beiträge waren lediglich Nagellackflecken auf den Notizen der anderen. Es war das erste Mal, dass ich mit Kain aneinander geraten bin, denn die beiden Frauen präsentierten uns einen Tag vor dem Abgabetermin einen Lösungsvorschlag, mit dem ich ganz und gar nicht einverstanden gewesen war. Er war lückenhaft und kurzsichtig. Das musste auch Kain einsehen, aber er plädierte weiter darauf, dass es eine verdammte Gruppenarbeit gewesen sei. Hurra oder Banzai, wie Kaworu sagen würde. Jedes Mal, wenn wir diskutierten, kamen Kain und ich uns so nahe, dass ich das Aroma der Bonbons wahrnahm. Es war die feine Säure, die meine Wut noch weiter entfachte. Die fruchtige Süße, die nichts linderte, sondern mehr und mehr dafür sorgte, dass ich mich über seine übertriebene Freundlichkeit echauffierte. Es ging schließlich um unsere Noten. Nichts, worüber ich einfach so hinweg sehen konnte. Ich habe geglaubt, dass es Kain genauso sieht, doch der Drang, allem und jedem zu gefallen, war anscheinend größer. Zu unserem Leidwesen. Luci hatte einfach nur einen beschissenen Schultag. Auch sie kämpft mit nervigen Mitschülern und den Unverständnis des Lehrpersonals. Ich fühlte mit ihr. Auch, wenn es in dem Moment nicht zum Tragen kam. Im Laden versuchte sie mich damals freundlich von Tonkabohneneis statt herkömmlicher Vanille zu überzeugen, doch ich lehnte ab. Daraufhin nannte sie mich, radikal und recht gefühlsbefreit, einen typischen Joghurteis-Esser. Ich, ein Joghurteistyp? Mein sowieso schon spärliches Nervengerüst brach vollkommen zusammen. Ich bin nicht kritisch und wählerisch. Vor allem nicht, wenn es um Eis geht. In diesem Bereich bin ich der Omnivore schlechthin und vertilge im Grunde alles. Es entbrannte eine hitzige Diskussion, in der ich anscheinend die beiden Kain anhaftenden Aromen mit eingebracht habe. Daran erinnere ich mich nicht. „Und kommst du?", fragt sie und holt mich zurück ins Hier und Jetzt. Ihre Stimme zwingt sich zur Ruhe, doch ich kann den feinen Hauch der Nervosität heraushören, der darin mit schwimmt. „Denkst du wirklich, dass ich der Richtige dafür bin?", erwidere ich ablehnender also beabsichtigt. Es ist nur ein kläglicher Versuch der Verweigerung. „Ich hab es nicht so mit Pompons wedeln und Anfeuerungsrufen...", setze ich nach, wackele zur Verdeutlichung mit den Armen, als würde ich die Papierbälle schwingen. Ich lasse dabei deutlich erkennen, dass ich für taktierte Bewegungen nicht geschaffen bin und mache es nicht besser. Luci mustert mich ohne deutliche Emotion. „Ja, für einen Cheerleader bist du definitiv zu klein...", gibt sie mit hochgezogener Augenbraue wieder. Zu klein? Mein Blick zeigt das Entsetzen, welches ich empfinde. Sie kichert. Ich bin nicht der Größte, aber beleidigt bin ich dennoch. Ihre schlanken, langen Finger schließen sich an meinen Unterarm. Ich deute mit dem Feuerzeug auf die junge Italienerin, finde keine passende Erwiderung und lasse das Wegwerffeuer wieder sinken. „Hör zu, du sollst auch gar nichts von diesem peinlichen Zeug machen. Du sollst einfach nur dabei sein. Bitte, du bist der Einzige, den ich kenne, der ein gutes Eis zu schätzen weiß und im Grunde bist du doch ein netter Typ." Sie stupst mir sachte gegen die Schulter. Netter Typ? Ich? Niemals. „Luci, wirklich... ich..." „Lucrezia...", unterbricht uns die tiefe Stimme ihres Vaters und damit auch meinen schwachen Abschmetterungsversuch. Ich werfe einen Blick zur Ladentür, sehe die große Gestalt ihres Vaters als Schatten im Rahmen stehen und fühle mich trotz der Meter Abstand eingeschüchtert. Wie lange er wohl schon dort steht? Trotz Freundlichkeit bin ich ihm nicht koscher genug. Zu recht. Wäre Luci fünf Jahre älter und würde mich damit nicht so sehr an meine Schwestern erinnern, hätte ich sie bereits flachgelegt. Soviel zu dem netter Typ. „Ja,... bin gleich da...", erwidert sie und richtet sich auf. Die hübsche Italienerin streicht sich die Strickjacke glatt und beugt sich mir dann entgegen. Ihre Arme legen sich kurz um meinen Hals und ich spüre die Wärme ihrer Haut an meinem Ohr. Sie riecht nach Zucker und Vanille. Ich bin normalerweise kein Fan von diesen vanilligen Düften, aber zu ihr passt es. Bevor ich sie darauf hinweisen kann, dass ihr Vater mich gleich lyncht, lässt sie mich wieder los. „Samstag in zwei Wochen! Ich schreibe dir die Adresse." Damit diesen Worten ist sie auch schon verschwunden. So schnell, dass ich mein begonnene Weigerung nur noch in die dunkle Nacht pusten kann. Ich bleibe ermattet sitzen und starre in die Dunkelheit. Luci. Ich wiederhole den Namen der kleinen Eismagd auch noch mal laut und streiche mir durch die Haare. Sie hat mich gerade übertölpelt. Auf ganzer Linie. Das passiert selten. Dabei bin ich weder ein Bruder-, noch Kumpeltyp und für gewöhnlich will man mich nirgendwo mit dabei haben. Ich bin überhaupt kein netter Typ. Lena würde Luci einiges erzählen können. Immerhin musste sie Jahre lang unter mir leiden. Ich weigerte mich strickt jeder ihrer Schulaufführungen beizuwohnen. Nicht einmal, als sie den weiblichen Part in Romeo und Julia spielte, habe ich mich bemüht. Hätte sie den Animationsfilm mit den Gartenzwergen gezeigt, wäre ich sicher gekommen, aber Theater? Nein, danke. Lena hatte die Bandbreite meiner brüderlichen Herzlosigkeit von Anbeginn ihrer Geburt zu spüren bekommen. Allerdings habe ich wenigstens nie versucht sie durch massig Spielzeug im Kinderbett zu ersticken. Nicht mein Stil. Ich bin ein scheußlicher Bruder und stehe dazu. Mittlerweile ist mir klar, dass sie meine Ignoranz nur noch stärker gemacht hat. 5 Seconds of Summer, echot mir durch den Kopf und danach schüttele ich ihn energisch. Ich kann es noch immer nicht fassen, seufze und mache mich auf den Rückweg zum Wohnheim. Als ich dort ankomme, angele ich mir die letzte meiner Zigaretten aus der Schachtel und stecke sie mir zwischen die Lippen. Meine Hände tasten sich suchend an meiner Hose entlang, doch das, was ich suche, ist nicht zu finden. Ein weiteres Mal fahre ich die Taschen ab. Nichts. Das Feuerzeug bleibt verschwunden. Was um Himmelswillen habe ich der Welt nur heute getan? Die Zigarette in meinem Mund wippt geduldig vor sich hin. Ich würde zehn Minuten brauchen um ins Zimmer hochzugehen und wieder runter zu eiern. Dabei müsste ich fast das komplette Wohnheim durchqueren, da sich unser Zimmer in der oberen Etage und am anderen Ende befindet. Ich könnte Jeff darum bitten, mir ein Feuerzeug aus dem Fenster zu werfen, das würde mir auf jeden Fall den Weg ersparen. Wahrscheinlich würde eine solche Aktion dazu führen, dass ich seiner Anti-Raucher-Kampagne ausgesetzt werde und wir wieder streiten. Ist es das wert? Sicher nicht. Streite ich gern? Schon irgendwie. Ist es noch mehr mieses Karma wert? Sicher nicht. Jeff und ich haben schon immer unsere kleinen Dispute, aber in der letzten Zeit fahre ich wegen jeder Kleinigkeit komplett aus der Haut. Überhaupt liefen einige Dinge anders, als gewöhnlich. Kain ist nur eines der Beispiele. Kain. Ich habe es schon wieder getan. Mit ihm. Was ist nur los mit mir? Ich nehme die Zigarette aus meinem Mund und schaue einen Moment sehnsüchtig auf den beinhalteten Tabak. Abgesehen von meiner eigenen unverständlichen Handlungsweise sind mir vor allem Kains Beweggründe ein absolutes Rätsel. Ist es wirklich nur Spaß an der Körperlichkeit? Abwechslung? Es beschäftigt mich mehr, als ich gedacht hätte. Selbst jemand wie ich wird nicht gern verarscht und danach riecht es. Meine Gedanken hin und herschaufelnd, wende ich mich zur Eingangstür. „Huch,...", entfährt es mir erschrocken als ich plötzlich gestoppt werde. Die Zigarette fällt zu Boden. Das Gefühl eines Déjà-vu drängt sich mir auf als mir Kains braune Augen entgegenblicken. Seine Hand greift nach meiner Schulter und die andere sachte nach meinem Handgelenk. Sie halten mich fest, bevor ich wegen des Rucks zu Boden gehen kann. Es ist wirklich nicht mein Tag. Absolut nicht. Kains grinsendes Gesicht macht es alles nur noch schlimmer. „Es ist so süß, wenn du das machst...", flötet mir der Schwarzhaarige verschmitzt entgegen. Mord, das ist mein einziger Gedanke. Ich weiche entrüstet zurück, während mich auch noch die Erinnerung an Ingwer und Zitrone kapert. „Kannst du dir mal ein Warnsignal umhängen...", gebe ich knurrend von mir, "Irgendwas, was piept." „Vielleicht solltest du dein City-Notbremssystem aktivieren oder du träumst nicht mehr in der Gegend rum... das hätte nämlich unschön enden können", kommt es gelassen von Kain. Folterung ist mein nächster Gedanke. Foltern und dann der Mord. Definitiv. Ich wäre ein guter Inquisitor gewesen. Murrend beuge ich mich zu der Zigarette und puste Schmutz vom Filter. Ich muss dabei ziemlich bedürftig aussehen. „Leg dir lieber eine gesündere Sucht zu.", kommentiert er trocken. Noch so eine Mutti. Unfassbar. „Klar, weil der ständige Verzehr von erhärteter Zuckerlösung so viel gesünder ist." Kains Augenbraue zuck ungerührt nach oben und es bildet sich eine kleine Wölbung an seiner rechten Wange. Auch jetzt hat er einen diese Bonbons im Mund. Ich denke, wir sind uns einig, dass weder mein noch sein Laster wirklich gesund ist. Wir werden es nur niemals zugeben. „Ich bin im stetigen Kampf gegen die Hygroskopie. Außerdem kann es uns beide einen Fuß kosten, oder?", plaudert er grinsend. Wahre Worte und nicht erstrebenswert. Ich stecke seufzend die Zigarette in die Jackentasche und wende mich ab. „Hey, warte kur. Was war das vorhin mit Jeff? Er sah aus als würde er jeden Moment anfangen zu weinen..." Geschieht ihm recht, dieser Plaudertasche von Freund. „Ehrlich gesagt, finde ich es nicht so geil, dass du wegen meiner dämlichen Kommentare ständig mit anderen aneinander gerätst. Erst Abel...jetzt Jeff... und von Me..." Ich unterbreche als er den Namen der Rothaarigen beginnt „Stell dir vor, es hat rein gar nichts mit dir oder deinen albernen Äußerungen zu tun." Jeff kennt mich gut genug um zu wissen, dass bestimmte Thematiken ein Tabu sind. Auch, wenn ich in manchen Dingen übertreibe. Nur in dieser ganz sicher nicht. „Was ist eigentlich dein Problem? Jeff nimmt dir gegenüber so viel Rücksicht, dass du sein Leben lang seine Füße küssen müsstest." Ich sehe ihn ungerührt an. Nichts sein ernst? "Wirklich! Jeff ist dein Sam und du merkst erst, was er Wert ist, wenn ihn der Schicksalsberg ganz verschluckt." „Zu deiner Information, ich weiß, was ich an Jeff habe. Vielen Dank und hör auf, einen auf Gandalf zu machen, du Aragornverschnitt." Mein Jugendfreund und ich haben unseren eigenen Kosmos und da hat sich niemand einzumischen. Schon gar nicht so einer, wie Kain. Auch nicht der andere blonde Möchtegerngefährte von Feenhausen. „Und was machst du eigentlich schon wieder hier?", frage ich verstimmt, als mir einfällt, dass Kain vorhin aus meinem Wohnheim gekommen ist und nicht aus seinem. „Ich habe mir von Jeff dein Handbuch geben lassen. Leider hat er die Deaktivierungsfrequenzen nicht mehr", antwortet er bissig. Schon wieder eine dieser dummen Anspielungen. „Du bist nicht ansatzweise so witzig, wie du denkst", entgegne ich murrend und ohne seine Erwiderung abzuwarten, mache ich einen Schritt zur Seite und versuche an ihm vorbei zur Tür zu schlüpfen. Er hält mich zurück. „Okay, entschuldige. Bitte renn nicht gleich wieder weg." „Lass mich raten, du willst reden. Ernsthaft, hörst du jemals damit auf?", belle ich. Kain quatscht mir den Mund fusselig. Wie ist das möglich? Ich bin genervt. „Stell dir vor, mit reden wird manches wirklich besser und ich garantiere dir, dass ich wieder in der Dusche stehe, wenn du dich nicht ab und an dazu durchringst freiwillig ein paar Worte mit mir zu wechseln. So machen das erwachsene Menschen nämlich." Ich beiße mir unbewusst auf die Unterlippe, als das Bild von Kains feuchtem Körper aufblitzt. Die Erinnerung daran, wie sich der nasse Stoff transparent auf die feste Haut legte und den darunter liegenden definierten Körper preisgab, wird mich bis in die Hölle verfolgen. „Und du redest ununterbrochen, selbst beim Sex. Was versprichst du dir davon und was, um Himmelswillen, willst du mit mir reden? Ich bin ein Kerl. Ich rede nicht.", äußere ich, nachdem ich den Gedanken an die gestrige Duschaktion mit aller Kraft aus meinen Kopf prügele. Ich verstehe es nicht. Kain und ich haben nichts gemeinsam und wir können uns nicht mal leiden. „Ja, mir ist klar, dass du ein Kerl bist. Das ist auch gut so... Hör zu, ich möchte einen Waffenstillstand.", erklärt er, "Einen intensiven Stellungskrieg nehme ich aber auch." In Kains Fall wird es wohl eher zum Zwei-Fronten-Krieg. Wie stellt er sich das Ganze eigentlich vor? Eine Woche sie, die andere ich. Bei dem Gedanken daran, dass er zuvor bei ihr, dieser rothaarigen Hexe, gewesen sein könnte, bekomme ich bereits jetzt heftige Emesis. Ich starre genau auf die Stelle, wo ihre Haut über den rauen Stoff des Pullovers glitt als sie in der Mensa das Rumgetatsche nicht lassen konnte. Ihr Geruch an seinem Körper. Ich bekomme Gänsehaut, wenn ich nur daran denke und sie arbeitet sich kalt und unangenehm über meinen angespannten Leib. „Hast du nicht schon genug Schlachtfelder, auf denen du kämpfst?", frage ich nonchalant und verschränke die Arme vor der Brust. „Wie bitte? Okay, warte! Liegt es an mir oder habe ich letzte Nacht etwas falsch verstanden? Warum diskutierst du schon wieder mit mir?" Warum ist er so hartnäckig? „Tue ich gar nicht. Im Gegenteil. Ich versuche lediglich zu verhindern, dass du mich in einen Krieg involvierst. 'Der klügste Krieger ist der, der niemals kämpfen muß'", zitiere ich aus dem Buch 'Die Kunst des Krieges' von Sun Tsu und ernte einen kurzen verstörten Blick des schwarzhaarigen Mannes. „Willst du, dass ich bettle?" In meinem Kopf ein lauter Peitschenschlag. „Das ist lächerlich. Niemand hat etwas gegen ausreichende Befriedigung", gibt er nonchalant und seltsam von sich überzeugt von sich. „Wer sagt, dass es befriedigend war?", erwidere ich bissig, bewusst provozierend. Kains Mund öffnet sich. Dann perlt ein leises Knurren von seinen Lippen und er fixiert mich mit einem intensiven Blick. Der Bonbon in seinem Mund wandert von einer Seite zur anderen und er überbrückt die wenigen Zentimeter zwischen uns. Ich halte kurz die Luft an, weiche aber nicht zurück. „Dir geht's zu gut, oder?", zischt er ruhig. „Verträgst du keine Kritik? Dann konzentriere dich lieber nur auf eine Schlacht." Ich weiß wirklich nie, wann Schluss ist. „Bleib du beim nächsten Mal einfach liegen. Nach der zweiten Runde wirst du dich garantiert nicht mehr beschweren können..." „Nimm den Mund lieber nicht zu...", setze ich an und breche ab, als das Geräusch der aufgehenden Tür ertönt. Micha tritt heraus und ich weiche etwas von Kain zurück. Ich blicke absichtlich zu Boden um meine eigenen Gedanken zu ordnen. Auch das heftige Kribbeln in meiner Lendengegend hilft nicht dabei einen klaren Kopf zu behalten. Wir haben ein Talent uns gegenseitig aufzustacheln. Es ist Micha, der die schwere Stille bricht. „Quinn, ich hab einen Brief für dich auf dem Tresen liegen. Nimm ihn dir beim Reingehen einfach. Ich mache jetzt meine Runde." „Ja, danke.", antworte ich kurzangebunden. Ich hebe zum Abschluss meine Hand zum Gruß, schaue dabei zu, wie er um die Ecke biegt und sehe zurück Kain. „Du..." Der Rest des Satzes verhallt, als Kain mich abrupt an sich heranzieht. Seine Hand greift fest an meine Hüfte und er drückt mich gegen seinen Körper. Unnachgiebig. Heiß. Ich spüre, wie sein Atem gegen mein Ohrläppchen trifft. Das Aroma von Ingwer und Zitrone streicht meinen Hals entlang und wird zu einen Kitzeln, das meinen bereits angeregten Körper in weitere Aufregung versetzt. Wie gebannt starre ich auf den Kragen seines Pullovers. Direkt auf den Übergang zum Schlüsselbein. Seine Atmung hebt und senkt diese Stelle, wie ein rhythmisch schaukelndes Windspiel. Ich fühle mich hypnotisiert, spüre, wie elektrische Funken meinen Körper durchwandern und sich meine Haut erregt nach außen perlt. Auch Kains Puls ist erhöht. Die Vene an seinem Hals hebt sich hervor, pulsiert im schnellen Takt seines schlagenden Herzens. Ich spüre die Wärme seines Körpers, obwohl wir uns kaum Haut berühre. Was macht er nur mit mir? Wie stellt er es an, dass ich so sehr auf ihn reagiere? „So mein kleiner Motzspatz, jetzt will ich mal was klarstellen. Ich ficke dich, weil es mir Spaß macht und weil ich den Sex bisher sehr anregend fand. Ich weiß, dass es dir ebenso geht, denn dein Körper signalisiert mir deutlich, dass dich das mächtig anmacht." Er zieht mich noch ein Stück näher, so dass unsere Leiber regelrecht aneinander prallen. Seine Stimme ist ein festes Flüstern, welches sich heiß durch jede elendige Schicht meines Körpers arbeitet. Wie kann er mir das so schamlos ins Gesicht sagen? „Wenn du mich fragst, sollten wir so lange weitermachen bis es uns beiden kein Vergnügen mehr bereitet. Deutlich genug? Gut! Küss mich, wenn du es anders siehst.", fordert er schlussendlich und meine Reaktion auf die letzte Forderung ist gleich null. Zum einen, weil ich wirklich perplex bin und zum anderen, weil ich wirklich, wirklich perplex bin. Meine Reaktionszeit ist erschreckend schlecht. Das hat man davon, wenn die notwendige Blutversorgung nur partiell funktioniert. Ich ärgere mich prompt über Kains augenscheinlichen Erfolg durch meine mangelnde Schlagfertigkeit und brüskiere mich noch mehr, als mir nach etwaiger Grundversorgung noch immer nichts Gescheites zum Kontern einfällt. „Dich sprachlos zu sehen, ist eine willkommene Abwechslung.", flötet er grinsend. Kains Hand streicht mir über den Kopf und verwuschelt dabei meine unfrisierten Haare. Als sein Handballen über die Helix meines Ohres streicht, durchfährt mich prickelnde Erregung. Ich schubse seine Hand energisch weg, weiche zurück und murre. „Gewöhn dich nicht daran. Ich hole nur Luft", kontere ich und ignoriere Kains Gesichtsausdruck. „Gut, gönn deinen Lungen mal Abwechslung. Schreib mir was Nettes, wenn du genug Luft geholt hast und bereit für die nächste Runde bist.", erwidert er und beugt sich wieder vor, " Ach und übrigens, 'Chancen multiplizieren sich, wenn man sie ergreift'. Mach dir das mal bewusst", flüstert er mir entgegen und lässt seinen warmen Atem dabei gegen mein Ohr treffen. Er zitiert ebenfalls Sun Tsu. Geschlagen mit den eigenen Waffen. Dieser intelligente Mistsack. „Fick dich." „Oh ja, gib's mir. Das ist für mich nur ein weiterer Grund es fortzusetzen", zwinkert mir Kain entgegen, „Ich steh drauf..." Damit hebt er seine Hand, winkt und verschwindet in die Richtung seines eigenen Wohnheims. Meine Ohren pulsieren heiß und heftig. Der Gedanken an Kains Lippen an meinem Hals und wie sie nach meinem Ohrläppchen schnappen, lässt meinen Leib in Flammen stehen. Ein sanfter Biss. Meine Lenden zucken. Mein Körper macht mich fertig. Beim Hineingehen angele ich den Brief hinter dem Pförtnertresen hervor und möchte ihn beim Erblicken des Absenders eigentlich wieder zurücklegen. Er ist von dem Verlag, bei dem ich mein erstes Buch veröffentlicht habe. Ich muss ihn nicht öffnen, um zu wissen, was ich darin lesen werde. Statistiken. Aufforderungen. Die Höhe meiner Tantiemen. Die Erinnerung. Die Tür zu unserem Wohnheimzimmer ist nur einen Spalt geöffnet, als mir bereits laute Musik entgegen schlägt. Bruno Mars mit 'The Lazy Song'. Ich denke an 'Count on me' und merke das flaue Gefühl in meinem Bauch deutlicher. Mein Mitbewohner hockt vor seinem Ficus, zupft ein paar welke Blätter davon und ich bin mir sicher, dass er liebevolle Worte spricht, die mit Genugtuung von dem empfindlichen Wesen aufgesogen werden. Sofern es sie durch die extrem laute Musik überhaupt hören kann. So viel Fürsorge für eine Grünpflanze. Ob das noch normal ist? Ich bezweifle es. Ich beobachte meinen Mitbewohner einen Moment lang und schiebe meine spottenden Gedanken beiseite. Jeff sorgt sich. Nicht nur um seine Pflanze, sondern schon immer um mich und ich bin nicht immer sehr dankbar dafür. Die Tür fällt hinter mir ins Schloss und Jeff richtet sich auf. Ich werfe meine Tasche aufs Bett und auch der Brief landet auf der Bettdecke. Ich sehe, wie Jeff die Musik abstellt und wie sich seine Lippen bewegen, doch bevor er einen Laut von sich geben kann, unterbreche ich ihn. „Schon gut, Samweis, der Beherzte...", gebe ich in Anlehnung an das Herr-der-Ringe-Thema wieder und ignoriere, dass mein blonder Mitbewohner gar nicht wissen kann, wie ich darauf komme. Ich ziehe meine Kopfhörer auf, obwohl keine Musik eingeschaltet ist und setze mich an meinen Rechner. Nach dem Hochfahren öffne ich ein leeres Dokument und bleibe einen Moment davor sitzen, ohne auch nur einen Finger zu bewegen. Die intensiven Gedanken von vorhin sind nicht mehr zu greifen. Erzähl mir mehr von Sam, beende ich das angefangene Filmzitat und wende mich zu meinem Hobbitfreund um, der sich mittlerweile mit einem Buch auf sein Bett zurückgezogen hat. „Bei dir und Abel wieder alles in Ordnung?", frage ich nach kurzem Schweigen und entgegen meiner Gewohnheit. Der andere blonde Mann ist weder beim Mittag noch beim Abendbrot anwesend gewesen. Jeff nickt und erläutert ihre Aussprache in nur wenigen Sätzen. Abel hat sich entschuldigt und das war wohl das Wichtigste. Ich hake nicht nach und auch Jeff führt es nicht weiter aus. Ich bin eben wirklich nicht der Typ für lauschige Gespräche. Jeff weiß das, und Kain muss es ganz dringend lernen, sonst mache ich bald Schaschlik aus ihm. Ich widme mich wieder meinem Computer. Zunächst öffne ich die Aufzeichnungen für die neue Story. Brigitta schien begeistert, doch sie hat nicht die Entscheidungsgewalt. Diese liegt bei Karsten, dem Verleger und ich bin mir nicht sicher, ob er sich wirklich für diese Idee aussprechen wird. Ehrlich gesagt, weiß ich noch immer nicht in welche Richtung das Ganze überhaupt gehen soll. Was sollen die Wendepunkte sein? Was ist der Höhepunkt? Welches Ende soll die Geschichte nehmen? In meinem Kopf erarbeiten sich Möglichkeiten. Zunächst die Rosaroten, die erfüllt sind mit der Hoffnung auf Erwiderung. Auch, wenn sie nur einem Funken gleicht. Es folgen die realistischen Varianten. Die vor allem von Ablehnung und Wut sprechen, gespickt sind mit Unsicherheiten und Unberechenbarkeit. Unerfüllbarkeit. In der Wirklichkeit ist es fast unmöglich einzuschätzen, was passieren wird, wenn man jemanden seine Gefühle gesteht. Doch nicht nur in diesen Feld. Es gibt für alles so viele Variablen. Unendliche Möglichkeiten. Nur ein einziges Geschehnis kann hunderte Folgen lostreten und damit ein ganzen Leben beeinflussen. Der Gedanke daran macht mir Angst und erfüllt mich mit Traurigkeit, denn nichts, was man für immer wähnt, hat letztendlich garantierten Bestand. Ich lehne mich zurück, lasse meine Fingerspitzen über die Quadrate meiner Tastatur streichen. Unbewusst gleiten meine Finger zum R. Ich stoppe beim E. Genug jetzt. Ich hole mein Handy hervor und blicke auf das Display. „Hey, wann planst du nach Hause zu fahren?", frage ich in die Stille unseres Zimmers hinein und drehe mich erst um, als Jeff antwortet. „Wahrscheinlich in der zweiten Juli-Woche. Ich mache es von den Klausuren abhängig." Für gewöhnlich zogen sich die Klausuren nur bis in den Juni, aber bei einigen Dozenten weiß man nie. Und bei Jeff nicht, ob er irgendwas nachschreiben muss. „Denkst du darüber nach mitzukommen?" „Na ja, ich werde bereits zum Mitkommen terrorisiert und ich bin mir sicher, dass zumindest Lena schon bei dir Alarm gemacht hat", sage ich. Jeff lächelt wissend und nickt. „Japp, gestern und deine Mutter schon seit letzter Woche", gibt er amüsiert von sich und ich verdrehe die Augen. Meine Familie ist wirklich peinlich. „Du solltest dich mehr bei ihnen melden." „Sei du nicht immer so schrecklich vorbildlich, denn das wirft jedes Mal ein schlechtes Licht auf mich." Jeff ist eben wirklich der bessere Sohn. Er grinst wohlwissend und sieht wieder auf sein Buch. Ich widme mich meinem Eigenen. Meine bisherigen Werke ertranken förmlich in der Suppe der konventionellen Träumerei. Vielleicht wird es wirklich Zeit, daran etwas zu ändern. Ich setze mich ordentlich hin und beginne ein paar Anmerkungen zusammen zu tippen. Danach verfasse ich einen grundlegenden Vorentwurf, der den groben Plot und die Charaktere vorstellt, sowie erste Passagen, die den Grundtenor des Inhalts widerspiegeln. Ich bleibe bei einer angefangenen Textpartie hängen. Vor ein paar Tagen bin ich schon einmal an dieser Stelle stecken geblieben und auch diesmal spukt mir diese gewisse Sache im Kopf herum. Eine erotische Szenerie. Sie würde an dieser Stelle die perfekte Grundstimmung einleiten. Die Sehnsucht und die geschürte Hoffnung aufzeigen. Ich tippe ein Fragezeichen in die Zeile und bin mir sicher, dass ich diese Szene weiterschreiben möchte. Unwillkürlich driften meine Gedanken wieder zu Kain. Er hat nicht Unrecht mit seinen Äußerungen. Ich fand es geil und ich will mehr. Meine körperlichen Reaktionen gegenüber den Schwarzhaarigen sind eindeutig, aber nervig. Ich öffne die Geschichte des Anstoßes. Bereits nach den ersten Zeilen spüre ich die Neugier, die sich wie eine Essenz, ein Aroma, zwischen den Zeilen windet. Sie haucht sich beim Lesen auf meine Lippen, wie ein roter Faden, der sich von allein durch die Geschichte spinnt. Meine Finger zucken über die Tastatur. Sie hat keinen richtigen Anfang und noch kein Ende. Kains Wunsch, es bis zum Ende lesen zu wollen, hat mich überrascht. Ebenso, die Tatsache, dass ihn meine Worte derart im Gedächtnis geblieben sind. Ich will nicht mehr darüber nachdenken. Ich seufze laut und ignorierend, dass mich Jeff hören könnte geflissentlich. Abrupt stehe ich auf, ziehe mir neue Schlafklamotten aus dem Schrank und verschwinde in die Duschräume. Als ich das Wasser anstelle, bekomme ich Gänsehaut. Das warme Nass weckt die Erinnerung an Kains Überfall und sie stört mich nicht so sehr, wie ich es gern hätte. Ich lasse meinen Kopf gegen die kühlen Kacheln fallen und verfluche den Schwarzhaarigen. Nie wieder werde ich duschen können, ohne darüber nachzudenken, wie verboten heiß er mit feuchtklebender Unterhose aussah. Ich bin schlimmer als jedes Teenagermädchen. Schlimmer, als Brigitta. Sie würde vor Freude quietschen. Jeff wahrscheinlich auch. Ich verspüre nur das Bedürfnis mir irgendwas durch die Brust zutreiben. Ich versuche es mit der Schampooflasche, aber die abgerundete Kappe verursacht nur eine kleine Delle. Tod durch Druckstelle. Wie poetisch. Leider lässt auch die Duschcreme als potenzielle Mordwaffe zu wünschen übrig. Meine Stirn prallt ein paar Mal zögernd gegen die harten Fliesen. Danach gebe ich es auf, dusche zu Ende und lege mich ins Bett. Trotz des von Minute zur Minute stärker werdenden Wunsches, den Tag endlich zu beenden, schlafe ich nicht ein. Ich ziehe mein Telefon unter dem Kopfkissen hervor und öffne den Chat mit Kains Nachrichten. Seine Worte hallen in meinem Kopf umher. Keine Verpflichtungen. Keine Verantwortungen. Ich beginne zu tippen. -Schlaf beim nächsten Mal nicht gleich ein- Kains Antwort folgt prompt. -Zu mir oder zu dir?- Ein amüsiertes Schnauben perlt von meinen Lippen, weil er wirklich meint mir etwas beweisen zu wollen. Ich lasse die Nachricht unbeantwortet, schiebe das Telefon unter das Kopfkissen und starte einen erneuten Versuch einzuschlafen. Er gelingt. Am Sonntagmorgen werden wir durch das leise Klopfen des blonden Spielgefährten meines Mitbewohners geweckt. Ich ziehe mir mürrisch mein Kopfkissen über den Kopf, als die beiden mich davon überzeugen wollen mit ihnen Frühstücken zu gehen. Meinen Kommentar darüber, dass es für mich zu früh für Gesellschaft ist und sie mich gefesselt und geknebelt mitschleifen müssten, nehme sie lachend als Scherz hin. Ich meine es ernst. Beim Anblick der beiden turtelnden Kerle vergeht mir sowieso der Appetit. Als sie weg sind, plüsche ich mein Kissen wieder zu recht, schlafe für zwei Stunden wieder ein und widme mich den Rest des Tages dem Vortrag, der mich am Donnerstag erwartet. Jeff und Abel tauchen nicht wieder auf. Auch Kain nicht. Auch die ersten Tage der Woche beschäftige ich mich vor allem mit dem Referat. Lesen. Notieren. Ordnen. Noch mal lesen und verzweifelt Seufzen. Zu meinem Glück neigt sich das Semester langsam dem Ende zu und die meisten Dozenten verbringen ihre Zeit damit, zu wiederholen oder etwaige Fragen zu beantworten. So kann ich mich ausschließlich auf meinen unvermeidbaren Vortrag konzentrieren, die Präsentation vorbereiten und bin bereits am Dienstag bei einer bedenklichen Vielfalt an Flüchen angelangt, die ich andauernd vor mich hin flüstere. Am Mittwoch verschanze ich mich in der Bibliothek und sorge für stimmungsvolle Abwechslung, indem ich die Fluchtiraden in alphabethischer Reihenfolge wiederhole. Auch Rückwärts. Ich wäre ein Meister im Spiel 'Stadt, Land, Fluch'. Aachen. Arno. Avarakavra. Wirklich weiterhelfen kann mir das nicht. Irgendwann gebe ich es auf und verschwinde in die Mensa. Istanbul. Indus. Imperio. Mit Kopfhörer und einem Buch lasse ich mich an einem der Fensterplätze nieder. Ich bin am Verzweifeln und hasse mich selbst dafür, dass ich wegen so eines verfluchten Referats die Muffe fliegen lasse. Fast nervös tippe ich mit dem Finger den Takt der Musik mit, während ich das Kapitel über Gewebeläsionen zum zweiten Mal beginne. Ich registriere neben mir eine Bewegung, sehe aus dem Augenwinkel heraus, wie der Stuhl nach hinten geschoben wird und wie Jeff sein Tablett auf den Tisch stellt. Darauf befindet sich ein gigantischer Berg Kartoffelpüree mit Fischstäbchen. Dazu Rosenkohl. Rosenkohl? Ich sehe erst auf, nachdem ich eine Weile angewidert auf die runden, gruseligen Röschen gestarrt habe, die lustige auf seinem Teller rumkullern. Ich sehe von dem grünen Gift in das Profil meines Mitbewohners, kann nicht hören, was Jeff sagt, aber seine Lippen bewegen sich energisch. Er widmet seine volle Aufmerksamkeit Kain, der mit einem Mal vor mir sitzt und eben so enthusiastisch in das Gerede involviert scheint. Ruhe ade. Passend zu diesem Moment setzt das Lied 'Au Revoir' von Mark Foster ein und ich habe das Bedürfnis, den französischen Abschiedsgruß laut zu formulieren in der Hoffnung, dass die anderen beiden die Botschaft verstehen. Kain trägt die Strickjacke mit dem diagonal zur Brust verlaufenden Reißverschluss. Unbewusst haftet sich mein Blick auf das ineinander verhakende Verschlussteil. Bevor er anfängt zu essen, zieht er den Schließhaken etwas nach unten, lässt ein grünes T-Shirt hervor blitzen. Die Erinnerung daran, wie sich die festen Muskeln unter meinen Fingern anfühlen, lässt selbige pulsieren. Ich spüre augenblicklich, wie sich die Frequenz meines Herzschlags steigert, wie rauschendes Blut durch meine Adern strömt und die Vene an meinem Hals hervorperlt. Für mich fühlt es sich an, als würde sie schier hervorstechen, doch ich weiß, dass es nur für die deutlich ist, die genau hinsehen. Ich wende meinen Blick von Kain Strickjacke ab und stochere eine Weile still zeternd in meinem eigenen Kartoffelpamps herum. Mit einem Mal spüre ich, wie mir Jeff gegen den Oberschenkel piekt. Ich mache keine Anstalten die Kopfhörer abzunehmen, sondern sehe nur gelangweilt auf. Seine Lippen bewegen sich. Ich verstehe ihn nicht. Er seufzt theatralisch. Das brauche ich nicht hören, denn ich erkenne es an seinem Gesichtsausdruck. Pure Verzweiflung. Resignation in Reinform. Jeff ist eine Dramaqueen. Er verdeutlicht mir ein weiteres Mal, dass ich die Kopfhörer abnehmen soll und diesmal bin ich es, der seufzt. Ich ziehe mir nur die linke Seite vom Ohr. „Kannst du ihm bitte sagen, dass Tauriel nicht in den Büchern vorkommt." Ohne Umschweife und Erklärung. Jeffs schlanker Finger deutet auf Kain. „Ja, Robin sag mir, dass Tauriel nicht in den Büchern vorkommt", äfft Kain meinen Mitbewohner nach. Ich verkneife mir ein dümmliches Hä und brauche einen Moment, bis ich den Namen zuordnen kann. Sie diskutieren über den Hobbit? Haben die beiden keine Hobbies? Sie erörtern bereits weitere Faktoren. Auch ohne meine Antwort, also widme ich mich wieder meinem Buch. Vielleicht finde ich darin doch eine ausreichende Möglichkeit, die beiden lautlos und spurlos kaltzustellen. Das mörderische Lachen in meinem Kopf ist laut und wahnsinnig. Trotz dieser Gedanken beginne ich unweigerlich zuzuhören. „Sie haben sie als Quotenfrau eingeführt. Mehr nicht", gibt Jeff von sich und hat Recht. „Ich finde es gut. Sie ist hübsch anzusehen und hat es voll drauf. Also ein Punkt für das Team Mann. Warum stört dich das?" Kain zwinkert. Sein grinsendes Gesicht spricht Bände. Sie ist eine Rothaarige. Mehr muss ich dazu nicht sagen. „Na, weil es albern ist. Nur wegen dem Anspruch genügend Männer sexuell anzusprechend ein wunderbares Fantasieepos mit schönen Frauen auszustaffieren, ist dämlich." Jeff zerteilt seine Fischstäbchen jeweils in exakt 3 Teile. Bei der letzten Stück Presspappe wird er so energisch, dass er die Panade runterreißt. „Frauen? Eine Elbin. Eine. Una", betont der Schwarzhaarige, hebt dabei erst den Daumen, danach den Zeigefinger und bei der spanischen Variante streckt er Jeff den Mittelfinger hin. Wie subtil. Ich unterdrücke mir das amüsierte Raunen nicht schnell genug und kassiere unter dem Tisch einen Tritt von meinem erstaunlich diskutierfreudigen Mitbewohner. „Die nicht existiert. Es ist ein prekärer Eingriff in den Storyverlauf und gaukelt den Menschen etwas vor, was bei Tolkien so nicht vorgesehen war", gibt Jeff von der Unhöflichkeit unbeeindruckt von sich und ich reibe mir die schmerzende Stelle an meinem Bein. Elendiger Uruk hai. „Aber gegen die vielen viel zu schönen, männlichen Zwerge hast du natürlich nichts...", merkt Kain an, stützt seinen Ellenbogen auf dem Tisch ab und seinen Kopf in seiner Hand. Damit hat auch er leider Recht. „Du hörst mir gar nicht zu, oder? Die Zwerge gehören in den Film und das hat nichts mit meiner Gesinnung zu tun...Tolkien würde sich im Grabe umdrehen. Garantiert", erwidert mein Jugendfreund, während Kain mit seiner Gabel hin und herwackelt, weil Jeff gerade ein typisch weibliche Plattitüde missbraucht. Kain schiebt seine Gabel in den eigenen Kartoffelberg und führt sich eine gigantisch wirkende Menge zum Mund. Kain kaut, während Jeff weitere Argumente hervorbringt, weshalb attraktive Zwerge viel sinnvoller für den Filmverlauf sind, als schöne Elbenfrauen ohne literarischen Hintergrund. Wenn Kain den Mund jetzt öffnet, quillt der gelbe Brei garantiert wieder heraus. Ich beobachte eine Weile, wie seine Mahlvorrichtung unnütze Arbeit verrichtet und er sich daraufhin die gelben Reste aus den Mundwinkeln streicht. „Dir ist, aber schon klar, dass die Zwerge, so wie sie im Film dargestellt werden, im Buch nicht mal annähernd aussehen?", mische ich mich nun doch ein und schiebe meinen halbleeren Teller weg, greife nach meinem Nachtisch. Pudding. Endlich. Oh, du diabetesfördernde Glückseligkeit. „Ach du, misch dich nicht ein...", pampt mich Jeff an und ich schaue perplex dabei zu, wie er mir meine glücksbringende Milchspeise aus der Hand nimmt. Auch Kain ist überrascht, schafft es aber nicht, das schadenfrohe Grinsen auf seine Lippen zu unterdrücken. „Jeff wird zum Kampfzwerg", kommentiert Kain die Szenerie. Ich versuche mir meinen Nachtisch zurückzuholen und treffe auf Widerstand. „Wohl eher zum Gollum...", sage ich darauf hin und bekomme die Stelle des Films nicht aus dem Kopf, in der mir Jeff beim Entreißen der Puddingschale, wie Gollum, Frodo am Schicksalsberg einen Finger abbeißt. Ich kriege bei dem Vergleich einen weiteren vernichtenden Blick von meinem Kindheitsfreund und sehe dabei zu, wie er den Pudding noch weiter von mir weg hält. Ein weiterer Versuch und ich liege halb auf seinem Schoss. „Gib mir meinen Pudding zurück...", knurre ich leise, sodass es nur er hört. Jeff drückt mein Gesicht zur Seite und klemmt meinen Arm unter seiner Achselhöhle ein. Wie erniedrigend. Es ist ja nicht so, dass ich nicht einfach aufstehen könnte, um mir die Süßigkeit zurückzuholen. Wieso einfach, wenn es auch schwer geht. „Nein, du bist nicht in meinem Team, also gibt's auch keinen Pudding." „Seltsam, dabei manövriert er sich doch gerade eindeutig ins Team Piepmatz", merkt Kain an als er unsere eigenartige Kampfpose begutachtet. Jeff hat mittlerweile meinen rechten Arm zwischen seine Beine einklemmt und den anderen gekonnt zwischen Arm und rechter Seite. Wenigstens riecht er immer sehr gut. Diesmal ist es sogar einer der Düfte, die ich ihm geschenkt habe. Ich vergesse es, mich weiterhin zu wehren, als ich endlich eine gute Idee für sein Geburtstagsgeschenk habe. „Was genau macht ihr da?", kommt es verwundert aus dem Hintergrund. Ein weiterer Spieler betritt das Feld. Abel. In seinen Händen hält er ein gutgefülltes Tablett. „Robin hat es gewagt sich in unseren Disput einzubringen", sagt Kain lachend, während mich Jeff freigibt. Ich richte mir meine Klamotten und bin voller erwartungsfroher Vorfreude, endlich meinen Nachtisch zurückzubekommen. Doch bevor Jeff mir meinen Pudding aushändigt, lässt er ein paar Stücke seiner Fischstäbchen durch die vanillige Substanz gleiten. Sein entsetzt formulierter Name perlt von meinen Lippen, lässt den Angesprochenen unschuldig gucken und die beiden anderen herzhaft lachen. Zurück bleiben orange-braune Krümel in hellgelber Konsistenz und mein Bedürfnis in Tränen auszubrechen. „Diskutiert ihr noch immer über die Elbin? Das machen sie schon den ganzen Tag", sagt Abel, nachdem sich alle wieder etwas beruhigt haben. „Jetzt, wo du nichts mehr zu verlieren hast, wie ist deine Meinung dazu?" Kain deutet auf die Schale in meinen Händen, während ich missmutig mit dem Finger Panade herausfische. Wie kommt Jeff nur auf diese grausigen kulinarischen Ideen? Mein schöner Pudding. Warum wundere ich mich eigentlich, schließlich isst er auch Schokolade zusammen mit Käsedip. Ein eiskalter Schauer erfasst mich sichtbar und aus meinen Kopfhörern dringt Maroon5 mit 'Payphone'. „Robin?", wiederholt Kain und ich sehe fragend auf. Jeff zieht einen Müsliriegel aus der Tasche und legt ihn mir vor die Nase. Einer mit weißer Schokolade und Milchcreme. Ich hätte lieber einen neuen Pudding. „Also, ich mag die angedeutete Liebesgeschichte...sonst wären es ja nur wildes Gemetzel und psychologische Spielerei", mischt sich Abel ein und gibt der Diskussion eine neue Tonation. Er macht eine seltsame Schlitzbewegung mit seinen Armen und greift nach dem Messer und der Gabel. Damit gibt Abel genau das wieder, was mir an dieser Geschichte so arg widerstrebt. Ich habe nichts gegen hinzugedichtete Charaktere, so lange sie nicht diese stupiden Klischees erfüllen. Nicht jeder Film braucht eine an den Haaren herbeigezogene Liebesgeschichte. Im Gegenteil. Für gewöhnlich macht sie den Film eher kaputt. „Willkommen im Team Piepmatz", sagt Kain trocken, obwohl sich Abel gar nicht gegen die rothaarige Elbin ausgesprochen hat. Ich packe den Müsliriegel in meine Jackentasche. „Klar, da herrscht seit Jahrtausenden Twist zwischen Zwergen und Elfen, aber er verliebt sich in die nächste beste, dahergelaufene Waldelbe. Die grenzlose Macht der Liebe.", mische ich nun doch mit. „Sowas ist möglich", merkt Abel an. „Das wage ich zu bezweifeln. Diese erzwungenen Liebesgeschichten in Filmen sind zum Davonlaufen. Wer will schon eine minutenlange Kussszene in einem durch und durch aktiongeladenen Film sehen? In einem Horrorfilm auch nur dann, wenn danach das obligatorische Messer mitten ins Herz folgt, als Ironie für die Sinnlosigkeit." Meine Ansprache endet punktgenau mit dem Refrain des in meinen Kopfhörer dudelnden Liedes. 'One more fucking love song. I'll be sick'. Die Zeile spricht mir aus dem Herzen. „Robins Wort zum Sonntag", erwidert Kain und verschränkt die Arme vor der Brust. „Wer bei dir Romantik sucht, ist total aufgeschmissen, oder?", gibt Abel lachend von sich. Ich starre ihn nur ausdruckslos an. „Ach, der Herr Pantoffelheld quatscht doch nur...Niemand lässt eine Liebeserklärung kalt", entgegnet Jeff und schiebt sich ein Stück Fischstäbchen in den Mund, nachdem er es noch einmal durch meinen Pudding wandern lässt. „Nur Han Solo antwortete auf die Liebeserklärung mit den richtigen Worten. 'Ich weiß'...", kontere ich darauf hin. „Aber genau dieser lässt sich später ausgiebig von der Prinzessin küssen und das wüsstest du, wenn du die Filme mal vollständig gesehen hättest. Du schläfst ja immer ein", setzt mein blonder Zimmerpartner seine gefühlte Überlegenheit fort und zieht eine freche Grimasse. Leider hat er Recht. Ich schlafe tatsächlich des Öfteren bei unseren Filmeabende ein, was aber primär an Jeffs Filmrepertoire liegt und nicht an meiner mangelnden Aufmerksamkeitsspanne. „Ich schlafe nur bei den Filmen ein, die du auswählst. Nichts gegen Jane Austin, aber ich muss keinen Film sehen, wo sie nur damit beschäftigt sind ihre Bücher komisch auszulegen." Im Abitur lasen wir 'Stolz und Vorurteil'. Danach war Jeff Feuer und Flamme. Ich muss Jahre lang riesige Scheuklappen auf gehabt haben, um nicht zu merken, wie klischeehaft schwul doch manche Vorkommnisse tatsächlich waren. Zudem habe ich durchaus einige Filme vollständig gesehen. Unter anderen alle drei Filme von Herr der Ringe in der Extended Version. Wenn das mal keine Leistung ist. Ich verkneife mir eine Anmerkung in diese Richtung. So oder so, die bewegten Bilder sind zugegebenermaßen einfach nicht mein Medium. „Nichts gegen den 'Jane Austin- Club'. Der Film ergreift mich jedes Mal!", echauffiert sich Jeff über meine subtile Beleidigung. „Oh ja, genauso wie Hannah Montana, Girls United und Bambi. Jeff, deine Filme laden förmlich zum Einschlafen ein." Ich bin so schrecklich unsensibel und zuhören kann ich meistens auch nicht. Er hat aber auch ein schweres Los mit mir. Ich setze noch einen drauf. „Und meine Schwester hätte gern ihre DVD-Sammlung zurück." Jeff steckt mir sofort die Zunge raus. Er weiß es besser. Lena steht auf Horrorfilme mit Blut und Gemetzel. Aber da sie sich im Moment nicht wehren kann, ist sie Mittel zum Zweck. Kain und Abel kichern. Ein seltsames Bild. Wahrscheinlich weiß Abel mittlerweile ganz genau, wie anstrengend Jeffs Filmvorlieben sind. Sein Geschmack ist zuweilen etwas eigenartig und schwankt beträchtlich zwischen allerhand Gegensätzen hin und her. Manhattan Lovestory und Saw. Alien und 10 Dinge, die ich an dir hasse. Highschool Musical und Scream. Am besten an einem Abend. Es ist verstörend. Vor allem, wenn man beim Liebesfilm nur darauf wartet, dass der Verrückte mit dem Messer die romantischen Szenen veredelt. Ein bisschen Blut hat noch keinem Film geschadet. „Ihr seid alle samt Banausen. Allen voran du", wirft uns Jeff gespielt schmollend entgegen, deutet auf mich. Dreimaliges Schulterzucken. Jeffs beleidigte Haltung verstärkt sich. Abel startet einen Versuch seinen Freund zu beschwichtigen, während Kain leise lachend die Szene beobachtet und danach zu mir blickt. Aus meinen Kopfhörern dudelt mir James Blunts helle, weiche Stimme entgegen. 'He's waiting for the day when he gets me. But I won't be your concubine - I'm a puppet not a whore'. Sein Lachen wird zu einem Lächeln. Es ist ehrlich und intensiv. 'Hold my heart and see that it bleeds. I'm out of my mind.' Mein Herz schlägt heftiger und ich stehe unvermittelt auf. „Guck mit ihm 'Das Haus am See', dann verzeiht er dir alles", rate ich ohne noch einmal aufzusehen und greife mein Tablett. Tatsächlich ist es einer von Jeffs Lieblingsfilmen. Jetzt soll noch mal jemand sagen, ich sei nicht aufmerksam. Ob er ihn wohl wegen Sandra Bullock oder Keanu Reeves mag? Ich schüttele den Gedanken davon. Ich bringe alles zur Geschirrabgabe und spüre beim Wegstellen die Vibrationen meines Handys. Ich pfriemele es aus der Hosentasche und sehe Brigittas Namen auf dem Display. Meine untere Gebisshälfte beginnt zu pochen. Ich streiche mir über den Kiefer, blicke auf und sehe, dass Kain auf mich zukommt. Ein Zwiespalt. Ich will weder mit ihr, noch mit ihm reden. Spontan drücke ich den grünen Hörer. Kain bleibt stehen und sieht mir etwas beleidigt entgegen. „Robin, mein liebster Lakritzstängel..." Hölle. Eine theatralische Pause und ich bete, dass niemand ihre Begrüßung für mich gehört hat. Ihr unerschöpflicher Vorrat an süßen Spitznamen macht mich fertig. „Was ist 1,64 m groß, perfekt gestylt und verliert langsam die Geduld mit dir?" „Brigitta...", setze ich seufzend an. Doch meine schrille Lektorin unterbricht mich. Mit mir kann man es machen, denke ich, nachdem ich akkurat in ihre Falle getappt bin. Auch Brigitta quatscht mir Fusseln an den Mund. Mein Blick richtet sich noch immer auf den Schwarzhaarigen, der mich keck mit dem Finger an sich heranwinkt. Ich hebe meine Augenbraue um ihm verdeutlichen, dass ich garantiert nicht hüpfe, wenn er es will. Vielleicht sollte Kain und Brigitta mal zusammensetzen. Sicher ein Spektakel und erspart mir die Fusselrollen. „Toll, du weißt tatsächlich noch, wer ich bin! Wenn du dich jetzt noch daran erinnerst, wie man Worte zeitnahe in ein Telefon tippt, schmeiße ich ne Party." „Entschuldige, aber ich habe nicht die Zeit, um dir jedes Mal das brave Autorenhündchen zu mimen. Ich bin ein schwer beschäftigter Mann...", erläutere ich ungerührt und sehe zu Kain, der in einiger Entfernung stehengeblieben ist. „Einmal würde mir schon reichen, Sahnehase. Dann müsste ich nicht immer den Autorenschreck spielen." Augenblicklich stelle ich mir vor, wie sie mit einem riesigen Käscher durch die Straße fährt und uns entlaufenden Autoren einfängt. An sich keine schlimme Fantasie, aber leider trägt sie bei mir jedes Mal ein Dominakostüm. Verstörend. Überaus verstörend. „Ich habe dir zwei Beispiele für das Cover geschickt, aber da du dich nicht gemeldet hast, habe ich es für dich entschieden. Du wirst es lieben..." Oh oh. Schon an ihrer Stimme vernehme ich, dass es das besonders schnulzige Motiv geworden ist. Die Strafe für meine Ignoranz. Ich habe es nicht anderes verdient. Für gewöhnlich bekomme ich einen relativ schlichten Vorschlag und einen mit einem typischen Nackenbeißermotiv. Ich glaube, ich muss nichts weiter zu meiner Auswahlkriterien sagen. Meine Zahnschmerzen werden schlimmer. Ich seufze und nehme mir vor, doch sorgsamer mit ihrer Anrufen umzugehen. Abel hat sich mittlerweile zu Kain gesellt. Brigitta redet unbeirrt weiter, weil sie nicht weiß, wie abgelenkt ich bin. Ich beobachte die beiden vollkommen unterschiedlichen Männer. Sie tauschen irgendwas miteinander aus, doch ich kann nicht erkennen, was es ist. Kain wirft mir, bevor er geht eine Ich-hab-dich-im-Blick-Geste zu. Ich strecke ihm meinen Mittelfinger entgegen und seufze. „...ist das okay, für dich?" Erst diese Frage holt mich zurück. „Ja. Du, ich muss dringend mein Referat fertig bekommen. Ich schicke dir heute Abend den Vorentwurf für die Romanidee, von der wir das letzte Mal gesprochen haben..." Brigitta quietscht. „Dank dir bekomme ich nicht nur Diabetes sondern auch noch einen Tinitus. Vielen Dank auch", merke ich an, als ich mir das Telefon wieder an das Ohr halten kann. „Entschuldige. Ich bin nur so aufgeregt." Wenigstens eine ist es. Wir verabschieden uns und ich trabe in die Bibliothek zurück. Eine halbe Stunde lang, starre ich auf meine Notizen. Die Unterbrechung hat mir nicht wirklich geholfen. Ich werde, wenn ich vor der versammelten Mannschaft stehe, garantiert anfangen Rumzustottern und damit total durcheinander kommen. Warum ich jedes Mal derartig aus dem Konzept gerate, ist mir ein Rätsel. Schon in der Schule lagen mir die Vorträge und Referate nicht. Ich reibe mir mit beiden Händen über die Wangen und seufze theatralisch. Fast so gut, wie Jeff. Aber nur fast. "Hier versteckst du dich,...", ertönt eine vertraute Stimme. Ich sehe auf. Anscheinend muss ich mir beim nächsten Mal noch eine tiefere, verwinkeltere Ecke in der Bibliothek suchen. Kain lässt sich neben mir auf den Tisch nieder und setzt sich dabei direkt auf ein paar meiner Mitschriften. Ohne eine Erwiderung von mir zugeben, ziehe ich an den Blätter und entferne sie vom Hinterteil des anderen Mannes. Cuxhaven. China. Cruzio, setze ich spontan meine Flucherei fort. Kain beobachtet mich beim Murmeln und ich kann sehen, wie sich einer der Bonbons in seinem Mund bewegt. Nur der Gedanke an das Aroma lässt etwas in mir erbeben. Bitte, erschießt mich. Ich zerre noch fester an den Papieren. Ich kriege ein paar der Blätter nicht unter Kains Hintern hervorgezogen, ohne sie zu zerreißen. Nun reagiere ich doch. „Kann ich was für dich tun?", frage ich übertrieben freundlich und ringe mir eine lächelnähnliche Mimik ab. „Ficken?", fragt er gerade heraus. Ich schaffe es nur mit Mühe und Not, dass meine Gesichtszüge nicht entgleisen. Kapitel 11: Findet Nemo für Empathielose und Helfershelfer ---------------------------------------------------------- Kapitel 11 Findet Nemo für Empathielose und Helfershelfer Nach kurzem apathischen Starren schaue ich unweigerlich von nach links und rechts und wieder zurück. Zum Glück sind die umliegenden Arbeitsplätze sind verweist, denn er war keineswegs im Flüstermodus als er das sagte. Als ich zu dem Schwarzhaarigen zurückblicke, ziert sein Gesicht ein mehr als eindeutiges Grinsen. „Kastration?", frage ich retour, doch seine amüsierte Mimik bleibt dieselbe und er scheint den Ernst meiner Worte nicht wahrzunehmen. „Nicht hier und jetzt", beschwichtigt er lächelnd, "Ich dachte eher an heute Abend. Jeff und Abel sind feiern und ich hätte Bock. Und deine bösartige Anspielung habe ich nicht gehört." Er hätte Bock? Ich habe mich wohl verhört. Ich bin nicht sein Betthäschen, was hüpft, wenn er es sagt. „Wow. Subtilität, das schon mal gehört?", frage ich. Kain winkt generös ab. „Wird vollkommen überbewertet und funktioniert bei dir nicht. Meine Andeutungen hast du alle ignoriert." Kain tippt sich gegen die Nase. Andeutungen? Ich stehe auf den Schlauch, verkneife mir aber zu erfragen, was bei unseren kurzen, beiläufigen Konversationen die Hinweise gewesen sein könnten. Denn die Hobbit-Kontroverse beim Mittagessen hat mich definitiv nicht angeheizt. Ich denke an meinen verunstalteten Pudding. Libido ade. "Außerdem bist du doch das Paradebeispiel für den Mangel an Feingefühl." „Hat Miss Red Riding Hood mal wieder keine Zeit für Sindbad, den tollkühnen Seefahrer?", entgegne ich absichtlich provozierend und ziehe diesmal energisch die restlichen Blätter unter seinem Hintern hervor. Kain greift nach den Seiten und lässt seine aufmerksamen braunen Augen ungerührt darüber wandern. „Nope, sie ist heute bei ihrer Schwester und veranstalten irgend so ein Mädchending.", erklärt er ebenso gelassen und ich widerstehe dem Drang ihn vom Tisch zu schupsen. Ich bin zweite Wahl. So was will man hören. „Das Leben ist so schwer als 16-jähriges Mädchen reicher Eltern", setzt Kain theatralisch fort und verdreht dabei die Augen, so, als müsste mir das alles erklären. Ich frage nicht weiter nach den es interessiert mich nicht. Kain legt die Blätter zur Seite, kramt danach in seiner Tasche nach einem Bonbon und sieht aus, als würde er sich häuslich niederlassen. Nicht mit mir. Als er sich den gelben Bonbon in den Mund steckt und danach die Beine übereinander schlägt, werfe ich ihm einen Bleistift gegen die Brust. Kain fängt ihn bevor in seinen Schoß fällt mit beiden Händen auf. „Sieh an! Zwei funktionierende Hände... vergnüg dich mit denen", kommentiere ich. Den ersten Teil besonders euphorisch und begeistert. Den letzten Teil dann aber trocken. Ich sehe gar nicht ein nach seiner Pfeife zu tanzen. „Weshalb sollte ich sie bemühen, wenn ich dich die Arbeit machen lassen kann?", kontert er lapidar und schiebt sich den ausgepackten Bonbon in den Mund. Es reicht. Ich richte mich ruckartig auf, sodass der Stuhl, auf dem ich eben noch gesessen habe, nach hinten kippt. Kain zuckt überrascht und sieht auf, während ich ihn einhändig am Kragen packe und die andere unsanft in seinen Oberschenkel drücke. Kain versteift sich minimal, macht aber sonst keinerlei Anstalten sich zu wehren. Im Gegenteil er sieht mich ruhig an und das regt mich nun noch mehr auf. „Hör mal zu, wenn du glaubst, dass ich mich durch deine machohaften Ansagen beeindrucken lasse, hast du dich vollkommen verkalkuliert. Also lass dir eines gesagt sein, ich bin keines der dummen, schmalbrüstigen Betthäschen, die springen, wenn du es sagst." Ansagen machen kann ich auch und verdränge dabei geschickt, dass es nicht ganz der Wahrheit entspricht. Kain und seine Erscheinung lassen mich keineswegs kalt, aber diese machohafte Attitüde regt nichts in mir. „Ich hab es nicht nötig, mich von dir dämlich anquatschen zu lassen. Klar?", harsche ich ihn an und verwende absichtlich das deutliche Klar als Anlehnung an Kains vormalige Ansage. Wir starren uns intensiv an, bis Kains Augen tiefer wandern. Ich halte unwillkürlich die Luft an als er langsam und bestimmt wieder aufblickt. Jedoch bei meinen Lippen stoppt. Ich lasse ihn los, doch Kain packt mein Handgelenk und zieht mich direkt zurück. Durch die Bewegung rutscht die Hand an seinen Oberschenkel dichter in seinen Schoß. Mein Puls schnellt nach oben und ich stoße überrascht die Luft aus. „Klar. Ich hab's verstanden. Für mich ist das auch neu... also, entschuldige" Mein Handgelenk hält er umklammert, während er das sagt. Irritiert blicke ich ihm entgegen. Danach skeptisch. Neu? Mir ist nicht klar, was genau er damit meint. Ich frage nicht nach. Kain irritiert mich. Jedes Mal wieder und auch jedes Mal mehr und ich weiß nicht, wie ich damit umgesehen soll. Die Stelle unserer Berührung ist mittlerweile bemerkenswert heiß. Meine Haut pulsiert und ich bin sicher, dass er es spürt. „Auf den Punkt, übrigens...", erwidert er anerkennend und grinst. Das Grinsen sorgt dafür, dass es sich anfühlt als wäre mein ganzer Vortrag für die Katz gewesen ist. "War's das schon?", fragt Kain neckend, als ich weiterhin schweige und sich mein Abo für dämliche Gesichtsausdrücke aktiviert. Ich muss es unbedingt kündigen. Statt etwas zu erwidern, löse ich nun endlich meinen Arm aus seinem Griff und mache einen Schritt zurück. Kain sieht mir still dabei zu, wie ich mir die Lippen befeuchte und sie danach mit der Handfläche wieder trocken wische. „Okay, was hältst du davon, wenn wir beide mit den Provokationen und den Drohgebärden aufhören und uns wie zwei intelligente, erwachsene Menschen verhalten", schlägt er plötzlich ganz diplomatisch vor. „Das würde dich sicher überfor...", setze ich meinen bissigen Kommentar, über die enorme Komplexität einer solchen Aufgabe und meine Zweifel darüber, dass der Schwarzhaarige sie bewerkstelligen kann, an, als er sich abrupt aufrichtet und mir den Mund zuhält. Die Reste des Satzes murmele ich energisch, aber undeutlich in seine Handfläche. „Eheh", verneint er überwiegend gestisch und versucht mich zum Schweigen zu bringen. Ich funkele ihm entschlossen entgegen. "Du willst auch immer das letzte Wort, oder?" Eine rhetorische Frage. Damit gibt er meinen Mund wieder frei und hätte er es lieber gelassen. „Immer...", gebe ich zum Besten und sehe mit Genugtuung, wie Kain seufzt. Ich setze mich zurück auf den Stuhl und nehme mir vor den Biotechnologen von nun an zu ignorieren. Immerhin haben wir alles gesagt. Ich wende mich wieder meiner Präsentation zu, doch Kain besitzt einfach nicht den Anstand mich in Ruhe zu lassen. Er lehnt sich unbeeindruckt zurück an den Tisch. Ich beiße die Zähne zusammen und sehe auf. "Was denn noch?", knurre ich leise. „Schreibst du wieder Pornos?", fragt er neugierig und greift nach meinem Laptop um ihn in seine Richtung zu drehen. Ich halte das Gerät mit beiden Händen fest und knurre erneut. „Ganz genau, diesmal im Hardcore-Style und du bist der Passive", lasse ich ihn wissen. Kains Augenbraue zuckt nach oben und doch verfehlen meine Worte leider die gewünschte Wirkung. Denn er ist immer noch da. „Ach, deine Fantasien drehen sich also darum. Interessant", bemerkt er. Soviel zum Thema Provokationen. Er macht mich fertig. „Was willst du denn noch?", frage ich genervt. „Ist bestimmt spaßig mit dir Sex-SMS zu schreiben...", giggelt er und geht nicht auf meine Frage ein. "Du bist bestimmt gut darin... fantasievoll und... " Den Rest behält er für sich und grinst stattdessen wissend. Ich kann nicht verhindern, dass mein Kopf resigniert nach vorn kippt. Was, um Himmelswillen, habe ich getan, dass ich das verdiene? Können mich nicht einfach alle in Ruhe lassen? Mehr verlange ich doch nicht. „Ernsthaft, Kain, ich hab zu tun." Ich richte meine Aufmerksamkeit zurück auf meine Vortragsnotizen, schaffe zwei Sätze und sehe aus dem Augenwinkel heraus, wie sich Kains Finger nach meinen Unterlagen ausstrecken. Ich fasse nach seinem Handgelenk und halte ihn zurück. „Mit Sicherheit willst du deine funktionierende Gliedmaßen behalten... nicht wahr?", drohe ich ihm nonchalant und nehme ihm die Unterlagen aus der Hand. „Reg dich ab. Ich darf doch noch ein wenig Interesse an dir zeigen, oder?" Nerviges Schnüffeln ist heutzutage also Interesse zeigen? Wieder etwas gelernt. Ich resigniere und überlasse ihn seufzend die Mitschriften aus der Vorlesung. Er studiert sie für einen Moment aufmerksam und greift dann nach meinem Buch über Pathobiochemie. Seine Stirn runzelt sich als er merkt, dass das nichts miteinander zu tun hat. Trotzdem bin ich mir sicher, dass er genau weiß, worum es geht. Er klappt das Buch auf und blättert gemächlich darin rum. Ich widme mich meinen Aufzeichnungen. „Pat und Patachon feiern heute übrigens ihr Halbjähriges", erzählt Kain an, spricht von unseren herzallerliebsten Mitbewohnern. „Und ich habe meine Wunderkerzen nicht dabei", gebe ich trocken von mir und sehe nicht von meinem Blatt auf. Ich höre den anderen Mann amüsiert schnauben und wie ein leichter Schauer über meinen Nacken fegt. „Zu Schade, die hätten perfekt zu meinem Blütenregen gepasst", scherzt er weiter und blättert zurück ins Inhaltsverzeichnis des Buches. „Seit wann feiert man eigentlich Halbjährige?", fragt Kain, während er weiter in dem Buch rumschmökert. „Keine Ahnung.... Jedem das seine, oder", antworte ich mit deutlicher Gleichgültigkeit. Von mir aus sollen sie jeden Monat feiern, solange sie es machen ohne mir auf die Nerven zu gehen. Sie sind selbst schuld, wenn sie freiwillig diesem Stress und der Absurdität der Abhängigkeit aussetzen. Derartige Beziehungsrituale ketten einen freiwillig an einen Anker, obwohl man genau weiß, dass man irgendwann dem Meeresboden gefährlich nahe kommt. „Vielleicht feiern sie ihr Durchhaltevermögen? Wobei, dass keine Leistung ist. Jeff hält dich schon viel länger aus, da macht er ein halbes Jahr mit Abel sicher mit links." Provokation, die Zweite. „Clown zum Frühstück?", bluffe ich zurück, "Und falls es dir noch aufgefallen, Jeff macht sowieso alles mit links." Mein Mitbewohner ist Linkshänder. In der Schule war das einer der Gründe, warum man uns in der 5. Klasse zusammengesetzt hat. Ich bin nämlich auch einer und wir haben uns beim Schreiben nicht behindert. Mittlerweile habe ich mir trotzdem angewöhnt vieles mit der rechten Hand zu machen, sodass es weniger auffällt. Nun nehme ich Kain das Buch aus der Hand, klappe es zu und signalisiere ihm zum wiederholten Male, dass ich keine Lust mehr habe weiter zu quatschen. Das hier ist kein Kaffeekränzchen. „Du eigentlich auch, oder?", fragt Kain unbeirrt und dreht meinen Laptop zu sich heran. Er wirft einen ungenierten Blick auf die geöffnete Präsentation, während ich mich darüber wundere, dass ihm meine Beidhändigkeit aufgefallen ist. Mein Gehirn ist heute nicht das Schnellste. "Was?" „Du hältst das Besteck andersherum. Du bist eigentlich auch Linkshänder, oder?", erklärt er mir, "Signaltransduktionen? Bei Professor Cole? Wann ist dein Vortrag?" Ich nicke alles nur überfordert ab. „Morgen", erwidere ich auf den letzten Teil. Kain liest still die Punkte quer und mustert danach mein zerknirschtes Gesicht. Wahrscheinlich schaue ich noch grimmiger als sonst. Ich hasse Präsentation. Fast so sehr, wie Kitsch. Präsentationen sind die Liebesromane der Notenermittlung. Unnötig nervenzerrend und zwangsdramatisiert. „Cole ist nicht sehr streng und du bist doch sicher perfekt vorbereitet.", sichert mir Kain zu und würzt das Ganze mit einen Oberlehrerblick, der mich genervt Raunen lässt. „Darum geht 's gar nicht... Ich halte nicht gern Vorträge.", gestehe ich, stütze meine Arme auf dem Tisch ab und reibe mir die Augen. Ich müde und jetzt schon enorm angespannt. Kains Augenbraue zuckt nach oben und zu seinem Glück spart er sich einen überflüssigen Kommentar darüber, dass ich sonst kein Problem damit habe, anderen Vorträge zu halten. „Brauchst du ein Versuchskaninchen? Wenn du es mir verständlich erklären kannst, dann wird nachher garantiert niemand mit einem Fragezeichen über dem Kopf dasitzen", schlägt er lächelnd vor und ich bin mir sofort sicher, dass ich das nicht machen werde. Im Grunde ist es nicht mal mein Problem, ob es alle verstehen oder nicht, so lange es faktentechnisch korrekt ist. „Dafür müsstest du mir schon Abel herholen. Du bist kein Maßstab", merke ich an. Ich gebe es nicht gern zu, aber Kain hat Einiges drauf. „Dann besorge ich dir eine Horde Meerschweinchen, das ist weniger aussichtslos.... und auch wesentlich lustiger.", scherzt Kain erheitert und entlockt auch mir ein Lachen. Ich sehe jetzt schon, dass ich mir morgen die anderen Studenten als quiekende Peru-Snacks vorstelle. Mitnichten eine Verbesserung. Meerschweinchen gehöre nicht unbedingt zu meinen Lieblingshaustieren. Lena hatte zu ihrem siebten Geburtstag eines geschenkt bekommen und seither bin ich geschädigt. Das Tier verkroch sich andauernd in meinem Bett, fiepte mörderisch, wenn ich mich zum Schlafen hinlegte, während ich versuchte, nicht an einem Herzinfarkt zu krepieren. Wir entwickelten eine gegenseitige Antipathie füreinander, an der ich so gar keine Schuld trug. Jedenfalls, wenn man mich fragt. Lena hingegen war felsenfest der Überzeugung, dass dem Tier gesagt habe, dass apathisch in der Ecke hocken und urinieren soll, wenn sie es auf der Arm nahm. Es war auf keinesfalls der Tatsache geschuldet, dass Lena das peruanische Nervenfutter an der Leine führte. Es war auch nicht, wegen der andauernden Knuddel-und Drückattacken traumatisiert und schon gar nicht von dem rosafarbene Tutu, welches Mama für das Vieh nähte. Nein, ich war es. Ich, der das Tierchen mit meinem pelztiervernichtenden Blicken weichgekochte. Zitiert nach Lena. Es ist schon witzig, wenn einen ein achtjähriges Mädchen sowas an den Kopf wirft. Rudi wurde, trotz der, durch bewegungsmangelverursachten Verfettung, acht Jahre alt. Unser beider Glück war es, dass ich irgendwann ausgezogen bin, sonst würde er mich vermutlich bis an mein Lebensende heimsuchen. Kain scheint für den Moment befriedigt, denn er liest intensiv in meinen Vortragsnotizen. Dass er hin und wieder die Stirn runzelt und sich auf der inneren Wange rumbeißt, ignoriere ich. Als ich versehentlich beobachte, wie er sich geistesabwesend die dunklen Haare zurückstreicht, kann ich nicht mehr wegsehen. Ich verfluche das intensive Kribbeln in meiner Lendengegend, weil ich mir vorstelle, wie er es bei mir macht, wie dabei die Berührung die Helix meines Ohres stimuliert, wie es kitzelt und meinen Puls beschleunigt. Kain dreht den Laptop wieder zu mir und meine Starre löst sich. Ich wende meinen Blick von ihm ab, bin mir aber sicher, dass er es bemerkt hat. „Nachvollziehbar aufgebaut, faktenintensiv, aber verständlich. Wenn du noch ein paar Bilder dazu nimmst und es damit auflockerst, brauchst du dir keine Sorgen machen. Kriegst du schon hin..." Die ehrlich gemeinte Aufmunterung prallt an mir ab, wie Wasser auf einem Lotusblatt. Ich lehne mich im Stuhl zurück und mustere den anderen Mann skeptisch. Mein Arm bettet ich über meinem flachen Bauch und provoziere ein lautes Rumoren. „Lass uns heute Abend zusammen essen, ja? Ich lad dich ein. Vielleicht nimmt dir das etwas Anspannung", schlägt Kain resolut vor. Und wieder Resozialisierungsversuchs für den armen Einsiedler. Wenn Kain jetzt genauso anfängt, wie Jeff, dann gibt es menschliche Piñata und ich bin der Einzige mit einem Stock. „Keine Ahnung, wann ich hier fertig werde...", beginne ich ausweichend, wohlwissend, dass im Grunde alles vorbereitet ist und ich jetzt nichts mehr verbessern, sondern allemal nur verschlimmbessern kann. Abgesehen von der Rettung meiner noch immer in Seenot schwebenden Selbstsicherheit, habe ich nichts mehr zu tun. Immerhin winkt sie mir freudig aus weiter Entfernung entgegen und ist noch nicht vollends gen Norden verschwunden. „Die Bibliothek schließt um 21 Uhr, dann kehren sie dich gnadenlos hier raus. Bis dahin hast du sicher auch Hunger.", erwidert er lediglich und richtet sich auf. „Ich habe wirklich keinen Nerv für so was.", setze ich nach, mime bitteren ernst und weiß dennoch, dass es vergebliche Mühe ist. Denke ich jedenfalls, denn Kain seufzt und sieht einen Moment lang wegen meine Reaktion wirklich unglücklich und unzufrieden aus. Ja, zerschelle an mir wie ein Kutter am Wellenbrecher, lacht es in meinem Kopf. Ich konzentriere mich wieder auf meine Präsentation, merke, aber sehr wohl, dass Kain noch neben mir steht. Aus dem Augenwinkel heraus, erkenne ich, wie sich seine große Gestalt plötzlich zu mir runterbeugt und damit Schatten wirft. Seine Hand greift über meine Schulter nach der Lehne des Stuhls und ich spüre die Innenseite seines Unterarms an meinem Kiefer, während er mich ruckartig nach hinten neigt. Mein Puls beschleunigt sich mit jedem Winkel kleinster Neigung exponentiell. Die feinen Härchen in meinem Nacken richten sich auf. Das Kitzeln, welches dabei entsteht, lässt meinen gesamten Körper pulsieren. Doch ist es ist nicht nur der Schreck, sondern auch die plötzliche Nähe, die meinen Körper in Aufruhre versetzt. Die leichte Berührung. Die Wärme. der Nebel in meinem Kopf wird sofort dichter. „Eiskalt, wie eh und je. Meinst du nicht, dass etwas Ablenkung sinnvoll wäre?", raunt er mir entgegen und wandert mit den Augen mein Gesicht ab. Kain kommt noch etwas näher als ich mich nicht rühre. Das feine Kitzeln auf meine Zungenspitze, ausgelöst durch die Erinnerung von Zitrone und Ingwer, lenkt mich so sehr ab, dass ich mich kaum konzentrieren kann. Prickelnde Schärfe, sie explodiert und brennt in meinem Mund mit einem ersehnten Feuer. Das erdachte Aroma weht mir entgegen, auch wenn der Bonbon in seinem Mund längst aufgebraucht ist. Bestimmt bilde ich es mir nur ein. Nun ist Kain der Fels und ich das Schiff, das an ihm zerschellt. Großartig. Schwimmwesten fehlen auch. Gluck Gluck. Einer seiner Finger streicht über meinen Nacken, streichelt dort über den Ansatz meines Haares. Ich erzittere durch die sanfte Berührung, weiche automatisch etwas zurück. „Überleg es dir..." Damit verschwindet er endgültig und lässt mich im Meer treibend zurück. Petri heil und Ahoi. Als er weg ist, kippt mein Kopf von ganz allein auf die Tastatur des Laptops. Ein Albtraum im Albtraum im Albtraum. Während ich wach bin. Kann es noch schlimmer werden? „So, so. Du und Mister Biomasse...?" Es kann noch schlimmer werden. Der Spitzname, den wir Kain während eines Projektes gegeben haben, lässt mich auch heute noch schmunzeln. Wenn heute auch bitter. Ich richte mich auf und sehe zu Marie, die hinter einem der Regale aufgetaucht ist. Sie neigt ihren Kopf in den Gang, in den eben der Schwarzhaarige verschwunden ist. „Was?" Ich ziehe das ohnehin schon verräterische Fragenwort verdächtig in die Länge. Aber zum Glück so theatralisch, dass nichts auffällig Glaubwürdiges übrigbleibt. Mein Puls beschleunigt sich trotzdem bei der Vorstellung, dass sie irgendwas in diese Situation hineininterpretieren könnte. Für Außenstehende muss es fürwahr komisch ausgesehen haben. Marie beginnt zu kichern und legt die Bücher in ihrem Arm auf meinem Tisch ab. Ich mustere erst aufmerksam die Biowälzer und danach skeptisch die unauffällige Biologin mit den verwuschelten, kurzen Haaren. Ihre Brille sitzt schief. Sie tippt sich dagegen, aber es wird nicht besser. „Du hast ein Faible für Diskussionen, oder?", bemerkt sie und es ist im Grunde keine richtige Frage, sondern mehr eine Tatsache. Dazu muss man sagen, dass Kain einer der wenigen Menschen ist, die gutes, konstruktives Kontra geben können. „Ich brauche sie, wie die Luft zum Atmen.", gebe ich zurück. Marie hat mich und Kain schon des Öfteren streiten sehen. Sie hat mich auch mit der Rothaarigen streiten sehen und so ziemlich mit jedem anderen aus unseren Projektgruppen. Wahrscheinlich erkennt sie langsam das Muster. „Masochistisch veranlagt?" „Je härter desto besser!" „Du hältst doch eher die Peitsche, oder?" Noch während sie das sagt, färben sich ihre Wangen puterrot, was unglaublich amüsant ist. Was Worte allein in manchen Menschen anrichten können, ist immer wieder wunderbar. „Bitte? Ich bin die Devotion in Reinform", kommentiere ich. Nun beginnt Marie zu lachen. Das war selbst ihr zu viel des Guten. „Und was genau hast du mit ihm zu schaffen? Außer natürlich dein Bedürfnis nach verbalen Konfrontationen zu stillen." Kain bringt mich so gut wie immer direkt auf die Palme. Nicht mehr und nicht weniger. In meinem Kopf entsteht ein hallendes Lachen, welches mir selbst in den Hintern beißt. Er stillt seit neusten auch ganz andere Dinge, die ich lieber nicht laut ausspreche. „Unsere Mitbewohner übernachten zurzeit lieber beieinander und wir führen, sozusagen, eine Zwangsvermitbewohnerung auf Teilzeit." Marie lauscht meinen Erklärungsversuchen, schaut einen Moment lang verwundert und scheint es doch zu verstehen. „Die Liebe und ihre oftmals verrückten Pfade...", säuselt sie summend. Ihr Blick wird einen Moment abwesend. Darauf folgt ein seltsames Lächeln. Ich denke darüber nach, was genau sie damit meint, doch ich frage nicht nach, sondern sehe sie nur an. „Na gut, so lange du dich nicht auf die dunkle Seite der Biotechnologie wechselst...", fährt sie fort, klingt strikter und greift nach ihren Büchern. „Niemals", versichere ich ihr ohne zu zögern und ein spontanes Kichern perlt von ihren Lippen, was ungewöhnlich mädchenhaft rüberkommt. Marie ist nicht gerade das klassische, hippe Girlie. „Gut zu wissen. Wir sehen uns." Sie hebt ihre Hand zum Gruß und lässt dabei fast die Bücher fallen. Erneut kichernd verschwindet sie in den weitverzweigten Gängen der Bibliothek. Ich sehe ihr einen Moment länger nach, seufze und drehe mich wieder zu meinem Laptop. Ich starre missmutig auf den Bildschirm, fahre einige der notierten Zeilen ab und stutze. Eine der Zeilen bestehend aus einer Unmenge Hs und Js und ich habe keine Ahnung, wie das passiert ist. Vermutlich bei dem Hickhack mit Kain. Ich lösche sie genervt per Hand bis mir irgendwann einfällt, dass ich sie auch hätte markieren können. Mein Gehirn läuft bereits jetzt nur noch auf Sparflamme und es geht jede weitere Minute mehr und mehr bergab. Vielleicht hätte ich Kains Einladung doch annehmen sollen. Zerstreuung hätte mir gut getan. Wobei mehr Zeit mit Kain höchstwahrscheinlich auch zum Gegenteil führen könnte. Ich kann mich gut selbst ablenken. Ich starte mit meinen Emails. Spam. Newsletter. Jeff. Lena. Weitere Namen, die ich nur noch inbrünstiger ignorieren will. Ich suche in der Fülle von nutzlosem Kram nach Brigittas Mails. Als ich sie finde, lasse ich die vorbereiteten Beispiele des Romancovers auf meinem Bildschirm erscheinen und spüre, wie sich ein spontaner Zahnschmerze in meinem gesamten Kiefer ausbreitet. Er ist pochend. Stechend. Das abgebildete Pärchen trieft förmlich vor Klischees und der Blick, den das Mädchen in seinem Gesicht trägt, verursacht mir temporäre Diabetes. Ihre Augen sind erfüllt mit schmerzvollen Verlangen und leidvollen Qualen aus tiefgreifenden Schmachtverhalten. Das Cover wirkt schrecklich romantisch. Es ist übertrieben und überlastet, wenn man mich fragt. Ich öffne die zweite Mail, in der mir Brigitta bereits androht, dass sie das kitschige Bild benutzen wird, wenn ich nicht ans Telefon gehe. Der Gedanke daran, dass ich tatsächlich mal einen Grund haben könnte, nicht ans Telefon zu gehen, kommt ihr gar nicht. In der dritten Mail befindet sich lediglich eine Ansammlung von zahnfleischblutenverursachenden Icons und hämischen Ausdrücken. Ich weiß nicht einmal, wo sie die ganzen Abbildungen herholt. Ich bin bereits mit der Bedeutung der Smileys in der Nachrichten-App überfordert. Wie auf Bestellung setzt sich mein Handy in Gang. Es ist eine Nachricht von Shari, die mir mitteilt, was das letzte Thema ihres Kurses war. Sie bedankt sich schon im Vorfeld für die Arbeit, die ich mir mache und verursacht mir mit ihrem zuckersüßen Verhalten einen weiteren Schauer der Verzweiflung. Auch sie benutzt eine Fülle an Emojis. Diesmal einen beschämten und lächelnden und diese verstehe ich auch. Trotz jeglichen Widerstrebens lässt es mich schmunzeln. Ich scrolle zurück zum angegebenen Thema und öffne ein neues Dokument in meinem Laptop. Halogenalkane. Sie sind ein Teil der organischen Chemie und im Grunde nur eine Wiederholung. Ich denke an den Chemieunterricht der 9. Klasse zurück. Ich habe ihn gehasst oder eher unseren Lehrer. Er war so schrecklich optimistisch und wollte wirklich jeden für Chemie begeistern. Ständig haben wir seltsame Experimente gemacht oder unnütze Dinge hergestellt. Mein Blick fällt noch einmal zurück auf das Cover meines neuen Romans und dann zurück auf das leere Dokument. Nichts. Es ist als hätte ich eine gigantische leere Blase in meinem Kopf. Ich schaffe es nicht mehr mich zu konzentrieren und schalte alles ab. Auf dem Weg ins Wohnheim rauche ich zwei Zigaretten, ertappe mich dabei, wie ich das Handy hervorziehe und durch die Liste meiner Kontakte scrolle. Mein Daumen schwebt über Kains Namen. Ich halte den Glimmstängel freihändig zwischen meinen Lippen und blase gleichzeitig den Rauch aus. Mein Magen knurrt und ich öffne den Chat. Ich ziehe neuen Rauch ein und atme ihn gegen das Display wieder aus. Es kann nicht mein Ernst sein. Letztendlich ist es das erneute Knurren meines Magens, das dafür sorgt, dass ich mich zurückbesinne und das Handy in der Tasche verschwinden lassen. Nein, das ist eine dumme Idee. Sehr dumm. Problematisch dumm. Sowas kann ich nicht gebrauchen. Im Foyer des Wohnheims ziehe ich mir aus einem der Lebensmittelautomaten ein Päckchen mit drei Scheiben Vollkornbrot. Die Dinger sind ein Testlauf von der Fraktion für gesunde Ernährung. Neben den von mir beglückwünschten Eisautomaten sind im letzten Jahr auch diese „Automaten für nachhaltige Ernährung und Healthy Living" aufgestellt worden. Ich nenne sie Ökomaten. Sie beinhalten verschiedene Brotsorten, Aufstriche, Nüsse und getrocknete Früchte. Einmal am Tag wird er auch mit frischem Obst und Gemüse gefüllt. Doch davon ist um diese Uhrzeit nichts mehr übrig. Erstaunlicher Weise kommt das wirklich gut an. Im Grunde mag jeder Obst und Gemüse, so lange man es bereits geschnitten und in handliche Portionen vorbereitet. Ein Apfel ist nicht dasselbe, wie der geschnittene Apfel von Mama. Der Mensch ist faul und der Student sowieso. Ich trabe mit meiner Beute nach oben und durchforste unseren kleinen Kühlschrank nach etwas, was ich auf das Brot schmieren kann, mit nur unbefriedigenden Ergebnis. Die Mehrheit des Inhalts gehört zu Jeff. Also besteht er aus Frischkäse und irgendeinem seltsam klingende Aufstrich aus dem Ökomaten mit Shiitake und Pfifferlinge. Ohne mich. Ich sehe auch das obligatorische Glas Käsedip, auf dem eine halbe Tafel Schokolade liegt. Ohne Worte. Letztendlich vertilge ich die Scheiben Brot mit etwas Frischkäse, während ich ein letztes Mal meinen Vortrag durchgehe. Einige Passage kann ich mittlerweile auswendig. Ich fühle mich aber nicht besser. Missmutig schalte ich alles aus, werfe meine Klamotten ab und falle bei dem Versuch mir die Socken im Stehen auszuziehen einfach um. Ich lande härter als gedacht und habe es wohl verdient. Die dumpfen Vibrationen meines Handys lassen mich aufhorchen und innehalten. Ich krame in den aufs Bett geworfenen Klamotten danach und es blinkt mir munter entgegen, als ich es aus der Tasche meiner Jeans ziehe. -Nicht mal ein Essen? Du bist knallhart.- Kain. Hat er wirklich darauf gewartet, dass ich mich melde? Unwahrscheinlich. Nur in Shorts lasse ich mich aufs Bett fallen. -Essen wird überbewertet-, tippe ich als Antwort und krame meine Schlafklamotten unter dem Kissen hervor. Ich schnuppere daran und sehe direkt danach, wie Kains Antwort aufleuchtet. Er tippt wirklich schnell. -Wenn du meinst. Wenigstens das Nümmerchen?- Dreist. Schamlos. Unfassbar. Ich lasse die Kleidung auf meinem Schoss liegen und streiche mir die Haare zurück. Spielen wir jetzt wieder Schiffe versenken? Bitte. Meine Ansage war wohl doch nicht deutlich genug. -Du nervst-, tippe ich empfundener Weise und rutsche weiter nach hinten gegen die Wand. Mein Kopf neige ich zurück. -Ich dachte, ihr Biochemiker steht auf die Ausschüttung von Endorphinen- Endorphine produziert der Körper auch beim Verhungern aus. Ich bin hin und hergerissen. Den Kommentar spare ich mir. Die Erwähnung des körpereigenen Opioidpeptid lässt mich dennoch schmunzeln. -Dein plumper Versuch führt bei mir nur zur Ausschüttung von Melatonin- -Autsch- Treffer. Ich reiße meine imaginären Pompons in die Höhe. Vielleicht gibt er endlich Ruhe. Ich lasse das Telefon auf meinem Schoß liegen und streife mir endlich das Shirt über. Mein Unterleib bibbert, als eine weitere Nachricht eintrifft. -Wovor hast du eigentlich Angst?- Treffer. Versenkt. Missmutig lege ich das Telefon zur Seite und schubse es nach kurzem Zögern unter die Bettdecke, sodass ich es nicht mehr sehe. Von wegen Angst. Ich habe vor gar nichts Angst. Warum versteht niemand, dass ich diese Almosen und belanglosen Nettigkeiten nicht brauche. Weder von Jeff und schon gar nicht von Kain. Oder sonst wem. Ich will einfach nur meine Ruhe. Ich kippe seitlich aufs Bett und starre zu Jeffs Ficus. Ben erzittert, so als würde er spüren, dass ich ihn fokussiere. Angst. Ich greife nach meinen Kopfhörern und schalte die Musik an. Es ertönen die ersten Takte von 'Cabaret' interpretiert von Me first and the Gimme Gimmes. 'What good is sitting alone in your room? Come hear the music play. Life is a Cabaret, old chum. Come to the Cabaret '. Ich schalte den Player seufzend wieder aus und mit der selbst herbeigeführten Stille werden meine Gedanken nur wieder lauter. Mein Gedankenkarussell dreht sich und wieder ist jeder schuld, nur ich selbst nicht. Wenn Jeff seine Libido im Griff hätte, wäre das alles nie passiert. Wer feiert auch sein Halbjähriges? Kain hat vollkommen Recht. Was kommt als nächstes? Der Tag des ersten Zungentangos? Des ersten Ficks? Lachhaft. Unbedeutend. Ich erinnere mich nicht einmal an mein erstes Mal. Während ich so da liege und in die Stille starre, werden plötzliche die Geräusche um mich herum deutlicher. Ich höre das leise Gurren einer Taube, die draußen auf einer Laterne sitzt. Das Aufheulen eines Motorrads. Aber auch ein leises Kichern. Es folgt ein intensives Keuchen und ich richte mich auf. Diese Geräusche kommen aus dem Nachbarzimmer und unwillkürlich lehne meinen Kopf etwas zur Wand. Die Laute werden deutlicher. Ein Stöhnen und ein leichtes Quietschen. Wollen die mich verarschen? Aus diesem Zimmer habe ich noch nie etwaige Töne kommen hören. Aber natürlich heute. Das helle Stöhnen der Zimmerbewohnerin geht wortwörtlich durch Wände als sie scheinbar richtig loslegen. Auch das zunehmende rhythmische Schlagen des Bettes gegen die dünne Wand macht es nicht besser. Ich drehe mich auf den Bauch und lege mir das Kissen über den Kopf, so dass meine Ohren bedeckt sind. Nun habe ich das Gefühl die Vibrationen des rumsenden Bettes zu spüren, die sich von der Wand auf meins übertragen. Herrje. Ich denke an den Schwarzhaarigen und an die Tatsache, dass wir wahrscheinlich auch zu höre gewesen sind. Obwohl es beschämen sollte, passiert das Gegenteil. Der Gedanke ist kribbelnd und aufregend und mein Körper schreit nur noch mehr nach dieser berauschenden Befriedigung. Dieser miese Verräter. Was wurde wohl passieren, wenn ich ihm jetzt schreibe? Würde Kain antworten? Will ich es wirklich? Ich rolle mich auf die Seite und richte meinen Blick auf Jeffs leeres Bett. Würde er überhaupt kommen? Immerhin habe ich ihn nun schon mehrfach abgewiesen. Wahrscheinlich würde er mich absichtlich warten lassen. Nur im mir zu zeigen, dass er es kann. Vielleicht würde er darauf hoffen, dass die vergehenden Minuten zwischen Warten und Gewissheit meinen Körper in Flammen setzen. Unwillkürlich stelle ich mir das erwartungsfrohe Prickeln vor, welches mich zu gleich belebt und ebenso geißelt. Die Aufregung, die mich packt und wolllustige Wellen durch meine Glieder schickt. Mein Puls wurde sich beschleunigen und mit jeder Sekunde, die ich auf seine Ankunft warte zu glühender Lava werden, die meinen Leib verzerrt. Er wüsste genau, dass mich allein dieses kalkulierte Verlangen dazu trieb, seine Nummer zu wählen und. Mein Körper reagiert allein bei den Gedanken an den möglichen Ablauf. Würde er ohne zu fragen die Tür aufreißen und in wilder Manier meinen Körper packen? Oder wäre es ein leises Klopfen, welches augenblicklich durch die Lautstärke meines ebenso pulsierenden Herzens übertönt wird? Es wäre das rasende Blut, welches meine Körperglieder belebt und das ungewisse Treiben, das mich dazu zwingt die Tür aufzureißen. Was denke ich hier eigentlich? Wo bleibt der Kaventsmann, wenn man ihn braucht? Ich spüre als Antwort den feinen, verräterischen Zug in meiner Lendengegend und ein Keuchen perlt über meine Lippen. Ich drehe mich murrend zurück auf den Bauch und drücke meine wachsende Erregung in die Matratze. Keine gute Idee. Meine Erregung pocht und die leichte Reibung verhilft mir nicht zur Linderung. Jetzt selbst an mich Hand anzulegen, würde bedeuten, Kain Recht zu geben und die Blöße gebe ich mir nicht. Ich bleibe stark. Ich bleibe hart. In vielerlei Sinn. Die Geräusche im Nebenzimmer enden nicht. Hätte ich bloß nachgegeben. Ich wälze mich eine Weile hin und her, schlafe unruhig und bin am Morgen vor dem Weckerklingeln wach. Was für ein Albtraum. Ich drehe mich mit dem Gesicht zur Wand und schließe die Augen um der Helligkeit zu entkommen, die sich gnadenlos im Zimmer ausbreitet. Erneut ertönt dieses feine, aber tiefgehende Quietschen. Ich höre schon Gespenster. Casper, der unartige Geist. Ich seufze schwer, als sich wiederholt Stöhnen und Keuchen dazu gesellt. Ernsthaft? Ruckartig setze ich mich auf, schwinge die Beine aus dem Bett und fliehe nach dem Anziehen vor der lautmalerischen Geräuschkulisse. Ohne Jacke und damit ohne Zigaretten und Portmonee lasse ich mich in eine der hinteren Ränge des Hörsaales nieder. Ich werde unruhig, dabei hat die Vorlesung noch nicht mal begonnen. Als Professor Cole am Pult erscheint, merke ich wie sich meine Finger unentwegt gegeneinander bewegen. Zunächst beginnen wir mit einer Wiederholung für die anstehende Klausur. Die Referate folgen im zweiten Teil. Ich versuche mich auf das Wichtige zu konzentrieren, aber es gelingt mir nicht. Die Klausur macht nur einen kleinen Teil der Note aus. Den Rest entscheidet die mündliche Ausarbeitung. Yeah. In meinen Kopf feiert der Sarkasmus einen Undergroundrave. Aus meiner Tasche ertönen rhythmische Vibrationen und entgegen meiner Angewohnheit in der Vorlesung auf mein Handy zu schauen, mache ich es diesmal. Das Display zeigt mir zwei neue Nachrichten. Jeff. Er fragt nach einem Treffen. Ich tippe ihm eine Bestätigung und wechsele zur zweiten Mitteilung. Sie ist von Kain. -Vergiss nicht zwischendurch kleine Pausen zum Luft holen zu machen- Kain, der Scherzkeks. Ich lache später. Ein Raunen geht durch den Saal. -Würdige deinen grandiosen Einfallsreichtum spä...- Trotz der Unvollständigkeit drücke ich auf senden als mit einem Mal mein Name gerufen wird. Hu? „Herr Quinn...", ertönt es wiederholt. Diesmal eindringlich. Ich blicke auf und lege das Telefon hastig zur Seite. Der Professor deutet nach vorn zum Pult. „Wir warten..." Ich atme tief ein, bettele stillschweigend um ein schnelles, schmerzloses Ende. Meine Gebete werden nicht erhört und die nächste halbe Stunde wird zu einer der längsten meines bisherigen Lebens. „Der Regen draußen ist zum Davonlaufen... Es ist nass und windig... und Bäh.", quasselt jeff auf einmal los als er plötzlich neben mir auftaucht, "Ich habe so gehofft, dass es endlich wärmer wird. Sicher bleibt es die nächsten Tage so." Er tropft und schimpft unbeirrt weiter, auch wenn ich kein Wort dazusage. In Gedanken beglückwünsche ich meinen Mitbewohner zu der auffällig zutreffenden Wetterprognose und sehe dabei zu, wie er sich die feuchten Klamotten vom Körper streift. Selbst auf seinem Pullover sind ein paar nasse Stellen zu erkennen und ich habe nicht mal meine Jacke dabei. Herrlich. Jeff quatscht weiter, wie ein Wasserfall, während ich schweigend von meinem Tomaten-Mozzarella-Sandwich abbeiße, welches ich mir nach dem misslungenen Vortrag geholt habe. Es ist das Einzige, was ich mit der Ansammlung von Münzgeld aus meinen Hosentaschen bezahlen konnte. Ich streiche mir Pesto aus dem Mundwinkel, während mein Mitbewohner bei den Erzählungen über seinen fantastisch, romantischen Abend angelangt ist. Ich versuche ihn zu ignorieren oder wenigstens sein Geplapper auszublenden. Immerhin scheint es für diese Konversation unnötig, dass ich mich aktiv daran beteilige. Jeff stört sich nicht daran, dass ich nicht antworte oder irgendwie reagiere. So mag ich das. Ist Fluch und Segen zu gleich. Ich beiße unbeirrt von meinem Sandwich ab und kaue träge und langsam. Jeff legt mir seinen Arm um die Schulter und drückt seine Wange gegen mein Ohr. Er ist kalt. Und nass. Ich kaue weiter und bin mir sicher, dass Jeff es merkt. „Wir haben gestern Nacht eine halbe Packung Kondome gekillt.", flötet er und grinst, als hätte er ein Wunder vollbracht. „Eine 6er oder eine 12er?", frage ich lediglich und ernte erst nach kurzer Überlegung eine beleidigte Reaktion. Er drückt mir mit der Hand das dümmlich grinsende Gesicht weg. „Eine zwanziger Packung, du Blödmann. Als würdest du in einer Nacht sechs Kondome plattkriegen!", motzt er gespielt und bricht dann in einen kurzen Lachanfall aus. Wenn er wüsste. „Klar, zu Geburtstagen. Sie machen sich gut als Luftballons. Besonders die mit Erdbeer- und Bananengeschmack.", berichte ich. Erneut drückt er mein Gesicht weg, schmiert sich diesmal grünes Pesto an die Hand und leckt es nach einem kurzen Blick einfach davon. „Pff, aber nur die in Größe Extra Large", spottet Jeff weiter. Er bückt sich nach seinem Rucksack und kramt seine Trinkflasche hervor. Ich lehne mich wieder an die Wand und beobachte ihn dabei. Neben Blöcken und Mappen sind noch immer ein paar Klamotten in seinem Rucksack. Wahrscheinlich hat er es heute Morgen nicht ins Wohnheim geschafft. Neben den zerknautschen Kleidungsstücken liegt die angesprochene Packung Kondome. Marke Black Velvet. Interessant. Es sind ziemlich teure Dinger. „Wozu benutzt ihr eigentlich noch Kondome? Nach einem halben Jahr Beziehung finde ich das echt kostspielig", sage ich und sehe weiterhin in seinen Rucksack. Eine Dose Sprühsahne lugt aus einer Ecke hervor und unwillkürlich beginnt das Kopfkino. Weil ich auch nie weiß, wann ich aufhören muss. „Mag sein, aber ich mag die Sauerei danach immer nicht." Der Film läuft weiter. Hilfe. Ich sehe auf mein Sandwich, als mir bewusst wird, wie unpassend diese Thematik beim Essen ist. Vor allem dann, wenn man sich unweigerlich alles vorstellt. „Sauereien? Ich bin ganz Ohr!", kommt es von der anderen Seite und ich reiße mich von Jeffs Rucksack los. Kain kommt auf uns zu und bleibt lächelnd neben Jeff stehen. Seine warme, leicht brummende Stimme verursacht mir Gänsehaut. „Keine, die du interessant finden würdest...", kommentiert der Blonde und ich sehe dabei zu, wie die Augenbraue des Schwarzhaarigen nach oben wandern. „Okay, mehr muss ich nicht wissen." Kains Mundwinkel zucken nach oben, ebenso, wie seine linke Augenbraue. Heuchler. „Oh, und danke für den Tipp mit dem Dach. Wir durften gestern Abend einen herrlichen roten Sonnenuntergang erleben." Jeff schlägt Kain sachte mit dem Handrücken gegen die muskulöse Brust und strahlt dabei, wie ein Honigkuchenpferd. „Schön, wenn man sich so sehr an Luftverschmutzung erfreuen kann...", kommentiere ich trocken, beiße ein Stück vom Brötchen ab und lecke mir etwas der grünen Paste von der Lippe. Ich sehe erst auf, als es um mich herum seltsam still bleibt. Beide Augenpaare blicken mir verständnislos entgegen. „Du, als quarzende, rote Umweltplakette solltest den Mund halten", maßregelt mich mein Mitbewohner, bedenkt mich danach noch mit einem Du-bist-und bleibst-ein-Banause-Blick, der aber herzlich wenig bei mir anrichtet. Ich verdrehe nur die Augen und verspüre augenblicklich das Bedürfnis, mir eine dieser Lungenteerer anzustecken. „Ein tolle Aussicht, leckere Drinks und der perfekte Platz um in Stimmung zu kommen, oder?", kommentiert er und schwelgt lächelnd in irgendwelchen Erinnerungen, die höchstwahrscheinlich dem der rothaarigen Bestie zu tun haben. „Klar, weil du ja weißt, wie man Stimmung macht...", entfährt es mir unüberlegt. Mir vergeht der Appetit und ich lasse das Brötchen zurück in die Tüte fallen. Man bin ich empfindlich. Ich widere mich gerade selbst an. Das Melatonin lässt grüßen. Gütiger Schiffbruch, ich klinge langsam wie aus einem dieser Schundromane und ich bin der missgelaunte Konterpart des Helden. Jeff sieht mir verblüfft und ebenso verwundert entgegen und Kain leicht zerknirscht. „Und wie fandet ihr das Hotel? Es hat ein ziemlich gutes Preis-Leistungsverhältnis, oder?", fragt Kain nach und entscheiden sich dafür meinen Kommentar nicht zu beachten. Hotel? Sie haben mehr Aufwand betrieben als ich dachte und das alles nur wegen des Halbjährigen. Lächerlich. Jeff hingegen strahlt weiter, so dass ich das Gefühl bekommen, er könnte radioaktiv sein. Mit solchen übertriebenen Schnickschnack konnte man meinen Kindheitsfreund schon immer begeistern und scheinbar Kain auch. Mir wird klar, dass das gestrige Unverständnis über die übertriebenen Rührseligkeiten der beiden blonden Männer nur Theater war. Was für ein Heuchler. „Absolut, aber vom Frühstück haben wir nichts mitbekommen", gesteht Jeff freimütig und mit einem vielsagenden Zwinkern. Der Film in meinem Kopf läuft augenblicklich weiter und nimmt mehr und mehr Facetten an. Bitte erschießt mich endlich. Ich bin bereit. Bevor Jeff seine Lobeshymne über Kains Kreativität fortsetzen kann, klingelt sein Handy und er wendet sich entschuldigend ab um ranzugehen. Der andere Mann wendet sich mir zu. „Geht ihr trotzdem noch Mittagessen?", fragt Kain und mustert die Reste meines To-Go-Festmahls. Ich werfe einen Blick zu dem Blonden und zucke mit den Schultern. Ich habe kein Geld mehr um richtig Mittagessen zu gehen, bin zu faul um bei dem Wetter ins Wohnheim zu rennen und werde garantiert nicht nach Almosen betteln. "Ich bin versorgt, also frag ihn..." Mit einem knappen Nicken deute ich in Jeffs Richtung und wechsele von einem Fuß zum anderen. Der Schwarzhaarige lehnt sich zu mir an die Wand und stößt meine Schulter mit dem Oberarm an. Danach beugt er sich leger zu mir. „Okay. Dann lass mal hören... Leg los!" „Wie bitte?", erwidere ich irritiert auf Kains kryptische Äußerung. Loslegen, womit? Mein Blick spricht Bände, denn Kain grinst als ich aufsehe. Er genießt es mich derartig zu überrumpeln und ich hasse, dass er es immer wieder schafft. „Ich will hören, wie du gedenkst meinen Einfallsreichtum zu würdigen...", entgegnet er als wäre es vollkommen klar, was er von mir erwartet. Seine Stimme ist dabei ein neckisches Raunen. Ich erstarre für einen kurzen Moment. Ich habe völlig vergessen, dass ich die begonnene Nachricht vorhin wirklich abgeschickt habe. Ablenkend lasse ich die Finger meiner linken Hand über den rauen Stoff meiner Hose reiben und wende mein Gesicht ab. Mein Herz nimmt an Fahrt auf und presst sich stetig schnellerwerdend gegen seinen Knochenkäfig. Kain mustert aufmerksam mein Profil und ich spüre förmlich, wie es jede meiner Regungen aufsaugt. Ich drehe ihm mein Gesicht zu und plane seinem Blick standzuhalten, doch ich kann es nicht. Meine Augen wandern sogleich tiefer, so dass sie auf den Übergang von Hals und Schulter schauen, auf den Ansatz seines Schlüsselbeins und ich erkenne, wie die Vene an seinem Hals pulsiert. Die glatte, leicht gebräunte Haut bebt unter dem stillen Rhythmus und die Erinnerung an das Gefühl, wie sie sich anfühlt, lässt mein Reaktionsvermögen vollständig eingehen. Ich starre, wie gebannt auf diese Stelle bis mich der Hauch von Ingwer trifft mich. Er vermischt sich mit der Nuance seines Parfüms und jagt einen feinen Schauer über meinen Nacken und über meine Brust. Ich habe es schon öfter an ihm gerochen, doch diesmal nehme ich es noch deutlicher wahr und sehe wieder auf. Direkt in intensives Braun. „Heute Abend...", setzt Kain leise an und wird bevor er es ausführen kann von Jeff unterbrochen, der sich wortesprudelnd zu uns umdreht. Wir schauen ihn beide überrascht an und ich bin fast schon dankbar für die Störung. Es folgt auf Jeffs Seite ein kurzes Schweigen und als wir nichts erwidern, beendet mein Kindheitsfreund seine begonnene Tirade über Abels Verspätung. Allerdings mit weniger übersprudelnden Enthusiasmus und mit einem skeptischen Blick in unsere Richtung. Wieder klingt ein Handy und diesmal ist es nichts Jeffs. Kain zieht es aus der Hosentasche, wirft einen kurzen Blick aufs Display und seufzt. „Ich muss nochmal los. Bis gleich!", sagt er und ist schnellen Schrittes verschwunden. Der Blonde und ich bleiben zurück. „Was war das gerade?", fragt mein Mitbewohner nach einem Moment des Schweigens neugierig. Ich schließe die Augen und murre. Ich weiß, dass er nicht Kains plötzlichen Abgang meint und ebenso weiß ich, dass ich diesmal nicht mit einem Schulterzucken davonkomme. „Kain nervt... wie immer.", antworte ich lediglich und finde, dass das muss als Erklärung reichen muss. Es ist zutreffend, dementsprechend sehe ich ihn unverwandt und ernst an. Jeff schluckt den Happen nur widerwillig. Als Strafe beginnt er erneut von ihrem romantischen Abend zu erzählen. Er erklärt mir in einem Nebensatz, dass er auch heute seinem Bett fern bleibt und ich verspüre eine eigenartige Unzufriedenheit. Ich habe mich wohl doch mehr an Jeffs dauernde Anwesenheit gewöhnt, als gut für mich ist. Wir trennen uns erst als Abel endlich auftaucht und sie gemeinsam in die Mensa verschwinden. Ich bringe die letzten beiden Vorlesungen hinter mich und erwische einen relativ trockenen Augenblick um am Abend ins Wohnheim zurückzukehren. Micha drückt mir im Vorübergehen zwei Briefe in die Hand ohne sein Telefongespräch zu unterbrechen. Ich danke ihm gestisch, weil auch ich durch meine Kopfhörer akustisch eingeschränkt bin und nichts daran ändern will. Ich verfrachte die Briefe in meinen Rucksack und nutze den hinteren Treppenaufgang um in den oberen Stock zu kommen. „Hey!.... Robin..." Mein Name wird lauter hinterher gerufen als ich auf das unspezifische Hey nicht reagiere. Im Grunde höre ich es auch nur, weil gerade ein eher langsames Lied gespielt wird. 'Patience' von Take That. Kain steht mit verschränkten Armen im Türrahmen zur Teeküche und winkt mich mit einem Finger an sich heran als ich endlich reagiere. 'Just try, and have a little patience'. Der Song ist, wie eine musikalische Ermahnung an meine Selbstbeherrschung. Mir entflieht ein feines Seufzen, verursacht durch die gewohnte zur Schaustellung meines Widerwillens. Was kommt nun schon wieder? Seine Anwesenheit verursacht ein zwiespältiges Gefühl in mir. Mein Körper reagiert mit all diesen kleinen verräterischen Reaktionen. Schaudern. Kitzeln. Prickeln. Ich hasse ihn. Mein Verstand wehrt sich energisch. Die Kopfhörer nehme ich erst ab, als er mich gestisch daraufhin weist und das, auch erst nachdem er beim dritten Mal endlich das genervte Gesicht macht, was ich provozieren wollte. Der letzte Rest des Liedes ertönt. 'So while I'm still healing, Just try and have a little... Patience'. Erst jetzt fällt mir auf, dass er etwas in den Händen hält. Es ist eine Flasche mit milchiggelber Flüssigkeit, die mich fragend eine Augenbraue heben lässt. Kain hebt die Flasche kurz an, schüttelt sie und lässt sie direkt wieder sinken. Das Glas trifft auf das Metall seiner Gürtelschnalle. Ich folge dem Geräusch mit den Augen. Das Batmanemblem. Bezeichnend. Ich stehe mehr auf die vielen kleinen Helfershelfer. Klischeehaft? Egal. „Mein Papa hat gesagt, ich darf keine Getränke von fremden Männern annehmen", kommentiere ich anlässlich Jeffs mehrmaliger Hinweise für das sicherheitsbewusste Verhalten bei öffentlichen Veranstaltungen. Ich sehe mit Begeisterung, wie Kains Gesichtsausdruck entgleist und er klein wenig zusammenfällt. Er wird aber viel zu schnell wieder frech. „Gut zu wissen, dass du ein braver Junge bist. Und gut für mich, dass das nichts zu trinken ist. Jedenfalls nicht im herkömmlichen Sinn." Meine Verwirrung nimmt keinen Abbruch. Hat mich gerade gegoodboyt? Wieder schüttelt er die Flasche und behält sie diesmal in Sichthöhe. „Na, neugierig?" „Verwirrt.", gestehe ich und nehme ihm die Flasche aus der Hand. Vorher dreht er das Etikett nach vorn und ich kann endlich lesen, was sich darin befindet. Vanillesoße. Kain tritt zur Seite und deutet in die kleine Teeküche. Einer der zwei Tische ist gedeckt. Drei Teller. Zwei leere und ein Abgedeckter. Zwei kleine Schüsseln mit roter und grüner Masse. Daneben eine riesige Plastikschüssel mit Nachos. Kain geht auf den Tisch zu und nimmt die Abdeckung vom dritten Teller. Es beginnt zu dampfen. Nun bin ich wirklich neugierig. „Fischstäbchen mit Vanillesoße und Nachos?", erfrage ich, nachdem ich alles halbwegs analysiert habe. Ein Hoch auf Fusionsküche. Allerdings ist mir nicht ganz klar an welchen Länderküchen er sich genau bedient hat. Noch dazu lässt mich die Kombination eher an den von Jeff verursachten Fisch-Pudding-Eklat denken. Ich leide immer noch. „Meine Variante von Fish and Chips mit Salsa und Guacamole.", erklärt er ruhig, "Und die Fischstäbchen waren das Einzige, was der Foodstore zu bieten hatte, ohne, dass ich uns an den Nachwirkungen einer Lebensmittelvergiftung krepieren sah. Die Soße ist für den Nachtisch." Kain stellt die Flasche auf dem Tisch ab und lässt sich auf einem Stuhl nieder ohne mich ein weiteres Mal aufzufordern ebenfalls Platz zunehmen. Ich resümiere. Mexican-britisch. Wenigstens hat er eines der wenigen britischen Gerichte heraus gepickt, die ich mag. Im Gegensatz zu Jeff bin ich nämlich kein großer Fan der englischen Kultur. Schon gar nicht vom Essen. „Warum?", frage ich nach dem Grund für seine Bemühungen, da es für mich keinerlei Sinn macht. Was verspricht er sich davon? „Ich hatte die Wahl zwischen Fischstäbchen und chemisch aussehendem Schnitzel und wie gesagt, ich hatte das wir beide ohne Lebensmittelvergiftung besser dran sind. Außerdem mag ich mexikanisches Essen. Fiesta!!", gibt er erklärend von sich und steckt sich ein Stück Fischstäbchenpanade in den Mund, das er vorher in die rote Chilisoße tunkt. Es fehlt nur noch der überdimensionale Sombrero. „Nein, das meine ich nicht...Was soll das Ganze?" Kain stoppt zunächst das Kauen und schließt kurz die Augen als er versteht, was ich meinte. „Okay. Also... richtig mit mir Essengehen willst du nicht, da dachte ich, ich probiere es so. Außerdem, für den Fall aller Fälle gibt es in diesem Haus genügend andere, die gern mit mir hier sitzen würden, sodass es nicht ganz so bescheuert aussieht, wenn du mich hängen lässt." Genügend andere? Das glaube ich ungesehen. Kain gehört zu der Sorte, die immer ein Hintertürchen offen haben. Es ernüchtert mich mehr als mir lieb ist. Er lehnt sich zurück, öffnet mit einer schnellen Bewegung seine Strickjacke und sieht mich unverwandt an. Er trägt schon wieder die Jacke mit dem diagonalen Reißverschluss. Ich mache keine Anstalten zu ihm zu gehen. „Na komm, ein Essen mit mir wird dich nicht umbringen..." Wenn die herbeigesehnte Flutwelle endlich kommt würde, dann schon. Als ich noch immer zögere schleicht sich Enttäuschung in Kains Blick und ich reagiere unbewusst, in dem ich einen Schritt nach vorn mache. Verdammt. „Wehe, du kippst die Vanillesoße über die Fischstäbchen", warne ich und sehe tatsächlich, wie sich Kain sichtbar entspannt. „Das hat dich wirklich traumatisiert, oder?" „Ich will nicht drüber reden...", kontere ich. Amüsiert grinsend greift Kain unter den Tisch und zieht zwei Flaschen Bier hervor. Er beginnt damit sich Essen auf den Teller zu schaufeln ohne länger darauf zu warten, dass ich meinen gigantischen Schatten überwinde. Kain lädt sich eine Handvoll Nachos auf den Teller. Daneben legt er zwei Fischstäbchen und verteilt großzügig die beiden Dips darauf. Die Restlichen reicht er mir. Ich seufze, ehe ich mich setze und den Stuhl dichter an den Tisch ziehe. Ich schubse drei Fischstäbchen auf meinen Teller und betrachte die Guacamole etwas genauer. Giftgrünen Essen stehe ich skeptisch gegenüber. „Erzähl mir von deinem Vortrag?", startet Kain das Gespräch. Nun sind wir wieder beim Schiffe versenken und er landet prompt einen Treffer. „Ich hab es überlebt..." Mehr muss er nicht wissen. So weit kommt es noch, dass ich ihm erzähle, dass ich entsetzlich baden gegangen bin. „Dir ist klar, dass ich etwa die Hälfte der Leute aus deinem Studiengang kenne? Ich erfahre es sowieso..." „Na dann kann ich mir die Mühe ja sparen", unterbreche ich ihn. Zweiter Treffer. Autsch. Kain seufzt. Ich greife missmutig nach der Bierflasche und taste in meiner Hose nach meinem Feuerzeug. Kains intensivem Blick weiche ich damit gekonnt aus. Kein Feuer zu finden. Ein weiteres Mal durchsuche ich meine scheinbar unergründlichen Taschen. Nichts. Das heilbringende Wunder der Gebrauchstechnik liegt nutzlos in meiner Jackentasche. Und diese in meinem Zimmer. Kain sieht mir dabei zu, wie ich entmutigt meinen Körper abklopfe und reicht mir seinen Schüsselbund, an dem sich ein Flaschenöffner befindet. Wahrlich studentenhaft. Ich werfe einen zweiten Blick auf den Bund. Neben einer Unmenge an Schlüsseln befindet sich auch ein Anhänger daran. Ein schwarzes Oval mit einer weißen Feder darin. Irgendein Teamsportlogo. Fußball? Vielleicht Football? Das würde eher zu ihm passen. Ich öffne das Bier und gebe ihm den Schlüsselbund zurück. Warum er so viele Schlüssel besitzt erfrage ich nicht. Ich nehme einen ersten Schluck des Getränks und weiß wieder genau, warum ich kein Fan vom Malzgebräu bin. Trotzdem trinke ich weiter. Es wird nicht besser. Ich stelle es zur Seite und wende mich einen Maischip zu, den ich probehalber in die grüne Paste tunke. Ich habe keine Vorstellung, wie Avocado schmecken muss. Doch das, was ich koste, gefällt mir ganz gut. Die Guacamole ist angenehm aromatisch, nussig mit leichter Säure, sowie feiner Schärfe. Ich mag das Kribbeln, welches sie auf meiner Zunge hinterlässt. Kain sieht mir dabei zu und knabbert nebenbei ebenfalls ein paar der Nachos. Er scheint in seinen eigenen Gedanken versunken und ich beginne die unaufgeregte Ruhe fast zu genießen. „Lass uns einen Deal machen...", sagt Kain plötzlich, nimmt einen Schluck aus seiner eigenen Flasche Bier und stellt sie in die Mitte des Tisches. Ein Deal? Was kommt jetzt? Ich lehne mich abwartend zurück und lasse ihn fortfahren. „Du erzählst mir von deinem Vortrag und dafür bekommst du..." Kain zerrt sein Portmonee aus der Hosentasche. Anscheinend ist es neu und ziemlich leer. Er holt mehrere der Kartenattrappen hervor und zählt sie durch. „Wie passend... es sind genau sechs..." Er spricht es, wie den Beischlaf aus und grinst. „...Time-Out-Karten von mir." Kain zieht seinen Rucksack unter dem Tisch hervor und kramt einen schwarzen Edding heraus. Auf die Karten kritzelt er jeweils eine der Zahlen von 1 bis 6 und schiebt sie mir zu. Ich sehe auf den übermalten Mustermann und verstehe noch immer nicht genau. „Es funktioniert, wie folgt. Ein Karte ist ein Time-out von mir. Du kannst sie jeder Zeit einsetzen und ich garantiere dir, dass ich dich in Ruhe lasse.", erklärt er mir überzeugt. Misstrauisch blicke ich ihm entgegen. Wo ist der Haken? Es gibt immer einen und meistens ist dieser untragbar. „Aber, dafür musst du mir eine persönliche Frage beantworte und du musst ehrlich sein." Wie erwartet. Untragbar. „Dein Ernst?" „Hör zu, ich gehe davon aus, dass die Beziehung zwischen Jeff und Abel noch eine Weile hält. Du nennst dich Jeffs Freund und ich bin ein schrecklich geselliger Typ. Wir werden also, ob du es willst oder nicht, weiterhin aufeinander treffen." Ich sehne mich schon wieder nach einer alles zerstörenden Flutwelle. Ob das noch gesund ist? „Die Karten habe ich nach drei Tagen aufgebraucht", gebe ich zu bedenken. Ich greife nach der Schüssel mit Chips, schiebe mir ein paar der Dreiecke und etwas Salsas auf den Teller, die ich mit Guacamole strecke. „Na dann, solltest du dir gut überlegen, wann es sich lohnt eine Karte auszuspielen." „Und was bezweckst du damit?", frage ich bevor ich mir einen weiteren rot-grün gefärbten Nacho in den Mund stecke. Kain lehnt sich verdächtig nach vorn, verschränkt seine Finger ineinander und sieht mich erneut mit diesem intensiven Blick an. Er macht mich ganz kribbelig. "Ich weiß, dass du der Typ bist, der Rückzugsmöglichkeiten braucht und die sollst du haben. Allerdings möchte ich auch, dass du mir etwas entgegen kommst und dich wenigstens ein bisschen bemühst.", erklärt er. Ich schnaube als Antwort. „Du traust wirklich niemanden und vermutest hinter allem eine Böswilligkeit, oder?" Richtig. „Ich vermute bei solchen Aktionen stets einen zutreffenden Anschlag auf meine Nerven. Und du bist es, der ständig mit mir diskutiert." Ich schiebe ihm mit dem Zeigefinger die Karte wieder zu. „Ja ja, und weil du dir dieses bestimmte Bild von mir aufgebaut hast, werde ich alles daran setzen dem zu entsprechen. Du willst mein Friedensdeal nicht? Gut, dann nerve ich dich ab sofort in Grund und Boden." Was ich ihm auch ungesehen glaube. Soviel zum Thema ernst und normal miteinander reden. Anscheinend gehört das nicht zu unseren Qualitäten. „Herrje, Robin, gib mir doch einfach eine Chance.", ergänzt er weniger stichelnd. Er lehnt sich ermattet zurück und nimmt auf halbem Weg seine Flasche wieder mit. Ich schaue zu den Karten und verstehe es noch immer nicht vollkommen. „Du brauchst dich nicht mit mir gutstellen, nur weil dein Mitbewohner meinen fickt und das noch eine Weile tun wird. Für den Sex brauchen wir das auch nicht. Also, wozu soll das gut sein?" Kains eigenwilliges Bedürfnis, jedem zugefallen, ist wirklich lästig. „Die Welt besteht nicht nur aus bösen, gefühlsgeladenen Menschen, die nichts Besseres zu tun haben, als dir ununterbrochen mit ihren lästigen Liebesproblemen auf den Wecker zu gehen. Du willst deinen Spaß ohne weitere Bedingungen. Gut, bei mir ist es dasselbe und ich verspreche dir, dass du dir keine Gedanken darüber machen musst, dass ich dich mit irgendwelchem Gefühlskram belaste. Ich habe selbst genug davon und keinen Bock drauf. Trotzdem sollten wir außerhalb dessen miteinander klarkommen." Damit beugt sich Kain nach vorn, legt seinen Zeigefinger auf die Karten und schiebt sie mir wieder entgegen. „Das ist mein Angebot, denk darüber nach.", beendet er damit das Thema und widmet sich wieder seinen Fischstäbchen. Er hat im Grunde Recht, auch wenn ich nicht das Gefühl habe, das sowas nötig ist. Ich bin immer noch misstrauisch, greife statt zu den Karten nur nach einem Nacho und dippe ihn in die scharfe Salsasoße. Das lockere Arrangement mit dem rothaarigen Ungetüm scheint wohl nicht so fluffig, wie er es gern hätte. In meinem Kopf entsteht ein höhnisches Lachen. Aber was erwartet er auch, wenn er mit einer Ex anbandelt. „Ärger im Drachenland?", frage ich, nachdem das Gelächter in meinem Kopf zu einem Flüstern geworden ist und sehe mit Vergnügen dabei zu, wie mein Gegenüber einen Moment braucht um meine Worte zu verarbeiten. „Was würde ich dafür geben, ein echter Drachentöter zu sein...", springt er auf den Zug auf. Wir lachen beide und essen für einen Moment schweigend weiter. Ich weiß noch immer nicht so recht, was ich von der Kartengeschichte halten soll. Denn ich denke nicht, dass es irgendwas ändert oder hilfreich ist. Aber es schadet auch nicht. Wie schlimm kann es schon werden? "Kann ich auch Karten zurückbekommen?", frage ich. "Sicher.", erwidert er ruhig und sieht nicht mal auf. Ehe wir es spezifizieren können, dringen leise Stimmen aus dem Flur zu uns. Es folgt Gelächter. Kichern. Es wird lauter und dann geht die Tür auf. Ich wende mich erst um, als eine weibliche Stimme ertönt. „Hoppla..." Sina und Kati stehen in knappen Shorts und einfachen Spaghettitops in der Tür. Beide scheinen quietschvergnügt und nur einen Sekundenbruchteil lang wirklich erschrocken. Kati lehnt sich über die Schulter der kleineren Blondine und späht in den Raum. Ihre Wangen schmiegen sich aneinander und sie wirken noch etwas mehr, wie ungleiche siamesische Zwillinge. In ihren Händen halten sie riesige Tassen. „Hey, Jungs...", flötet Kati begrüßend. Ich nehme einen Schluck aus der Bierflasche und schlage die Beine übereinander. Genauso wie Kain. Trotz augenscheinlicher Schlafbekleidung sind beide Frauen perfekt geschminkt und definitiv frisiert. Ich bin mir fast sicher, dass ich sie noch nie ohne Kleister im Gesicht gesehen habe. Vermutlich sehen sie ohne aus, wie Gespenster. Selbst, wenn sie aus der Dusche kommen, sind sie perfekt geschminkt. Ist das normal? Ich renne des Öfteren zombieartig durch die Flure und bin mir sicher, dass mir in diesen Momenten alle entgegenkommenden Personen angsterfüllt ausweichen, um nicht gebissen zu werden. Vielleicht sollte ich mal zuschnappen. Die abschreckende Wirkung einer solchen Attacke wäre sicher von Dauer. „Sina. Kati.", begrüß Kain sie und klingt eigenartig reserviert. „Gibt es noch Einladungen zu eurer Privatparty?", fragt Sina lächelnd, sieht auf das Essen und zieht sich dabei schon einen der leeren Stühle heran. Beim Hinsetzen schlagen sich ihre schlanken Beine übereinander, während Kati die Tassen auf die Anrichte schiebt und den Wasserkocher anstellt. Sina blickt neugierig zu den Kartenattrappen und sie greift danach. Ihr lackierter Fingernagel streicht über die schwarze Sechs der obersten Karte. „Was spielt ihr? Eine sehr simple Version von MauMau. Schwarzer Peter. 6 Gewinnt.", zählt sie auf und auch sie formuliert die Zahl in besonderer Weise. Ich bin umgeben von Spaßleichen. Nach jedem Vorschlag folgt ein helles Kichern. Auch Kati lächelt amüsiert und ihr Gekicher wird nur durch das leise Zischen des Wasserskochers durchbrochen. „Wir hätten Pokerkarten und Chips in unserem Zimmer... Oh, Vanillesoße." Sinas manikürten Finger greife nach der Flasche, mit der mich Kain in die Küche gelockt hat. Diesmal kann ich mir ein Seufzen nicht mehr verkneifen. Klischees ohne Ende. Ich bete schon wieder zu Neptun. Meinetwegen auch Poseidon oder Agwe. Ohne zu fragen, öffnet Sina die Flasche mit einem leisen Plopp und lässt ihren Finger geschwind im Hals verschwinden. Nun richtet sich Kain auf. Noch bevor sie die vanilligen Flüssigkeit kosten kann, nimmt er ihr die Flasche weg. Das Wasser beginnt zu kochen. „Man spielt nicht mit dem Essen anderer Leute. Hat man dir das nicht beigebracht?", blufft Kain und stellt die Flasche auf die andere Seite des Tisches. Unwillkürlich denke ich an Kains Bemerkung zum Thema Nachtisch durch meinen Kopf. Was Kain wohl als Dessert geplant hat? Der Gedanke an seinen warmen Körper und das Gefühl seiner Muskeln unter meinen Fingern lässt mich kurz erschaudern. Ich nehme einen kräftigen Schluck vom Bier und bin erleichtert, als die Herbe das ausbrechende Prickeln dämpft. „Warum so empfindlich? Das kenn ich von dir gar nicht und Merena erzählt auch ganz andere Geschichten." Die Blondine leckt sich die Süße vom Finger und dann mit einem Blick zu mir, über die Lippen. Ihr nackter Fuß tippt gegen meine Wade, während sie sich etwas besser auf dem Stuhl positioniert. Sinas blaue Augen mustern mich. Doch ich erwidere ihren Blick nur gelangweilt. Zum einen weil ich damit beschäftigt bin, meine Mimik neutral zu halten und zum anderen, weil ich mit den Avancen der Blondine nichts anfangen kann. Der Wasserkocher verstummt und es tönt ein leises Klick. „Habt ihr nichts anderes zu tun?", fragt Kain, mustert aber unverhohlen die beiden schlanken Frauenkörper. Abwechselnd. Ausführlich. Genau das, was sie wollen. Seine Augen bleiben bei Katis Oberweite hängen. Durch den dünnen Stoff drücken sich deutlich ihre Brustwarzen. Auf ihren Oberschenkel bildet sich Gänsehaut, die durch unsere Blicke nur noch deutlicher zu werden scheint. „Nicht wirklich?", erwidert Kati kichernd, streicht sich über den Unterarm und wendet uns den Rücken und ihren spärlich bedeckten Hintern zu. Sie gießt den Tee auf. Ein Kräutertee. Der Geruch von Brennnessel und Melisse erfüllt den Raum. Ich habe genug. Ein letztes Mal setze ich die Flasche Bier an und leere den Rest in einem Zug. „Ihr seid trauriger als jedes Klischee. Schönen Abend noch..." Glas trifft auf Furnier. Ich richte mich auf und verlasse die Teeküche in Richtung Zimmer. „Charmant, wie eh und je.", ruft er mir zu. Kain folgt mir und holt mich ein, bevor ich den Türcode eingeben kann. „Verklag mich..." Er weiß genau, dass ich damit Recht habe. „Robin, warte." Keine Chance. Ich tippe ungesehen den Code auf das Touchpad unseres Schlosses, schlüpfe ins Zimmer und bleibe doch direkt bei der Tür stehen. Der Biotechnologe bleibt davor stehen und drückt sie weiter auf. Er schaut mich direkt an und hebt die geöffnete Flasche Vanillesoße in mein Blickfeld. „Kein Nachtisch?", raunt er mir entgegen. Wieder ist es nur ein Gedankenfetzen, ein Hauch, der sich in meinem Kopf ausbreitet und mit einem Mal alles überschwemmt. Er wird lauter und lauter bis er nur noch ein verlangendes Schreien ist. Mein Herz pumpt heiß und heftig. Bevor sich der Schwarzhaarigen abwenden kann, greife ich nach seinem Shirt. Er sieht erst auf meine Hand und dann wieder auf. Es ist wie ein Blitzen, als er begreift, was meine Reaktion bedeutet. Mit beiden Hände stützt er sich am Türrahmen ab, baut sich vor mir auf und ich spüre einen feinen, kitzelnden Schauer, der mir durch den Leib jagt, wie ein hochexplosives Gewitter. „So, so...", setzt er an. Ich greife tiefer und umfasse seine Gürtelschnalle. Kühles Metall trifft auf erhitzten Fingerkuppen und die Erregung breitet sich in mir aus, wie eine unaufhaltsame Flut. Ohne weiteren Widerstand lässt sich Kain ins Zimmer ziehen. Kapitel 12: Geschichten aus Tausend und...Ach, Scheherazade für Arme! --------------------------------------------------------------------- Kapitel 12 Geschichten aus Tausend und...Ach, Scheherazade für Arme! Meine Finger gleiten über die scharfen Kanten der metallischen Gürtelschnalle. Erst oben und dann über die nach innen verlaufenden Bögen der Unterseite. Die Flügel der Fledermaus. Ich zeichne sie blind nach und genieße die kalte Glätte. Die Tür fällt endgültig ins Schloss. „Trägst du die, um mich zu ärgern?“, frage ich, spüre seinen Blick auf mir und bin mir ohne hinzusehen sicher, dass er grinst. „Ja.“ „Du bist schrecklich berechenbar…“, knurre ich ihm halbherzig entgegen. „Und du leichter zu durchschauen, als du denkst.“ Ein Schauer der Erregung durchfährt mich mit einem Kitzel der Verärgerung. Er macht mich seltsamerweise noch williger. Kain beugt sich nach vorn. Ich spüre, wie sein warmer Atem gegen meinen Hals trifft. Nur kurz. Nur gehaucht. Ein Funke in meinem Inneren. Er schwelt und glüht. „Ist dir bewusst, dass dein Name zwei Helfershelfer des Batmanuniversums vereint?“ Ich sehe auf, kann nicht verhindern, dass ich für einen Moment dämlich aus der Wäsche gucke. Nichts Seltenes. „Ach wirklich“, kommentiere ich fahrig, starre auf einen unsichtbaren Punkt auf seinen Lippen und dann kurz hinab. Kain drückt mir die Flasche Vanillesoße an die Brust. „Batmans aufmüpfiger, kleiner Helfer meets Jokers verrückte Gespielin…“ Trotz erschreckenden Wahrheitsgehalt sehe ich ihn nur ungläubig entgegen. „Du trägst schon wieder zwei verschiedene Socken. Ich erkenne da Parallelen…“ Und ich verdrehe gelangweilt die Augen, nehme ihm die Flasche aus der Hand und werfe sie auf mein Bett. „Wie wäre es, wenn du einfach den Mun…“ Bevor ich meinen Unwillen über die fadenscheinige Konversation mit weiteren sarkastischen Äußerungen würzen kann, greift seine Hand an meinen Kiefer. Die Spitze seines Daumens tippt gegen meine Unterlippe und so führt er mich ohne Widerstand in die Position, in die er mich haben will. Nur Millimeter trennen uns und wieder ist es dieses erregende Kitzeln, welches mich durchfährt. Meinen Körper schier entflammt. Was macht er nur mit mir? Warum reagiere ich so sehr auf ihn? Ich verstehe es nicht und ich schaffe es nicht, lange darüber nachzudenken. Ich bin einfach nur ausgehungert. Schlicht weg geil. Mehr nicht. Meine selbstleugnerische Fähigkeit brilliert im Kampf gegen die hormondominierenden Impulse in meinem Inneren. Für etwa 10 Sekunden, dann übermannt mich das pochende Kribbeln noch heftiger. Kains Lippen treffen meinen Kiefer. Ein Kuss. Kurz. Prickelnd. Dann spüre ich nur noch den Hauch seiner Nähe, als die Lippen über die prägnante Linie meines Kiefers gleiten. Sie kommen meinem Hals immer näher. Der Moment, der verweilt bis sich sein Mund wieder gegen die pulsierende Haut meines Körpers drückt, scheint endlos. Die Aufregung durchzuckt mich mit spannungsgeladenen Wellen und macht den Augenblick nur noch intensiver. Noch immer hält er mein Gesicht in Position, sodass ich ihm kaum Widerstand bieten kann, als sich seine Lippen über die empfindliche linke Seite meines Halses nippen. Jede Berührung ist nur ein Hauch, der extreme Reaktionen in mir reizt. Die Gänsehaut, die meine Glieder ummantelt, ist mehr als eine einfache Piloarreaktion. Sie geht mir durch Mark und Bein. Warum lasse ich zu, dass er mir derartig nah kommt? Er spielt nur mit mir. Ich verstehe mich selbst nicht. Unwillkürlich zieht sich meine Schulter nach oben. Ich sorge so dafür, dass sich Kain zurückziehen muss. Obwohl ich glaube, mich unter Kontrolle zu haben, keuche ich leise auf, als die Nachhut seiner Berührungen meinen Leib durchrollt. Meine Reaktion bleibt ihm nicht verborgen. Die Hand an meinem Kiefer gleitet in meinen Nacken. Ein kurzes Durchfahren meiner Haare und dann zieht er mich in einen Kuss. Die Erinnerung von süßem Feuer trifft auf den Geschmack von Salz und Hopfen. Ein enttäuschtes Gefühl. Ein Vermissen, aber es währt nicht lange. Die intensive Berührung sorgt dafür, dass sich mein Kopf fast sofort abschaltet und selig gen Delirium schwebt. Kains Hände. Ich spüre ihre Wärme, die sich durch den Stoff meiner Kleidung direkt auf meine Haut legt. Ich giere danach, sie deutlicher fühlen. Statt den Kuss erneut aufzunehmen, zwinge ich ihn, sein Shirt auszuziehen und seinen trainierten Körper preis zu geben. Ich sehe dabei zu, wie sich die Muskeln seines Bauches beim Atmen bewegen, während Kain sein Oberteil zur Seite wirft. Kontraktionen. Musculus rectus abdominis. Er spannt ihn an. Kains Bauch zeigt Ansätze für einen Eightpack. Nicht jeder Mensch ist mit einer solchen Aufteilung dieses prägnanten Muskels gesegnet. „Anfassen erlaubt…“, raunt er mir entgegen, reißt mich aus den Gedanken. Seine Stimme hat genau denselben neckischen Ton, den er auch in der Bibliothek hatte. Er greift meine Hand und legt sie auf seinem Bauch ab. Das Gefühl seiner festen Muskeln ist berauschend und das würde ich nicht mal unter schwerster Folter zugeben. Ich folge meinen Berührungen mit den Augen, sehe, wie sich die straffe, weiche Haut unter meinem Fingern in fein geperlte verwandelt. Er reagiert auf das zarte Ertasten und in mir prickelt neben der stetig heftiger werdenden Erregung der Wunsch, es aufzuschreiben. Die Empfindungen und die Worte in meinem Kopf zu archivieren. Kain beugt sich zu mir. Er küsst mich und zieht damit meine Aufmerksamkeit zurück in die Realität. Ich greife nach der Schnalle seines Gürtels, sorge dafür, dass sich unsere Becken dichter aneinanderdrücken und wir den Kuss keuchend lösen. Auch mein Oberteil folgt und nun spüre ich den warmen Körper auf direkter Haut. Seine leicht rauen Hände streichen über meine Brust, kitzeln über erhärtete Brustwarzen und gleiten dann zu beiden Seiten meinen Hals hinauf. Ich merke den Zug, der mich in einen weiteren Kuss ziehen soll, doch statt darauf einzugehen, öffne ich mit gekonnten Griffen seine Hose. Erst den Gürtel, dann den Knopf. „Fick mich“, fordere ich ihn auf, sehe mit berauschender Zufriedenheit, wie sich Kains Pupillen leicht weiten. Keine Spielereien. Kein weichgespültes Begrabbeln. Nur Befriedigung. „Kein Vorspiel?“ Ich bestätige ohne aufzusehen, ziehe den Reißverschluss seiner Hose runter und lasse meine Hand hinein gleiten. Das verlangende Kitzeln auf meinen Lippen straft mich Lügen. Auch das werde ich nicht zugeben. Niemals. „Wozu?“ Mehr eine rhetorische Frage, denn keiner von uns beiden kann leugnen, dass weiteres Anheizen notwendig ist. Meine Finger tasten sich tiefer und schon treffe ich auf seine Härte, spüre die ausgeprägte Hitze an meinen Fingerkuppen. „Zu Schade…“, gibt Kain von sich, neigt zu mir und bricht den erneuten Versuch, mich zu küssen, wenige Millimeter vor mir ab. Mein Herz macht einen Satz und meine Unterlippe erfasst ein feines Zittern. Er sieht es genau. Ich drücke ihn den letzten Schritt dichter an das Nachtlager meines Mitbewohners. Ich gleite noch etwas tiefer in seine Hose hinein, reibe mit nur zwei Fingern über das heiße Fleisch. Kain keucht, neigt sich mir entgegen und ich spüre seinen Atem, der meine Schulter trifft. Dann seine Lippen. Er küsst sich über mein linkes Schlüsselbein, während ich beginne, ihn intensiver zu reiben. Genießerisch beugt er sich meiner Hand entgegen. Die Gänsehaut auf meinem Körper wird immer ausgeprägter und der Druck in meiner Lendengegend deutlicher. Ich will ihn spüren. Jetzt. Ich ziehe meine Hand aus seiner Hose, kann mir ein Grinsen nicht verkneifen, als der Schwarzhaarige gekünstelt aufstöhnt. Ein leichter Stoß und er lässt sich auf Jeffs Bett fallen. Nun greift Kain nach meiner Hosenöffnung. Der Knopf ist kein Widerstand und mit nur zwei Handgriffen streicht er mir die Jeans über die schlanke Hüfte. Sein Blick haftet sich auf meine deutliche Erregung und ich frage mich, was in diesem Moment in seinem Kopf vorgeht. Was es in ihm auslöst? Ist es dasselbe prickelnde Verlangen, welches auch in meinem Körper entsteht? Ich kann nicht abstreiten, dass mich Kains nackter, gut trainierter Körper extrem anmacht. Warum auch immer. Selbst der jetzige Anblick erregt mich. Kains geöffnete Hose offenbart den Blick auf seine Körpermitte. Seine Härte drückt sich deutlich unter den dunklen Stoff seiner Shorts hervor. Befriedigung verheißend. Bittend. Kain zupft meine Shorts am Hosenbein etwas runter. Der Stoff strafft sich über die Spitze meiner Erregung. „Meinst du, Jeff fällt auf, dass wir ihm schon wieder Kondome klauen?“ Während er das sagt, streichen seine Hände meine Seite entlang. Sein Daumen fährt über meine sanft hervortretenden Bauchmuskeln. Ich beuge mich zu dem kleinen Schränkchen, knipse das Licht an und nehme zur Kenntnis, dass kein einziger Gummi darin ist. Die Black Velvet sind noch immer in Jeffs Rucksack. Ich ziehe nur die Tube Gleitmittel hervor und schließe das Schränkchen. Ein Hoch auf die Unvernunft. Ich gebe Kain keine Chance weiter darüber nachzudenken. Meine Shorts landet neben dem Schreibtisch. Kains neben Ben. Die Hitze seines warmen Körpers berauscht mich sofort, als ich mich auf seinem Schoss niederlasse. Seine Lippen erkunden mich mit ungebremster Neugier, während seine wissenden Finger die richtigen Punkte in mir drücken. Seine Behutsamkeit erstaunt mich aufs Neue. Immer wieder merke ich seine Finger, die den Punkt unsere Vereinigung ertasten. Ich lehne mich zurück, beginne mein Becken schneller zu bewegen und spüre, wie er noch tiefer in mich eindringt. Kain neigt sich mir entgegen, schlingt seinen rechten Arm um meine Hüfte und legt seine Lippen gegen meine Brust. Ich keuche erregt auf. Ich öffne meine Augen, sehe dabei zu, wie sich Kains Lippen um meine linke Brustwarze schließen. Sie wird augenblicklich härter, hebt sich deutlich und gierig hervor. Er wechselt auf die andere Seite. Dasselbe Spiel. Ich lasse mein Becken gierig kreisen. Ich will mehr. Ich will ihn noch tiefer spüren. „Schneller…“, keuche ich ihm entgegen, verlange die Härte süßer Befriedigung. Kains Blick wandert nach oben. Das glänzende Braun erfasst mich und lässt mich innerlich erbeben. So viel Erregung. So viel Verlangen. Neckend leckt er sich über die Lippen, lehnt sich an die Wand zurück und zieht mich an der Hüfte höher. Auch bei unserem ersten Mal hat er diese Position gewählt. Er beginnt kräftig nach oben zu stoßen. Die Reibung. Die Hitze. Ich stöhne erregt auf, genieße das intensive Gefühl, ihn tief zu spüren. Ich lechze danach. Die wohlige Härte flacht ab, wird zu langen, kontrollierten Stößen. Meine Finger ertasten den rasenden Puls des anderen Mannes und ich lasse mich unwillkürlich wieder in seinem Schoss nieder. Seine Lippen treffen meinen Hals, streicheln sich genauso, wie seine Hände unentwegt über meinen bebenden Leib. Die Bewegung seines Beckens stoppt nicht, sondern setzt sich langsam und gleichmäßig fort. Ich merke ihn umso tiefer. Ein weiterer Kuss, der diesmal mein Schlüsselbein trifft. Nur kurz, dann wechselt er wieder zu meinen harten Brustwarzen. Erst die Linke. Ein Saugen. Ein Knabbern, gefolgt von neckischen Lecken. Die Rechte. Das ekstatische Stöhnen perlt bereits von meinen Lippen, noch bevor er sein Spiel fortsetzen kann. Seine feuchten Lippen treffen meine Brust, küssen sich über mein Sternum. Der gleichmäßige, fast langsame Rhythmus seiner Stöße macht mich fast wahnsinnig. Ein leises Murren perlt von meinen Lippen. Kain packt mich, lässt mich rücklings aufs Bett fallen. Die Hitze erfasst mich wellenartig, während er mich ausgiebig und im selben Takt seiner Stöße zu befriedigen beginnt. Ich komme heiß in seiner Hand, als er sich mit einem intensiven Biss meiner linken Brustwarze widmet. Kain stoppt, pumpt mich etwas nach und sorgt dafür, dass sich mein Körper zuckend dem Orgasmus hingibt. Erst, als ich mich wieder etwas gefangen habe, beginnt er, weiter zu zustoßen. Die Härte seiner plötzlichen Stöße ist irritierend und im selben Augenblick unglaublich befriedigend. Während er vier letzte, kräftige Stöße gegen meinen selbst noch empfindlichen Leib setzt, stöhnt er tief und befriedigt. Ich spüre die Hitze seines Körpers, genieße für einen kurzen Moment das zufriedene Gefühl, welches sich in mir ausbreitet. Kains Lider bleiben geschlossen, während er sich zurückzieht. Unbewusst fasse ich mir gegen den feuchten Bauch, verziehe das Gesicht und stelle abschirmend mein Bein auf. Kain sieht mir dabei zu, bedenkt mich mit einem seltsamen Blick und lässt es unkommentiert. Wenigstens etwas. Ich sehe mich nach einer Möglichkeit, um das Zeug von mir runter zu bekommen. Mein Herzschlag beschleunigt sich, als sich der größere Körper des anderen Mannes über mich beugt und nach der Packung Taschentücher auf Jeffs Nachtschrank greift. Mein Blick haftet sich an den straffen, trainierten Bauch, der direkt über mir schwebt. Und bevor ich es begreife, lasse ich meine Finger über die fein definierte Modulationen streichen. Der Schwarzhaarige zuckt, bewegt sich aber nicht. Ich merke, wie sich seine Muskeln anspannen. Die leichte Bewegung unter fester, glatter Haut. Genauso wie beim letzten Mal spüre ich, wie sich mein Körper erneut regt und die Erregung noch heftiger zurückkommt. Meine Fingerbeeren gleiten über feste, weiche Haut. Seine rechte Seite entlang. Ich folge den unsichtbaren Spuren meiner Hände mit den Augen. Nehme jede noch so winzige Sonderheit in mich auf. Eine kleine Narbe über seinem fünften, rechten Rippenbogen und ein winziger Leberfleck, der keck unterhalb seines linken Musculus pectorialis major liegt. Ich sehe seine Brust entlang, über die dunkler gefärbte Haut seiner Brustwarze. In meinem Kopf formulieren sich die Fantasien über das Gefühl, genau diese Stelle mit meinen Fingerspitzen zu reizen. Feine Kreise ziehend. Entdeckend. Erlebend. Dabei zu spüren, wie sich die Haut direkt unter meinen Fingern erhärtet. Die Hitze zu spüren und wie sie in mich eindringt. Schicht für Schicht. Mein Körper reagiert auf die Worte, die sich in meinem Kopf bilden und meine ganz eigene Vorstellung kreieren. Das intensive Erfühlen macht es nur noch erregender. Ich habe noch nicht genug. Mein ausgehungerter Körper zeigt es deutlich. Kain rührt sich, rutscht etwas tiefer und somit mein Blick höher. Er trifft auf die feinen Schriftzeichen, die sich über die Innenseite seines rechten Oberarms ziehen. Ein lateinischer Schriftzug. Ich schaffe es nicht, ihn vollständig zu lesen, denn Kain richtet sich auf, lässt sich kniend zwischen meinen Beinen nieder. Er greift nach meinem aufgestellten Fußknöchel und zieht mich ein ganzes Stück an sich heran, dichter an seinen Schoss. Meine Erregung ist nun offensichtlich. Er wandert mit seinen Fingern über mein Schienbein und streichelt sich dann die innen Seite meines Schenkels entlang. An der Hüfte machen seine Hände halt. „Zweite Runde?“, fragt er mit einem eindeutigen Blick auf meine Körpermitte. Ich kann deutlich sehen, dass er ebenso wie ich an meine böswillige Behauptung denkt. Es wurmt ihn und das bereitet mir ein freudiges Kitzeln der Genugtuung. Ich gebe ihm keine Antwort und er will auch keine, denn mit Beendigung seiner Frage, greifen seine Hände mein Becken fester und er zieht es hoch. Mein Hintern hebt sich vom Bett ab und tippt gegen seine Oberschenkel. Obwohl ich das Gefühl habe, noch genügend Feuchtigkeit zwischen meinen Beinen zu spüren, greift er nach der Gleitcreme. Das kühle Gel lässt mich erschaudern. „Hast du ein Glück, dass ich so ein vitaler Kerl bin…“, säuselt er mir entgegen. „Halt einfach den Mund...“, erwidere ich flapsig, spüre als Beschwichtigung, wie seine Hand meinen Bauch entlang streicht. Meine eigenen weniger definierten, aber dennoch festen Muskeln ertastet. Die Spuren des ersten Aktes vermengen sich mit dem feuchtglänzenden Gel. Er streicht wieder runter, nimmt einen Umweg über meine pochende Erregung. Das feine Kreisen lässt mich genüsslich Stöhnen. Dann spüre ich, wie seine Finger erneut in mich eindringen. So tief. Ich keuche laut, bäume mich auf. Sein Blick ist derartig intensiv, dass er mir Gänsehaut beschert, die sich deutlich über meinen gesamten Körper ausbreitet. Verräterisch. Es beschämt mich mehr, als ich es für möglich gehalten hätte. „Lass das!“ Kain zieht seine Hand zurück. „Was soll ich lassen?“ Das feine Grinsen, welches sich auf seine Lippen legt, ist ebenso neckisch wie sein gelbenetzten Finger, der meine Erregung entlang streicht. Er tippt gegen meine Eichel, lässt seine Fingerkuppe kreisend wandern und verursacht mir ein tiefes Stöhnen, welches unwillig über meine Lippen fließt. „Du genießt und dank deiner überaus beschreibenden Zeilen weiß ich, dass die Ästhetik für dich nicht allein für die weiblichen Rundungen reserviert ist. Außerdem, so wie du gerade vor mir liegst, verspüre ich nichts mehr als das Verlangen deinen Körper ausgiebig zu kosten...So würdest du es doch sicher schreiben, oder?" Er hat Recht, denn wieder ist es eine Passage aus dem Text. Während seines Monologs beginnt er langsam in mich einzudringen und gemächlich zu stoßen. Entzieht sich mir bis auf die Spitze seiner Erregung, um ebenso bedacht wieder in mich zu gleiten. Ich ziehe bei jedem Mal die Luft ein, stöhne, sobald er wieder tief in mir ist. Dann entfernt er sich vollends. Ich spüre seine Hand, wie sie über meinen Oberschenkel streichelt. Weiter zu meinem Becken und über meinen Bauch. Ich spüre seine Härte. Sie streicht über den Punkt unserer vorigen Vereinigung. Nippend. Bettelnd. Ich habe ihm nichts entgegen zu setzen, außer willigem Fleisch und das weiß er. Langsam, fast vorsichtig schiebt er sich in mich. Beobachtet jeden verschwindenden Zentimeter seiner Erregung. Es gefällt ihm. Ich kann es deutlich sehen. Tiefer, immer tiefer. Das Gefühl ist berauschend. Kain beugt sich zu mir runter. Seine Lippen berühren meine, doch bevor ich mich abwenden kann, merke ich seine Zähne, die spielerisch meine Unterlippe umfassen. Prickelnder Schmerz. „Sag mir, warum ich manchmal das Gefühl habe, dass du meinen Körper mit deinen Blicken verschlingst." Erwischt. Ich kann ihm nicht darauf antworten und will es auch nicht. Ein weiterer Biss. Diesmal an meinem Hals. Nur so stark, dass garantiert kein Mal zurückbleibt. Ich wehre mich trotzdem und der Schwarzhaarige greift nach meiner Hand, drückt sie neben meinem Kopf ins Kissen. „Du bist doch selbst kein Kostverächter.“ Seine feuchten Lippen drücken sich gegen meinen Kiefer. Ich neige meinen Kopf zurück und Kain leckt sich meinen Hals hinab, bevor er sich aufrichtet und mich hart und intensiv nimmt. Ich komme wieder vor ihm, genieße die einnehmenden Stöße, mit denen er mich in Besitz nimmt und bin mir sicher, dass ich noch immer nicht genug habe. Kain lehnt sich schweratmend gegen die Wand. Seine Brust hebt und senkt sich in einem Tempo, das darauf schließen lässt, dass das Ganze ziemlich anstrengend gewesen ist. Ich richte mich auf, werfe einen Blick zu meinem Bett. „Kein Vorspiel und kein Nachspiel!“ Diese Aussage soll mich reizen. Sie schafft es. „Wer sagt, dass wir schon beim Nachspiel angekommen sind?“, kontere ich und bezwecke einzig und allein damit den Schwarzhaarigen zu ärgern. „Was bist du? Ein Sexflummi…“, keucht er mir entgegen, als ich mich auf seinen Schoss niederlasse und deutlich klar mache, dass ich noch eine Runde nachlegen kann. „Den Mund doch zu voll genommen?“, frage ich neckisch, sehe das Blitzen in den warmen braunen Augen des anderen Mannes. „Na warte...“ Kain packt mich im Nacken und zieht mich in einen festen, intensiven Kuss. Herbe Süße erfasst mich, lässt mich für einen Moment Widerstand leisten. Doch dann reißt sie mich davon. Ich erwidere die wohlschmeckende Verlockung und spüre, wie er mich mit jeder weiteren Berührung unserer Lippen mehr und mehr gefangen nimmt. Genau das, was ich verhindern wollte. Seine Lippen sind gierig. Sie kosten und erleben. Mein Puls geht auf Anschlag, als sich Kains warme Hand um meine Erregung schließt. Die Hitze dringt in mich ein, lässt mich wohlig auf keuchen, während sich der Schwarzhaarige an meiner Unterlippe gütlich tut. Sanftes Saugen. Genüssliches Knabbern. Die berauschende Wonne, die über mich hereinbricht, ist unglaublich gefährlich. Es ist deutlich zu spüren, wie sehr er diese Form des Körperkontakts mag und wie sehr ihm das im vergangenen Teil unseres Geschlechtsaktes gefehlt hat. Meine Zungenspitze gleitet neckend über die empfindliche Mitte seiner Oberlippe. Ein stilles Einvernehmen für ihn, noch mehr zu verlangen. Die Hand in meinem Nacken drückt mich wieder tiefer, während die andere genüsslich die Spitze meiner Erregung umschmeichelt. Die feuchte Reibung ist wie hauchzartes Betteln. Ich habe nur noch das Bedürfnis, nach mehr zu schreien. Kains leidenschaftliche Küsse dampfen mein Stöhnen und intensivieren das herausragende Gefühl seiner wissenden Finger. Dosierte Reibung an genau den richtigen Stellen. Der zunehmende Druck, wenn er zu meiner Eichel gleitet. Er kostet es vollkommen aus, dominiert mich. Ich nehme es willig hin. Er beginnt mich stärker zu pumpen, sorgt dafür, dass ich mich kaum mehr auf die Küsse konzentrieren kann. Nutzt sein Wissen, um mich an den Rand des Höhepunkts zu treiben und um mich kurz davor in einen alles einnehmenden Kuss zu ziehen. Wieder und wieder. Ich bin ihm vollkommen ausgeliefert und ich genieße es. Bis er mich endlich über die Klippe springen lässt. Ich komme heiß in seine Hand. Keuchend kippt mein Oberkörper etwas nach vorn. Kains Hand verschwindet. Ich lasse meine Augen geschlossen, so lange ich noch nach einem geregelten Puls suche. „Du siehst befriedigt aus.“ Nur mit einem Auge blicke ich ihm entgegen. Kain grinst, beißt sich dann auf die Unterlippe und lässt seine Augenbraue leicht nach oben zucken. „Für den Moment...“, sage ich, beuge mich weiter nach vorn zu seinem Ohr. Meine Lippen berühren die Helix. Ich lecke federleicht über die warme Haut. „Du schuldest mir trotzdem einen richtigen Fick“, raune ich ihm entgegen und spüre mit Genugtuung, wie sich seine Schultern straffen. Dann sehe ich ihn an. Das intensive Braun seiner Augen glänzt. „Dafür, dass du dich vorher so vehement geweigert hast, sind das große Töne“, kommentiert der Schwarzhaarige meine ungewohnte Koketterie. Seine Hand streicht über meinen Oberschenkel. Kain lässt dabei seinen Daumen über meinen Innenschenkel gleiten. Ein Kitzeln und ein Zucken durchfahren mich. „Kriegst du Angst?“, frage ich provozierend, weiche seinem Blick nicht aus. Ich bin in vielerlei Hinsicht nicht leicht zu handhaben, das sollte er langsam wissen. Er packt mich hart im Nacken, zieht mich runter, sodass meine Mund nur wenige Millimeter vor seinem stoppt. Mein Herz macht einen Satz und prallt dann wieder heftig gegen meinen Brustkorb. „Du?“, fragt er leise. Selbst die Vene an meinem Hals spüre ich deutlich. Sie pulsiert gegen Kains Handballen. Verräterisch. Wahrheitsrufend. Der Kuss, der folgt, ist liebevoll. Zärtlich. Er wirft mich aus der Bahn und das rebellische Gefühl verpufft. Kain entlässt mich aus seinem Griff und schließt die Augen, während er sich zurücklehnt. Seine Hand streichelt sich von meiner Schulter zu meiner Hüfte, bleibt über meinem linken Beckenknochen liegen. Trotz meiner eigenen Wärme ist es die eindringliche Hitze, die von ihm ausgeht und mich selig in die absolute Befriedigung wiegt. Ich löse mich aus meiner Starre und mache als Erstes die Nachttischlampe aus. Erst im Dunkeln wechsele ich zu meiner eigenen Zimmerhälfte. Ein leises Murren folgt mir. „Das ist irgendwie demütigend...“, meckert Kain in die Dunkelheit hinein und ich lasse mich grinsend auf mein Bett fallen, lande auf der Flasche Vanillesoße und stelle sie zur Seite. Ich ziehe meine Schlafklamotten unter dem Kissen hervor und entferne mir mit einem Taschentuch die verräterische Feuchtigkeit vom Körper. „Benutzt und weggeworfen...“, ergänzt er. Wie theatralisch. „Sei froh, dass ich dich nicht rauswerfe...“ „Du und welche Armee?“ Kain kichert verschwörerisch und lässt sich dann zur Seite fallen. Erst als sich meine Augen richtig an die Dunkelheit gewöhnt haben, sehe ich, dass Kain mit der Front zu mir auf der Seite liegt. Ich erkenne nicht, ob seine Augen noch geöffnet sind, doch ich bezweifele es. Die letzten Male ist er auch so gut wie sofort eingeschlafen. Ich bleibe ruhig stehen und sehe zu dem anderen Mann. Ein erneutes Rufen in meinem Inneren. Es verlangt nach einer sinnvollen Begründung für mein Verhalten. Ich habe keine. Außer, dass ich schlecht Nähe zu lassen kann, aber auch das würde ich niemals offen aussprechen. „Erzählst du mir noch von deinem Vortrag?“ Ich zucke zusammen, als Kains verschlafene Stimme nuschelnd durch den Raum dringt. „Wozu?“, frage ich ausweichend und will gar keine Antwort. „Komm schon, du weißt, dass ich die Hälfte der Fachschaft beim Vornamen kenne…“ Schon wieder eine dieser leeren Drohungen. „Schön für dich…“, gebe ich genervt von mir. Dann soll er die halbe Fachschaft doch danach fragen und mich in Frieden lassen. „Warum bist du nur so stur?“, kommt es undeutlich vom anderen Bett. Kain brabbelt die Frage unwirsch ins Kissen. „Tu was du nicht lassen kannst…“ Damit ist für mich das Gespräch beendet. Ich seufze und ziehe mir das langärmelige Shirt über den Kopf. Zu meinem Leidwesen finde ich den rechten Ärmel nicht. Bitte erschießt mich doch endlich. Ich kämpfe einen fast aussichtslosen Kampf, der meine geistesgewärtige Lichtausschalt-Aktion nur noch mehr rechtfertigt, brumme unverständliche Flüche und lasse mich ermattet ins Bett fallen. Kain schweigt. Himmel, das Anziehen hat mich gerade mehr Energie gekostet als der Sex. Trotz alledem brauche ich eine ganze Weile, bis ich wirklich eingeschlafen bin. Der Pudding in meinem Traum beginnt plötzlich zu klingeln. Ich erwache auf dem Rücken liegend und weiß nach dem ersten Zucken des kleinen Zehs, dass das ganz schlecht war. Das Dudeln hört auch nicht auf. Blind taste ich nach dem nervenden Gerät und stoße auf nichts als warme Luft. Nach kurzem Abwägen meiner Chancen, das Ganze durch pure Willenskraft zu beenden, schätze ich ein, dass ich nicht mal eine Kerze mit bloßen Gedanken ausbekäme. Ich taste nach dem nervigen Gerät, blitze mit nur einem Auge nach dem angezeigten Störenfried. Das Wecktrauma meiner Jugend. Ich gehe ran und bekomme im ersten Moment nur ein Brummen zur Stande. „Guten Morgen mein Schatz, du klingst aber nicht sehr munter.“ Meine Mutter hingegen klingt schrecklich wach. Ich schiele zu dem Wecker, der auf meinem Nachttisch steht. Es ist halb 8. Mit dem gleichen Blick sehe ich noch zum Nachbarbett. Es ist leer. Ich blinzele zweimal. Es bleibt leer. „Wir hatten eine Abmachung…erinnerst du dich? Vor 10 Uhr keinen Terror“, kommentiere ich den fröhlichen Morgengruß meiner Mama. Das leere, gemachte Bett irritiert mich. „Ja, die Vereinbarung gilt meiner Erinnerung nach nur, wenn du unter unserem heimeligen Dach nächtigst.“ Immer diese Korinthenkacker. Ich brumme ein weiteres Mal und richte mich etwas auf. „Wie geht es dir?“, fragt sie weiter, nachdem ich noch immer nur Laute von mir gebe, die wie die eines depressiven Braunbäres klingen. „Ich atme, esse und unterliege dem Verfall…also ganz gut.“ Ich höre das erwartete Seufzen und bin mir ziemlich sicher, dass sie in der Küche sitzt und zweifelnd den Kopf schüttelt. Ja, was ist mit mir schief gelaufen? Das fand ich schon witzig, als ich noch zu Hause gewohnt habe. Bei Anwesenheit würde sie mich jetzt in den Arm nehmen und mir kopfschüttelnd einen Kuss gegen die Schläfe drücken. Für einen Moment sehne ich mich danach. „Okay, weswegen rufst du an? Ich habe Lena schon mitgeteilt, dass ich in der zweiten Juliwoche mit Jeff aufschlage.“ Sie weiß, dass ich lebe und dass ich dieses Jahr noch nach Hause komme. Damit ist meines Erachtens die familiäre Meldepflicht erfüllt. Ich streiche mir die Haare zurück, sehe zu Jeffs Bett. Wo ist Kain? „Abgesehen davon, dass das sehr unkonkret ist, habe ich ein anderes Anliegen. Eine Bitte.“ „Ich begleite Lena nicht zu dem Konzert…Nicht mal mit Ohrenschützer.“ Und Anti-Fangirl-Spray aus reichlich Butansäure. Ach, ich stehe einfach auf diese knuddeligen Carboxylgruppen. „Welches Konzert?“ „Konzert?“ Oh je. „Worum wolltest du mich bitten?“, setze ich sofort nach. Ich bin zwar ein ziemlich ignoranter Bruder, aber meine Schwester absichtlich in die Miesere bringen, dafür habe selbst ich zu viel Gewissen. Ich befürchte nur, dass ich der Bitte jetzt auf jeden Fall nachkommen muss. Was kann ich auch immer meine Klappe nicht halten. Meine Mutter zögert immer noch mit einer Antwort. Ich höre schon jetzt Lenas aufgebrachte Motzstimme, mit der sie mich am Telefon zur Schnecke macht. Das wird ein Spaß. Ich ziehe mir für einen Moment die Decke ins Gesicht und schreie geräuschlos. „Ich möchte gern, dass du im August nochmal nach Hause kommst.“ In meinem Magen bildet sich ein Stein. Sie muss nicht mal ein Datum erwähnen, denn ich weiß sofort, warum sie mich darum bittet. René. Ebenso schnell wie das Verstehen bildet sich in mir der Widerstand. „Ich kann nicht…“ Ich schaffe nicht meine Begründung auszuführen, da unterbricht mich meine Mutter bereits. „Bitte, versuche es…“ Seit ich mit der Schule fertig bin, habe ich es geschafft, diesem Termin im August aus dem Weg zugehen und ich habe nicht vor, es zu ändern. „Mama, ich muss los…“ Mit der Verabschiedung kommt ein letzter Versuch mir ins Gewissen zu reden. Auch, wenn ich ihn scheinbar ungerührt abblocke, trifft er mich. So wie jedes Mal. Nach dem Auflegen lasse ich mich noch mal ins Bett fallen. Ich rolle mich schwerfällig auf den Bauch und drücke mein Gesicht ins Kissen. Ich schreie ein weiteres Mal. Diesmal geräuschvoll. Danach setze ich mich auf. Mein Becken fühlt sich seltsam schwer an und auch als ich aufstehe, wird es nicht besser. Der Versuch, mich durch Strecken in Form zubekommen, misslingt sträflich. Genauso wie die Anstrengung, danach wieder gerade zu stehen. Ich krieche mehr als wirklich zu gehen, krame mir aus dem Kleiderschrank eine bequeme Jacke und lasse mich dann schon wieder auf meinen Schreibtischstuhl nieder. Meine Hose liegt mitten im Raum und scheint unerreichbar. Zum Schreiben braucht man keine Hose. Ich drehe mich von dem bösen Kleidungsstück weg und stocke. Auf meinem Schreibtisch liegen die sechs Karten. Die Nummer Sechs zuoberst. Kains Worte gehen mir durch den Kopf. Ich bekomme unwillkürlich eine Gänsehaut und frage mich sofort, was er sich vorstellt, interessantes über mich erfahren zu können. Ich brauche eine Zigarette. Ich starte einen neuen gelingenden Versuch, an meine Hose zu kommen, greife mir meine Jacke samt Zigaretten und weiche auf dem Weg nach draußen geschickt Micha aus, dem deutlich anzusehen ist, dass er heute schlechte Laune hat. Sein linkes Augenlid beginnt bereits zu zucken und sein Zeigefinger verharrt in einer für ihn typischen Pass-bloß-auf-Position. Er ist sichtbar gereizt. Ich gehöre zu der Sorte, die das dann noch verstärkt. Nicht mal bewusst. Heute lasse ich es lieber nicht darauf ankommen. Außerdem hänge ich zu sehr an meinen Vergünstigungen, um dem bösartigen Kitzeln in meinen Fingerspitzen nachzukommen. Ich höre ihn laut schimpfen, während ich aus der Tür trete und meinen ersten Glimmstängel fast im Foyer anzünde. Nach zwei Zigaretten spüre ich, wie sich mein leerer Magen meldet und verschwinde wieder nach oben. Ein kurzes Intermezzo im Waschraum, samt schamerfüllten Ignorieren meines Spiegelbilds. Aufgefrischt oder eher für die Außenwelt tragbar, setze ich mich an meinen Computer, da ich bis zu meinem ersten Seminar noch etwas Zeit habe. Mein Blick richtet sich sofort auf die beschriebenen Karten, die noch immer wie von Kain abgelegt neben meiner Tastatur darauf warten, dass ich eine Entscheidung treffe. Ich trau dem Braten nicht, schreit es in meinem Inneren. Kain wird nie im Leben einfach stillschweigen und mich in Ruhe lassen, wenn wir uns wegen irgendwas in die Haare bekommen und ich die Reißleine ziehe. Dafür ist sein Hang alles zu Brei zureden zu stark ausgeprägt. Wenig Batmanlike. Eher Scheherazade meets Tony Stark. Dass er den Märchenonkel machen kann, hat er mir schon tatkräftig bewiesen. Ich ziehe mein Handy ran, öffne Sharis Nachricht, um mir das Thema ihres letzten Kurses ins Gedächtnis zu rufen. Die SMS lässt mich auch beim wiederholten Lesen schmunzeln. Das Mädchen ist purer Zucker. Nichts für einen diabetesgefährdeten Griesgram wie mich. Ich öffne ein neues Dokument. Fluor, Jod, Chlor und…Blockade. Auch nach fünfminütigen Grübeln will mir das fehlende Halogen nicht einfallen. Der Sex hat mir das Gehirn weichgekocht. Andere kriegen einen harten Schlag auf den Kopf um zu vergessen und bei mir reicht rhythmische Bettgymnastik. Wenn das nicht einen Applaus wert ist. Ich mache mich trotz zeternder innerer Stimme daran, das Arbeitsblatt für Shari halbwegs fertig zu stellen, entdecke weitere schwerwiegende Wissenslücken und nehme mir vor, im Baumarkt einen bequemen Strick zu besorgen. Vor dem Verlassen des Zimmers krame ich mir das Lehrbuch aus dem ersten Semester hervor, sinniere, dass das auch eine gute Beschwerung fürs Ertränken wäre und verschwinde zu meiner Vorlesung. Im zweiten Seminar des Tages treffe ich auf einige Kommilitonen, die sich gestern meine Katastrophe mit angehört haben. Obwohl das Kichern und Gelächter sicher nicht mir gewidmet sind, verspüre ich das Bedürfnis, die Radieschen von unten zu kraulen. Ich drehe die Musik in meinen Kopfhörern lauter. Wie zur Bestätigung beginnt ´Bad day´ von Daniel Powter und ich frage mich zum wiederholten Male, warum ich der Fußabtreter des Zufalls sein muss. Ich denke an die gestrige Nacht. Okay, so schlecht war mein Tag letztendlich gar nicht gewesen. Umso mehr ärgert mich der Umstand, dass der Schwarzhaarige heute Morgen einfach verschwunden ist. Unwillkürlich sehe ich auf mein Handy. Nichts. Was erwarte ich eigentlich? Eine Bewegung neben mir. Ich sehe sie aus den Augenwinkel heraus. Es sind in erster Linie ihre roten Haare, die mir auffallen und die mir im selben Moment eine Würgereiz verursachen. Neben ihr steht eine korpulente Brünette in einem merkwürdigen Einteiler. Mit Blumenmuster. Grenzwertig. Kains Ex-Plage sieht direkt zu mir, nachdem ihre Begleiterin etwas gesagt hat. Ihre Lippen bewegen sich, doch ich kann es nicht verstehen. Die Rothaarige war nicht in der Hiobsvorlesung gewesen, aber ich bin mir sicher, dass sie mit Freude jedes Wort aufsaugt, welches meine Fehlleistung skizziert. Ob sie den Mut hat, mir hier und jetzt eine Giftspritze zu setzen? Ich bezweifele es. Dennoch verschränke ich unbewusst die Arme vor der Brust und zwinge mich, auf meinen Bildschirm zu sehen. Sie lassen sich drei Reihen vor mir nieder. Ich kann ihr Profil sehen. Ihre definierten Wangenknochen und die garantiert operierte Nase. Sie ist zu klein und zu zierlich. Zwischen den Strähnen ihres Haares blitzen gigantische goldene Ohrringe hervor. Ihre Lippen sind wieder rot. Ohne Kopfhörer würde ich sie reden hören können. Obwohl ich in keiner Weise das Verlangen verspüre, darüber nachzudenken, kann ich nicht verhindern, dass es mein Kopf von ganz allein macht. Ein typischer Tussidialog. Gespickt mit Trivialitäten und den klassischen Klischees. Vielleicht sollte ich etwas Derartiges in meinem neuen Buch einbauen. Eine bunte Mischung aus Dramatik und Pseudokomödie. Es wäre ein guter Kontrast zu dem sonst eher melancholischen Grundtenor der Geschichte. Außerdem ärgere ich damit garantiert Brigitta und das lässt meinen Enthusiasmus im Kreis tanzen. Ich bin abgelenkt und damit unkonzentriert, kritzele einen ersten Entwurf für die Dummchendiskussion in meinen Block und kriege kaum etwas vom Seminar mit. Es ist auch nicht so wichtig, denn die meisten Dozenten und Professoren reden nur noch über die Klausuren. Das Lernen kann uns eh niemand abnehmen. Bisher habe ich Glück mit der Verteilung meiner schriftlichen Prüfungen. Das ist nicht immer so. Ich stelle auch das Arbeitsblatt für Shari fertig. Auch, wenn mir immer noch nicht einfällt, was das letzte Halogen ist. Ich formuliere daraus einfach eine Frage und klopfe mir für meinen grandiosen Einfall symbolisch auf die Schulter. Jeff wartet nach dem Seminar im Foyer des Hauptgebäudes auf mich. Er ist allein und ich für einen Sekundenbruchteil verwundert. „Kannst du das mal halten?“ Jeff drückt mir seinen Rucksack in die Hand und verschwindet zur Toilette. Mit beiden Taschen bleibe ich im Flur stehen. Degradiert zum Garderobenständer. Früher hat er mich immerhin noch begrüßt. Der Unmut darüber lässt sich deutlich in meinem Gesicht ablesen. Jetzt weiß ich, wie sich Lumière und von Unruh gefühlt haben. Mit einem jeffreifen Seufzer betrachte ich die neben mir hängende Informationstafel. Ein Footballspiel am Samstag. Nicht mal bei strahlenden Sonnenschein. Ein Flyer für die kommende Wohnheimparty. Diesmal bei Kain und Abel. Nein, nein und nochmal nein. Ich überfliege die Unmenge an Hilferufen nach einem Tandempartner und stoppe bei einem Verkaufsangebot von gebrauchten Fachbüchern. Biologie und Chemie. Ich reiße mir eine Nummer ab und lehne ich mich gegen die Wand Jeff braucht ewig und ich lasse gelangweilt meinen Blick durch die Studentenhorden wandern. Eine bekannte weibliche Stimme lässt mich aufsehen. Sina. Neben ihr steht Kain. Vollkommen ins Gespräch vertieft. Beide halten einen Kaffeebecher von diesen sagenumwobenen Coffeeshop in der Hand. Sina lächelt aufreizend. Die Spitzen ihres blonden Haares kitzeln seinen Hals. Sowie seine Wange, als er sein Gesicht tiefer zu ihr hinabbeugt, dichter an ihre sanft glänzenden Lippen. Sie flüstert ihm etwas entgegen. Es ist etwas Gutes, das erkenne ich an seinem immer stetig werdenden Lächeln. Die meisten Frauen wissen ganz genau, welche Töne sie anstimmen müssen, um in Männer bestimmte Assoziationen zu wecken. Ein Wort füllt ganze Erwartungen und jeder hat gewisse Bilder im Kopf. Verknüpft man sie dann noch mit gezielten Bewegungen und Gestiken, sind es Automatismen, die ganze Bedeutungen hervorbeschwören. Autoren spielen damit. Menschen benutzen sie. Körpersprache ist keinesfalls immer bewusst. Im Gegenteil. Ich bin nicht immer gut darin sie zu lesen. Kain antwortet, hält sich dabei die Hand vor den Mund. Ein eindeutiges Flüstern. Ein Lachen. Sinas helles. Kains wohltuendes. Sie reckt sich ihm deutlich entgegen und Kains gesenkter Blick sucht und findet ihr wohlgeformtes Dekolleté. Es schreit förmlich danach, beschaut und berührt zu werden. So wie gestern Abend. In meinem Kopf spinnen sich Szenerien, so wie sie in meinen Geschichten vorkommen würden. Finger, die die sanften Rundungen nachmalen und zärtlich streichelnd die empfindliche Haut necken. Das Gefühl ihrer Weichheit unter leicht rauen Fingerspitzen. Wird sich ihr Körper neckisch in die Berührung lehnen und wird er mit gespielter Scham entfliehen. Es ist das brennende Verlangen, was danach schreit, befriedigt zu werden. Ich merke nicht, dass ich Kain und Sina noch immer anstarre. Es sind ihre ausdruckstarken blauen Iriden, die mich für einen Augenblick erfassen. Nicht mehr als ein Augenaufschlag, der die beiden in meinem Kopf stillstehen lässt. Sinas Ausdruck ist sinnlich. Ich verstehe, warum sie bei vielen Männern gut ankommt. Manche Frauen haben einfach diese gewisse Ausstrahlung. Doch fehlt der unschuldige Aspekt, wie damals bei Luci. Ich denke an den Moment mit meiner Eisprinzessin. Ihre Mimik. Ihre Gestik. Der Inbegriff unschuldiger Fantasie. Sinas Gesten sind wissend und dadurch weniger reizvoll. Und viel weniger erwähnenswert. Ich wende mich ab. Frischfrisiert und umgeben von einer penetranten Wolke neuen Duftes taucht mein Mitbewohner wieder auf. Auch sein Blick wandert zu unserem Kommilitonen. Das Grinsen, welches sich auf seinem Gesicht bildet, ist wissend. Es schreit seine Gedanken förmlich heraus. Es nervt mich, ohne, dass er ein Wort sagt. Je näher Jeff mir kommt, je mehr beginnt es in meiner Nase zu kitzeln. „Puh, Massaker bei Douglas…gab es Beckham im Sonderangebot?“, frage ich, reiche meinem Kindheitsfreund seinen Rucksack und ergebe mich einem unwillkürlichen Niesen. „Nö, Bruno Banani…obwohl ich David Beckham gern mal testen würde.“ Er zwinkert und schenkt mir einen kecken Blick, der diese amouröse Zweideutigkeit unterstreichen soll. Zu viel Information. Ich wünsche mir den scheinheterosexuellen Blonden zurück und verdrehe die Augen. „Ich bemitleide jeden, der mit dir in einem Hörsaal sitzen muss“ Auch ich bete um plötzlich auftretende Anosmie. Ich werde nicht erhört und fange an zu zwinkern, weil sich Jeffs Wolke langsam in meine Augen ätzt. „Frauen stehen auf gut riechende Männer. Lass dir das gesagt sein…“ Er muss es ja wissen. Einmal schwungvoll mit dem Klischeehammer. Ich bin erbärmlich. Jeff beugt sich zu mir und ich weiche aus. „Ein bisschen mehr Geselligkeit würde dir nicht schaden.“ Er zwinkert schon wieder. Vielleicht ist das krankhaft. Jeff deutet in die Richtung, in der eben noch Kain und Sina standen. Ein kurzer Blick. Mittlerweile sind sie verschwunden. Mein Mitbewohner giggelt und hängt sich um meinen Hals. Wie befürchtet, drückt er mir seine kühle Hundenase in die Halsbeuge. Furchtbar. „Deine Platte hat einen Sprung. Kauf dir…“, setze ich an, doch als Jeff abrupt von mir ablässt, breche ich ab. Verwundert sehe zu dem blonden Mann. „Was?“, frage ich irritiert und der Gesichtsausdruck meines Zimmergenossen macht es nicht besser. Er ist eine Mischung aus Verwirrung, Neugier und etwas, das ich nicht definieren kann. „Du riechst… anders.“, kommt es nach kurzem Zögern. Er beugt sich noch mal zu mir, schnuppert und hebt dann eine seiner fein gezupften Augenbrauen in die Höhe. Ich kann ihm ansehen, wie es in seinem Kopf arbeitet. Unwillkürlich stelle ich mir vor, wie ein paar Zahnräder in seinem Schädelinnerem zu rotieren beginnen. „Anders?“, frage ich nicht weniger inhaltfordernd, als bei meinem hübschen Fragenwort. Wieso weiß Jeff, wie ich normalerweise rieche? Das Getriebe des Blonden rattert weiter, doch anstatt mir seine Äußerung zu erläutern, startet er einen neuen Schnupperangriff. Ich halte ihn zurück. „Würdest du bitte damit aufhören?“, sage ich milde warnend. Natürlich hat es bei meinem quirligen Mitbewohner keine Wirkung. Anscheinend waren 12 Jahre intensiver Konditionierung fruchtlos. Er beugt sich ein weiteres Mal zu meinem Hals, so als würde er bei diesem Versuch herausbekommen, was das Mysterium ist. Ich greife mit Zeige- und Mittelfinger nach seinem Zinken und klemme ihn dazwischen ein. „Jeff, ich sorge dafür, dass du lange Zeit keine olfaktorische Wahrnehmung mehr hast, wenn du nicht aufhörst…“ Eine ziemlich leere Drohung, denn ich würde Jeff niemals physisch anpacken. Genäselte, unverständliche Worte. Ich genieße noch einen Moment lang meine Oberhand und gebe den anderen dann frei. „Musst du immer so rabiat sein?“ „Musst du mich immer den letzten Nerv kosten?“, gebe ich retour, sehe dabei zu, wie er sich die Nase reibt und wende mich ohne weiteres Motzen abwartend Richtung Mensa. Jeff hält mich zurück. „Wir müssen auf Abel warten, damit er uns findet…“, sagt er und sieht sich dabei nach dem Angesprochenen um. „Warum? Dich erschnuppert er sogar inmitten eines Misthaufens.“ Jeffs wenig amüsiertes Lachen ist trocken und kurz. Statt mich zu rügen, verwendet er ein effektiveres Mittel an, um mich zu bestrafen. Er labert mich voll. Seine nach 12 Jahren perfektionierte Methode um mir deutlich zu machen, dass er mir ein besserer Freund ist, als ich ihm. Ich ertappe mich dabei, dass ich den Kragen meines Pullovers hochziehe und daran schnuppere. Vielleicht rieche ich nach Kain? Unmöglich. Ich richte meine Klamotten augenblicklich. Mein Kindheitsfreund hat weniger Glück mit seinen Klausuren. Vier davon verteilen sich auf die letzten zwei Tage der Prüfungswoche. Ich habe tatsächlich Mitleid, was ich mir nicht anmerken lasse. Ich bin mir sowieso sicher, dass Jeff mindestens eine der Klausuren ausfallen lässt, um sie in Ruhe am Ende des Semesters schreiben zu können. Gängige Praxis. Eine Hausarbeit, die er während der vorlesungsfreien Zeit schreiben muss, hat er auch. Er erläutert mir bis ins kleinste Detail, über was er schreiben will. Ich verstehe nur Steine und große Steine. Sein Enthusiasmus hat dennoch etwas Hypnotisches. Ich starre träge auf einen Punkt am anderen Ende des Flurs. Erst die schreiende Schweigsamkeit, holt mich zurück. Abel ist hinter Jeff aufgetaucht, legt in dem Moment seine Lippen auf die meines Kindheitsfreundes, als ich aufsehe. Das seltsame Gefühl, welches mich erfasst, zwingt mich dazu, wieder weg zu sehen. Ob ich mich je daran gewöhnen werde? Ich bin mir nicht sicher. „Erinnere mich daran, dass ich Professor Thomas keinen Gefallen mehr tue“, sagt Abel, lässt einen Seufzer folgen, der nicht mal ansatzweise an Jeffs heranreicht und streift sich den Rucksack von der Schulter. Ich versuche dem gennannten Namen ein Gesicht zu zuordnen, doch ich gebe auf, als mir die Möglichkeiten nach 6 Gesichtern ausgehen. Ich muss auch nicht alles wissen. Anscheinend sieht Jeff das anders. Ich sollte das mit der Konditionierung unbedingt noch mal in Angriff nehmen. Vielleicht trainiere ich ihm einen Pawlowischen Reflex an. Das wäre sicher spaßig. Auf jeden Fall muss ich ihm deutlich machen, dass bei mir Schweigen tatsächlich daraufhin deutet, dass ich kein Interesse daran habe, mehr zu erfahren. Ohne Umschweife beginnt er mir zu erläutern, dass sich zurzeit die Football-Mannschaft unserer Partneruniversität hier aufhält. Das Freundschaftsspiel am Samstag und eine Unmenge geplanter Parties. Schließlich müsse man den fremden Studenten zeigen, dass auch wir den Konsum von Ethylethanol auf die Spitze treiben können. Nichts hinterlässt mehr Eindruck, als ein Berg Schnapsleichen vor den Toren des akademischen Aushängeschilds einer Stadt. Jeff ist völlig außer Häuschen. Ich bin mir sicher, dass er die nächsten Nächte nicht in seinem Bett verbringen wird. „Prof. Thomas hat mir gestern eine Liste mit Sehenswürdigkeiten in die Hand gedrückt und gemeint, dass wir diese bis zum Nachmittag geschafft haben sollen“, setzt nun Abel fort und ich schaffe es tatsächlich, ein klein wenig Interesse hervor zu kitzeln. Ich erinnere mich dunkel daran, dass Jeff als auch Abel im Laufe der vergangenen Wochen mehrfach davon gesprochen haben, dass er den Touristenführer spielen soll. Dass es sich dabei um eine Gruppe testosterongesteuerte Muskelberge handelt, war mir entgangen oder ich habe es gleich als unnützes Wissen wieder aussortiert. Passiert mir oft. Ich kriege Lust auf Pudding. „Wir haben nicht mal die Hälfte geschafft, da schrien alle Hunger.“ Abel macht ein paar seltsamen Bewegungen, reißt wedelnd seine Hände in die Luft und ich frage mich trotz voriger Erklärung, was er damit ausdrücken will. „Finde mal ein Lokal, in dem man 40 hungrige Mäuler gleichzeitig stopfen kann.“ Spontan fallen mir gleich mehrere ein. Zwei mit rot-gelben Logo. Abel ist nicht der Schnellste. Wahrscheinlich sind ihm deswegen die Fast-Food-Ketten nicht in den Sinn gekommen. „Ein Laden sah viel versprechend aus, aber sie wollten uns nicht reinlassen, da sie erst später öffnen… es war furchtbar“ „Vielleicht hättet ihr es mit ´Sesam öffne dich´ probieren sollen“, schlage ich vor, ernte von Jeff einen mahnenden und von Abel einen fragenden Blick. Beides wundert mich nicht. „Die Bedienung muss ernsthaft geglaubt haben, sie ist bei der versteckten Kamera.“ Oder bei Alice im Wunderland. Ich bin ein Fan von Absolem. „Dabei hätte sie das Geschäft der Woche mit euch gemacht…“, sagt Jeff aufmunternd und pattet sanft seine Hand. Abel jammert noch etwas weiter und mein Mitbewohner gibt sein fürsorglich Bestes. Wenn er ihm jetzt noch einen Keks reicht, dann werde ich ihn nie wieder ernstnehmen. „Hey.“ Die Rothaarige kommt auf uns zu. Ihr Blick wandert von Abel zu Jeff und wirklich nur für eine hundertstel Sekunde zu mir. Die Bosheit reibt sich in meinem Kopf bereits die Hände. Es ist wie ein Reflex und ich kann nichts dagegen tun. „Habt ihr Kain gesehen?“, fragt sie, klingt dabei extrem unbehaglich. Ein weiterer Blick zu mir. Jeff setzt an, doch ich komme ihm zu vor. „Zuletzt tief versunken ins Sinas Ausschnitt“, sage ich durch die Tatsache beflügelt, dass ihr Unwohlsein allein meiner Anwesenheit geschuldet ist. Das ist elektrisierend und ich vergesse sogar mein Verlangen nach Pudding. Ihre roten Lippen kräuseln sich. Jeffs Ellenbogen trifft meine Seite. Ich bin voller gehässiger Endorphine. Ich merke nichts. „Was? Aus mir spricht die reine Sorge!“, erkläre ich mit ernster Miene. „Klar“, kommentiert Abel. „Was, wenn sich Kain verirrt hat? Solch ausgeprägte Körperformationen ist er schließlich nicht gewöhnt“, setze ich verdeutlichend nach, forme mit meinen Händen kurz einen weiblichen Vorbau und lasse sie wieder sinken, als mich erneut Jeffs Arm trifft. Diesmal ist es ein halber Tiefschlag. Die Rothaarige scheint es nicht richtig zu verstehen. Ich beiße mir auf die Unterlippe, um nicht sofort nachzulegen und kann mich doch nicht zusammenreißen. „Was? Er könnte bereits erstickt sein… erotische Asphyxiophilie kann sehr gefährlich werden“, setze ich erläuternd nach. Meine stetig steigende Schamlosigkeit ist in solchen Situationen ein weiteres Treibmittel. Nun versteht es auch die Rothaarige und ihr Gesicht nimmt einen verdächtig haarähnlichen Ton an. Ihr Puls schnellt nach oben. Ich sehe deutlich, wie sich ihr Brustkorb heftiger auf und ab bewegt. Sie verschränkt die Arme vor der Brust und ihre manikürten Finger krallen sich in den grobmaschig gestrickten Pullover. Ein seltsamer Grünton, der mich bei genauem Betrachten eindeutig an wieder hochgewürgtes Essen erinnert. Kains Auftauchen verhindert weitere Ausfälligkeiten meinerseits und sorgt für ein deutliches Ausatmen bei den anderen Parteien. Er umfasst die dünne Rothaarige an der Taille. „Ich habe dich gesucht“, säuselt sie ihm entgegen, bevor er vollkommen bei uns angekommen ist. „Entschuldige, ich wurde aufgehalten.“ Seine Lippen legen sich auf ihre Wange. Mir vergeht der Appetit. Ich verkneife mir nur mit Mühe den angewiderten Mimikparcoure über diese lächerliche Scheinbeziehung. „Verlaufen?“, frage ich schnippisch, ernte von Kain einen verwirrten und von Jeff einen Nicht-witzig-Blick. Abels Gesicht ist so wie immer. Dämlich. Den Gesichtsausdruck der Rothaarigen kann selbst ich nicht in Worte fassen und das soll schon etwas heißen. Für heute habe ich genug von pseudofröhlichen Studenten-Smalltalk. Ich greife mir meinen Rucksack und schiebe mich an Jeff und Abel vorbei. „Kommst du nicht mit essen?“ Mein blonder Mitbewohner hält mich zurück. „Bis ihr endlich in der Mensa ankommt, bin ich verhungert. Außerdem verspüre ich einen enormen Anstieg von Cholecystokinin.“ Nur Kain weiß mit dem Neurotransmitter, der für die Sättigung zuständig ist etwas anzufangen. Ich meide es, zu ihm zu schauen. Nur kurz hebe ich meine Hand zum Gruß und verschwinde direkt an der Mensa vorbei an die frische Luft. Auf dem Weg zum unieigenen Supermarkt rauche ich zwei Zigaretten und ärgere mich über die Tatsache, dass ich Kain schon wieder Anlass zum Nachfragen gegeben habe. Aber es ist nicht nur die Wut über mich selbst, die mir im Laden die Wahl nach einem halbwegs ausreichenden Mittagsessen erschwert. Auch der Anruf meiner Mutter beschäftigt mich. Grübelnd laufe ich zwischen abgepackten Sandwichs und Kains chemiegetränkten Schnitzeln umher. Ich bin weniger Ernährungsbewusst, als er glaubt. In meiner Hose beginnt es zu vibrieren, als ich dem lahmarschigen Kassierer einen Schein in die Hand drücke, um mein wenig nahrhaftes Essenssammelsurium zu bezahlen. Mit einem kalten Fertigschnitzel zwischen den Lippen ziehe ich mein Handy hervor. Eine SMS von Luci. Sie nennt mir Zeit und Ort für den Wettbewerb. Ich hatte es erfolgreich verdrängt. Mit kleiner Verspätung folgt ein Danke und ein Smiley samt Schneeflocke. Wer kann da schon widerstehen? Ich checke die Uhrzeit. Bis zu meinem Tutoriumdesaster habe ich noch eine halbe Stunde. Obwohl ich darüber nachdenke, mir eine schöne, abgeschiedene Parkbank zu suchen, lasse ich es sein, als mir der kalte Wind zum wiederholten Male die Kapuze vom Kopf weht. Mein zimmereigener Wetterfrosch wird rechtbehalten. Das momentane Klima wird immer schlimmer. Als ich in der Fakultät für Naturwissenschaften ankomme, beginnt es zu regnen. Ohne lange nach zudenken, mache ich einen Abstecher zum Kopierer und gehe zum Seminarraum. Darin entdecke ich ohne große Überraschung die schöne Inderin. „Lass mich raten, vor lauter Vorfreude von mir zu lernen, sitzt du hier schon den ganzen Vormittag.“ „Oh ja, ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen vor unbändigem Wissensdurst. Bitte erhelle mich. Sofort.“, raunt sie mir entgegen. Es ist die feine Röte, die im krassen Gegensatz zu ihren kecken Worten steht. Ich setze mich anerkennend schmunzelnd auf einen Stuhl neben sie und verkneife mir einen deutlich anzüglicheren Kommentar. Sharis lange Haare sind diesmal zu einem mehrfach geflochtenen Zopf gebunden, der ihr leger über die Schulter fällt. Ein paar einzelnen Strähnen streicheln über ihren schlanken Hals. In ihren Händen hält sie ein Taschenbuch. „Was ist aus Harry Potter geworden?", frage ich ohne weitere Begrüßungen, neige das Buch so, dass ich das Cover erkennen kann. Auch sie sieht auf die Buchhülle und dann zu mir. „Hab ihn nach Askaban geschickt.“ „Wie bösartig!“ „Ich bin ein Todesser, aber pscht!“ Sie kichert verschwörerisch und ich glaube, dass es niemand auf der Welt gibt, der ihr das abkauft. Die Sanftmütigen sind aber meistens die Schlimmsten. „Ich brauchte mal etwas anderes, als Abrakadabra", gibt sie erklärend von sich und ich lese den Titel. P.S. Ich liebe Dich von Cecelia Ahern. Ein Rundumschlag im Taschentuchmilieu. Nicht meins. „Avra kedavra", berichtige ich aus dem Stand und öffne den Verschluss meines eingepackten Sandwiches. Shari beäugt es kritisch. Ich beiße nur noch demonstrativer ab und zelebriere die chemische Konservierung, die mit dem Verzehr einhergeht. Ich ziehe das Arbeitsblatt aus der Tasche und bin guter Hoffnung, dass sie das von etwaigen Gesundheitsdiskussionen ablenkt. Ich habe sowieso nicht vor, ewig zu leben. „Hier, lies es dir einmal durch und sag mir, ob du Fragen hast…“, fordere ich sie auf, knabbere an meinem Schinken-Käse-Brot und lehne mich zurück. Shari zieht einen Stift hervor und beginnt das Blatt durchzuschauen. Selbst die nachdenkliche Falte zwischen ihren Augenbrauen entstellt sie nicht. Heute trägt sie ein leichtes Make up. Noch ein Hauch von Glanz, der auf ihrer dunklen Haut nur durch den richtigen Lichteinfall auffällt. Ich lächle. Unwillkürlich denke ich an Sina und dem Blick, den sie Kain vorhin zugeworfen hat. Seine Erwiderung. Ich werde aus ihm einfach nicht schlau. Anscheinend bereitete es ihm wirklich keine Probleme, willige Sexpartner zu finden, was also will er von mir? Für mich war die Sache mehr oder weniger nach dem zweiten Fehltritt gegessen. Kain ist es, der den Kontakt sucht. Und dann diese seltsame Idee mit den Karten. Was denkt er sich dabei? Warum hat er Interesse daran, mehr über mich zu erfahren? „Hey?“ Eine zartgebräunte, schmale Hand wedelt vor meinem Gesicht umher. Ich wende mich wieder der Realität zu. „Fragen?“ Unbewusst sehe ich zur geschlossenen Tür. „Ja, wohin verschwindest du immer mit deinem Gedanken?“ „Brom.“ In meinem Kopf macht es plötzlich Klick. Das fehlende Halogen. Ein schnell verfliegender Sieg über meine Sexdemenz. „Wie bitte?“, fragt Shari kichernd. „Die Antwort auf die erste Frage im Arbeitsblatt.“ Schande gekonnt abgewendet. Wir gehen alles gemeinsam durch. Ich beantworte ihre auftauchende Fragen so gut ich kann und bin davon begeistert, wie viele Zusammenhänge die schöne Inderin nach so kurzem Informationsinput herleiten kann. Sie ist eine dieser fleißigen, schlauen Bienchen. Von denen gibt es viel zu wenige. Zwischendurch klingelt mein Handy. Ich ignoriere es problemlos. Die Tür öffnet sich und zwei junge Studenten schauen hinein. Noch bevor sie ihre Münder öffnen können, unterbreche ich sie. „Nur für geladene Gäste…“ Erschrocken ziehen sie sich zurück. Ach, wie sehr ich es mag, kleine verschreckte Erstsemester zu ängstigen. Als ich mich wieder zum Tisch wende, merke ich, dass mich Sharis braune Iriden ausführlich mustern. „Was?“, frage ich unbeirrt. „Sie wollten vielleicht zum Tutorium.“ Guter Hinweis. Ich zucke ungerührt mit den Schultern. Es ist nicht meine Schuld, wenn sie so schnell das Weite suchen, ohne sich ordentlich zu erkundigen. Schließlich sieht Shari so nett aus, dass es für zwei weitere Exemplare meiner Sorte reicht. „Du magst es wirklich nicht, vor Gruppen zu sprechen, oder?“, fragt sie mit leicht hochgezogener Augenbraue. Ich frage mich unwillkürlich, ob sie auch schon von meiner Referatsblamage gehört hat. Sicherlich. „Ohne Eigenarten wäre das Leben doch langweilig“, gebe ich ausweichend von mir und stehe auf. Schnell habe ich das Lehrbuch und die Unterlagen im Rucksack verstaut. „Du darfst ihnen gern von allem eine Kopie machen…“ Ich deute auf das Arbeitsblatt und greife nach meinem Rucksack. Im Wohnheimflur kommt mir meine Lektorin entgegen gestöckelt. Als sie mich erkennt, fängt ihr Arm an, wie wild zu winken. Irgendwie wirkt es schrecklich furchteinflößend und ich widerstehe dem Urinstinkt, vor Gefahren wegzulaufen. Weder damals noch heute würde ich einen guten Neandertaler abgeben. Wahrscheinlich hätte man mich im Schlaf mit der Keule erlegt, weil ich so widerspenstig bin. Als Brigitta näher kommt, höre ich sie übertrieben laut schnaufen. Es hat den Anschein, dass sie auf den letzten Meter extrem an Tempo zugelegt hat. Warum auch immer. „Da bist du ja, Sahnehase“ Beim Kosename kann ich nicht verhindern, dass ich mich kurz in alle Richtungen drehen in der Hoffnung, dass das wirklich niemand gehört hat. Brigitta stützt ihre manikürten Finger in die Seite und macht mit der anderen Hand eine winkende Bewegung. Sie wirkt wie eine altersschwache Winkekatze. „Was machst du hier? Oder eher, wie kommst du hier rein?“, frage ich verdattert und mustere die auffallende Frau vor mir. Sie trägt wie immer ein Kostüm. Diesmal ist es etwas schwarz-rotes mit passenden Schuhen, die so hoch sind, dass mir davon schwindelig wird. Zu schrill um wirklich geschäftsmäßig auszusehen. „Durch die Vordertür!“, sagt sie lapidar und sieht mich mit großen, starkgeschminkten Augen hinter gerahmter Brille an. „Dich hat niemand aufgehalten?“, frage ich verwirrt. Normalerweise ist Unbefugten das Betreten der Wohnheime nicht erlaubt. Ich sollte unbedingt mal ein Wort mit Micha reden. „Hach, anscheinend gehe ich noch als Studentin durch. Ist das nicht wunderbar?“ Sie streicht sich über die ebenmäßige Wange und macht ein verzücktes Gesicht. Ich erläutere ihr nicht, dass es in Universitäten auch Studenten jenseits der 30 Jahre gibt und es damit gar nicht so großartig ist. „Ja, es ist ein Wunder“, sage ich nur, aber auch das nimmt sie nicht als Kritik. Wahrscheinlich, weil es definitiv so klang, als würde ich sie aufziehen. Sie schlägt mir mit der Tasche leicht gegen den Arm. „Was willst du hier?“, frage ich erneut und diesmal deutlich. „Wie ich dir schon am Telefon sagte, verreise ich für 14 Tage in die Staaten und bin nicht erreichbar.“ Das höre ich zum ersten Mal und genauso gucke ich auch. „Puschelchen, du solltest besser zu hören. Nun denn, da ich nicht da bin, habe ich dir deine Buchexemplare vorbeigebracht.“ Ich versteife mich augenblicklich. Vorbeigebracht? Wohin? „Was?? Bitte sag mir, dass du sie noch in deiner Tasche hast.“ Ich starre auf das etwas portmoneegroße Handtäschchen, welche mit einem Gliederkette von ihrer Schulter hängt und ignoriere die Tatsache, dass ich längst selbst weiß, dass das unmöglich ist. Die Hoffnung stirbt zuletzt. Brigitta sieht an sich hinab und lässt dann ihren Blick über mich wieder hochwandern. Ihre Augenbraue huscht mehrmals über den Rand ihrer Brillengläser. „Mein liebster Schokoladenhohlkörper, ich hab sie in deinem Zimmer abgegeben!“ Nette Variante für Dummkopf. Sie schlägt mir sachte gegen die Schulter und beginnt dann zuckersüß zu kichern. „Mir hat ein gutaussehender junger Mann geöffnet. Zum Anbeißen…“ Die folgenden Candyshopbeschreibungen blende ich unwillkürlich aus. Brigitta zwinkert. Sie schwärmt und mir wird schummerig. Mit jeder vergehenden Sekunden mehr. Mein Albtraumszenario. „Ich kündige…“, sage ich apathisch. „Im nächsten Leben vielleicht…“ Sie nimmt mich nicht ernst. „Du kannst doch nicht jemand anderen meine Bücher in die Hand drücken.“ „Ich ging davon aus, dass er dein Mitbewohner ist, wenn er sich in deinem Zimmer aufhält. Und er war so höflich. Sehr adrett….harr…“ Die Kleinmädchenschwärmerei geht weiter. Mir wird immer mulmiger. Zu dem finde ich Brigittas libidinöses Verhalten reichlich gruselig. „So ein Pech, dass ihr alle noch so jung seid.“ Glück für uns. Meine Lektorin seufzt theatralisch, kramt einen Lippenbalsam aus ihrer Tasche und ich ertappe mich dabei, dass ich hoffnungsvoll einen Blick hineinwerfe. Keine Bücher. Nur lustig umherkullernde Frauenutensilien. „Wir brauchen übrigens noch den Vorentwurf für deine neue Idee. Aber lass dir ruhig Zeit bis ich wieder da bin.“ Ich nicke geistesabwesend. Mit der Zusammenfassung habe ich bereits angefangen. „Viel Spaß bei deinem…was machst du in der USA?“ „Eine Fortbildung. Baiserhäubchen. Nicht jeder ist so ein Totalverweigerer wie du!“ Brigitta tätschelt mir den Kopf und stöckelt nach einer weiteren kariesverursachenden Verabschiedung davon. Die Meter zwischen mir und dem Wohnheimzimmer werden zu den Längsten in meinem bisherigen Leben. Wenn ich Glück habe, wird Jeff vielleicht gar keine Fragen stellen. Vielleicht interessiert es ihn gar nicht. Als ich das Zimmer betrete, sehe ich statt Jeff Kain an dem Schreibtisch sitzen. In diesem Moment wünsche ich mir nichts sehnlicher, als den heute Morgen erdachten Strick. Bitte nicht. Nicht er. Bevor ich es schaffe, still und heimlich die Tür wieder zu schließen und zu verschwinden, dreht er sich zu mir um. Ich bin mir nicht mehr sicher, was schlimmer ist. Jeff, der erfährt, dass ich Romane schreibe oder Kain, der erfährt, dass ich Mädchenliebesromane veröffentliche. Ich schiele zu meinem Schreibtisch. Darauf liegen zwei Exemplare vollständig folierter Bücher. In Kains Händen ein drittes Exemplar meines Romans. Für einen Moment bleibt mein Herz stehen. „Wie kann ein muffeliger Typ wie du solche Sachen schreiben?“ Sein Blick richtet sich immer wieder auf mich und dann auf das Deckblatt des Buches, welches zwei junge Menschen abbildet, die ihre Hände ineinander verschränken und sich verliebt entgegenblicken. PS vom Autor: Danke danke danke danke für eure unglaubliche Geduld!!! Ich habe im Moment viel um die Ohren und komme selten zur Ruhe. Ich halte mich, aber ran. Versprochen. Ihr seid wunderbar! Für alle die es interessiert, habe ich gestern meinen Entwurf für das Wohnheim von Robin und Jeff hochgeladen ^^ im Weblog. Schaut mal rein! Kapitel 13: Das geheime Leben der Worte --------------------------------------- Kapitel 13 Das geheime Leben der Worte Schnellen Schrittes und ohne zu antworten, gehe ich auf den Biotechnologen zu. Ich schwanke einen Sekundenbruchteil zwischen mehreren Reaktionsmöglichkeiten. Ignorieren. Explodieren. Erklären. Ich entscheide mich für dämlich. Mein vorhersehbarer Versuch, Kain das Buch aus der Hand nehmen, wird sofort vereitelt. Er schiebt es hinter seinen Rücken und macht dazu noch ein tadelndes Geräusch. Die Klischeehaftigkeit ist so deutlich und klar, dass ich mir wünsche, ich könne sie nehmen und dem Schwarzhaarigen um die Ohren hauen. „Erspar mir diese lästige Nervengymnastik“, gebe ich deutlich überstrapaziert von mir. Doch Kain scheint es zu reizen. Er richtet sich auf und beugt sich zu mir. Die feine Note seiner Ingwerbonbons schlägt mir entgegen. Im nächsten Moment sehe ich, wie eine der Süßigkeiten in seinem Mund von links nach rechts wandert. Mein Puls steigt. Unaufhörlich. Ich taste unwillkürlich über meine Hosentasche, suche nach den Zigaretten. Die Packung drückt sich merklich zusammen, ohne, dass ich einen Inhalt erfühlen kann. „Das machst du also, wenn du tagelang in deinem stillen Kämmerlein hockst“, raunt er mir amüsiert zu. Ich will ihn aus dem Zimmer bugsieren. Irgendwie. Gern auch in mehreren Teilen. „Ich redigiere nur.“ Sekundenschlaf der Denkleistung. Phänomenal. So viele Möglichkeiten und ich entscheide mich für die hohle Variante. Da hätte ich auch gleich sagen können, dass ich eine Wassermelone trage. Kain ist deutlich ins Gesicht geschrieben, dass er mir eher geglaubt, dass ich im Halbschlaf Schweine dressiere. Er weiß, dass ich schreibe und auch wie. Immerhin konnte er halbe Passagen des einen Textes rezitieren. Ich kriege Gänsehaut bei dem Gedanken. Die Tatsache, dass ich jetzt ein Stück aufsehen muss, macht alles nur noch schlimmer. Er zieht den Roman wieder in unser Blickfeld und schaut auf den Buchrücken. Direkt auf den Autorennamen. „Quincey Bird? Robin Quinn? Spatz, willst du deine Aussage nochmal revidieren?“ Das Grinsen in seinem Gesicht wird immer breiter. Ich verfluche Brigitta, die mir dieses Pseudonym aufgedrückt hat und mich selbst, weil ich tatsächlich geglaubt habe, dass ich das verheimlichen kann. „Was willst du schon wieder hier?“, gebe ich von mir und kann ich mir ein genervtes und etwas frustriertes Knurren nicht verkneifen. Hat er mich gerade Spatz genannt? „So viele versteckte Talent. Ich bin begeist…“ „… und ich gelangweilt. Du hast hier drin nichts verloren“, unterbreche ich sein Gesäusel und schaffe es, meine Stimme dabei halbwegs ruhig zu halten. Eine gigantische Meisterleistung, denn ich verspüre das dringende Bedürfnis zu schreien, zu toben, grün anzulaufen und alles, samt Kain kurz und klein zu schlagen. Sein Rauswurf in Kleinteilen wird immer wahrscheinlicher. Er hebt abwehrend die Hände in die Luft und deutet zu Jeffs Bett. „Ich wollte nur die Sauerei entfernen. Ich bin in der Nacht mehrmals am Laken festgeklebt." Sein erst angewidertes Gesicht wandelt sich schnell in ein erheitertes. Irgendwie verstörend. Ich komme nicht umher zum Bett zusehen und festzustellen, dass er bis auf die Decke alles vollständig neu bezogen hat. Jeffs Lieblingsbezüge mit einem blau-violett gestreiftes Muster. Ich kriege Kopfschmerzen. Kain geht auf Jeffs Bett zu, legt mein Buch auf dem Nachttisch ab und beschäftigt sich mit dem Reißverschluss der Bettdecke. Er greift zwei Ecken und beginnt das Innenleben ordentlich im Bezug zu verteilen. „Du und Liebesgeschichten! Unglaublich.“ Er klingt wahrhaftig ungläubig. Ich murre nur. „Aber hey, ich kenne Leute mit weitaus skurrileren Hobbies und deine Pornos sind ja auch nicht ohne“, flötet er amüsiert, während er das Kissen aufschüttelt. „Verrecke!“, entfährt es mir laut. „Ach komm, das ist toll. Wie lange bist du schon ein professioneller Schreiberling?“ Kain klingt ehrlich interessiert, doch wenn er glaubt, dass ich jetzt unbedarft meine Lebensgeschichte vor ihm ausbreite, hat er sich geschnitten. „Es geht dich nichts an und du würdest es auch nicht verstehen.“ „Versuch es zu erklären. Ich bin schlauer, als du denkst…“. Kain faltet die neubezogene Decke einmal zusammen und legt sie seltsam sorgfältig auf dem Bett ab. Das Kissen folgt, aber geworfen. Er sieht mich an und greift dann erneut zum Roman. Blätternd kommt er auf mich zu. Diesmal nehme ich es ihm aus der Hand. Ohne Gegenwehr. Er darf es nicht lesen. Niemals. Ich will es nicht. Ich lege das Buch zu den anderen Exemplaren auf meinem Schreibtisch und bleibe dort stehen. Erst jetzt bemerke ich, dass Brigitta doch nicht das kitschige Coverbild verwendet hat. Es ist das Dezente. Auch sie nimmt oft Rücksicht auf mich. Egal, wie strapazierend meine Allüren sind. Den ersten dieser Liebeskatastrophen veröffentlichte ich anderthalb Jahre nach dem Abitur. Mittlerweile sind es fünf Bücher. Meine damalige Deutschlehrerin steckte mir Brigittas Visitenkarte zu, nachdem sie wochenlang fruchtlos auf mich eingeredet hat. Sie nannte es eine Überlegung. Ich nannte es Zeitverschwendung. Ich trug das Pappteil monatelang mit mir rum, bis ich irgendwann eine Mail von Brigitta im Posteingang fand. Sie hatte einige meiner Kurzgeschichten zugesendet bekommen. Ihre Nachricht war prägnant und deutlich. Kein Geschwafel und auch kein Geschmeichel. Von vornherein stellte sie klar, dass es sich um einen Jugendbuchverlag handelte und wenn ich interessiert sei, Romantik von mir verlangte würde. Sie sei sich sicher, dass ich das könne. Damals kannte sie mich noch nicht persönlich, sondern nur meine schriftlichen Ergüsse. Ich bin sicher, dass sie eine solche Absolutheit vermieden hätte, hätte sie gewusst, was für ein anstrengender, mürrischer Giftzwerg ich bin. Romantik. Liebe. Zweisamkeit. Schon damals verursachte der Gedanke daran ein ironisches Mischgefühl in mir. Auch heute noch. Brigitta nannte es einen Versuch und ich kann mir nicht erklären, wie es sie letztendlich geschafft hat, dass ich angefangen habe, diesen Kram zu schreiben. An unsere erste Begegnung habe ich so gut wie keine Erinnerungen. Wir trafen uns in einem Café. Sie wollte mir den Verlag vorstellen und mich kennenlernen. Am nächsten Tag erwachte ich mit Kopfschmerzen und beginnender Zahnfäule in meinem Elternhaus. Es fühlte sich an, wie das Hochschrecken nach einer heftigen Party mit massig süßen Cocktails. Caipirinha. Pina Colada. Totaler Blackout. Sie bestellte uns eine dieser absurden Zuckerbomben, die sie bei fast jedem unserer Treffen in sich hineinkippt. Ein extra großer Latte Macciato mit Sahne und Karamell. Ersatzweise Vanille. Sie versetzte mir den ultimativen Zuckerschock und förderte damit meine temporäre Amnesie. Vielleicht habe ich es auch einfach nur verdrängt, weil ich mir selbst nicht erklären kann, wieso ich trotz jeglichen Widerwillens Liebesgeschichten schreibe. Sicher bin ich mir nur, dass ihre Bekanntschaft meine akute und tiefgründige Diabetesangst begründet. Dennoch ist meine Lektorin zugegebenermaßen das Beste, was mir passieren konnte. Die Tantiemen und die Verkaufsanteile finanzieren mir das Studium. In der Hinsicht bin ich sorgenlos. Das ist viel wert. Außerdem fragt sie nie danach, warum ich so bin, wie ich bin. Sie ist unkompliziert. Sie sagt, was sie denkt und fasst mich nur bedingt mit Samthandschuhen an. Das gefällt mir. Es ist das, was ich brauche. Wahrscheinlich, weil sie mein erstes Buch kennt. Auch darauf hat sie mich nie angesprochen und das danke ich ihr doppelt. Mein Autorendasein hat viele gute Seiten und ich möchte es nicht mehr missen. „Weiß Jeff, dass du sowas schreibst?“ Kain lässt nicht locker, reißt mich aus den Gedanken, als er plötzlich neben mir am Schreibtisch steht. Lächelnd lässt er seine Finger über das Cover des Buches wandern. Das gleichmäßige Intervall meines Herzschlags nimmt wieder zu. Ich möchte nicht, dass er diesen Schund von mir liest. Ich möchte nicht, dass er diese Seite von mir kennt. Meine Bücher machen mich verletzlich. „Können wir das bitte lassen…“ Mein Blick fällt auf das von Kain erschaffene Kartenset, welches noch immer auf meinem Schreibtisch ruht. Ich strecke meine Hand nach einer Karte aus, doch bevor ich sie berühren kann, tauchen Kains Finger in meinem Blickfeld auf. Sie legen sich direkt auf meine. „Rede doch einfach mit mir…“ Ich spüre, wie mein Herz einen Satz macht und dann heftig gegen meinen Brustkorb prallt. Laut. Unbarmherzig. Ich will es nicht. „Musst du nicht deine Rothaarige ficken gehen?“ „Ist das dein Ernst?“ Er zieht seine Hand zurück. „Verzeih, ihr nennt das ja eine DVD gucken…“, setze ich bissig nach. „Richtig und nicht nötig, ich bin gestern bei so einen Idioten aus der Biochemie gelandet“, bellt er mir entgegen und wir funkeln uns an. Wieder rieche ich Ingwer und einen Hauch Zitrone. Mein Herz rast. „Wird das jetzt jedes Mal so laufen?“, fragt er zähneknirschend. „Ich bin nicht derjenige, der sich durch die Fachschaft fickt…“, gebe ich prompt als Antwort. „Meine Damen und Herren, heute singt für sie: das Niveau!“ Kains Blick verdunkelt sich und er beginnt währenddessen, übertrieben zu klatschen. „Ach komm, dass liegt schon lange unterm Bett und weint“, erwidere ich unbeeindruckt. „Was ist dein Problem verdammt? Es tut mir ja leid, wenn du andauernd das Gefühl hast, ich würde es darauf anlegen, deine gut gehütete Privatsphäre zu verletzen.“ Eine weitere Fahrt mit der Retourkutsche. Er zieht meine übertriebene Bedachtheit in den Kakao, indem er das Gutgehütet in imaginäre Gänsefüßchen setzt. Er kann mich mal. Von oben. Von Unten. Kreuzweise. „Himmel, Robin, ich mache es nicht mit Absicht. Jedenfalls nicht immer. Abgesehen davon bist du derjenige, der jedes Mal unfair und verletzend wird.“ Kains Stimme schwankt zwischen Sarkasmus und Enttäuschung. Das Schlimmste ist, dass er Recht hat. Ich verstehe selbst nicht, warum ich andauernd auf solche primitiven Abwehrreaktionen zurückgreife. Wahrscheinlich, weil es Kain in so kurzer Zeit geschafft hat, mir derartig nahzukommen und das kann ich schlecht verkraften. Bisher war jeder sehr zufrieden damit, nicht allzu viel mit mir zu tun zu haben. Ich bin eben ein Arsch erster Güte und werde es auch immer sein. „Geh sterben. Bitte!“, schlage ich vor, kämpfe erneut mit dem Aufkommen meiner erschreckend hartnäckigen Primitivität. Darwin lässt grüßen. Bald finde ich mich auf einem Baum wieder, damit ich mich in Ruhe lausen kann. „Lass es mich einfach lesen“, bittet der Schwarzhaarige. Ich sehe entgeistert auf. „Nein“, sage ich deutlich. „Komm schon,…“, setzt er wieder an. „Wieso bist du so hartnäckig?“, fahre ich ihn an. Ich verstehe es einfach nicht. „Warum bist du so stur?“, gibt er ohne Verzögerung retour. „Ich will einfach nicht, dass du das liest. Es geht dich nichts an.“ Allein der Gedanke daran, was Kain beim Lesen und danach von mir denken könnte, vaporisiert das Blut in meinen Adern. Obwohl ich längst darüber stehen sollte. Ich schaffe es nur nicht. Ich höre bereits die Blutplättchen platzen und spüre meine Fingerspitzen kribbeln. „Du veröffentlichst es. Jeder kann es lesen…“ Guter Einwand. Treffer. Versenkt. Ich ignoriere es und schwimme händeringend in Kampfstellung zurück. „Ja, aber niemand weiß, dass die Bücher von mir sind.“ Mein Einspruch ist ebenso gut, gibt aber leider mehr preis, als mir lieb ist. „Bücher?“ Er betont die Mehrzahl besonders erstaunt. Ich habe mich gerade selbst versenkt und das ist deutlich an meinem Gesicht abzulesen. Wahrscheinlich auch an der Tatsache, dass mein Kopf verräterisch nach unten kippt. Meine Synapsen machen schon wieder Urlaub. „Wovor hast du eigentlich Angst? Das ich durch das Lesen erkenne, dass du bei Weitem nicht der griesgrämige Idiot bist, den du allen vorspielst? Zur Information, dass weiß ich längst“, setzt er nach. Nun sehe ich doch auf. „Du irrst dich! Und verschwinde endlich! Geh zu der Rothaarigen oder zu Sina oder wohin auch immer“, sage ich und klinge wie ein Idiot. Diese Aussage kommt einem Armutszeugnis gleich und obwohl mein Inneres rebelliert, spüre ich, wie ich mich mehr und mehr darüber ärgere, dass er das mit der Fachschaft nicht abstreitet. Um mir nicht noch mehr Blöße zugeben, deute ich meine dumme Ausführung abschließend zur Tür. Kain sieht mich resigniert an. „Blondinen sind nicht mein Fall und sie steht übrigens auf dich, du Blödmann!“, klärt er mich auf und ich beiße die Zähne zusammen. Und wenn schon. Ich will, dass er geht. Sein Interesse irritiert mich. Seine Intension ist mir ein Rätsel. Selbst seine Anwesenheit bringt mich durcheinander. Er solle nicht hier sein. Ohne es zu merken, greife ich nach einer der bemalten Karten, die neben meiner Tastatur liegen. Es ist die Vier. Kain nimmt sie mir aus der Hand. „Nicht nötig…“ Nur ein Flüstern. Ich kriege Gänsehaut, als sich sein warmer Atem über meinen Hals arbeitet und das sanfte Brummen seiner Worte mein Ohr trifft. Das Aroma von Ingwer und das Wissen darum, wie sich das erregende Kitzeln auf meiner Zunge anfühlt. Die Süße auf meinen Lippen. Seine warmen Finger treffen auf meine kalten. "Hör auf damit!“ „Womit?“ „Mit diesem verständnisvollen, scheinheiligen Interesse. Wieso kannst du mich nicht einfach in Ruhe lassen? Ich brauche das nicht", knalle ich ihm entgegen. Jeff macht es auch ständig. Fürsorge. Verständnis. Diese elendige Behutsamkeit. 12 Jahre habe ich gebraucht, um ihn in mein Leben zu integrieren und noch immer funktioniert es nicht hundertprozentig. Ich kann es einfach nicht. Kain diese Chance zu geben, kommt einer Unmöglichkeit gleich. Und dennoch hallen in meinem Kopf noch weitere Fragen. Warum macht er es? Aus welchen Grund legt er sich so für mich ins Zeug? Was verspricht er sich davon? Warum? Die Fragen spreche ich nicht aus. Stattdessen wiegele ich von vornherein ab. Glanzleistung. Kain sieht mich getroffen an. Er streicht sich über die Lippen, über die Stirn. Fahrig. Enttäuscht. Ich sehe, wie sich sein Mund öffnet und schnell wieder schließt. Er macht einen Schritt zurück, sieht auf die Karte mit der Vier. „Okay, weißt du, wir vergessen die Karten. Ich vergesse die Bücher und… lass uns auch die Sexgeschichte streichen. Ich will keinen Streit und keine weiteren Diskussionen. Die habe ich dank Merena zur Genüge und wahrscheinlich auch die nächsten 100 Jahre noch.“ Kain greift nach den restlichen Karten auf dem Tisch. Er zerreißt eine nach der anderen und lässt sie in den Papierkorb fallen. Ich sehe ihm schweigend dabei zu. Wieso enttäuscht es mich? „Du kannst deine Schutzschilde ganz beruhigt wieder runterfahren.“ Kains Hand legt sich in meinen Nacken. Die plötzliche Hitze verursacht mir Gänsehaut, die derartig intensiv ist, dass ich für einen Moment die Augen schließe. Ich spüre mein schlagendes Herz so deutlich, dass ich nicht weiß, was ich davon halten soll. Das Gefühl in meiner Brust nimmt ein seltsames Ausmaß an. Mit dem Zugehen der Tür lasse ich mich auf meinen Stuhl fallen, ziehe die Beine in den Schneidersitz und lehne mich zurück. Nun habe ich meine Ruhe. So, wie ich es andauernd nach außen brülle. Ich verhindere nicht, dass ich mich mit dem Stuhl drehe und letztendlich in die Richtung von Jeffs Bett blicke. Festgeklebt. Der Gedanke daran treibt mir die Schamesröte ins Gesicht. Zum Glück erst jetzt. Doch auch das komische Gefühl bleibt. Ich habe ihm Unrecht getan und das war mir schon bewusst, nachdem ich meinen Vorwurf ausgesprochen habe. Mit Jeff geht es mir jedes Mal genauso. Doch ich bin mir sicher, dass ich es bei Kain nicht mit einem neuen Pullover ausbügeln kann. Will ich es überhaupt? Ein Teil in mir flüstert Nein, der andere schreit lauthals Ja. Nach einer Weile sinnfreiem Rumgestarre drehe ich mich wieder zurück zu meinem Schreibtisch. Ich sehe zu den Buchexemplaren, nehme mir das Oberste, lasse meinen Blick über das Covern wandern, über den Titel und schmunzele. Ich blättere es einmal durch und habe sofort ein paar Stellen, die ich am liebsten ausbessern würde. So ist es eigentlich immer, weshalb ich es vermeide, die Bücher nach der Veröffentlichung zu lesen. Ich brauche immer einen gewissen Abstand. Irgendwann lese ich es und blende dabei aus, dass die geschriebenen Worte meine eigenen sind. Ich kann von Glück sagen, dass mir Brigitta viel Freiraum lässt und meistens eher wenige Veränderungen wünscht. Auch nimmt sie während des Schreibprozesses wenig Einfluss auf mich und vertraut darauf, dass ich die Geschichten nicht vollkommen in den Sand setze. Bisher hat es gut funktioniert. Andere Verlage sind wesentlich komplizierter. Oft hört man, dass gerade die ersten Romane mehrere Male vom Schriftsteller umgeschrieben werden müssen, bevor sie bei Verlegern und Konsortium ihr Einverständnis bekommen. Entmutigend und irgendwie auch entmündigend. Andererseits ist der Druck, der heutzutage in diesem Business herrscht, gewaltig. Printmedien sterben aus und das merkt vor allem das Verlagswesen. Dabei gibt es kaum etwas schöneres, als ein frisch gedrucktes Buch in seinen Händen zu halten. Das Papier unter den Fingern zu spüren und zu merken, wie sich der Herzschlag erhöht, wenn man voller Vorfreude die ersten Seiten aufschlägt. Bei meinen eigenen Büchern ist es genauso. Ich habe Glück. Mehr oder weniger, schließlich bin ich dazu gezwungen, über rosafarbene Herzen und schlicht unrealistische Beziehungen zu schreiben. Es gibt schlimmeres, aber das würde ich niemals laut aussprechen. Vor etwa einem Jahr hat auch Jeff eines meiner Bücher gefunden. Ihm konnte ich plausibel erklären, dass ich es für Lena gekauft habe. Meine Zielgruppe wäre sie. Zum Glück habe ich noch nie einen meiner Romane bei ihr gefunden. Ich wüsste nicht, wie ich reagieren würde. Wahrscheinlich mit akutem Herzversagen. Ich drehe mich ein weiteres Mal zu dem leeren, frisch bezogenen Bett meines Mitbewohners und seufze schwer. Meine Gedanken wandern zurück zu dem Schwarzhaarigen. Wir sollen es beide vergessen. Wie ernst waren seine Worte? Vergessen scheint unmöglich. Allein die Erinnerungen sorgen dafür, dass meine Lenden ein Eigenleben führen. Das Äffchen in meinem Kopf schlägt die Schellen und dreht sich im Kreis. Meine eigene Unzurechnungsfähigkeit macht mich ganz verrückt. Was will ich eigentlich? Meine Ruhe? Den Sex? Der Sex ist fantastisch. Das Äffchen macht einen Looping. „Fuck!“, fluche ich lautstark und lasse meinen Kopf ein paar Mal auf die Tischplatte fallen. „Reiß dich zusammen!“, sage ich und richte mich auf. Ich räume die die neuen Bücher unter mein Bett, greife mir ein paar frische Klamotten und ein neues Handtuch. Kaltes Wasser wird mir jetzt gut tun. Nach einer langen Dusche mit ausführlicher und dringend benötigter Ganzkörperpflege bin ich derartig glatt und sauber, dass ich Satinbettwäsche als Rutsche benutzen könnte. Obwohl es erst kurz nach acht Uhr ist, lege ich mich ins Bett, wälze mich so lange umher, dass ich mich in der Bettdecke verheddere und schalte irgendwann aus Frust Jeffs Fernseher an. Seltsame Quizshows. Mord und Totschlag. B-Movies. Ich greife nach meinem Handy, als in einem Film Haie aus einem Tornado hüpfend Menschen angreifen. Nun ist es halb 10. Ich lasse mich berieseln bis ich einschlafe. Es dauert ewig. Das Wochenende habe ich so viel Ruhe, dass es mir fast auf den Geist geht. Die beiden blonden Männer tauchen nur sporadisch auf, winken, grinsen und sind so schnell verschwunden, dass ich mich nicht mal aufregen kann. Frustrierend. Nur am Samstagabend während Jeffs dramatischer Klamottensuche versuchen mich beide abwechseln davon zu überzeugen, dass ich sie auf die Footballparty begleiten soll. Warum Abel darauf beharrt, ist und bleibt ein Mysterium. Für ihn bin ich allenfalls eine Bremse für Libido und Spaßfaktor. Ich liebäugle einen Moment damit, zu zusagen, nur um zu sehen, wie sich der dummquatschende Blonde den Rest des Abends ärgert. Es kribbelt mir in den Fingerspitzen und unter der Zunge. Ich lasse mich nicht dazu hinreißen. Jeff zieht sich den x-ten Pullover über. Weinrot oder Bordeaux, wie er lauthals berichtigt, als Abel erklärt, dass er das rot hübsch findet. Hübsch? Rot ist rot. Abgesehen davon bin ich überzeugt, dass er den eben schon mal angehabt hat. Ihre Argumentationen werden mit jedem Kleidungsstück, welches Jeff probiert, farbenfroher. Viele betrunkene Leute. Abel. Nutzlose Konversationen und dazu noch das überdrehte Testosteron von Sportlern. Erschießt mich lieber gleich. Es fehlt nur noch, dass sie sich Cheerleaderlike hinstellen und mir ´Megaparty´ buchstabieren. Mit Pompons und passenden Dress wohlgemerkt. Das Bild in meinem Kopf lässt mich dämlich grinsen. Wenigstens verzichtet Jeff diesmal auf scheinevolutionäre Gesellschaftstheorien und appelliert stattdessen an meinen juvenilen Sexualtrieb. Heiße Mädels, denen ich alles erzählen könne, schließlich verstehen sie kein Wort von dem, was ich sage. Verlockend, aber nein. Leckere, hemmungennehmende Cocktails. Ich kriege schon bei dem Gedanken daran Kopfschmerzen. Da meine Primitivität diese Woche seltsame Ausmaße angenommen hat, ist es seltsam passend. Einen weiteren Pullover später, habe ich meinen Jahresvorrat an Neins aufgebraucht und bin dem Bedürfnis, aus Jeff ein Bloody Bambi zu machen, erschreckend nahe gekommen. Abel beginnt aus einem mir unerfindlichen Grund dämlich zu lachen und ich zücke innerlich die Flinte. Mein alter Schulkumpan versichert mir ein weiteres Mal, dass die Party der Renner wird und ich vertraue meinem Urinstinkt und nehme die Beine in die Hand. Ein Hoch auf den primitiven Fluchtreflex. Ich greife mir ein Päckchen Zigaretten und verschwinde an den blonden Nervzwergen vorbei nach draußen. In den Gängen des Wohnheims ist es ungewöhnlich ruhig. Niemand sitzt im Foyer. Nur Micha hängt in seinem Kabuff und telefoniert. Ich stecke meinen Kopf durch die Tür, sehe, wie er unentwegt mit den Augen rollt und mich bei einer phänomenalen Linksdrehung bemerkt. Er macht keine Anstalten, sein Telefonat zu unterbrechen. Scheint ebenso wenig erpicht darauf zu sein, dem Anrufer weiter zu zuhören. Sicher seine Mutter. Ich rufe ihm nur das Wort Post zu und Micha verdeutlicht mir mit Händen und Füßen, dass ich sie mir einfach nehmen soll. Mit einem schlichten Nimm wären mir seine 5 minütigen Körperverrenkungen erspart geblieben. Ich gehöre nicht zu den mit Glück gesegneten Individuen. In meinem Postfach entdecke ich zwei Briefe. Einer schreit deutlich Rechnung und der andere ist ein mit Luftpolsterfolie ausstaffierter Umschlag. Kein Absender. Die Schrift kommt mir bekannt vor. Ich ahne böses. Ich nehme beides mit nach draußen zur Bank, zünde mir eine Zigarette an und öffne zuerst das seltsame Päckchen ohne Absender. Den Inhalt schüttele ich mir in die Hand. Ein gehäkeltes Wollpüppchen mit kaputten Jeans und gelben T-Shirt fällt mir in den Schoß. Handtellergroß. Braunes Haar. Auf dem Shirt ist eine Zigarette abgebildet. Ich betrachte die kleine gehäkelte Version meiner Selbst. Aus dem runden Gesicht starren mir zwei große türkisfarbene Augen entgegen. Blaugrün ist wahrscheinlich nicht so leicht zu häkeln. Ich greife das Briefchen erneut und ziehe einen Zettel hervor. 'Meine Rache wird fürchterlich sein' steht mit deutlich femininer Handschrift darauf. Über den Is prangen kleine Herzchen. Ich sollte meiner Schwester erklären, dass man es für eine wirksame Drohung bei Punkten oder Strichen belassen sollte. Gruseliger wäre es, wenn sie einzelne Buchstaben aus der Zeitung ausgeschnitten hätte. Andererseits hat ihre Version etwas Psychopathisches. Punkt für sie. Ich wiederhole die Worte laut und komme nicht umher zu lachen. Lena ist eine Marke für sich. Statt mich mit nervigen Anrufen zu terrorisieren, schickt sie mir ein Voodoopüppchen. Erschreckenderweise kann ich mir gut vorstellen, wie sie der Puppe lachend kleine Nadeln in den stoffigen Bauch treibt und dabei Black Sabbat hört. Oder Taylor Swift. Da würde ich mich nicht festlegen. „Unfassbar theatralisch", murmele ich lächelnd vor mich hin. „Und wer schwört dir fürchterliche Rache? Eine deiner Verflossenen?" Die vertraute Stimme lässt mich zusammenzucken. Ich wende mich erschrocken dem anderen Mann zu und packe das Püppchen sofort zur Seite. Kain lächelt und lässt sich in diesem Moment neben mir auf die Bank nieder. Er trägt eine engsitzende schwarze Jeans und eine Lederjacke. Die habe ich noch nie bei ihm gesehen. Seine Hände schiebt er in die Jackentasche und blickt gen Himmel. Es beginnt zu nieseln. „Meine Schwester“, sage ich knapp. „Du hast eine Schwester?", fragt er ungläubig. Eine solche Reaktion bekomme ich öfter. Kain hält mich für den Stereotyp eines Einzelkindes. Er ist nicht der Erste und wird auch nicht der Letzte sein. „Ja. Sie ist jünger, nerviger und auch gruseliger als ich", kommentiere ich. Den Beweis liefert die Voodoopuppe. „Ich mag sie schon jetzt." Toller Kommentar. Ich blicke auf das kleine Abbild meiner selbst und ziehe an meiner Zigarette. „Und wie sieht ihre Rache aus?", fragt er und ich sehe dabei zu, wie sein Knie gegen meines tippt. „Vielleicht spucke ich demnächst Nadeln und Blut“, antworte ich trocken und ziehe die Schultern zuckend nach oben. Das Lächeln in Kains Gesicht bleibt, wird nur einen Tick fragender. Ich halte ihm zur Erklärung mein Voodoo-Ich hin. „Oh, der ist ja süß…“ Er nimmt mir die Puppe aus der Hand, dreht und wendet sie mehrere Male. Die Ärmchen wackeln. Die Beine baumeln. Kain kichert übertrieben und beginnt dann, mit dem Zeigefinger über den kleinen Stoffbauch zu streichen. Mein linker Rippenbogen fängt an zu kitzeln. Mein Bein zuckt. Ich nehme ihm die Puppe schnell wieder aus der Hand und rauche den letzten Rest meiner Zigarette auf, um die aufkommenden Gefühl zu betäuben. Der Stummel landet auf dem Boden. Ich werfe einen kurzen Blick zum Müllereimer, doch trotz des mahnenden Echos in meinem Kopf ignoriere ich das Glühen und lasse sie liegen. „Kommst du mit zur Party?“, fragt Kain, lehnt sich zurück und legt seinen rechten Fuß auf dem Knie ab. Ich angle nach einem zweiten Glimmstängel, stecke ihn mir zwischen die Lippen, als Kains Finger eine der Rippen trifft, die eben noch so intensiv geprickelt haben. Das durchdringende Gefühl kehrt augenblicklich zurück. Ich denke darüber nach, dieselben Argumente hervorzubringen, die schon bei den beiden Blondinen nicht gefruchtet haben und lasse es sein. Bevor ich antworte, zünde ich die Zigarette an, nehme einen Zug. Der ausgestoßene Rauch verschmilzt mit den grauen Himmel. „Nein.“ Kain sieht mich an, nickt und lehnt sich danach zurück. Er neigt seinen Kopf nach hinten, schließt die Augen und lässt sich die feinen Regentropfen ins Gesicht rieseln. „Schade. Kriege ich wenigstens eine Entschuldigung?“ Seine Miene bleibt entspannt, doch seine Lippen verziehen sich zu einem neckischen Grinsen. Ich zucke unwillkürlich etwas zusammen. „Wofür?“, frage ich und sehe erst weg, als sich Kains Gesicht sich zu mir wendet. Ich fühle mich ertappt. Er beugt sich wieder nach vorn. Das intensive Braun seiner Augen durchdringt mich. Es entfesselt etwas in mir, was ich nicht definieren kann. Jedes Mal. Es ist besser, wenn ich nicht mit zu diesen Partys komme. Wer weiß, welche Dummheiten ich noch anstelle. Alkohol und diese eigenartige Schwäche für den Schwarzhaarigen sind eine ganz schlechte Kombination. Unsere erste gemeinsame Nacht resultierte genau aus diesen Elementen. Ich nehme einen neuen Zug und puste den Rauch in den nächtlichen Himmel. Als ich wieder auf die Kippe schaue, sehe ich, wie sie von meine in Kains Finger wandert. „Was kommt jetzt? Eine Ermahnung an Gesundheit und Vernunft?“, frage ich in der Annahme, dass gleich die obligatorischen Moralsprüche folgen. Nichts. Stattdessen nimmt er einen Zug und beugt sich zu mir. Er stoppt nur wenige Zentimeter vor mir, bläst den Rauch langsam an mir vorbei. „Nein, ich habe mich nur gefragt, wie du wohl ohne das Raucharoma schmeckst.“ Der Rauch in meinem Mund wird bitter und ich spüre, wie sich mein Puls zum Marathon aufmacht. Im Sprint. Selbst die Synapsen in meinem Kopf beginnen mit dem Cheerleading. „Was…Warum…“, setze ich an, doch die aufgehende Eingangstür lässt mich abbrechen. Jeff und Abel kommen aus dem Wohnheim geschlendert. Er hat sich wohl endlich für ein geeignetes Oberteil entschieden. Wahrscheinlich für das, was er vorher schon zweimal an hatte. Sie halten Händchen. Jeff löst die Verbindung, als sie bei uns ankommen und Kain lehnt sich wieder zurück. Ich folge seine Bewegung und sehe weg, als ich merke, dass sein Blick noch immer auf mir ruht. Seine warmen Augen fahren mein Gesicht ab. Suchend. Deutlich ist zu erkennen, wie sehr es in seinem Kopf arbeitet. „Hey Kain. Kommst du gleich mit?“, fragt Abel, während Jeff auf die Zigarette in Kains Hand sieht. Er gibt sie mir nicht wieder, sondern lässt sie zu Boden fallen und drückt sie aus. „Jo, auf geht´s, Männer.“ Damit springt er förmlich auf. „Letzte Chance, Robin…“, flötet Abel, wackelt mit den Augenbrauen und liefert mir nur noch einen weiteren Grund abzulehnen. Mein Mitbewohner mustert mich aufmerksam. Zwischen den Teilen seiner geöffneten Jacke blitzt der rote Pullover durch. Weinrot. Nein, Bordeaux. Ich stehe auf, vermeide es, nochmal zu Kain zu sehen. „Nicht mal gegen Bezahlung…“, antworte ich, schiebe die kleine Voodoofigur in die Hosentasche und verschwinde zurück ins Wohnheim. Micha telefoniert noch immer. Diesmal bin ich mir sogar relativ sicher, dass ich das Wort Mama höre. Der schadenfreudige Gesichtsausdruck begleitet mich bis nach oben. Selbst nachdem ich auf Sina und Kati treffe, die aufgetakelt und kichernd an mir vorüberstöckeln. Keine Party ohne die beiden. Unbewusst sehe ich ihnen nach. Direkt in Sinas lächelndes Gesicht. Ich bin so schnell um die Ecke verschwunden, dass ich einen Preis für Amateurzauberei bekäme. Als das weiße Kaninchen, was im Hut verschwindet. Vor meinem Schreibtisch leere ich meine Taschen, lege Lenas wenig ernstgemeinte Drohung neben meinen Bildschirm ab und fördere einzelne Kaugummipapiere und alte Fahrscheine zutage. Der andere Brief landet auf den Stapel ungelesener Post, der sich langsam gen Decke türmt. Der Müll landet im Papierkorb, wo mein Blick auf die zerrissenen Karten fällt. Ich hole den Plastikbehälter hoch, stelle ihn auf die Tischplatte und sammele die einzelnen Bestandteile heraus. Jede Karte ist sorgsam einmal in der Mitte zerrissen. Eine Chance. Das waren Kains Worte gewesen. Ich habe sie ihm nicht gewährt. Wie ernst sind seine Worte? Mit kalten Fingern streiche ich mir durch die Haare. Ich krame eine alte, überdimensionale Strickjacke aus dem Schrank, in die ich mich zweimal einwickeln kann. Sie ist warm und kuschelig. Mein Handy beginnt zu summen, als ich mich vor dem Schreibtisch niederlasse. Zwei neue Nachrichten. Jeff und Lena. Sie möchte wissen, ob ihre Überraschung angekommen ist. Ich greife mir einen Stift, notiere das Wort Gnade und Sry auf einen Zettel und drapiere Puppe und Schriftstück vor meiner Tastatur. Das Foto schicke ich ihr. Jeffs lauschige Nachricht über das Bedauern meiner Unpässlichkeit und die damit einhergehende Versäumnis sämtlicher erheiternder Verfehlungen ignoriere ich. Die Feiern, zu denen mich mein Kindheitsfreund während unserer Schulzeit geschleppt hat, waren inhaltlich so ergiebig und niveauvoll, wie das Filmrepertoire von Uwe Boll. Es gibt nichts, was ich nicht in irgendeiner Form oder Art schon mal gesehen habe. Nichts, was ich nochmalig erleben muss. Auch Alkohol ist nicht mein Ding und wer behauptet, dass er solche Veranstaltungen ohne übersteht, der lügt. Mein Blick wandert über die anderen aufgelisteten Kontakte und ich öffne den Chat mit Kain. Ich weiß nicht wieso. Ich weiß nur, dass es in meinen Fingerspitzen zu kribbeln beginnt. Er hat sein Profilbild geändert und ist in diesem Moment online. Mein Daumen stoppt. Auf dem Bild sieht man sein nach unten geneigtes Gesicht im Profil. Die Ansätze eines Drei-Tage-Barts. Es ist schwarzweiß. Mir ist absolut bewusst, wieso er bei Frauen so gut ankommt. Umso deutlicher wird die Absurdität darüber, was er mit mir will oder wollte. Noch während ich meine geistige Flucht plane und den imaginären Zylinder hervorziehe, bewegt sich der Chat. -Langeweile?- Jetzt offline zu gehen wäre ein weiteres Armutszeugnis. Eins mehr oder weniger schadet nicht. Meine Mappe ist mittlerweile voll davon. Nein. Ich antworte lieber. -Und selbst? Party so fade?- Kains Antwort lässt nicht lange auf sich warten. -Der Alkoholpegel ist noch zu niedrig, aber wir arbeiten daran- Dessen bin ich mir sicher. -Keine Kosten und Mühen. Klingt wie das Paradies- Ich verkneife mir ein paar idiotische Smileys. -Du würdest es hassen- -Jetzt machst du mich doch neugierig-, tippe ich lachend und bin immer noch froh, nicht dort sein zu müssen. Wer weiß, welchen Sitznachbarn ich diesmal hätte. Bei meinem Glück eine Reinkarnation von JarJar Binks oder schlimmer noch, Abel. - Kein Spoiler. Sry. Komm her und mach dir selbst ein Bild- Spoiler? Bin ich ein Serienjunkie? -Was kriege ich dafür?- -Was willst du?- Die Antwort kommt so schnell, dass ich kaum Zeit habe, um zu begreifen, dass bereits meine Frage eine dumme Äußerung gewesen ist. Ich lege das Telefon zur Seite, schlucke schwer. Ich darf es nicht unbeantwortet lassen. Irgendein Spruch. Irgendeine Reaktion, die diese Konversation ad absurdum führt. Mein Gehirn ist wie stillgelegt. Im Zusammenhang mit Kain passiert mir das leider viel zu oft. Mein Blick fällt auf die zerrissenen Pappkarten. Ich strecke meine Hand danach aus und lasse meine Finger über die rauen Kanten gleiten. Eine Chance, wiederholt es sich ein weiteres Mal in meinem Kopf und ohne länger darüber nachzudenken, öffne ich meine Schublade. Ich ziehe eine Rolle Klebestreifen hervor. Ein paar wenige Handgriffe und die 6 Karten sind wieder repariert. Nicht schön, aber die Zahlen sind zu erkennen. Nach einem letzten Blick auf mein Telefon, schiebe ich die Karten in meine Hosentasche. Der restliche Abend, sowie der Sonntag ziehen sich wie Kaugummi. Immer wieder ertappe ich mich dabei, wie ich mich umdrehe und zu Jeffs leeren Bett schaue. Einige Male sogar starre. Ohne erfindlichen Grund. Gelogen, ich weiß ganz genau warum. Es ist selten, dass mir meine selbst herbeigeführte Isolation auf die Nerven geht. Im Moment ist es so. Um mich abzulenken, öffne ich das Skript für das neue Buch, lese die Stichpunkte des groben Plots. Ich habe mich für eine typische Drei-Akte-Struktur entschieden. Für Romane eine gängige Praxis. Drei Akte. Drei Wendepunkte. Der Letzte führt dieses Mal zu einer sogenannten Katastrophe. Ein negativer Plotverlauf. Ich gönne meinem Protagonisten kein rosarotes Happy End. Das erste Mal und, wenn es nach meiner Lektorin geht, auch das letzte Mal. Sie mag es nicht. Brigitta will die Bücher mit einem Lächeln im Gesicht schließen. Mir ist es egal, solange das Ende einen sinnvollen Abschluss bewirkt. Es ist das erste Buch, in dem die Erzählfigur männlich sein wird. Schon deshalb wird sich der Roman von den anderen unterscheiden. Über viele Kleinigkeiten bin ich mir noch uneins. Ich bin mir nicht sicher, aus welcher Sicht ich es schreiben werde. Ryan oder Martin. Ryan entspricht sogar nicht meiner persönlichem Empfindung, jedoch er wird er derjenige sein, dessen Gefühle die meiste Gewichtung erhalten. Was passiert, wenn man sich in einen Freund verliebt und dieser Rat und Beistand von dir verlangt, die du ihm nicht geben kannst, ohne, dass es dir das Herz zerreißt? Wie weit kann Pflichtgefühl gehen? Und wann ist der Punkt erreicht, der es unmöglich macht, Nähe zu ertragen? Es beginnt mit einer Beziehungskrise. Das Suchen und Finden einer vergessenen Vertrautheit, die man manchmal in genau den Personen findet, von denen man es am Wenigsten erwartet. Ich lehne mich zurück, sehe auf meinen Zeigefinger, der auf der Taste M ruht. Danach bleibe ich eine geschlagene halbe Stunde so sitzen, ohne, dass ich auch nur eine Taste betätige. Schreibblockade. Eindeutig. Unwillkürlich beginne ich die Methoden abzurufen, die aus einer Schreibblockaden führen sollen. Bisher musste ich diese Techniken selten anwenden. Einen Fahrplan habe ich bereits. Er bedarf zwar hier und da ein paar Ausbesserungen, doch im Großen und Ganzen hat sich in meinem Kopf ein ausführlicher Plot entwickelt. Das Gleiche gilt für die Gliederung. Störfaktoren, die ich ausräumen könnte, gibt es dank massenhaften Partys und animalischen Paarungsverhalten meines Mitbewohners auch nicht. Ein anderes Buch lesen. Ein weiterer Trick um auf andere Gedanken zu kommen. Ich sehe zu Jeffs Bücherregal, fahre von weiten die Rücken ab und spüre, wie sich bei der Hälfte der Möglichkeiten meine Oberlippe angeekelt nach oben zieht. Die andere Hälfte habe ich schon gelesen. Lust habe ich auch keine. Ich drehe mich wieder zu meinem Rechner und lasse meinen Kopf auf die Tischplatte fallen. Meine Arme baumeln nach unten, hängen nutzlos an mir herab. Was ist nur los mit mir? Es ist zum Kotzen. Ich will Pudding. Schoko. Vanille. Völlig egal. Nur Pudding. Ich richte mich auf. Ein Ausweg ist ein Ortswechsel. Etwas, das noch nie nötig gewesen ist. Also wohin? Sonntag ist der denkbar schlechteste Tag, um sich eine Ausweichmöglichkeit zu suchen. Nichts hat auf. Außer vielleicht irgendwelche Cafés und Restaurants. Nicht mein Ding. Zu viele Menschen. Ich greife nach meiner Jacke und einer vollen Packung Zigaretten. Obwohl ich noch immer nicht weiß, wo ich hingehen soll, packe ich meinen Laptop in den Rucksack und stiefele los. Es ist kalt und windig. Ich habe zu wenig angezogen und spüre sofort, wie sich die kalte Luft unter meine Klamotten schiebt. Mit zittrigen Handgriffen öffne ich die Packung Zigaretten und zünde die Erste des Tages an. Der Qualm füllt meine Lungen und das herbe Aroma kitzelt sich über meine Geschmacksknospen. Es befriedigt mich nicht. Nicht so, wie sonst. Wie du ohne das Raucharoma schmeckst, echot es in meinem Kopf. Der Gedanke an das feine Raunen des anderen Mannes setzt seltsame Gefühlsregungen in mir frei. Ich verstehe nicht, warum mich Kain derartig durcheinander bringt. Genauso ist es mir ein Rätsel, wieso ich ihn trotz aller Widrigkeiten so anziehend finde. Er ist ein Kerl, verdammt. Ein ziemlich nervtötender noch dazu. Ein Kerl. Ein gutaussehender. Unwillkürlich formen sich Bilder seines beeindruckenden Oberkörpers in meinem Kopf und nicht nur davon. Darwin lässt erneut grüßen, nur, dass ich anscheinend eine evolutionäre Rückentwicklung vollführe. Ich nehme einen tiefen Zug von der Zigarette in der Hoffnung, dass sie mich abkühlt und gehe los. Nach etwa 100 Meter enormer Laufanstrengung habe ich das Bedürfnis, ins Zimmer zurückzukehren, mich zusammenzurollen und unproduktiv vor mich hinzusiechen. Es ist kalt. Es regnet. Nach 10 Minuten stehe ich meines Unwillens zum Trotz in der Mensa. Ich bin ein Held. Ein paar Studenten sitzen in kleinen Gruppen an den Tischen. Sie reden oder lernen. Wenige sitzen allein. Ich lasse mich auf einen Platz am Fenster nieder und starre, statt auf den Bildschirm, eine Ewigkeit nach draußen. Die Scheibe ist übersäht mit Regentropfen. Sie brechen meine Sicht nach Außen in tausende kleine Vergrößerungsgläser. Tausende stille Welten. Ich weiß, wie ich das Buch beginnen werde. Nach fünf Stunden Schreiben und 3 Schalen Pudding mache ich mich auf den Weg zurück zum Wohnheim. Mittlerweile regnet es wie aus Eimern. Dank einem Bus und der freundlichen Unterstützung einer bekannten Kommilitonin komme ich relativ trocken an. Als ich die Tür öffne, bemerke ich, dass der Fernseher läuft. Flackerndes Licht erleuchtet den Raum. Als ich näher komme, höre ich eine leise weibliche Erzählstimme und sehe meinen Mitbewohner schlafend in seinen aufgestapelten Kissen hängen. Ich lege meinen Rucksack zur Seite und betrachte das laufende Fernsehprogramm. Als ich erkenne, was Jeff schaut, komme ich nicht umher, die Augen zu verdrehen. Sex and the City. Die Klischees, die mein lieber Mitbewohner teilweise unbeabsichtigt bedient, sind zum Davonlaufen. Trotz meiner motzenden inneren Stimme lasse ich mich neben Jeff nieder. Ich stütze meinen Ellenbogen demonstrativ auf seiner Hüfte ab und sorge mit den Körperkontakt für das Erwachen meines Kindheitsfreundes. Ein Auge öffnet sich. Ein Schmatzen. Jeffs Hüfte wackelt etwas. „Bitte, sag mir, dass du beim Durchschalten eingenickt bist", kommentiere ich das Programm. Das geöffnete Auge wandert zum Fernseher. Dann wieder zu mir. „Jaaa..." Jeffs Stimme ist verräterisch hoch, während er verstohlen zum Fernseher zurück sieht. Wir schauen beide einen Moment dabei zu, wie die 4 Frauen, die ich nicht benennen kann, durch eine Bar stöckeln und bunte Cocktails schlürfen. „Es ist sehr unterhaltsam", murmelt er, als ein großer dunkelhaariger Typ auftaucht. Jeffs klägliche Verteidigung. Ich schaue ihn zweifelnd an. „Oh ja, genauso, wie Kaugummi in den Haaren.“ Dank meiner kleinen Schwester durfte ich das schon erleben. „Darüber kommst du wohl nie hinweg, oder?“ Wie sollte ich? Lenas unüberlegter Kaugummiblasenangriff ließ mich ich in der 10. Klasse mehrere Wochen mit raspelkurzen Haaren durch die Gegend laufen. Mein scheinfreundlicher Kindheitskumpan sparte damals nicht an dämlichen Kommentaren und Vergleichen. Tatsächlich bastelte er mir im Kunstunterricht eine Gefängniskugel samt Kette. Die Woche darauf eine Tarnkappe mit lauter Gestrüpp für meine Militärkarriere im Dschungel. Die Krönung war ein Totenkopfring und ein Klebetattoo mit dem Schriftzug der Backstreet Boys aus einem alten Bravomagazin. Es folgten mehrere Wochen hartnäckige Ignoranz von meiner Seite. Natürlich vergeblich, so wie bei fast jeder Ekelhaftigkeit, die ich gegenüber dem Blonden angewendet habe. Jeff richtet sich auf und lehnt sich zu mir an die Wand. Auf seine Wange zeichnet sich ein tiefer und formenreicher Abdruck des Kissens ab. Er streicht sich durch die blonden Haare und sieht in diesem Moment aus, wie der 17-jährige Junge, der sich im betrunkenen Zustand nicht getraut hatte, ein Mädchen zu küssen. Geschweige denn mich. Ich lasse meinen Blick über das schläfrige Profil meines Kindheitsfreundes wandern. Jeffs Augen sind schon wieder geschlossen und keiner von uns beiden achtet auf die promiskuitiven Szenen im Fernseher. „Wo warst du eigentlich?", fragt er mich gähnt, während er sich träge aus dem Bett wühlt und zum Kühlschrank stampft. Ich höre, wie er herumkramt, etwas trinkt und danach weiter sucht. „Mensa.", antworte ich ihm lapidar, sehe, wie seine formvollendete Augenbraue nach oben wandert. „Die ganze Zeit?“, hakt er nach. „Ja.“ Jeff murmelt ein fragendes Tatsächlich und scheint wenig überzeugt. Wahrscheinlich vermutet er hinter meiner Abwesenheit eine Verschwörung. Im nächsten Moment taucht ein Eis vor mir auf und er lässt sich bewaffnet mit Käsedip und Chips zurück auf das Bett fallen. Meine Stimmung wandelt sich augenblicklich zu der eines flauschigen Welpens. Ich bin so sehr erfreut, sodass mir nicht auffällt, dass Jeffs obligatorische Schokolade zum Dip fehlt. „Wieso bist du nicht bei deinem Ernieverschnitt?“, frage ich retour, entferne das Papier von der kühlen Leckerei und kuschele mich etwas mehr in die aufgetürmten Kissen. Ich lecke über die schokoladige Spitze, spüre die wohltuende Kühle und genieße das süße Aroma, welches über meine Zunge kitzelt. Jeff kann Gedanken lesen. Genau, das habe ich jetzt gebraucht. „Ernieverschnitt? Oh Oh! Folglich bist du mein Bert!“ Jeff klopft mir amüsiert den Oberschenkel. Ich gebe ihm ein trockenes Hüsteln als Antwort und vermeide es, ihm zu erklären, dass eigentlich er Bert ist. „Ich dachte, wir könnten mal wieder Zeit miteinander verbringen“, kommt es erklärend von dem anderen Mann. Die Hand auf meinem Oberschenkel bewegt sich erneut, streichelnd und bleibt dann ruhig liegen. Ich sehe zu meinem Zimmerkumpan und bin mir sicher, dass irgendetwas faul ist. Entweder hatte er Streit mit Abel oder er will irgendwas. Das Eis ist sicher ein Bestechungsversuch. Jeff schmiegt sich in die Kissen und legt seinen Kopf auf meine Schulter ab. „Lass mich raten. Ihr hattet Streit“, kommentiere ich die Begründung für Jeffs ungewöhnliche Anwesenheit. Ein Ächzen. Es ist ein typischer Jeff-Seufzer, tropft vor Theatralik und beantwortet meine Behauptung ohne jeglichen Zweifel. „Ja ein bisschen. Nichts Gravierendes.“ Ich bin auch nicht der richtige Ansprechpartner dafür. „Und ich wollte mal wieder mit dir quatschen. Ich weiß gar nicht, was im Moment in deinem Leben los ist.“ Ich sehe auf den blonden Haarschopf, spüre die vertraute Wärme und merke, wie mir langsam das Eis über die Finger läuft. „Na ja, ich atme, esse und unterliege…“ Ich lecke die Tropfen davon und knabbere den Schokoladenmantel ab. „Dem Verfall. Ja, ja. Ich weiß.“ Einer der Chips landet in seinem Mund. Krümel auf seinem Shirt. Ich rieche deutlich das salzige Aroma und genieße mein Eis nur noch mehr. „Ich hätte jetzt Atrophie gesagt, aber okay…“ „Das ist das Gleiche, nur wissenschaftlich.“ „Eigentlich…“, setze ich an, doch er unterbricht mich. „Oh, erspare mir die Sheldon-Imitation.“ Ich komme nicht umher zu lachen, als mir Jeff seinen verzweifelten Blick zu wirft. Das letzte Stück Schokoladenmantel schmilzt auf meiner Unterlippe. Nun kann meine Zungenspitze ungehindert über die vanillige Substanz gleiten. Herrlich. Ich schließe meine Augen und genieße. „Tut mir Leid, dass ich so wenig Zeit für dich habe. Ernsthaft.“ Mit dem Ärmel seines Pullovers wischt er sich Chipsreste aus den Mundwinkeln und tunkt seinen Finger in die Käsesoße. Die gelbliche Paste macht auf mich keinen sehr attraktiven Eindruck. Was Jeff daran mag, ist mir schon seit Jahren ein Rätsel. „Ach, ich würde für regelmäßigen Sex auch nicht mehr mit dir reden“, kommentiere ich Jeffs Anflug an heldenvoller Almosenausschüttung und lecke über die gesamte Länge meines Stieleis. „Wie charmant…“ Jeff seufzt. „Du musst dich nicht entschuldigen. Du hast mir gegenüber keine Verpflichtungen. Ich bin ein großer Junge, ob du es glaubst, oder nicht!“ Von seinen Lippen perlt ein weiteres, geräuschvolles Atmen. Für einen Moment knabbert er lustlos an einem der getrockneten Kartoffelstücke. Ich bin und bleibe ein empathieloser Idiot. Doch zu sehen, wie es Jeff trotz des Wissens darum jedes Mal wieder trifft, ist auch für mich kein Feuerwerk. Mein Knie kippt tippend gegen seines. Ich entschuldige mich nicht. „Sei ehrlich, stört es dich doch, dass ich….schwul bin?“ Ich lasse ihn ausreden, auch wenn mir nach den ersten Worten bereits klar ist, worauf das hinausläuft. Jeff sieht mich erst an, nachdem er diese seltsame Frage zu Ende formuliert hat. „Ich würde wohl kaum mit dir hier sitzen, wenn es so wäre. Es ist einfach die Gesamtsituation…“ Sein ernster Gesichtsausdruck wird für einen Moment amüsiert und ich bin mir sicher, dass sich in seinem Kopf die Szene aus dem Film `Der Schuh des Manitu´ wiederholt. Zur Bestätigung entflieht ihm ein feines Kichern. Ich fühle mich nicht ernstgenommen. „Du hast dich von meinen vorigen Partnerinnen auch nicht aus der Ruhe bringen lassen. Was ist anders?“ „Die habe ich selten zu Gesicht bekommen.“ Im Grunde habe ich keine von Jeffs Probefreundinnen wirklich kennengelernt. Ich wollte es auch nicht. Was ist also anders? Ich bin daran gewöhnt, dass Jeff da ist. Nun ist er es immer seltener. Abgesehen davon kann ich Abel einfach nicht ausstehen. Seine Lache. Seine Art. Wie schon so oft geistert die Frage nach der Besonderheit ihres Sexlebens durch meinen Kopf, die als einzige erklärt, wieso sich Jeff diesen Kerl antut. Auch diesmal stelle ich sie nicht. Mein letzter Gedanke gilt dem Schwarzhaarigen. „Oh Mann, es geht immer noch um Kain? Ich verstehe nicht, wo dein Problem liegt?“ Ich auch nicht. Ich sehe meinem Kindheitsfreund entgeistert entgegen. Wie kommt er auf einmal auf Kain? „Es gibt kein Problem. Ich will einfach nur meine Ruhe.“ Ich klinge langsam wie eine uralte Bartwickelmaschine. „Ich glaube dir nicht!“ Toller Kommentar die Zweite. Ich sehe zähneknirschend zu Jeff und setze mich auf. „Erspar du mir bitte diese mesosoziologische Steinzeitpredig?“ „Wenn du aufhörst, so zu tun, als wäre jeder dein Feind. Homo sapiens und Homo neanderthalensis lebten weithingehend friedlich miteinander.“ Deshalb ist der eine auch ausgestorben. Ich habe schon wieder das Bedürfnis, zu jener Gattung zu gehören. „Komm schon. Kain ist ein netter Kerl. Witzig. Aufmerksam und intelligent.“ „Ja, der Traum einer jeden Schwiegermutter“, kommentiere ich sarkastisch. Jeffs Augen verdrehen sich meisterlich. „Ich habe gedacht, dass ihr euch besser versteht. Es schien so.“ Jeff klingt verzweifelt. „Beruhigt es dein Gewissen, wenn ich ja sage?“, frage ich retour und hoffe, dass die Diskussion damit beendet ist. Meine Hände kleben mittlerweile komplett und die Reste vom Eis bieten einen traurigen Anblick. Mir ist der Appetit vergangen. „Schon…“, murmelt mein petrophiler Zimmerkollege und dreht dabei verstärkend an seine Halskette, die einen Halbedelstein als Anhänger hat. Ich glaube, es ist sein Geburtsstein. Sicher bin ich mir nicht und für mich hat sowas auch keine Bedeutung. „Dann fühl dich beruhigt.“ Paläolehrstunde abgewendet und zudem glatt gelogen. Das Was-auch-immer zwischen mir und dem Schwarzhaarigen ist dank unserer letzten Auseinandersetzung noch komplizierter geworden. Kains Worte nach unserem Streit waren deutlich. Vergessen, das hatte er gesagt. Doch seine Äußerung vor der Party und auch die Nachrichten haben mich durcheinander gebracht. „Gut, dann hast du ja nichts gegen einen Filmeabend mit Abel und Kain. Morgen Abend.“ Zu früh gefreut. Das Eis ist doch nur ein Mittel zum Zweck gewesen. Kains Name betont er besonders. Demonstrativ schiebt er sich eine Lage Chips in den Mund und krümelt wild kauend sein halbes Bett voll. Die Nacht wird sicherlich spaßig. Selbst auf meinem T-Shirt landen ein paar. „Muss das sein?“ „Ja. Schon allein um dich zu ärgern.“ „So viel zum Thema Charmant. Warum?“, frage ich und bin offensichtlich wenig begeistert. Nicht, dass Jeff, dass nicht weiß. „Wir haben gestern über Filme diskutiert. Wiedermal und wir fanden es sei eine gute Idee.“ Es muss eine tolle Party gewesen sein. Mein innerer Sarkasmuskreisel nimmt Fahrt auf. Ich habe wenig Wahlmöglichkeit. Im Grunde nur Wegsein oder Dasein. Beides macht mir Magenschmerzen. „Such wenigstens einen vernünftigen Film aus…“, gebe ich weder bestätigend noch ablehnend von mir. Jeff grinst. „Ja, einen mit extra viel Kitsch, Liebe und Drama. All das, was du nicht leiden kannst. Und vorher binde ich dich an dem Stuhl fest und kippe dir ein Liter Kaffee ein, sodass du ja nicht einschläfst.“ Er deutet auf meinen Schreibtischstuhl. Das schafft er nicht mal in seinen Träumen. Nicht Jeff. Ich lecke unbeeindruckt ein paar der Eisreste von meinen Fingern. Als letztes langsam und neckend von meinem Daumen. Ich sehe deutlich, wie er mich dabei beobachtet. „Wovon träumst du eigentlich nachts?“, frage ich. Jeffs Augenbrauen beginnen zu wackeln und ich habe genug von den Spielereien. Darauf bedacht, das frischbezogene Bett nicht weiter einzusauen, krabbele ich mit erhobenen Händen raus und lasse den Stiel im Mülleimer verschwinden. Meine Hände kleben. „Ich besorge dir auch Popcorn.“ Ein lahmer Versuch, mich milde zustimmen. Ich versichere ihm die kommende Wochen kein Wort mit ihm zu wechseln, wenn er nicht Ruhe gibt und ich greife nach meinen Kopfhörern. Das ultimative Zeichen dafür, dass ich nichts mehr hören will. Jeff ignoriert es. So wie immer. „So viel Popcorn kannst du gar nicht besorgen“, sage ich als letztes, schnappe mir meine Jacke und lausche den chilligen Klängen von Twenty one pilots ´Stressed out ´, während ich aus dem Wohnheimzimmer verschwinde. Nach gründlichem Händewaschen gönne ich mir draußen noch eine Zigarette und denke schon wieder an Kain. Das nächste Lied, was einsetzt, ist Elle Kings ´ Ex´s & Oh´s ´. Oh, treffe mich doch endlich der Schlag. Den nächsten Tag strafe ich Jeff mit der angekündigten Ignoranz, ziehe es durch bis Mittag und ergebe mich meinem Schicksal, als am Nachmittag auf wundersame Weise zwei Eimer des süßen Kinofutters auf meinem Bett auftauchen. Auf Kain treffe ich nicht, erwische mich aber des Öfteren dabei, wie ich mich nach dem Schwarzhaarigen umsehe. Mit Kopfhörern und schwerer, vorgetäuschter Arbeit bleibe ich so lange vor meinem Rechner sitzen, bis die anderen eingetrudelt sind. Kain stellt seine Tasche neben meinem Tisch ab, beugt sich zu mir runter und schaut sich die Datei auf meinem Bildschirm ab. Diesmal ist es nichts weiter als die Abschrift einer Vorlesung. Mein Puls animiert sich dennoch. Ich sehe, wie sich seine Lippen bewegen, während er ein paar der Passagen liest. Verstehen kann ich es nicht, weil mir The Sounds gerade `Something to die for´ entgegen brüllen. ´When something's right, then something is worth to die for. When I feel that something is wrong, then something is worth to fight for´. Der letzte Teil verschwimmt, weil mir der Schwarzhaarige den Kopfhörer vom Ohr streift. „Ich habe die Klausur aus dem letzten Semester. Der Prof ändert immer nur zwei, drei Fragen. Der Rest bleibt gleich. Möchtest du sie haben?“ „Wie kommst du an die Klausur?“, frage ich verwundert. „Ich habe Kontakte. Und bin im 3. Semester durchgefallen.“ Nach dem ersten Satz macht er eine theatralische Pause. „Ernsthaft?“ Ich bin wirklich überrascht. „Ja, aber es lag daran, dass ich vorher zwei anderen Prüfungen hatte und ich für diese nur noch auf Lücke lernen konnte. Leider hat er dann auch genau nach meinen Lücken gefragt. Es war verheerend.“ Kain macht eine Grimasse und ich kann mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. „Seid ihr fertig? Uni ist für heute vorbei!“ Also schaltet man seinen Kopf ab? Ich sehe verstört zu dem blonden Anhängsel meines Mitbewohners, der sich bereits bequem auf Jeffs Bett drapiert hat. Anscheinend vergisst er regelmäßig, sein Gehirn wieder anzuschalten. „Los, sucht euch einen Platz“, fordert nun auch Jeff auf, pflanzt sich neben Abel auf das gemachte Bett. Ich lasse mich schweigend auf meines fallen und verschränk die Arme vor der Brust. Alles sieht zu Kain. „Ich werde mich definitiv nicht neben die zwei pubertierenden Mundakrobaten setzen", lässt Kain verlauten, deutet kopfschüttelnd auf Pat und Patachon und steuert auf mein Bett zu. Mit dieser anschaulichen Erklärung lässt er sich fallen. Direkt neben mich. Ich will protestieren. Mein Bett ist mir heilig. Doch Kain scheint das wenig zu stören, schließlich hat er sich schon einmal ohne zu Fragen einfach hingelegt. „Ich beiße nicht", flüstert er. Seine Augenbraue wandert neckisch nach oben und ich warte einen Moment auf das verräterische ´Weißt du doch´. Ich setze zur Flucht an. Ich sehe lieber nur die Hälfte vom Bildschirm, also mich diesen Spitzfindigkeiten auszusetzen. Kain packt mein Handgelenk und zieht mich zurück. Mein angedeuteter Nörgelversuch wird von seinem Blick unterbrochen. Ich ergebe mich meinem Schicksal und sehe zu Jeff und Abel. Sie beobachten uns tuschelnd. „Ich würde gern die ersten 10 Minuten des Films sehen, bevor ich einschlafe", gebe ich leicht genervt von mir. Jeff lacht wissend und kramt nach der Fernbedienung. Der Film beginnt im alten Japan. Die Geisha. Jeff hat seine Drohung wahr gemacht. Ich schaffe eine halbe Stunde, dann merke ich, wie mir die Dunkelheit und der langatmige Film jegliche Aufmerksamkeit raubt. Zu dem benebelt mich Kains Anwesenheit. Abgesehen vom Sex sind wir uns noch nie so lange so nah gewesen. Mit jeder schläfrigkeitsfördernden Minute scheint der seltsam vertraute Geruch des anderen Mannes intensiver zu werden. Berauschender. Beruhigender. Selbst seine Wärme dringt nach und nach zu mir. „Robin?" Kain flüstert meinen Namen. Er wiederholt ihn zwei weitere Mal und ich brauche einen Moment, bis ich registriere, dass es kein Traum ist. Ich bringe nur ein Blinzeln zustande, sehe dabei direkt in den hell erleuchteten Bildschirm und murre. Kain legt seine Hand auf meinem Oberschenkel ab. So, wie es vor ein paar Tagen auch Jeff getan hat. Die Stelle seiner Berührung beginnt sofort zu pulsieren. Schlagartig bin ich wach. Ich spüre, wie sich mein Puls beschleunigt und winkele mein Bein an, um so seiner Hand zu entkommen. „Wo sind Jeff und Abel?“, frage ich, sehe mich kurz verschlafen um. Erst jetzt wird mir meine vorige Position klar. Ich bin an Kains Schulter eingeschlafen. Kein Wunder, warum es so warm und benebelnd gewesen ist. Wie peinlich. Unwillkürlich streiche ich mir über die Lippen in der Hoffnung nicht auch noch gesabbert zu haben. „Sie sind gemeinsam auf Klo.“ Seine Stimme vibriert verdächtig. Ich brauche einen Augenblick, um zu begreifen, was er mit der seltsamen Betonung ausdrücken will. Der Gedanke daran, dass sie sich in diesem Moment zusammen vergnügen könnten, erzeugt in mir ein seltsam unwirkliches Gefühl. Ich streiche mir die Haare zurück und lehne mich nach vorn. Das angehaltene Bild im Fernseher flimmert. Die Szene erkenne ich nicht. „Ich hätte gern noch eine Antwort von dir…“, sagt er ruhig. „Ja, ich würde die Klausur nehmen. Nur um mal zu gucken.“ Für größere Schummeleien bin ich nicht zu haben. Selbst in der Schule habe ich mir nie einen Spickzettel geschrieben. „Okay, aber das meinte ich nicht.“ Ich bin mir sicher, dass ich furchtbar dämlich aus der Wäsche gucke. Ich stehe auf dem Schlauch und bin noch nicht richtig wach. „Lass mich die Frage wiederholen. Was. Willst. Du?“ Sein Blick ist so intensiv, dass ich augenblicklich vom Bett flüchte. Auch, wenn das überhaupt nichts ändert. „Warum…? Warum machst du das?“, platzt es aus mir heraus und Kain verwundert an. „Das hier.“ Ich deute zwischen uns hin und her. Obwohl meine Ausdrucksweise mehr als kläglich ist, scheint er zu verstehen. „Muss ich einen Grund haben?“, gibt er retour und überrumpelt mich damit genauso, wie ich ihn. „Wäre hilfreich“, kommentiere ich. Kain weicht meinem Blick aus und überlegt. Nur kurz. Nur einen Augenblick lang, doch es scheint mir eine Ewigkeit zu sein. „Ich hab es dir schon mal gesagt. Ich finde dich anziehend und ich mag den Sex mit dir. Mehr als ich dachte.“ Der letzte Teil zaubert ein deutliches Grinsen in sein Gesicht. Ich kann nur müde lächeln. Diese Begründung ist unbefriedigend. Das erklärt so gut wie gar nichts. Weder die Gründe, wieso er trotz meines bestechenden Ekelseins nett zu mir ist, noch warum er trotz Heterosexualität mit einem Kerlen ins Bett geht. Ein Thema, dass ich bei Gelegenheit ausführlicher erkunden sollte. Auch, warum ich mich so wenig dagegen wehren kann, wenn er mich flachlegt. „Mach es doch nicht komplizierter als es ist. Was willst du denn von mir hören?“ Ich weiß es selbst nicht. Im Grunde hat er Recht. Ich mache es mir selbst unnötig kompliziert. „Ich stehe einfach darauf, dass sich ein unscheinbarer Typ wie du beim Sex wie ein Flummi verhält. Das hat was." Hoch amüsiert. Für ihn ist das Alles nur ein einziger Spaß. Wie erwartet. Es ist und bleibt ein Fehler. Nichts weiter als emotionaler Ballast, denn ich weder gebrauchen noch ertragen kann. „Du bist zum Totlachen", gebe ich trocken und wenig belustigt von mir. Ich verfluche augenblicklich meine akute Humorlosigkeit, ohne die ich jetzt zweifelsfrei selig gen Hölle stürzen wurde. Mir ist auch nichts vergönnt. Kain seufzt. „Ich mag dich einfach. Verklag mich dafür!“, knallt er mir entgegen. Ich stocke, spüre, wie sich dieses seltsame Gefühl wiederholt in meiner Brust ausbreitet. Er hat das gerade wirklich gesagt? Wir fahren beide zusammen, als die Tür aufgeht und unsere Mitbewohner lachend durch die Tür stürzen. Sie scheinen unsere Anwesenheit im ersten Moment gar nicht wahrzunehmen. Vor allem Abel startet eine weitere Kussattacke, obwohl Kain und ich mehr als eindeutig zu störenden Gaffern mutiert sind. Mein Kindheitsfreund scheint peinlich berührt und weicht dem Angriff wenig dezent aus, in dem er Abels Gesicht zur Seite drückt. „Hey, ist es okay für euch, wenn wir in unser Zimmer verschwinden? Ihr könnt ja den Film zu Ende gucken“, sagt Abel, sieht in erster Linie zu Kain, der sich fahrig durch die dunklen Haare streicht. Sein Nicken ist nur angedeutet. „Robin?“ Abels mattblauen Augen erfassen mich. Wenn ich nicht wüsste, was diese Fragerei bedeutet, dann wäre aus seinem nichtssagenden Blick kaum etwas zu erlesen. Ich zucke mit den Schultern. „Viel Vergnügen…“, gebe ich zu bissig von mir. Jeff bleibt zurück, während sein Partner bereits an der Tür ist. Sein Blick will von mir ein zweites Einverständnis. „Geh, sonst ist Abel fertig bevor du angefangen hast…“ Schon wieder klinge ich verletzend. Mein Mitbewohner trollt sich und Kain und ich bleiben zurück. Schweigend. Die Luft zwischen uns ist so schwer, dass ich das Gefühl habe, nicht atmen zu können. Ich fahre mir unwirsch durch die Haare. Kain unterbricht mich, bevor ich wirklich ansetzten kann. „Ich suche mir etwas anderes zum Pennen…“ Er sieht mich an. In meinem Kopf schreit es laut danach, dass ich ihn aufhalten soll. Ich rühre mich nicht, sondern sehe dabei zu, wie er seinen Rucksack aufklaubt und sich ebenso wie ich durch die dunklen Haare streicht, während er an mir vorbei geht. „Warte“, flüstere ich, jedoch so laut, dass der Angesprochene reagiert. Kain bleibt an der Tür stehen und blickt mir entgegen. Der Kampf in meinem Inneren ist noch in vollem Gange. Unruhe. Das deutliche Schreien in meinem Inneren, was mir sagt, dass ich in meiner Isolation bleiben soll. Das Flüstern, welches mir sagt, dass es mir nicht schadet. Eine Chance. Ich schließe zu ihm auf, ziehe eine der geklebten Karten aus meiner Hosentasche und reiche sie dem Schwarzhaarigen. Es ist die Drei. „Frag mich etwas", sage ich und blicke in das überraschte Gesicht des anderen Mannes. Es ist nur ein Schritt. Was soll schon passieren? Kain nimmt mir die Karte nach kurzem Zögern aus der Hand. „Gab es jemals jemanden, dem du richtig vertraut hast?" Die Frage formuliert sich ohne weitere Verzögerung. Mein Herz macht einen Satz, der für mich einer grobschlächtigen Perforation gleich kommt. Ich habe damit gerechnet, dass er mich nach meinen Büchern fragt. Nach meinen Beweggründen. Vielleicht nach dem versauten Vortrag. Nach allem. Doch das. Es überfordert mich. Ich könnte lügen. Ich könnte flüchten. „Ja,…" Ich antworte ehrlich. „Was ist passiert?" Ich will ihm verdeutlichen, dass das eine unerlaubte zweite Frage ist. Möchte mich abwenden. Weglaufen. Ich tue es nicht. „Er ist gestorben." Kain lässt die Karte sinken. Ich sehe auf. Er hat diesen Gesichtsausdruck, den jeder bekommt, wenn man vom Tod spricht. Es ist diese prekäre Mischung aus Hilflosigkeit und Schuldempfinden, welche unbegründet sind und die Situation immer schwerer machen. -------------------------------------------- PS: Vielen lieben Dank euch wunderbaren Leserchen und Kommentatoren für eure aufbauenden Worte und Reaktionen. Ihr seid unglaublich und ich möchte euch von ganzen Herzen danken! Ein ungeplantes Kapitel, weil das folgende sonst zu lang geworden wäre. <__< ähm ja. eure del Kapitel 14: Ohne Verstand, ohne Mut… aber mit Herz -------------------------------------------------- Kapitel 14 Ohne Verstand, ohne Mut… aber mit Herz Kain macht einen Schritt auf mich zu. Ich weiche unwillkürlich zurück. Ich bin kein Fan von vergangenheitströstenden Umarmungen oder weltschmerzheilenden Gesten. Es änderte nichts. Weder das nagende Gefühl, noch das beißende Unvergessen. Ich brauche das nicht. Er wiederholt die Geste des auf mich zu Kommens. Es ist nur der Ansatz, doch ich flüchte weiter in den Raum hinein, um den größtmöglichen Abstand zwischen uns zu bekommen. „Nicht“, entflieht es mir. Sein Blick ist mir unangenehm genug. Kains Arme zucken kurz nach oben. Dann lehnt er sich gegen meinen Schreibtisch, lässt seine Hände darauf sinken. Wieder trifft mich dieser intensive Blick, scheint mich zu durchdringen und sorgt dafür, dass sich der Schmerz in meinem Inneren überall hin ausbreitet. Ich kann das nicht. „Robin…“, setzt er ruhig an. „Nein!“, sage ich, ohne darüber nachzudenken und seine Worte abzuwarten. Es ist so eindeutig, dass Kain kaum merklich zusammenzuckt. Ich brauche das nicht. Ich möchte nicht darüber reden. Ich will nicht mal daran denken. „Ich lasse dich in Ruhe, wenn du es mir sagst und ich gehe, wenn du es willst. Ganz einfach“, spricht er diesmal aus. „Ich brauche eine Zigarette“, murmele ich unwirsch und greife nach der Strickjacke, die auf meinem Schreibtischstuhl liegt. Das Gefühl in meiner Magengegend wird immer unerträglicher. Es ist schwer und drückt Gedanken nach oben, die ich gern tief versunken gelassen hätte. Ich will diese Gefühle nicht und ich will Kain nicht andauernd so labil gegenübertreten. Wozu will er das überhaupt wissen? Was verspricht er sich davon? Seit Jahren versuche ich mein Bestes, nicht darüber nachdenken zu müssen. Nicht darüber zu reden, weil es mich jedes Mal wieder in Stücke reißt. Niemand muss es wissen. Noch im Gehen fummele nach einer Nikotindröhnung, doch trotz mehrmaligen Abtasten kann ich keine Zigarettenpackung finden. Auf der Hälfte der Treppe nach unten mache ich auf dem Absatz kehrt, bleibe oben wieder stehen und drehe abermals um. Das ist lächerlich. Dann eben keine Zigaretten. Draußen kehrt sich das Gefühl sofort wieder um. Ich will unbedingt Nikotin. Irgendjemand wird schon zu finden sein. Ich laufe zur juristischen Fakultät, in der Hoffnung, dort einen übernächtigten Jurastudenten anzutreffen, der sich mit ein paar Zigaretten und Energydrinks Paragraphen reinzieht. Nichts. Auch der Abstecher zu Abels Homebase, der Fakultät für Prozesswissenschaften, bringt keine Punkte an der Nikotinfront. Langsam werde ich hibbelig, spüre die Nervosität vor allen in meinen Händen. Ich fühle mich ruhelos und schaffe es einfach nicht, meine Gedanken zu ordnen. Ich lasse meinen Blick umher schweifen. Der Sportplatz befindet sich direkt vor meiner Nase. Ein paar Körbe zu werfen, würde mir jetzt helfen. Oder ich sollte einfach eine Runde um den Platz joggen. Die Anstrengung würde mir wahrscheinlich einen Schlaganfall bescheren. Problem gelöst. Ein letzter Blick zum Feld. Ich atme tief ein. Nächster Halt; der Foodstore. Niemand steht draußen und natürlich habe ich kein Geld in der Tasche. Abgesehen von dreißig lausigen Cent, die in meiner Hose rumkullern. Mir wird langsam kalt und es beginnt zu nieseln. Erst, als ich vor der Fakultät ankomme, in der auch die Campuszeitung untergebracht ist, finde ich endlich jemanden, der den für mich begehrenswerten Glimmstängel in den Händen hält. Ein großer, blonder Typ. Er hat etwas Rockiges. Lederjacke. Enge dunkle Jeans. Er tippt auf seinem Handy rum, während ihn eine zierliche Brünette volltextet. Sie verschwindet ins Gebäude, bevor ich bei ihnen angekommen bin. Ich kenne ihn nicht. Er sieht noch immer auf sein leuchtendes Display. Als ich näher komme, lässt das Licht sein komplett gepierctes rechtes Ohr glitzern. „Hey, hast du zufällig noch eine Zigarette für mich übrig?“, frage ich gerade heraus und sehe, wie er mich mit blauen Augen anschaut. Er mustert mich. Zweimal. Von unten nach oben und danach noch in die Gegenrichtung. Ich sehe reichlich seltsam aus in meiner kaputten Hausjeans und der wenig eleganten Strickjacke. Der Typ klemmt sich seine Zigarette zwischen die Lippen und zieht aus seiner Jackeninnentasche eine fast volle Packung. Er reicht sie mir. Meine Lunge macht einen freudigen Hüpfer. Seltsames Gefühl. Eins zu null für die Sucht „Danke.“ Ich zupfe mir eine Zigarette raus. Bevor ich nach Feuer fragen kann, hält er mir ein Zippo hin. Ich spüre, wie seine aufmerksamen Augen meinen Körper abfahren. Diesen Blick hat auch Abel manchmal drauf. Es gefällt mir nicht. „Was? Reicht dir ein einfaches Danke nicht?“, frage ich spitz, nachdem ich einen tiefen Zug genommen und damit eine Unmenge an Rauch in meine Lungen gesogen habe. Auf dem Gesicht des blonden Mannes bildet sich ein anzügliches Grinsen. „Von dir würde ich mir auch einen blasen lassen“, sagt er ohne Umschweife und das Grienen wird noch ein Stück dreckiger. Er knallt mir diese Worte einfach so vor den Latz. Gut, dass ich meine Mimik im Griff habe, sonst hätte er gemerkt, dass ich einen kurzen Moment echt perplex bin. Seine Stimme ist rau und lässt den Inhalt noch derber wirken. „Hat das jemals geklappt?“, frage ich ungerührt und sehe, wie er mit den Schultern zuckt. „Es gibt immer ein erstes Mal“, raunt er mir zu. Siegessicher und selbstüberzeugt. Ich gebe nur ein abschätziges Geräusch von mir, nehme demonstrativ einen tiefen Zug und reiche ihm die Zigarette zurück. So nötig habe ich es nicht. „Also kriege ich keinen geblasen?“, fragt er diesmal lächelnd, tippt sich mit der Zungenspitze leicht gegen die Oberlippe. „Oh, doch. Setz dich hin, beug dich weit nach vorn und dann gib dein Bestes“, kommentiere ich mit bissigen Unterton und sehe, wie er zu lachen beginnt. Seine Hand schiebt mir die Zigarette wieder zu. „Behalt sie. Du hast sie dir verdient!“ Damit nimmt er den letzten Zug von seiner, hebt die Hand kurz zum Gruß, bevor er sie in die Jackentasche versenkt und verschwindet im Fakultätsgebäude. Ich starre noch einen Moment zur Tür und komme nicht umher, den Kopf schütteln. Sowas ist mir noch nie passiert. Ich inhaliere eine Dosis Rauch, warte auf das beruhigende Gefühl, doch es bleibt aus. Der Rauch verschwindet in den Nachthimmel. Aus den Augenwinkel heraus sehe ich, wie sich die Tür noch einmal öffnet. Es sind die roten Haare, die mich sofort wieder wegsehen lassen. Konnte der Abend noch schlimmer werden? Ja, kann er. Kains Rothaarige und die zierliche Brünette von eben kommen näher. Ich widerstehe dem Drang, sofort das Weite zu suchen, ziehe mehrere Mal ruhig an der Zigarette und kann nicht verhindern, dass ich zu lauschen beginne. Lästereien und Gehabe. In meinem Kopf echot die Satiremaschinerie. Als ihr Gerede verstummt, sehe ich wieder auf. Sie hat mich entdeckt und schaut mich mit diesem messerversenkenden Blick an. Das reizt mich nur noch mehr. „Heute wieder Ausgang für die Insassen der Irrenanstalt“, kommentiert sie, neigt sich zu der anderen als würde sie flüstern und spricht es laut aus. Die Brünette kichert, lächelt mir dann aber neutral entgegen. „Und du kommst von deiner Selbsthilfegruppe für wandelnde Modefauxpas?“, kontere ich. Sie trägt schon wieder die roten Turnschuhe und eine Jacke, die aussieht, wie die gehäutete Version des Krümelmonsters. Nur in Weiß. Mein Blick wandert zu der kleinen Brünetten, die definitiv besser angezogen ist. Ich nehme einen letzten Zug, lasse den Qualm seitlich aus meinem Mund entweichen. „Frage. Läuft es bei euch auch so ab mit aufstehen und vorstellen? Hi, ich bin Dorothy und ich kleide mich gern wie jemand aus der Sesamstraße.“ Ich drücke die Zigarette an dem dafür vorgesehenen Entsorgungsbehälter aus und beginne die Melodie zu summen. So laut, dass die beiden Frauen es hören. „Sagt derjenige, der immer noch nicht gelernt hat, zwei gleiche Socken anzuziehen. Das lernt man im Kindergarten.“ Sie deutet auf meine Füße und meint damit, einen Sieg zu erringen. Weit gefehlt. „Oh bitte! Immer noch nichts Neues gefunden? Da war meine Schwester mit 5 Jahren schon kreativer. Sie hat auch regelmäßig die Sesamstraße gesehen. Vielleicht solltest du wieder damit anfangen. So frei nach dem Motto: Wer nicht fragt… bleibt dumm.“ Ich sehe, wie ihr lipglossbeschmierter Mund aufgeht. Es folgt dennoch keine Erwiderung. Irgendwie enttäuschend. Ich warte noch ein paar Sekunden ab. Ihr Gehirn ist nicht das schnellste. Auch die Brünette schaut erwartend zu ihr. „Falls dir eine Erwiderung einfällt, behalt es für dich, mich interessiert´s nicht.“ Als ich gehe, höre ich Kains Ex wettern und ihre Freundin nur leise kichern. Kain. Ob sie ihm von unserem Zusammentreffen berichten wird? Ich werde es nicht. Beim Gehen schiebe ich meine kühlen Finger in die Hosentasche und ertaste die Münzen. Der Regen wird stärker, doch ich schaffe es halbwegs trocken ins Wohnheim. Statt direkt zurück ins Zimmer zu kehren, mache ich einen Umweg zur Dusche. Alles Notwendige befindet sich im Spind. Das warme Wasser ist angenehm und schafft es, dass ich für ein paar Minuten jeglichen Gedanken aus meinem Kopf aussperren kann. Jedwede Erinnerung. Jeden Schmerz. Micha schmeißt mich nach einer halben Stunde raus. Mit feuchten Haaren und nur halb abgetrocknet schiebt er mich über den Flur. Er schimpft seine üblichen Tiraden. Auch diese kann ich mittlerweile auswendig. Dann wünscht er mir eine gute Nacht und ich ihm eine geruhsame Zeit. Ich meine es zu tiefst sarkastisch, da ich genau weiß, dass er heute zur Nacht das Foyer besetzt. Das Licht ist an, als ich die Tür vom Wohnheimzimmer öffen. Kain ist jedoch eingeschlafen. Mit einem Buch auf der nackten Brust ist sein an die Wand gelehnter Oberkörper zur Seite gerutscht. Er atmet ruhig und gleichmäßig. Ein letztes Mal reibe ich mir die Feuchtigkeit aus den Haaren und werfe das Handtuch auf den Stuhl vor meinem Schreibtisch. Ich gehe auf den schlafenden Mann zu und zögere einen Moment, bevor ich ihm vorsichtig das Buch abnehme. Pathobiochemie. Es ist mein Bibliotheksexemplar. Ich erkenne es an dem abgenibbelten Klebestreifen. Die Standortnummer 313c ist nur noch zu erahnen. Ich lege es zur Seite und sehe auf den friedlich pennenden Kerl, der mein Leben in den letzten Wochen seltsamen durcheinander gewürfelt hat. Nicht er allein. Auch mein quietschfideler Mitbewohner trifft ein großes Maß an Schuld. Die eigene Beteiligung streitet mein Gehirn konsequent ab. Ich bin immer noch der Überzeugung, dass das nicht passiert wäre, wenn Jeff weiterhin sein Scheinheterodasein gefristet hätte. Ganz sicher. In Dinge einreden bin ich spitze. Dennoch sehe ich für einen Augenblick michselbstverachtend zum gegenüberliegenden Bett und wieder zurück zu dem Schwarzhaarigen. Ich werde aus Kain einfach nicht schlau. Was will dieser gutaussehende Blödmann wirklich von mir? Ich weiß nichts über ihn. Wahrscheinlich ist das der Grund, aus dem ich so sehr an seinen Motiven zweifle. Weshalb ich ihm einfach nicht glaube. Wieder sind es die üblichen, nichtsaussagenden Fragewörter in meinem Kopf. Warum. Wieso. Was. Und dann noch Wohin. Wohin wird uns das führen? Ich denke an die Geschichte ohne Ende. Bisher war ich nicht gewillt, ihr einen Abschlusszu schreiben. Und ich möchte Kain nicht sagen, dass er gehen soll. Die Ruhe in seinem Gesicht lässt ihn um ein paar Jahre junger wirken. Er rührt sich. Sein Kopf kippt noch mehr zur Seite. Ich strecke meine Hand nach einer verirrten Strähne aus, stoppe wenige Millimeter davor und schalte stattdessen nur das Licht der Nachttischlampe aus. Danach ziehe ich mich leise um, lausche dem ruhigen Atmen des anderen Mannes und bin zu aufgewühlt, um einzuschlafen. Ich erwache schlagartig, als etwas Riesiges und Elefantenschweres ins Wohnheimzimmer stürmt und randaliert. Nach mehrmaligen Blinzeln erkenne ich, dass es nur mein schlanker Mitbewohner ist, der hektisch ein paar Dinge von seinem Schreibtisch in die Tasche wirft. Wieso er das in Godzillamanier macht, ist mir dabei nicht klar. „Jeff… ein Gang runter… schalten“, entflieht es mir gequält. Am Morgen fehlt mir der Sinn für richtige Grammatik und logische Sätze. Der Blonde dreht sich kurz um, lächelt entschuldigend und wirft dabei ungesehen das Mäppchen mit Stiften an der Tasche vorbei. „Guten Morgen, ihr Schlafmützen!“ Jeff klingt viel zu fröhlich. Ich murre als Antwort. Er schiebt als nächstes einen Ordner in die Tasche und wirft sie sich über die Schulter. Durch den Schwung kippt eine halbvolle Wasserflasche von Jeffs Schreibtisch und landet auf Kains bedeckte Füße. Nun murrt auch er. Kurz und weniger deutlich. „Sehen wir uns beim Mittag? Gut. Bis nachher.“ Damit verschwindet er aus dem Zimmer, ohne eine Antwort zu erhalten. Weder von mir noch von dem Schwarzhaarigen, der mittlerweile auch aufsieht. Trotz deutlicher Gegenwehr meines Körpers setze ich mich auf, lehne mich gegen die Wand und kann nur knapp verhindern, dass ich daran wieder in eine liegende Position rutsche. „Was war das denn?“, brummt es mir vom anderen Bett entgegen. „Jeffzilla.“ Das Paradebeispiel für die überaus nervige Art meines werten Mitbewohners. Wieso er ein so schrecklich gutgelaunter Morgenmensch ist, lässt sich für mich bis heute nicht erklären. So war es schon früher. Am schlimmsten waren die Klassenfahrten. Meine ungeheure Beliebtheit sorgte jedes Mal dafür, dass nur Jeff freiwillig mit mir auf ein Zimmer ging. Zu meinem Leidwesen quatschte er mich bis tief in die Nacht voll und empfing mich am Morgen mit einem Grinsen, welches ohne Ohren einen perfekten Kreis gebildet hätte. Mittlerweile habe ich ihn in dieser Hinsicht gut erzogen. Tatsächlich bin ich der Überzeugung, dass ich ein weitaus angenehmerer Zimmergenosse bin, als alle glauben. Ich bin genügsam, ruhig und wenn man mich in Frieden lässt, unglaublich pflegeleicht. Ich bin auch kein Morgenmuffel, jedoch gehört es einfach nicht zu meiner Art, nach dem Aufstehen einen freudeversprühenden Eindruck zu machen. So, wie auch sonst eher nicht. Kain gibt ein seltsames Geräusch von sich und dreht sich auf den Rücken. Die Decke verrutscht, sodass weitere Teile seines Körpers aufgedeckt sind. Er zieht den Arm hoch, legt ihn über sein Gesicht und gibt so den Blick auf seinen Brustmuskel frei. Sein definierter Trizeps, der den Musculus pectoralis major deutlicher hervortreten lässt. Ich sehe auch das Tattoo wieder und kann die Worte noch immer nicht erkennen. Meine Zungenspitze beginnt zu kitzeln. Ebenso, wie meine Fingerkuppen. Es kribbelt sich heiß über meine Handflächen. Ich will ihn berühren, spüre das Verlangen danach ganz deutlich und klar. Mein Blick wandert tiefer. Über die leicht hervortretenden Rippenbögen bis zum Ansatz seiner enganliegenden Shorts. Die Andeutung des Beckenknochens. „…bin…Spatz?“ Nun sehe ich auf. Ich merke die deutliche Erregung und ziehe unwillkürlich die Beine ran. Kains Augenbrauen wandern fragend nach oben. Erst jetzt wird mir klar, dass ich ihn die ganze Zeit angestarrt habe. Moment, gibt er mir schon wieder Tiernamen? Gerade als ich zu Motzen beginnen will, summt sein Telefon. Ich beiße die Zähne zusammen, sehe, wie sich der trainierte Körper des anderen Mannes vom Bett zum Schreibtisch neigt und fahrig nach dem noch immer lärmenden Kommunikationsgerät tastet. „Mist, ich muss los. Ich bringe dir heute Abend die Klausur vorbei“, sagt er und robbt aus dem Bett. Meine Antwort ist ein gleichgültiges Murren. Kain bleibt an der Bettkante sitzen, fährt sich mit der Hand über den Nacken. Ich höre, wie ein paar seiner Knochen knacken. Ein leises, aber durchdringendes Knirschen. Der Schwarzhaarige greift nach seiner Hose. Der raue Jeansstoff verursacht ein seltsames Geräusch, als er über seine muskulösen Beine gleitet. Ich sehe dabei zu, wie er den Knopf schließt und sich einen imaginären Fusel vom Bauch streicht. Es folgt das T-Shirt von gestern. In meinem Kopf setzt der Gegenprozess ein und ich ziehe ihm Stück für Stück die Klamotten wieder aus. Meine mittlere Körperregion zuckt, während ich mir in Erinnerung rufe, wie es sich anfühlt, über die definierten Muskeln zu streichen. Er kommt auf mich zu, beugt sich nach vorn. Seine Lippen treffen meine. Nur kurz. Nur gehaucht. „Hey, ich meinte es ehrlich, was ich gestern sagte“, merkt er an. Kain gab vieles von sich und doch weiß ich genau, was er meint. Ich möchte nicht darüber nachdenken. „Nenn mich nicht Spatz“, kommentiere ich nur und weiche seinem Blick aus. Ich zucke zusammen, als Kains Arm in meinem Blickfeld auftaucht und er sich direkt neben meinem Kopf an der Wand abstützt. Er beugt sich nach vorn. Ich spüre seine Nähe. Sein warmer Atem streicht über meinen Hals. Meine empfindliche linke Seite. Tausende Blitze, die durch meinen Körper jagen. Kribbelnd. Prickelnd. Elektrisierend. „Jetzt erst recht.“ Frechheit. Nun schaue ich ihn wieder an. „Verrecke“ Das Grinsen in seinem Gesicht wird nur ein Stück breiter. „Lass uns heute Abend Spaß haben… Ohne unnötige Diskussionen. Ohne komplizierte Geschichten. Ohne Verpflichtung“, raunt er mir entgegen und zieht mir dann mit einem Ruck die Decke von den Beinen. Mein fahriger Versuch, es zu verhindern, sorgt nur dafür, dass ich meine Problemstelle offenbare. Kains Augen richten sich auf meine Körpermitte. „Sofern du so lange durchhältst“, setzt er nach, während er zwinkert zur Tür verschwindet. Ich antworte ihm mit meinen Mittelfingern und lasse mich, als er weg ist, zurück ins Bett fallen. Es dauert einen Moment, bis ich meinen verräterischen Kadaver beruhigt und in den Waschraum befördert habe. Das ist doch alles absurd. Wieso fasziniert er mich so? Es muss dringend aufhören. Beim Zähneputzen denke ich trotzdem wieder an die muskulöse Silhouette des anderen Mannes, frage mich, ob das mit dem heutigen Abend ernst gemeint war und stehe wieder 20 Minuten vor dem Waschbecken, weil die Bedienung der Zahnbürste mit einem Mal schrecklich kompliziert scheint. Erst beim Frühstück funktionieren mein Blutkreislauf und die Verteilung des roten Lebenssaftes wieder tadellos. Den gesamten restlichen Tag frage ich mich, innerlich mit dem Kopf schüttelnd, wohin das führen wird. Ab Mittag wird das imaginäre Hauptwackeln zu einem tatsächlich ausgeführten und bis zum Abend komme ich auf keinen grünen Zweig. Ich ergebe mich den immer stärkeren Nackenschmerzen und dem akuten Wahnsinn. Vor allem, als mich Kain mit einem verdächtigen Fläschchen weiß-gelber Flüssigkeit im Wohnheim empfängt. Jeff ist mit Abel im Kino und Kain macht seine Drohung wahr. Wir haben Spaß. Schmutzigen, klebrigen Spaß. Es ist fantastisch. Es ist geil und vor allem zum ersten Mal unkompliziert. So, wie er es mir am Anfang versprochen hat. So, wie es für uns das Beste ist. Am Morgen danach schaffe ich es nicht, in den Spiegel zu schauen. Eine Premiere, denn sonst gehen mir die widrigsten Umstände meiner One-Night-Stands am Arsch vorbei. Doch Kain schafft es, dass ich bei der bloßen Erinnerung schamerfüllt anlaufe, wie eine Tomate im Hochsommer. Warum muss der Sex auch derartig befriedigend sein? Wenn der Sex von Jeff und Abel nur halb so gut ist, verstehe ich, wieso die beiden Blonden kaum aus dem Bett kommen. Der amourösen Abwesenheit meines Mitbewohners ist zu verdanken, dass sich der Schwarzhaarige auch am Mittwoch und Donnerstag bei mir blicken lässt. Ohne Ankündigung. Ohne Diskussionen. Ich verfalle nur bei der Erwähnung einer aus den Schoten von Orchideen gewonnenen Soße in eine Art Sexdelirium. Intellekt und Vernunft ade. Anscheinend ist mein Verstand auf dem Wasser treibend zurückgeblieben oder in der klebrigen Süße der Vanillesoße ersoffen. Vielleicht ist genau das gut. Nicht nachdenken. Alles andere verkompliziert es nur, so wie Kain es mir vorgeworfen hat. Am Freitagnachmittag erinnert mich die SMS der hübschen Eisprinzessin daran, dass ich seit Tagen versuche, nicht an das bevorstehende Wochenende zu denken. Ich hadere noch immer mit mir. Mittlerweile habe ich herausbekommen, dass es bei weitem nicht der kleine, süße regionale Wettbewerb ist, von dem die Italienerin gesprochen hat. Es ist eine Messe mit hunderten Ausstellern aus aller Welt. Ihr Wettbewerb ist nur ein Programmpunkt. Solche Veranstaltungen sind nicht mein Ding und mit freundschaftlicher Fürsorge habe ich es auch nicht. Für gewöhnlich bin ich im Finden von Ausreden meisterlich, vor allem, wenn es mir derartige Unannehmlichkeiten erspart. Doch dieses Mal verursacht mir jede halbwegs annehmbare Vermeidungsstrategie Magenschmerzen. Dass mich diese charakterliche Inkonsequenz noch nicht umgebracht hat, ist verwunderlich, denn seit geraumer Zeit spüre ich, wie das imaginäre Geschwür in meinem Verdauungstrakt enorme Expansion betreibt. Auch jetzt wird es in meinem Magen langsam aber sicher flau. Ich sehe einen Moment dabei zu, wie mein unangetastetes Essen lustig vor sich hin dampft und verspüre wenig Drang, mir das Sammelsurium von Erbsen, Möhren und zerfledderten Hähnchenstücken einzuverleiben. Die Gabel lege ich zur Seite, nehme stattdessen das Kommunikationsgerät zur Hand und lese die SMS erneut. Mein Seufzen wiederholt sich laut. Die Nachricht drückt Lucis Verwunderung darüber aus, dass ich kein weiteres Mal versuche, mich aus der Verabredung heraus zu winden. Jetzt durchschauen mich sogar schon 16-Jährige. Vortrefflich. Automatisch krame ich nach einer der möglichen Ausreden, doch nach der Hälfte lösche ich das Getippte wieder. Augen zu und durch. Tschaka. Wenig enthusiastisch schwingt mein Arm unter dem Tisch zweimal hin und her. So viel zum Thema Anfeuern. Ich bekäme nicht mal Wasser zum Kochen, wenn es auf einer angeschalteten Herdplatte steht. Wozu will sie mich überhaupt dabei haben? Es ist Luci nicht leicht gefallen, mich darum zu bitten. Es war ihr peinlich, das habe ich deutlich gesehen an dem Abend, als sie mich danach fragte. Ebenso wie mir. Obwohl sich mein Gefühlsebene eher Richtung unangenehm bewegt. Meine Anwesenheit bekommt jedes Mal diesen bitteren Beigeschmack und ich stelle mir unentwegt vor, wie mich ihr Vater irgendwann zu Nougat verarbeitet. Röstet. Zerreibt. Walzt. Ich kriege Gänsehaut. Sie hat mich darum gebeten. Nur als moralische Unterstützung. Bei der Kombination `Ich und moralisch` beginne ich unauffällig zu husten. Ich greife missmutig nach meinem Besteck und versenke es in der Reis-Soßen-Mischung. Dreimal in der Pampe gedreht und mein Bedürfnis nach Nahrungsaufnahme sinkt gen Null. Mein Blick wandert zurück zum Handydisplay, welches gerade wieder ausgegangen ist. „Tief Lucy beschert uns für das Wochenende stürmische Zeiten“, sagt Jeff und lässt sich auf den Stuhl neben mir nieder, während ich mir den ersten Löffel mit Frikassee in den Mund stecke. „Wie bitte?“, frage ich hektisch und verschlucke mich an mehreren Reiskörnern. „Mein Klimatologe sagt, dass es heute noch windiger wird. Samstag und Sonntag sogar mit Sturmwarnung“, erklärt mir Jeff, während sich seine Hand beruhigend über meinen Rücken arbeitet. Halb klopfend, halb streichelnd. „Und wie kommst du… auf Luci?“, frage ich hustend und angele nach meiner Wasserflasche. „So heißt das Tiefdruckgebiet“, erklärt er wie selbstverständlich. Was fällt mir ein, das nicht zu wissen? Ein Reiskorn hängt quer in meinem Hals. Ich huste gequält weiter, während Jeff meine Situation ausnutzt und mir eine meteorologische Lehrstunde verpasst. Er ist ein Teufel. Eindeutig. Irgendwann tätschelt er mir den Kopf und erklärt mir, dass man sich auf der Internetseite des Wetterinstituts sogar Namenswünsche vormerken lassen kann. „Bewegend“, kommentiere ich diese seltsame Begeisterung trocken und nehme einen weiteren Schluck aus der Flasche. „Was denn? Hoch Jeff beschert uns malerischen Sonnenschein und gemütliche 30 Grad. Das klingt doch wundervoll!“ Mein Kindheitsfreund klingt wie der perfekte Wetteransager. Definitiv den Beruf verfehlt. Ich verbinde Steine immer mit dunkel und kalt. „Oh ja, Hoch Jeff beschert uns Dehydrierung und Dermatitis solaris. Hautkrebs ist der neue Trend für den Sommer“, gebe ich reichlich überspitzt von mir. Mein Mitbewohner sieht mich entgeistert an. Mein Hals brennt weiter und trinken hilft nur mäßig. „Du bist eindeutig ein Tiefdruckgebiet“, kommentiert mein Kindheitsfreund trocken und starrt mir vernichtend entgegen. Ich erwidere es. „Ihr macht ja Gesichter, die sind zum Weglaufen“, sagt Kain und unterbricht damit unseren imaginären Blicke-Blitz-Krieg. Er lässt sich auf den Platz mir gegenüber fallen und streckt seine langen Beine so weit in meine Richtung aus, dass wir uns berühren. Ich sehe auf seinen Teller, der ebenfalls mit dem geschredderten Hühnchen gefüllt ist. Statt Reis hat er Nudeln. Am oberen Rand des Tabletts steht ein Schälchen mit Nachtisch. Rote Grütze und Vanillesoße. Ich schlucke unwillkürlich und spüre das Brennen in meinem Hals wieder deutlicher. „Robin guckt doch immer so. Ich sehe keinen Unterschied zu sonst“, lässt Abel folgen und besetzt den vierten Platz. Er grinst verschmitzt und ich verspüre den Wunsch, ihm das Gesicht in seinem Milchreis zu drücken. „Du unterschätzt die enorme Anstrengung, die man aufwenden muss, um auszusehen wie das Ebenbild von Grumpy Cat.“ Kains Beitrag. „Oh ja, er übt schon seit Jahren.“ Nun Jeff. Er versucht sich im selben Moment an der Imitation und scheitert. Es folgt ein Versuch von Abel. Bei ihm sieht alles dämlich aus, was aber definitiv an seinem Gesicht liegt. „Oh Herr, lasset es endlich Gehirne vom Himmel regnen“, kommentiere ich das dumme Geseiere. „Apropos Gehirne, fangen wir Samstag ´The Walking Dead´ an?“, flötet Jeff durch den Raum, schaut einmal durch die Runde und erntet nickende Gesten. Außer von mir. Walking Was? „Ohne mich“, antworte ich ohne eine Begründung abzugeben und ernte nur irritierte Blicke. „Ich dachte, dir käme ein bisschen Nervenkitzel und Aufregung zu Gute. Blut und Gedärme.“, kommentiert Kain, tuckt seinen Finger in den Nachtisch und sieht mich an, während er ihn übertrieben blutrünstig ableckt. Die Grimassenparade geht weiter. „Robin hat es nicht so mit Untoten“, mischt sich Jeff ein. Wandelnder Tod. Geschnallt. „Oh, hast du etwa Angst vor langsamen, dummen Zombies?“, spottet mir das blonde Anhängsel meines Mitbewohners entgegen. Sein Grinsen ist überheblich. „Wenn es so wäre, würde ich mich wohl pausenlos vor dir erschrecken“, gebe ich retour, sehe mit Genugtuung, wie sein Gesicht zusammenfällt. Kain kichert, während die anderen Beiden abwechselnd grummeln. Diese Geräusche sind die eines Zombies würdig. „Komm schon. Zombies, wie soll das denn funktionieren?“, versucht es Abel erneut. „Schon mal etwas von Yoruba und Tetrodotoxin gehört? Voodoo? Nein? Es gibt auch spezifische Tollwutviren, die ebenfalls Symptome verursachen, die mit zombieähnlichen Verhaltensweisen verglichen werden können. Und seit neusten kursieren Badesalze, die schon bei der ersten Einnahme für ein aggressives Delirium sorgen, welches den Konsumenten zu kannibalistischen Verhaltensweisen zwingt.“ Drei Augenpaaren blicken mir entgegen, als hätte ich gerade versucht zu erklären, dass Sailor Moon nach Steven Segals Abbild geformt wurde. „Himmel, da waren gerade so viele Kuriositäten drin, dass mir ganz schwindelig ist“, sagt Jeff, hält sich demonstrativ an der Tischplatte fest, so, als würde sich der Boden drehen. „Sagt der Geologe, der mir gerade eine Vorlesung zur Klimatologie gehalten hat“, kommentiere ich. Mein Blick wandert zu Abel, der aussieht, als wären seine Gehirnleistungen noch immer bei Yoruba. Wahrscheinlich fragt er sich, wie man es schreibt. „Wieso weißt du sowas?“, fragt er dann. „Wie hast du es an die Uni geschafft, ohne sowas zu wissen?“, frage ich retour und bin wenig freundlich. Das matte Blau von Abels Augen scheint zum ersten Mal zu blitzen. In ihm regt sich Ärger und Wut. Ich kann nur müde darüber lächeln. „Da wir weder Badesalze konsumiert haben, noch Anhänger des Santeríakults sind, wäre es schön, wenn ihr euch nicht zerfleischt. Robin, die Serie soll wirklich gut sein“, versucht Kain einzulenken und verhindert, dass wir uns noch mehr verdeckte Beleidigungen zuwerfen. Damit erfüllt er sein angeborenes Schlichterdasein mit Bravur. Ich räume meine Sachen zusammen und greife nach dem Tablett. „Dann genießt euer Freudenfest an Blut und Gedärme. Ich bin nicht da.“ „Suchst du dir was zum Spielen?“, fragt Jeff und klingt dabei irgendwie verschwörerisch. Für einen Moment wackeln sogar seine Augenbrauen. „Ich bin einfach nur weg!“, gebe ich ausweichend von mir. „Nicht im Wohnheim?“ „Nicht auf dem Campus“, entflieht es mir knurrend. Die erneute Verwunderung in den drei Augenpaaren lässt mich genervt mit meinen eigenen Achterbahnfahren. Ohne weitere Erklärungen gehe ich. Kain holt mich an der Geschirrabgabe ein. Ich schupse meine Essensreste in den vorgesehenen Abfalleimer und lege das Tablett auf dem Band ab. „Tollwutviren. Ehrlich?“ Ich hatte mehrere Vorlesungen zu diesem Thema in den letzten beiden Semestern. Sehr interessant. Der Schwarzhaarige stellt sein Plastikteil neben meinem ab und streicht sich über den Bauch. Im Gegensatz zu mir hat er aufgegessen. „Die Virologie hat große Schnittmengen mit meinem Studiengang und der Santeríakult kommt übrigens aus Kuba. Nicht aus Nigeria, wie der Kult der Yoruba. “ „Du stehst drauf, andere zu berichtigen, oder?“ „Oh ja, das macht mich total heiß“, säusele ich genervt aber absichtlich provozierend. „Gut zu wissen. Und der Hauptkult der Santería basiert auf den Traditionen der Yoruba. Regla de Ocha.“, raunt er mir entgegen, legt, bevor er den fremdsprachlichen Begriff wiedergibt, seinen Arm um meine Hüfte. Ich bekomme sofort Gänsehaut, versuche mich aus dem Griff zu befreien und scheitere. Ich bin stillschweigend beeindruckt und versuche mir das nicht anmerken zu lassen. „Bitte, sorgt dafür, dass die Zombies Abel zuerst fressen und dann dich“, sage ich nur, sehe, wie Kain grinst und mir als Antwort zu flüstert, dass die Zombies nie einen ihresgleichen fressen würde und er selbst nicht schmecke. Ein Scherzkeks. Er lässt von mir ab, als wir auf andere Studenten treffen. „Wo bist du morgen?“ Kain lässt nicht locker. „Musst du nicht wissen“, wiegele ich ab. Die unglaubliche Blöße, die ich mir geben würde, wenn ich ihm erkläre, dass ich zu einem Eiscremewettbewerb gehe, bei dem eine Teilnehmerin ein Eis entworfen hat, was dank Kains Bonbontick entstanden ist, würde mich für ewig zeichnen. Apropos Bonbon. In diesem Moment wickelt er sich einen der Ingwerzucker aus. Meine Zunge beginnt zu kribbeln. Wir bleiben an einem Mülleimer stehen und Kain beginnt, seine Tasche zu leeren. Eine handvoll Verpackungspapiere. Quittungen und anderes. „Wieso machst du so ein Geheimnis daraus? Hast du ein Date?“, fragt er witzelnd. Die Tatsache, dass er dabei klingt, als wäre das vollkommen ausgeschlossen, verärgert mich. „Und wenn es so wäre?“, kontere ich säuerlich und gehe an dem Schwarzhaarigen vorbei, der überrumpelt am Entsorgungscontainer zurückbleibt. Ich gehe ins Wohnheim, setze mich vor meinen Pc und ärgere mich über meine Aussage. Warum habe ich das nicht ignoriert? Jetzt denkt er sicher sonst was. Ich echauffiere mich noch immer, als Jeff am Abend aufschlägt und auf die Idee kommt, seine Musikanlage anzuschmeißen. Mehrere Stunden. Rihanna. Adele. Taylor Swift. 5 Seconds of Summer. Wie konnte mir jahrelang entgegen, dass mein Kindheitsfreund schwul ist? Ich denke kurz an meine Schwester, die mir noch immer nicht geantwortet hat. Keine Seltenheit, aber bei dem Gedanken an das, was sie aushecken könnte, wird mir angst und bange. Als Rihannas `Umbrella´ einsetzt, suche ich das Weite. Die Vermeidung des penetranten Ohrwurms, der mir dieses Lied verursacht, hat höchste Priorität. Mit dem Resultat, dass ich ´ella ella ay ay´-summend unter der Dusche stehe. Danach setze ich mir Kopfhörer auf und schaffe es, ein paar Zeilen des von Brigitta erwarteten Exposés zu tippen. Diese kurze und knappe Zusammenfassung bereitet mir jedes Mal wieder Schwierigkeiten. Den Inhalt von 300 Seiten in nur zwei bis drei Sätzen wiederzugeben, ist nicht leicht. Diesmal fällt es mir besonders schwer und das obwohl es nur ein Entwurf ist, der nicht an den Verleger geht, sondern nur an meine Lektorin. Ich bin mir einfach des Endes noch nicht sicher. Hoffnung oder Enttäuschung? Realismus gegen das konventionell gewünschte Happy End. Wieso sollte sich Martin für Ryan entscheiden? Aus Verbundenheit. Treue. Liebe? Es gibt einfach keinen Grund. Jeff tippt mir auf die Schulter, um mir zu verdeutlichen, dass er ins Bett geht. Ich folge ihm ein paar Minuten später. Der Samstag beginnt mit ausschlafen und seltenen gemeinsamen Frühstück. Brötchen mit Marmelade und Käse. Am Abend taucht als erstes Kain auf, schmeißt sich demonstrativ auf mein Bett und zieht erneut das Buch über Pathobiochemie zu sich heran. Ich sehe auf die Uhr. Ich brauche etwa eine Stunde zum Messegelände und dann noch etwa 15 Minuten, um die richtige Halle zu finden. Das Gelände ist riesig und das Wetter nicht auf meiner Seite. Wie von meinem zimmereigenen Wetterfrosch angekündigt, hat es sich in der Nacht noch weiter zugezogen. Regen. Wind. Zwischendurch sogar etwas Hagel. Im Laufe des Tages hört es sich mehrere Male danach an, dass sich bei der nächsten Böe das Dach verabschiedet. Jeff zittert vor Begeisterung. Ich eher vor der Tatsache, dass die nächste Nacht ungewöhnliche naturecht werden könnte. „Bist du dir sicher, dass du da raus willst?“ Jeff deutet bedeutungsschwanger zum Fenster. Zur lautmalerischen Unterstützung ertönt ein leises Donnern. Meine meteorologischen Grundschulkenntnisse sagen mir, dass das nahende Gewitter noch eine Weile auf sich warten lässt. Trotzdem muss ich mir eingestehen, dass ich meinen Hintern lieber gar nicht von diesem Stuhl bewegen will. „Bisschen Regen und Wind bringen mich nicht um“, antworte ich wenig überzeugend, schiele zu meinem Regenschirm, der bereits vorsorglich am Türgriff hängt. „Unvernunft ist öfter Todesursache als man denkt!“, merkt Kain an. Er sieht extra nicht auf, um besonders desinteressiert zu wirken. Ich ignoriere ihn. „Wir können dich schnell fahren. Mein Auto steht auf dem Parkplatz“, schlägt Jeff vor und ich schaue ihn so genervt an, dass er abwehrend die Hände in die Höhe hebt und sich auf sein Bett fallen lässt. Zur Verabschiedungen erhalte ich malerische Kommentare über den möglichen Ausgang eines Zusammentreffens mit umgestürzten Straßenlaternen oder entwurzelten Bäumen. Passend zur Zombieserie besonders blutig und amputationsverherrlichend. Ein einfaches ´Sei vorsichtig´ hätte mir gereicht. Im Foyer bleibe ich stehen. Die gesamte Fensterfront sieht aus wie eine stilisierte Variante der Niagarafälle. Mein Enthusiasmus geht augenblicklich baden. Die Bewegungen hinter mir ignoriere ich. Jedenfalls so lange, bis Micha neben mir auftaucht. „Willst du da etwas raus?“ Der Wind peitscht eine Salve Regen gegen die Scheibe. Es ist so laut, dass ich den letzten Teil von Michas Frage gar nicht verstehe. Er blickt mich fragend an, beißt von seiner Banane ab und ich schaffe es nicht, einen vielsagenden Blick zu unterdrücken. Ich taste nach meinem Regenschirm. Nichts. Wahrscheinlich baumelt er munter an der Türklinge. Missmutig trete ich den Rückweg an und spiele im meinem Kopf schon die bevorstehende Konversation ab. Hast du es dir anders überlegt? Nein. Bla. Bla. Bla. Ich sehe verwundert auf, als mir Kain im Flur entgegen kommt. Um seinem Finger schwingt mein Regenschirm. „Under my umberella… ella ella, ay ay ay…”, singt Kain leise. Bitte nicht. Ich gehe auf ihn zu und er macht demonstrativ ein paar Schritte zurück. „Nicht witzig.“ Kain lässt sich davon wenig beeindrucken. „It's raining, raining. Ooh baby, it's raining, raining. Baby, come in to me. Come in to me…”, setzt er das Lied fort, während ich es stückweise schaffe, näher zu kommen. Kain ist nicht Rihanna, aber seine Stimme ist wohlklingend. „Kain, komm schon…ich muss wirklich los. Wer weiß, wann ich ankomme…“ Ich mache keine Anstalten, nach dem Schirm zu greifen, da ich genau weiß, dass ihn Kain sofort wieder wegziehen wird. Auf solche Kindereien habe ich keine Lust. „Na dann sag mir doch, wo du hin willst. Ich kann dich auch fahren… dann brauchst du keinen Umberella…ella ella ay ay ay.“ In meinem Kopf echot das Original weiter. Das Lied lässt mich nie wieder los. Ich spüre schon, wie es sich in mein Gehirn frisst. Ich seufze ungeduldig und extrem frustriert auf. „Okay. Okay. Hast du dein Handy dabei?“ „Ja.“ Kurz angebunden. Der Schwarzhaarige reicht mir endlich den Regenschutz. „Sei vorsichtig“, sagt er, lächelt und verschwindet dann summend ins Wohnheimzimmer. Als ich am Bus stehe, bekomme ich die erste Nachricht -Unvernunft muss bestraft werden. Melde dich, sonst mache ich es- Deutliche Drohung. Ich antworte schon aus Protest nicht. Ich brauche die errechnete Stunde und finde die Halle schneller, als ich mir zu getraut habe. Wahrscheinlich liegt es an meinem ausgeprägten Orientierungssinn oder an der übermäßigen Beschilderung. Die in meinem Kopf geführte Debatte entscheidet sich zu meinen Gunsten. Ich bin großartig und schaffe es für ein paar Minuten, meine Nervosität zu überspielen. Als ich nach dem Bezahlen das gutgefüllt Foyer betrete, sieht es schon wieder ganz anders aus. Die vielen Menschen, die trotz des Wetters hier hergefunden haben, machen es mir schwer, irgendwas zu erkennen. Ich ziehe mein Handy hervor und finde zu meinem Glück eine SMS von Luci, die mir halbwegs erklärt, wie ich zu ihrem Bereich komme. Natürlich einmal durch die komplette Halle. Ich besorge mir einen Lageplan, der unbehelligt auf einen der Stehtische liegt, neben dem eine strengwirkende Hostess steht und frage mich beim Davongehen, ob der hätte bezahlt werden müssen. Da trotz mehrmaligen Umdrehen keiner der Sicherheitskräfte auf mich zu gestürmt kommt, ordne ich den Plan unter Meins ein und mache mich auf die Suche. Die Halle ist gigantisch. Überall stehen Stände mit hektisch wuselnden Menschen. Besucher drängen sich an die Theken und überall werden Probenlöffel rumgereicht. Ich schiebe mich durch die Massen und habe das Gefühl, keinen Meter weiter zukommen. Ich hasse es. Wirklich. Meine Laune hat ihren Tiefpunkt erreicht, als ich bei einer Bühne ankomme. Ein Blick nach links und nach rechts. Beim letzten sehe ich endlich einen Bereich, der nach mobilen Küchen aussieht. Ich erkenne sie an dem langen, geflochtenen Zopf, der wie ein Markenzeichen ihren Rücken entlang fällt. Die weiße Schürze betont ihre schlanke Taille. Für einen Moment sehe ich dabei zu, wie Luci hektisch ein paar Utensilien hin und her schiebt. Einen riesigen Löffel aus Holz. Eine Schöpfkelle. Danach knetet sie ihre Hände, reibt sie an einander. Sie ist nervös. Ich schleiche auf die Nische zu und klopfe aufmerksamkeitsfordernd gegen die Holzpaneele. „Bedienung! Einen Erdbeerbecher. Zack Zack!“, sage ich mit verstellter, tiefer Stimme, sehe, wie Luci zusammenfährt und mich im ersten Moment entgeistert ansieht. Ihr Körper entspannt sich, als sie mich erkennt. Mit einem Lächeln kommt sie auf mich zu. „Sehr witzig, du Machoverschnitt“, murmelt sie trocken. Sie bleibt unschlüssig vor mir stehen. Unwillkürlich beginne ich mich nach ihren Vater umzuschauen. Er ist nirgendwo zu sehen und das nimmt mir sofort etwas Anspannung. „Um glaubhaft zu klingen, hättest du einen Nuss-Becher bestellen sollen. Das ist die Sorte für echte Männer“, setzt sie nach, versprüht diese feinen Provokation, die mich schon beim ersten Mal so gereizt hat. „Autsch. Hätte ich das gewusst, dann hätte ich mich besser bewaffnet.“ „Entschuldige.“ Nun legt sich dieser naive Ausdruck auf ihr Gesicht, der mir jedes Mal wieder verdeutlicht, wie viel jünger sie ist. „Ihr habt euch ja einen tollen Tag ausgesucht. Hoffentlich gehst du nicht baden", kommentiere ich und verkneife mir auch die kleine Gemeinheit nicht. „Da bekommt Hals- und Beinbruch viel mehr Gewichtung", gibt sie übertrieben positiv von sich. Was für ein Schenkelklopfer. Ich lache nur aus Höflichkeit. Für einen kurzen Moment herrscht eine seltsame Pause, dann schlingen sich ihre schlanken Arme um mich. „Danke, dass du gekommen bist.“ Sie drückt mich fest. Ich versteife mich für einen kurzen Moment, atme geräuschlos ein und lege dann meine Hand an ihre Schulter. „Klar, du hast mir Eis versprochen.“ „Ja, so viel du willst. Bis du kotzen musst“, murmelt sie gegen meine Schulter und macht keine Anstalten, mich loszulassen. „Okay, das muss nicht sein“, gebe ich lachend von mir und patte ihr kurz über den Kopf. Sie löst sich von mir und obwohl sie nicht aufschaut, sehe ich feine Röte auf ihren Wangen. Danach schweift ihr Blick zu der Kochkabine und seufzt. Ihre langen, vollen Wimpern sind geschminkt. Nur dezent, sodass ihre schönen grünen Augen betont werden. „In 20 Minuten beginnen wir mit der Zubereitung und danach kommt die große Verkostung. Wie konnte ich mich nur überreden lassen? Ich bin ja so aufgeregt. Ich sterbe gleich.“ Nervös beginnt sie sich auf der Lippe rum zu kauen. Lena macht das auch manchmal. Unbewusst hebe ich meine Hand und streiche ihr mit dem Daumen an der Unterlippe entlang. „Hör auf. Du hilfst deinen Vater seit Jahren bei der Herstellung der besten Eissorten des Planeten. Du kannst das im Schlaf. Also hau die Verkoster einfach mit deinem Talent um. Für den Fall aller Fälle hast du ja noch den gigantischen Holzlöffel da.“ Ich deute in die Nische. „Lucrezia,…“ Die Stimme ihres Vaters. Ich ziehe meine Hand ruckartig weg. „Bouna sera, Robin.“ Die italienische Abendbegrüßung setzt er hinterher, als er bei uns angekommen ist. Ich gebe eine fahrige Erwiderung. „Ich wusste nicht, dass du auch hier sein wirst. Hat Luci dich eingela…“ „Zufall. Er ist nur wegen der Messe hier“, entflieht es der jungen Frau prompt. Ich blicke ihr fragend entgegen. Sie hätte mich einweihen sollen. Ich bin kein Fan von Heimlichtuereien. „Ist das so?“ „Oh ja, ich bin Eismessen-Fanatiker. Eis ist mein Leben. Es gibt nichts Besseres. Gar nichts“, kommentiere ich ein klein wenig übertrieben. Lucis Vater mustert mich aufmerksam und blickt zu seiner Tochter, die in diesem Moment verräterisch grinsend zur Seite schaut. Ich sehe mich augenblicklich schreiend und heulend im Ofen rösten. Jetzt werde ich Nougat. Ganz sicher. Wenn ich Glück habe, macht er aus mir Krokant. Das würde mir wenigstens zwei zermürbende Arbeitsschritte ersparen. „Va bene. Luci, du solltest langsam mit den Vorbereitungen beginnen. Die Punkterichter haben sich schon bereit gemacht. Robin, komm doch nachher zu unseren Stand.“ Ein definitiver Rauswurf für mich und eine Mahnung an seine Tochter. „Ich habe schon längst alles rausgelegt“, zetert sie, während er sie in die Nische schiebt. Es folgen ein paar italienische Worte und ich mache mich vom Acker. So, wie gewünscht. Bis zur Verkostung von Lucis Kreation dauert es noch. Mein Blick wandert durch die Menschenmasse und unwillkürlich zum Ausgang. Dann zu den Notausgängen. Ich zwinge mich zur Ruhe. Ich muss nichts weiter tun, als Eis kosten und wenn ich etwas kann, ist es Eis essen. Was also ist mein Problem? Eine Gruppe Teenager kommt mir entgegen. Ich drehe mich um und stolpere über eine doppelt so große Ansammlung an Asiaten. Solche Veranstaltungen sind nicht mein Ding. Ich war einmal auf der Buchmesse und danach nie wieder. Nirgendwo konnte man fünf Minuten in Ruhe stehen und gucken. Geschweige denn mit jemanden reden. Hier ist es ähnlich. Es ist laut und es sind seit meiner Ankunft noch mehr Besucher gekommen. Anscheinend stört sich niemand am schlechten Wetter. Ich bleibe vor einem Stand stehen, der Stieleis aus pürierten Gemüsesorten verkauft. Eis mit Rotkohlgeschmack? Wenigstens die Farbe ist ansprechend, wirkt aber wenig natürlich. Anscheinend sehe ich so interessiert aus, dass eine junge Frau zu mir kommt und überschwänglich zu erklären beginnt, welche Verfahren verwendet werden und welche zusätzlichen Geschmackstoffe in den Sorten enthalten sind. Karotteneis mit Orangensaft. Das Spargeleis wird mit Rhabarbersaft abgerundet. Ich nicke freundlich und gebe dann das russische Wort für Eis von mir, betone es fragend. Danach habe ich meine Ruhe. Ich schiebe mich weiter durch die Massen und verspüre das dringende Bedürfnis, mich an einen Ort zu begeben, an dem niemand anderes ist. Die Sahara vielleicht oder auch die Arktis. Im Moment nehme ich sogar einen großen Karton. Hauptsache allein. Jemand drückt mir ein Probierstäbchen mit weißer cremiger Masse in die Hand. Das Italienisch, welches mir der überaus grinsende Typ entgegenwirft, ist schnell und unverständlich. Ich höre das Wort Knoblauch in dem Moment, in dem ich an der Creme rieche und genauso schnell habe ich ihm das Stäbchen wieder in seine Hand gedrückt. Knoblauch im Eis. Niemals. Gerade als ich einen Zwischengang entdecke, in dem ich einen Moment atmen kann, beginnt mein Telefon zu klingeln. Kains Name taucht auf meinem Display auf. Ich seufze schwermütig und gehe ran. „Hello. It´s me…“, summt es mir a la Adele entgegen. Ich hebe von Kain ungesehen meine Braue und antworte nicht. „Hello from the other side…“, fährt er trällernd fort. „Ernsthaft?“, frage ich unterbrechend, bin minimal amüsiert und beginne augenblicklich mit einem inneren Exorzismus. In nomine Patris et Filii, et Spiritus Sancti. Böser Robin. Böser Robin. „Adele ist im Moment der letzte Schrei!“, gibt Kain erstaunt von sich. Recht hat er. Mir ist auch gerade nach lautsprechendem Kundtun, aber weniger des Gefallens halber. Jeff spielt diesen Song seit Wochen hoch und runter. „Was willst du schon wieder?“, entflieht es mir und ich klinge zu meinem Leidwesen, weniger genervt, als mir lieb ist. „Ein Lebenszeichen. Außerdem haben wir eine Pause eingelegt vom vielen Blut und der Gehirnmasse. Jeff und Abel besorgen gerade etwas zu essen.“ Wie makaber. Trotzdem spüre auch ich langsam Hunger. Ich bin mir nicht sicher, ob ich hier etwas finde, was nicht gefrostet und irgendwie süß ist. „Außerdem versuchen wir noch immer herauszubekommen, wo du bist“, flötet mir der Schwarzhaarige von der Gegenseite zu, macht eine kurze Pause und plappert dann weiter, während ich mich aus dem Gang wagend durch eine Traube Menschen zwänge. „Jeff meint, du bist beim Speed-Dating. Abel denkt, du züchtest bösartige Superviren und ich glaube, dass du auf einer Comic-Konvention bist, verkleidet als Poisen Ivy.“ Eine Rothaarige. Interessant. „Das kriegst du nie raus“, kommentiere ich verschwörerisch, fahre zusammen, als der Aussteller neben mir plötzlich ´Lecker Lecker´ zu brüllen beginnt. Das hat garantiert auch Kain gehört. „Ich hab keine Zeit mehr “, sage ich schnell und würge ohne auf die Reaktion des anderen zu warten das Gespräch ab. Ich sehe auf die Uhr, versuche einzuschätzen, wo ich mich gerade befinde und mache mich dann auf den Rückweg zur Bühne, auf der Luci gleich ihr Tonkabohnen-Ingwer-Zitroneneis präsentieren wird. Ich bin ehrlich gespannt. Vor allem will ich unbedingt wissen, wie es schmeckt. Unwillkürlich breitet sich das Aroma von Kains Ingwerbonbons in meinem Mund aus und nicht nur das. Ich komme zu spät. Die Kandidaten stehen bereits in den hergerichteten Arbeitsbereichen auf der Bühne. Fünf Kreatoren sind im Finale. Luci ist die zweite von Links. Ich suche mir einen Platz in den hinteren Reihen, sitze neben einer älteren Frau, die einen blumigen Duft verströmt. Definitiv eine Note von Lavendel. Ich denke sofort an meine Italienreise, an die kleine Stadt in der Nähe von Florenz. San Casciano in Val di Pesa. Ich kam in einem privatvermieteten Zimmer in einem alten Bauerhaus unter. Die Besitzerin betrieb ein kleines Lokal. Ihre Spezialität war Lavendelblüteneis mit Honig. Es war ein wahrhaftiger Traum. In der letzten Runde dürfen die Finalisten ihr Dekorationsgeschick unter Beweis stellen. Sie kreieren einen Eisbecher mit der entworfenen Kreation als Hauptbestandteil. Luci dekoriert mit feinsten Fäden aus kandierten Ingwer und geriebener Zitronenschale. Dezent, aber verheißungsvoll. Auch die anderen Ergebnisse können sich sehen lassen. Ich würde nicht Richter sein wollen, aber nur zu gern Verkoster. Das Glück habe ich nicht. Luci schlägt sich gut. Nach der Runde müssen drei Leute gehen. Die kleine Italienerin ist nicht dabei. Ihr letzter Gegner wartet mit eine Kombination aus karamellisierten Salzbrezeln in Honigeis auf. Auch das klingt unglaublich lecker. Ich lausche den Ausführungen über die Entstehung ihrer Ideen, beginne zu Schmunzeln, als Lucrezia eine Geschichte ganz ohne Streit und meiner Wenigkeit zum Besten gibt. Ich fühle mich, wie eine kassierte Akte oder zumindest wie eine komplett geschwärzte Seite. In Anbetracht der sengenden Blicke ihres Vaters nehme ich es ihr nicht übel. Eine kurze Beratung und sie krönen meine Favoritin zur besten Jung-Eiskreatorin mit einem Sinn für feine Kombinationen und dem Gespür für modernes Speiseerlebnis. Gratulanten und Beifall. Souverän gemeistert. Beneidenswert. Ich wäre da oben wirklich gestorben. Ich bleibe so lange sitzen, bis sich der größte Ansturm erledigt hat und schleiche dann zu der anliegenden Nische. Dort warte ich auf Luci und ihren Vater, die voller Stolz und strahlend nach hinten gehüpft kommen. Beide wohlgemerkt. Ein witziges Bild. Der von uns im Stillen genannte Eiskönig trägt den leeren Metallbehälter zur Anrichte. Luci kommt direkt auf mich zu, grinst bis über beide Ohren und fällt mir um den Hals. Ich gratuliere ihr, zurückhaltend, denn ich spüre den deutlichen Blick ihres Vaters auf mir. „Oh, warte….“ Sie drückt mich weg, stürmt mit wehendem Zopf zur Nische und sucht nach einem Pappbecher. Als sie zurückkommt, hält sie mir den gefüllt Becher vor die Nase. „Sieht nicht mehr schön aus, aber es schmeckt.“ „Ich bin gespannt.“ Ich ziehe den Löffel raus, betrachte die gelbliche Creme und fühle mich beobachtet. Lucis Gesichts ist angespannt. Ich koste die cremige, angetaute Masse und genieße das vielfältige Aroma, welches sich auf meine Zunge ausbreitet. Erst Süße. Hauchzart erblüht sie auf meiner Zungenspitze, kitzelt sich langsam und intensiv über jeden Millimeter meiner Geschmacksknospen. Bis die feinherbe Säure von Zitrone und Ingwer die Seitenstränge meines Halses in Flammen setzt. Prickelnde Schärfe rundet es ab. Es ist eine Erfüllung. Es ist mir vertraut. Das Einzige, woran ich denke, ist der Schwarzhaarige. Lucis Stimme reißt mich aus den Gedanken. „Und?“ Ich lasse sie noch einen Moment zappeln, in dem ich meinen Kopf hin und her neige. Abwägend. Kritisch. Dann tunke ich den Löffel erneut ein, um noch mehr zu probieren. „Oh, du bist schlimmer als jeder Kritiker.“ „Hey, es ist nun mal nicht leicht, mich zufrieden zu stellen.“ Lucy boxt mir gegen den Arm und weicht meinem Blick aus. „Es ist fantastisch. Wirklich verdient gewonnen.“ Die kleine Italienerin lächelt. Ich kann deutlich sehen, wie sehr sie sich darüber freut, gewonnen zu haben. „Hey. Was war das vorhin?“, frage ich, deute in die Richtung ihres Vaters. Luci folgt meinen Blick und seufzt. „Entschuldige. Er ist mein Dad. Er denkt doofes Zeug.“ Ich sehe zu ihrem Vater, der tunlichst versucht, sich unauffällig zu verhalten. Wie ein tanzender Bär im Clownskostüm. Eine kleine Gruppe kommt an uns vorbei. Der überwiegend männliche Teil beginnt sich seltsam zu artikulieren, als sie Luci entdecken. „Das ist sein Job. So steht es in der Berufsbeschreibung. Väter müssen das… vor allem die von kleinen Mädchen.“ Den letzten Teil nimmt mir Luci definitiv übel. Ihr Blick durchbohrt mich. Väter passen auf ihre Kinder auf. So ist es nun mal. Jedenfalls in den meisten Fällen. Es gibt immer Ausnahmen. Meine Gedanken werden schwermütig. „Ich sollte los.“ Ein Blick auf mein Handy nennt mir Uhrzeit und das Eintreffen neuer Nachrichten. Ich lecke den Rest Eis vom Löffel. Sie bleiben bei dem Stand gegenüberstehen, sehen immer wieder zu uns rüber, bis sie nach kurzem hin und her genügend Mut gesammelt haben. „Machst du hier mit?“, fragt ein dunkelhaariger Typ mit Kappi und weiter Hose. Ich war der Überzeugung, dass der Trend zu vollen Windelhosen vorbei ist. Ich habe mich geirrt. Er setzt sein schmierigstes Lächeln auf und ignoriert meine Anwesenheit. Die Typen bekomme ich auch ohne Hilfe verprügelt. Alle samt. „Nein, ich stehe hier zur Deko. Mach ne Fliege, du vergraulst mir zahlende Kundschaft“, kommentiert die kecke Italienerin und deutet dann vielsagend auf ihre komplette Patissierbekleidung. Ich kann mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. Sie ziehen Leine und ich bin definitiv erheitert. „Was?“, fragt sie grimmig schauend, ich hebe abwehrend meine Hände in die Luft, so, wie es vorhin Jeff getan hat und deute danach kurz an, dass meine Lippen versiegelt sind. Ich werde mich schwer hüten. Ich hatte schließlich meine verbale Kastration schon. Nusseis! Von wegen. „Hey, danke, dass du...“, wiederholt sie, legt ihre Hand an meinen Arm. Ich unterbreche sie. „Schon gut… Feiere deinen Sieg gebührend. Lass dich von deinem Vater einladen, oder sowas.“, schlage ich vor und weiche ihrem Blick aus. „Ja, zu einem Eis vielleicht. Robin,…“, witzelt sie und klingt bedrückt, weil ich sie schon wieder abwürge. „Wir sehen uns…“, sage ich schnell, sehe, wie sie daraufhin kurz nickt. Ich richte meinen Handgruß an ihren Vater und marschiere in die gutgefüllten Gänge der Messehalle. Als ich endlich draußen bin, atme ich die kühle klare Luft ein, ziehe sie förmlich in mich hinein und bin erfreut, dass es nicht mehr regnet. Windig ist es immer noch. Ich laufe zur U-Bahn, wähne mich in voreiliger Zufriedenheit als prompt ein Zug kommt und werde eines Besseren belehrt, als er nach 5 Stationen stoppt. Kein Weiterkommen. Teile der U-Bahnhöfe sind mit Wasser vollgelaufen und es gibt Probleme mit der Elektrik. Großartig. Oben suche ich nach möglichen Bussen, doch keiner fährt auch nur in die Nähe des Campus. Missmutig schlage ich die grobe Richtung zu Fuß ein. Unterwegs vibriert es erneut in meiner Tasche. Schon wieder eine SMS. Sie ist von Kain. Wie gewohnt seufze ich genervt auf, aber dennoch bildet sich ein Gefühl in meiner Brust, welches ich nicht zuordnen kann. Ich lese Kains Frage nach dem Zustand meiner Gliedmaßen und drücke dann auf den grünen Hörer. „Na, ist dir schon was auf den Kopf gefallen?“, meldet er sich prompt und ich weiche in diesem Moment ein paar Mülltüten aus, dir mir entgegen geflogen kommen. Der Empfang ist bescheiden. „Willst du mich jetzt alle halbe Stunde nerven?“, frage ich seufzend. „Ich habe dir doch versprochen, dass ich das tue, wenn du wirklich so verantwortungslos bist und bei dem Wetter draußen rumrennst. Ich hätte nicht gedacht, dass du so unvernünftig bist.“ Langsam nervt es mich. Ich lebe noch und ich habe vor, das noch eine Weile zu tun. Trotz Wind und Wetter. „Ich schlafe mit dir, trotz aller Warnungen, wenn das mal nicht die Unvernunft schlechthin ist“, flüstere ich mehr zu mir selbst, als zu dem anderen. „Wie bitte?“, fragt er und ich höre die deutliche Erregung in seiner Stimme. Die ganze Zeit herrscht schlechter Empfang, aber das hat er gehört. Ich blicke gen Himmel und warte auf den Blitz, der mich heute mit höchster Wahrscheinlichkeit treffen könnte. Nichts passiert. „Du tust ja so, als hätte ich etwas mit der gesamten Fachschaft?“ Vielleicht mit der Halben. Ich denke an seine Rothaarige. Sie ist ein Teil der Fachschaft. „Ist mir gleich.“ In meinen Fingerspitzen beginnt es kitzeln. Ich wechsele das Ohr und schiebe die klamme rechte Hand in die Hosentasche. Ich komme an einer Bushaltestelle vorbei und schaue mir kurz die Seiten des Plans an. Theoretisch kommt in zwei Minuten ein Bus, der halbwegs Richtung Campus fährt. Ich wäge ab, ob es sich lohnt, zu warten. Auf der anderen Seite der Leitung ist es verräterisch still. „Kain…“ setze ich an, doch er unterbricht mich. „Du bist eifersüchtig!“ Was? „Mach dich nicht lächerlich. Ich weiß nicht mal, wie man das Wort schreibt“, wiegele ich ab und blicke nach hinten. Die Hoffnung, einen Bus zu erwischen, schwindet. Wahrscheinlich wurden sie wegen des Wetters gestrichen. Es beginnt zu tröpfeln. „Du bist wirklich eifersüchtig…wie süß...“ Jetzt reicht es. „Kain, fick dich. Ich leg auf.“ „Willst du die nächste große Windböe kriegen? Vielleicht schaffst du es mit der zurück nach Kansas.“ Jetzt bin ich also Dorothy. Ich komme nicht umher, mit dem Kopf zu schütteln. „So ein Pech, ich habe meine roten Lackschuhe nicht an“, hänge ich ran und bekomme die ersten Tropfen ab. Statt auf meine Schuhe schaue ich gen Himmel. „Pass auf, dass dich die Hexe des Westens nicht kriegt…“ Unwillkürlich denke ich schon wieder an Kains Rothaarige und ihre grausigen roten Sneaker. Nur mit viel Mühe verkneife ich mir ein verzweifeltes Knurren, höre Kain am anderen Ende leise über seinen eigenen Scherz kichern. „Gut, dass die böse Hexe dein Problem ist“, sage ich daraufhin bissiger als ich eigentlich wollte. Zu meinem Leidwesen versteht Kain die Anspielung, doch bevor er etwas sagen kann, komme ich ihm zuvor. „Der Bus kommt...“ Gekonnt gelogen. Ich sehe auf die Uhr und setze meinen Weg Richtung Wohnheim fort. Es kann sich nur noch um Stunden handeln. „Sei…“ Bevor er es zu ende sprechen kann, lege ich auf. Ein Donnern. Herrlich. Es folgt starker Platzregen, der dank des Windes von allen Seiten kommt. Sogar von unten. Wie auch immer das mit den physikalischen Gesetzen vereinbar ist. Physik ist scheiße. Als ich etwa 200 Meter gelaufen, fährt der Bus mit Verspätung an mir vorbei. Nun kommt zu meinem nicht vorhandenen Glück auch noch Pech. Hervorragend. Ich brauche fast eineinhalb Stunden, um ins Wohnheim zurück zu kommen. Als ich am Nachtpförtner vorbei schleiche, ernte ich einen kryptischen Kommentar über die Niederlage beim Wet-T-Shirt-Contest und verstehe erst, was er meint, als mir kurz nach der Treppe Kati und Sina auf dem Weg zur Dusche entgegen kommen. Ebenfalls nass und wenig bekleidet. Ich gestehe meine Niederlage ein. Pudel gegen Brüste ist eben nicht fair. Mir begegnen noch weitere Mitstudenten. Bei den Meisten fehlt mir jegliche synaptische Verknüpfung mit Gesichter und Namen. Bei einigen mangelt es mir an jeglichem Wiedererkennungswert. Es ist selten, dass so viele Leute im Wohnheim unterwegs sind. Im Zimmer angekommen sehe ich Licht, denke an Jeff und bin überrascht, als ich Kain erkenne, der es sich mit einem Buch auf dem Bett gemütlich gemacht hat. Er schaut auf, als die Tür mit einem leisen Klacken ins Schloss fällt. „Du siehst ziemlich nass aus. Hat dich statt des Tornados ein Taifun erwischt?“ Kain grinst und mustert mich von oben bis unten. „Hurrikan“, berichtige ich klugscheißerisch. Taifun wird der tropische Wirbelsturm nur im ost- und südasiatischen Raum genannt. „Immer das letzte Wort!“ „Immer.“ Diese Diskussion haben wir schon einmal geführt. Ich bin nicht gewillt sie zu wiederholen. Ich lasse meinen mit Wasser vollgesogenen Rucksack neben dem Schreibtisch fallen. Meine Jacke folgt. Auf meinem Shirt findet sich keine einzige trockene Stelle mehr. Es klebt dicht an meinem Körper und ich spüre, wie ich langsam aber sicher auskühle. Das Bedürfnis, etwas zu essen, was nicht zuckerhaltig und kalt ist, bleibt jedoch stärker, als das Bestreben nach Wärme. Unwillkürlich blicke ich zum Kühlschrank. Das Einzige, was ich darin finde werde, ist wahrscheinlich Käse und Senf. Beides scheint in diesem Moment wie feinköstliches Gold. Ich wende mich zu meinem Kleiderschrank und krame mir ein trockenes Shirt und Unterwäsche hervor. Mit der Hose sieht es schlecht aus. Den Abend mit Kain ohne Beinbekleidung verbringen zu müssen, setzt seltsame Gedanken in Gang. Ich greife mir ein Handtuch und streiche mir damit durch die Haare. „Ich nehme mal an, dass du den Bus nicht gekriegt hast“, stellt Kain fest und steht plötzlich hinter mir. Er hebt meine klitschnasse Jacke vom Boden auf und trägt sie zur Heizung. Dort breitet er sie aus, unterlässt es jedoch, die Temperaturregelung hochzustellen. „Nachdem ich entschieden hatte, dass bei dem Wetter womöglich keine Mitfahrgelegenheit bei mir eintrifft, fuhr der Bus an mir vorbei.“ Ich erwarte Gelächter, doch stattdessen nimmt mir Kain das Handtuch ab und streicht mir ein paar Regentropfen vom Hals. „Wo ist Jeff?“ Ich wische mir einen Wassertropfen davon, der auf meine Nasenspitze zu fließt. „Entweder in oder bei Abel.“ Ich verziehe das Gesicht. Zu viel Information. „Geh lieber schnell duschen“, schlägt Kain mir ruhig und fast besorgt vor. „Ich brauche erst etwas Richtiges zu essen.“ Kains Augenbraue wandert nach oben. „Okay, lass uns einen Deal machen. Du suchst dir einen Föhn und ich besorge dir was zu essen!“ Es klingt tatsächlich verlockend. Ich mustere ihn misstrauisch. Irgendwo ist ein Haken. Ganz sicher. Ich nicke es dennoch ab, sehe, wie er aus dem Wohnheimzimmer verschwindet und stelle mich wenige Minuten später unter die warme Dusche. Es ist eine Wohltat. Ich genieße das wohltuende Wasser, reibe mich sorgsam mit Duschbad ein, bis ich mich blitzblank fühle. Nach zweimaligen Zähneputzen ist auch die erste Diabetespanik gebannt und ich kann den Rest des Abends ohne etwaige Ängste verleben. Aufgewärmt und mit Jeffs Hose bekleidet, bin ich als Erster im Zimmer zurück. Mein Nacken ist steif. Ich lasse meine Finger über die oberen Halswirbel wandern, bewege meinen Kopf ein paar Mal hin und her. Langsam und bedacht, um keine weiteren Schmerzen zu provozieren. Wirklich gut waren Kälte und Wind nicht. Ein leises Knacken. Meine Hand gleitet tiefer in den Kragen meines T-Shirts und ich neige meinen Kopf etwas nach vorn. Mit einem Mal spüre ich Kains Hände an meinen Bauch. Er umgreift mich von hinten. Sein Mund berührt meine Finger. „Brauchst du eine Massage? Kriegst du, aber nur, wenn du mir danach einen bläst.“ Er drückt sich dichter an mich heran und dann spüre ich seine warmen weichen Lippen an meinen Hals. „Feingefühl ist dir wirklich ein Fremdwort, oder?“ Erst als Kains Lippen auf meine empfindliche Seite wechseln, reagiere ich. Ich neige meinen Kopf wieder etwas vor, um ihm zu entkommen. „Warum auch, wenn ich ficken will, dann sage ich es einfach…bisher hat das Bestens funktioniert. Auch bei dir.“ Der Kommentar lässt mich genervt raunen. Kains Zähne bohren sich in mein Ohrläppchen. Feiner Schmerz, der sich über meinen Hals kitzelt und durch seine streichelnde Zunge etwas gelindert wird. Kains wissende Hände gleiten unter mein Shirt, liebkosen sich über meinen flachen Bauch nach oben. Als hätte ich es geahnt. Ich löse mich von ihm, doch Kain hält mich am Shirt zurück, zieht es so weit hoch, dass er meinen unteren Rücken freilegt. „Ach komm schon, das ist… Oh, hast du ein Tattoo?“ Ich wende mich ruckartig um. Fuck. Das unschöne Wort echot durch meinen Kopf, während ich den Schwarzhaarigen reichlich erschrocken entgegen blicke. „Wie kann es sein, dass ich das noch nicht gesehen habe?“ Kain greift nach meinem Shirt, bekommt es zufassen, obwohl ich ausweiche. Er zieht mich näher. „Jetzt weiß ich, warum du dich beim Ficken nicht umdrehen lässt“, entflieht es ihm nach einem Augenblick des Sinnierens. Ich presse meinen Kiefer zusammen. Seine Augen fahren mein Gesicht ab. Die Intensität ist mir unangenehm. „Ich verhungere gleich und ich habe keine Lust auf Diskussionen“, merke ich ausweichend an und versuche mich von Kain zu lösen. Diesmal gelingt es und ich flüchte zu meinem Schreibtisch, wende mich von ihm. „Okay, dann erspar dir die Debatten und lass es mich sehen.“ Mein Tattoo hat noch niemand gesehen. Jedenfalls nie vollständig. Unmerklich schüttle ich den Kopf. Kain tritt wieder hinter mich, schlingt seine Arme um meinen Bauch drückt mich zerquetschend an sich. Wenn er mich ein Stück hochhebt, dann könnte er mich schütteln, wie eine übergroße Puppe. Hilfe. „Essen“, wiederhole ich und versuche erneut, mich von ihm zu lösen, bis ich seine rechte Hand unter meinem Shirt spüre. Die Wärme verdrängt meinen Fluchtreflex. Sie wandert höher, zieht dabei auch mein Shirt nach oben. Die Linke folgt über dem Stoff und bleibt an meinem Hals stehen. Ich spüre, wie sein Daumen über den Rand meines Kiefers streicht. Ich fühle mich benebelt. Es ist wirklich seltsam. Seine Hand wandert zu meiner Schulter, streicht den Kragen des Shirts entlang. Leicht zieht er ihn hinab und ich weiß, dass der obere Teil meines Tattoos ein klein wenig zu erkennen ist. „Kain, lass das…“ Ich gebe einen erneuten, knurrenden Versuch von mir. Mehr für mich selbst, als für Kain. Im Grunde hätte ich damit rechnen müssen, dass er es früher oder später entdecken wird, schließlich sieht er mich häufiger völlig entkleidet als andere. In dem Moment, in dem ich ärgerlich meine Augen schließe, treffen seine Lippen meinen Hals. Sie sind warm und leicht feucht. Er wandert von der feinen Beuge meines Trapezmuskels zu meinem Ohrläppchen. Federleichte Berührungen, die ein kribbelndes Verlangen in mir auslösen. Ich weiß nicht, woher diese Sehnsucht eigentlich kommt. Doch sie durchströmt mich. Heiß und besitzergreifend. Mein Atem geht bereits jetzt schneller. Ich bin mir sicher, dass er spürt, wie heftig mein Körper reagiert. „Zeig es mir.“ Nur ein Flüstern. Mit jeder Sekunde, die vergeht, wird mein Herzschlag heftiger. Dann löst er sich langsam. Ich bleibe regungslos stehen, während sich in meinem Kopf das Abbild meines Rückens formt. Silbe für Silbe ergießt sich der Ausschnitt meines ersten Buches mit hunderten filigran geschriebenen Worten darauf. Die Passagen meines kindlichen Gefühlsspektrums verweben sich in die Kapitel, wie der tieftraurige Faden eines Dramas, in dem die ersten Worte als Grund für all den Schmerz stehen. Sie begannen mit naiven Abenteuern und Wünschen und enden damit, dass mein Bruder vor meinen Augen starb. Die gesamte Geschichte über hat man im Kopf, wie es enden wird und es bildet sich diese schleichende Trauer, die einen trotz langseitiger Einleitung packt und schüttelt, bis einem die Tränen kommen. Denn die Vorbereitung auf das, was kommen wird, ist nie genug. Niemals. --------------------------------------------------------------- PS vom Autor: Danke ihr wundervollen und lieben Kommieverfasser und Leserchens. Ich danke euch für die Geduld und das wunderbare Gefühl, welches ihr mir immer wieder zu kommen lasst. Ihr seid mein Antrieb. Ihr seid meine Kraft! DANKE! del Kapitel 15: Vertrauen ist gut. Sex ist besser. ---------------------------------------------- Kapitel 15 Vertrauen ist gut. Sex ist besser. „Hör auf“, gebe ich murrend, aber so leise von mir, dass ich es kaum selbst höre. „Glaubst du, dass sich damit etwas ändert?“, fragt er und lässt zu, dass ich mich von ihm löse. Er durchschaut mich. Ich greife blind nach dem auf dem Schreibtischstuhl abgelegten Handtuch. Es ist nass und trotzdem lasse ich es erneut durch meine feuchten Haare gleiten. Nur ein Reflex. Nur eine Ablenkung. Der Versuch, damit die unangenehme Situation zu beenden, ist mehr als laienhaft und das Ergebnis unbefriedigend. Kain nimmt mir das Frottee aus der Hand und lässt es einfach fallen. Ich versuche die Erinnerungen verschwinden zu lassen, kämpfe mit mir selbst und mit meinen Gefühlen. So sehr, dass ich für einen Moment die Zähne derartig stark aufeinanderpresse, dass mein Kiefer zu schmerzen beginnt. Dieser gefühlsduselige Kram ist einfach nicht mein Ding. Ich kann damit nicht umgehen. Es zerreißt mich innerlich. Jedes Mal aufs Neue. Ich will nicht weiter darüber nachdenken. Nicht weiter fühlen müssen. Noch immer spüre ich Kain dicht hinter mir. Und obwohl er mich nicht berührt, merke ich, wie sich seine bloße Anwesenheit ertastend um mich legt. Diese Nähe macht mich verrückt und das in einem zwiespältigen Sinn. Ich spüre seinen Atem, der über meinen Hals streicht. Meine Gegenwehr verhallt noch bevor sie angefangen hat. Kain merkt es. Um diesen Gefühlen zu entgehen, schalte ich auf Angriff. Ich drehe mich zu dem Größeren um, sehe nicht auf und greife bestimmt nach der geflügelten Gürtelschnalle. Ich spüre das kühle Metall unter meinen Fingerspitzen und ziehe ihn dichter an mich heran. Kain lässt es geschehen und ich höre, wie dieses feine, wohlige Raunen über seine Lippen perlt. Es ist untermalt mit feinkribbelnder Überraschung und dem genauen Wissen über das, was gleich passieren könnte. In diesen Augenblicken bin ich ein offenes Buch für ihn und obwohl es mich bis in die Grundmauern meiner Abwehr erschüttert, lasse ich es wieder und wieder zu. „Lass uns ficken", gebe ich stumpft von mir. Seinem Blick weiche ich aus, wandere stattdessen mit meinen Augen über seine Brust. Er trägt die Jacke mit dem diagonalen Reißverschluss. Diesmal offen. „Nur, wenn ich dich nach Belieben auf den Bauch drehen darf", flüstert er bestimmend und jagt mir einen mischwarmen Schauer durch den Leib. „Dann bleibt es heute dunkel", kontere ich, spüre, wie sich die Gänsehaut immer weiter auf meinen Körper ausbreitet. Kain beugt sich weiter zu mir runter bis sein Kopf auf der linken Seite neben meinem stoppt. „Das hast du gar nicht nötig", raunt er dicht an meinem Ohr. Ich kann das Amüsement hören, welches eine dieser verschmitzten Mundformationen auf sein Gesicht zaubert. Das Lächeln, bei dem sich Kain hin und wieder leicht auf die Unterlippe beißt. Immer links. Immer neckend. Ich widerstehe dem Bedürfnis, meinen Kopf soweit zur Seite zu neigen, dass Kain nicht mehr an die empfindliche Stelle meines Halses gelangt. Ich spüre, wie sich unaufhörlich feine Schauer über genau diesen Bereich arbeiten und unterdrücke ein verräterisches Keuchen, als sein warmer Atem auf deutlich heißere Haut trifft. „Ist dir eigentlich bewusst, dass sich uns eine breite Palette an neuen Stellungen eröffnet, wenn du mir dein Tattoo zeigst", merkt er an, lässt seinen Mund über meinen Kiefer gleiten. Küssend. Streichelnd. Er stoppt erneut am Übergang zu meinem Ohr. Mein Körper reagiert bei jeder winzigen Berührung und ich kann nicht verhindern, dass sich eine Bandbreite dieser besagten Stellungen in meinem Kopf abspielen. Eine intensiver als die andere. Ich schlucke schwer, verfluche meine eigenen Gedanken und gebe ein halbherziges, genervtes Raunen von mir. „Nach der Woche sollte man meinen, dass du nicht so notgeil sein kannst, wie das gerade klang“, sage ich und sehe auf. Ich blicke direkt in die warmen braunen Augen des trainierten Mannes. „Musst du gerade sagen.“ Kains Hände legen sich an meine Hüfte und er beugt sich wieder dichter zu mir. Ich wende mein Gesicht ab, in der Annahme, dass er mich küssen will. Seine Lippen treffen meine Wange. Unbeirrt wandern sie hoch zu meinem Ohrläppchen. Die Seitenstränge meines Halses beginnen zu kribbeln, als ich mir den vertrauten und noch immer erregenden Geschmack seiner Lippen herbeisehne. Das leichte Saugen kitzelt. Das feine Knabbern jagt reizende Stöße durch meinen Leib. Doch erst der Biss in die weiche empfindliche Stelle meines Ohres lässt mich willig aufkeuchen. „Nicht Küssen, ja", sage ich, als er mir ein weiteres Mal bedeutend nahe kommt. Kain seufzt und richtet sich etwas auf. Sein Blick sagt viel und ich ignoriere ihn. „Du schaffst mich“, kommentiert Kain, während er dabei zusieht, wie meine flinken Finger seinen Gürtel und den Hosenknopf öffnen. Ich reagiere nicht darauf, lasse stattdessen meine Fingerspitzen über die feste Haut seines Unterbauchs gleiten. Vom Nabel bis zum Ansatz seines Hosenbunds. Kain spannt seinen Bauch an, malt wie aus Zauberhand ein perfektes Bild aus Muskeln und Haut. Ein weiteres Mal streicheln meine gierigen Hände die feinen Erhebungen entlang, liebkosen die wohltuenden Senken. Ich weiß, dass er mich dabei beobachtet. Kain beginnt seine linke Hand über meine Brust wandern zu lassen. Die Berührungen sind deutlich und klar. Seine Finger stoppen am Rand meines Shirts, tasten sich nach kurzem Spielen unter den Stoff und treffen auf meine warme kribbelnde Haut. Das Gefühl ist berauschend. „Ist dir klar, dass das mein Wohlfühlgefühl mindert?“, flüstert der Schwarzhaarige, bezieht sich dabei noch immer auf meine unverstandene Bitte. „Du kannst jeder Zeit gehen", raune ich gespielt knurrend zurück. „Erklär mir den Grund", setzt er nach und ich blicke auf, stoppe meine streichelnden Bewegungen. Ernsthaft? Wieso kann er nicht einfach den Mund halten? „Wenn ich rumknutschen will, suche ich mir eine Freundin. Wir ficken! Schon vergessen?", knalle ich ihm unsensibel entgegen. Ich denke an seine noch eben verwendeten Worte. Er sagt ficken und alle springen. Das kann ich auch. Kain hält in seiner Bewegung inne. Nur ganz kurz sehe ich auf, bemerke seinen abgewandten Blick. „Also?“ Ich warte keine Erwiderung ab, schiebe meine Hand im selben Moment tief in seine Hose, spüre, wie er zuckt. Sofort fühle ich die Härte seiner Erregung. Ich umfasse ihn gierig und spüre mit Genugtuung die Wärme, die sich ausbreitet. Er greift mit der rechten Hand an meiner Schulter. Sein Daumen drückt sich in die Unterseite meines Schlüsselbeins und die Finger krallen sich haltsuchend in den Musculus trapezius. Ich spanne ihn an. Kain stöhnt auf, also meine willigen Finger zu einer pumpenden Bewegung ansetzen. Sie ist nur angedeutet und doch merke ich, wie er bebt. Ich sehe auf. Kain blickt mir mit halbgeöffneten Augen entgegen. Er rührt sich nicht und für einen Sekundenbruchteil sehe ich etwas in seinem Blick, was mich irritiert. Ich kann es nicht deuten und das missfällt mir jedes Mal. Kains Hand gleitet höher. Ich merke die raue Haut seiner Finger deutlich auf meiner und genieße es. Sie streicht meinen Hals entlang. Mit der anderen zieht er mein Becken dichter an seines. Meiner Hand lässt er dennoch genügend Spielraum und den nutze ich. Ich streiche über seine Härte. Die gesamte Länge. Von unten nach oben und wieder tiefer. Ich entlocke ihm damit genießerisches Raunen. Kain schließt seine Augen, beugt sich wieder tiefer zu meiner Halsbeuge und gibt sich meinen intensiver werdenden Berührungen hin. Das stetige Keuchen in meinem Ohr versetzt meinen Körper in einen kribbelnden Zustand. Ich bilde mit meinen Fingern einen festen Ring, bewege sie auf und ab und spüre, wie seine Erregung mit jeder Berührung feuchter und heißer wird. Das Wissen um seine Lust erregt mich selbst ungemein. Die Hand an meiner Hüfte bringt mir die ersehnte Beachtung, öffnet ohne Widerstand den Knopf von Jeffs Hose und gleitet tiefer. Auch seine Berührungen steigern sich von zärtlichem Ertasten zu intensiven Reiben. Das Raue seiner Finger ist fantastisch. Mein Keuchen wird schnell genießendes Stöhnen, während Kains Lippen meinen Hals bedecken. Hin und wieder ein sanfter Biss. Nur leicht. Nur minimal. Er paart sie mit zärtlichen Küssen. Es intensiviert meine Empfindungen und lässt meinen Körper nach kurzer Zeit himmlisch Schweben. Ich komme ungehindert, heiß und im vollen Maß befriedigend. So, wie die letzten Tage auch. Ich habe dennoch nicht genug. Ich erwische mich selbst dabei, wie ich ihm meine Lippen näher bringe, stoppe kurz vor einem Kuss und weiche zurück. Ertappt und erfüllt von inneren Zwiespalt, weiche ich Kains wissenden Blick aus und drücke ihn bestimmt Richtung Bett. Nur ein Schritt. Er widersteht einem weiteren wegweisenden Stoß und beugt sich zu meiner Schreibtischlampe. Das Licht erlischt und nur noch das schummerige Orange der Außenbeleuchtung dringt durch das Fenster. Ich sehe auf die wohlgeformte Silhouette meines Gegenübers, erkenne erst nach einem Moment die heranwinkende Geste des anderen. Ich folge ihr wie ein Süchtiger der nächsten Verheißung nach einem weiteren Schuss. Mein Oberteil verschwindet noch bevor wir beim Bett angekommen sind. Ich spüre Kains Härte, als ich nach dem Rand seines T-Shirts greife. Er ist noch nicht gekommen, da ich mich egoistischer Weise mehr auf meine eigene Erregung konzentriert habe. Ich schiebe das Shirt samt geöffneter Strickjacke von seinem Schultern. Unachtsam landet beides vor dem Bett. In der schummrigen Dunkelheit lässt sich nur erahnen, wie sich seine Erregung unter der enganliegenden Shorts abbildet. In meinem Kopf malen sich hunderte Bilder und formulieren im selben Moment erregende Worte. Die Beschreibungen darüber, wie sich die Wärme seiner Haut unter meinen Fingern anfühlt. Was sie bewirkt. Das Gefühl zu Ersehnen. Mit aller Macht und grenzenloser Lust. Ich will ihn spüren, fühlen, wie er in mich eindringt und in diesem Augenblick mit jedem seiner intensiven Stöße mehr und mehr Besitz von mir ergreift. In diesen Momenten verspüre ich jedes Mal Erleichterung. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass mich der andere Mann derartig gefangen genommen hat. Wieder ein angesetzter Kuss, doch kurz vor meinen Lippen stoppt er bewusst. Kains Hand legt sich an meinen Hals. Sein Daumen streicht über meinen Kiefer, bettet sich auf meine Lippen und sorgt dann dafür, dass ich meinen Mund ein klein wenig öffne. Ich kann nicht widerstehen und lasse meine Zungenspitze dagegen stupsen. Genau das, was Kain will. Spielereien. Neckereien. Ich kann verstehen, was er daran findet. Vor allem, wenn das Kribbeln, welches bei ihm ausgelöst wird, auch nur halb so stark ist, wie das in mir. Ich beginne meine Hände ungesehen über seine Brust wandern zu lassen, fühle jeden Bereich seiner Muskeln und präge sie mir ein. Selbst die raue Stelle einer Narbe kurz oberhalb seines linken Hüftknochens. Sie ist kaum zu sehen, versteckt sich gut unter dem Rand des Hosenbunds. Doch ich kann sie spüren. Klein. Fast kreisrund. Ich frage mich wieder woher sie stammt, doch spreche es nicht laut aus. Ich schiebe seine Hose tiefer, sodass seine Shorts deutlicher zu erahnen ist. Der Gedanke an seine Härte und wie sie sich unter dem Stoff abzeichnet, spült jegliche Geduld gen Jordan. Von außen greife ich an seiner Erregung, reibe vorsichtig aber deutlich darüber und bin erstaunt, als Kain ohne mündliche Aufforderung auch dieses Stück Stoff verschwinden lässt. Meine Beinkleider folgen, landen irgendwo im Raum und unsere beiden Körper endlich in der Horizontalen. Nach kurzer Oberhand drückt er mich in die Kissen. Sein schwerer Körper auf meinem lässt mich vor Erregung erzittern und ich ergebe mich der gewohnten Rollenverteilung. Kain gleitet absichtlich etwas nach unten, küsst sich über mein Sternum bis er bei meiner rechten Brustwarze ankommt. Mit der Zungenspitze tippt er dagegen, feuchtet sie an, um dann genüsslich dagegen zu hauchen. Ich keuche auf, versuche auf dem Rücken liegend an Jeffs Nachtschränkchen zu gelangen, während der Schwarzhaarige zur anderen Seite wechselt. Dasselbe Spiel bis er knabbernd seine Zähne zur Hilfe nimmt. Er genießt diese Neckereien, die mich schier wahnsinnig machen. Ich bäume mich ihm erregt entgegen, tippe mit den Fingerspitzen nur noch fahrig am Holz des Nachttisches entlang. Ich fühle mich benebelt und obwohl ich bereits gekommen bin, habe ich das Gefühl, dass der Druck in meiner Lendengegend nur noch extremer geworden ist. Ich keuche erregt und zu gleich frustriert auf. Kain blickt zu mir, schmunzelt amüsiert und drückt sich wieder höher. „Geduld ist nicht deine Stärke, oder?“, grinst er mir entgegen und streckt seinen deutlich längeren Arm nach dem Nachttisch aus. „Halt die Klappe“, antworte ich, nehme ihm, als er den Arm zurückzieht, die Tube aus Hand. Kain beobachtet mich dabei, wie ich mit nur einer Hand den Deckel abdrehe. Wie sich dabei ein klein Wenig des durchsichtigen Gels herausdrückt und auf meiner Brust kleckert. Gleichzeitig schiebe ich den schweren Körper des anderen Mannes zur Seite, richte mich auf und hocke mich über ihn. Ich spüre, wie sich das Gel durch meine Körperwärme noch mehr verflüssigt und langsam tiefer fließt bis es von Kains Händen aufgehalten wird. Er streicht etwas davon und lässt danach genau diesen Finger über die Spitze meiner Erregung wandern. Genau über den feinen Schlitz in der Mitte. Ich spüre, wie meine Härte zu zucken beginnt und wie sich intensive Schauer durch meinen Körper arbeiten. Kain richtet sich auf, umfasst meinen Hintern mit seinen Händen und knabbert sich für einen Moment mein linkes Schlüsselbein entlang. Dann nimmt er mir die Tube aus der Hand. Trotz des Wissens um die Kühle des Gels überrascht es mich, als es wiederholt auf meine Haut gelangt. Ich schmiege mich dichter in seinen Schoß und genieße es zu spüren, wie seine wissenden Hände ihren Weg finden, wie gleichzeitig seine Lippen meine Brustwarzen liebkosen und die empfindliche Haut meines Halses bearbeiten. Doch das Nippen und minimale Stoßen seiner Hüfte, das seine Härte wieder und wieder gegen meinen Eingang bewegt, merke ich am heftigsten. Unbewusst lasse ich mein Becken kreisen. Nur ganz leicht und doch willig. Die Empfindungen in meinem Körper sind vielfältig, abwechslungsreich und angenehm. Die Mischung aus intensiven und voranbringenden Vorbereiten und ablenkenden Spielereien ist typisch für den Schwarzhaarigen. Ich genieße es und lasse meine Finger über den warmen Leib des anderen Mannes gleiten, fahre seine Schultern ab und seinen Hals. Ich sitze zu hoch, um ihn andersartig liebkosen zu können. Meine Finger gleiten durch seine Haare, geben dadurch den feinen, wohltuenden Duft preis, denn ich bei Kain immer häufiger wahrnehme. Es berauscht mich zusehends. Nach etlichen genießerischen Minuten, in denen er mich nur mit seinen geschickten Fingern in den Wahnsinn treibt, hält der andere Mann in seinen Bewegungen inne. Unwillkürliche richte ich meinen Blick nach unten, sehe in verhängendes Braun. „Umdrehen!“, fordert er mich auf. Kain leckt sich über die Oberlippen, während sich seine Finger erneut in Bewegung setzen. Sein Blick bleibt verlangend und er wird keine Widerrede dulden. Ich zögere, aber bin zu benebelt und zu erregt um konsequent durchzuziehen, dass ich genau das nicht wollte. Mein Puls rast, lässt meinen gesamten Körper willig pulsieren. Ich tue es und höre, wie sich der größere Mann hinter mir ebenfalls bewegt und dann dicht hinter mir kniet. Er beugt sich vor, legt seine Hände an meine Seite und seine Lippen gegen meinen Hals. Ein Biss. Ein Kuss. Kain drückt meinen Oberkörper auf das Bett. Und obwohl mir sehr wohl bewusst ist, dass das Licht vom Fenster ausreicht, um das Tattoo auf meinen Rücken schemenhaft erkennen zu können, lasse ich es geschehen. Ich spüre Kains Hand, die mich an der Schulter fest nach unten drückt und dann fordernd über meinen Rücken gleitet. Es sind nur seine Fingerspitzen, die sich in meine Haut drücken und doch fühlt es sich an, als würden die berührten Stellen preisgebend brennen. Er kann nichts lesen. Nichts deutlich erkennen. Und dennoch durchfährt mich in diesem Moment auch Hauch von Entblößung. Mein Herzschlag scheint sich zu verdreifachen. Er rast. Er pulsiert. An meinem Steißbein stoppen seine Berührungen. Ich spüre seinen Blick auf mir. Dann merke ich, wie er einen Finger zärtlich zwischen meinen Pobacken gleiten lässt. Tastend. Erkundend. Unwillkürlich strecke ich ihm meinen Hintern entgegen. Zwei Finger und er verteilt etwas mehr Gel auf meiner Haut. Ich will nicht noch mehr Vorbereitung. Ich will ihn spüren. „Kain,…“, keuche ich deutlich, versuche mich wieder etwas aufzurichten, doch er drückt mich tadelnd zurück. Dabei schiebt er sein Becken und seine Härte fest gegen mich. Ich spüre ihn an genau der richtigen Stelle, höre, wie er selbst erregt keucht und genüsslich beginnt, sich an mir zu reiben. Seine Nähe und seine Neckereien machen mich verrückt. „Bitte“, flehe ich unvermittelt, versteife mich etwas, als ich begreife, was ich gerade von mir gegeben habe und merke, wie Kain in seiner Bewegung innehält. Ich erwarte neckende, aufziehende Worte des anderen, doch diesmal bleibt es still. Stattdessen packt er mich an der Hüfte und ich spüre mit beglückender Vorfreude, wie er meiner Bitte nachkommt. Langsam, aber erfüllend. Ein erster Stoß. Er dringt tief in mich und zieht sich langsam wieder zurück. Ich stöhne erregt auf, kralle meine linke Hand in den Bettbezug und strecke die andere nach hinten in Kains Richtung aus. Ich will, dass seine Stöße schneller werden. Kains Hände streicheln sich meine Seite entlang. Ein feines Kitzeln arbeitet sich durch meinen Körper und ich beuge meinen Rücken etwas mehr durch, drücke ihm meinen Hintern noch mehr entgegen. Seine Hand streicht zu meinem Bauch, gleitet über meine pulsierende Härte und dann beginnt er, mich fester zu nehmen. Die Steigerung seiner Stöße lässt meinen Körper pulsieren, treibt den Druck in meinen Lenden in die scheinbare Unendlichkeit. Ich bin unglaublich erregt und dennoch geißelt mich das Wissen um die Blicke auf meinem Rücken mit Unkonzentriertheit. Es sorgt für ein sonderbares Gefühl in meiner Brust. Der einzige Versuch, die Position noch einmal zu ändern, wird sofort unterbunden. Kain greift nach meinem nach hinten gestreckten Arm, zieht etwas nach oben und verringert so meinen Bewegungsspielraum. Seine Stöße werden danach noch etwas heftiger. Mein Keuchen und Stöhnen ist laut und hallt unaufhörlich durch den erhitzten Raum. Es ist derartig wohltuend, dass ich ein weiteres Mal schnell und heftig komme, noch bevor Kain es geschafft hat. Ich will auch gar nicht, dass es schon aufhört. Das Gefühl, ihn tief in mir zu spüren ist atemberaubend. Mittlerweile glaube ich wirklich, dass mir Kain den Verstand herausfickt und ich kann nichts anderes tun, als willig vor ihm zu knien. Drei weitere Stöße und auch Kain kommt. Er hält mich in der Position, bleibt tief in mir und ich spüre, wie sein heißer Atem meinen Nacken trifft, bekomme Gänsehaut durch die Kühle, die das folgende Verschwinden mitbringt sich. Die warme Haut seines Oberkörpers schmiegt sich gegen meinen Rücken. Das Kitzeln, das sich auf meinen Leib ausbreitet, ist sonderbar intensiv. Das Beben geht tief. Die Schwere von Kains Körper ist zugleich Wohltat, als auch Mahnung. „Du bist schwer“, murmele ich ermattet und nutze es als Versuch, der kuschelnden Situation zu entkommen, die sich langsam, aber unheilsam anbahnt. Ich ziehe meinen Arm hervor, spüre die Auswirkungen der seltsamen Stellung, die er eben beim Sex hatte und versuche das unschöne Kribbeln herauszuschütteln. Es wird nur schlimmer. „Eingeschlafen?“, fragt Kain amüsiert, lässt seine Lippen kurz über meine Schulter wandern und richtet sich dann auf. Er kippt neben mir ins Bett, streicht dabei meinen Rücken entlang bis zu meinem Hintern. Ich drücke mich nach oben, weiche weiteren Annäherungen aus und will im Grunde nur verhindern, dass er einen deutlicheren Blick auf meinen Rücken erhaschen kann. Auf dem Weg zu meinem Bett sammele ich mein Shirt ein, werfe es auf meinen Schreibtisch und höre, wie irgendetwas umfällt. Für einen kurzen Moment massiere ich meine Handfläche und spüre das heftige Stechen und Prickeln nur noch heftiger. Ich ziehe meine Schlafklamotten unter dem Kissen hervor und sehe zu Jeffs Bett. Ich kann nicht erkennen, ob Kain noch wach ist oder bereits eingeschlafen ist. „Lass mich deine Bücher lesen“, sagt der Schwarzhaarige plötzlich, als ich mir mein Schlafshirt überziehe. Ich stoppe in meiner Tätigkeit und höre, wie sich Kain auf Jeffs Bett bewegt. „Wozu?“ „Das ist schon mal kein Nein.“ Das Rascheln auf der Seite des Zimmers wird lauter. Da die Bücher veröffentlicht sind, kann ich es schlicht und einfach gar nicht verhindern, dass er sie liest. Was soll das also? „Nein. Niemals. Nie. Nein. Deutlich genug? Warum willst du unbedingt eine Erlaubnis?“, frage ich genervt und in die Ecke gedrängt, weil ich es nicht abwehren kann. Ich lasse mich auf mein Bett fallen und streife mir die Hose über die Beine. Kain schüttelt das Kissen auf und zerrt die Decke hin und her. „Du weißt, wieso…“, kommentiert er, nachdem scheinbar alles am richtigen Platz ist. Weiß ich es wirklich? Es ändert dieses heftige Unbehagen nicht. „Ich glaube, dass sie mehr über dich preisgeben, als dir lieb ist“, erklärt Kain seine Intension. „Blödsinn. Die Dinger haben rein gar nichts mit mir zu tun“, wiegele ich sofort ab und kippe ins Kissen. „Dann sollte es kein Problem für dich sein, wenn ich sie lese.“ In die Falle getappt. Mit beiden Beinen und Armen. Großartig. Unbewusst richte ich mich sofort wieder auf und starre zu dem anderen Mann in die Dunkelheit. Mein böser Blick bleibt völlig unbemerkt und zu meinem Leidwesen geht er auch nicht in Flammen auf. „Mach, was du willst!“, gebe ich vorhersehbar desinteressiert und selbst resignierend von mir und kippe wieder zurück. Die Kühle des Kissens umfängt mich mit Hohn. Wenn es könnte, würde es spotten und kichern. Ich drehe mich, über meine eigenen Gedanken murrend, zur Seite. Kain geht mir mit seiner Fragerei auf die Nerven. Die Bücher. Die Karten. Mein Rücken. Ständig findet er neue Dinge. Ich bin selbst schuld. Ich könnte es schnell beenden. In jemanden wehtun bin ich gut. Sehr gut so gar. Als ich meine Augen schließe, sehe ich René und Wort für Wort wiederholen sich die Sätze, die auch auf meinem Rücken stehen. In dieser Nacht träume ich das erste Mal seit langer Zeit von früher. Gegen 3 Uhr morgens bin ich wach und obwohl sich mein Körper schwer und geschafft anfühlt, schlafe ich nicht wieder ein. Die innere Unruhe hindert mich daran. Ich versuche meine Gedanken auf andere Dinge zu konzentrieren. Klausurthemen. Charakterdesign für weitere Figuren. Einen Nebenplot für die neue Geschichte. Nichts. Ich denke dauernd an meinen Bruder und höre das herannahende Auto. Erst gegen 6 Uhr schlafe ich wieder ein. Diesmal bleibt es traumlos. Den Sonntagmorgen verbringe ich damit, den in der Nacht verpassten Schlaf aufzuholen, ignoriere meinen seit den frühen Morgenstunden meckernden Magen und auch Kains Murren, das mir immer wieder mitteilt, dass er noch Kekse in der Tasche hat. An das Sandwich vom Abend denken wir beide nicht. Der Schwarzhaarige rafft sich gegen Mittag auf, wirft mir das angesprochene Backwerk zu und verabschiedet sich zum Training. Meine Frage nach der Art seines Trainings bleibt unbeantwortet. Was nach kurzer Überlegung daran gelegen hat, dass ich die Frage erst stellte, als Kain bereits verschwunden war. Hungrig und müde ist eine denkbar schlechte Kombination. In diesem Zustand ist selbst das Socken anziehen eine quälende Aufgabe für mich, da trotz anatomischen Wissens meine Arme nicht lang genug sind, um an die Füße zureichen und die Beine zu steif sind, um sie effektiv zu verkürzen. Ein Dilemma. Erst als mein vielquatschender Mitbewohner auftaucht und sich urplötzlich der gesamte Raum mit dem Duft von asiatischen Essen füllt, erwachen meine Lebensgeister. Gemüse mit rotem Curry und Reis. Ich bin selig. Jeff, mein Retter, wurde animiert von Kain, der nach dem geräuschvollen Morgen befürchtete, dass ich mich bald selbst verdaue. Ich schreibe dem Schwarzhaarigen am späten Nachmittag eine Nachricht, in der ich mich nach seinem Trainingsfortschritt erkundige und darin geschickt aber unauffällig einen Dank integriere. Ein Hoch auf die deutsche Sprache, damit kann man alles durch die Blume sagen. Danach setze ich mich an den Computer, starre für etliche Minuten auf meinen Desktophintergrund und kann mich nicht dazu aufraffen, etwas Sinnvolles zu tun. Also checke ich E-Mails. Ich beantworte einige und ignoriere viele. Darunter auch eine Mail von meiner liebenswerten Lektorin, die mir blumig von ihrem Aufenthalt in der USA berichtet. Alles mega. Alles nice. Alles weckt meinen Würgereiz. Neben wenigen nützlichen Informationen berichtet sie mir, wie interessant und erhellend ihre Vorträge gewesen sind. Mein von lauschigen Vorlesungen und Seminaren geprägtes Leben scheint für sie ein Elysium zu sein. Ich nehme mir fest vor, sie einmal die Vorlesung von Professor Luc Guerin über die Bedeutung von physikalischer Chemie im Gesamt Chorus der Biochemie zustecken. Sie wird blitzschnell von der Vorstellung kuriert sein, dass ein Studentenleben nur fluffig und flauschig ist. Bereits der Gedanke an den Franzosen macht mir schlechte Laune. Als ich dann auch noch die beiden Worte Fluffig und Flauschig in ihrer Mail lese, denke ich nur noch an Glee Club meets Halloween. Und ich bin der mit der Hockymaske. Auch nach einer Stunde habe ich noch keine Antwort von Kain und noch nichts Nützliches gemacht. Ich beruhige mich damit, dass der Sonntag prädisponiert zum Faulenzen ist und ertappe mich dabei, wie ich hin und wieder zu meinem Kindheitsfreund schiele. Er lernt. Mein schlechtes Gewissen steigt sprunghaft an. Jeff summt schon die ganze Zeit vor sich hin. Ein seltsames Bild. Das Lied erkenne ich nicht. „Hey, hast du eigentlich einen Wunsch zum Geburtstag“, frage ich, lehne mich mit meinem Schreibtischstuhl so weit zurück, dass ich Jeff verkehrt herum sehen kann. Sein Jahrestag ist in einer Woche. „Sei da“, sagt er und sieht nicht mal auf. Mir entflieht ein leises, langgezogenes Buh. „Und was planst du?“, erfrage ich vorsichtig und erahne etwas furchtbar Böses. „Eine Party.“ „Mit Punsch und Bingo?“ Mit Bingo hätte er mich. Jeff hört endlich auf zu schreiben. „Nein, du Traumtänzer. Wodka und Techno mit mächtig viel ´Dancing and Fun´. Die Erlaubnis habe ich mir schon geholt.“ Traumhaft, echot es sarkastisch in meinem Kopf umher. Nun dreht er sich zu mir um, shakt paar Mal rhythmisch mit seinen Armen hin und her. In seiner Hand hält er immer noch den Stift. Er erinnert mich an dieses eine bestimmte Pokémon. Aus Ermangelung an Begeisterungsfähigkeit wandert meine Augenbraue nur ein paar Millimeter nach oben. Für Jeff nach unten. Er weiß ganz genau, dass er mich mit so einem Firlefanz wie Tanzen nicht ködern kann. „Ooooh, also ich habe da dieses…Ding und ähm...Ich bin… weg…ja, einfach nur weg“, sage ich nach kurzem Zögern, weil mir beim besten Willen keine Ausreden einfallen will, die mein akutes Desinteresse schonend kaschiert. „Wie weg? Weg gilt nicht und in letzter Zeit bist du ständig weg. Was heißt eigentlich weg bei dir?“, fragt er und klingt ein klein wenig beleidigt. Jeff mag es nicht, wenn ich ihm so offensichtlich etwas verheimliche. Mich reizt es nur noch mehr. „Zum Beispiel gestern. Wo warst du gestern?“ Der Blonde verschränkt die Arme vor der Brust und sieht mich eindringlich an. Er glaubt, dass es ernst aussieht und dass allein dieser Blick dazu führt, dass ich ihm bedingungslos alles beichte. Wie war das doch gleich mit dem Pokémon? Ich spiele aber gern mit. „Ich war Juror bei einem Bademodencontest für dreibeinige Haustiere“, sage ich mit ernster Miene. Jeff mustert mich ausführlich und versucht dabei einzuschätzen, wie viel Wahrheit in meiner Erzählung liegt. „Und wer hat gewonnen?“, fragt er nach kurzem Zögern. „Lotti, das linke hinterbeinamputierte Schaf. Sie trug einen traumhaften Einteiler aus ingwerfarbener Spitze im Stil der 50er Jahre. Er passte perfekt zu ihren tiefbraunen Augen“, gebe ich ohne zu stocken mit neutralen Tonfall von mir, schaffe es jedoch nicht, konsequent bis zum Schluss durchzuhalten. Die letzten Worte färbt eine deutlich höhere Tonation, denn ich kann mir das Lachen kaum noch verkneifen. Jeff blickt mich an. Mit jeder Sekunde wandert seine Augenbraue höher. Wie auf Bestellung beginnen wir beide herzhaft zu lachen. „Du bist ein ganz schöner Spinner, das weißt du?“, kommentiert Jeff, nachdem wir uns wieder beruhigt haben und steht auf. Ich halte mir den Bauch. Er kommt auf mich zu, legt wie so häufig seine Arme um meinen Hals und schmiegt sich an mich. „Du musst mit feiern!", bettelt er mir entgegen. Meine Ablenkung war wirkungslos. „Ich muss gar nichts. Und ich verstehe sowieso nicht, warum du mich andauernd dabei haben willst. Ich bin der Stereotyp einer Spaßbremse und keineswegs partytauglich." „Man muss dir nur genug Alkohol einflößen.“ Jeff nickt überzeugt. „10 Minuten Spaß und habe ich den ganzen nächsten Tag Kopfschmerzen. Dir ist klar, dass ich dich eine Woche hassen werde?", stelle ich klar. „Ich bin hart im Nehmen", antwortet er lapidar. Er ist einiges gewöhnt. „Zwingt mich nicht“, sage ich wenig begeistert. „Hey, ich habe Geburtstag, da wirst dich doch mal aufraffen können. Für mich" „Und? Geburtstag hast du nächstes Jahr wieder.“ Jeff zieht eine Schnute. Ich beginne zu Grinsen. Leider dämlicher als beabsichtigt. „Nur, weil du deinen Jahrestag nie feierst, heißt es nicht, dass du mir meinen vermiesen kannst.“ „Ich hab dir deinen Geburtstag noch nie vermiest", wehre ich mich energisch gegen seine Anschuldigung. Unwillkürlich verschränke ich meine Arme vor der Brust, um der Verärgerung noch etwas mehr Nachdruck zu verleihen. Den bösen Blick habe ich ja sowieso immer und den lächelt Jeff effektiv davon. Auch jetzt. „Stimmt, du hast ihn mir eigentlich immer versüßt ", sagt mein Mitbewohner lächelnd. Ich spüre seine weiche, haarlose Wange an meiner. Seine vertraute Wärme. Ich bin immer zu Jeffs Geburtstagsfeier gekommen und das, obwohl mir davon einige gegen den Strich gingen. Mein Kindheitsfreund hat sämtliche Themenparties durch. Von Piraten und Rittern bis hin zur 90er Jahre Technoparty. Es war das Grauen. Unsere Mütter waren begeistert und zauberten so einige wundersame Dinge aus ihren Kleiderschränken. Jetzt wird mir auch klar, wieso Jeff die spontane Modenschau nicht störte, die das Kleidersammelsurium mit sich brachte. Das einzige Nützliche aus dieser Zeit sind Tamagotchis. Füttern. Schlafen legen. Per Knopfdruck kuscheln und ausschalten. Was will man mehr? „Darf ich mir etwas wünschen?“, fragt mein Mitbewohner und schmiegt sich noch etwas dichter an mich. Langsam beginne ich, mich dagegen zu wehren. Nur oberflächlich. „Lass mich raten. Schokolade und Himbeeren?“, orakle ich und Jeff beginnt leise zu summen. Fast zu schnurren und entlässt mich aus diesen Klammergriff. Ich kenne meinen Pappenheimer. „Du bist der Beste“, flötet er, löst sich endgültig von mir und tapst zurück zu seiner Seite des Zimmers „Ja. Ja. Du bist ein Nervsack und es heißt nicht, dass ich da sein werde“, schiebe ich hinterher. Ich habe schließlich einen Ruf zu wahren. „Doch wirst du!“ Damit ist die Sache für Jeff geklärt und ich weiß, dass er damit Recht hat. So sehr ich mich auch dagegen wehre, aber selbst mir ist klar, dass das ein absolutes No-Go wäre. Das jährlich auftretende Problem mit dem Geburtstaggeschenk klärt sich damit immer noch nicht. Aus Verzweiflung tippe ich eine Nachricht an Lena, die mir prompt eine Ansage zum Thema Zuhören und Einfühlen macht. Der Zug ist abgefahren. Nach etwaigen Gezeter nennt sie mir eine Parfümmarke, von der Jeff wohl zu Weihnachten geschwärmt hat und langsam wird mir klar, dass meine werte Schwester sicher schon ewig wusste, dass Jeff vom anderem Ufer ist. Ich drehe mich zu meinem Mitbewohner um, der an seinem Schreibtisch sitzt und lustig mit dem Kopf wackelt. Ich will ihn nicht aus seinem Ohrwurm reißen und sehe stattdessen zu seinem Nachtschrank, auf dem einige der geliebten Parfümflacons stehen. Der Genannte steht nicht darauf. Jetzt muss ich den Duft nur irgendwo herbekommen, ohne dass ich durch das Betreten einer Parfümerie zu Tode komme. Es gruselt mich bereits jetzt, aber eine Alternative gibt es nicht. Im Internet bestellen ist nicht mein Ding. Mein Magen beginnt zu grummeln und ich greife nach den Keksen, die mir Kain am Morgen zugeworfen hat. Macadamia und Karamell. Meine Sympathie gegenüber dem Schwarzhaarigen steigt. Ich gönne mir die Kekse, ohne Jeff einen abzugeben und verspüre noch immer Hunger. Im Kühlschrank entdecke ich das Sandwich von gestern. Ich genehmige es mir zum Abendbrot und denke erneut an den Schwarzhaarigen. Weiterhin keine Antwort. Auch nachdem bei Jeff und mir die Lichter ausgehen, bleibt mein Handy stumm. Sonst bekomme ich wenigstens einen dummen Spruch von ihm oder einen skurrilen Emoji. Auch Kains Abgang am Morgen war ungewöhnlich schweigsam und fragenlos abgelaufen. Es wurmt mich und ich schlafe schlecht. Die zweite Nacht hintereinander. Der nächste Morgen beginnt mit dem panischen Durchwühlen des Kleiderschrankes und der unglaubhaften Gewissheit, dass Jeff anscheinend nichts mehr zum Anziehen besitzt. Ich beobachte die Szenerie aus meinem Bett heraus und bin zu müde, um meinem Kindheitsfreund freundlich darauf hinzuweisen, dass er verrückt ist. Stattdessen suche ich ihm die Nummer der naheliegenden Nerven-Heilanstalt heraus und merke an, dass er nur noch den grünen Hörer drücken muss, damit seine Freunde mit der Hab-mich-lieb-Jacke kommen. Ein immer passendes und höchst zeitgemäßes Kleidungsstück. Jeff erklärt mich zum Blödmann und ich philosophiere ungeniert weiter, dass man die Jacke praktischerweise zu Jeans, wie auch zu legeren Baumwollhosen tragen kann. Selbst zu Jogginghose. Ein Outfit für alle Gelegenheiten. Ich bin begeistert. Der Blonde bewirft mich mit einem zur Kugel gerollten Paar Socken. Eins muss man ihm lassen, obwohl er nicht einmal richtig hinschaut, trifft er mich direkt am Kopf. Wenigstens sind sie gewaschen. Während Jeff die Reste seiner Kleider auf dem Bett ausleert, greife ich mir die Hälfte meines Schrankes und gehe mit Hose, Pullover und Shorts in den Waschraum. Mir kommen die beiden Bewohner des gegenüberliegenden Zimmers entgegen. Ein kurzer Gruß, den ich nur fahrig erwidere. Ich bin einfach zu müde. Von dem Brünetten ernte ich einen seltsamen Blick und höre, wie er dem anderen im Rausgehen Sinas Namen zu murmelt. Ich beobachte, wie die Tür ins Schloss fällt. Warum er gerade die Blondine erwähnt, bleibt mir unklar. Ich ignoriere die anderen Kerle, die sich in den Räumlichkeiten tummeln und suche mir ein Waschbecken, in dem sich niemand Ganzkörperrasiert hat. Der Montagmorgen ist jedes Mal wieder eine hygienische Herausforderung und angeekelt schubse ich ein gekräuseltes Haar vom Rand, bevor ich das Wasser anschalte. Die erste Ladung wandert über die Keramik. Die zweite auch. Ich lasse es kalt und genieße den erfrischenden Effekt, den es auf meiner Haut hat. Nach der fünften Ladung mitten ins Gesicht fühle ich mich sogar halbwegs wach. Auch die Gespräche im Raum werden klarer. Alle planen ihre Semesterfreien. Urlaub. Familie. Freundinnen. An der Stelle gleitet alles Gesagte ins klischeehafte über. Primitivität kennt keine Grenzen. Vor allem nicht in Duschräumen von Männern. Kurios wird es dann, wenn man weiß, dass derjenige, der gerade davon spricht, seine Olle richtig ranzunehmen, seit Wochen am Telefon rumjammert, wie sehr er sie vermisst. Für solche Gespräche sollte man nicht den Flur des Wohnheims wählen. Nachdem er meinen Blick bemerkt, wechselt das Thema zu den bevorstehenden Klausuren. Mir wird plötzlich kalt. Obwohl ich gut im Stoff bin, macht mir der Gedanke an die Semesterprüfungen schon ein klein wenig Magengrummeln. Ich nehme mir fest vor, die gesamte nächste Woche in der Bibliothek zu verbringen. Weit weg von allen Ablenkungen. Vor allem weit weg von Kain. Ein paar Minuten später bin ich zurück in der Klamottenhölle. Jeff reicht der Platz von seiner Seite des Zimmers nicht, also breitet er sich Stück für Stück auch auf meine aus. Bisher liegen ein paar Pullover auf meinem Bett. Bis heute Nachmittag werden sicherlich noch Hosen und sonstige Kleidungsstücke dazukommen. Ich weise Jeff auf meine Art freundlich darauf hin, dass ich beim Wiederkommen keinen Kram mehr auf meiner Seite haben will. Noch im Wohnheimzimmer krame ich meine Zigarettenschachtel hervor. Der Blick in die Packung verheißt nichts Gutes. Nur noch zwei Zigaretten. Ich durchwühle meinen Schubladen, doch nichts ist zu finden. Auf dem Weg zur Uni komme ich nirgendwo vorbei und dank der HealtyLiving-Fraktion der Uni haben wir auf den Toiletten des Hauptgebäudes keine Automaten mehr. Nur noch Tampons und Zahnbürsten. Auf den Umweg zum Foodstore habe ich keine Lust. Es muss ohne gehen. Ich klemme mir den Glimmstängel zwischen die Lippen und schnappe mir den Rucksack. Mit einer Handbewegung schiebe ich den Laptop und mein Exemplar zum Thema Pathobiochemie hinein. Jeff fragt mich nach einem gemeinsamen Mittagessen und ich verneine. Vor der Uni ziehe ich mir die letzte Zigarette hervor, werfe die leere Packung ordnungsgemäß in einen der Abfalleimer und sehe mich um. In den letzten Wochen des Semesters ist viel los auf dem Campus. Die meisten Studenten schieben Panik und Hektik, ausgelöst durch zu viel Koffein und Druck. Einige verfallen in zombieartiges Verhalten durch Schlafmangel und der geringen Zufuhr von Vitamin D. Ein paar durchlaufen beides. Im Wechsel. Jeff gehört zu der Sorte. Ich nehme einen tiefen Zug von der Zigarette, blase den Rauch schräg nach oben und erblicke die Rothaarige. Zusammen mit Kain steht sie in der Nähe des Fahrradständers. Er streicht sich die schwarzen Haare zurück, schließt für einen Moment die Augen und schüttelt den Kopf. Dann lächelt er. Sie legt ihre Hand gegen seine Brust und stellt sich ein wenig auf die Zehenspitzen. Kain fasst ihr an die Schultern und schüttelt erneut seinen Kopf. Jeder andere würde zu ihnen gehen. Sie ansprechen und Smalltalk halten. Ich drücke meine halb aufgerauchte Zigarette aus, schnipse den Stummel nach kurzen zögern einfach in die Beete und verschwinde in den Hörsaal. Die Rothaarige folgt nach 10 Minuten und lässt sich vier Reihen vor mir nieder. Sie wirft mir einen vernichtenden Blick über die Schulter zu, den ich nur allzu gern erwidere. Lächerlich. Die Vorlesung ist zäh und wenig ergiebig. Ich habe verplant, dass wir zu zum heutigen Tag Fragen erarbeiten sollten, die wir während des Unterrichts stellen oder am Ende schriftlich Einreichen können. Die wenigen Sachen, die mir einfallen, sind so speziell, dass ich nach der Zweiten aufgefordert werde, die andere Möglichkeit zu wählen. Also notiere ich das, was ich erfragen will und lehne mich dann zurück. Ich greife nach meinem Handy. Zwei neue Nachrichten. Eine ist von Shari, die andere von Kain. Ich lese nur die, der schönen Inderin. Sie fragt nach einem kurzen Treffen. Ich willige ein und wir verabreden uns nach der dritten Vorlesung bei den Hörsälen. Zwischen den anderen beiden Vorlesungen gönne ich mir eines der Tomaten-Mozzarella-Brötchen. Es hilft mir die nächsten Stunden zu überstehen, da ich die Hälfte der Zeit im Pestodelirium verbringe. Wieder ist es eine reine Fragestunde, aber wenigstens offenbaren mir die Wiederholungen, dass ich für diese Klausur am wenigsten lernen muss. Ein Lichtblick. Ich stehle mich ein paar Minuten früher heraus und mache einen Abstecher zum Kiosk am U-Bahnhof. Ich stocke meinen Zigarettenvorrat auf und warte danach wie verabredet auf Shari. „Robin??“ Ich höre meinen Namen, genau in dem Moment, als die größte Masse an Menschen aus den Türen stürmt. Ich stelle mich auf die Zehenspitzen, um über die auftauchende Gruppe von Studenten hinweg zu gucken und sehen die schöne Inderin auf mich zu kommen. Genaugenommen muss ich zwei Mal hinschauen. Sie trägt einen blau-violetten Sari und sieht zauberhaft aus. Ich kann mir nicht verkneifen, Shari auffällig zu mustern, als sie vor mir stehen bleibt. Statt sich verwundert zu zieren, dreht sie sich einmal im Kreis, hebt eine Seite des Saris leicht an, sodass ihre in bestickten Stoffschuhe gekleideten Füße hervorlugen. Ein leichter Knick statt einer typisch indischen Verbeugung. „Ich weiß, ich sehe toll aus…“, kommentiert Shari keck. Doch die feine Röte auf ihren Wangen und der unsichere Blick, sagen genau das Gegenteil. Mein Diabeteslevel steigt sprunghaft an. „Gut, dann kann ich mir den schleimigen Kommentar ja sparen.“ „Wir wollen ja nicht, dass du wegen ungewohnter Nettigkeiten in Flammen aufgehst“, kontert sie hinter und diesmal verneige ich mich vor ihr. Das hat gesessen. „Wie rücksichtsvoll. Was kann der Fürst der Finsternis für dich tun?“ Shari kichert und ich versuche meine obligatorisch, miesgelaunte Fassade aufrechtzuhalten. Es wird immer schwerer. „Ich wollte dich fragen, ob du mir vielleicht noch etwas mehr deiner Zeit schenken könntest? Die Klausuren stehen an und ich drehe irgendwie etwas durch…“ „Und du glaubst, dass ich daran etwas ändern kann?“ „Ganz sicher. Deine Lernblätter sind großartig und das, was wir darin besprochen haben, das kann ich auch. Aber es gibt noch ein paar Dinge, die mir nicht ganz klar sind und ich bin etwas arg perfektionistisch, was das Lernen angeht. Mein Freund meinte auch, dass ich nicht alles lernen kann. Auf Lücke lernen und so weiter. Aber das kommt für mich nicht in Frage. Außerdem verarbeitet mich mein Vater zu Bhatura, wenn ich versage.“ Unwillkürlich denke ich an das leckere indische Fladenbrot und glaube kaum, dass ihr Vater seinem kleinen Mädchen auch nur böse werden könnte. „Du weißt schon, dass ich dafür deine Seele kriege?“, kommentiere ich und benutze absichtlich das Teufelsklischee. „Ich glaube an Karma und du würdest mir damit sehr helfen.“ Shari greift nach meinen Händen. Sie sind warm und weich. Herrje. Ich habe selbst kaum noch Zeit zum Lernen, aber wie soll ich diesem bezaubernden Wesen etwas ausschlagen? Ich werde weich. „Okay,…“, seufze ich übertrieben theatralisch und schiebe es auf das noch immer anhaltende Pestodelirium. Himmel, ich werde zu Castiel, nachdem er den Himmel verriegelt hat. „Danke. Danke. Danke.“ Shari lächelt glücklich und wir verabreden uns für morgen Nachmittag in einem der Lern-und Seminarräume. Ein weiteres Mal schenkt sie mir ein bezauberndes Lächeln und tapst beschwingt davon. Ich ziehe mein Handy hervor. „WOW, wer war das denn?“, höre ich mit einem Mal Kains vertraute tiefe Stimme hinter mir sagen und wende mich zu ihm um. Er sieht mit deutlichem Interesse der schönen Inderin hinterher. „Eine Kommilitonin“, kommentiere ich knapp. Wie immer hebt sich als Erstes seine Augenbraue. Für eine weitere Sekunde wandern seine Augen zurück in den Gang. „Na, da wäre ich ja nie drauf gekommen. Sie ist echt hei…übsch.“, korrigiert er seinen typischen Kerleausspruch herzlich ungalant und schafft es nicht, diesem dämlichen Gesichtsausdruck zu kaschieren. Erst die Rothaarige, Sina und jetzt Shari. „Erspar mir das Paarungsgesülze…Außerdem ist sie zu anständig für dich“, sage ich genervt, ärgere mich augenblicklich über den deutlich zu hörenden Vorwurf. „Was heißt hier zu anständig? Was glaubst du, was ich mit ihr machen würde?“, fragt er mich und zwingt mich, ihn anzusehen. Ich reagiere nicht, weiche seinem Blick aus und weiß selbst nicht, was ich damit ausdrücken wollte. Unwillkürlich denke ich an die Dinge, die er mit mir macht. All die Neckereien. Die kleinen Spielchen. Zu wissen, dass er das auch mit den Frauen macht, bereitet mir Unbehagen. Nein, es ist mehr. Ein Gefühl, dass ich selten verspüre. „Sie hat einen Freund…“, sage ich erklärend und hoffe, dass er das als Begründung annimmt. „Du stehst auf sie!“, äußert Kain überrascht, blickt mich einmal von oben bis unten an und bewirkt bei mir nichts weiter, als ein heftiges Augenrollen. „Was an ´Sie hat einen Freund´ hast du nicht verstanden?“ Ich brauche eine Zigarette. Dringend. Meine Hände werden schon ganz unruhig. „Ach, sowas stört dich?“, kontert er, weckt in mir eher unbequeme Erinnerung an ein paar unbedarfte Entscheidungen. „Ist sie aus deinem Tutorium?“ „Und wenn?“, frage ich ein weiteres Mal mit deutlichem Abwehrverhalten. Erschießt mich endlich. „Ich frag ja nur. Das Tutorium ist heute?“, bohrt er weiter und sieht ein weiteres Mal an mir vorbei. Shari ist längst verschwunden. „Hast du nichts zu tun? Unbedarfte Rothaarige besteigen zum Beispiel?“, sage ich und vermeide es, seine Frage zur beantworten. Wieder eine dieser dummen Reaktionen meinerseits. „Ja, jetzt wo du es sagst. Sie wäre mal wieder dran…“, murrt er mir provozierend entgegen. Kain seufzt laut und ich mache es innerlich. „Viel Spaß.“ Ich strecke meine Hand hoch, zeige ihm ohne mich noch mal umzudrehen den Mittelfinger und gehe. Die Worte, die er mir nachruft, ignoriere ich. Noch Im Gehen krame ich meine Kopfhörer hervor, drücke auf Play und es tönen die letzten Reste von Rihannas ´Umbrella´. Ella Ella ey ey, echot durch meinen Kopf. Fantastisch. Draußen angekommen ziehe ich mir die herbeigesehnte Zigarette hervor. Ich inhaliere den Rauch tief, sehe einen Moment dabei zu, wie sich die glimmende Glut in das weiße Papier frisst. Immer weiter, bis nur noch Grau zurück bleibt. Die erste Zigarette rauche ich wie immer viel zu hastig. Mein Hals kratzt, als ich die Zweite aus der vollen Packung ziehe und zwischen meine Lippen stecke. Ich zünde sie nicht an, sondern lasse mich auf eine der Holzbänke fallen und schließe die Augen. Es ist kalt und dennoch bleibe ich sitzen, spüre die kühle Luft auf meiner Haut und mein Kopf ist für ein paar Augenblicke völlig leer. Es passiert mir selten und es hält nicht lange an. Ich ziehe mir mit einer Hand die Kopfhörer auf, höre die leisen Klänge von Axel Flovent´s `Forest Fires` und kriege Lust auf Butterkekse. Mein Handy vibriert. Ich ignoriere es, lausche stattdessen den ruhigen Klängen, die aus meinen Kopfhörern kommen. ´I'll be there in the summer, 'cause your heart isn't safe. You won't go, you are not a runner. So you won't run away. If you could follow your heart gently. There wouldn't be this mess´. Die Passagen holen mich aus meiner Rauchtrance und ich mache mich auf den Weg zurück ins Wohnheim. Es sind als erstes schmatzenden Geräusche, die mir entgegen schlagen und das genießerische Brummen. Tief und wohlig. Ich stocke. Doch dann fällt mein Blick bedingt durch unsere Zimmeraufteilung direkt auf die dicht aneinander gekuschelten Körper der blonden Männer. Jeff schmiegt sich an Abels Brust. Ihre Lippen bewegen sich unaufhörlich und intensiv aufeinander. Sie haben meine Anwesenheit noch nicht gemerkt und das macht es nur noch schlimmer. Sie hören nämlich nicht auf. Ich lasse absichtlich die Tür laut ins Schloss fallen, sehe mit Genugtuung dabei zu, wie der Schreck durch die beiden Leiber fährt. „Nehmt euch ein eigenes Zimmer“, brumme ich ihnen zu und lasse mich auf meinen Schreibtischstuhl nieder. Wie Teenager. Alle um mich herum benehmen sich wie pubertierende Halberwachsene. Kain auch. Kuscheln und Knutschen. Also echt. „Können wir nicht. Kain hat heute eine Lerngruppe bei uns. Ist also besetzt“, murmelt Abel, nachdem er sich vollends von dem Mund meines Mitbewohners gelöst hat. Er fährt sich mit den Zähnen über die Lippen, scheint den Geschmack des anderen Mannes förmlich von seiner eigenen Haut zu schaben. Wo ist der Strick, wenn man ihn braucht. Ich begutachte sehnsüchtig meine Kopfhörerkabel. „Bitte, geht raus und sucht euch einen ruhigen Fleck im Dickicht. Dort, wo euch niemand sieht!“, schlage ich vor, murmele die letzten Worte nur ganz leise. „Nein, hier ist es viel bequemer“, mischt sich nun auch Jeff ein. Ich wende mich kurz um, in der Annahme, sie haben ihre Zungengymnastik beendet, doch ich werde eines Besseren belehrt. Schnell drehe ich mich wieder weg. Was gebe ich jetzt für eine akute Spontanerblindung. „Schon mal was von dieser Substanz aus Wasser, Zellulose und so niedliche Stützfasern, wie Lignin gehört? Soll sehr komfortable sein.“ „Wie bitte?“ Ich kann nicht heraus hören, wer von beiden die Frage geschmatzt hat. „Wächst überall und ist grün“, ergänze ich erklärend. „Gras?“, fragt Abel verwundert und ich verkneife mir einen übertriebenen Kommentar zu dieser großartigen Leistung, mache aber eine applaudierende Geste, die aussieht, wie die des schellenschlagenden Äffchens. „Schon mal, was von Mitgefühl gehört?“, kontert Jeff. „Kann man das Essen?“ „Gras kann man essen, oder?“, fragt Abel völlig überzeugt. „Ja, du als Paarhufer schon“, antworte ich an Stelle meines Kindheitsfreundes. „Pah, sagst du als Trampeltier oder sollte ich Schwielensohler sagen. Wir waren zuerst hier.“ Mein Kindheitsfreund wirft mir zum zweiten Mal an diesem Tag ein Sockenknäuel entgegen. Wieder direkt an den Kopf. Er hat verstanden, was ich damit meine, während Abel nur dumm aus der Wäsche guckt und lacht, als mich die Socken treffen. Ich hebe das Knäuel vom Boden auf und erkenne zwei verschiedenfarbige Teile. Wenigstens sind es diesmal meine eigenen. Jeff stiehlt sich einen Kuss von dem noch immer über die Grasfresser nachdenkenden Abel. Hat mich Jeff gerade Kamel genannt? „Wie wäre es mit einem Spaziergang? Kühlt euch sicher etwas ab!“, gebe ich einen weiteren Vorschlag zum Besten in der Hoffnung, die beiden aus dem Zimmer vertreiben zu können. „Robin, wir bleiben! Finden dich damit ab“, äußert sich Jeff bestimmt und nimmt mir den Wind aus den Segeln. „Genau. Er ist sowieso nur neidisch, weil niemand einen Aschenbecher küssen will. Wir sollten ihm einen Platz im Kühlschrank besorgen, damit du es dort schön warm hast“, kommentiert Abel unnötiger weise. Der Wind ist wieder da. Wenn nicht sogar ein Taifun. „Wow, für jemanden, dessen Gehirn die Konsistenz von Weißbrot hat, war das ein vor innovatitätstrotzender Kommentar. Nur war er genauso überflüssig, wie du“, kontere ich ohne lange überlegen zu müssen. Abel richtet sich auf. „Was ist dein Problem, Mann? Bist du eifersüchtig, weil es zwischen mir und Jeff so gut läuft, oder was? Du solltest dich mal ordentlich ficken lassen“, bellt er mir wütend entgegen. „Am besten noch von so einer Pfeife wie dir?“ Abel setzt sich vollends auf und rutscht an den Rand des Bettes. Jeff greift nach seiner Hand und hält ihn zurück. „Vielleicht solltest du drüber nachdenken, denn du verpasst was. Außerdem würde dich sowieso keine Frau als Freund haben wollen“, pfeffert mir Abel angestachelt entgegen. Das Matt seiner blassen Augen beginnt minimal zu leuchten. Ich kann nur müde lachen. Abel macht einen weiteren Schritt auf mich zu und ich lehne mich ungerührt zurück. „Du kannst froh sein, dass Jeff noch nicht Selbstbewusst genug ist, um zu merken, dass er mit dir deutlich unter seinem Niveau anbandelt“, sage ich ruhig und nehme bewusst in Kauf, dass ich in gewisser Weise auch meinen Freund damit verletze. „Hey!“, brüllt uns Jeff zu. „Kommt runter verdammt. Alle beide“, setzt er nach und sieht uns verärgert an. „Der Arsch beleidigt mich in einer Tour und ich soll runterkommen?“, brüllt Abel nun Jeff an und ich bleibe nicht mehr sitzen. „Du hast ein Problem mit mir, also vergreif dich ihm gegenüber nicht im Ton. Verstanden?“ Mit nur geringem Abstand zu den beiden Blonden bleibe ich stehen. Abel ist größer als ich, aber das würde mich nicht davon abhalten, ihm eine reinzuhauen. Jeff streckt seine Hand nach mir aus, macht eine beruhigende Geste und ich sehe zu ihm. Etwas Ähnliches macht er bei seinem Geliebten. Es scheint ihn zu beruhigen und dann sieht Jeff zu mir. Still bittet er mich darum, mich zurückzuziehen. Ich tue es und lasse mich wieder auf meinen Schreibtischstuhl fallen. Mein Mitbewohner zieht den anderen Blonden zur Tür. Ohne länger darüber nachzudenken, öffne ich das letzte Word-Dokument. Ich höre sie eine Weile diskutieren. Abels Stimme ist schärfer als Jeffs. Er ist sauer. Ich schaffe es nicht, mich auf das geöffnete Datei zu konzentrieren. Die Tür schließt sich und lässt beunruhigende Stille zurück. Ich kann förmlich hören, wie Jeffs Tirade ihren Weg nach draußen sucht und bin umso überraschter, als ich mit einem Mal seine Arme um meinem Hals spüre. Seine warme Wange, die sich gegen meine drückt. „Kannst du nicht etwas netter zu Abel sein?“, murrt er mir erschöpft entgegen und setzt dann noch einen verstärkenden Seufzer hinterher. „Nett ist scheiße“, gebe ich ungerührt von mir und finde, dass das ein ernstzunehmender Einwand ist. Bevor ich mich einfach wieder zu meinem Bildschirm drehen kann, merke ich, wie sich Jeffs Hände an meine Schultern legen. Er hält mich fest. Nicht wirklich eisern, aber innerlich zwingend. Wie sehr ich diese stille Beeinflussung hasse. „Sag mir, was du gegen Abel hast.“ Vertraute blaue Augen mustern mein Gesicht. „Wo soll ich nur anfangen? Er ist doof, macht schlechte Witze und dazu kommt diese selten dämliche Lache. Ein totales K.o-Kriterium.“ Doch am Meisten stört mich die Art, wie er mit Jeff redet, wenn er glaubt mit ihm allein zu sein. Auch, wie er andere ansieht. Andere Kerle. Mich. Er ist mir suspekt und da fällt es mir schwer die anderen eher nichtigen Dinge zu ignorieren. „Und er hat nicht das Recht irgendeine Aussage über mich zu treffen“, hänge ich mit ran, als Jeff nichts weiter dazu sagt. Wahrscheinlich sind es alles Dinge, die ihm ebenfalls schon aufgefallen sind. Die Lache ist kaum zu ignorieren. Ist er so verliebt, dass ihn das alles nicht stört? Es ist mir ein Rätsel. Ich höre, wie mein Mitbewohner leise seufzt. Seine Ruhe irritiert mich. „Du musst trotzdem etwas freundlicher zu ihm sein. Halt dich einfach etwas zurück. Okay?“ Ich gebe ihm keine Antwort. „Okay, zur Strafe kommst du jetzt mit einkaufen. Auf!“ Jeff duldet keine Widerrede und ich gebe ihm auch keine. Als wir aus dem Wohnheim kommen, bereue ich es jedoch. Grauer Himmel und fieser Nieselregen. Jeff drückt mir den Schirm in die Hand und ich ergebe mich dem Schicksal. Im Supermarkt angekommen, kriege ich klare Anweisungen. Ich besorge Obst und Gemüse, was bei Jeff so viel heißt, wie zwei Äpfel und Weintrauben. An der Gemüsefront beschränkt es sich auf Gurke. Die soll man aufs Brot legen, hat man mir jedenfalls erklärt. Alle anderen Gedanken sind böse Schweinereien. Ich packe noch ein paar Aprikosen und eine Packung Cherrytomaten dazu. Vor den Himbeeren bleibe ich einen Moment stehen. Sie sehen nicht allzu gut aus. Danach wiege ich brav jede Obstsorte einzeln, funktioniere meine Finger kurzfristig als Klebchenhalter um und schmeiße alles in einen Beutel. Erledigt. Jeff finde ich in der Hygiene Abteilung. Er steht vor den Haarpflegeprodukten und scheint in Gedanken versunken. Es muss unglaublich anstrengend sein, andauernd derartig gepflegt auszusehen. Still huldige ich meiner Schamlosigkeit, denn mir ist es gleich, ob ich aussehe, als wäre ich gerade aus dem Bett gefallen. Manche Männer brauchen für diesen Look dreißig Minuten vor dem Spiegel. Von weitem inspiziere ich den Inhalt des Einkaufskorbes und bin nach dem Entdecken von Brot, Käse und Marmelade halbwegs zu frieden. Ich beobachte Jeff eine Weile dabei, wie er nacheinander verschiedene Produkte aus dem Regal nimmt und in meinem Kopfhörer setzt ´House on Fire´ von Sia ein. Unwillkürlich beginne ich mich im eingehenden Takt zu bewegen. Nur so sehr, dass ein Knistern der Obsttüte entsteht und ich damit Jeffs Aufmerksamkeit auf mich ziehe. Ich sehe, wie sich seine Lippen bewegen und schiebe daraufhin den Kopfhörer vom rechten Ohr. „Ist dir noch etwas eingefallen, was wir brauchen könnten?“, wiederholt mein Mitbewohner, langsam und deutlich, so als wäre ich beim ersten Mal einfach nur zu blöd gewesen um es zu verstehen. „Warum Abel?“, frage ich, statt ihm zu antworten und verschränke die Arme vor der Brust. Der Beutel mit dem Obst baumelt vor meinem Bauch umher. Mein Mitbewohner sieht auf. „Was meinst du?“ „Was gefällt dir an ihm? Ist er ´der Typ´ für dich oder liegt es daran, dass er dir gerade so gut in den Kram gepasst hat?“ Ich wische mir, während ich das frage ein paar Aschereste vom Reisverschluss meiner Jacke, schmiere sie breit und mache den Fleck nur noch offensichtlicher. „Das klingt ziemlich mies, das weißt du? Und wozu fragst du auf einmal?“ Jeff hört sich angesäuert an. Seinen klaren blauen Augen schauen mir angriffslustig entgegen. Anscheinend tritt jetzt der Ärger hervor, den er eben noch unterdrückt hat. Für gewöhnlich schafft Jeff nur eine Bandbreite von fluffig zu zickig. „Na ja, du hast mich vorhin gefragt, was mich an Abel stört. Jetzt würde ich gern von dir wissen, was du an ihm magst“, erkläre ich meine Intension und schaffe es meine niederen Absichten zu verschleiern. Jeff mustert mich argwöhnisch und kniet sich dann zu den Produkten für Haarstyling. Es ist ihm nicht ganz koscher. Er greift nach Schaumfestiger, neigt seinen Kopf mehrmals zu beiden Seiten und seufzt theatralisch. „Wenn du so lange darüber nachdenken musst, solltest du eure Beziehung nochmal überdenken“, kommentiere ich das Schweigen meines Mitbewohners. „Ich ignoriere dich.“ Wie erwachsen. Außerdem ist das mein Stil. „Hältst du eh nicht durch“, sage ich lapidar und mit völliger Überzeugung. Mein liebenswerter Mitbewohner schenkt mir eine Leck-mich-Geste. Ich gebe nicht nach, „Wie habt ihr euch eigentlich kennengelernt. Und wo? Du redest nie darüber.“ Als Jeff aufsieht, blicke ich zur Seite und mustere interessiert eine besonders unglaubwürdige Dose mit Haargel, welche felsenfesten Halt garantiert und gleichzeitig nicht verklebt. Aha. „Interessiert es dich denn wirklich?“ „Ich habe doch gerade danach gefragt, oder?“ Der Blick meines Kindheitsfreundes bleibt weiterhin skeptisch. Ich kann deutlich sehen, wie sehr es in seinem Inneren arbeitet. „Auf einer Party letztes Jahr im Oktober.“ Jeff greift nach Feuchttüchern und wirft sie zu den anderen Pflegeprodukten in das Körbchen. Ich trabe meinem Mitbewohner hinter her, der bei den Rasierklingen stoppt und dann erneut mit einer ausführlichen Analyse beginnt. Jetzt weiß ich wieder, weshalb ich nie mit ihm zusammen einkaufen gehen will. „Und weiter?“, hake ich nach. Jeff gibt ein merkwürdiges Geräusch von sich. „Wir haben uns nett unterhalten und viel gelacht.“ „Du, sicher über seine Lache!“ Jeff straft mich mit einem Nicht-witzig-Blick. Ich konnte es mir nicht verkneifen. „Es war sehr locker und sehr angenehm, also haben wie Nummern getauscht und uns mal auf einen Kaffee getroffen. Ich fand ihn anziehend und er hatte keine Probleme damit, dass ich noch sehr zurückhaltend war“, erzählt er mir und ich fühle mich an eine typische Schnulze erinnert. Der Standartplot von Groschenromanen. „Aha.“ „Der Sex ist fantastisch. Wild und hemmungslos“, knallt er mir provozierend entgegen. Es klappt. Es ist mir zu viel Information. Auch, wenn ich mir Vermutung selbst schon vorgenommen habe. Darüber nachdenken will ich dennoch nicht. Ich lasse meinen Blick über die Produkte wandern, während mein Kindheitsfreund noch immer abwägt. In dem Regal gegenüber befinden sich Hygieneartikel und Verhütungsmittel. Die wecken mein Interesse. Ich lasse Jeff in seinem Entscheidungsprozess allein und wende mich der anderen Seite zu. Kondome in alle Geschmackrichtungen und Farben. Schwangerschaftstests, Gleitgele und Massageöle. Fläschchen, die anscheinend beides beinhalten. Ich greife nach einem der Produkte, lese die Beschreibung und stelle es zurück. Ich habe mich damit noch nie wirklich beschäftigt und bisher war es auch nicht nötig. Auch das, was in Jeffs Nachtschrank liegt, habe ich mir nicht ausführlich angeschaut. Ich nehme eins aus dem Regal, was so ähnlich aussieht. „Hast du vor mal wieder in den Sattel zu steigen?“, fragt Jeff, verkneift den neckischen Unterton nicht, der mich gern zur Weißglut treibt. „Ich habe nie aufgehört…“, kommentiere ich unaufgeregt zurück. Ich denke an Samstag und mir wird ganz warm. „Sicher?“ Jeff nimmt mir die Tube aus der Hand und dreht mir die Vorderseite zu. Mit großen blauen Buchstaben prangt mir das Wort Anal entgegen. „Anscheinend doch, denn diese spezielle Sorte ist für Hintertürchen“, setzt er nach und wackelt vielsagend mit seinen Augenbrauen. Ich fühle mich ertappt. „Seit wann haben Schwule Analverkehr für sich patentiert?“ „Interessant“, gibt Jeff als einziges von sich und grinst mir spitzbübisch entgegen. „Ach halt doch den Mund“, brumme ich wenig energisch und wende mich zum Gehen, während Jeff kichernd hinter mir hertänzelt. Das Gleitmittel behalte ich aus Trotz in der Hand. An der Kasse lege ich noch Kaugummis und eine Flasche Wasser aufs Band. Bezahlen lasse ich Jeff. Draußen nehme ich einen Schluck des Getränks und reiche dem anderen Mann die Flasche. „Erklär es mir noch mal richtig!“, fordere ich ihn auf. Jeff setzt die Flasche wieder ab und sieht mich an. Er weiß sofort, wovon ich rede und seufzt. „Ich weiß nicht, Robin. Ich habe einfach das erste Mal das Gefühl, mich nicht verstellen zu müssen und im Grunde ist es ja irgendwie meine erste richtige Beziehung. Es ist aufregend.“ Mein Mitbewohner lächelt, als er das sagt. „Außerdem bin ich definitiv ein Beziehungsmensch und ich stehe auf das ganze Küssen, Schmusen und Händchenhalten. Und mit Abel ist das sehr unkompliziert.“, ergänzt seine vorige Ausführung und stupst mir gegen die Schulter. Nun nimmt er einen Schluck Wasser, während ich bei dem zuckersüßen Kram angewidert mein Gesicht verziehen. Es verfolgt mich. Seine Worte geben mir jedoch zu denken und sie machen ebenso deutlich, dass eigentlich nicht Abel Grund dieses Wohlbefindens ist. Jedenfalls nicht grundsätzlich. „Aber hättest du dir dafür nicht einen angenehmeren Gesellen aussuchen können? Da gibt es so einen neuen ITler im PC-Kabinett, der wäre genau dein Typ“, schlage ich ihm vor und denke an den netten Schwarzhaarigen, der mich letzte Woche vor einem Datenkollaps bewahrt hat. Er ist noch nicht lange an der Uni angestellt. „Als ob du weiß, was mein Typ ist“ Jeff schraubt lachend die Flasche wieder zu und steckt sie in die Einkaufstüte. Ich ziehe meine Zigaretten aus der Jackentasche und nehme meinem kichernden Kindheitsfreund die Tüte aus der Hand. „Denkst du eigentlich nie daran?“ „Woran?“ Ich zünde die Zigarette an, nehme einen tiefen Zug und blase den Rauch extra weit von Jeff weg. „An eine Beziehung. Jemanden zu finden, auf den du dich bedingungslos verlassen kannst und dem du alles anvertraust.“ Ich nehme einen weiteren tiefen Zug. Diesmal führe ich den Dunst nach unten und weiche so seinem Blick aus. „Ich habe doch dich“, antworte ich. „Das ist nicht das gleiche und mir erzählst du ja auch nicht alles“, sagt er und hat Recht. Jeff kommt auf mich zu und nimmt mir die Zigarette ab. Auch er nimmt einen Zug und tritt sie dann am Boden aus. Danach legt er seinen Arm auf meinen Schultern ab und grinst. Wir machen uns auf den Rückweg. „Wir müssen dir auch jemanden suchen.“ „Untersteh dich!“, gebe ich warnend von mir, als ich merke, dass Jeffs Verkupplungsgen zu leuchten beginnt. In diesem Moment beginnt mein Handy zu pulsieren. Mehrere Nachrichten. Mein Kindheitsfreund philosophiert weiter darüber, auf welchen Typ ich wohl stehen könnte, während ich mein Handy aus der Tasche zerre. Ich ignoriere sein Geschwafel. Die Nachrichten sind von Kain. In einer steht der Begriff Trainingsfortschritt gefolgt von einem Foto seiner trainierten, stark definierten Bauchpartie. Jeff zieht mich in diesem Augenblick wieder etwas dichter. ----------------------------------------------------- PS vom schamüberfluteten Autor: ENTSCHULDIGUNG!!! Es tut mir schrecklich Leid, dass ihr so lange auf die Fortsetzungen meine Geschichten warten müsst. Mein Leben ist im Moment etwas arg Chaotisch und das wirkt sich leider auch auf meine Konzentrationsfähigkeit aus. Ich danke allen, die noch ein bisschen darauf gehofft haben, dass ich es wirklich noch schaffe wieder etwas posten. Ihr seid alle wunderbar. Vielen lieben Dank an euch! Ich gebe mir Mühe wieder eine bessere Taktung hinzukriegen! das del Kapitel 16: Die extra Portion Pfeffer und Sahne auf meinem Dopamin ------------------------------------------------------------------ Kapitel 16 Die extra Portion Pfeffer und Sahne auf meinem Dopamin Ruckartig drücke ich das Telefon gegen meine Brust und spüre, wie sich mein Puls verselbstständigt. Jeff Augenbraue wandert nach oben und er sieht neugierig auf das Handy, welches energisch mit meiner Brust kuschelt. Puls 150. Wie viel hat er gesehen? In meinem Kopf überwerfen sich die Gedanken. Puls 180. Irgendwer in den höheren Sphären kann mich nicht leiden. Und Kain sucht definitiv Ärger. Warum schickt er mir solche Sachen? Mein Herz macht einen Looping und platziert sich danach an einer völlig falschen Stelle. Nulllinie. „Alles okay?“, fragt Jeff und mustert mich aufmerksam. „Ja“, antworte ich zu schnell und auch einen Tick zu hoch. Warum winke ich nicht gleich mit einer Zielscheibe. Die feingezupfte Augenbraue meines Gegenübers schwebt immer noch weit über dem Normalstand und scheint sich mit jedem meiner peinlichen Reaktionen weiter an Ort und Stelle fest zu fressen. „Sicher? Du guckst, wie damals als ich dich beim Pornos gucken ertappt habe.“ Jeff grinst wissend und auch ich denke an das sehr freizügige Asia-Spezial zurück. Die Damen in dem Filmchen waren derartig gelenkig, dass ich noch immer ungläubig den Kopf schütteln muss. Dennoch war es das erste und das letzte Mal, dass mir sowas peinlich gewesen ist. Damit kriegt er mich heute nicht. Mein Puls beruhigt sich. „Was ist das eigentlich da an deinem Hals?“, fragt Jeff hinterher und wirft mich wieder aus der Bahn. Eingeschränkt durch Handy und Einkaufstüte kann ich nicht verhindern, dass mir mein Kindheitsfreund ungeniert gegen den Hals tippt. Jeff wiederholt den Angriff, berührt mich kurz unterhalb des Kiefers auf der linken Seite. Ich zucke zurück. Er lässt sich nicht beirren und stupst munter weiter. An mehreren Stellen fügt er murmelnd Hier und Da dazu, während ich versuche, ihm zu entkommen, indem ich mich mehrmals um meine eigene Achse drehe. Der Blonde bleibt erbarmungslos. „Verdammt, lass das“, sage ich deutlich und stoße meinen Kindheitsfreund mit der Schulter weg. Jeff taumelt lachend auf den Grasstreifen, während ich weiterhin versuche, ihm sämtliche Blicke auf meinen Hals zu verwehren. Er lacht, schiebt seine Hände in die Hosentaschen und beginnt mehr oder wenig beschwingt neben mir her zu schlendern. Ich bin mir sicher, dass heute Morgen nichts zu sehen gewesen ist. Sehr sorgfältig habe ich jedoch nicht in den Spiegel geschaut. Mit dem Handrücken streiche ich mir über den Hals und lasse den Arm schnell wieder sinken, als ich merke, dass mein Handydisplay noch immer munter vor sich hin leuchtet. Ich werde Kain umbringen. „Mit wem triffst du dich eigentlich?", fragt er mich nach einem Moment Ruhe, in dem ich meinen Drehwurm kuriere und außerdem meine Hand aus der zusammengedrehten Tüte befreie. „Was meinst du?", frage ich und ertappe mich dabei, wie ich meine Schultern kaschierend nach oben ziehe. „Na ja. Der ominöse Samstag. Knutschflecke“, kommentiert Jeff grinsend. Meine Schultern haben nun Kinnhöhe. Kain ist fällig. Definitiv. „Und aus meine Nachtschrank fehlen Kondome.“ Mein Puls beschleunigt sich. Ich sehe zu Jeff, der seinen Kopf senkt und gegen einen Kiesel tritt. Das Steinchen landet ein paar Meter weiter im Gras. Damit sieht er auf und mich direkt an. In meinem Kopf beginnt es erneut zu arbeiten. „Und? Kondome eignen sich nur perfekt für Wasserbomben. Das ist alles.“ Diesmal halte ich die Zielscheibe auch noch still. „Du fickst wirklich jemanden!“ Aus Jeffs Frage wird eine freudige Feststellung. Die herbe Wortwahl meines Kindheitsfreundes irritiert mich. Abel ist eine schlechte Gesellschaft für ihn. In mehr als einem Bereich, echot es laut in meinem Kopf. Vielleicht auch ich, flüstert es hinterher. Jeff macht ungeniert weiter. „Ich wusste es! Sina, oder?“, setzt er nach und schielt auffällig unauffällig zu mir rüber. Ein typischer Jeff. Erst unwissend tun und dann mit Verdächtigungen um sich werfen. Wie scheinheilig. „Wie bitte? Wie kommst du auf Sina?“, frage ich verstört, denke an die künstliche Blondine und im nächsten Moment an den Schwarzhaarigen, wie er sich lächelnd zu ihr herabbeugte. Ihre intensiven Blicke und sein amüsiertes Lachen sorgen noch immer für ein seltsames Gefühl, wenn ich daran zurückdenke. Zu dem lenkt mich die Erinnerung an diese Situation so sehr ab, dass ich Jeff glatt vergesse und er sich mit seiner Annahme noch bestätigter fühlt. „Sie steht auf dich und ist genau dein Typ.“ „Aha. Als ob du weißt, was mein Typ ist“, erwidere ich im selben Wortlaut, wie mein Mitbewohner zuvor und spüre, wie ich mich abwehrend immer mehr zurückziehe. „Na ja, so schwer ist dein Typ nicht zu kategorisieren. Unkompliziert und leicht zu haben.“ Ich erwidere nichts. Jeff sucht sich ein weiteres Steinchen, das er munter über den Gehweg kullern lässt. „Ficken ohne Verbindlichkeiten und bloß keine Beziehungen. Ganz klar.“ Gezielt. Geschossen. Getroffen. Dazu sieht mich er mit diesen intensiven blauen Augen an. Ich weiche seinen forschenden Blick unweigerlich aus. „Du denkst auch, ich bin ein Arsch ohne Gewissen, oder?“, kommentiere ich mit zusammengebissenen Zähnen und ärgere mich darüber, dass mir Jeffs Ansicht nicht scheißegal ist. Ich lasse das Handy in die Einkaufstüte gleiten und taste unwillkürlich nach den Zigaretten in meiner Hosentasche. Es beginnt erneut zu nieseln. Nur ein kleiner kurzer Schauer, doch er kühlt mich zusätzlich ab. „Liege ich denn falsch?“, fragt er nach. Ich schätze Jeffs Ehrlichkeit, aber selbst mir wird das manchmal zu viel. Mit nur einer Hand ziehe ich mir die Zigarettenschachtel hervor und nehme einen Stängel zwischen meine Lippen. „Ja, denn ich steh nicht auf Blondinen“, knalle ich ihm bissig entgegen. Der ebenso blonde Mann bleibt stehen. Ich gehe unbeirrt weiter. Als ich am Wohnheim ankomme, ist die Zigarette aufgeraucht und auch jetzt wende ich mich nicht um, um zu sehen, ob mein Mitbewohner überhaupt noch hinter mir ist. Den Stummel schnipse ich ungerührt ins Blumenbeet. Micha begrüßt mich lauthals im Gang und ruft mich heran. Mein Gruß ist nur fahrig und ich sehe nicht einmal auf, als ich an ihm vorbeigehe und die Treppe hinauf ins Wohnheimzimmer verschwinde. Die Tüte mit den Einkäufen stelle ich vor dem Kühlschrank ab. Einzig mein Handy und die Flasche Wasser ziehe ich heraus, bevor ich mich an den Schreibtisch setze und augenblicklich die abgelegten Kopfhörer über meine Ohren streife. Als ich die Playtaste betätige, ertönt ´Mad World´ von Gary Jules und noch bevor die ruhige Stimme des Sängers einsetzt, drücke ich den Song weg. Ich bin nicht in Stimmung. Dennoch ertönen in meinem Kopf die ersten Zeilen des nachdenklichen Liedes umso lauter. Jeff hat Recht. Sex ohne Verbindlichkeiten. Keine Beziehungen. Keine Verantwortungen. Bloß kein gefühlsduseliges Zeug. Es ist dumm von mir, zu glauben, dass mein Handeln andere Meinungen hervorruft als die klischeehaften, die ihm inne wohnen. Warum also trifft es mich jedes Mal, wenn gerade Jeff derartig auf den Punkt kommt? Weil er es besser wissen sollte! Doch, wie sollte er? Ich halte Jeff, meinen Freund seit Kindheitstagen, genauso auf Abstand, wie alle anderen, die mir nahe stehen sollten. Ich höre die Tür dumpf ins Schloss fallen und Schritte. Ein leises Rascheln und aus dem Augenwinkel heraus sehe ich, wie Jeff neben mir stehen bleibt. Sekunden später tauchen mehrere Briefumschläge bei meiner Hand auf. Post, die mir wahrscheinlich Micha eben geben wollte. Jeffs Hand legt sich auf meine Schulter. Sein Daumen streicht über mein linkes Akromion, dem äußeren Endstück des Schlüsselbeins. Für einen Augenblick schließe ich meine Augen. Und obwohl ich deutlich sein Bedürfnis nach Versöhnung spüre, rühre ich mich nicht. Jeff würde sich bei mir entschuldigen, obwohl er nichts falsch gemacht hat. Doch auch das lasse ich nicht zu, um mir nicht eingestehen zu müssen, dass eigentlich ich etwas ändern muss. Ich sehe ihn an, ohne die Kopfhörer abzunehmen. Mein Handy meldet sich mit gleichmäßigen Vibrationen und das fahle Licht durchbricht diesen eigenartigen Moment, von denen wir in den letzten Jahren viel zu viele hatten. Ich sehe Lenas Namen auf dem Display und greife danach. Jeff zieht sich zurück, als ich ihre Nachricht öffne. Sie hat mir ein Bild zugeschickt, auf dem die Karten für das 5 seconds of summer- Konzert zu sehen sind. Darüber liegt mein kleines gehäkeltes Voodooich inklusive Miniatur-Fanshirt und Zuckerherzen. Meine Schwester ist beängstigend kreativ. Ich greife nach dem Püppchen, welches neben meinem Desktop lehnt und kann mir das Schmunzeln nicht mehr verkneifen. Mit dem Daumen streiche ich über den plüschigen Körper und stocke, als ich auf der Höhe der Brust etwas Hartes spüre. Mit dem kleinen Finger gleite ich unter das angedeutete Kleidungsstück und ziehe eines der Zuckerherzen hervor. Es bleibt auf der Spitze meines Fingers liegen. Rosafarben und glänzend. Mit Vorliebe hatte Lena damals auf jeden Kuchen diese Zuckerteile gekippt. Egal zu welchem Anlass. Egal, wie sehr ich mich darüber aufregte oder gerade deswegen. Diese Dinger sind der pure Kitsch. Nichts, was ich gut heißen kann. Voodoo und Zuckerherzen? Was hat sie sich nur dabei gedacht? Wie soll ich da noch nein sagen? Ich werde wirklich weich. Ich schiebe das Herzchen zurück in die Puppe und greife nach meinem Handy. Statt meiner Schwester zu antworten, wechsele ich unwillkürlich auf den Chatverlauf mit Kain. Das Foto seines gestählten Körpers springt mich förmlich an und ich spüre, wie meine Fingerspitzen zu kribbeln beginnen. Der oft betitelte Stein an der Stelle meines Herzens gibt seltsame Vibrationen von sich und ich werfe das Telefon in einem hohen Bogen aufs Bett. Jeffs Blick, der mir bescheinigt, dass ich womöglich den Verstand verliere, ignoriere ich gekonnt und ziehe mir das Grundlehrbuch für Biochemie heran. Für das Treffen mit Shari muss ich noch eine Kleinigkeit vorbereiten und vielleicht hilft mir der Gedanke an die rationale Wissenschaft dabei abzuschalten. Jeff schläft bereits, als ich den Rechner ausmache. Im Waschraum überfällt mich die Neugier und kritisch betrachte ich meinen Hals, an dem Jeff vorhin verräterische Flecken gesehen haben will. Ich werde Kain umbringen. Ganz sicher. Ich finde nichts Auffälliges. Nur eine einzige Stelle nahe meines Kiefers. Ich lasse meinen Zeigefinger darüber gleiten und spüre augenblicklich das feine Kitzeln ausgelöst durch die Erinnerung an Kains neckischen Liebkosen. Was macht er nur mit mir? Zurück im Bett ziehe ich mir die Decke über den Kopf und schlafe mit der Hoffnung ein, in der Nacht friedlich zu ersticken. Nichts passiert. Am Dienstag überbrücke ich die Zeit bis zum Treffen mit Shari, indem ich unentschlossen vor einem der Eisautomaten stehe. Hörnchen mit Nüssen und Vanilleeis? Zitrone und Buttermilch? Erdbeere? Meine Augen wandern über die anderen kalten Leckereien. Verschiedene Sorten Wassereis. Capri. Das Ding mit Cola-Geschmack. Mein Blick wandert weiter. Das Sandwich mit dreierlei Standardeis. Der Domino mit dem verlockenden Schokoladenmantel. Lecker sind sie alle. Ich bin mir uneins. Vermutlich liegt es daran, dass ich mich einfach nicht konzentrieren kann und das schon seit Wochen. Zudem stehen die Klausuren an und abgesehen von den Wiederholungen längst vergangener Semester habe ich noch keinen Millimeter in die Bücher geguckt. Der Aufenthaltsort einiger meiner Vorlesungsunterlagen gilt definitiv als Verschollen. Zum Verrücktwerden. Irgendwann drücke ich einfach mit der flachen Hand auf das Tastenfeld und lasse mich überraschen. Was ist das Leben ohne Risiko. Mir fällt ein Wassereis mit dem Namen Pink Sherry Kiss entgegen. Ich atme tief ein und richte meinen Blick gen Himmel. Warum? Was habe ich nur getan, dass man mir so etwas antut? Die Kunststoffdecke schweigt. Ich nehme das Eis heraus, trabe missmutig und mit der Welt im Zwiespalt Richtung verabredeten Lernzimmer. Shari ist noch nicht da. Ich ziehe mir wie gewohnt einen Stuhl in Position und hole das Eis aus der Verpackung. Ein länglicher, roter Zylinder. Mein Blick wandert erneut zur Decke. Weiterhin keine Antwort. Immerhin schmeckt es. Ich schlage die Beine übereinander und lehne mich zurück. Ich genieße die Süße, die über meine Zunge kitzelt, gepaart mit leichter Säure, die ein prickelndes Gefühl auf den Seitensträngen hinterlässt. Der Geschmack von Kirsche schwelt im Hintergrund und erblüht, sobald die Flüssigkeit meine Speiseröhre hinabfließt. Es ist erfrischend. Doch es ist die Kühle auf meinen Lippen, die ich besonders mag. Als die Tür aufgeht, wende ich mich samt Eis im Mund um. Zu meiner Überraschung blickt mir ein dunkelhaariger Kerl entgegen. Er kommt mir bekannt vor und nach einer ausführlichen Musterung bin ich mir sicher, ihn schon mal gesehen zu haben. Auch er gehört zu der eher schlanken Männersorte und hat ungewöhnlich weiche Gesichtszüge. Er starrt mich apathisch an, während sich Sharis schmale Hände an seiner Seite vorbeischieben. „Mark, steh nicht im Weg rum.“, murrt sie ihm liebevoll entgegen und drückt ihn zur Seite. Shari lächelt angestrengt, als sie sich an Mark vorbei in den Raum zwängt. Heute trägt sie eine schlichte dunkele Jeans und eine geblümte Bluse. Ich hätte sie gern noch einmal im Sari gesehen. Ich schlucke die Flüssigkeit in meinem Mund runter, lecke die Reste von meinen Lippen und hebe fragend meine Augenbraue, als ich merke, dass mich Sharis Freund noch immer anstarrt. „Hat er einen Schlaganfall?“, frage ich verwundert und sehe dabei zu, wie die Inderin ihre Tasche auf den Tisch stellt. „Wahrscheinlich hat sich nur sein Gehirn abgeschaltet. Na ja, vielleicht auch ein Schlaganfall. Hyvää päivää, Robin!“, flötet sie mir entgegen. Hüa was? Ich begrüße sie mit einem schlichten Hey und sehe wieder zu Mark, der sich langsam aus seiner Starre zu lösen scheint. „Wie kann man bei diesen Temperaturen Eis essen?“, fragt er verwundert und mit einem stirnrunzelnden Blick auf mein zweites Frühstück. „Mund auf. Eis rein… und schlucken“, erläutere ich lapidar und bemerke erst im nächsten Moment, wie eindeutig zweideutig das klang. Das war nicht beabsichtigt. „Wie anschaulich, aber das meinte ich nicht.“ Mark lächelt genauso kopfkinolastig wie beim Eintreten. Shari lässt sich auf den Stuhl vor mir nieder und ihr Gesichtsausdruck bleibt beeindruckend naiv. Mein Diabeteslevel steigt und ich kann mir ein deutliches Grinsen nicht verkneifen. Ich sehe wieder zu Mark, der zwischen mir und seiner Freundin hin und her blickt. Anscheinend hat er ähnliche Gedanken bei Sharis Anblick wie ich. Sein Lächeln ist liebevoll im Gegensatz zu meinem. „Es ist zu kalt für Eis“, sagt er dann. „Für dich vielleicht. Ich möchte anmerken, dass es genaugenommen die perfekte Zeit für Eis ist, denn die unterdurchschnittlichen Temperaturen wirken sich positiv auf den Aggregatzustand aus. Außerdem ist die Verträglichkeit für den Körper im Sommer, wie auch im Winter vollkommen gewährleistet, weil das Eis, wenn es im Magen ankommen ist, bereits auf die durchschnittliche Körpertemperatur eines Menschen erwärmt ist“, kommentiere ich, lasse meine Zunge über die leicht geschmolzene Masse wandern und lecke mir Danebengetropftes vom Handballen. Ebenso könnte ich argumentieren, dass Eis bei den im Winter häufig auftretenden Erkrankungen, wie Angina oder Mandelentzündungen, als schwellungsreduzierendes Mittel im Hals wahre Wunder bewirkt. Ich lasse es. „Meint er das ernst?“ Mark richtet seine Frage an Shari und nicht an mich. Sie nickt nach kurzem Überlegen und einem knappen fragenden Blick an mich. „Auch Biochemisch ist Eisessen für die kühle Jahreszeit ein wahres Heilmittel. Endorphine. Serotonin. Lauter bunte Glücksgefühle. Übrigens der gleiche biochemische Cocktail, wie beim Verliebtsein. Funktioniert auch mit Erbsen“, fachsimple ich weiter und lecke genüsslich an meinem Eis rum. „Jetzt bekommt das Märchen ´Die Prinzessin auf der Erbse´ eine ganz neue Bedeutung für mich. Wozu braucht man da noch andere Menschen“, folgt als sarkastische Antwort von Mark und ich schaffe es nicht, mir ein Grinsen zu verkneifen. Ich plädiere seit Jahren dafür, diesen ganzen Mist mit ‚der Mensch ist ein grundsoziales Wesen‘ zu überarbeiten. Mark schüttelt sein Haupt, beugt sich runter und haucht Shari einen Kuss auf die Wange. „Okay, ich mache mich vom Acker. Lern fleißig, chisaii Hana! Nähdään, du seltsamer Biofritze!“ Er hebt die Hand zum Gruß. Vor der Tür bleibt er erschrocken stehen, weil er beinahe gegen Kain prallt. Der Schwarzhaarige lehnt im Türrahmen, lächelt Sharis Freund entgegen und lässt ihn vorbei. Kain hat mir gerade noch gefehlt. Wie lange steht er schon da? Ich will nicht drüber nachdenken und drehe ihm den Rücken zu. Ich beseitige die Tropfen, die sich am unteren Rand meines Eises gebildet haben. „Und was passiert beim Küssen in unserem Körper?“, höre ich Kain fragen und sehe, wie Sharis Augen seinen Bewegungen folgen. Er erwartet keine Antwort auf die gestellte Frage und lehnt sich über meine Schulter. Ich spüre seine Wärme durch den Stoff meines Oberteils und umfasse den Stiel der kalten Süßigkeit fester. „Als erstes wird die Produktion von Adenosintriphosphat, einem Zelltreibstoff kräftig angekurbelt. Energie setzt sich frei, die das Herz immer schneller schlagen lässt. Blut pumpt sich durch die Adern. Pulsierend. Heiß. Die Atemfrequenz steigt. Der Puls rast.“ Nur ein Flüstern, welches heiß gegen meinen Hals trifft. Ein Tropfen roter Flüssigkeit landet auf meinem Daumen. „Langsam steigt die Körpertemperatur. Die Lippen beginnen zu prickeln und die Nervenenden werden mit jedem Pulsieren empfindlicher. Es folgt eine Berührung. Vielleicht nur kurz. Nur ein Hauch und dennoch beginnt die Hypophyse mit der Ausschüttung von Endorphinen. Unmengen an Dopamin breiten sich im Nervensystem aus und das Belohnungszentrum schreit nach mehr. Ein guter Kuss macht süchtig“, raunt er mir entgegen, so laut, dass auch Shari alles hört. Ein weiterer Tropfen des klebrigen Eises perlt über meine Haut und landet auf dem Tisch. Mein Griff um den Stiel ist so fest, dass sich mein Daumen weiß verfärbt. Ich rieche das zarte Aroma von Zitrone und bekomme Gänsehaut. Wie sehr ich Kain gerade dafür hasse. „Wir benutzen beim Küssen übrigens 60 Muskeln. Hi, ich bin Kain.“ „Hi,… Shari.“ Ihr Name folgt verspätet, so als hätte sie ihn kurzzeitig vergessen. Kain lächelt und reicht der schönen Inderin die Hand, während sich die andere in meinen Nacken schiebt. Nun versteife ich mich vollends, spüre, wie die Wärme seines Körpers in mich eindringt. Ein lautes Knacken und der Stiel bricht. Im selben Augenblick landen die Reste des Wassereises auf der Tischplatte. Shari kichert als erste munter drauf los, während ich mich schnellst möglich von Kain entferne. Der Schwarzhaarige verkneift sich jeglichen Kommentar und grinst mir nur hochamüsiert entgegen. Ich greife mir das Stück Eis und lasse es im Papierkorb verschwinden. Shari reicht mir ein Taschentuch, mit dem ich versuche, die roten Flecke von meinen Händen zu rubbeln. Ich tröste mich mit dem Gedanken, dass es wenigstens nicht in meinem Schoß gelandet ist und lasse das zusammengeknüllte Taschentuch meisterlich im Papierkorb verschwinden. Aus 4 Meter Entfernung. Wenigstens etwas. Kain und Shari setzen währenddessen ihre kennenlernende Unterhaltung fort. Ich richte meinen Blick ein weiteres Mal an diesem Tag gen Decke und wünsche mir nichts sehnlicher, als dass sie auf mich runterstürzt. Nichts passiert. Shari fragt nach Kains Studiengang und er nach ihrem Semester. Kain lässt sich neben Shari auf einen Stuhl nieder. In meinem Kopf schreiben sich die ersten Zeilen einer herzzerreisenden Liebesgeschichte mit Dreiecksbeziehung und Unmengen an kultureller Missverständnisse. Vermutlich würde es Kain sogar schaffen, einen strengen indischen Vater von sich zu überzeugen. Kain ist der perfekte Schwiegersohn. Ich könnte kotzen. „Kain, was willst du hier?“, unterbreche ich den Smalltalk, als ich meinen Würgereiz erfolgreich unterdrückt habe und lasse mich wieder auf den Stuhl fallen. Der Angesprochene zuckt nicht mal und bleibt bewusst zu Shari gewandt sitzen. „Ich habe gehört, dass man hier etwas lernen kann.“ „Für dich etwas zu spät, oder?“ Der offensichtliche Angriff ist so plump, dass Kain ihn einfach weglächelt. „Ihr habt doch auch große Schnittmengen mit der Biochemie, oder?“, fragt Shari interessiert und rammt mir damit das selbstherbeigerufene Messer in den Rücken. Tief. Sehr tief. „Sehr große…“ „Nicht mal ansatzweise…“, beginne ich im selben Moment wie Kain zu antworten. Wir brechen beide ab und sehen uns an. Sein Blick ist so intensiv, dass ich einknicke und als Erster wegschaue. „Er ist nur hier, um mir auf den Keks zu gehen“, sage ich seltsam quengelig und richte meinen Blick zum wiederholten Mal an die Decke. Ein Riss. Ein Bröckeln. Letztendlich nur eine Spinnenwebe. Ich gebe nicht auf. „Ja, dich zu nerven habe ich mir zur Lebensaufgabe gemacht. Aber ehrlich gesagt, habe ich wirklich eine Frage.“ Er zieht das Buch für Pathobiochemie aus seiner Umhängetasche und schlägt es bei einem Lesezeichen auf. Ich sehe dabei zu, wie er auf eine Passage tippt. Wenn ich auf seine Hände sehe, bekomme ich jedes Mal Gänsehaut. „Du kannst doch selber lesen, oder?“ „Robin, komm schon.“ Kain hat Recht. Ich verhalte mich wie ein dummes kleines Kind. Aber es ist so schön einfach. Ich murre laut und überfliege den Abschnitt. Er kommt mir nicht bekannt vor. Bei diesem Kapitel bin ich entweder noch nicht angekommen oder es gehört zu den Passagen, die ich aus Mangel an Konzentrationsfähigkeit nur halbherzig gelesen habe. „Und?“, fragt Kain nach einer Weile. „Professor Willing. Vorlesung zur Biochemie mit klinischen Bezug. 5. Semester“, antworte ich ruhig und lehne mich mit verschränkten Armen zurück. „Soll das heißen, dass du noch nicht so weit gekommen bist oder, dass du Schlautier mal keine Antwort parat hast?“, schlussfolgert Kain. Ich beiße die Zähne zusammen. „Ich bin nicht google. Können wir jetzt mit den Übungen anfangen?“, sage ich ausweichend und ziehe die Arbeitsblätter hervor, die ich für die kleine Inderin ausgearbeitet habe. Ich gebe auch Kain eines davon, während mir Shari ihre Liste mit Fragen überreicht. Sie ist zwei Seiten lang. Ich resigniere und verfluche stillschweigend die Dozentin, die mir das eingebrockt hat. Vieles davon ist Zusatzwissen und hat für die Klausuren keine Relevanz. Ich notiere mir ein paar Stichpunkte und ergänze Lücken, indem ich die dazugehörige Passage im Buch nachschlage. Kain und Shari bearbeiten die Aufgaben. Zunächst allein, doch nach und nach wird es zu einer Partnerarbeitet. Anscheinend hat auch Kain deutliche Lücken. Ich bin erstaunt, dass er das Ganze mitmacht. Wahrscheinlich macht er sich daraus einen Spaß. Abwechselnd gleitet mein Blick über die beiden Personen vor mir. Sharis schwarze Haare sind nach hinten gebunden, dennoch fallen einzelne Strähnen nach vorn. Sie schmiegen sich um ihre Schultern, wie ein zärtliches Streicheln mündend in ein feines Kitzeln. An den Spitzen bilden ihre sonst glatten Haare kleine Kringel. Die schöne Inderin ist für mich der Inbegriff einer begehrenswerten Frau. Genau mein Typ. Perfekte Rundungen. Weiblich. Ihre Blicke sind die Mischung aus Erotik und Unschuld. Perfekt. Lustvoll. Und dennoch sehe ich verstohlen zu Kain, der in einem vorangegangenen Moment die Strickjacke mit dem diagonalen Reißverschluss geöffnet hat. Darunter trägt er ein enganliegendes blaues Shirt. Ich kann sehen, wie sich seine Brustmuskeln unter dem Stoff hervorheben. Meine Augen haften an der Stelle seiner linken Brustwarze und ich bilde mir ein, zu erkennen, wie sie sich erhärtet. Das erregende Kitzeln erfasst mich schnell und unvorbereitet. „...Hallo? Spatz? " Kains Hand legt sich auf meinen Unterarm und reißt mich aus den Gedanken. „Was?“, antworte ich reichlich inhaltsleer. Kain hat mich kaputt gemacht. Ich sitze mit einer bezaubernden Schönheit in einem Raum, den Kopf voller Fantasien und denke an ihn. Nach so kurzer Zeit bin ich körperlich auf ihn konditioniert und ich befürchte, dass auch mein Restverstand demnächst baden geht. Herrlich. „Spatz? stichelt der Schwarzhaarige weiter, weil ich noch immer nicht reagiere. „Stirb“, entflieht es mir, als ich erneut die ornithologische Zuordnung erhalte und mein Gehirn halbwegs aus dem Nebel der Erinnerungen herausgefunden hat. Shari lächelt. „Ist er immer so unaufmerksam?“, setzt Kain, ohne auf meine Verwünschung einzugehen, fort. „Dauernd. Aber er guckt dann immer so süß“, springt Shari auf den Zug auf. Wie bitte? Das einzige Mal, bei dem ich süß gewesen bin, war zum Fasching vor 19 Jahren und das nur, weil mich meine Mutter in ein selbst genähtes Pilzkostüm gesteckt hat. Es war einfach erniedrigend und wenn man nach dem Großteil der Senioren unserer Partnerstätte ging herzallerliebst. Mir wird jetzt noch übel. „Tatsächlich?“ Die braunen Augen des anderen Mannes mustern mich ausführlich und werden mit jeder Sekunde neckender. Ich werde genervter. „Und jetzt guckt er absichtlich grimmig, um zu beweisen, dass er der Teufel in Person ist. Sehr furchterregend,… wenn wir Kleinkinder wären oder Kätzchen“, kommentiert Kain meinen Gesichtsausdruck. Shari kichert verzückt. Der Ärger über sie hält sich in Grenzen. Bevor ich etwas kontern kann, erhebt sich die Inderin von ihrem Platz, legt Kain eine Hand auf die Schulter und sieht mir lächelnd entgegen. „Ich gehe kurz für kleine Wollknäule. Zerfleischt euch nicht.“ Ich sehe ihr nach, bis sie den Raum verlässt und sich die Tür hinter ihr schließt. „Hör auf damit", sage ich energisch. Kain lehnt sich auf dem Tisch nach vorn, stützt sein Kinn auf seinen Händen ab und lächelt. Ohne jegliches überspitztes Amüsement. Ohne jegliche Tonation. Es ist einfach nur ein Lächeln. Ein Warmes. Ein Sanftes. Ich wende mich mit einem seltsamen Gefühl im Bauch ab und beginne im Lehrbuch für die Erstsemester zu blättern. „Kann ich dich etwas fragen?“ „Kann ich dich daran hindern?“, motze ich zurück und sehe nicht einmal auf. „Liegt es an mir mit dem Küssen oder ist diese ganze verrückte Ziererei so ein verqueres Robinding?“ „Was?“ „Antworte!“ „Wir sind Kerle, oder nicht?“ „Und Kerle küssen sich nicht?“ „Küssen hat unter Männern keinen nennenswerten biochemischen Effekt mehr. Wir schieben nur Testosteron hin und her.“ Kains Gesichtsausdruck ist eine amüsante Mischung aus Verwunderung und Verzweiflung, Was ist aus ´einfach nur ficken´ geworden? Das unkomplizierte und verantwortungsfreie Schäferstündchen. Kain war es, der es mir versicherte und nun will er küssen? „Biochemischer Effekt?“, wiederholt Kain fragend. „Das ist dein Ernst, oder?“ „Woher kommt das auf einmal?", frage ich deutlich genervt und sehe einen Moment dabei zu, wie mich der Schwarzhaarige fassungslos ansieht. Muss ich wirklich deutlicher werden? „Wir ficken! Schon vergessen?", äffe ich seinen vormaligen Ausspruch nach, den er mir mehrmals ungeniert vor den Latz geknallt hat. Ich erinnere mich gut an die Situationen zurück, in denen er mir großkotzig erklärte, dass er nur macht, was ihm beliebt und dass er sich nimmt, was er will. Es passte schon damals nicht wirklich zu dem Kain, den ich kannte und dennoch hat es die Inhalte unserer Zusammentreffen geprägt. Kains Augen rollen verstehenden zur Seite. „Ich habe ja nie gesagt, dass ein reines Fickverhältnis für mich heißt, dass ich auf Küssen und Streicheleinheiten verzichten will", gibt Kain erklärend von sich und weicht meinem Blick aus. Er lehnt sich zurück, streicht mit den Fingern über den Rand des aufgeschlagenen Buches und dann durch sein Haar. „Ach bitte, das kann nicht dein ernst sein! Such dir doch eine Freundin, wenn du unbedingt einen auf Kuscheltier machen willst... Ich brauche das nicht“, kommentiere ich kühl und genervt. Kain erfasst mich mit seinem tiefbraunen Iriden und schweigt. Seine Nichtreaktion irritiert mich wie immer. Er schiebt das Buch ein Stück zur Seite und beugt sich nach vorn. Mit den Händen stützt er sich auf dem Tisch ab und kommt mir mit einem Mal sehr nahe. Eine Hand greift in meinen Nacken. Hält mich fest. Minimal weiche ich zurück, doch da drückt er seine Lippen schon auf meine. Ich bin zu perplex, um mich zu wehren. Und bevor ich es begreife, schmecke ich das zitronige Aroma des Ingwers. Die Süße, die nicht nur vom Zucker stammt. Kains lockende Zunge fordert und ich folge. Nach einem Moment auch gierig. Mich überkommt dieses wohlige Gefühl, welches mich auch beim Sex jedes Mal zu überwältigen scheint. Er löst den Kuss und sieht mich an. Forsch. Intensiv. Danach greift er nach den Unterlagen und dem Buch. „Du bist ein Lügner…“, flüstert Kain wissend und verlässt den Raum, ohne auch nur einen Kommentar meinerseits abzuwarten. Ich murre leise vor mich hin, während meine Fingerspitzen Kains Geschmack von meinen Lippen klauben. „Und du eine Prinzessin“, murmele ich, “Oh bitte, Erschieß mich“, sage ich zusätzlich noch laut, mache eine entsprechende Geste gegen meinen Kopf und seufze schwer. „Keine Chance, ich bin Buddhistin…“ Erschrocken sehe ich auf und blicke direkt in Sharis lächelndes Gesicht. „Mach für mich eine Ausnahme…“ „Nein, ich habe keine Lust als Schnecke oder Stein wieder geboren zu werden.“ Shari wäre ein besonders schöner Stein. Vermutlich auch eine sehr attraktive Schnecke. „Ich hätte nichts gegen dich als Nacktschn…Autsch.“ Der Schlag gegen meine Schulter ist hart und unterbricht meinen primitiven Rückfall augenblicklich. Die schöne Inderin lässt sich mit einem vernichtenden Blick auf ihren Stuhl nieder, fragt kurz nach dem schwarzhaarigen Mann und unterbricht meine mehrmaligen Ansätze für Entschuldigungen mit reinem Handzeichen. Ich habe es nicht anders verdient. Ihr schlanker Finger tippt auf das Arbeitsblatt und sie duldet keine weiteren Widerworte. Mit ihr als Erzieherin wäre ich garantiert ein stückweit humaner geraten. Shari hat ganze Arbeit geleistet, denn auch nach einer Dreiviertelstunde intensivem Fragen beantworten und erklären schmerzt meine Schulter immer noch. Ich erkundige mich beim Gehen danach, ob man bei Boxkämpfen auf sie wetten könne und ernte ein amüsiertes, fast peinlich berührtes Kichern. Es wirkt, wie eine aus dem schlechten Gewissen resultierende Streicheleinheit für mich. Ich bin besänftigt und verabschiede mich mit dem Versprechen, dass ich die nächsten Male rücksichtsvoller bin. Ich werde es probieren, obwohl ich mir sicher bin, dass es nur bei dem Versuch bleiben wird. Rücksichtsvollsein gehört nicht zu meinen vorprogrammierten Eigenschaften. Davon können allerhand Leute ein Lied singen. Als mein Handy zu läuten beginnt, erscheint der Name einer dieser besagten Personen auf meinem Display. Der Anruf meiner überdrehten Lektorin ist die erwartete Konsequenz auf die Ignoranz ihrer Email. „Wie geht es meinem liebsten Karamelltoffee?“, flötet Brigitta durch das Telefon. „Besser, wenn du endlich damit aufhören würdest, mir chronische Zahnfäule zu bescheren.“ „Zuckerspatz, du bist zu empfindlich.“ Nicht sie auch noch. Ich stöhne genervt auf. „Lass mich dir einen Vorschlag unterbreiten.“ Ich ahne wie immer böses, krame schon vorsorglich in meiner Jackentasche nach den umweltbelastenden Glimmstängeln und trabe missmutig nach draußen. „Ich habe einen Vorschlag für dich“, wiederholt sie nach kurzer Stille. „Sagtest du bereits. Wenn ich andauernde Wiederholungen hören will, besorge ich mir einen Anrufbeantworter!“, kommentiere ich. Brigitta faucht. „Darf ich um mehr Trommelwirbel und Ahs und Ohs bitten!“ Ich verdrehe gekonnt und komplett ungesehen die Augen. Wieso kann sie nicht einfach damit herausrücken. Egal, wie viel Spannung und Neugier sie erzeugen will, ich sage sowieso nein. Ich ziehe mir den Rucksack über die Schulter und stecke mir die Zigarette zwischen die Lippen. „Uh, ich bin ja so aufgeregt…“, nuschele ich trocken vor mich hin, bin mir sicher, dass Brigitta kaum etwas versteht und nun ihrerseits dramatisch die Augen verdreht. Solche Reaktionen kennt sie von mir zur Genüge. Ich zünde die Zigarette an. „Okay, okay, ich sage nur vier Worte. Interaktive-themenbezogene Buchconvention für Fans.“ „Das sind 5.“ Dazu mache ich noch ein Falsche-Antwort-Geräusch, wie man es aus Quizshows kennt und ziehe eine Menge des giften Rauches in meine Lungen. „Game over, wir hören uns“, sage ich, bin drauf und dran wirklich kurzen Prozess zu machen und aufzulegen. Doch ich werde weich. Der Sex ist schuld. Er macht mich umgänglich. „Robin!“ „Brigitta“, gebe ich ihren Namen retour und klinge dabei deutlich weniger aufgeregt. „Denk an deinen Bekanntheitsgrad!!“ Game over, die Zweite. Wie bitte? Ich bin fassungslos. Manchmal glaube ich, dass sie den Sinn eines Pseudonyms nicht versteht. Ich habe meinen nicht nur aus dem Grund, dass mir für die Glaubwürdigkeit von kitschigen Schnulzen der Vorbau fehlt, sondern weil ich keinerlei Interesse daran habe, dass mich jemand mit diesen Büchern in Verbindung bringt. „Bekanntheitsgrad? Wenn ich Aufmerksamkeit möchte, hüpfe ich nackt durch die Mensa.“ Am anderen Ende der Leitung beginnt es hysterisch zu kichern und ich nehme einen weiteren tiefen Zug. Ich fühle mich nicht besser. „Mein kleiner Bonbonadonis, wenn du das tust, dann bringe ich dich ganz groß raus.“ Sie quietscht nochmals und ich hadere ein weiteres Mal mit dem Wunsch, einfach aufzulegen. „Ernsthaft Brigitta. Nein.“ Auf der anderen Seite höre ich sie seufzen. „Es schadet nicht, wenn die Leser ein klein wenig mehr über den Autor erfahren. Die Leute interessiert, wer Quincey Bird eigentlich ist.“ In meinem Fall bin ich mir nicht sicher. „Wie oft willst du diese Diskussion noch mit mir führen?“, frage ich nun langsam mit den Nerven am Ende. „Schätzchen, du bist vertraglich dazu verpflichtet, dich an marketingwirksamen Strategien zu beteiligen“, schmettert sie mir auf ihre Weise ernst entgegen. Diesmal bin ich es der seufzt. „Karsten will einige Spaten erweitern und dafür vor allem Jungautoren begeistern. Wir reden da bereits eine Weile drüber und du bist einer der Kandidaten, die er sich wünscht, um den Verlag zu repräsentieren.“ Das spricht nicht für den Verlag, hallt es in meinem Kopf umher. Ich schweige. „Uns ist bewusst, dass dein Studium an erster Stelle steht und wir nehmen darauf natürlich Rücksicht. Die Integration von Ausbildung und Autorendasein ist ja ein Teil des Marketings“, erläutert sie den bereits vor der Vollendung stehenden Plan. Ich schweige weiter. „Hör mal, Robin, deine Bücher laufen gut. Das sollte dich eigentlich freuen.“ „Ich tanze später“, kommentiere ich wenig begeistert und schnipse die halbe Zigarette ins Beet, statt ein weiteres Mal daran zu nuckeln. Der Gedanke mich mit derartigen Dingen auseinandersetzen zu müssen, bereitet mir Kopfschmerzen. Wenn nicht sogar Migräne. „Ich will erst darüber nachdenken“, antworte ich zögerlich und warte nur noch auf den stechenden Blitz, der jeden Moment durch meinen Schädel fahren könnte. Nichts geschieht. „Natürlich. Vielleicht solltest du in den nächsten Tagen einmal mit Karsten telefonieren.“ „Brigitta, ich habe für sowas keine Zeit. Die Klausuren stehen an und ich komme jetzt schon kaum zum Lernen.“ „Überhaupt kein Problem, Hase. Ich sage ihm, dass du dich meldest, sobald du wieder Luft hast.“ Mich erfasst ein kalter Schauer. Vielleicht sollte ich doch schnellstmöglich kündigen. Ich verabschiede mich mit einem neutralen Allgemeingruß und lasse sie damit spüren, wie wenig Begeisterung ich aufbringen kann. Brigitta ignoriert es, drückt mir eine weitere überschwängliche Zuckerbombe entgegen und erinnert mich daran, dass ich ihr noch immer das Essay schuldig bin. Im Moment fehlt mir die innere Ruhe um auch nur zwei zusammenhängende Sätze formulieren zu können. Mit Beendigung des Gespräches sehe ich auf die Uhr. Die reguläre Mittagszeit ist noch im vollen Gange und in meinem Magen fühlt sich die Leere sondergleichen Schwer an. Hunger habe ich keinen. Ich sehe auf mein Handy und atme kurz auf. Es schweigt und damit es auch so bleibt, mache ich es komplett aus. Ich bewege mich gegen den Strom Richtung Bibliothek, verstaue alle unwichtigen Dinge im Spind und setze mich nur mit dem Laptop an meinen Stammtisch. Meine Stirn wandert auf die Tischplatte noch bevor der Rechner hochgefahren ist. Jetzt muss das mit der Ruhe nur noch mein Gehirn begreifen, doch dieses scheint mit dem restlichen Teil meines Körpers auf Kriegsfuß zu stehen. Am schlimmsten sind solche Momente, wenn man im Bett liegt. Die Zeit verrinnt und man will unbedingt einschlafen, doch je mehr man sich dazu zwingt, umso schwerer wird es. Meine Gedanken rasen und ich schaffe es nicht mich auf eine Sache zu konzentrieren. Diese Momente hasse ich. Es überfordert mich und es verbraucht Kapazitäten, die ich eindeutig für wichtigere Dinge verwenden könnte. Lernen zum Beispiel. Oder auch für den Roman, der in der letzten Zeit deutlich unter meiner Ignoranz und Sexdemenz gelitten hat. Eine interaktive Buchconvention für Fans, wiederholt sich in meinem Kopf und ich seufze so laut, dass es garantiert einige Tische weit zu hören ist. Es beschwert sich niemand, also mache ich es gleich noch mal und lasse direkt danach meine Stirn für ein paar Intervalle aufs Holz prallen. Eine Convention zum Thema Jugendliebesromane! Mir wird wieder mulmig und ich bekomme Gänsehaut. Nicht die Gute. Was haben sie sich dabei gedacht? Es muss Brigittas Idee gewesen sein. Zu viel Wein und zu viele tränenreiche Stunden mit Kommentaren und Anmerkungen in einem Fanportal. Sie treibt mich noch mal in den Wahnsinn. Ich richte mich wieder auf, lehne mich zurück und starre auf meinen wenig kreativen Desktophintergrund. Was würden Leser von mir wissen wollen? Warum ich als Mann aus der Sicht von Frauen schreibe? Würde ich auch gern wissen, denn darauf habe ich keine konkrete Antwort. Ich könnte es damit erklären, dass 90% der Leserschaft von Liebesromanen weiblich sind und rein psychologisch kann man sich am besten in sein eigenes Geschlecht hineinversetzen. Romane mit einer Hauptfigur desselben Geschlechts, eines ähnlichen Alters oder mit einer gleichartigen Situation gehen einem als Leser einfach näher. Es ist dahingehend nur logisch, eine weibliche Protagonistin zu haben. Dennoch ist es keine wirkliche Antwort darauf, warum ich als Mann aus der Sicht von jungen Frauen schreibe. Warum schreibe ich Liebesgeschichten? Eine weitere Frage auf die ich keine richtige Antwort habe und die offenbaren würde, wie wenig ich mit der rosaroten Thematik anfangen kann. Ich glaube nicht an die Liebe. Für mich ist sie im reinen Sinne des Wortes Fiction. Nichts weiter. Es fällt mir nur seltsam leicht, darüber zu schreiben. Mein Zeigefinger streicht über die glatten Tasten des Laptops. In meinem Kopf bilden sich weitere Fragen und ich schließe meine Augen, während ich den Fragen halbherzige Antworten zuordne. Wie komme ich auf die Pairings für meine Romane? Klischees und Standards. Warum wählt sie ihn? In den meisten Romanen wählt sie stets das Neue. Viele gemeinsame Jahre einer Beziehung sind dann nichtig. Oder es ist oftmals einfach die logische Wahl, um dem Roman eine gewisse Note zu verleihen. Jedes Mädchen will letztendlich den kühlen, abweisendwirkenden Kerl bekehren oder mit Charme der Einfachheit den anspruchsvollen Prinzen gewinnen. Es ist immer das gleiche. Unrealistisch und absurd. Warum um alles in der Welt sollte man sich mit derartigen Widerständen rumplagen wollen? Sollte Liebe nicht einfach sein? Ich denke an Kain und lasse meinen Kopf ein weiteres Mal auf den Tisch fallen. Wieso? Weshalb denke ich gerade jetzt wieder an ihn? Danach sehe ich wieder auf meinen Laptop und lasse meinen Finger über das Touchpad der Mouse wandert. Er gleitet über die zuletzt geöffneten Dokumente. Für einen Moment bleibt er bei der Geschichte, in der sich Kain wieder gefunden hat, stehen. Ich spüre, wie mein Herzschlag schneller wird. Wie sich das Pulsieren über meine Venen durch meinen Körper bewegt. Auf meinen Armen bereitet sich erneut Gänsehaut aus. Dieses Mal mit Gefallen. Ich öffne die Datei und lese die letzten Zeilen. …es scheint unendlich. Es dringt tief in mich ein, während sich seine warmen, feuchten Lippen über die empfindliche Haut meines Halses küssen. Seine Hände scheinen überall. Sie sind mehr als nur ein Streicheln. Sie sind Glück. Sie sind Leben. Und obwohl das Prickeln immer durchdringender wird, fast unangenehm intensiv, recke ich mich ihm noch mehr entgegen. Meinen gesamten Körper biete ich ihm dar, wie ein Süchtiger… Auch jetzt spüre ich es. Sogar noch deutlicher. Mein Herz flattert verräterisch. Ich lehne mich zurück und lasse meinen Blick über die Buchrücken des gegenüberliegenden Regals wandern. Oberflächennahe Geothermie. Bevölkerungsgeographie. Ich sitze am Übergang zur Geowissenschaft. Jeffs Fachgebiet. Mir wird klar, dass ich ihn noch nie hier angetroffen habe. Überhaupt sehe ich hier selten jemanden aus diesem Fachbereich. Vielleicht sollte ich meinen wuseligen Mitbewohner mal zur Bibliothekseinführung anmelden. Ein mögliches Geburtstagsgeschenk, echot es höchst amüsiert in meinem Kopf umher, während ich spüre, dass sich mein Puls noch immer nicht beruhigt hat. Im Gegenteil, er rast weiter, weil sich in meinen Kopf weitere Sätze formulieren, die rein gar nichts mit dem Geburtstagsgeschenk meines Kindheitsfreundes zu tun haben. Ich setze den Mousezeiger hinter den letzten Punkt, atme tief durch und lasse meine Finger über die Tastatur wandern. Wieder ist es die Bibliothekarin, die mich daraufhin weist, dass es bereits nach 21 Uhr ist. Ich klaube meine Sache zusammen und gehe zurück ins Wohnheim. Mein Magen knurrt und ich ziehe mir ein Päckchen mit Brotscheiben aus unserem Biomaten. Jeff ist nicht da. Auch Kain nicht. Ich übertrage die Daten meines Laptops auf den Hauptrechner und lege mich ins Bett. Das Einschlafen fällt mir schwer, denn noch immer kribbelt es unruhig in meinem Inneren und meine Hände tippen weitere unsichtbare Worte in die Falten meiner Bettdecke. Die restlichen Tage der Woche verlaufen erstaunlich ruhig. Ich verbringe meine Zeit überwiegend in der Bibliothek und habe dennoch das Gefühl, nichts zu schaffen, weil ich ständig mit meinen Gedanken woanders bin. Ich lese meine Vorlesungsnotizen bis ich sie auswendig kann und vervollständige meine Wissenslücken durch traniges Herumblättern in der Fachliteratur. Die Löcher scheinen so tief und endlos, dass ich nicht einmal mit den aufgestapelten Büchern über den Rand gucken könnte. Langsam bekomme ich die obligatorischen Beklemmungen und verfluche meine penetrante Semesterfaulheit. Selbst Jeff hat Abel fürs Lernen bis zum Ende der Klausurphase kaltgestellt, jedoch nicht, ohne ihm zu versichern, dass er zu seinem Geburtstag eine Ausnahme machen wird. Ich will gar nicht darüber nachdenken. Trotzdem schaltet sich bei mir das Kopfkino ein und ich brauche den kompletten Abend, um die Gedanken an die beiden kopulierenden Männer wieder loszuwerden. Als ich im Bett liege, wähnt sich sogar für ein paar Sekunden Mitleid für Kain, weil dieser das in den letzten Monaten des Öfteren live und in Farbe miterleben musste. Auch der Schwarzhaarige bleibt unserem Wohnheimzimmer fern und ich ertappe mich dabei, dass ich hin und wieder auf mein Telefon starre. Ein paar Mal verweile ich in unserem Chat und verschwinde scheinheilig, wenn ich sehe, dass Kain online kommt. Nach unserem letzten Gespräch erwartet er sicher eine Entschuldigung, doch darauf kann er lange warten. Freitagabend besorge ich die Lebensmittel, die ich für den versprochenen Kuchen benötige und krame die Backform unter meinem Bett hervor. Sie ist extrem verstaubt, da ich sie nur einmal im Jahr benutze. Am frühen Samstagmorgen stelle ich mich in die Küche, während alle anderen noch schlafen. Schokoböden gefüllt mit Himbeeren und Frischkäse-Frosting. Das Ganze ummantelt mit einer Ganache aus Sahne und dunkler Schokolade. Ich brauche 4 Stunden und lege mich gegen 10 Uhr noch einmal ins Bett. Bereits mittags beginnt mein Mitbewohner mit der quälenden Aufgabe, sich ein Outfit für den Abend herauszusuchen und scheitert an den Unmengen an Stoff, die sich alsbald auf seinem Bett türmen. Ich habe schon seit Jahren keinen Überblick mehr und Jeff wahrscheinlich auch nicht. Irgendwann fliegen mir mehrere Pullover entgegen, gefolgt von der Aufforderung sie anzuprobieren. Ich weigere mich wie ein kleines Kind beim Schuhkauf und kuschele mich stattdessen in meine flauschige Strickjacke, die ich mir ohne Probleme zweimal umwickeln könnte. „Anziehen. Die könnten dir noch passen“, fordert er mich auf und ich schüttele verweigernd den Kopf. „Was heißt denn hier noch?“, frage ich irritiert, nachdem ich mir seine Worte noch mal durch den Kopf gehen lasse. Mein Kindheitsfreund blickt mich einmal von oben bis unten an. „Na ja, weiß ich, was du seit neusten unter diesem überdimensionalen Wollding versteckst. Vielleicht schlägt das dauernde Eisessen langsam zu Buche.“ „Hallo? Ich muss gar nichts verstecken…“, kommentiere ich diese lächerliche Anspielung empört. „Na dann, hurry up and strip!“ Jeff wirft mir einen weiteren Pullover gegen den Kopf. „Bin ich dein Anziehäffchen, oder was?“, murre ich und erhebe mich von meinem Schreibtischstuhl. „Hab dich nicht so. Außerdem ist es schon eine ganze Weile her, dass ich dich entkleidet gesehen habe.“ Was für ein Kommentar. Jeff klingt besonders unschuldig, wäre da dieses verräterische Grinsen nicht. Ich streife mir die Strickjacke von den Schultern, werfe sie aufs Bett und ziehe mir die Oberbekleidung des Blonden über. Der Pullover sitzt locker und ist unheimlich angenehm auf der Haut. Jeff legt schon immer Wert auf hochwertige Kleidung. Zum Leidwesen seines Geldbeutels. Meine Finger gleiten über den weichen Stoff. Wirklich schön. Nur die Farbe stört mich, aber daran würde ich mich schon irgendwann gewöhnen. Jeff beobachtet mich und sieht zur Tür, als unser Schloss leise knackt. Sicher ist es Abel, der sich nach einer Stunde nicht mehr allein beschäftigen kann. „Ist dir sogar etwas zu groß“, ergänzt er seine Analyse. „Pah, dann sag noch mal, dass ich irgendwas verstecke…“ Ich ziehe den Pullover vorn hoch, zeige Jeff meinen fein definierten, flachen Bauch und spüre mit einem Mal zwei warme, vertraute Hände, die sich höher arbeiten und über meine Brust liegen bleiben. „Verstecken musst du nichts, aber du könntest am Muskelaufbau arbeiten…“, kommentiert Kain, während er seine Hände wieder zu meinem Bauch gleiten lässt. Ich reagiere mit deutlicher Gänsehaut und enormer Steigerung meines Herzschlags. „Sind wir hier im Streichelzoo? Nimm deine Hände weg…“, sage ich, als Kain keine Anstalten macht. Jeff beobachtet uns mit hochgezogener Augenbraue. Musternd. Fragend. „Gibst du ihm endlich was Ordentliches zum Anziehen?“, fragt Kain und zieht den Pullover zurück in Position. Danach lässt er sich auf mein Bett fallen und schubst die Strickjacke beiseite, als wäre sie ein totes Tier. „Er soll mich heute Abend nicht blamieren.“ Mein böser Blick soll ihn in Flammen aufgehen lassen, doch nichts passiert. Jeff zerrt ungerührt weiter Klamotten aus dem Schrank. „Apropos Geburtstag! Wann bist du aus deinem Ei geschlüpft, Robin?“ „Ich wurde gebaut, schon vergessen!“, kommentiere ich trocken. Kains Braue wandert nach oben, damit wendet er sich an meinen Mitbewohner. „Jeff, wann wurde Robin zusammengeschraubt?“ „Wenn ich dir darauf antworte, dann verscharrt er mich heute Nacht im Wald und ich bin zu jung und zu schön zum Sterben“, gibt Jeff keck von sich und ich kann mir ein ziemlich dämlich klingendes Lachen nicht verkneifen. Ich lasse mich auf meinen Stuhl nieder und vermeide es, zu dem Schwarzhaarigen zusehen. „Hast du nicht auch bald, Kain?“, fragt Jeff und der Kitzel der Neugier regt sich in mir. Ich weiß nicht, wann er Geburtstag hat. „Ja, im August.“ „Schon was geplant? Was willst du eigentlich hier?“, fragt Jeff verwundert. „Abel hört seltsame Musik, weil er für deine Feier noch irgendwas zusammenstellen will und mir wäre der Schädel geplatzt, wenn ich noch eine Minute länger dageblieben wäre.“ „Besser wäre es, wenn er mal aufräumen würde.“ „Meine Rede!“ Kain lässt sich mit geschlossenen Augen zurückfallen und ich merke erst jetzt, dass ich meinen üblichen Einspruch zum Thema `Niemand Fremdes in meinem Bett´ vergesse habe. Ich sehe auf die Uhr. „Ich bin noch mal weg.“ Ich greife nach meiner Tasche und Jacke und bin schon an der Tür, bevor mich Jeff zurückhält. Ein eindringlicher Blick und ich muss ihm versichern, dass ich nicht das Weite suche. Daran gedacht habe ich auch schon. Ich sehe kurz zum Bett. Kain hat sich wieder aufgerichtet und grinst mir amüsiert zu. Danach besorge ich das überaus kreative Geschenk für Jeff. Das Parfüm von dem Lena gesprochen hat und bei dem Jeff jedes Mal so sehnsüchtig wimmert, dass man glauben könnte, er müsste mit seiner feinen Nase ununterbrochen im mittelalterlichen Paris leben. Es ist einfach nur teuer, aber eine andere Idee habe ich nicht. Jeff wird sich freuen und vielleicht erspart es mir für ein paar Wochen seine Meerschweinchengeräusche. Vorsorglich habe ich es mir neutral einpacken lassen. Er wird sofort wissen, was es ist und er wird mir Vorwürfe machen, weil es zu teuer ist. Ich schinde so viel Zeit wie möglich. Mache noch einen Abstecher in die Bücherei und erinnere mich an den schwedischen Krimi, welchen ich vor ein paar Wochen gekauft, aber noch immer nicht aus der Einkaufstüte geholt habe. Auch meinen Ergüssen statte ich einen Besuch ab und ziehe mich schnell wieder zurück, als zwei plauschende Mädels direkt vor dem Regal stehen. Der Reiz, Mäuschen zu spielen ist da, aber die Scham zu groß, zu lange vor der Pupertierndenlektüre zu verweilen. Mit einem Snack mache ich mich auf den Rückweg. Als ich ins Wohnheim zurückkomme, ist niemand mehr im Zimmer. Mein Bett ist gemacht und es ist keine Spur mehr von Kain zu erkennen. Ich setze mich an meinen PC und öffne das begonnene Essay für Brigitta. Ein grober Inhalt ist schnell verfasst und dann halte ich inne. Der Plot ist wenig aufbauend, fast schon tragisch. Ein Roman ohne kitschige Klischees. Ohne Rosa. Ohne Sahne und extra Streusel. Brigitta wird nicht sehr begeistert sein. Aber wer sagt, dass eine Dreiecks- Geschichte nicht mit dem Ursprungspaar enden darf? Niemand schreibt vor, dass es sich die Protagonistin immer für den neuen Mann entscheiden muss. Vielleicht lohnt es sich, manchmal zu kämpfen? Es gibt nur nicht sehr viele Menschen, die kämpfen. Unwillkürlich wandern meine Gedanken zu meinem Vater und mit ihnen kommen eine Menge schwere, unerwünschte Gefühle. Ich lehne mich zurück, streiche mir fahrig durch die Haare und merke erst jetzt die unüberhörbare Stimmung, die in der unteren Etage eingesetzt hat. Selbst hier kann ich die Musik hören. Den Beat, wie er sich durch die dünnen Wände presst. Die Vibrationen spüren, wenn ein besonders tanzfähiger Song einsetzt. Ein Klopfen. Ich lehne mich zurück, als ich gleich darauf höre, wie sich die Tür öffnet. Kain bleibt neben dem Kühlschrank stehen, verschränkt seine Arme vor der Brust „Dir ist schon klar, dass du mit jeder weiteren Minute fehlender Anwesenheit das Geburtstagskind verärgerst?“ „Er hat noch nicht Geburtstag“, erwidere ich knapp und sehe kurz auf die Uhr. Es ist halb 11 Uhr. Jeff feiert den Tag seiner Geburt, als wäre es ein schwer erarbeitetes Privileg. Doch im Grunde hat keiner von uns einen Anteil daran. Abgesehen von unseren Müttern. „Haarspalterei. Na komm, nur auf einen Drink. Etwas Spaß…“ „Solche Veranstaltungen werden Spaßtechnisch ziemlich überbewertet.“ „Hast du Angst, dass Tanzen in deinen Schaltkreisen einen Kurzschluss verursacht?“ Wieder das Roboterklischee. Ich lächele müde und auch Kains Gesicht zeigt weniger spitzbübische Freude als beim letzten Schlagabtausch zu diesem Thema. „Tanzen gehört nicht zu meinen Standardprogrammen“, kommentiere ich dennoch drauf eingehend und fahre meinen Rechner runter. Kain macht einen Schritt auf mich zu und stoppt damit meine Bewegung zum Kleiderschrank. „Dann brauchst du dringend ein Update.“ Bevor ich etwas erwidern kann, dringt die Stimme einer Frau in das Zimmer. „Kain? Kain, bist du hier?“ Es ist die Rothaarige, die an der offenen Zimmertür stehenbleibt. Im ersten Moment erwidert er nichts, sieht mir mit einem intensiven Blick entgegen. Ich verstehe ihn nicht. Erneut ertönt der Namen des Schwarzhaarigen. „Bin gleich da“, erwidert er laut. „Lauf, kleine Dorothy, die Hexe des Westens ruft“, flüstere ich und wende mich von ihm ab. Ich öffne die Tür des Schrankes, die in Kains Richtung aufgeht und weiß nicht mal, was ich darin suchen soll. Kain drückt sie wieder zu und ich spüre seinen Körper dicht hinter mir. „Jawohl, Blechmann…“ Seine Lippen an meinem Ohr. Eine kurze Berührung und die Hitze seines Atems bleibt zurück, als er bereits aus dem Zimmer verschwunden ist. Ich ziehe mir den ausrangierten Pullover von Jeff über und lasse mich wie beim letzten Mal auf eine der Sitzgelegenheiten nieder. Bereits im Flur nach unten sind mir Unmengen an Menschen entgegen gekommen. Das gesamte Wohnheim und auch die umliegenden scheinen mitzufeiern. Mein Blick wandert durch den Raum. Dem tristen Nichts der Einrichtung sind Ballons und ein paar Lichterketten auf dem Leib gerückt. Eine davon blinkt mit verschiedenen Farbe über den gesamten Küchentresen, malt bunte Effekte auf die dunklen und hellen Flaschen und Gläser. Eigentlich ganz hübsch. Jeff hat sich wirklich Mühe gegeben. Ein paar bekannte Gesichter verteilen sich im Raum. Es ist aber niemand dabei mit dem ich mich unterhalten möchte. Genauso, wie beim letzten Mal. Der Gedanke setzt sich fort, als plötzlich ein Glas vor mir auftaucht. „Hier.“ Jeff drückt mir ein Getränk in die Hand. Diesmal ist es kein Bier, sondern eine orangefarbener Flüssigkeit mit einem dicken schwarzen Strohhalm. „Ist das euer Ernst?“ Die darin schwimmenden Eiswürfel haben die Form von Penissen und ich verspüre den Drang, ihm das Glas augenblicklich wieder zurückzugeben. „Die sind nicht auf meinem Mist gewachsen!“ Ich glaube ihm nicht. „Ich schwöre!“ Jeff ist ein schlechter Schauspieler. „Tu mir den Gefallen und lächele?“, setzt es nach und schenkt mir eines seiner lang erprobten Jeff Gesichter. Es hat bei mir keine Wirkung. Meine Erwiderung ist nur mit viel Fantasie ein Lächeln und es ist so schnell wieder verschwunden, dass man eine Zeitlupenaufnahme bräuchte, um es zu erkennen. Mehr kann ich nicht bieten. Jeff tätschelt mit kurz den Kopf und bleibt neben mir auf der Couchlehne sitzen, während er genüsslich seinen Drink süffelt. Seine Hand weilt an meiner Schulter, während er sich mit den Arm an der Rückenlehne abstützt. Ich möchte ihm sagen, dass er bei mir nicht Händchenhalten muss. Doch ich schweige. Ich nippe an dem leicht bitteren Getränk, spüre, wie die Säure der Orange über meine Zunge tanzt und im nächsten Moment der Amaretto in voller Blüte steht. Das Aroma der Mandel ist angenehm, paart sich mit einer angenehmen Herbe und ich nicke es zufrieden gestellt ab. „Hat Kain gemixt. Ich sag es dir, er hat ungeahnte Qualitäten.“ „Flüssigkeiten panschen! Er ist der nächste Dalai-Lama“, kommentiere ich und denke an einige andere seiner Begabungen. Als die Musik lauter wir, packt auch Jeff das Tanzfieber. Er schnappt sich Abel, der bereits zappelnd bei ein paar Mädels aus der Erziehungswissenschaft steht. Ich schaue zu Bar, blicke direkt zu Kain, der sich mit ein paar seiner Fachkommilitonen unterhält und entspannt gegen die Arbeitsplatte lehnt. Sein Körper bewegt sich im Takt der Musik. Ein leichtes Wippen. Ein wiederkehrendes Nicken. Als ´Cheap Thrills´ von Sia einsetzt, blickt auch der Schwarzhaarige zu mir. Er winkt mich deutlich heran und ich lehne ebenso deutlich ab. Das kann nicht sein Ernst sein. Ich tanze nicht und schon gar nicht mit ihm. Er kommuniziert mir ein Füllhorn an kreativen Gesten und Mimiken, die mir alle mitteilen, dass ich ein feiges Huhn bin, bevor er von Sina und Kati weggezogen wird. Ich bleibe kopfschüttelnd und in einem hohen Grad amüsiert auf dem Sofa zurück. Erst das Auftauchen Kaworus lockt mich aus der schweigsamen Katatonie der Partyunwilligkeit. Jedenfalls teilweise. Auch mein asiatischer Kommilitone hat heute einen schlechten Tag erwischt und wurde mehr oder weniger gezwungen, hier zu erscheinen. Er deutet auf eine hübsche Asiatin mit schulterlangen Haaren. Seine Schwester. Ihr Rock ist kurz und zeigt ihre ungewöhnlich tätowierten, langen Beine. Auf beiden Seiten zeigt sich ein aufwendig verziertes Strumpfband samt kleiner Schleifen. Ich sehe kurz zu Kaworu, der ermattet seinen Kopf nach vorn kippen lässt und sehe keinerlei Ähnlichkeiten zwischen den beiden Geschwistern. Ich fühle mit ihm. Dennoch rettet mir dieser Auftritt die Stimmung. Die Geschichten, die folgen, sind von Amüsement kaum zu treffen. Beide sind das perfekte Beispiel für die aufkommende Katastrophe, wenn die Pole ´enorm introvertiert´ und ´exponentiell extrovertiert´ aufeinanderprallen. Es ist wie ein böser Unfall, bei dem man weder hin-noch weggucken kann. Problematisch. Irgendwann ist mein Glas leer. Aus dem Sammelsurium auf der Küchenzeile werde ich nicht schlau und suche hilflos nach meinem Mitbewohner. Er verweist mich an Kain und ich frage mich, ob es eine gute Idee ist, ihm gegenüber einzugestehen, dass ich sein Getränk so gut fand, dass ich noch mal möchte. Er wird es garantiert als Aufhänger benutzen. Orangensaft und Rum reichen theoretisch auch. Ich hadere mit mir. Wie schon die ganze Zeit. Es schadet nicht, auf ihn zuzugehen. Kain macht es auch ständig, obwohl ich ihn jedes Mal wieder abblocke. Unbewusst sehe ich mich bereits nach ihm um. Ich schlängele mich durch die tanzenden Massen und treffe auf zwei bekannte Gesichter. Sina und Kati. Sie tanzen eng beieinander. Bei ihnen war Kain zuletzt gewesen. Ich atme tief durch bevor ich auf sie zugehe. „Hey, habt ihr Kain gesehen?“, frage ich und kann nicht verhindern, dass ich den beiden näher kommen muss. Kati blickt auf. Sie deutet Sina meine Anwesenheit an, die augenblicklich ihre Hand nach mir ausstreckt und mich dichter an sich heranzieht. Ich finde mich zwischen ihr und Kati wieder, spüre ihren Körper, der sich lasziv gegen meinen bewegt. Wenig später spüre ich auch Kati. Ein passender Song wäre jetzt ´Dirrty´ von Christina Aguilera, doch das Lied was einsetzt, ist ebenso bekannt, wie nervtötend. Rihannes Regenschirm- Lied verursacht mir Gänsehaut und erinnert mich zu gleich an die Person, die ich gerade suche. Ich wiederhole ein weiteres Mal meine Fragen und komme kaum gegen die Musik an. Es wird scheinbar immer lauter. Ein nächster Versuch. Sina reagiert nicht, sondern legte ihre Hände an meine Brust. Ich schiebe sie von mir weg, ernte ein beleidigtes Schmollen und frage mich zu wiederholten Mal, wo ihre seltsame Vorliebe für mich herkommt. Ich erwarte keine hilfreiche Antwort mehr, doch dann deutet sie in den Flur. Auch hier dauert es einen Moment bis ich einen Überblick über die Gesichter bekomme. Es ist nicht Kain, den ich als erstes erkenne, sondern ihr rotes Haar. Sie trägt ein gelbes Kleid. Kurz und leicht. Ihre schmalen Hände streichen über seine Brust, während er seine linke Hand über ihren Rücken gleiten lässt. Sie flüstern. Er lächelt. Sie lacht. Ihre Blicke sind tief, zeigen die Vertrautheit zwischen ihnen. Ich sehe, wie sich ihre Lippen gegen seine betten. Erst nur hauchzart. Unterschwellig fordernd bis er es erwidert. Er drückt sie näher an sich heran und ich drehe mich weg. ------------------------------------------------------- PS: vom Autor: Ich danke euch allen von Herzen Gebt mich nicht auf!!!!! Kapitel 17: Die Krux mit Stolz und Vorurteil…und Rothaarigen ------------------------------------------------------------ Kapitel 17 Die Krux mit Stolz und Vorurteil…und Rothaarigen Beschäftigt mit meinen rasenden Gedanken schiebe ich die Flaschen auf der Küchenanrichte hin und her. Rum. Gin. Tequila. Es ist der Braune, den ich nicht mag. Ich finde den Wodka und fülle das Glas zur Hälfte mit dem klaren Alkohol. Ich nehme einen großen Schluck, spüre, wie das Brennen in meiner Kehle beginnt und erst in meiner Brust endet. Es folgt keinerlei Befriedigung. Sina stellt sich neben mich. Ich bemerke sie erst gar nicht, da ich zu sehr damit beschäftigt bin, dieses grässliche Gefühl aus meinem Körper zu bekommen. Erst, als sie direkt neben mir steht und ihre Schulter gegen meinen Arm neigt, beachte ich sie. Zunächst blicke ich auf ihre schmalen Finger, die sich über das funierte Holz bewegen. Spielend. Fast tänzelnd. Dann sehe ich sie direkt an und nehme einen weiteren Schluck der beißenden Flüssigkeit. „Und hast du Kain gefunden?“, fragt sie und wendet ihren Blick von mir ab. „Der war beschäftigt…“, antworte ich knapp. „Du wirkst zerknirscht. Kann ich dich wieder aufmuntern?“ Hätten ihre Worte eine Farbe, dann wären sie rosa. Ein sehr betrunkenes Rosa. Sie lallt etwas. Ich hebe meine Augenbraue und mustere die Blondine. Auf ihren sanft glänzenden Lippen bildet sich ein verführerisches Lächeln. Sina dreht sich zur tanzenden Menge, lässt ihre blauen Iriden über die Körper der anderen wandern und wippt selbst im Takt der Musik mit. „Sina, was willst du?“ Ich kann mir nicht erklären, wo ihr plötzliches Interesse für mich herkommt. Zu dem fehlt mir gerade das Nervenkleid, um ihre Annäherungen in irgendeiner Form anzunehmen. Sie dreht sich wieder zu mir, stellt sich auf Zehenspitzen und kommt mir ein Stück entgegen. „Das weißt du nicht?“ Ihre Hand streicht über meine stoppelige Wange, weiter zu meinem Hals und bleibt dort liegen. „Soll ich es dir zeigen?“, flüstert sie mir mit rauer Stimme zu, legt mir ihre Arme vollends um den Hals und ich lasse sie für diesen Moment gewähren. Normalerweise hätte ich keine Sekunde gezögert. Sie entspricht zwar nicht meinem üblichen Beuteschema, aber sie ist willig und das hätte ich gnadenlos ausgenutzt. Heute nicht. Ich greife nach ihren Armen und schiebe sie beiseite. Unverständnis und Wut. Sie blitzen durch ihre Augen wie sekundenschnelles Gewitter. „Autsch, das trifft mich trotz Alkohol“, kommentiert sie knautschig, streicht sich durch die blonden Haare und leckt sich trotz alledem deutlich neckend über die Lippen. Sie will mich wissen lassen, dass ich etwas verpasse. Seltsamerweise interessiert es mich nicht. „Du kommst drüber hinweg“, sage ich und drehe mich wieder zur Küchenzeile, fort von der feiernden und zufriedenen Menschenmasse, die mich mehr und mehr abstößt. Die Blondine zieht sich ein Glas mit Salzstangen heran, greift sich drei und beginnt fahrig daran zu knabbern. „Weißt du, ich frage mich, ob er dir meine Idee ausgerichtet hat“, ergreift Sina erneut das Wort, vertilgt die Reste des Gebäckes. „Wer?“ „Kain. Ich habe ihm vor ein paar Wochen einen Vorschlag gemacht.“ Augenblicklich denke ich an das Bild von ihm und der Blonde im Flur. Wie sie ihm etwas zu flüsterte. Sein verschmitztes Lächeln. Kains Gesichtsausdruck sprach damals für mich Bände. „Einen Vorschlag?“, hake ich nach und wende mich ihr unbewusst wieder zu. Ihre manikürten Finger streichen über den weichen Stoff meines Pullovers. Ihre Lider bleiben gesenkt, verdecken das klare Blau ihrer Augen. „Ja! Ein Bett. Du und ich…und er…“ Ihre Stimme ist nur ein leises Raunen und ihre schlanken Schultern bewegen sich rhythmisch hin und her. Bei jedem Wort. So als könnten sie dem Gesagten zusätzliche Spannung verleihen. „Was? Wie kommst du darauf…?“ Ich versuche es trivial klingen zu lassen, doch es gelingt mir nicht. Ich höre mich derartig überrascht an, dass nur noch fehlende Schamesröte das Bild komplettieren würde. Sina sieht auf, leckt sich ein weiteres Mal über die Lippen und lächelt. „Ich habe euch gesehen. Dich und Kain. Er ist auffällig oft bei dir im Zimmer.“ „Weil Jeff und Abel…“, setze ich rechtfertigend an, doch Sina unterbricht mich. „Ja ja, jeder weiß, wie wild es Jeff und Abel treiben!“, sagt sie abschmetternd „Aber ich erkenne bestimmte Gesten und Blicke und die sind bei dir und Kain eindeutig. Ihr seid mehr als Bettnachbarn!“ Ich spüre, wie sich mein Herzschlag verdreifacht und ich unwillkürlich schlucke. Meine Gedanken rasen. Wann will sie uns gesehen haben? „Ach, es ist doch nichts dabei. Wir sind jung, gutaussehend und können es so bunt treiben, wie wir wollen“, kommentiert sie, als wäre es völlig normal, dass jeder mit jedem schläft. Das perfekte dumme College-Klischee amerikanischer Sitcoms und Ärzteserien. „Ich weiß nicht, was du gesehen haben willst, aber das ist lächerlich“, sage ich letztendlich und klinge erstaunlich fest. Es täuscht. Sie greift nach einer weiteren Salzstange und sieht mich an. „Wirklich? Dann frage ich mich, warum dir Kain nichts von meinem Angebot erzählt hat. Auch wenn es nur zu eurer Belustigung gewesen wäre.“ Ein gutes Argument. Ich frage mich dasselbe. Sina beißt vom Gebäck ab und wischt sich kauend kleine Krümel von der Lippe. „Na gut, vielleicht täusche ich mich ja und Merenas Versuche, Kain zurück zu gewinnen, fruchten besser, als ich dachte.“ Da ist er wieder. Der Name dieses rothaarigen Miststücks. Sina muss gewusst haben, wo und bei wem ich Kain finden würde. Unbewusst lasse ich meine Zähne knirschen und kippe die Reste der klaren Flüssigkeit meine Kehle runter. Obwohl ich weiß, dass es keine Linderung bringt und keine gute Idee ist. In meinem Magen beginnt es, unangenehm zu brennen, während ich Sina durch eine unschöne Geste deutlich machen, was ich von ihren halbgaren Intrigen halte. Sie lässt sich davon nicht beeindrucken. Erst das Vibrieren meines Handys stoppt weitere törichte Versuche der Blondine, mich in irgendeiner Form für sich zu gewinnen. Mittlerweile ist der neue Tag angebrochen und ich sehe mich nach dem Geburtstagskind um. Jeff wird bereits belagert, als ich ihn finde. Ich mache keine Anstalten, mich in das Getümmel zu werfen. Stattdessen beobachte ich die freudigen, betrunkenen Gesichter, vernehmen die überschwänglichen Bekundungen, die so viel Rosa und Schein beinhalten, dass ich mich übergeben möchte. Ich halte mich im Hintergrund. Als Jeff mich sieht, kommt er auf mich zu. Ich nehme meinen Freund in den Arm, spreche währenddessen ein paar wenige, aber aus dem Herzen kommende Glückwünsche aus und entlasse ihn in die durchaus fähigen Hände der anderen Gratulanten. Danach bin ich mir uneins. Ich lasse meinen Blick schweifen und verspüre keine Lust, noch länger hier zu bleiben. Andererseits merke ich deutlich, wie der Alkohol und auch das beißende Gefühl in meiner Magengegend dafür sorgen werden, dass ich nicht schlafen kann. Ich besorge mir einen Becher Wasser und kämpfe mich dafür extra durch den Ansturm an kurzzeitig wegen des Gratulierens trockengelegten Kommilitonen. Nachdem ich keine Flasche abbekomme, begnüge ich mich mit dem Sprudelquell aus der Leitung. Doch die neutrale Flüssigkeit hilft nicht so gut, wie ich es gehofft habe und missmutig mache ich mich auf den Weg ins Zimmer. Einen zweiten Becher Wasser trinke ich nebenbei in kleinen Schlucken weiter. Unwillkürlich senke ich meinen Blick, als ich den Flur betrete, da ich mir einen Blick auf die schwarz- rote Knutschparade ersparen will und laufe prompt gegen einen Widerstand. „Huch“, entflieht es mir erschrocken und ein paar Tropfen Wasser landen auf meiner Hand. Ich sehe auf und schaue in vertrautes Braun. Kain lächelt und verkneift sich dieses Mal einen Kommentar über meine selten dämliche Schreckreaktion. „Wo kann ich das Geburtstagskind finden?“ „Wird es heute noch was?“ Die Rothaarige taucht hinter ihm auf und schiebt sich energisch an Kain vorbei. Dieser rumpelt nach vorn. Ich zurück und dabei landet ein Schwall des Wassers auf meinem Pullover und der Hose. „Uups“, gibt sie scheinheilig von sich und fixiert mich mit ihren blauen Augen. Kain seufzt und deutet mir an, dass er etwas zum Abtrocknen holen wird. „Ist doch nur Wasser“, setzt sie nach, als Kain in der Menge verschwunden ist. „Wow, dein geistiges Alter ist gesunken auf Niveau Lilifee.“ „Und wenn schon. Ich könnte dir auch jeder Zeit irgendwelche hochtrabenden Fachbegriffe an den Kopf werfen und mich darüber lustig machen, dass du ihre Bedeutung nicht kennst.“ Die Rothaarige mustert mich abschätzig. „Ich bitte darum“, provoziere ich, „Verblüffe mich wenigstens ein einziges Mal.“ „Nein, den Gefallen tue ich dir nicht. Das habe ich nicht nötig.“ „Nicht nötig? Mit dir zu reden ist, als würde man Popcorn für Tierversuche benutzen und danach erwarten, dass die Laborratte Cornflakes scheißt. Selbst Gespräche mit Hunden sind ergiebiger. Keine Ahnung, wieso Kain sich mit dir abgibt.“ „Er weiß nun mal, was ihm gut tut.“ Mir entfährt ein mildes Lachen. „Hast du dich jemals gefragt, wieso sich Kain von dir getrennt hat? Und glaubst du wirklich, dass er dich zurück will?“, frage ich reizend, sehe, wie sich ihr Körper augenblicklich anspannt und ihre schmalen Lippen zu einem einheitlichen Strich werden. „Glaubst du, nur weil du mit Kain Zeit verbringt, dass du ihn kennst? Du hast keine Ahnung, wie er tickt und schon gar nicht verstehst du die Gründe unserer Trennung. Also was interessiert es dich, ob er zu mir zurückkommt?“ „Tut es nicht. Ich genieße es nur, dabei zu zusehen, wie du dich lächerlich machst.“ „Ich habe Qualitäten, die er sehr zu schätzen weiß. Auch heute. Sogar bis vor wenigen Minuten.“ Sie streicht sich eine rote Strähne zurück und positioniert ihren schlanken Körper versucht aufreizend. Unwillkürlich denke an die vergangenen Minuten, die mich Sina in der Küche vollgequatscht hat. Es war genügend Zeit für eine schnelle Nummer und der Gedanke daran verursacht mir heftige Magenschmerzen aus Wut, Ekel und vielem anderen. In einer Kurzschlussreaktion kippe ich ihr die Wasserreste meines Bechers demonstrativ entgegen. „Spinnst du?“, entsetzt sieht sie mich an, wischt sich Feuchtigkeit vom Hals und dem durchtränken Oberteil ihres Kleides. An den nassen Stellen wird der Stoff ihres Kleides sofort durchsichtig. Sie trägt keinen BH. „Was denn, es ist doch nur Wasser“, ahme ich sie nach, „Und Qualitäten erkenne ich keine“ Mit Genugtuung sehe ich dabei zu, wie sich ihre schmalen Lippen fassungslos öffnen und wieder schließen. Ein paar Mal, wie ein Fisch auf dem Trockenen. Sie ringt mit einer passenden Erwiderung und ich winke gelangweilt ab. „Chance verpasst, mich zu verblüffen. Vielleicht beim nächsten Mal, Prinzessin.“ Ich sehe, wie sich Kain durch die Menge schiebt und verschwinde, bevor er das Drama mitbekommt. Ich habe wenig Lust, mich auch noch mit ihm auseinandersetzen zu müssen. Vor allem aber verspüre ich keinerlei Bedürfnis, diesen dummen Ausbruch zu erklären. Auf dem Flur holen mich die ersten Auswirkungen des zu schnell getrunkenen Wodkas ein. Ich gerate ins Wanken. Nur für einen Moment. Der Alkohol in meinem Blutkreislauf lässt meine Gedanken rasen. Qualitäten? Von wegen. Sie ist flach wie ein Brett. Ohne das ganze Make up wäre sie kein bisschen feminin. Was findet er an ihr? Scheiß drauf. Scheiß auf Kain und sein scheinheiliges Gerede. Soll er sie doch ficken. Es ist mir egal. Warum gerade dieses rothaarige Miststück? Zum Teufel mit meinem Gedanken. Es ist mir egal. Alles. Jeder. Vor allem Kain. Im Zimmer angekommen werfe ich Jeffs Geburtstagsgeschenk auf sein Bett und nehme in Kauf, dass er es im schlechtesten Fall erst in ein paar Tagen finden wird. Ich zerre mir die Kleider vom Leib und lasse mich ungewöhnlich leicht bekleidet ins Kissen fallen. Nach einem Moment drehe ich mich ruckartig zur Seite und starre gegen die Wand. Wie befürchtet, ich finde keine Ruhe. Ich höre mein Blut rauschen, spüre, wie sich der Alkohol mahnend und bedrohlich durch meinem Körper bewegt und wie sich das Zimmer ab und an zu drehen scheint. Unerfreulich. Mein Handy beginnt zu vibrieren und aus den Augenwinkel heraus sehe ich, wie das Display aufleuchtet. Ich mache keine Anstalten, es zu holen, sondern höre nur dabei zu, wie es wiederholt vibriert. Dreimal. Nach ein paar Minuten weitere zwei Mal. Sicher ist es Kain. Ich rühre mich nicht. Auch nach einer weiteren Stunde, in der ich mir aktiv einrede, dass mir Alles und Jeder egal ist, schlafe ich nicht ein. Jeffs Bett bleibt verwaist. Ich setze mich auf und fahre mir genervt durch die Haare. Von unten dringt noch immer Musik herauf. Ich ziehe mein Schlafshirt hervor und bette meinen Kopf gegen die kühle Zimmerwand. Irgendwann am frühen Morgen lande ich ermattet in der Horizontalen und schlafe mit schmerzenden Rücken weiter. Nur nicht lange. „Abel fliegt mit mir in die Südsee!“, jolt mein Mitbewohner, lässt meine Matratze hüpfen und mich missmutig murren. Ich ziehe mir mein Kissen über das Ohr, da Jeffs Rumgegröle noch lauter und penetranter zu sein scheint als sonst. Ich bin hundemüde, verkatert und mausere mich langsam zu einem eifersüchtigen Verrückten. Keine gute Kombination. Jeffs Zirkusnummer kann ich nicht gebrauchen. Er hüpft ein weiteres Mal munter auf mir rum und lässt sich dann fallen. Ich richte mich schwerfällig auf, höre mir an, wie er über Sonne, Kokosnüsse und süße Cocktails schwadroniert und wundere mich mehr und mehr darüber, wieso er um diese Uhrzeit schon so quietschfidel ist. „Wieso bist du schon wach?“, frage ich während einer seiner Atempausen und nach einem Blick auf die Uhr. Es ist halb 10. „Ich konnte einfach nicht mehr pennen. Ich freue mich so“, sagt Jeff. Wieso hat er keinen Ausschalter? Als hätte er mich gehört, legt er plötzlich seinen blonden Haarschopf auf meiner Schulter ab und schweigt. Ich schließe müde meine Augen. „Gegen 16 Uhr kommen die Schnapsleichen zu Kaffee und Kuchen. Oh oh oh… Robin, der Kuchen sieht einfach nur klasse aus. Ein Traum. Danke. Danke. Danke.“, schwärmt Jeff, schlingt mir seine Arme um den Hals. Er meint es ehrlich, drückt mich fest an sich und ich kann fast spüren, wie sich die gute Laune meines Kindheitsfreundes in meinem Schädel hämmert. Ich bekomme Kopfschmerzen. „Ja. Ja. Schon gut.“ Ich tätschele seinen Arm und winde mich danach aus der Umklammerung. In der Senkrechten rächt sich mein gestriger Alkoholschnellschuss schon wieder. Bis zum Kleiderschrank brauche ich eine gefühlte Stunde, weil sich die 5 Schritte anfühlen, als würde ich sie dreimal so oft im Kreis vollführen. Ich lehne meine Stirn gegen das kühle Holz der Schranktür und schließe meine Augen. „Oh my Dear. Du verträgst echt nix“, höre ich Jeff sagen. Statt des Versuches, verbal zu kommunizieren, strecke ich ihm meinen gut trainierten Mittelfinger entgegen und klaube mir ein frisches Handtuch aus dem Schrank. Die kalte Dusche ist Pein und Wohltat zugleich. Erst nach 5 Minuten drehe ich den Regler auf eine genießbare Temperatur und habe nach einer Weile das Gefühl, dass das Wasser meine Kopfschmerzen und auch meine Gedanken davonschwemmt. Diesen Zustand hätte ich gern länger. Immer wäre am besten. Als sich das Wasserrauschen legt, beginnt es wieder in meinem Kopf. Abtrocknen und Anziehen erledige ich wie in Trance. Ich schließe meine Augen und sehe Kain bei der Rothaarigen. Wie seine Hand über den schmalen Rücken streicht und wie sich ihre Lippen auf seine legen. Ich habe den Geschmack seiner Haut im Sinn und empfinde keine brodelnde Wut, sondern zentnerschwere Ernüchterung. Wieso lässt es mich nicht kalt? Wieso überrascht es mich? Es war doch zu erwarten. Nach dem Duschen lasse mich von Jeff zu einem Film überreden, den er als Geschenk bekommen hat. Nur heute. Immerhin hat er Geburtstag. Ich frage nicht nach dem Inhalt des Films. Wenn ich Glück habe, ist es einer mit spannender Handlung und ein paar Toten. Im schlechteren Fall ist es ein Film von Jane Austin samt schnulzigen Liebesszenen und Geschwafel. Mit Kissen und den letzten Resten des Popcorns vom letzten Mal, lassen wir uns auf Jeffs Bett nieder. Bereits in den ersten 2 Minuten des Films verdrehe ich die Augen, während Jeff jokerartig lacht. Wir schauen die filmische Adaption eines Jane Austin Klassikers. Stolz und Vorurteil & Zombies. Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Also betrachte ich es als eine gute Möglichkeit, um noch etwas zu schlafen. Ich döse bereits, als sich in der ersten Hälfte des Films Jeffs Mama Marlis meldet. Aus meiner Einschlafhoffnung wird eine überdrehte Face-Time-Sitzung mit erzieherischen Mahnungen und zu vielen kindlichen Kosenamen, Gratulationen und einer Unmenge an digitalen Küsschen. Ich kriege Zahnschmerzen. Seine Mum ist sehr fürsorglich und liebevoll. Auch mir gegenüber. So war es schon immer. Jeff ist ein Einzelkind. Seine Eltern sind geschieden und sein Vater ging vor etlichen Jahren zurück nach England. Die very britische Macke hat mein lieber Kindheitsfreund dennoch abbekommen. Soweit ich es weiß, haben sie nur noch selten Kontakt zu einander. Was nicht an meinen Freund liegt. Jeff ist Marlis Ein und Alles. Sie erfüllt ihn jeden Wunsch. Nur den einen nicht. Mehr Kontakt zu seinem Vater. Die letzten Minuten des Telefonats sind gedrückt fröhlich, nachdem Jeff anmerkt, dass sein Vater sich noch nicht gemeldet hat. Weitere digitale Küsschen und das Display wird schwarz. Er legt das Handy beiseite und sieht mich an. Sein Lächeln ist nur ein nicht überzeugender Versuch und ich schubse sanft seinen Kopf zur Seite. Väter. Wir sparen uns weitere Kommentare und schalten den Fernseher wieder ein. Für Jeff halte ich die letzte Hälfte des Filmes im wachen Zustand durch. Gegen 15 Uhr beginnt mein Mitbewohner in Panik zu verfallen und beruhigt sich nur, weil er durch Zufall mein Geschenk findet. Ein paar Hopser und ernste mahnende Blicke später, tänzelt er zwischen Teeküche und Zimmer hin und her und bereitet die große Kuchenschlacht vor. Ich folge ihm, als ich sicher bin, dass er keine Hilfe mehr braucht und bin bei der Betrachtung des Kuchens tatsächlich kurz Stolz auf mich. „Hey, Robin…“, grüßt mich Abel und sieht sich in der kleinen Teeküche um. Ich deute Richtung Zimmer, doch da schwebt Jeff bereits mit einem langgezogenen Hi durch den Türrahmen. „Ooh, du riechst aber gut…“, säuselt Abel Jeff ins Ohr und nimmt ihn in den Arm. Seine mattblauen Augen beobachten mich, während er ihm weitere Worte ins Ohr säuselt. Ich mache einen Schritt von den Zweien weg, greife mir einen Becher mit Wasser und ignoriere das übertrieben glückliche Rumgeknutsche der beiden Männer. Ich trinke in winzigen Schlückchen, so, als würde sich der Inhalt meines Bechers sonst in den russischen Namenspedanten mit Prozenten verwandeln, was ich in keiner Weise verkraften könnte. Außerdem möchte ich tunlichst vermeiden, noch mal aufstehen zu müssen, denn das könnte als Interaktionswunsch ausgelegt werden. Auch das will ich vermeiden. Nach und nach trudeln die anderen der prophezeiten Schnapsleichen ein. Ein paar haben sich das Wort Leiche tatsächlich verdient. Nur Kain nicht. Er sieht aus, wie der frische Morgen. Lächelt und scherzt. Ich hasse ihn. Er kommt ohne die Rothaarige. Doch ich merke deutlich, wie sich die Gedanken der Nacht erneut hervortun. Wie sie durch meinen Kopf wabern und meine ohnehin schon schlechte Stimmung weiter kippt. Kain lässt sich mit einem gefüllten Teller neben mir nieder. Er tippt mich mit seinen breiten Schultern an. Aus Mangel an Reaktion meinerseits macht er das Gleiche noch mal mit seinem Knie. Keine Ansprache wegen der Rothaarigen, stattdessen vertilgt er schweigend den halben Teller mit Kuchen. Ich höre ihn leise Brummen. Fast schnurren. Das macht er auch beim Sex öfter. Ich bekomme Gänsehaut und sehe bewusst weg. „Der ist vorzüglich“ „Und warum erzählst du das mir?“, gebe ich unbeeindruckt von mir und sehe weiter zu Jeff, der sich mit einem seiner Steinchenschmuser unterhält, während der weniger intelligente Part der Beziehung daneben steht und versucht, nicht den Faden zu verlieren. „Man dankt doch dem Bäcker für das leckere Mahl, oder?“ Nun reagiere ich doch, sehe Kain kurz an und kann nicht verhindern, dass ich danach weniger neutral zu meinem Zimmergenossen schaue. Jeff hat gequatscht. Niemand sollte es erfahren. Schon gar nicht Kain. „Bleib geschmeidig. Ich weiß es von Abel. Aber sag, Spatz, was muss man tun, um solche Nettigkeiten von dir zu bekommen? Ich stehe auf Kuchen.“ Kain neigt sich dichter zu mir. „Machst du für mich auch mal so was Süßes?“ Ein Flüstern. Mein Puls steigt und auch die unterdrückte Wut kommt wieder nach oben. „Ja, zu deiner Beerdigung und dann auch mit flüssiger Schokoladenfüllung.“ „Autsch, deine Laune ist ja wieder zum Weglaufen.“ „Tu mir den Gefallen und lauf!“ „Nein, ich bin erwachsen genug, um anders mit solchen Dingen umzugehen.“ Kain schlägt die Beine übereinander und stellt den Teller auf seinem Knie ab. „Im Gegensatz zu dir“, hängt er mit ran und streicht sich etwas Schokolade aus dem Mundwinkel. „Lass mich in Frieden, Kain“, murre ich, greife in meine Hosentasche und ziehe die Packung Zigaretten hervor, genauso wie eine der Timeout-Karten. Mein Puls beschleunigt sich weiter. „Und wenn nicht? Verweigerst du mir dann den Sex?“, witzelt er mir verwegen entgegen und grinst. Für ihn ist es nichts weiter als ein Spaß auf meine Kosten. „Fick dich“, sage ich aufgebracht und diesmal so laut, dass es auch die anderen hören. Gleichzeitig drücke ich dem Schwarzhaarigen die Karten gegen die Brust. Kain greift danach und für einen Moment berühren sich unsere Hände. Durch die hektische Bewegung fällt der Teller zu Boden und zerbricht. Jeff macht ein paar Schritte auf uns zu. Ich werfe ihm einen eindeutigen Blick zu und will mich nicht noch mit ihm beschäftigen müssen. Ich greife das Päckchen Zigaretten fester und stehe auf. Ohne auf die anderen zu achten, verlasse ich die Teeküche. Das Blut rast heiß durch meine Adern und sorgt dafür, dass sich meine Glieder seltsam taub anfühlen. Auch mein Kiefer schmerzt und ich merke erst, als ich das Wohnheim durch den Nebeneingang verlasse, dass ich meine Zähne schmerzhaft aufeinander presse. Ach verdammt! Warum regt es mich eigentlich so auf? Kain kann machen, was er will und auch mit wem er es will. Warum um alles in der Welt ist es mir nicht egal? So, wie sonst auch? Ich stecke mir eine Zigarette an, führe sie an meine Lippen und nehme keinen Zug. Der Geschmack in meinem Mund ist bereits bitter. Die Tür öffnet sich mit einem durchdringenden Klicken und ich schaue auf. Kain. Er will wieder reden, äfft es im meinem Kopf. Er hätte Psychiater werden sollen. Reden. Reden. Reden. Bla. Bla. Bla. Er kann mich mal. Unbewusst setze ich mich in Bewegung, um der Situation zu entfliehen. „Robin, warte….“ Kain holt mich schnell ein. Er ist eben nicht Jeff. Der kriegt mich nie. „Was soll das denn? Bist du sauer, wegen dem dämlichen Spruch eben? Okay, entschuldige, ich finde gut, dass du das für Jeff machst.“ „Lass mich in Ruhe!“ Meine Finger zucken erneut zur Hosentasche. Kain hält mich zurück, nachdem ich einfach weiterlaufe. „Komm schon, ich dachte, wir hätten diesen Ignorieren- und Abweisen-Scheiß langsam hinter uns gebracht?“, setzt er fort. Ich bleibe stehen, ziehe die restlichen Karten heraus und werfe sie ihm vor die Füße. Kain stoppt, macht eine hilflos Geste mit seinen Händen und beugt sich runter, um sie wieder auf zu heben. Statt die Chance zu nutzen um abzuhauen, bleibe ich stehen. „Robin, was soll das?“, fragt er ruhig und ordnet die Karten in seinen Händen. Ich weiß einfach nicht, wie ich ihm mein Problem deutlich machen kann, ohne wie ein eifersüchtiger Idiot zu klingen, also schweige ich. „Geht es um das Küssen? Okay, hör zu. Ich gehöre zu der Sorte Menschen, die ab und an mal jemand umarmen oder küssen will. Ich mag das. Ich finde Nähe ganz schön. Aber,…“ Ich unterbreche ihn bevor er sein Aber weiter ausführen kann. „Ja, du bist der Traum einer jeden Prinzessin oder entdeckst du gar dein feminine Seite?“, kommentiere ich bewusst verletzend. Ich weiß mir nicht anders zu helfen, als mit sinnlosen Klischees um mich zu werfen. Keine Meisterleistung. „Verklag mich! Nur weil du dich gegen alles sperrst, muss ich doch nicht verzichten“, knurrt er mir zu. Natürlich nicht, echot es sarkastisch in meinem Kopf. „Natürlich nicht. Für dich ist es immer so schön einfach, weil dir das rothaarige Flittchen und alle anderen hörig die Beine breit machen. Und selbst, wenn es nicht so ist, du nimmst dir ja, was du willst. Dein Leben muss wahrlich ein Elysium sein.“ „Wie bitte? Du hast doch deutlich gemacht, dass du nicht Küssen willst und wenn ich mir das bei jemand anderen suche, wirst du sauer, obwohl du es mir sogar vorgeschlagen hast?“ Aus Kain spricht deutlich die Verständnislosigkeit. „Also kriechst du zurück zu deiner Ex-Freundin für eine feuchtfröhliche Orgie? Erbärmlich.“ „Momentmal Spatz, Merena ist dein Problem?“ „Ja, verdammt und ich bin verfickt noch mal kein Plüschtier, dem du niedliche ornithologische Spitznamen geben kannst“, belle ich ihm entgegen, werde selten so ausfällig und ärgere mich mehr über mich selbst, weil ich nun doch mehr preisgegeben habe, als mir lieb ist. Ich bin eifersüchtig auf die dumme Rothaarige und nun weiß es auch Kain. Grandios. „Es geht nur um sie? „Ja!“ „Bei jeder anderen wäre es dir vollkommen egal?", hakt er nach. „Fick weiterhin mit so vielen, wie du willst und lass mich in Ruhe" Ich bin vor Wut zu blind, um zu erkennen, dass es völliger Quatsch ist, den ich da von mir gebe. Es ist mir nicht egal und es geht nicht nur um sie. „Warte mal! Was denkst du denn, mit wem ich alles ins Bett gehe?“, fragt Kain entgeistert. „Tu doch nicht so, du fühlst dich doch bei der Hälfte der Fachschaft wie zu Hause.“ Gibt es eine Steigerung für fassungslos, Kain beherrscht sie. Der Blick, den er mir entgegen bringt, matert selbst mich. „Glaubst du das wirklich?“, fragt er hinterher. Ich schweige, spüre langsam, wie die extreme Wut der Einsicht Platz macht. Es ist zu spät für rationales Handeln. Kain ist sauer. Ich sehe es deutlich. „Was, Robin, was ist eigentlich dein Problem? Du bist derjenige, der förmlich nach Zuneigung schreit und stößt doch jeden von dir, der dir auch nur zu nahe kommt. Also, was? Was willst du eigentlich? Ernsthaft, du bist manchmal anstrengender, als es Merena je war.“ „Fick dich!“, entfährt es mir aufgeregt. Ein direkter Vergleich mit ihr? Er will mich doch verarschen. Meine Wut nimmt wieder Oberhand. „Wie originell“, gibt er mir Retour. Ich knurre ihm ein weiteres unschönes Schimpfwort an den Kopf. Der Versuch, mich von dem Schwarzhaarigen zu entfernen, verhindert er gekonnt. Kain greift nach meinem Oberarm, hält mich fest und damit bei sich. „Lass mich eines klarstellen. Ich schlafe nicht mit ihr und mit niemand anderen!“ Der Griff um meinen Arm wird etwas fester. „Lügner!“, entgegne ich diesmal. Die Verärgerung in seinem Blick wird zur Enttäuschung. Damit drückt er mir die Karten in die Hand. Diesmal löse ich mich mit Leichtigkeit aus seinem Griff und trete die Flucht an. Erst nach ein paar hundert Metern halte ich inne. Ich ziehe mir eine Zigarette aus der Tasche, zünde sie an und verspüre das dringende Bedürfnis, meinen Kopf gegen eine Wand zu befördern. Mein Verhalten war irrational. Es war dumm. Und obwohl ich es niemals laut aussprechen würde, muss ich Kain rechtgeben. Ich sperre mich gegen Alles und Jeden. Ich tue Kain Unrecht. Ich werfe ihm Dinge vor, zu denen ich nicht das Recht habe. Es gibt keine Verbindlichkeit. So haben wir uns geeinigt. Wieso verlange ich sie jetzt von ihm? Tu ich es denn? Wieso mache ich es? Ich kriege Kopfschmerzen. Blind laufe ich weiter, bis ich an einer vertrauten Ecke erneut Halt mache. Noch immer brennt Licht in dem kleinen Café. An der Tür bleibe ich kurz stehen und sehe hinein. Keine Menschenseelen sind zu erkennen. Nur die zarte Italienerin, die gelangweilt ein paar Verpackungsmaterialien sortiert. Wie immer trägt Luci ihre Haare zu einem dichten Zopf zusammengebunden. Mittlerweile reicht er ihr fast bis zum Knoten ihrer Schürze. Sie reagiert nicht auf das leise Klingeln, welches die Tür beim Öffnen erzeugt. Auch nicht auf meine Schritte. „Hey, Eisprinzessin! Was muss ich machen, um einen Burggraben voll mit deinem preisgekrönten Eis zu bekommen?“, begrüße ich die italienische Schönheit und lehne mich auf den Verkaufstresen. So, wie ich es immer mache. Luci lächelt, greift sich eines der Probierstäbchen und taucht es in einen der Metallkasten, bevor sie zu mir an den Tresen kommt. „Ein ganzer Burggraben gleich?“, fragt sie skeptisch und reicht mir das Stäbchen mit einer sanft grünen Farbe. „Ich gestehe. Ich träume heimlich davon, einmal in einem See aus Speiseeis zu schwimmen“, beantworte ich die Frage nach meiner maßlosen Bestellung und setze noch eine weitere Zügellosigkeit dazu. Luci kichert und verdreht ihre schönen Augen. Ich schnuppere, bevor ich mit der Zungenspitze über die kalte Milchspeise gleite. Waldmeister. Ich bin entzückt. „Welche Geschmacksrichtung möchtest du für dein eiskaltes Badeerlebnis haben?“ Luci lässt ein weiteres Stäbchen durch eine quietschpinke Sorte wandern, während ich die Reste des Waldmeistereises vertilge. Sie reicht es mir. „Etwas Fruchtiges. Vielleicht Himbeersorbet oder Schlumpf…Ich steh auf den Geschmack von Farbstoffen“, fantasiere ich, während ich die andere Probe teste. Frucht und viel Säure. Es ist gut. Erfrischend und anders. Ich kann nicht identifizieren, was es ist. „Blaues Schlumpfeis? Das ist zu plakativ“, schmettert sie meinen Vorschlag ab und lehnt sich zu mir auf den Tresen. Luci lächelt. Sie riecht nach Sommer. Nach frischem Gras und Wärme. Es lässt mich lächeln. „Ja, du hast Recht. Dann lieber Nougat und Schokolade“ Die Italienerin verzieht das Gesicht bei dieser Vorstellung. Ich grinse nur und lecke die Eisreste vom Holz ab. Ihre grünen Augen sehen mich aufmerksam an, suchen nach dem erhellenden Augenblick, bei dem ich mir sicher bin, dass er heute ausbleibt. Ich weiß nicht, wonach das pinke Zeug schmeckt. „Klär mich auf!“, fordere ich und halte ihr das leere Stäbchen hin. „Keine Idee?“ „Nicht wirklich. Barbiegeschmack?“ „Barbiegeschmack? Du warst schon mal kreativer, Eisnarr.“ Die Umformung meines sonstigen Spitznamens trifft mich hart, aber statt wie üblich eine passende Erwiderung zu finden, lächele ich nur. Mir ist nicht nach weiteren Streitereien und Diskussionen, auch wenn man im Fall von Luci gar nicht davon sprechen kann. Es sind nur lieb gemeinte Schlagabtäusche und Witzeleien, die mich sonst eher positiv stimmen. „Drachenfrucht“, erklärt Luci, nachdem auch sie merkt, dass keine spitzbübische Erwiderung von mir kommt. „Sind das nicht diese seltsam aussehenden Eierfrüchte mit weißen Fruchtfleisch?“, erkundige ich mich irritiert, weil das krasse Pink für mich nicht zum Obst passt. „Und kleinen schwarzen Kernen. Ja, genau die.“, ergänzt sie und deutet auf eine Schale voller Früchte. Auch eine Drachenfrucht ist dabei. Nun erklärt sich mir auch die wenig attraktive Farbe. Sie ist Pink. „Was ist los mit dir?“, fragt Luci nach einem Moment und beobachtet meine Reaktionen aufmerksam. „Nichts. Was soll los sein?“ Das Klischee einer ausweichenden Antwort. Meine Kreativität hat wirklich enorm gelitten. Die schöne Italienerin glaubt mir kein Wort und hält damit auch nicht hinterm Berg. „Dieses Nichts also. Möchtest du darüber reden?“ „Luci, chiudiamo tra 5 minuti“, ertönt es aus dem Küchenbereich und erspart mir eine weitere ausweichende Ausrede. Es folgen weitere Aufforderungen, wie Fegen und Wischen. Luci spart sich jegliche Übersetzung. Sie muss sie mir auch nicht geben, da ich schon öfter dieses ladenschließende Prozedere miterlebt habe. „Ricevuto!“, antwortet Luci und verdreht demonstrativ die Augen. Danach lächelt sie mir zu. Sie greift nach einem der Pappbecher, füllt mir diesen komplett mit Eis und schiebt mich übertrieben meckernd aus dem Laden heraus. Ich lasse es willig geschehen und mache mich draußen über die schmackhafte Süßigkeit her. Wie beim letzten Mal setze ich mich auf die gemauerte Baumscheibe, schlage die Beine übereinander und lehne mich zurück. Die sahnige Masse schmilzt auf meiner Zunge und der Geschmack von Vanille und salzigem Karamell breitet sich in meinem Mund aus. Ich atme zum ersten Mal an diesem Tag wirklich durch. Ein neues Eis, aber ein vertrautes Gefühl. Ich denke an Kain und seinen vertrauten Geschmack. Das Chaos in meinem Inneren gefällt mir nicht. Ich möchte diese Gefühle nicht. Es soll wieder genauso sein, wie es vorher war. Ich will meine ignorante Blase der Einsamkeit zurück. Jeff soll nicht mehr schwul sein und ich nicht mehr darüber nachdenken müssen. Ich rede mir ein, dass es dadurch besser wird und merke selbst, wie lächerlich es ist. Der Becher ist leer, bevor es Luci endlich aus dem Laden schafft. Ihr Vater ist noch nicht zu sehen. Im Halbdunkel erkenne ich, wie ihre schlanke Silhouette auf mich zukommt. Sie trägt eine sommerliche weite Bluse und enge graue Jeans. Darüber eine senfgelbe Jacke mit groben Strickmuster. Als sie sich setzt, fallen ihre offenen Haare sanft über ihre Schultern. „Schon leer?“ Die Frage ist nur rhetorisch, denn die Leere in dem Becher ist unübersehbar. „Wie läuft es in der Schule?“, erfrage ich. Meine Stimmung ist noch gedrückter als vorher. Ich versuche es zu überspielen. „Muss“, antwortet sie knapp, streicht sich eine Falte ihrer Bluse glatt und sieht mich eindringlich an. „Deinen Sieg ordentlich gefeiert?“, komme ich ihr zuvor. „Ausgiebig, mit einer Unmenge chinesischem Essen und Robbie Bubble.“ Bei der Erwähnung des Kindersektes fange ich unvermittelt an zu lachen. Lucis Gesichtsausdruck wandelt sich von empört zu beschämt amüsiert. „Ach sei still.“ „Das ist hart. Dein Vater glaubt wohl, dass du nicht älter wirst, wenn er es nicht zulässt.“ „Hoffen kann er das ja.“ Die hübsche junge Frau grinst trotzig, verschränkt die Arme vor der Brust und zieht dabei ihre Strickjacke dicht um ihren schlanken Körper. „Er geht mir manchmal ganz schön auf den Keks“, sagt sie ehrlich und sieht kurz zum Laden hinüber. Noch immer ist das kühle Licht der Küche zu erkennen und ich höre, wie sie leise seufzt. „Das ist sein Job. Du bist sein kleines Mädchen. Sein geliebter Augenstern…“, gebe ich neckend von mir, bis Luci mein Gequatsche mit einem Stoß gegen die Schulter beendet. Sie trifft genau die Stelle, die letztens erst Shari malträtiert hat. Ich reibe mir den schmerzenden Punkt und spiele danach mit dem leergegessenen Pappbecher herum. „Was ist los?“, fragt sie nach einem Moment schweigen. Ihre grünen Augen mustern mich gründlich. Seit wann bin ich so einfach zu durchschauen? Ich zerdrücke den feuchten Rand des Eisbechers. So weit kommt es noch, dass ich mein Gefühlschaos mit einer 16-jährigen teile. „Nichts weiter. Ich wünschte die Dramödie meines Lebens würde sich auch in einer Eisdiele abspielen. Wäre unterhaltsamer“, gebe ich theatralisch von mir und falte den Eisbecher wieder auseinander. „Das glaubst auch nur du!“ „Und ob, schließlich arbeitest du lieber im Café, als deine Ferien zu genießen. Hast du keine quietschenden Freundinnen mehr?“ „Doch, aber die hängen nur noch mit ihren Kerlen ab und darauf habe ich keine Lust. Außerdem haben die Ferien noch nicht begonnen, du Joghurteisesser“ Eine Strähne verschwindet hinter ihrem Ohr und fällt zurück, als sie ihre Hände wieder in den Schoß legt. „Gut, deine Freizeit und ich verstehen dich. Verliebte Menschen sind ekelhaft“, sage ich und sehe dabei zu, wie Luci leise kichernd meinem Blick ausweicht. „Ich gönne es ihnen ja, aber ich würde ihnen zu gern mal zeigen, wie dämlich sie sich verhalten.“ „Brauchst du dafür noch einen Freund? Ich mime einen guten Badboy“, frage ich scherzhaft. Sie reagiert nicht, wie ich es erwartet habe. Kein frecher Spruch. Kein Augenrollen. Ihre Hand streicht über ihren nackten Arm, so, als könnte diese einfache Geste das unangenehme Gefühl davonwischen. „Das ist nicht witzig, Robin“, sagt sie nach kurzem Zögern und dreht ihr Gesicht weg. Ich brauche einen Moment, um diese Reaktion zu verstehen und merke, wie sich meine Hände mit einem Mal eiskalt anfühlen. „Oh Luci, nicht doch...", entflieht es mir im ersten Moment des Verstehens wenig einfühlsam. Meine Feinfühligkeit ist die eines Eisbergs in Titanicnähe. „Sei einfach still...", blockt sie mich ab. Ich schlucke schwer und halte mich nur kurz an ihre Aufforderung. „Ich kann dir tausend Gründe nennen, die eindeutig gegen mich sprechen.“ „Ich nenne dir tausend und einen“, wehrt sie mich erneut angreifend ab. „Ich bin zu alt.“ Ein weiterer Versuch. „Du meinst, ich zu jung.“ Treffer. Ich schlucke ertappt. „Du hast jemand besseren verdient“, sage ich platt, aber aus tiefsten Herzen. „Ich weiß“, entflieht ihr mit gedrückter Stimme und dem Hauch eines absurden Kicherns. Ein kurzer Blick und eine Träne, die sie von ihrer Wange streicht. Ich ziehe sie an der Schulter zu mir heran. Mehr brüderlich tröstend, als Hoffnungen weckend. Sie gluckst, bettet ihren Kopf für diesen Moment in meine Halsbeuge und weiß selbst, dass ihre Gefühle für mich nur Ausdruck jugendlichen Wahnsinns sind. Ich spüre eine Beklemmung gigantischen Ausmaßes und frage mich, wieso gerade heute alles so elendig schiefgeht. Bevor sie sich von mir löst, flüstere ich ein Sorry, drücke meine Lippen auf ihr weiches, wohlduftendes Haar und sehe dabei zu, wie sie sich eine letzte Träne aus den Augenwinkeln tilgt. „Ich erwarte, dass du nach deinen Klausuren wieder öfter da bist. Wir haben beträchtliche finanzielle Einbußen durch deine Eisabstinenz.“ „Der Sommer hat doch erst begonnen. Es wartet also noch viel Eishunger auf euch. Ich bin danach aber erstmal in der Heimat.“ „Gut, dann danach!“ „Versprochen!“ „Ich sollte los!“ Ihre warmen Finger berühren meine Hand und verschwindet mit einem einfachen Winken zurück in den Laden. Ich bleibe sitzen, spüre deutlich, wie sich meine Brust zusammenzieht und schließe meine Augen. Erst, als es dunkel wird, setze ich mich wieder in Bewegung, wandere noch eine Weile durch die Stadt und steige danach in die U-Bahn zurück zum Campus. Ich fühle mich ruhelos. Von draußen verschwinde ich direkt in die Waschräume. Zähneputzen und Katzenwäsche. Unser Zimmer ist dunkel und obwohl es mich nicht überrascht, verspüre ich eine seltsame Unzufriedenheit. Ein Zettel auf meinem Schreibtisch, teilt mir mit, dass Jeff und Abel diese Nacht in einem Hotel verbringen. Allein an der ausschweifenden und schwungvollen Handschrift kann ich erkennen, wie sehr er sich freut. Happy Birthday, Jeff, echot es in meinem Kopf und ich lasse mich mit einer seltsamen Stimmung ins Bett fallen. Schlafen kann ich jedoch nicht. Nach eine halbe Stunde apathischem Rumliegens ziehe ich meine Schlafklamotten an und wälze mich weitere Stunden umher, bis ich aufstehe und meinen PC anmache. Ich schreibe einfach drauf los. Zusammenhangslos. Teilweise nur Wörter. Halbe Sätze. Selbst, als ich auf die Shift-Lock-Taste komme, ignoriere ich die permanenten Großbuchstaben, die mit einem Mal den gesamten Bildschirm füllen und schreibe weiter. Nach drei Seiten Gefühlsausbruch halte ich innen. Ich sehe zu der kleinen Häkelpuppe, die mir skeptisch fixiert. Danach hole ich von meinen Gefühlen überfordert mein Portmonee aus der Hosentasche und ziehe das zerknitterte Bild hinter meinem Personalausweis hervor. René sieht mir mit ebensolchen blau-grünen Augen entgegen, wie meine eigenen. Er fehlt mir. Sehr. Auch nach all den Jahren noch. Mit ihm wäre vieles anders gelaufen. Deutlich anders. Ob er Kain gemocht hätte? Hätte Kain ihn gemocht? Der Gedanke daran versetzt mir einen Stich. Ruckartig stehe ich auf, laufe ein paar Mal zwischen Bett und Kleiderschrank hin und her. Unschlüssig und mit mir selbst uneins. So sehr ich mich auch dagegen wehre, aber ich mag das, was Kain und ich haben. Es ist ungezwungen und der Sex mit ihm befriedigt mich derartig, dass allein das 100 Pluspunkte auf der Spring-über-deinen-Schatten-Liste bringt. Ein letztes Mal wandere ich zwischen Bett und Kleiderschrank umher, ziehe mir auf halben weg Hose und Pullover über und nehme beim Verlassen des Zimmers noch die Reste von Jeffs Geburtstagskuchen mit. Es ist mitten in der Nacht, als ich vor Kain und Abels Zimmertür stehen bleibe. Ich klopfe. Zweimal. Es dauert eine Weile, bis Kain die Tür öffnet. Er hat bereits geschlafen. Trägt nur eine dünne Stoffhose und sieht mir mit einem wachen Auge entgegen. Im ersten Augenblick überrascht, dann strafft sich sein müder Körper und er lehnt sich in den Türrahmen. Er gibt keinen Ton von sich, sondern sieht mich einfach nur an. „Darf ich kurz reinkommen?“, frage ich, lasse meinen Blick über seinen nackten Oberkörper wandern und senke ihn auf seine ebenso baren Füße. „Besser nicht. In meinem Bett liegt gerade ein Teil der Fachschaft", sagt er schnippisch und verschränkt seine Arme. Ich habe es nicht anders verdient. Seine Brustmuskeln spannen sich an und ich spüre bereits jetzt, wie sehr ich auf seine bloße Anwesenheit reagiere. „Was ist das?“ Kain sieht er auf den Teller in meiner Hand. „Der Rest von Jeffs Geburtstagskuchen“, antworte ich wahrheitsgemäß, blicke kurz auf die Schokoleiche. Appetitlich ist anders. „Ich glaube kaum, dass es Jeff gefällt, wenn du ihm sein Geburtstagskuchen klaust.“ „Ich tue ihm damit einen Gefallen“, entgegne ich. Kains Augenbraue wandert nach oben. „Genaugenommen tue ich dir, Abel, mir und alle anderen armen Seelen, denen Jeff nach dem Verzehr vorjammern wird, dass er fett wird, einen Gefallen. Glaube mir, das Drama erlebe ich jetzt seit mehreren Jahren.“ Kain steigt nicht auf meinen Scherz ein, auch wenn seine Mundwinkel für einen winzigen Moment nach oben zucken. Wir bleiben schweigend voreinander stehen. Ich sehe nach rechts und links. Im Flur ist es leer und dunkel. „Darf ich nun reinkommen?“, lasse ich meine vorige Frage aufleben. Kain macht einen Schritt zur Seite und mir damit Platz. Das Zimmer der beiden höheren Semestler hat einen ähnlichen Aufbau, wie Jeff und meines. Nur spiegelverkehrt. Zudem herrscht das blanke Chaos. Überall liegen und hängen Klamotten. Ausdrücke von Seminaren und Bücher verteilen sich gleichmäßig auf das gesamte Zimmer. Nichts scheint einen wirklichen Platz zu haben. Ich werde Jeff nie wieder den Vorwurf machen, dass er unordentlichen ist. Einzig Kains Schreibtisch ist übersichtlich. Ein weiteres Mal checke ich den Raum ab, bevor ich einschätze, dass ich nicht weiter darüber nachdenken sollte. Immerhin liegen nirgendwo Essensreste. Hinter mir höre ich seine Bewegungen. Die Tür, wie sie sich schließt und wie Kain ein weiteres Licht anknipst. Ich drehe mich zu ihm um, halte noch immer den Teller mit den Kuchenresten in meinen Händen, während er sich schweigend gegen den Kleiderschrank lehnt. Entschuldigungen liegen mir nicht. Ich bin nicht gut in sowas. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Weiß keinen Anfang. Kain nimmt es mir ab. „Ich küsse gern..." setzt er an. „Du wiederholst dich...", quatsche ich dazwischen. „Mund halten!“, unterbricht er mich energisch und stößt sich vom Schrank ab. Er kommt auf mich zu und ich weiche etwas zurück. „Ich hatte einfach das Bedürfnis nach Nähe. Menschlichen Kontakt und Wärme. Und ja, du hattest Recht, mit Merena habe ich es mir leicht gemacht. Unteranderen, weil ich nicht will, dass du dich andauernd genervt fühlst.“ „Aus Rücksicht?“, spotte ich. Er deutet mir erneut an, dass ich meine Klappe halten soll. Ich gehorche ausnahmsweise. „Ich bin vielleicht manchmal etwas großspurig, gewiss anstrengend und auch zu ehrlich, aber eines bin ich definitiv nicht. Ein Lügner.“ Unwillkürlich weiche ich beschämt seinem Blick aus und starre auf den Haufen Kalorien in meinen Händen. Ich umgreife den Rand des Tellers fester. Kain zieht die Karte mit der 5 hervor. Die, die ich ihm in der Teeküche gegen die Brust gedrückt habe. Daran habe ich nicht mehr gedacht. „Ich will eine Erklärung. Eine Ehrliche.“ „Ich kann sie nicht leiden.“ „Das weiß ich bereits. Das zählt nicht.“ „Ich befürworte nicht, dass du dich mit jemanden wie ihr abgibst“, formuliere ich meine Aussage einfach nur um, ohne ihr eine bessere Erklärung hinzuzufügen. „Ehrlicher“, fordert er und deutet mir an, dass ich ihn ansehen soll. Diesmal muss er mich nicht zwingen. Es widerstrebt mir. Jede Faser meines Körpers ist angespannt. Die Keramik des Tellers ist mittlerweile warm. Ich hadere mit der ehrlichen Antwort und weiß auch, dass ich nicht drum herum komme. „Ich will nicht, dass du sie küsst.“ Und dass er sich mit ihr trifft, nett zu ihr ist und dass er sie fickt. Doch das denke ich nur. Es ist zu einfach. Keine wirkliche Erklärung und schon gar keine Entschuldigung für mein mehr als eigenartiges Verhalten. Kain nimmt mir den Teller mit dem Kuchen aus der Hand, schiebt ihn unachtsam auf den Schreibtisch und unterbricht nicht für eine Sekunde den Augenkontakt. „Ich schlafe nicht mit ihr.“ „Ist mir egal“, antworte ich wieder ein kleinwenig zu schnell. Zu offensichtlich. Kain fasst mir an die Schulter und beugt sich dicht zu mir runter. „So siehst du aus“, sagt er durchschauend, „Mir war gar nicht bewusst, wie eifersüchtig Steine werden können.“ Ein neckisches Flüstern, während sich seine Hand von meiner Schulter zu meinem Hals schiebt. Bevor ich auch nur die Chance habe, meinen Unwillen gegen seine Aussage zu erklären, verschließen seine Lippen meine. Im ersten Moment ist der Kuss fordernd. Deutlich und ein kleinwenig neckend. Er soll mich Besänftigen und schafft es ohne große Mühen. Kains warme Hand an meinem Hals. Der vertraute Geschmack seiner Lippen und die immer sanfter werdende Berührung. Das Alles hüllt mich in eine seltsame Zufriedenheit. Einer Ruhe, die ich selten spüre und die ich mit jedem Mal mehr genieße. Zugleich erfasst mich dieses beruhigende Gefühl, dass sich Kain, trotz meines irrationalen Ausbruchs, nicht von mir abwendet. Wie kann ein Mensch nur so nachsichtig sein? „Gut, oder?“, flüstert Kain, als er den Kuss löst. Er leckt sich selbst demonstrativ über die Lippen, so, als würde das bereits seine Frage beantworten. Ich schnaufe verächtlich und bleibe ihm eine Antwort schuldig. Kain braucht sie nicht. „Ich werde aus dir nicht schlau", entgegne ich leise und wende meinen Blick ab. „Du bist auch nicht gerade ein offenes Buch.“ „Ich meine es ernst.“ „Frag mich einfach", schlägt er vor. Ich schweige, obwohl sich tausende Fragen in meinem Kopf formulieren. Sie bilden eine unendliche Kette, an der mir bald der Anfang verloren geht. Nur eine Frage bleibt deutlich zu erkennen. Wieso ich? Ich stelle sie nicht, weil ich seine Antwort darauf bereits kenne. Kain gab sie mir schon vor ein paar Wochen, doch ich glaube sie nicht. Daran wird auch eine Wiederholung nichts ändern. Es gibt genügend andere. Attraktivere. Angenehmere. Und wieder hallt die Frage nach dem Warum durch meinen Kopf. Ich verstehe es einfach nicht. „Vielleicht darf auch ich dich irgendwann besser verstehen.“ Kain streckt seine Hand nach mir aus, streichelt mit den Fingerspitzen über meinen Kiefer, meine Wange und lässt sie wieder sinken. Mit einem Lächeln wendet er sich ab und macht einen Schritt auf den Schreibtisch zu. „Okay, jetzt sag mir, was du gegens Küssen hast? Du machst das eigentlich echt gut", fragt er mich ruhig und zieht eine Ecke der Frischhaltefolie vom Teller des Kuchens. „Eigentlich? Und ich habe nichts gegens Küssen ", antworte ich wahrheitsgemäß, aber nicht vollständig. „Was ist es dann?", fragt Kain, lässt seinen Finger durch die Schokoganache wandern und nimmt ihn in den Mund. Er saugt sich die Schokolade von der Haut und verursacht dabei ein leises schmatzendes Geräusch. Ich schließe zum anderen Mann auf, bleibe neben ihm stehen und entferne die Folie vorständig vom Kuchen. „Es ist sehr intim für mich“, erkläre ich zögernd und klaube mir selbst eine Himbeere mit Teigresten vom Teller. Ich mag die Säure auf meiner Zunge, die hin und wieder durch Süße unterbrochen wird. Kain sieht mich überrascht an und streicht sich Creme aus den Mundwinkeln. Ich warte nur darauf, einen ins Lächerliche ziehenden Kommentar von ihm zu hören, doch dieser bleibt aus. Stattdessen bricht Kain ein weiteres Stück des Kuchens ab, lässt ihn sich schmecken und macht den Anschein, als würde er tatsächlich darüber nachdenken. „Intim“, wiederholt er, „Wir schlafen miteinander", stellt er mit einem Lächeln auf den Lippen fest und lehnt sich mit dem Rücken zum Schreibtisch. Sex. Für die meisten ist das der Inbegriff für Intimität. Für mich nicht. Ich hatte oft genug welchen, ohne auch nur das Geringste dabei zu empfinden, außer dem, was ich bezweckte. Körperliche Befriedigung. Ich kann es nicht erklären, stecke mir ebenfalls ein Stückchen Kuchen in den Mund, um nicht antworten zu müssen. Ohne Appetit kaue ich mühsam darauf herum. „Intimer als Sex?", fragt er weiter. Ich nicke nur, verspüre plötzlich das dringende Bedürfnis, zurück in mein eigenes Wohnheimzimmer zu verschwinden und mir die Decke über den Kopf zu ziehen. Kain neigt sich zu mir. „Der Gedanke gefällt mir“, flüstert er mir zu, verhindert meinen erdachten Fluchtversuch, indem er mir den Arm vor die Brust legt und mich an der Schulter dichter an sich heran neigt. Seine Lippen legen sich auf meine. Sanft und ruhig. Kains Augen sind geschlossen, während er zärtlich an meiner Unterlippe nippt. Danach die Obere liebkost und meinen Mund vollends verschließt. Auch ich schließe meine Augen, genieße das feine Prickeln, welches sich auf meine Haut bildet. Neckend sucht seine Zunge meine. Stupst. Verlangt. Der Geschmack der Schokolade weicht mit jeder weiteren Berührung einer anderen Süße. Einer intensiveren. Wie macht er das nur? Ein elektrisierendes Kitzeln in meinem Bauch. Es wandert tiefer. Kain zieht mir den Pullover über den Kopf, blickt auf das Schlafshirt, dass ich noch darunter trage und auf seine Lippen legt sich dieses feine Schmunzeln, so, als würde er in diesem Moment genau verstehen, was mich hier her getrieben hat. Die Schlaflosigkeit, resultierend aus schlechten Gewissen und der inneren Unruhe, die mir mein Gegenüber verursacht. Ein kurzer Kuss und auch mein Shirt fällt. Seine warmen Hände streichen sich über die freigelegten Partien meines Körpers. Ich fühle die rauen, beanspruchten Stellen seiner Haut und spüre das Verlangen, ihn ebenfalls zu berühren, immer stärker werden. Auch der Rest meiner Kleidung verschwindet zwischen intensiven Küssen und mein Gehirn schaltet nun endgültig auf Verlangen um. Ich greife nach dem einzigen Stück Stoff das Kain an seinem Körper trägt, weiche weiteren Lippenkontakte aus und drücke ihn in die Richtung seines Bettes. Ein Stapel Bücher kippt, als Kain mit dem Hacken dagegen stößt. Einige Ausdrucke erhalten einen knittrigen Abdruck meines linken Fußes. Ich drücke ihn aufs Bett. Der Schwarzhaarige lässt es geschehen, sieht dabei zu, wie ich die Stoffhose langsam von seinem Körper ziehe. Ich kann mir einen eindeutigen Blick auf seine harte Erregung nicht verkneifen, als ich mich über ihn begebe. Kain packt mich am Hals. Kurz vor meinen Lippen stoppt er, lässt stattdessen seine Zungenspitze nach vorn gleiten. Sie trifft meine Oberlippe und schickt einen erregenden Schauer durch meinen Leib. Ein Keuchen entflieht meinen Lippen, welche Kain durch einen Kuss dämpft. Er genießt es. War es doch das, was ihm eindeutig die letzten Mal gefehlt hat. Die Küsse sind intensiv. Wechseln zwischen liebevollen Necken und leidenschaftlichen Drängen hin und her. Ich gebe mich seinem Tempo hin, nehme jede Berührung unserer Lippen als Einladung, aber nicht als Vorgabe. Auch ich verlange und locke. Als ich mich aufrichte, spüre ich mit Genugtuung, wie er mir augenblicklich folgt. Wie er meine Lippen sucht und meinen Körper umfängt. Unaufhörlich bewegen sich seine Hände über meine Haut, in meinen Nacken und zu meinem Hintern. Die Hitze zwischen uns wird unerträglich. Ich brauche mehr. Genießerisch wandern meine Fingerspitzen über die definierten Muskeln seines Brustkorbs, zeichnen sich über seinen Bauch und finden zielstrebig den Ort, der uns beiden Befriedigung bieten kann. Kains Spitze ist feucht, als ich meinen Daumen darüber gleiten lasse. Er keucht und unterbricht den Kuss für wenige Millisekunden. Damit gebe ich mich nicht zufrieden, sondern umfasse ihn vollständig. Noch sind seine Augen geschlossen. Ich mache eine pumpende Bewegung über seine gesamte Länge. Kontrolliert und wohlwissend. Mit einer Tendenz nach links für mehr Reibung an der Spitze. Das nächste Keuchen ist tiefer. Wohliger. Ich wiederhole es und blicke in verhangenes Braun. Kains Hände stoppen an meiner Hüfte. Sein Daumen bewegt sich über meinen Beckenknochen und ehe ich mich versehe, drückt er mich mit dem Rücken ins Laken. Ich keuche erschrocken auf, als sich sein Bein zwischen meine schiebt. Er übt nur sanften Druck aus und doch durchfährt mich ein überschwängliches Kitzeln, als er zusätzlich meine Arme nach oben zwingt. „Du erträgst es nicht, wenn ich oben liege, oder?“, kommentiere ich. Kain grinst. So sehr ich auch den Anschein erwecke, dass es mich stört, so sehr genieße ich insgeheim das Gefühl, dominiert zu werden. Das hat bisher nur er geschafft. Ich mache einen Versuch, unsere Position wieder zu ändern, doch gegen Kains Körperkraft komme ich nicht an. „Nein, ich mag es nur, zu sehen, wie du die Kontrolle verlierst“, erwidert er neckend und mehr als zweideutig. Kain drückt meine Handgelenke fester ins Laken. Seine Lippen kosten sich über meine Brust mit winzig kleinen Küsschen. Federleicht und hauchzart. Sie schaffen genau das, was er will. Ich reagiere heftig. Meine Brustwarzen erhärten sich und meine Lendengegend vibriert. Doch er lässt sich Zeit. Wandert mit seinen Lippen bis zu meinem Bauchnabel, ignoriert dabei meine deutliche Erregung und küsst sich zurück. Bis in die Mitte meines Sternums. Mit geschlossenen Augen verweilt er dort und scheint den heftigen Schlag meines Herzens mit den Lippen zu ertasten. Unwillkürlich beginne ich mich unter ihm zu winden. Ich presse mein Becken nach oben und spüre Kains warmen Körper dadurch noch deutlicher. Keine Spielereien. Er sieht mich an und kommt wieder höher. Ein Kuss und er lässt meinen rechten Arm los, um unterm Bett nach einer Kiste zu greifen. Ungeduldig versuche ich einen Blick zu erhaschen, während er darin herumkram. Doch bevor ich etwas erkennen kann, drückt mich wieder zurück und schüttelt mit dem Kopf. Neugier durchfährt mich, ebenso wie Erregung. Ich kann nicht lange darüber nachdenken. Kain verschließt meinen Mund mit seinem. Es ist ein lieblicher Kuss. Fast unschuldig. Erst, als ich seine warme Hand an meinen Schwanz spüre, merke ich, dass es nichts als Ablenkung ist. Er ist so geschickt darin, mich vorzubereiten, dass ich jedes Mal von der ersten Sekunde an derartig entspannt bin, dass ich alles genieße. Kains Lippen an meinen Brustwarzen. Das feine Saugen und bewusst reizende Knabbern. Er ist ein wahrer Multitasker. Während er mich dehnt, bewegt sich seine Hand streichelnd über meine Härte. Steigert meine Lust, aber schubst mich nicht über die Klippe. Ich gebe mein Bestes, ihm währenddessen ebenfalls etwas Verlangen zubereiten, aber meine Sinne sind so beansprucht, dass ich keinen geeigneten Rhythmus finde. Kain merkt es, drückt sich wieder höher und küsst mich leidenschaftlich. Mein Körper scheint überall zu kribbeln und mein Gehirn schwimmt in Dopamin. „Du heute oben, ja?“, flüstert er fragend. Ich gebe nur ein fahriges Nicken von mir und richte mich mit ihm zusammen auf. Kain setzt sich ans Kopfende und streckt seine Hand nach mir aus. „Umdrehen“, fordert er mich auf und ich zögere. Nur das Schreibtischlicht erhellt den Raum. Durch mein Zögern richtet sich Kain etwas auf. „Ich genieße immer mit geschlossenen Augen, versprochen.“ Er nippt an meinen Lippen und obwohl das Kitzeln in meinem Inneren für einen Moment unangenehm wird, willige ich ein. Ich lasse mich führen, knie mich rücklings über ihn und spüre, wie er seinen Lippen gegen mein Schulterblatt legt, als er in mich eindringt. Er umfasst meinen Bauch mit beiden Armen und schmiegt sich dicht an mich, während wir beide das wohlige Gefühl genießen, die Hitze des jeweils anderen zu spüren. Es ist ein sehr gutes Gefühl. Ein vertrautes. Ich lasse meine Hüfte kreisen, höre sein Stöhnen, das mit jeder intensiven Bewegung tiefer und rauer zu werden scheint. Die Vibrationen, die es verursacht, scheinen zusätzlich in mich einzudringen. Ich brauche mehr. Ich will es heftiger. Kain lehnt sich mit mir zurück und unwillkürlich stelle ich die Füße auf, so dass ich fast über ihm hocke. Überrascht fasse an die Wand und suche dort Halt. Ich komme aus dem Rhythmus, doch das ist genau das, was Kain bezweckt. Er übernimmt die Kontrolle, bewegt sein Becken nach oben und stößt tief. Nun entflieht auch mir ein tiefes Stöhnen. Erst sind seine Stöße kontrolliert, während sich seine Hände über meine Brust arbeiten. Dann werden sie schneller und Kain beginnt mich im selben Takt zu pumpen. Meine Atmung wird immer hemmungsloser. Hektischer. Ich werde lauter. Kain küsst sich über meinen Hals, während er seine Stöße drosselt. Die Intensität nimmt nicht ab. Er neigt mein Gesicht zur Seite und verschließt meine Lippen. Ich weiß nicht mehr, was ich zuerst spüren soll und komme heiß und heftig in Kains Hand. Zu meinem Leidwesen auch überraschend. Ein Kuss, den ich kaum erwidere und Kain hält mich dicht in Position. Nur für einen kurzen Moment zügelt er sich, gibt mir die Chance zu atmen. Das Gefühl ist noch immer so intensiv, dass ich mich nicht auf den anderen Mann konzentrieren kann. Kain kommt leise, atmet gegen meinen Rücken und hinterlässt ein paar Nagelabdrücke an meinem Hüftknochen. Meine Beine zittern und mein Herz rast. In meiner Halsbeuge spüre ich Kains Atmen und seine Lippen. Ich muss dringend meine Beine entlasten. Ich drücke mich mit Hilfe der Wand in eine aufrechte Position und brauche eine Weile, bis ich meine Gliedmaßen sortiert bekomme. Alles kribbelt und ich lehne mich zu Kains Füßen gegen die Wand. Er beobachtet mich und bewegt sich selbst keinen Zentimeter. „Hey, wie kommt es eigentlich, dass du nach dem Sex nie rauchst?“, fragt er. Ich zucke erstmal mit den Schultern, bevor ich eine ebenso unnütze Antwort präsentiere. „Keine Ahnung. Vielleicht, weil ich nicht so süchtig bin, wie alle glaube.“ „Vielleicht solltest du dann einfach aufhören.“ „Du klingst schon wie Jeff und meine Mutter“, kommentiere ich und sehe mich im Zimmer um. Mein Körper ist voller Endorphine und Oxytocin und ich verspüre keinerlei Lust auf eine Zigarette. Nur nach Schlaf und Ruhe. Ich rutsche von der Wand weg, fahre mir durch die Haare und sehe mich nach meinen Klamotten um. Keine leichte Aufgabe. Kain setzt sich auf. Auch ihm sehe ich den plötzlichen Abfall des Adrenalins an, der jeden Kerl nach dem Koitus ereilt. Es ist wie ein kleines befriedigendes Hämmerchen. „Bleib hier. Ich räume für dich mein Bett. Nur das brauch ich.“ Kain greift sich eines der beiden Kissen und steht auf. Er wankt zu Abels Bett und lässt sich einfach fallen. Er schläft sofort. Ohne sich meine Grundsatzrede zum Thema fremde Betten anzuhören. Nur zögerlich lege ich mich ins übriggebliebene Kissen. Es riecht so intensiv nach Kain und Sex, dass ich das Gefühl habe, der Restalkohol in meinem Blut kocht wieder auf. Doch der enorme Abfall des Adrenalins in meinem Leib lässt mich schnell schlafen. Irgendwo im Hintergrund höre ich ein Klingeln. Es ist so leise, dass ich es gekonnt ignoriere. Erst das durchdringende Fluchen lässt mich reagieren. „Fuck. Fuck. Fuck.“ „Wie spät ist es?“, frage ich und sehe dabei zu, wie sich Kain eilig ein paar Klamotten überwirft. „Halb 8 Uhr morgens.“ Noch reagiere ich nicht und verstehe noch weniger, wieso der andere Mann so hektisch hin und her rennt. „Ich schreibe gleich eine Klausur zum Thema Genomsequenzierung.“ „Oh, shit“, entfährt es nun auch mir. „Klausur. Danach Vorbereitung beim Frosch und ich habe keinen Kaffee. Drück mir die Daumen, dass ich nicht einschlafe." Das koffeinhaltige Getränk betont er besonders. „Ich drücke dir die Daumen, dass dir beim Frosch nicht die Ohren bluten.“ Kain grinst und verschwindet aus der Tür. Für einen kurzen Augenblick verspüre ich Mitleid. Der Frosch ist einer unserer gemeinsamen Dozenten. Ein Franzose. Ich kann ihn nicht leiden. Ich bette meinen Kopf zurück ins Kissen. Mein Körper ist herrlich befriedigt, doch trotz des kribbelnden Lebens bin ich hundemüde. Als ich das nächste Mal meine Augen öffne, ist es kurz nach 10 Uhr. Hektisch falle ich aus dem Bett und klaube meine Klamotten zusammen. Hose und Pullover finde ich schnell. Von den anderen Sachen fehlt jede Spur. Wahrscheinlich erkenne ich sie nur mangt des Chaos nicht. Ich entdecke eine Socke neben dem umgeworfenen Stapel Bücher und stutze, als ich einen bekannten Namen auf einen der Buchrücken lese. Eines von meinen. Es bildet sich ein seltsames Gefühl in meiner Brust. Ein Kribbeln aus Ärger und etwas, das ich nicht bestimmen kann. Ich habe es ihm nicht verboten. Ich greife danach und sehe, dass im letzten Drittel etwas zwischen die Seiten geschoben ist. Ich öffne die Stelle und ziehe ein Bild hervor. Eine jüngere Version von Kain hält eine junge Frau mit dunklen Haaren im Arm. Sie ist ein ganzes Stück kleiner als er und lächelt verhalten. Kain lächelt für sie mit. Ich schiebe das Foto wieder zurück. Achte nicht darauf, dass es an der gleichen Stelle steckt und lege das Buch einfach wieder auf dem Boden ab. Auf dem Weg zur Tür zerre ich mir ein paar der Klamotten über. Barfuß steige ich in die Schuhe. Die entgegenkommenden Gesichter sind mir unbekannt und dennoch sehe ich in jedem Einzelnen, dass sie erkennen, dass ich nicht in dieses Wohnheim gehöre. Ein ungewöhnliches Gefühl. Okay, es ist einfach nur peinlich. Im Foyer sehe ich Abel, der mit einem anderen Studenten vor dem Automaten steht. Ich mache auf dem Absatz kehrt und nutze einen der vielen Nebeneingänge. Ich schleiche mich am Haupteingang vorbei und habe das Gefühl, erst wieder richtig zu atmen, als ich zielstrebig auf mein eigenes Wohnheim zu schlürfe. Zu früh gefreut. „Hey…Guten Morgen, Robin.“ Abels Stimme. Ich schalte nicht schnell genug, um ihn zu ignorieren und drehe mich ertappt um. Seine mattblauen Augen mustern mein Outfit und bleiben an meinen sockenlosen Füßen hängen. „Morgen. Schönen Abend gehabt?“, frage ich und ziehe die Aufmerksamkeit wieder von meinen Schuhen weg. „Ja, fantastisch. Toller Zimmerservice und unglaublich guter Wellness-Bereich. Solltest du auch mal probieren“, sagt er und gibt ein übertriebenes Zwinkern von sich. „Schön für euch“, kommentiere ich und versuche tunlichst das Kopfkino zu vermeiden, welche sich jedes Mal einen verstörenden Weg in mein Gehirn sucht. Ich wende mich von ihm ab und bin erleichtert, dass er anscheinend nicht mitbekommen hat, dass ich aus seinem Wohnheim gekommen bin. „Hey, warte kurz. Von dir hat Jeff das Parfüm bekommen, oder?“ Abel greift nach meinem Arm und hält mich fest. Ich ziehe meine Hand zurück. „Und?“ „Es ist ganz schön teuer, oder?“ „Und?“, frage ich ein weiteres Mal und habe das dringende Bedürfnis nach einer Zigarette. Abels Fragerei irritiert mich. Wir reden im Grunde nie mit einander und ich habe auch keine Lust, das zu ändern. „Na ja, wie kannst du dir das leisten?“ „Seit wann interessieren dich meine finanziellen Angelegenheiten?“ Seine Schultern zucken nach oben. „Ich frag nur. Du hast ihm immerhin ein ziemlich teureres Geschenk gemacht.“ „Und?“, frage ich erneut und verstehe den Sinn hinter seiner Frage nicht. Dann war das Geschenk eben teuer. Jeff bekommt nur einmal im Jahr etwas von mir und da darf es auch mal hochpreisiger sein. „Ich frage nur“, wiederholt er, schiebt sich die Hände in die Hosentasche. „Hast du ein Problem damit? Dann spuck es aus!“ Abel nimmt abwehrend die Hände nach oben und schüttelt seinen Kopf. Ich verstehe seine Fragerei noch weniger. Ich habe keine Lust auf Diskussionen und mich interessiert noch weniger Abels seltsame Gedankenwelt. Außerdem wird mir langsam kalt, da ich bei meinem nächtlichen Ausflug nicht an eine Jacke gedacht habe. Ich laufe weiter, ohne eine Reaktion abzuwarten. „Sag mal, kamst du nicht gerade aus unserem Wohnheim?“, fragt er hinterher. Ich zucke minimal zusammen. Nur einen Sekundenbruchteil lang. „Ach, das ist eures?“, frage ich gespielt überrascht, führe es nicht weiter aus und wende mich zum Gehen. Mein Kiefer kribbelt verräterisch. Abel fragt und folgt nicht. Entgegen meiner sonstigen Gewohnheit finde ich mich nach einer Dusche, frischen Klamotten und einer Frühstückszigarette vor dem Coffeeshop mit dem von Jeff, wie auch Kain gutbefundenen Kaffee wieder. Ich ziehe mir einen weiteren Glimmstängel hervor und sehe eine Weile dabei zu, wie immer mehr komplett umnachtete Gestalten in den Laden schleichen. Ich schnipse meinen Zigarettenstummel in die angrenzende Hecke und sehe mich kurz nach Micha um. Man weiß ja nie. Als ich mich zwischen einer Horde Koffein-Zombies hindurchquetsche, um an die Bestelltheke zu kommen, schaut mir ein Haufen müder Augen dabei zu. Ihre leeren Blicke verfolgen mich und ich schlucke ein paar der bissigen Kommentare runter, die sich auf meine Zunge sammeln. Klausurenzeit ist Zombiezeit. Eine genervte Frauenstimme fragt nach meiner Bestellung. „Einen Chai-Latte und einen großen Mokka.“ Unbewusst greife ich nach zwei Tütchen braunem Zucker. Ich stocke, atme tief ein. Ich hasse mich gerade selbst dafür, dass ich es noch weiß. Der regelmäßige Sex besänftigt mich. Das ist nicht gut. Aus Frust gönne ich mir noch einen Blaubeermuffin, den ich mir auf den Weg zum Hauptgebäude genüsslich einverleibe. Schon im Flur nehme ich die akustisch verstärkte Stimme des Redenden wahr. Der französische Akzent. Der Frosch. Ich beginne mich unwillkürlich etwas zu schüttelt. Der Dozent beglückte mich im letzten Semester. Methoden der Biochemie und Molekularbiologie. Untrennbar verbunden mit dem Rest meines Studiengangs. Ich konnte mich trotzdem nie damit anfreunden. Fast widerwillig öffne ich die Tür zum Hörsaal. Ein kurzer Blick über die Hinterköpfe der Studenten und ich entdecke Kain in einer der hinteren Reihen. Zu meinem Glück. Ich beuge mich zu ihm, stelle den Kaffee vor ihm ab und weiße ihn gestisch an, den Mund zu halten. Kain sieht verwirrt zwischen mir und dem Becher hin und her, tippt mit den Fingerspitzen der geschlossenen rechten Hand gegen sein Kinn und schwingt sie nach vorn. Ein gestischer Dank. Er deutet auf den Platz neben sich, doch ich lehne ab. Ich ertrage keine weitere Vorlesung zu diesem Thema. Ich will mich wieder zurückziehen und obwohl ich alles Menschenmögliche versuche, um keine Geräusche zu machen, bemerkt mich der Dozent dennoch. „Monsieur Quinn.“ Der gut gekleidete Franzose verschränkt seine Arme vor der Brust und ich spüre, deutlich, wie sich meine Schultern straffen. „Leider muss isch Ihnen mitteilen, dass sie etwas schpät dran sind, um meinen Kurs zu wiederholn. Das Semester ist nun mehr fini.“ Der französische Akzent verursacht mir Gänsehaut. Auch der Rest des Hörsaals dreht sich um. Prima. Für einen Moment beißt sich Kain auf die Unterlippe, während ich von ihm zum Dozenten und wieder zurück schaue. „Du hast echt überall Freunde, oder?“, flüstert mir Kain zu und nimmt einen Schluck vom Kaffee. „Ach halt die Klappe“, murre ich zurück. „Sie dürfen natürlisch gern, wenn Ihnen langweilisch ist, erneut an der Klausur teilnehmen und misch verblüffn“, kommentiert er weiter und ich sehe deutlich das feine Funkeln in seinen Augen. „Nein, vielen Dank, denn ich durchforste noch immer die Lehrbücher, um Ihre kryptische Ansicht über die Methoden für die biophysikalische Charakterisierung von natürlichen und künstlichen extrazellulären Matrices zu verstehen.“ Wir sind uns nicht grün. Schon damals in seinen Vorlesungen haben wir uns gern hitzige Diskussionen über die Bedeutung der physikalischen Chemie im Gesamtchorus der Biochemie geliefert. Physik ist Scheiße. Meine Meinung. Da ich damit nicht hinter dem Berg halte, haben wir einfach keine gemeinsame Basis für neutrale Kommunikation gefunden. Meine Klausur war zu seinem Leidwesen auch noch makellos. Also drückte er seine Überlegenheit in anderer Form aus. In meiner Hausarbeit zerrupfte er den frei interprätierbaren Teil, um mir keine wirklich gute Note geben zu müssen. „Vielleicht sollte ich zu diesem Thema doch noch eine zweite Meinung einholen.“ Eine kleine Drohung, denn bisher habe ich wegen der versauten Note keine Einwände eingelegt. Ein arrogantes Lächeln schwebt über seine Lippen. Mein Kiefer ist mittlerweile so angespannt, dass ich das leise Knirschen meiner Zähne hören kann. Kain greift mir an die Jacke, doch ich sehe ihn nicht an. „Isch werfe gern bei Gelegenheit einen Blick auf Ihren neuen Analysen, Monsieur Quinn.“ „Mit Sicherheit“, murre ich halblaut. „Nun, dann wollen wir fortfahren.“ Damit wendet er sich ab und ich sehe zu Kain. Ich werfe ihm einen nicht für ihn gedachten genervten Blick zu und verschwinde aus dem Hörsaal. An der frischen Luft angekommen, ziehe ich mir eine Zigarette hervor und zünde sie an. Ich nehme nur einen kurzen Zug und halte dann wieder inne. Im selben Moment denke ich an den Schwarzhaarigen. An die gestrige Nacht. Ich atme ein weiteres Mal tief ein und widerstehe den Drang, mich irgendwo zu erhängen. Nachdem ich eine weitere Zigarette angezündet und im nächsten Moment wieder ausgedrückt habe, reihe ich mich in die magengrummelnden Futterschlangen der Mensa ein. Die Entscheidung fällt mir heute seltsam leicht. Spaghetti mit Hackfleischpamps a la Küchenchef. Er nennt es original italienisch und ich unterlasse den Versuch, ihm zu verdeutlichen, dass die Kombination von Spaghetti und Bolognesesoße in Italien historisch nicht existiert. Es heißt nicht einmal so. Das Essen schmeckt trotzdem und niemand lässt sich gern die Illusionen nehmen. Mit einem zu gutgemeinten Berg Nudeln suche ich mir einen Platz am Fenster und ignoriere, dass an dem Tisch bereits zwei Leute sitzen. Ich ziehe mir die Kopfhörer auf und lasse dieses Mal Gary Jules Lied über die Facetten unbegrenzter Verrücktheiten dieser Welt und innerer Leere laufen. Ich denke an Kain. Die Lust auf den Geschmack seiner Lippen. Die Welt muss wahrhaftig verrückt sein. Der winzige Anflug von Hunger verschwindet und mein Blick richtet sich auf die Straße. Immer mehr Studenten strömen in die Mensa. Die Mehrheit wirkt gestresst und ausgelaugt. Einige verstecken ihre Gesichter unter Kapuzen und Mützen. Als ich beschließe, das Weite zu suchen, weil mein Hungergefühl vollends verendet ist, lässt sich Jeff auf den Stuhl neben mir nieder. Er lächelt und ich frage mich, wie er es immer wieder schafft, mich aufzuspüren. Als hätte er einen Radar. Vielleicht bin ich verwanzt? Abel folgt und setzt sich Jeff gegenüber. Ich greife nach meiner Gabel drehe sie missmutig und mehr zur Ablenkung in dem roten Nudelhaufen umher. Auch Abel hat eine Portion und ich warte augenblicklich darauf, dass der darwin´sche Kampf beginnt. Wer von beiden macht sich seine evolutionäre Entwicklung eher zunutze? Wer wird sich anpassen? Wer wird sich weiterentwickeln? Nudel oder Abel. Kohlenhydrat oder Kohlkopf. Ich hoffe sehnlichst auf Ersteres. Jeff stupst mich von der Seite an. Ich beende mein erwartendes Starren nur zögerlich und ziehe meinen rechten Kopfhörer vom Ohr. „Alles okay?“, flüstert er fragend. „Ja. Wieso?“, antworte ich und schiele zurück zu Abel und seinem Teller. „Du siehst angestrengt aus.“ Nun sehe ich doch direkt zu meinem Mitbewohner. Jeffs blaue Augen mustern mich gründlich. „Ach wirklich? Nein, alles gut.“, murmele ich beschwichtigend. Abgelenkt schiele ich zurück zu Abel, der gerade den ersten gedrehten Löffel Spaghetti in seinen Mund schiebt. Genaugenommen versucht er es, denn gern wird überschätzt, wie weit sich die menschliche Futterluke öffnen lässt. Bis heute habe ich nicht rausbekommen, woran es eigentlich liegt, dass bei vielen die Langnudelaufnahme vollends schief läuft. In der Theorie denke ich, dass es daran liegt, dass sich bei diesem Gericht der klassischen Kindheit die adolenszenztypischen Eigenschaften im Gehirn abschalten. Die Erfahrung lehrt mich jedoch, dass es den meisten Kerlen egal ist, ob sie danach wie ein schlechtgeschminkter Clown aussehen. Hauptsache die Speise landet auf schnellstmöglichen Weg im Magentrakt. Die Erkenntnis setzt sich auch bei Abel fort. Nachdem er die Gabel in normaler Position nicht in den Mund bekommen hat, versucht er es quer. Ich verkneife mir angesichts der enormen Logik ein lautes Lachen, schaffe es jedoch nicht vollständig. Über meine Lippen fließt ein erheitertes Glucksen und zu meinem Leidwesen habe ich damit Jeffs Aufmerksamkeit zurück. Er weiß sofort, worüber ich mich beeimere. „Wehe du sagst etwas beleidigendes“, flüstert er prompt zu mir gelehnt. „Hab ich nicht vor“, murre ich zurück. Ich versau mir doch meine Feldforschung nicht. Die Portion tomatenbenetzter Teigware findet ihren Weg in den Mund des blonden Mannes und hinterlässt deutliche Spuren an der Oberlippe und in beiden Mundwinkeln. Abel dreht munter eine weitere Gabel auf, ohne sich an den Hinterlassenschaften zu stören. Ich bin wenig überrascht und sehe mit freudiger Erwartungen dabei zu, wie er eine weitere überdimensionale Ladung fertigt. „Honey, mach mal so.“ Jeff will ihn retten oder sich selbst die Peinlichkeit ersparen. Er deutet Abel die beschmutzten Mundwinkel an, doch dieser wischt sich einfach fahrig über die Oberlippe. Zu meiner Erheiterung auch nur über die noch saubere Stelle und widmet sich wieder seinem Essen. Ich verkneife mir ein weiteres Lachen und genieße Jeffs Kopfschütteln, bis er mir freundschaftlich gegen die Schulter boxt. Dann lache ich laut und reiße Jeff alsbald mit. Abel schaut uns fragend entgegen und hat wie immer nicht verstanden, was eigentlich passiert. Es ist mir auch egal. Wir lachen immer noch, als Kain mit Kaffee hinter Abel auftaucht. Ich habe mittlerweile Bauchschmerzen, bemerke Kains verwunderten Blick und versuche noch etwas mehr, mich wieder einzukriegen. „Wie lief deine Klausur?“, fragt Jeff Kain, während dieser seine Beine übereinanderschlägt und sich einen großen Schluck Kaffee genehmigt. Es ist noch immer derselbe Becher, den ich ihm vorbei gebracht habe. Der Inhalt muss mittlerweile kalt sein. „Na ja, ich werden sie nicht wiederholen müssen, aber glanzvoll ist anders.“ Ein kurzer Blick zu mir. „Das heißt er schreibt eine 1,3 statt 1,0“, nörgelt Abel in seinen Nudelberg und wischt sich nun wirklich einige der Tomatenspuren von den Lippen. Kains Augenbrauen kräuseln sich. Jeff lacht vergnügt, während sich mein Gegenüber versucht herauszureden. Kains Noten sind tadellos und das liegt nicht nur an seiner beharrlichen Lernerei. „Ich wäre auch besser, wenn ich mir alles, was ich lese, sofort merken könnte. Die Kopfschmerzen kannst du aber behalten.“ Ich horche auf, während Abel seine Gabel vor Kains Nase rum schwenkt. Kopfschmerzen? „Wann hast du denn das letzte Mal in ein Buch geschaut?“, kommentiert Kain und zeigt plötzlich großes Interesse an meinem unangetasteten Mittagessen. Ich schiebe ihm den Teller zu, freue mich darüber, ein weiteres Studienobjekt zu haben und lehne mich zurück. „Oh Robin, du musst übrigens selbst nach Hause kommen“, erklärt Jeff zwischen zwei Happen und mir vergeht jeglicher Forschungsdrang. --------------------------------------------- Ps vom Autor: Seit Oktober bin ich wieder Student und hoffe ganz schnell, ganz viel Zeit zu finden um all die Kapitel nachzuholen, die ich euch Schulde!! Für alle Geschichte. Ich bin fleißig am Tippen und Grübeln! Bitte entschuldigt, diese ewige Warterei!!! Ihr seid alle großartig und ich danke euch für jedes Wort, für jeden Klick und jeden auch nur gedachten Arschtritt!! Vielen lieben Dank!! Kapitel 18: Deeskalationsknigge für angehende Ornithologen und Steinflüsterer ----------------------------------------------------------------------------- Kapitel 18 Deeskalationsknigge für angehende Ornithologen und Steinflüsterer „Du könntest gleich Ben mitnehmen", philosophiert mein Kindheitsfreund fröhlich weiter und schiebt sich munter einen weiteren Löffel Mittag in den Mund. Ich brauche einen Moment, um mich aus meiner Schockstarre zu lösen. „Wie selbst?", kommentiere ich fassungslos und stecke gedanklich noch immer bei der Aufforderung fest, allein nach Hause fahren zu müssen. „Na ja, er kann nicht wochenlang allein im Zimmer bleiben", erklärt Jeff, wischt sich Reiskörner von der Lippe und ignoriert meinen irritierten Gesichtsausdruck. „Warte. Warte. Was heißt, ich muss allein nach Hause kommen?", bringe ich meine eigentliche Irritation zurück auf den Punkt. Jeff sieht fragend auf, während ich ihm einen mehr als entgeisterten Blick schenke und mich weigere, darüber nachzudenken, dass ich nach der Urlaubsankündigung allein darauf hätte kommen müssen. „Unser Flug geht am Montag und du schreibst Mittwoch noch Klausur oder irre ich mich?" Jeff kaut, lächelt und sieht zu dem anderen Blonden, der genauso breit grinsend versucht, einen weiteren Nudelhaufen in seinen Mund zu manövrieren. Ich brauche nicht zu erwähnen, dass Abels Gehirn für ein solches Multitasking nicht ausgelegt ist. Der Nudelberg fällt von der Gabel, landet in einer Tomatenpfütze und hinterlässt ein paar nette Spritzer auf seinem grauen, zerknitterten T-Shirt. „Ja, schon, aber…Ich bekomme doch jetzt keine bezahlbaren Zugtickets mehr", quengele ich theatralisch. Das mit Jeffs Zimmerpflanze ist immer noch nicht bei mir angekommen. „Es gibt sicher noch günstige Flugtickets. Inlandsflügen sind gar nicht so teuer und es wäre mitten in der Woche“, merkt Jeff an. Kain nickt und zerteilt sittsam die Spaghetti in mundgerechte Stücke. So, wie ich es auch machen würde. Er bleibt schweigsam. „So ein Aufstand, du Dramaqueen. Anscheinend hast du doch Kohle“, grunzt Abel in die Runde und macht dabei eine Bewegung, als würde er sich etwas gegen den Hals spritzen. Die Andeutung verstehe wahrscheinlich nur ich. Ich schenke ihm einen deutlichen Fingerzeig meiner Abneigung ohne ihn noch mal anzusehen. „Hey Jungs, bleibt friedlich.“ Mein Mitbewohner greift nach dem bösen Finger und tadelt mich mit seinem Jeff-Blick. Auch das Tomatengesicht wird gemaßregelt. „Gib ihm einfach das Auto, Jeff und gut ist?“, schlägt Kain vor und spießt einen zu groß geratenen Hackfleischklumpen auf. „Nein“, sagen Jeff und ich gleichzeitig und gleichermaßen energisch. Ich blicke meinem Kindheitsfreund verärgert an, weil ich mit einer derartig ablehnenden Reaktion nicht gerechnet habe, während Jeff über sich selbst verwundert zwischen uns dreien hin und her sieht. Auch Kain blickt uns verblüfft entgegen und mein Zimmerkumpan sieht sich genötigt, das Ganze zu erklären. „Er hat gar keinen Führerschein und ich mag mein Auto.“ Kains Blick verharrt für einen Moment bei dem Blonden und wandert dann zu mir. Ich zucke nur mit den Schultern und warte darauf, dass die Frage kommt, warum ich in meinem Alter keinen besitze. Stattdessen erzählt mein werter Kindheitsfreund freimütig, dass ich zweimal durch die praktische Fahrprüfung gerauscht bin und mich beim dritten Mal geweigert habe, überhaupt vom Parkplatz loszufahren. Wahrlich keine Glanzleistung. Aber ich haben meine Gründe. Kains braune Augen mustern mich mit einer Mischung aus Mitleid und absoluter Belustigung. „Lässt du mich mit deinem Auto fahren?“, fragt Kain an Jeff, nachdem er sich auf die Unterlippe beißt, um nicht doch noch laut los zu lachen. „Wieso?“ Das Misstrauen scheint dem Blonden regelrecht aus dem Gesicht zufließen. „Ich würde Robin bei seiner Familie abschmeißen, fahre weiter zu meiner Schwester und bringe dir dein Auto wohl gehütet zurück, während du in der Sonne brutzelst.“ „Ich dachte, du willst nicht nach Hause?“, fragt Abel kauend. Wieso will Kain nicht nach Hause? „Zuhören ist eine Gabe. Ich sagte gerade ich will zu meiner Schwester. Du hast übrigens die ganze Zeit Essen im Gesicht.“ „Wo?“, fragt Abel hinterher und Kain malt zu meiner Erheiterung einfach nur einen imaginären Kreis um sein Gesicht, der die komplette Fläche andeutet. Jeff reicht seinem Partner seufzend ein Taschentuch. „Also?“, fragt Kain wieder an Jeff gerichtet. Doch bevor wir die aufkommende Diskussion weiterführen können, beginnt sein Handy zu klingeln. Er wirft einen Blick auf das Display und seine Mimik wandelt sich von Clown mit zu viel Lachgas zu Zirkusdirektor mit Verstopfung. Mit einem leisen Schnaufen schiebt er den Regler auf Annehmen und steht vom Tisch auf. Ich kann noch hören, dass er sich jegliche Begrüßung spart. Abel schüttelt seinen Kopf, als Kain vollends hinter einer Säule verschwindet. Auf meiner Zunge kitzeln die Fragen nach dem Wer und dem Grund seiner eigenartigen Reaktion. Ich sehe zu Jeff, doch der versucht, händeringend seinem Partner zu verdeutlichen, wo überall die Reste seines Mittagessens Spuren hinterlassen haben. Abel möchte ich nicht danach fragen. Auch wenn dieser das als willkommene Alternative zu Jeffs laienhaften Theater sehen würde. Diesen Gefallen tue ich ihm definitiv nicht, stattdessen greife ich meinen Rucksack und wende mich zum Gehen. „Warte mal“, ruft Jeff, winkt Abel zum Abschied und greift sich sein halbvolles Tablett. Mit einem leisen Seufzen bleibe ich stehen und ärgere mich prompt über meine ungewöhnliche Gehorsamkeit. Von Jeff ernte ich einen irritierten Blick, der sich umsonst beeilt und dabei fast über seine eigenen Füße fällt. Demonstrativ verschränke ich meine Arme vor der Brust, um wenigstens ansatzweise den Eindruck zu erwecken, dass ich mit der Situation unzufrieden bin. Ich gehorche ein weiteres Mal, wie ein braver Lemming, als mir Jeff die Geschirrabgabe andeutet. Abseits warte ich und sehe mich um. Unbeabsichtigt blicke ich direkt zu Kain. Er telefoniert noch immer und sieht kein bisschen entspannter aus. Seine Schultern sind gestrafft. Er fährt sich durch das dunkle Haar und lässt seine Augen geschlossen. Wer verursacht ihm einen solchen Gesichtsausdruck? Mir fällt Abels Kommentar wieder ein, dass Kain nicht zu seiner Familie fahren würde. Mein eigener Unwille, nicht in die heimelige Idylle zurück zu kehren, ist meist oberflächlich. Bei Kain scheint er tief. Nur warum? Er ist nicht der Typ für Streitereien. Ich weiß kaum etwas über ihn und das wird mir in solchen Momenten besonders deutlich. Jeff lässt sein Tablett geräuschvoll auf das Band fallen. Es scheppert und klirrt. Ich sehe, wie der angehende Geologe hektisch das runtergefallene Besteck vom Boden aufsammelt und wende mich wieder Kain zu. Diesmal schaut er auf. Sein Blick ist betrübt und doch legt sich ein kurzes Lächeln auf seine Lippen. „Bist du sauer?“, fragt Jeff, nachdem er alles an den richtigen Ort verfrachtet hat und bleibt neben mir stehen. Er grüßt Richtung Kain und reibt sich ein paar Curryflecken vom Ballen. Ich wende mich meinem Mitbewohner zu. Und ob ich sauer bin. Fuchsteufelswild. Godzilla ist ein Lamm gegen mich. In meinem Kopf entsteht das Bild eines gigantischen Dinos mit Strickpullover. „Ich bin nur genervt. Zugtickets zu bekommen, wird fast unmöglich und wenn ich fliege, muss mich jemand von Flughafen abholen. Und das ist einfach nur umständlich. Eine kurze Info von deinem Bettwärmer wäre nett gewesen“, erkläre ich meine wenig begeisterte Reaktion. „So flexibel, wie Plutonit“, kommentiert Jeff trocken, verdreht meisterlich seine Augen und grinst. Er kennt mich und meine Anpassungsschwierigkeiten. „Und du bist Astracantha gummifera“, kontere ich mit meinem eigenen Fachvokabular. Jeff grinst und hakt sich bei mir ein. Er zwingt mich damit wenig subtil in seine Nähe und ich ahne Böses. „Was war gestern los mit dir?", fragt er mich nach ein paar Metern. Diese Frage geistert ihm wahrscheinlich schon seit er sich an den Tisch gesetzt hat im Kopf umher. Er überspielte es meisterlich mit der einfachen Erkundigung nach meinem Wohlbefinden und der Hinnahme meiner lapidaren Abspeisung. „Nichts war los. Ich war nur müde und verkatert", gebe ich abwehrend von mir. Doch ich schaffe es nicht, meinen Kindheitsfreund ebenso überzeugend anzusehen. Für jemanden, wie Jeff, der ein Talent dafür hat, jemanden wie mich zu durchschauen, ist das ein gefundenes Fressen. „Verkatert? Komm schon, du bist ausgeflippt.“ „Ha! Das war total harmlos", relativiere ich. Ich versuche es zu mindestens und komme nicht umher, mir selbst eingestehen zu müssen, dass es mehr als blamabel gewesen ist. Jeff sieht es auch so. Sein Blick erklärt mich regelrecht für plemplem. „Tatsächlich? Wenn das harmlos war, bin ich Biene Maya. Selbst Kain war komplett irritiert und der ist echt hart im Nehmen.“ Der letzte Teil wiederholt sich in meinem Kopf. Ich denke unwillkürlich an ein paar vergangene Nächte und Kains eindeutige Härte. „Wehe du nennst mich jemals Willi! …Und wir haben es längst geklärt.“ Feucht und fröhlich. Nun kann ich mir das zweideutige Mundwinkelzucken nicht verkneifen und bin froh, dass Jeff in diesem Moment mit seinem Handy rumhantiert. „Aha. Und was bitte musstet ihr klären?“, bohrt er halbherzig weiter, blickt erneut auf sein Handy und schiebt es sichtlich enttäuscht zurück in seine Hosentasche. „Erwartest du einen Anruf?“, frage ich ausweichend und irgendwie auch neugierig. „Was? Nein! Und gib einfach zu, dass dir Kain den Kopf gewaschen hat, weil du Merena ständig fertig machst.“ Schon wieder die Rothaarige. Jeff sieht mir wissend entgegen. Genervt rolle ich mit den Augen und beginne augenblicklich, dieses brennende Gefühl in meinem Inneren niederzuringen. Dafür löse ich mich aus der Umklammerung. Er nimmt er es als Bestätigung seiner Vermutung und ich lasse ihn in dem Glauben. „Ihr werdet auch keine Freunde mehr, oder?“ Ich antworte Jeff mit einem einfachen, vernichtenden Blick. Die beherrsche ich besonders gut. Er weiß, wie absolut ich bin. Vor allem dann, wenn ich Personen einfach nicht leiden kann. „Merena will Kain wieder zurückgewinnen", sagt Jeff, so, als müsse er mir erklären, wieso die Rothaarige dauernd in seiner Nähe klebt. „Tatsächlich…“, entflieht mir sarkastisch und leidvoller als beabsichtigt. Jeff bemerkt es nicht. Oder er ignoriert es. „Aber ich habe das Gefühl, dass sie sich in der letzten Zeit besonders ins Zeug legen muss, um überhaupt an ihn heran zu kommen. Ich verstehe, warum sie es versucht. Kain ist ein echtes Schnittchen“, erklärt er mit wackelnden Augenbrauen und seufzt übertrieben sehnsüchtig. Fehlt nur noch, dass er zu sabbern beginnt. „Oh, bitte erspar mir das...“, seufze ich und kann mir eine tuntige Handbewegung zur Erklärung nicht verkneifen. Jeff grinst und holt ein weiteres Mal sein Handy hervor. „Denkst du, Kain gibt ihr noch eine Chance?", frage ich nach einem Moment Stillschweigen und versuche, desinteressiert zu klingen. Mit gesenktem Blick schiebe ich meine kalten Hände in die Taschen meiner Hose, um zu verhindern, dass Jeff sieht, wie ich sie zur Faust balle. „Gute Frage. Ja. Nein. Vielleicht. Möglicherweise... Keine Ahnung. Gefühle sind seltsam.“ „Geht es noch etwas kryptischer, Yoda?", kommentiere ich diese eigenartige Anhäufung von Worten, die alles und auch nichts sagen. Ich kriege Kopfschmerzen. Jeff beginnt zu lachen und tätschelt mir die Schulter, so, als würde das seiner Aussage mehr Sinn verleihen. Ich verstehe es noch immer nicht. „Kain ist eigentlich ein totaler Beziehungsmensch, auch wenn er gern das Gegenteil behauptet und sie waren eine lange Zeit zusammen gewesen. Auch danach noch aus Gewohnheit. Jedoch ist er seit geraumer Zeit nicht mehr von selbst zu ihr gegangen, hat nicht mehr bei ihr übernachtet oder mit ihr… aber er... Aber wer weiß“, orakelt der Blonde weiter. Mich stören das erste Aber und die kurze Pause. Sehr sogar. Was aber? Ich starre meinen Kindheitsfreund an, doch das Aber behält er für sich. Ebenso die Quelle seiner Informationen. „Woher kommt dein Interesse?", fragt Jeff. Er sieht mich an und ich drehe schnell meinen Kopf weg. Ich zucke mit den Schultern. „Ach, ich suche nur neues Futter für mehr Gemeinheiten", druckse ich rum. „Oh Robin, nicht doch. Lass das!" „Wieso? Sie ist der Inbegriff einer missgünstigen, dummen Hexe." „Ja, und du bist der Inbegriff eines fiesen, kleinen Teufels, also komm schon." „Deswegen brauche ich mehr Futter! Und was heißt hier klein? Du bist maximal ein Zentimeter größer." „Zwei", gibt er verbessernd Retour und grinst. Diese Diskussion führen wir mehrmals im Jahr. Im Grunde immer dann, wenn Jeff der Meinung ist, auf sein Größersein explizit hinweisen zu müssen. Leider muss ich eingestehen, dass da etwas Wahres dran ist. Er ist größer. Genauso wie Abel und vor allem Kain. Der Schwarzhaarige in so mancher Hinsicht. Mit diesem speziellen Gedanken legt sich ein weiteres Mal an diesem Tag ein eindeutiges Lächeln auf meine Lippen. Doch dieses Mal kriegt Jeff es mit. „Ein Penny für deine Gedanken.“ Er sieht mich an und zwinkert, so, als würde er genau wissen, dass ich an etwas Versautes gedacht habe. Es ist beängstigend. „Jeff!“, ertönt es hinter uns. Wir drehen uns beide zu der Stimme um. Während Jeff wissend winkt, denke ich noch immer darüber nach, dass der Name meines Mitbewohners neuerdings dreisilbig ist. Bei vier Buchstaben eine ziemliche Leistung. Ein zierlicher junger Mann kommt mit überschwänglich winkender Geste auf uns zu gelaufen. Schnaufend bleibt er bei uns stehen, stemmt seine Hand in die Hüfte und verdreht übertrieben die Augen, so, als hätte er gerade etwas Unmögliches gestemmt. Ein Klischee auf zwei Beinen. Ich mustere den anderen Mann skeptisch. Seine Frisur ist zu gestylt. Sein Outfit scheint zu schick für die Uni. Die schmalen Lippen passen nicht in das ovale Gesicht und seine Augenbrauen bestehen nicht einmal aus Haaren. Er ist ein ganzes Stück kleiner, als ich und seine matschbraunen Augen mustern mich auffällig, bis Jeff auf den Trichter kommt, uns einander vorzustellen. „Oh, das ist Kevin. Kevin, Robin“, stellt er uns vor. Anscheinend muss er mich nicht als sein Mitbewohner klassifizieren. „Kev-in…“, korrigiert der andere mit einem Zwinkern und hängt ein helles und nasales Hi hinterher. Sein schmales Becken bewegt sich keck nach vorn und sein Kopf hin und her. Alles ein bisschen zu viel. Alles ein wenig zu übertrieben. Das perfekte Schwulenklischee mit übertriebener YouTube-Attitüde. Ich sehe fragend zu Jeff. „Er ist auch Geologe und wir haben ein gemeines Projekt.“ Eine weitere Erklärung meines Kindheitsfreundes, die mich jedoch verwundert dreinschauen lässt. Ernsthaft? „Der wühlt im Dreck?“, frage ich ungläubig, deute reichlich abfällig mit dem Daumen auf das YouTube-Klischee und ignoriere den geübt empörten Blick. Solch Reaktionen bekommt er wohl öfter. „Kevin spezialisiert sich auf Gemmologie.“ Diamanten. Das ergibt wieder sind. Er quietscht entzückt, als hätte Jeff einen der gepressten Kohlenstoffe aus seiner Hose gezaubert. Das Geräusch ist hoch und penetrant. Mein linkes Augenlid beginnt leicht zu zucken. Kevin sieht es als Anlass, das Gespräch an sich zu reißen. Er spricht ohne Punkt und Komma. Doch nur etwa jeder achte Satz hat wirklich etwas mit dem gemeinsamen Projekt zu tun und inhaltlich ist alles so gewichtig, wie die Tatsache, dass Niagara eine der Trendfarben des Sommers ist. Ich beobachte Kevin dabei, wie er wild gestikuliert, wie seine aufgemalten Augenbrauen im Takt seiner quietschenden Äußerungen keine Regung zeigen. Jedes Mal, wenn Jeff einstimmt, antwortet Kevin zunächst mit einem hellen Quieken. Dabei klingt er wie einer aus diesen Foodporn-Youtube-Videos, in denen sich zierliche Asiaten überschwänglich mit amerikanischen Süßigkeiten vollstopften. Ich sehe ein paar Mal auffällig auf Kevins Füße. „Was machst du da?“, fragt er daraufhin irgendwann. „Ich schauen, ob dir jemand auf den Fuß tritt. Du klingst andauernd wie ein Hundespielzeug.“ Eine seiner künstlerisch ambitionierten Augenbrauen wandert nach oben. Nun wirkt er noch klischeehafter. Unglaublich, dass das möglich ist. „Du bist witzig“, sagt er übertrieben, sieht zu Jeff und beginnt zu lachen. „War nicht meine Absicht“, kommentiere ich trocken. Seine manikürte Hand winkt und patscht dabei sachte gegen Jeffs Schulter. Es folgt ein weiteres Quietschen und ich will einfach schnell weg. „Ich krieg einen Tinitus“, sage ich, ohne auch nur den Anschein einer höfflichen Ausrede erwecken zu wollen. Ich lasse meinen Zeigefinger ungalant vor meiner Schläfe kreisen, sehe zu Kevin und dann zu meinem Mitbewohner. Sein Blick tadelt mich, doch ich zucke nur kurz mit den Schultern und gehe ohne ihn zurück ins Wohnheim. Während ich meinen Computer starte, bekomme ich eine Nachricht von Brigitta. Ich bin ihr noch immer das Exposé für das neue Buch schuldig. Im Mantel klassischer Lektorenäußerungen kann ich die diabetesverursachende Zuckrigkeit herauslesen, die in jeden von Brigittas Worten mitschwimmt. Zum Schluss versucht sie es nicht einmal zu verstecken und verabschiedet sich mit einem typischen klebrigen Kosenamen. Ich öffne das am Samstagabend begonnene Dokument, lese und seufze. Ich habe nichts mehr hinzuzufügen und schicke es ab. Sie wird es nicht mögen und dennoch wird sie mich anhalten, es weiter zu schreiben. Meine Gedanken darin zu verwurzeln und meine Fantasien zu konkretisieren. Ich ziehe meine Kopfhörer hervor, öffne den Ordner mit ruhigen und auch traurigen Melodien und lausche den Klängen von James Blunts ´Tears and Rain´. ´How I wish I could surrender my soul. Shed the clothes that become my skin. See the liar that burns within my needing.´ Ich lehne mich zurück, sehe aus dem Augenwinkel heraus, wie Jeff ins Zimmer kommt. Ich habe keine Lust auf etwaige Diskussionen und Mahnungen, also schenke ich ihm keine Beachtung. Jeff versteht es nach all den Jahren auch ohne verbalen Hinweis. Alles Aufregen und Meckern hätte keinen Sinn. Er hat es oft genug versucht. Es würde nichts ändern, denn ich werde mich nicht ändern. ´Hides my true shape like Dorian Gray´. Ich überfliege die letzte Zeile des Manuskripts. Ich befinde mich noch immer im Bereich der klassischen Prämisse. Obwohl ich keinen Wert auf typische Aufbaustrukturen in meinen Romanen lege, geschieht es fast jedes Mal automatisch, dass sich eine solche festlegt. Mit der Erläuterung der Vorgeschichte meiner Charaktere und unter Bezugnahme der Storyline des vorangegangenen Buches, habe ich wohl oder übel eine annähernde 5-Akte-Struktur. Aus meinen Kopfhörer dringt Adeles ´Love in the Dark´. Ich krame meine Vorüberlegungen hervor. Ich brauche ein Vorkommnis, das die Dynamik zwischen den beiden Männern verändert. Einen Wendepunkt. Vielleicht ein Streit. Ein weiterer menschlicher Faktor wäre möglich. Nein. Zu kompliziert. Ich lehne mich zurück, lasse meinen Finger über der Leertaste schweben und setze meine Hand erst ab, als mir partout keine befriedigende Antwort einfallen will. Nur die eine. Eine sexuelle Gefälligkeit. Ich sehe dabei zu, wie sich mein Finger auf die Leertaste senkt. Sie aber nur vorsichtig bestreicht, ohne sie zu betätigen. Es wäre ein Kniff. Ein Höhepunkt. Für Ryan wäre es der Faden der Hoffnung, der aus langersehnten Wünschen ein reelles Momentum spinnt. Ryan ist verliebt. Unglücklich verliebt und jede noch so kleine Zuneigung seines Freund lässt die Glut weiter glimmen. Nichts weiter als ein tragisches Klischee vieler Romanvorlagen. Aber ein nützliches. ´Please don't fall apart. I can't face your breaking heart. I'm trying to be brave. Stop asking me to stay`. Adeles volle Stimme echot in meinem Kopf umher. Ich mag die mitschwingende Traurigkeit in ihren Liedern. Als ich auf die Uhr sehe, ist es bereits mitten in der Nacht. Ich ziehe mir die Kopfhörer von den Ohren und schaue zu meinem schlafenden Mitbewohner, der mit geöffneten Mund auf dem Rücken liegt. Er schnarcht. Leise, aber beständig. Das macht er sehr selten. Ein letztes Mal wandern meine Augen über die niedergeschriebenen Passagen. Wie ratsam ist es, über etwas zuschreiben, was man selbst noch nicht erlebt hat? Das frage ich mich jedes Mal aufs Neue. Ich war noch nie unglücklich verliebt. Ich war überhaupt noch nicht verliebt. Kein einziges Mal. Ich fühle eine seltsame Ernüchterung. Fast eine Unzufriedenheit. Das passiert mir selten, dass ich an meinen Texten zweifele. Normalerweise fühle ich mich dabei immer sehr sicher. Ich sehe ein weiteres Mal zu meinem sägenden Mitbewohner und beschließe, samt Kopfhörer ins Bett zu gehen, weil ich sonst in einen nächtlichen Blutrausch gerate. Einschlafen kann ich trotzdem nicht. Am Morgen weckt mich eine panische SMS der schönen Inderin. Sie bittet um ein kurzes Treffen. Noch während ich mühsam nach dem 2. Buchstaben des Wortes OK suche, folgt eine weitere Nachricht mit konkreten Fragen, die sie beantwortet wissen will. Ob ich ihr helfen könne? Bereits beim Lesen fühle ich mich wie ein ausgelutschtes Lexikon. Ich verspüre einen kurzen Glücksmoment, als ich endlich das K finde und drehe entsetzt mein Gesicht ins Kissen, als ich begreife, dass es erst halb 7 ist. Das wird mir Shari büßen. Irgendwie. Irgendwann. Irgendwo. Prompt folgt eine digitale Entschuldigungstirade mit so viel liebreizenden Zucker, dass ich sofort vergesse, weswegen ich eigentlich sauer bin. Ein Hoch auf die vielfältige Welt der Emojis. Kain benutzt auch immer eine Unmenge davon. Genauso, wie Jeff. Das höchste meiner digitalen Gefühlswelt ist ´Doppelpunkt Klammer zu´. Ich drehe mich wieder zur Wand, nehme mein Kissen in den Arm und drücke zu. Es wehrt sich nicht. Schreit nicht. Ein dankbares Opfer. Nach einer Weile höre ich, wie sich Jeff rührt. Er gähnt laut und streckt seine Glieder, sodass seine Knochen knacken. „Wer schreibt dir so früh am Morgen?“, fragt er schmatzend und schafft es, sich auf zu richten. Ich gratuliere ihm später. „Shari“, nuschele ich ins Kissen und spüre feuchten Stoff an meiner Wange. Ich drücke es von mir weg. „Die kleine Inderin, die du ins Bett kriegen willst?“ „Ich will sie nichts in Bett kriegen. Ich helfe ihr nur dabei, die Klausur zu bestehen. Wegen des Tutoriums“, murre ich und drehe mich auf den Rücken. Als ich zu Jeff sehe, wirft er mir einen skeptischen Blick samt kurioser Mundverzerrung zu. „Was?“, erfrage ich seine kreative Gesichtsgymnastik. „Ganz ohne Hintergedanken?“, erkundigt sich Jeff misstrauisch. Nun setze auch ich mich auf und suche nach meinen Jeans. Ich bin müde. „Stell dir vor.“ „Wirklich?“ „Du nervst.“ Kurzes Schweigen. „Jetzt bin ich wirklich davon überzeugt, dass du dich mit jemanden triffst. Wer ist es? Sina. Kati. Melli. Shabby, das Unimaskottchen… Kain.“ Gerade als ich meine Hose entdecke und danach greife, fällt der Name des Schwarzhaarigen. Ich verliere den Halt und stürze halb vom Bett. „Himmel, Jeff mach dich nicht lächerlich. Sina ist nicht mein Typ. Kati ist Sina nur mit dunklen Haare. Wer ist Melli? Und wenn ich die Wahl hätte zwischen Kain und Shabby, nehme ich eindeutig Shabby“, sage ich abfällig. Jeff grinst, stellt sich das Ganze genauso vor, wie ich und streicht sich durch die blonden Wuschelhaare. Ich setze mich zurück aufs Bett und streife mir die Jeans über die Beine. „Wusstest du, dass Kain in seinem ersten Semester für ein paar Wochen Shabby war?“ „Gruselige Vorstellung“, sage ich und tue damit das Thema ab. Obwohl ich mich gleichgültig gebe, rumort es in mir. Hat Jeff etwas gemerkt? Mein Mitbewohner ist für solche Dinge feinfühliger. Vielleicht hat er etwas gesehen? Genauso wie Sina. Mein Herz beginnt unwillkürlich zu rasen. Ich und Kain. Nein, Jeff würde es sagen, wenn er ein konkretes Indiz hätte. Aber wieso sollte er etwas ahnen? Es gibt keinerlei sinnvolle Grundlage für eine solche Annahme. Ich selbst habe keine glaubhafte Erklärung für das, was zwischen mir und dem Schwarzhaarigen passiert. Die Vene an meinen Hals pulsiert. Heftig und stark. Ich krame mir ein frisches T-Shirt aus dem Kleiderschrank und drehe mich es anziehend zu Jeff um. Er beobachtet mich. „Was?“ „Du weichst mir andauernd aus.“ „Unsinn. Es gibt nichts, dessen ich ausweichen müsste.“ Laptop, Block und Kopfhörer. Als ich das beieinander habe, greife ich meine Jacke und bin schon an der Tür. Nach kurzen Abstechern in den Waschraum und zum Foodstore setze ich mich nach zwei Zigaretten in die Bibliothek. Ich grüße Marie und bin mir nicht sicher, ob sie mich überhaupt wahrgenommen hat. Ich frage mich auch, wieviel Zeit sie in ihrem Bücherhaufen verbracht hat und ob sie es in den letzten Tagen geschafft hat, nach Hause zugehen. Womöglich ist sie bereits mit den Büchern verwachsen? Ich beobachte sie eine Weile aus der Ferne und fühle, wie sich langsam aber sicher das schlechte Gewissen in mir regt. Meine Lernanstrengungen für dieses Semester halten sich noch immer in engfassten Grenzen. Übermorgen schreibe ich die erste Klausur. Am Freitag die nächste. Auch jetzt fehlt mir die Muße. Statt mich in die Bücher zu vertiefen, öffne ich das Manuskript und scrolle direkt zu der Stelle, an der ich am Abend aufgehört habe. Eine sexuelle Gefälligkeit. Ein Moment. Eine Gelegenheit. Was würde Ryan tun? Er wird es nutzen. Auch, wenn er bereits in diesem Moment erahnt, welchen Kummer es ihm bringt. Wie würde er es tun? Leidenschaftlich. Genießend. Er wird es auskosten. Ich spüre einen feinen Schauer, der sich von meinen Beinen hinauf arbeitet und in meinem Kopf formen sich erste Szenen. Wie fühlt es sich an? Ryans Körper wird vor Erwartungen, Vorfreude und Erregung zum Bersten angespannt sein. Jede Berührung wird seine Sehnsüchte stillen und zugleich weiter entfachen. Ein Zwiespalt. So süß und herb, wie dunkle Schokolade, die langsam auf seiner Zunge schmilzt. Er wird das erregende Gefühl spüren, wenn sich die ersehnten Hände über erwartende Haut streicheln. Er wird wissen, dass sie es womöglich kein weiteres Mal tun werden und es wird umso intensiver sein. Der Gedanken daran, seine Hitze auf den Lippen zu spüren und zu schmecken, wird er genießen. Es wahrhaftig zu spüren, wird er lieben. In meinen Fingerspitzen beginnt es zu prickeln, als ich die ersten Zeilen eintippe. Alle weiteren schreibe ich, wie in einem Rausch. Gegen 10 Uhr beginnt mein Telefon hektisch zu blinken. Eine neue Nachricht von Shari. Wir treffen uns eine halbe Stunde später. Ich habe nichts dagegen, beende den letzten Absatz und damit das Kapitel. Die Unzufriedenheit vom gestrigen Abend verflüchtigt sich. Einen Moment lang bleibe ich sitzen, sehe auf den leuchtenden Bildschirm und packe dann zusammen. Beim Hinausgehen ringe ich Marie ein Lebenszeichen in Form eines mürrischen Lauts ab und unterlasse den Versuch, ihr zu erklären, wie wichtig Schlaf und Pausen für die kognitive Leistung sind. Ich verschwinde ins Hauptgebäude und bin vor der Inderin im Seminarraum. Shari schnauft, als sie die Tür öffnet. In beiden Händen hält sie mehrere orangefarbene Tüten mit weißen Styroporbehältern. Ohne Begrüßung stellt sie die Beutel auf dem Tisch ab und lässt sich schwer seufzend auf den Stuhl neben mir fallen. Ihr Haar ist dieses Mal nur locker zusammengebunden, so, als hätte sie für eine ordentliche Frisur einfach keine Zeit gehabt. Es steht ihr. „Was ist das Alles?“, frage ich, beobachte, wie Shari eine verirrte schwarze Strähne zur Seite pustet. „Das Ergebnis eines Kochanfalls meiner Mutter“, sagt sie und richtet sich wieder auf. „Hier, für dich.“ Sie schiebt mir lächelnd eine der Tüten zu und scheint heilfroh, sie los zu sein. „Trotz der Gefahr, dass ich mich wiederhole, aber: Was ist das?“ Nur mit dem Zeigefinger schiebe ich etwas Plastik zur Seite und mir weht augenblicklich der Geruch von Curry und Chili entgegen. „Essen“, kommentiert Shari verwundert, „Indisches Essen. Meine Mama glaubt immer, wenn ich in Klausurenstress bin, dass Essen das beste Mittel gegen Alles ist. Da ich trotz jahrelangem Training irgendwann einfach kein indisches Essen mehr sehen kann, bin ich darauf ausgewichen, es an meine Freunde zu verteilen. Mein Freund ist gegen Paprika allergisch. Mark und Raphael sprechen langsam schon Hindi und meine Freundinnen unterstellen mir, ich würde sie absichtlich fett machen wollen.“ Shari seufzt und ich fühle mich mit den vielen Informationen überfordert. Mark war der schmale Kerl mit dem starren Blick, oder? Mein Schweigen nimmt sie als Zustimmung. „Wir haben Sabudana Vadas, Samosas mit Kürbis und anderen Gemüsen, Shakarkanad, Kachori und vieles, vieles mehr. Am besten suchst du dir jemanden zum Teilen.“ Die exotischen Begriffe klingen aus ihrem Mund besonders schön und weich, aber kein bisschen verständlicher. Während sie mir die einzelnen Inhalte der Packungen und die dazugehörigen Saucen vorstellt, verteilt sie alles auf dem Tisch. Es riecht interessant und ich wage es nicht, ihr zu gestehen, dass ich noch nie im Leben indisch gegessen habe. Außerdem habe ich augenblicklich jegliche Erklärung wieder vergessen. „Du kannst auch das haben“, sagt sie und legt mir einen schlichten Schokomüsliriegel vor die Nase. Anscheinend ist mein Blick argwöhnischer als beabsichtigt. „Alsooo…“, setze ich an und strecke meine Hand nach dem gepressten Haferflockenbrikett aus, ohne hinzusehen. Shari beginnt zu kichern und im nächsten Moment frustriert zu gucken. Ich lasse den Riegel neben mir liegen, schließe die offenen Styroporbehälter und stecke alles in die Tüte. Ihr Blick wird noch etwas deprimierter, während sie mir dabei zuschaut. „Zum Mittag gibt es wohl indisch“, sage ich und locke das bezaubernde Lächeln zurück. Danach fordere ich sie auf, ihre Fragen hervorzuholen und ertappe mich dabei, wie ich, angesichts der 5 A4-Blätter, in Embryonalstellung zurück in mein Bett möchte. Beim Blättern gesteht sie mir, dass es nicht nur ihre eigenen Fragen sind, sondern einige von ihren Kommilitonen stammen, mit denen sie lernt. Wieso habe ich mich nur darauf eingelassen? Scheiß auf die Note. Es dauert ewig. Doch danach lächelt sie mir derartig glücklich entgegen, dass ich fast ein Glücksgefühl verspüre. Wir verabschieden uns an der Tür. Ich sehe, wie Shari jemanden zu winkt und entdecke Kain, der lässig an einem Spind lehnt. Er winkt ihr grundschulmäßig zurück. Sharis Lächeln ist eine weitere Glucoseinjektion und ich frage mich, ob man tatsächlich so naiv sein kann. Bei mir verabschiedet sie sich mit einer Umarmung und ich mich mit einem versicherten Daumendrücken für die ersten Klausuren. Ich bin mir sicher, dass sie es ohne weitere Probleme meistern wird. Aufregung und Panik gehören einfach dazu. „Hey Spatz, komm mal her geflattert!“ Obwohl es mir allein wegen dem Kosenamen widerstrebt, bleibe ich trotzdem stehen und wende mich nach kurzem Zögern dem Schwarzhaarigen zu. Er winkt mich heran. Ich seufze still, aber mimisch. Mit dem Müsliriegel in der Hand trabe ich zu dem anderen Mann, setze schon während des Gehens mein grimmiges Gesicht auf. „Im Laufen essen, ist nicht gesund, Täubchen“ „Mir dauernd diese Spitznamen zu geben, wird für dich bald nicht mehr gesund sein. Ernsthaft, das gefällt mir nicht...“ Kain grinst herausfordernd und nimmt mir den Müsliriegel weg. Stattdessen drückt er mir einen Zettel in die Hand. Ich will lieber meinen Riegel zurück. „Was ist das?", frage ich und sehe auf das Stück Papier. „Lies!" Mit einem leisen Murren entfalte ich den Zettel. Mir schwungvollen Buchstaben hat er ´Willst du mit mir fahren?“ darauf geschrieben. Darunter steht: Ja. Nein. Vielleicht und daneben mit deutlich krakeliger Schrift der Vermerk, dass das Gewollte anzukreuzen ist. „Ist das dein Ernst?", frage ich und sehe, wie er noch etwas breiter grinst. „Entschuldige, aber ich konnte einfach nicht widerstehen.“ „Na klar.“ „Immerhin gibt mir Jeff das Auto.“ „Ist das mindeste“, ächze ich übertrieben aufgebauscht und halte nicht damit hinterm Berg, dass ich mich daran störe, dass die beiden Blonden ständig machen, was sie wollen. Nicht, dass Kain das nicht wüsste. Doch bevor ich eine weitere Gewitterfront aufziehen lassen kann, schenkt mir Kain diesen entwaffnenden Gesichtsausdruck. Ich hasse ihn. „Tu nicht so, als ginge dir diese alles bestimmende Art und Weise der beiden nicht auf den Keks. Du bist schließlich derjenige, der seit geraumer Zeit kein eigenes halbes Zimmer mehr hat.“ Ich murre leise und diesmal nur, weil seine schrecklich beruhigende Art auch bei mir wirkt. „Na ja, was soll ich sagen? Mittlerweile finde ich es gar nicht mehr so schlimm“, sagt er und lächelt. Es ist dieses warme, sanfte Lächeln. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. „Jetzt gehst du mir auf den Keks.“ „Meine neuen Lebensaufgaben, schon vergessen?“, kontert er grinsend. Ich hole mir meinen Müsliriegel zurück, beiße demonstrativ ab und lasse die Plastiktüte in meiner Hand munter knistern. Kains Blick folgt dem Geräusch, doch er lässt sich nicht ablenken. „Also? Ich würde keinen allzu großen Umweg fahren, wenn ich dich bei deinen Eltern absetze. Jedoch möchte ich gern schon am Mittwoch los. Wäre das okay für dich?“ „Mittwoch ist mitten in der Woche“, bemerke ich kauend und ziehe fragend meine Augenbraue nach oben. „Und? Ich habe noch einiges zu erledigen“, antwortet er etwas zu schnell, zu ausweichend. Zudem wendet er für einen Moment seinem Blick ab, als er es sagt. „Wieso willst du nicht zu deinen Eltern fahren?", frage ich hinterher und überrumpele ihn. „Ich verstehe mich nicht sonderlich gut mit ihnen", sagt er nach kurzem Zögern. Er lächelt, doch dieses Mal ist es kein frohes. Ich bohre nicht weiter, dennoch sehe ich ihn unbewusst auffordernd entgegen. Es funktioniert. „Meine Eltern sind keine klassischen, liebevollen Familienmenschen. Sie sind eher egozentrisch und unausstehlich. Man kann weder mit ihnen reden, noch haben sie für irgendwas Verständnis." „Das klingt hart…“ „Es ist wahr. Was ist das eigentlich?“, würgt er mich ab. Kain deutet auf das Plastik, in dem sich meine Jahresration indischer Snacks befindet. „Ein Dankeschön von Shari.“ „Das riecht sehr gut! Willst du das etwa alles allein essen?“, fragt Kain ablenkend, hebt statt der Tüte meinen kompletten Arm am Handgelenk an und kommt mir deutlich näher. Ich spüre die Wärme seiner Hand und merke, wie sich augenblicklich Gänsehaut über meinen Arm zieht. So deutlich, dass es auch Kain bemerkt. Dieses Mal schaffe ich es, seinem Blick stand zuhalten und zucke fahrig mit den Schultern. „Also? Ja oder nein?“, flüstert er mir entgegen und ich weiß, dass er damit nicht das Essen meint. Mein Körper beginnt zu kribbeln. Ich mache einen Schritt zurück, entferne mich von der intensiven Hitze des anderen Mannes und ziehe einen Stift aus der Tasche. Den Zettel halte ich in Höher unserer Gesichter. Meine Antwort kreuze ich so an, dass er sie nicht sehen kann. Danach falte ich das Papier wieder zusammen. Noch etwas kleiner, als er es vorher getan hat und reiche es dem Schwarzhaarigen. Ich wende mich zum Gehen. „Spielverderber!“, ruft er mir hinterher, als er meine Vielleicht-Antwort gelesen hat. Aus meiner Hosentasche ziehe ich meine Zigaretten hervor und stecke mir eine in den Mund. Danach drehe ich mich noch mal um. „Meine Antwort ist vollkommen legitim.“ Als ich mich wieder abwende, steht Sina vor mir. Sie sieht zu Kain. Danach fixieren ihre blauen Augen mich. Das Lächeln auf ihren Lippen ist wissend. Als Kati neben ihr auftaucht, nutze ich die Gelegenheit, um wortlos vorüberzugehen und suche schnell das Weite. Die beiden Mädels gehen geradewegs auf Kain zu und ich nehme mir vor, den Schwarzhaarigen das nächste Mal auf Sinas Angebot anzusprechen. Im Wohnheimzimmer angekommen, logge ich mich in die uniinterne Informationsplattform ein und mir schlägt eine Flut an zusätzlichen Lektürevorgaben entgegen. Die freundlichen Hinweise des Dozenten diese und jene Passage noch einmal zu lesen, wirkt nach der fünften Benachrichtigung wie blanker Hohn. Es folgen noch sieben Weitere und ich lehne mich fassungslos zurück. Zwei Tage vor der Klausur. Der spinnt doch! Als wenige Sekunden später mein Mitbewohner durch die Tür spaziert und mich auf den zwei Metern bereits vollquasselt, drücke ich ihm den Korb mit dreckiger Wäsche in die Hand und werfe ihn unter der Versicherung raus, dass ich Ben kein Haar krümme. Der Drucker ächzt. Ich suche nach meinem grünen Textmarker und gebe verzweifelt auf. Pink und Gelb müssen reichen. Die gewonnenen Stunden, in denen sich mein Kindheitsfreund um unsere Wäsche kümmert, sind schneller um, als mir lieb ist. Summend schlägt er samt vollbeladenen Wäschekorb wieder in unserem Zimmer auf. Unter Einsatz jeglicher Ekelhaftigkeit, die ich an den Tag legen kann, kriege ich Jeff dazu, sein Ganzkörper-Pflege-Programm vorzuziehen. Ist nach Handtuch zu riechen wirklich eine Beleidigung? Ich versüße ihm das Ganze mit einer neuen, extra scharfen Rasierklinge und bin zufrieden, als sich die Tür hinter einem summenden Jeff wieder schließt. Ich werfe einen Blick in Sharis ominösen Snackbaukasten und probiere eine der Teigtaschen. Ungewöhnlich. Leicht scharf. Aber lecker. Ich nehme die Styroporpackung mit zum Schreibtisch. Ich ziehe mir erneut die Texte heran und nach eineinhalb Seiten fällt mein Kopf auf den Tisch. Ich bin müde. Lustlos und der Überzeugung, dass ich mit dem heutigen Abend sowieso nichts mehr reißen kann. Jeffs Handy beginnt zu summen. Ich ignoriere es. Auch beim zweiten Mal atme ich nur tief ein. Beim dritten Klingeln will ich mir nur noch die Haare raufen. Mit einem gehörigen Maß an Gereiztheit richte ich mich auf, suche das nervende Gerät zwischen den Bettlaken und gehen ran. „Jeffs Telefon. Er ist gerade nicht verfügbar. Kann ich etwas ausrichten, damit das nervige Gebimmel aufhört?", frage ich scharf, aber trotzdem noch halbwegs freundlich. Am anderen Ende bleibt es für einen Moment erwartet still. „Oh. Hi, spreche ich mit dem Mitbewohner?" „Ja." Am anderen Ende wird erleichtert ausgeatmet, bevor ich eine weitere Reaktion bekomme. „Entschuldigung für die Störung. Könntest du Jeff bitte ausrichten, dass Jake angerufen hat?" „Kann ich." „Danke. Schönen Abend noch." Damit legt er auf und ich sehe einen Moment verwundert auf das leuchtende Display, bis es sich wieder verdunkelt. Ich werfe Jeffs Handy aufs Bett und trabe zurück zu meiner unterirdisch spannenden Fachliteratur. Mein Schädel platzt, wenn ich noch ein weiteres Wort über Matrizen lesen muss. Ich greife in meine Hosentasche und ziehe die Schachtel Zigaretten hervor. Ein paar Minuten später kommt mein frischgeduschter und zufrieden seufzender Mitbewohner wieder zurück. Ich mache mir nicht die Mühe, meinen Kopf von der Tischplatte zu entfernen. „Du machst Fortschritte, wie ich sehe“, kommentiert Jeff munter. „Witzbold! Ach, ich soll dir ausrichten, dass Jake angerufen hat", sage ich und lehne mich mit meinen Schreibtischstuhl weit nach hinten. Den Blonden sehen kann ich trotzdem nicht. Dennoch spüre ich die plötzliche Unbehaglichkeit, die das ganze Zimmer erfüllt. Ich höre, wie er sich auf sein Bett niederlässt und wie er nach kurzem Suchen auf seinem Handy herumtippt. „Jeff, wer ist Jake?", hake ich nach, nachdem es auf der anderen Seite des Raumes seltsam still bleibt. „Niemand“, wiegelt er ab. „Ein Niemand, der dich am Abend einfach so anruft?“ Ich bleibe skeptisch und zeige es ihm deutlich. Jeff seufzt. Zu theatralisch für meinen Geschmack. Ich greife nach einer gefüllten Teigtasche aus dem indischen Sammelsurium und lass es mir schmecken. „Jake ist der IT-Kerl aus dem PC-Pool.“ Schlagartig verschlucke ich mich an der Füllung. „Du… verar...scht mich?“, röchele ich und greife hustend nach einer Flasche mit einer Restpfütze Wasser. „Er hat mir bei einem Problem mit dem Laptop geholfen und dabei sind wir ins Gespräch gekommen. Er ist sehr nett.“ „Du meinst wirklich den großen Dunkelhaarigen?“, frage ich, während sich der Masala durch meine Luftröhre frisst. Ein wahrlich mörderisches Geschmackserlebnis. Jeff nickt und legt sein Telefon sorgsam auf dem Schreibtisch ab. „Davon wird deine Backpflaume von Freund nicht begeistert sein“, kommentiere ich dieses anbahnende Beziehungsdrama und schwanke zwischen bösartiger Vorfreude und Fluchtgedanken, weil ich kein Teil dieser Dramödie werden möchte. „Es gibt nichts, worüber er sich Gedanken machen muss. Wir haben uns nur nett unterhalten…“ „Und Telefonnummern ausgetauscht.“ „Weil er mir hilft, einen besseren Laptop zu finden und den Alten gewinnbringend zu verhöckern.“ „Ja, eine Hand wäscht die andere. Ich bin gespannt, welche vorteilhafte Situation du bald für ihn hast.“ Im hohen Bogen kommt mir ein Paar Socken entgegen geflogen. Ich fange sie lachend und sehe mit Vergnügen dabei zu, wie sich Jeffs Gesichtsfarbe meiner durch atemnotverursachten angleicht. Sie wird tiefrot. „Blödmann“, wirft er ungalant hinterher. Ich nehme mir grinsend eine neue Flasche Wasser aus dem Kühlschrank und versuche den Hustenreiz endgültig zu vertreiben. „Hey, bitte sag ihm nichts. Ich habe keine Lust auf seine Eifersuchtsanfälle.“ Jeff wendet sich von mir ab und beginnt die Klamotten im Wäschekorb zusammenzulegen. Eifersuchtsanfälle. Ich erinnere mich an den Vorfall zu ihrem Halbjährigen. Den Streit und Jeffs Laune, als er plötzlich im Zimmer aufgetaucht ist. Auch jetzt ist sein Blick eher angestrengt. „Komm, als ob ich freiwillig mit Abel reden würde“, kommentiere ich. Statt Dank ernte ich mit diesem Ausspruch einen säuerlichen Blick. Bevor ich etwas dazusagen kann, öffnet sich unsere Zimmertür und das Subjekt unseres Gespräches betritt den Raum. Ich setze mich samt Flasche zurück an den Schreibtisch, sehe dabei zu, wie Abel seinem betretendreinschauenden Freund begrüßt und sich dann auf Jeffs Bett fallen lässt. Dabei bringt er ein paar der sorgsam gefalteten Klamottenstapel durcheinander. Er quetscht sich das Kissen zurecht und streift sich die Socken von den Füßen. Unvermittelt verspüre ich Übelkeit. Füße sind nicht schön. Eher seltsam, wenn nicht sogar ekelhaft. Ich starre auf Abels viel zu überdimensionalen großen Zeh. Vielleicht erklärt das das geringe Maß an Gehirnmasse in seinem Schädel? Der Blonde lässt einen wackeln und reißt mich damit aus den Gedanken. „Wieso hat Kain dich rausgeworfen?“, fragt Jeff. Das Vorgespräch habe ich nicht mitbekommen und tadelt mimisch das angerichtete Chaos. „Kopfschmerzen!“, murmelt Abel und knetet sich ein weiteres Mal das Kissen zurecht. „Kopfschmerzen? Wäre eine Erklärung mit ganzen Sätzen möglich?“, erfrage ich einmischend. Abel zuckt mit den Schultern. „Ja, die ganze Leserei. Er meint ihm platzt regelmäßig der Schädel, weil er sich jedes verdammte Wort merkt und außerdem hat er schlechte Laune. Vorhin gabs einen Anruf von seinen Eltern. Sahara geht es mal wieder schlechter. Das andauernde Drama nervt“, nuschelt der Blonde runter und verdreht mehrere Male genervt seine Augen. Jeff nickt zustimmend, schubst ein Paar Socken in meinen Schrank und wandert zurück zum Wäschekorb. Ich fange ihn bei der nächsten Möglichkeit ab und halte ihn am Pullover fest. Ich versuche ihm mimisch deutlich zu machen, dass ich keine Ahnung davon habe, wovon der andere Blonde spricht und verzweifele, als mich Jeff zunächst verwirrt anblickt. Ich wiederhole den genannten Namen leise. „Kains Schwester.“ Als Antwort bekomme ich einen 2-Wort-Satz und einen Blick, der mich verurteilt, weil ich das nicht wusste. Jeff widmet sich der Wäsche, meckert ein weiteres Mal mit seinem Partner, weil dieser begonnen hat, die Kleidung wieder auseinander zunehmen und zu begutachten. Als Jeff nach dem Stoff greift, zieht ihn Abel einfach auf sich. Erst leises Murren. Dann feines Kichern. Sie flüstern. Sie küssen. Ich drehe mich endgültig zu meinem Bildschirm zurück, blicke auf meine Notizen und spüre, wie meine Konzentrationsfähigkeit rapide nachlässt. Ich denke an Abels Zimmergenossen. Kains Kopfschmerzen werden schlimmer. Seine Schwester. Das Kichern wird lauter und meine Neugier nimmt überhand. Ich sperre meinen Rechner und greife nach meiner Jacke. „Wo willst du hin?“, fragt Jeff und versucht händeringend, den anderen Blonden für diesen kurzen Moment von sich wegzudrücken. „Ich brauche frische Luft“, sage ich unbestimmt, doch ich habe ein konkretes Ziel. Ich sehe auf das Nummernfeld für den Code und klopfe währenddessen gegen die Tür. Der Schwarzhaarige öffnet mir mit müden Blick die Tür. „Hey“, gebe ich von mir und nutze seine Verwirrung, um mich an ihm vorbei ins Zimmer zuschieben. Chaos schlägt mir entgegen. Es ist noch schlimmer, als beim letzten Mal. Herumliegende Klamotten, Bücher und anderer Kram. Diesmal nicht nur auf Abels Seite. Auch Kain sieht seltsam durcheinander aus. Seine Haare sind wirr und er trägt nur eine Socke. „Was machst du hier?“, fragt er und sieht mir dabei zu, wie ich ein Stück Kleidung mit dem Fuß wegschiebe. Es rollt gegen einen Stapel Zeitschriften und entpuppt sich als Kains fehlender Socke. „Abel ist bei Jeff“, erkläre ich lapidar und hebe ein Buch vom Boden auf. Einführung in die Pathobiochemie. Ich bin mit meinem Exemplar noch immer nicht weiter gekommen. „Dir ist schon klar, dass das keine Antwort auf meine Frage ist?“, gibt der Schwarzhaarige mit matter Stimme von sich. Für mich schon. Ich wende mich von Kain ab und lege das Lehrbuch auf seinem Schreibtisch ab. „Habt ihr schon mal über eine Putzfrau nachgedacht?“, frage ich, statt ihm eine bessere Antwort auf meine Anwesenheit zugeben. „Bist du hier, um mir auf die Nerven zugehen?“ Ich sehe zurück zu Kain, der sich gerade auf sein Bett niederlässt. Fahrig streicht er sich durch die Haare. „Möglich“, kommentiere ich gelangweilt und lehne mich gegen die Tischplatte. „Ich habe für sowas gerade keinen Nerv“, sagt er, klingt ungewöhnlich gereizt „Ich muss noch drei Kapitel lesen und zusammenfassen. Mein Gehirn fühlt sich an, wie Wackelpudding und ich bin hundemüde“, seufzt er mir erklärend entgegen und greift demonstrativ nach seiner Literatur und dem Block, welche beide neben ihm auf dem Bett liegen. Er streicht sich über den Nasenrücken und wartet, dass ich mich in Luft auflöse. Ich bleibe materialisiert und bewege mich auch nicht weg. Ich kann mir vorstellen, dass durch die Leserei der Schmerz nur noch schlimmer wird. Ein Stimmchen in mir flüstert, dass ich ihn in Ruhe lassen soll. Um es zu übertönen, gehe ich auf Kains Bett zu. Erst als ich versuche, ihm das Buch aus der Hand nehmen, reagiert er. Mit Verärgerung, die sich durch eine deutliche Einkerbung zwischen seinen Augenbrauen zuerkennen gibt. Spuren, dieser Falte vertiefen sich auch immer dann, wenn er kurz davor ist, zu kommen. Meine Fingerspitzen beginnen zu kitzeln. „Hey, ich habe keine Zeit für Spielchen“, murrt er und umgreift den Stift in seiner Hand fester. „Rutsch rüber…“ Ich deute in die Ecke seines Bettes. Kain sieht mir verneinend entgegen und macht mir mimische klar, dass ihm langsam der Kragen platzt. Ja, auch ich kann penetrant und nervig sein, wenn ich will. Ich fordere ihn ebenso mimisch auf, endlich zur Seite zu rutschen. Analoge Kommunikation ist etwas Feines. Bevor er etwas erwidern kann, steige ich über ihn rüber, lasse mich neben ihn fallen und nehme mir das aufgeschlagene Lehrbuch. Ich überfliege die Seite und spüre, wie mich Kain dabei anstarrt. Vielleicht sollte ich ihm erklären, dass ich dadurch weder verschwinde, noch explodiere. „Wo hast du aufgehört?“, erfrage ich die Stelle im Text. Kain reagiert nicht, sondern sieht mich weiterhin sauer an. „Okay, dann fang ich am Absatz an.“ Ich beginne vorzulesen. Ruhig und flüssig. „Robin, was wird das?“ Kain unterbricht mich nach ein paar Zeilen. Mein Name und keine dämliche Spitzvögelei. Er muss wirklich fertig sein. „Es liegt am Lesen, oder nicht? Die Kopfschmerzen meine ich.“ Kain nickt und presst seinen Kiefer aufeinander. Auch die Falte wird noch etwas tiefer. „Ich lese dir die drei Kapitel vor. Du machst dir deine Stichpunkte und ich erspare mir eine weitere Dröhnung widerliches Kopfkino, weil ich nicht zu den beiden diabetesverursachenden Verrückten zurück muss. Eine klassische Win-win-Situation.“ Zum Abschluss untermale ich meine glanzvolle Idee mit einem übertriebenen Grinsen. Während ich ihm meine Intension erkläre, verschwindet die Wut aus Kains Gesicht und macht einem anderen Ausdruck Platz. Ein feines Lächeln legt sich auf seine Lippen und ich konzentriere mich wieder auf das Buch, welches schwer in meinen Händen liegt. Weil er schweigt, nehme ich es als Anlass, fortzufahren und unterbreche nur noch mal für den Bruchteil einer Sekunde, als er sich dichter zu mir beugt und mir einen Kuss gegen die Schulter haucht. Ein ungewöhnlich warmes und vertrautes Gefühl durchströmt mich. Ich lese, ohne darauf zu reagieren, weiter. Kain beendet den letzten Stichpunkt und lässt seufzend den Stift fallen. Ich spüre, wie er förmlich in sich zusammensackt und ermattet seinen Kopf in den Nacken legt. Ein Raunen perlt durch den Raum und ich bekomme unwillkürlich Gänsehaut. Ich lese die letzte Zeile des Abschnittes noch mal und sehe erst danach auf. Kain schaut mich an. „Du bist nett zu mir“, stellt er fest. „Gewöhn dich nicht dran“, erwidere ich schnell und schließe das Buch. Ich werfe es ans Fußende des Bettes und richte mich auf. Kain umfasst meinen Arm und hält mich zurück. „Danke“, flüstert er, zieht mich an sich und in einen Kuss. Er ist sanft und ruhig. Ich schmecke einen Hauch von Ingwer, als sich seine Lippen von meinen entfernen und verspüre unwillkürlich das Bedürfnis nach mehr. Es ist keine gute Idee. Ganz und gar nicht gut. Abel könnte jeder Zeit hier aufschlagen. Womöglich noch mit meinem Mitbewohner. Kains Fingerknöchel streicheln über meinen Kiefer, während sich sein Blick nicht von meinen Lippen löst. Meine Fingerspitzen beginnen zu kribbeln und ich greife fester in das Kissen unter mir. Ich beuge mich vor und streiche mir übers Gesicht. „Hast du diese starken Kopfschmerzen öfter?“, frage ich, ziehe die Beine an und lege meinen Kopf auf den Knien ab. „Manchmal. Sie kommen und gehen. Mal leicht, mal etwas schlimmer. Ich versuche den Lesestoff aufs Semester zu verteilen, aber das klappt nicht immer und an Tagen, wie heute, ertrage ich Abels Art umso weniger.“ Kain lächelt müde und streckt seine Hand nach mir aus. Seine Fingerkuppen berühren mein Schulterblatt, streicheln sich tiefer und ich halte unwillkürlich den Atem an. Ich spüre ein feines Kitzeln. Ein Angenehmes. Ich richte mich wieder auf und mache mich breit zum Verschwinden. Kains Hand bleibt an meinem unteren Rücken liegen. Warm und durchdringend. „Abel ist sicher noch eine Weile bei Jeff“, murmelt Kain. „Ich dachte, du hast Kopfschmerzen“, kommentiere ich absichtlich ablehnend. Ich setze meinen Abgang fort, doch Kain hält mich fest, bevor ich vollkommen über ihn drübersteigen kann. Mit beiden Armen stütze ich mich an der Wand ab und sehe zu ihm runter. Ich spüre den trainierten Leib direkt unter mir. Die Muskulatur seiner Beine. Ich kann sehen, wie sich seine Brust unter dem T-Shirt bewegt, spüre, wie sein warmer Körper meine berührten Stellen ins unermessliche erhitzt und merke, wie sich der Schleier der Erregung über jegliche meiner Gedanken legt. Seine bloße Nähe macht aus mir einen sexhungrigen Zombie. „Du tust es schon wieder..." Kains Worte holen mich zurück in die Realität. „Was?", gebe ich wenig gekonnt von mir. Er deutet auf mein Gesicht. Ich sehe ihn nur noch fragender an. „Du ziehst mich mit deinem Blick aus“, raunt er mir neckend zu. Eindeutig Frech. Es ist ihm ein Spaß. „Du hast zu viel Fantasie.“ Fluchtversuch, die zweite. Kain vereitelt ihn mit Leichtigkeit. „Sagt der Richtige“ Er zieht mich am T-Shirt runter in einen Kuss. Was mache ich mir vor? Er hat Recht. Ich ziehe ihn wirklich jedes Mal aus und es erregt mich. Er erregt mich. Warum es so ist, kann ich mir nicht erklären und auch der innere Widerstand, dagegen vorzugehen, wird mit jedem Mal schwächer. Warum muss das, was gefährlich ist, auch immer besonders gut sein? Während des Kusses spüre ich, wie sich seine warme Hand unter meinen Pullover schiebt. Der Geschmack von Zitrone und Ingwer auf meiner Zunge verursacht mir zusätzliche Gänsehaut, die Kain an meinem ganzen Körper spüren kann. Als wir unseren Kuss lösen, perlt ein zufriedenes Keuchen von seinen Lippen. „Weißt du, ich hätte gerade wirklich nichts gegen ein paar Spielchen“, raunt er überzeugend. Ich glaube ihm sofort. Er streichelt sich meine Seite entlang und hinterlässt brennendes Prickeln. Ich richte mich wieder auf. Auf Höhe meiner Brust stoppt er und gleitet mit seinem Daumen neckend an meine Brustwarze vorbei. Dabei legt er meinen Unterbauch frei. Als sich Kain vorbeugt, um mich mit dem Mund zu berühren, drücke ich ihn an den Schultern zurück. Er interpretiert es im ersten Moment als nein. Doch in meinen Kopf regt sich etwas ganz anderes. In meiner Vorstellung treffen meine Lippen auf reine Hitze. Sie ertasten zartes Fleisch, welches bei Druck deutliche Härte offenbart. Ob sich die Haut seiner Spitze genauso sanft anfühlt, wie sie aussieht? „Und schon wieder“, kommentiert Kain erneut. Seine warmen, braunen Augen erblicken mehr als sie sollen. „Sei einfach still“, sage ich ertappt. Kain grinst und zieht mich in einen Kuss. Obwohl ich das intensive Gefühl genieße, förmlich danach giere, kann ich den Gedanken nicht abschütteln. Ich löse mich von seinen Lippen und richte mich wieder auf. „Lass uns spielen“, raune ich. Bevor er erneut seinen Mund auf machen kann, öffne ich seine Hose. Ich habe nicht vor, zu gehen und das soll er ruhig wissen. Unter dem Stoff seiner Jeans erkenne ich die deutliche Wölbung. Mein Puls beschleunigt sich. Aufregung. Neugier. Blitzschnell arbeiten sich diese Gefühle durch meine Nervenbahnen. Er beobachtet mich dabei, wie ich sein T-Shirt höher schiebe und ihm andeute, dass er es ausziehen soll. Ohne Widerrede streift er es sich vom muskulösen Körper und wirft es auf einen der Klamottenberge. Seine Hand greift mir in den Nacken und führt mich dichter an seine Lippen. Doch statt mich der Aufforderung zu beugen, rutsche ich ein gutes Stück zurück zu seinen Knien. Ich ernte ein fahriges Raunen der Unzufriedenheit vom anderen Mann und lasse mich nicht beirren. Er will Spielchen. Er kriegt sie. In der letzten Zeit habe ich mich viel zu oft seinen Vorstellungen angepasst. Seinen Wünschen. Seinen Stellungen. Ich kann ebenso dominant sein. Ich ziehe am lockeren Stoff der Hose. Zwei, drei Mal bis Kain seine Hüfte anhebt und ich die Jeans von seiner Körpermitte entfernen kann. Bevor ich auch seine Beine befreie, beuge ich mich vor. Ich hauche einen Kuss auf den obersten graden Bauchmuskel seiner linken Seite. Fast sofort spüre ich, wie sich Kains Hände über meinen erreichbaren Körper bewegen und ich rutsche ein weiteres Stück nachhinten. Unsere Blicke treffen sich. Das intensive Braun seiner Augen sagt mir deutlich, wie viel Anstrengung es ihn kostet, mich nicht einfach zu packen und ausgiebig zu ficken. Auch mein Körper schreit danach und doch beginne ich in einem langsamen Tempo, seine Hose Stück für Stück von seinen Beinen zuziehen. Seine Augen erfassen jede meiner Bewegungen. Abwartend und gespannt. Kains Atemfrequenz steigt und ich sehe dabei zu, wie sich sein Brustkorb deutlicher auf und ab bewegt. Für einen kurzen Moment erkenne ich das wünschende Blitzen. Die Jeans fällt neben das Bett. Nur in Short sitzt er vor mir und ich genieße den Anblick. Für einen Moment spannt sich der Stoff an seiner Härte, weil sie aufgeregt zuckt. Unter der Haut erkenne ich seine innere Anspannung. Seine Muskeln vibrieren. Seine Blutbahnen pulsieren. Genauso, wie meine. Ich beuge mich vor und lege meine Lippen auf die noch bedeckte Wölbung, küsse mich über den Stoff und spüre die Hitze, die von ihm ausgeht schon jetzt. Ich bewege mich höher, liebkose die festen Muskeln seines Unterbauchs und lasse nebenbei meine Hand über die Innenseite seines Oberschenkels gleiten. Kains ruhige Atmung wird zum Keuchen und als ich kurz aufsehen, erkenne ich, wie er sich zurücklehnt und jede meiner Berührungen genießt. Seine Erregung bewegt sich immer deutlicher in meine Richtung. Er zieht scharf die Luft ein, als das Hinabziehen seine Unterhose eine erste Reibung erzeugt. Auch das mache ich bewusst langsam. Ich will ihn reizen und auf die Folter spannend. Kain streicht mir über den Nacken, den Hals entlang zum Kiefer. Er greift mir unters Kinn und zwingt mich so, ihn anzusehen. „Genug der Spielchen. Komm her“, fordert er mich auf. Er will die Kontrolle behalten. Ich will sie ihm nehmen. „Nein.“ Meine Lippen berühren erneut die weiche, haarlose Haut seines Oberkörpers. Ich folge dem definierten Pfad seiner Muskeln tiefer und lasse währenddessen den letzten Stoff verschwinden. Seine Erregung streift meinen Hals. Ich halte für einen Moment inne. Meine Atmung wird schwer und heißer. Ich blicke auf. In diesem Moment ist mir Kains volle Aufmerksamkeit sicher. Noch während ich ihn ansehe, rutsche ich etwas tiefer, sodass die eben noch meinen Hals streifende Erregung direkt vor mir auftaucht. Es erregt mich, ihn so entblößt zu sehen. Mein Herz erhöht den Rhythmus, schlägt heiß in meiner Brust. Meine Haut kribbelt. Kain streicht mir durchs Haar. „Ich steh drauf, wenn man ihn so ansieht“, raunt er frech, streicht mir ein weiteres Mal über den Kopf und danach über den Kiefer. Seine Berührungen hinterlassen ein erregendes Kitzeln. Ich sehe auf und umfasse ihn im selben Moment. „Tu mir den Gefallen und halt den Mund.“ „Dann komm her!“ Immer das letzte Wort. Statt zu gehorchen lasse ich neckend meine Zunge über seine Spitze gleiten. Nur hauchzart. Probierend. Kain zuckt spürbar mit dem ganzen Körper. Seine Hand greift an meine Schulter und ich mache genauso weiter, wie ich es auch in dem Manuskript geschrieben habe, spüre es genauso, wie ich es beschrieben habe. Ich lecke demonstrativ seine Härte entlang, ehe ich meinen Mund vollends um seine Eichel schließe. Kein Spielchen. Die Hitze auf meinen Lippen ist noch intensiver als ich dachte. Noch ist mein Mund locker und meine Zungenspitze tastet sich hauchzart über das fremde Fleisch. Ich spüre die sanften Rundungen und den feinen Spalt in der Mitte. Kain keucht wohlig auf, während ich genau dort verweile. Meine Bewegungen sind zuerst langsam und zurückhaltend, doch mit jedem Zentimeter, den ich auf meinen Lippen spüre, werde ich schneller, rhythmischer. Ich blicke auf seine pulsierende Erregung hinab, lecke neckisch die gesamte Länge entlang und auch über meine eigenen Finger, bis ich erneut genüsslich um seine Spitze tanze. Kains Keuchen wird heftiger, passt sich meinen intensiven Bewegungen an. Seine Hände wandern von meinen Schultern in meinen Nacken, bis sie fahrig durch meine Haare gleiten. Er übt keinen Druck auf mich aus und das braucht er auch nicht. Ich nehme ihn tief und das von ganz allein. Als sich seine Finger einen Moment fester in mein Haar krallen, lasse ich augenblicklich von ihm ab. Ein enttäuschtes Stöhnen folgt. Ich kenne das Gefühl, kurz davor zustehen und trotz des heftigen Drucks nicht kommen zu können. Ich mache es bei mir selbst, zögere es hinaus. Es erregt mich. Ich sehe auf, blicke in lustverhangenes Braun. Es erregt mich, ihn so zusehen. Sein Atem beruhigt sich. „Mehr...“ Nur ein Flüstern, welches von seinen Lippen perlt, als ich nicht weitermache. Ich bette einen Kuss auf seinen Beckenknochen. Erst links. Rechts. Danach hauche ich einen Kuss auf die feuchte Spitze seiner Erregung, ehe ich sie wieder in den Mund nehme. Allein diese Berührung bringt ihn zum Keuchen. Das Geräusch verursacht mir Gänsehaut. Ich lasse meine Zunge kreisen. Ich entlasse seine Eichel aus meinem Mund und benutze nur noch meine Zunge, während meine Hand ihn zu pumpen beginnt. Meine Lippen gleiten locker über das empfindliche Fleisch. Diesmal nehme ich ihn wieder tiefer, schlucke und verändere die Spannung meiner Lippen. Meine Bewegungen werden intensiver und ich lasse bewusst meine Zunge hart, wenn ich bei seiner Eichel ankomme. Kains Augen sind geschlossen. Seine Brust hebt sich hektisch. Nun umfasse ich ihn mit der gesamten Hand, beginne ihn zu befriedigen, während meine Lippen spielerisch seine Spitze liebkosen. Küssen. Lecken. Leichtes Saugen. Alles fordert unterschiedliche Reaktionen hervor. Tiefes Keuchen. Heftiges Stöhnen. Wohliges Brummen. Unendliche Kombinationen, die in den vier Wänden nur so widerhallen. Ich intensiviere die Bewegung meiner Hand, lasse meine Zunge neckisch kreisen, nehme nur hin und wieder seine Spitze komplett in meinen Mund. Seine Finger an meinem Kopf werden erneut fahriger. Er ist nahe dran. Ich intensiviere die Reibung und höre diesmal nicht auf. Herbe Süße auf meinen Lippen. Sein tiefes Stöhnen erfüllt den ganzen Raum. Ich streiche mir ein wenig Feuchtigkeit aus dem Mundwinkel und werfe einen letzten Blick auf Kains Körpermitte. Es war genauso, wie ich es mir vorgestellt habe. So, wie ich es mir erdacht habe. Wieso habe ich es getan? Was habe ich mir dabei gedacht? Meine Gedanken beginnen zu rasen und abgesehen von dem durch die Bewegung verursachtem Tempo, wird mein Puls noch einen Tick schneller. Auch die Stille macht mich etwas wahnsinnig. Ich sehe auf. Kains Augen sind geschlossen. Sein Atem geht schnell und normalisiert sich nur langsam. „Ich… geh dann…“, sage ich, fühle plötzliche Unsicherheit und richte mich auf. „Nein. Nein. Nein. Auch wenn das jetzt pures Mitleid war... verdammt…", raunt Kain angetan und zieht mich in einen intensiven Kuss. Sein Geschmack hängt noch immer auf meinen Lippen. Es erregt mich. Ich genieße das Spiel seiner Zunge. Das Necken. Das Streicheln. Es berauscht mich. Ich hätte ihm nicht erlauben dürfen, mich öfter küssen, denn es gefällt mir. Ich zeige es, wenn auch nicht vollkommen absichtlich. Ich kann es nur nicht mehr verstecken. Kain knabbert zärtlich an meiner Unterlippe, bevor er unsere Berührung löst. „Willst du was trinken?“ Ich nicke und sehe dabei zu, wie sich der nackte Körper des anderen Mannes erhebt und zum Kleiderschrank geht. Kain reicht mir beim Zurückkommen eine Flasche Wasser und lässt sich wieder aufs Bett fallen. Jetzt nehme ich das Wohlgefühl bei ihm wahr. Ebenso die Zufriedenheit. Es offen in seinem Gesicht lesen zu können befriedigt mich. Sehr sogar. Nach einem letzten Schluck Wasser richte ich mich auf. „Ich hau dann wirklich ab“, sage ich und deute zur Tür. Kain nickt. „Hey, fahren wir nun zusammen. Ja oder nein?“, fragt er vom Bett aus. Er sammelt sich irgendein T-Shirt vom Boden auf, während ich mir meine Jacke überstreife. „Wenn es für dich kein Aufwand ist.“ Meine Augen wandern über den Schreibtisch des Schwarzhaarigen. Neben dem von mir abgelegten Fachbuch, liegt mein Roman mit dem Bild von Kain und der jungen Frau. Seine Schwester. „Nein, es ist wirklich nur ein kleiner Umweg für mich“, versichert er mir, zieht sich die Jeans über die muskulösen Beine und kommt mit geöffneter Hose auf mich zu. Als er näherkommt, habe ich sofort seinen vertrauten Geruch in der Nase, gepaart mit Sex und einem Hauch Ingwer. „Also ja?“ „Ich habe morgens noch eine Klausur. Danach können wir los.“ Seinem Blick weiche ich aus. „Gut.“ Ein Lächeln auf seinen Lippen. Ich drehe mich weg und öffne die Tür zum Gehen. Draußen wende ich mich noch mal um. „Kain, was ist mit deiner Schwester?" frage ich abrupt, sehe wie Kain aufsieht und ein unangenehmer Schleier auf seinem Gesicht auftaucht. „Es ist kompliziert.“ „Wenn Abel es versteht, verstehe ich es auch…“, knurre ich ihm entgegen. Blöde Ausrede. Kain kommt auf mich zu, packt mich am Kragen der Jacke und zieht mich zurück ins Zimmer. Die Tür schließt sich mit einem leisen Klick. „Abel versteht gar nichts.“, sagt er und schweigt, so als müsste er darüber nachdenken, ob er die nächsten Worte wirklich formulieren will. Seine Hände greifen noch immer in den Stoff meiner Jacke und ich fasse nach seiner Hand. Anscheinend ist auch Kains Leben weit von Perfektion entfernt. Ein kurzes halbseitiges Lächeln flieht über seine Lippen, wie ein ungewollter Schatten. „Meine Schwester ist… Sie hat eine paranoid schizophrene Erkrankung und lebt in einer psychiatrischen Anstalt.“ ------------------------------------------ PS vom Auto: Euch allen wünsche ich noch ein gesundes und frohes Neues Jahr!! (auch wenn es verspätet kommt). Ich hoffe, ihr seid alle gut reingerutscht und fit und munter. Ich muss mich gleich schon wieder entschuldigen, weil das neue Kapitel doch wieder länger gedauert hat, aber Uni ist furchtbar anstrengend und zeitfressend. Ich habe meinen Job gewechselt und habe mich mit einer Freundin selbstständig gemacht. Wir machen hübschen Origami-Schmuck Aber ich schreibe auch! Wirklich! Ununterbrochen in jeder freien Minute! Ich danke euch. Ihr seid toll! Kapitel 19: My Home is my Zirkuszelt ------------------------------------ Bitte, entschuldigt alle vorhandenen Fehler. Korrektur wird in ein paar Tagen nachgeholt!!! ___________________________________________ Kapitel 19 My Home is my Zirkuszelt Kains Schultern neigen sich nach vorn und obwohl seine Worte fest und sicher klingen, kann ich deutlich erkennen, wie viel Kraft ihn dieser Augenblick kostet. Paranoide Schizophrenie, wiederholt sich in meinem Kopf und trotz mangelnden Expertenwissen, bin ich mir durchaus bewusst, was eine solche Diagnose zu bedeuten hat. Für die Betroffenen und für die Angehörigen. Sie, seine Schwester ist sein wunder Punkt. Kain senkt seinen Blick auf die Berührung unserer Hände. Ich ziehe meine zurück. Mehr aus Unsicherheit als aus Unbehagen. Dennoch ist es Kain, der etwas Abstand zwischen uns bringt und meine Reaktion negativ auslegt. Ich weiß nicht, was ich sage soll und richte meinen Blick in das mäßig beleuchtete Zimmer und denke unwillkürlich an das vorhin Geschehene. Meine Körper reagiert, wie von allein. Gänsehaut zieht sich über meinen Hals und ich ärgere mich über die Unpassenheit. Auch Kain sieht sich bedrückt im Zimmer um und setzt sich zurück auf sein Bett. Er wirkt unruhig. Ich folge ihm ein paar Schritte in den Raum hinein und bleibe am Schrank stehen. Die Entfernung beruhigt mich. Innerlich und äußerlich. „Wie lange ist sie schon in der Anstalt“, frage ich um mich von den Gefühlen abzulenken, die mein Gehirn benebeln. Kain sieht auf und die Intensität seines Blickes brennt sich in mein Inneres. Noch heftiger als sonst. „Fast 10 Jahre.“ Er stützt seine Arme auf den Knien ab und seine Hände beginnen fahrig miteinander zu hantieren. „Ist sie jünger als du?“ „Nein, ein paar Jahre älter.“ „Helfen keine Medikamente?“, frage ich einfach weiter. Fast hilflos. Er dehnt seiner Finger und scheint mit den Gedanken weit weg zu sein. „Doch, schon. Aber sie stellen ständig irgendwas um und dann gehen die Höhen und Tiefen von vorne los. Es ist schwierig. Vor ein paar Jahren war Sahara mal in einer betreuten Wohneinrichtung. Das hatte ihr gut gefallen und es ging ihr viel besser. Sehr lange sogar, aber…“ Er seufzt resigniert. Die Schwere, die er empfindet, ist deutlich zu erkennen. Ebenso zu fühlen. Selbst für mich. „Abel versteht nicht, dass ich nur möchte, dass sie da wieder daraus kommt und ein normales Leben führen darf.“ Während er das sagt, sieht er auf. Verstehe ich es? Die Frage ist still, aber eindringlich. Ja, ich verstehe es. Denn lange Zeit wollte ich nichts lieber, als das mein Bruder wieder nach Hause kommt und ein normales, langes Leben führen darf. Genauso, wie ich ist Kain nicht naiv. Er weiß, dass seine Schwester mit einer derartigen Diagnose immer unter Beobachtung sein wird. Genauso, wie ich weiß, dass mein Bruder niemals wieder nach Hause kommt. „Mit meinen Eltern ist es, als würde man andauernd gegen Windmühlen kämpfen. Sie bezahlen lieber eine teure Klinik, als irgendeinen Aufwand mit ihr zu haben, dabei würde ihr ein stabiles, eigenes Leben bei der Familie oder bei eine betreuen Wohneinrichtung viel mehr bringen. Na ja,...ich gebe jedenfalls nicht auf“, sagt Kain, als meine Gedanken abzuschweifen beginnen. Dass Aufgaben keine Option für ihn ist, habe ich schon öfter gemerkt. Es entlockt mir ein Lächeln, was auch Kain bemerkt. Er erhebt sich vom Bett und kommt auf mich zu. Sofort verspüre ich das dringende Bedürfnis einen Schritt zurück zu machen, doch ich habe den Schrank im Rücken. Kains aufmerksame Augen beobachten mich. Er erkennt mein Zögern. Er weiß um meine Unsicherheiten. „Du hast die Klausur bei Professor Wellers schon geschrieben, oder?“, frage ich bevor er bei mir angekommen ist. Ich muss das Thema wechseln. Solch intensive Gespräche liegen mir nicht. „Hab ich.“ Kain bleibt neben dem Schreibtisch stehen und öffnet die Schublade. Er greift nach einen grünen Hefter und hält ihn mir hin. Bereits auf dem ersten Blatt erkenne ich die notierten Fragen, die sich mit den Themen der Vorlesung decken. Als ich ihm das Teil abnehmen will, zieht er seinen Arm zurück. Obwohl ich im Inneren damit gerechnet habe, gucke ich blöd aus der Wäsche, was Kain erwartend heiter grinsen lässt. „Mein Gedächtnis hat auch etwas Gutes. Wenn man die Kopfschmerzen außer Acht lässt, die die Leserei mit sich bringt“ Ganz automatisch deutet er Richtung Bett. Doch ich denke an alles andere nur nicht an die Kopfschmerzen. „Dann höre auf zu lesen“, sage ich ruhig und mein Blick richtet sich auf den Roman aus meiner eigenen Hand, der auf seinem Schreibtisch liegt. Ich merke, wie mich ein unangenehmes Gefühl erfasst. Ich kann mich noch immer nicht mit dem Gedanken anfreunden, dass er meine Bücher liest. Dass er überhaupt davon weiß. Kains Augen folgen meiner Blickrichtung. „Es gibt schon einige Dinge, für die ich die Kopfschmerzen gern in Kauf nehme.“, sagt er und macht eine kurze Pause bevor er mit seiner Aufzählung beginnt. „Batman Comics, Terry Pratchett, die Gebrauchsanweisung für meinen neuen Radiowecker mit Uhrzeit-Projektionsfunktion…“ Kains Worte sind voll purer absurder Erheiterung und sie bringen mich zum Schmunzeln. Nur für einen Moment. Denn als sich sein Gesichtsausdruck langsam wandelt, weiß ich längst um seine Intention. „Quincey Bird“, folgt als Ende seiner Liste. Es war abzusehen und trotzdem durchfährt mich ein tosendes Gewitter. Ein Donner der Überraschung. Eins. Zwei. Drei. Das Blitzen der Aufregung und es folgt das prickelnde Grollen der Scham. Mein Puls beschleunigt sich und dennoch blicke ich ihm erstaunlich ruhig entgegen. „Diese eine Geschichte…hast du sie weitergeschrieben?“, fragt er mit flatternder Neugier. „Nein“, lüge ich ohne zu zögern. Ich weiß sofort von welcher er spricht und in meinem Kopf formen sich die letzten intensiven Passagen, die ich vor wenigen Tagen niedergeschrieben hatte. Sie sind mir Wort für Wort im Gedächtnis geblieben und ich spüre sie in seiner Gegenwart, so als würde ich sie gerade erst wieder aufs Papier bringen. „Wirst du es?“ Kain macht einen Schritt auf mich zu. Ich nutze seine unachtsame Nähe um mir den Hefter zugreifen und zur Tür zu flüchten. „Wieso sollte ich?“, antworte ich bewusst ablehnend, sehe wie er enttäuscht die Augen schließt und dann wenig überrascht aufblickt. Ich kann ihm nicht erlauben es weiter zu lesen. Und auf keinem Fall darf ich ihm ermöglichen noch mehr über mich zu erfahren. Er weiß schon zu viel. „Danke für deine Notizen“, sage ich schnell hinter und verlasse das Wohnheimzimmer, bevor mich der Schwarzhaarige davon abhalten kann. Ich verschwinde jedoch nicht gleich, sondern lasse zu, dass Kain mir folgt und im Türrahmen stehen bleibt. Er streckt seine Hand nach mir aus, legt den Zeigefinger unter mein Kinn und den Daumen gegen meine Unterlippe. Ich spüre die Rauigkeit seiner Fingerkuppen. Es beginnt zu prickeln. „Heute danke ich dir, Spatz.“, gibt er neckisch retour. „Du kannst mich mal“, entflieht mir unaufgeregt, aber symptomatisch wegen dem Spitznamen und weil mir der unterschwellige Hinweis auf die oralen Aktivitäten im Grunde peinlich ist. Ich würde es niemals laut aussprechen. „Beim nächsten Mal unbedingt“, grinsend wackeln die Augenbrauen des Schwarzhaarige nach oben. Seine Äußerung entfacht ein Kribbeln stärkster Sorte in mir. Es erfasst mich heiß und sehnsüchtig. Während ich mich kopfschüttelnd abwende, schließt er langsam die Tür. Als das Schloss klickt, drehe ich mich wieder um. Ich greife zur Klinke und halte in meiner Bewegung inne, als die die Tür vom Nachbarzimmer aufgeht. Fast sofort erkenne ich den Song, der mit einem Mal laut aus dem Zimmer dringt und im Flur verhallt. ´Because when the sun shines, we'll shine together. Told you I'll be here forever´. Eine Blondine hüpft heraus und verschwindet Richtung Toilette. Meine Hand bleibt an der Klinke liegen, während ich ihr nachsehe. Es schleicht sich ein Lächeln auf meine Lippen, als ich an meinen ganz eigenen Regenschirmmoment zurückdenke. Kains vertraute, angenehme Stimme, die den nervigen Takt von Rihannas Song wiedergab, während er im Flur auf mich zukam. Sein spitzbübisches Lächeln. `Under my umbarella…ella ella ey ey ey…´. Das warme Gefühl in meinem Inneren ist intensiv. Genauso, wie damals. Was macht er nur mit mir? Lächelnd wende ich mich zum Gehen um und werde von Abel gestoppt, der mit einem Mal vor mir steht. „Huch“, entflieht mir leise. Ich mache schnell einen Schritt zurück und trotzdem hat der Moment der Nähe ausgereicht um, deutlich Jeffs Geruch wahrzunehmen. Genau genommen nur das Parfüm. Ich spüre, wie sich meine Laune augenblicklich wandeln. Das warme Gefühl verflüchtigt sich und macht meiner eigensinnigen Unterkühlung Platz. „1311.“ „Was?“, frage ich irritiert bei der Aufzählung der Zahlenreihe und runzele meine Stirn. Ich spüre ein feines Rumoren in meiner Magengegend und ziehe meine Schachtel Zigaretten hervor. „Unser Türcode. Du darfst ihn gern benutzen. Wir benutzen euren ja auch. Was sag ich, wahrscheinlich ist er dir längst bekannt." Es schleicht sich ein eigeneartiges Lächeln auf Abels Lippen. Und wieder dieser Blick. Wahrscheinlich haben sie den Code der Tür an Abels Intelligenz angepasst. Damit kann man wirklich wenig falsch machen und ich haben ihn sofort im Gedächtnis, ohne ihn mir merken zu müssen. Ich verspüre wenig Lust mich noch länger mit Abel auseinanderzusetzen, erwidere nichts und stecke mir gelangweilt eine Zigarette zwischen die Lippen. Ungerührt gehe ich an den Blonden vorbei. Ich komme nicht weit. Jeffs Freund hält mich zurück und packt dabei grob meinen Arm. Die Zigarette fällt zu Boden. „Hey, du könntest wenigstens antworten oder bist du dir selbst dafür zu fein“, bellt er mir gereizt entgegen. „Nimm deine Hand weg!“, knurre ich und merke, wie sich seine Fingerkuppen noch etwas stärker in meinen Muskel drücken. Es schmerzt. Abel beißt die Zähne zusammen. Ich ebenfalls. „Was ist dein Problem mit mir? Bin ich dir je blöd gekommen? Hab ich dich beleidigt? Was? Oder passt es dir einfach nur nicht das ich deinen Freund ficke?“ „Nimm deine verdammte Hand weg“, wiederhole ich und versuche ihm meinen Arm zu entreißen. Abel ist stärker als er aussieht. Er kommt mir näher. Ich rieche erneut Jeffs Parfüm gemischt mit dem Geruch seines eigenen Adrenalins. Ich stoße ihn angewidert von mir. Nun ist es amtlich. Ich kann ihn einfach nicht riechen. Abel strauchelt und geht fast zu Boden. Doch er fängt sich und hat erneut diesen Gesichtsausdruck, der mich jedes Mal wieder angewidert Schaudern lässt. Der Blonde streicht sich imaginären Staub von den Ärmeln und leckt sich die Lippen. „Kain hat Recht, du bist ein ziemlicher Kampfspatz. Dich zu ficken wäre sicher eine willkommene Abwechslung.“ „Wie bitte?“, frage ich angewidert, aber ungewöhnlich überrascht. Mit so einem Kommentar habe ich nicht gerechnet. „Du hast mich schon verstanden.“ „Du bist widerlich!“ „Man wird ja noch fantasieren dürfen.“ Erneut schleicht sich dieses Grinsen auf seine Lippen. „Du solltest aufpassen, dass dir Jeff wegen solcher dummen Kommentare nicht davonzwitschert.“ Abel macht einen Schritt auf mich zu und ich weiche keinen Millimeter zurück. „Würde er nicht. Er bekommt von mir all das, was er sich wünscht und was er braucht. Und vieles, vieles mehr.“ Ich schnaufe abwertend, als der Blonde den letzten Teil auch noch besonders betont. „Du wüsstest nicht mal, was Jeff braucht, wenn er es dir bunt aufmalt.“ „Aber du ja? Kaufst du ihm deshalb teure Sachen?“, fragt er weiter. Es ist so unfassbar absurd. Wieder dieses Thema. Wieder diese einfältige Eifersucht. „Er hatte Geburtstag, Abel. Was stört dich am meisten? Das bisschen Duftwasser oder die Tatsache, dass du für Jeff nur ein Lückenbüßer bist?“, stichele ich absichtlich weiter. Abels Blick wird noch eine Prise erzürnter. „Du, Mistkerl…“ Ich spüre seinen Atem fast auf meinem Gesicht, als er dichter zu mir aufschließt. Ich weiche nicht zurück. Es wäre nicht meine erste Prügelei und würde nicht meine letzte sein. Im Hintergrund schlägt laut eine Tür zu und bricht die Stimmung. Ich sehe, wie der Blick des anderen Mannes an mir vorbeigeht. Die Blondine aus dem Nachbarzimmer ist von der Toilette zurück und ich nutze die Ablenkung um endlich das Wohnheim zu verlassen. Diesmal hält er mich nicht zurück. Gut so, die Situation war kurz vorm eskalieren. Draußen beginnt es zu nieseln. Ich beiße noch immer die Zähne zusammen und bleibe einen Moment stehen. Der feine Regen kühlt mich ab. Langsam, aber ausreichend. „Hey, wo warst du so lange?“, begrüßt mich Jeff, als ich zurück in unser Zimmer komme. Er klingt ekelhaft fröhlich und sitzt noch immer in einem Berg von Kleidungsstücken. Er scheint kein Bisschen vorangekommen zu sein. Über die Gründe will ich lieber nicht nachdenken. „Spazieren…“, antworte ich lapidar. Ich streiche mir die Feuchtigkeit aus dem Gesicht, die der Nieselregen hinterlassen hat, werfe meine Jacke beiseite und lasse mich aufs Bett fallen. Mein Arm schmerzt und ich merke, wie die Wut zurückkehrt, die der Regen so schön weggespült hatte. „Zwei Stunden lang?“, fragt er argwöhnisch. Ich seufze leise und von Jeff unbemerkt. „Ich bin ausdauernd und der Campus ist interessanter als man denkt“, gebe ich monoton von mir, klinge wie ein Roboter und wenig glaubwürdig. Ich klopfe mein Kopfkissen zurecht, verschränke die Arme vor der Brust und schließe die Augen. Das Paradebeispiel für eine abweisende und genervte Haltung. Doch mein werter Mitbewohner scheint nicht gewillt meine Körpersprache zu lesen. „Ausdauernd?“, kichert er, “Und wo warst du?“ „Jeff!“, seufze seinen Namen so theatralisch, wie es sonst nur Jeff selbst schafft, „lass es.“ Ich komplettiere meinen Unwillen, in dem ich mich auf die Seite drehe und dem anderen meinen Rücken zuwende. Ihm gegenüber ist es nicht die feine englische Art, aber Jeff weiß, dass mit mir nicht immer gut Scones essen ist. Ich ziehe meine Kopfhörer unter dem Kissen hervor und drücke auf Play. Ja, Jeff weiß es. Doch im Moment nerve ich mich vor allem selbst. Habe ich das mit Abel provoziert? Vermutlich. Sollte ich Jeff zu Liebe versuchen mich mit Abel gut zu stellen? Vermutlich. Kann ich über meinen Schatten springen? Er ist groß. Und es stapeln sich meine Charakterschwächen zu kilometerhohen Hürden. Also vermutlich nicht. Ich kann Abel einfach nicht leiden und das wird sich sicher nicht mehr ändern. Ich sehne den Tag herbei, an dem Jeff erkennt, dass er ohne ihn und seine großspurigen Geschenke besser dran ist. Jeff hat jemanden Besseren als Abel verdient. Jemanden, der nicht mit den Fantasien herumläuft jemanden anderen zu ficken. Der Gedanke daran erfüllt mich erneut mit Ekel und Zorn. Wie konnte er mir das einfach so ins Gesicht sagen? Fassungslos drehe ich mich zurück auf den Rücken und werfe der Decke einen niederstreckenden Blick zu. Sie zeigt mir die kalte Schulter und ich kann es ihr nicht verübeln. Vielleicht ergibt sich für Jeff schnellstmöglich etwas mit dem netten IT-Fritzen unserer Uni. Laptop. Wer es glaubt wird selig. Jeffs Miniaturcomputer ist so alt, dass man ihn höchstens als Türstopper benutzen kann. Wenn Jake ihm etwas anderes erzählt und Jeff es glaubt, kann man meinen Kindheitsfreund maximale Naivität vorwerfen. Neugierig drehe ich mich wieder zurück und sehe zu meinem Mitbewohner, der genau in diesem Moment auf seinem Handy herumtippt. Weiß ich, was Jeff möchte und braucht? Ich bin mir nicht so sicher. Bis vor kurzem hatte ich nicht einmal gewusst, dass mein Freund am anderen Ufer plantscht. Trotz all der Jahre, die wir nun schon gemeinsam unterwegs sind. Was mache ich mir also vor? Ich bin nicht besser als Abel. Im Grunde erkaufe auch ich mir Jeffs Zuneigung, in dem ich ihm ab und an teure Geschenke mache. Wohlwissend, dass er sich darüber freut und mir Fehtritte verzeiht. Den Hinweis mit dem Parfüm hatte mir Lena gesteckt. Ich bin nicht mal selbst draufgekommen. Auch ich habe seine Loyalität und Freundschaft nicht verdient. Als Jeff aufsieht und bemerkt, dass ich ihn beobachte, lächelt er. Ich erwidere es und er widmet sich wieder dem Wäscheberg. Wann er wohl merkt, dass ich es nicht Wert bin? Mit diesem Gedanken schlafe ich ein. Es ist nicht das erste Mal. Die Klausur am nächsten Tag absolviere ich auch ohne die gestrigen Panikmaterialien. Es gab keine Aufgabe, die ich nicht zu beantworten wusste. Keine, die mich halbwegs ins Schwitzen brachte. Selbst Shari berichtet mir am Abend, dass sie ihre Biochemieklausur ohne weitere Probleme gemeistert hat. Sie bedankt sich ausschweifend, während ich weiter an den indischen Leckereien knabbere und sicher bin, dass sie auch ohne meine Hilfe eine sehr gute Leistung vollbracht hätte. Manchmal ist es einfach eine Sicherheit zu wissen, dass man mehr als das Nötige getan hat. Das Wochenende nutze ich um die Notizen mit der Klausur aus dem vorigen Semester durchzusehen. Mein Eifer gerät ins Wanken, als mich der Hefterbesitzer am Nachmittag mit Fotos seiner Trainingsfortschritte traktiert und daraus mit Emojis eine witzige Rätselgeschichte macht. Anscheinend ist Kain nicht ausgelastet. Sie endet mit einem sehr zweideutigen Angebot und ich bin für kurze Zeit tatsächlich versucht ihm einen Besuch abzustatten. Ich bleibe hart. Das Plutonit lässt grüßen. Doch Kain ist nicht meine einzige Ablenkung. Auch Lena scheint zu Hause nicht zu wissen, was sie mit ihrem Wochenende anfangen soll und startet einen weiteren Versuch mich von dem Konzert zu überzeugen. Ich bekomme schon bei dem Gedanken daran Ohrenbluten und bin zum ersten Mal glücklich über die Fülle an ablehnenden Emojis, die mein Handy zu bieten hat. Neben dem Schwarzhaarigen und meiner Schwestern kämpfe ich zur selben Zeit noch mit meinem Zimmerkumpan. Jeffs Begeisterung geht mir auf den Geist. Das gesamte Wochenende hüpft er aufgedreht durch das Zimmer, packt seinen Koffer mehr als drei Mal neu. Immer wieder anders. Er berichtet mir von den Dingen, die er unternehmen will und präsentiert mir dabei eine Mischung aus klischeehaft schnulzig bis halsbrecherisch draufgängerisch. Dabei sind ein Ritt auf einem weißen Schimmel am Strand und das Tauchen mit Haien, die garantiert nicht so vegetarisch sind, wie in Findet Nemo. Jeff klingt zu Beginn total begeistert und überzeugt. Ich bin beeindruckt. Nur bin ich es nicht lange. Im nächsten Augenblick ist er sich so unsicher, dass ich mich gezwungen fühle ihm zu versichern, dass das Tauchen mit Haien gar nicht unsicher ist. Er macht mich wahnsinnig. Als wie uns am Montagmorgen voneinander verabschieden, habe ich das Gefühl in den letzten zwei Tagen nichts geschafft zu haben. Zu dem wiederholt Jeff zum hundertsten Mal, dass ich unbedingt an Ben denken muss. Mittlerweile bin ich so weit, dass ich Jeff nur noch antworte, dass sein Ficus vorzüglich zu einem marinierten Steak passen würde. Vielleicht auch zu Fisch. Wahlweise gebe ich ihm auch den Hinweis, dass er das Zierbäumchen lieber mitnehmen sollte, weil es im Falle eines Flugzeugabsturzes auf einer einsamen Insel die einzige Chance auf ein Floß wäre. Er will es nicht hören. Am nächsten Abend schubse ich selbst ein paar Klamotten in die Reisetasche und lasse mich ins Bett fallen. Morgen die Klausur und danach die Fahrt nach Hause. 3 Wochen Familie. Ich führe den Gedanken nicht fort. Ich will es nicht. Aus vielerlei Gründen. Kurz darauf erreichen mich erste Urlaubsgrüße. Sie sind gut gelandet Sie sind aufgeregt. Alles ist toll. Jeff schafft es nicht, sich eine weitere Ermahnung zum Thema Ben zu verkneifen. Unwillkürlich schaue ich zu dem Ficus, der allein bei der gedanklichen Erwähnung seines Papas freudig zu zittern scheint. Gruselig. Nachdem ich das Fenster geschlossen habe, geht es mir besser und ich widme mich den Fotos. Die beiden Blonden am Flughafen. Weit und breit keine Palme, weil es noch unser Regionaler ist. Die nächsten 5 Bilder zeigen das Innere des Flugzeugs, das Boardessen, einen Flugbegleiter und die Toilettenkabine. Jeffs quirlige Freude ist unübertroffen und ich wünschte er würde mir solchen Fotosafaris ersparen. Dennoch tippe ich das Nächste an und werde mit einem sonnigen Palmenfoto belohnt, gefolgt von klarem türkisfarbenen Wasser und Ausschnitten aus der Unterkunft. Eine kleine Holzhütte mitten auf dem Wasser. Eine Hängematte und frisches Obst. Bei dem Anblick wird man wirklich neidisch. Doch, wenn ich an die Hitze denke, vergeht mir der Gedanke wieder. Damals in Italien kam ich bei den Temperaturen auch an meine Grenzen. Die Toskana bei 30°C im Schatten ist schon eine Herausforderung. Vor allem, wenn man ringsum keinen Schatten findet. Zum Schluss starre ich auf ein Gute-Laune-Pärchenbild. Jeffs Augen sind nicht zu erkennen, denn er trägt eine Sonnenbrille. Auch Abels Gesicht wird von großen abgedunkelten Gläsern dominiert und doch fällt mir bei ihm wieder dieses seltsame Grinsen auf. Eine Mischung aus perversen Grienen und dümmlichen Feixen. In mir regt sich der Wunsch ihm dieses Grinsen aus dem Gesicht zu polieren. Ein letzter Blick, dann schiebe ich das Telefon unter das Kopfkissen und versuche ein weiteres Mal einzuschlafen. Keine Chance. Wenn ich nicht über die anstehende Klausur nachdenke, gebe ich mich erneut der Inneren Diskussion hin, ob ich Abel gegenüber nicht einfach netter sein sollte. Das Resultat ist eine schlafarme Nacht und die Gewissheit, dass mein Schatten bis nach Afrika reicht und meine Charakterschwächen nur noch mit einem guten Hypnotiseur zu überwinden sind. Kurz, es gibt keine Chance darauf, dass sich meine Einstellung gegenüber dem Blonden ändert. Ich bin als erstes im Hörsaal und der Erste, der die Klausur ausgefüllt wieder abgibt. Ich schultere meine Tasche und stiefele zum Parkplatz. Der Schwarzhaarige wartet bereits auf mich und lehnt mit verschränkten Armen gegen Jeffs Auto. Wieder erkenne ich bei ihm Anspannung. Mit etwas Abstand bleibe ich stehen und sehe einen Moment lang dabei zu, wie Kains Hand fast behutsam über seinen Oberarm streicht. Es ist in den letzten Tagen so warm geworden, dass er nur ein T-Shirt trägt. Er ist in Gedanken. Seine Finger gleiten über den definierten Muskel und über die glatte Haut. Ich weiß genau, wie sie sich anfühlt und der Gedanken daran lässt mein Inneres erregt beben. Bevor ich die letzten Meter überwinde, atme ich tief durch und verbanne die Gedanken an Kains Körper, den Sex und an alles anderen in eine hintere Ecke meines Kopfes. Weder für die Fahrt noch für die kommenden Wochen sind sie zweckmäßig. Ich brauche insgesamt drei Atemanläufe um es wenigstens so weit zu vergraben, dass sich das intensive Kribbeln in meinen Gliedern auflöst. Bis ich bei Kain ankomme, halte ich die Luft an, was er definitiv bemerkt, aber zum Glück nicht kommentiert. „Hey, wie lief die Klausur?“, fragt er lächelnd und deutet mir an, dass ich ihm meine Tasche geben soll. Ich reiche sie ihm, während er den Kofferraum öffnet und alles ordentlich darin verstaut. „War okay. Eigentlich waren nur drei Fragen neu und der Rest waren eins zu eins, wie in deinen Aufzeichnungen.“ Augenscheinlich sind die Dozenten unserer Uni wenig einfallsreich oder einfach nur faul. „Willst du noch eine rauchen?“ „Nein.“ Auch ich bin kein Fan davon, wenn es in so einem kleinen Raum penetrant nach Zigaretten stinkt. Als ich die Wagentür öffne, strömt mir der künstliche Geruch von Zitrone entgegen. Ich schubse einige Krümel beiseite und lasse mich auf den Beifahrersitz fallen. Danach nehme ich meinen Laptop aus dem Rucksack und lege ihn auf meinem Schoss ab. „Ist das dein Ernst?“ Kain lässt sich neben mir nieder. „Was?“ Der Schwarzhaarige deutet mit hochgezogener Augenbraue auf meinen Computer. „Wir sitzen jetzt mindestens 5 Stunden in dieser Blechkiste zusammen fest und du willst arbeiten?“ Der Schwarzhaarige klingt übertrieben verständnislos. Doch ich habe keines falls Lust mit ihm Scharade zuspielen oder eine Ode an den Busfahrer trällern. Demonstrativ fahre ich meinen Laptop hoch, während Kain seufzend sein lautendes Telefon aus der Hosentasche kramt. Er schenkt ihm einen kurzen Blick und er legt es ohne ranzugehen kopfüber in der Mittelkonsole ab. „Willst du nicht rangehen?", frage ich und blicke auf das noch immer lustig vibrierende Gerät. „Nein.“ „Warum?“ „Darum.“ „Ist irgendwas?“ „Nein, nichts" Die Ausmaße dieses Nichts kann ich deutlich an seinem Gesicht ablesen. „Das nichts also. Deine Eltern?", hake ich nach. Kain gibt erneut ein undefiniertes Geräusch von sich. Eine Mischung aus Raunen, Murren und Seufzen. Er fährt sich mit der flachen Hand über den Mund und scheint eher unwillig mit mir darüber reden zu wollen. „Nicht meine Eltern. Es ist Merena." Bei der Erwähnung der Rothaarige merke ich sofort, wie meine Kommunikationsbereitschaft absackt. Symptomatisch weiche ich seinem Blick aus und versuche so jegliches Interesse auf eine Nulllinie zu drücken. Mit wenig Erfolg. „Sie will etwas mit mir besprechen. Aber es ist nichts weiter“, beschwichtigt er. „Dann hättest du ja rangehen können“, kommentiere ich ungewollt zickig und kassiere einen verständnislosen Blick. Heute bekommen wir keine Preise für gepflegte Konversation. „Hätte ich.“ „Okay.“ "Gut!" "Gut!", knurre ich streitlustig zurück. „Wird das jetzt bei jedem Gespräch so ablaufen? Dann können wir uns das reden echt sparen“, erwidert er ebenso angriffslustig. Bei der Erwähnung der Rothaarige setzt bei mir der Verstand aus. Jedes Mal wieder. Auch jetzt. „Na ja, wir können stattdessen auch für einen Quickie rechts ranfahren!“, schlage ich vor. Irgendwas in meinem Inneren schreit danach Kain zu verdeutlichen, dass er sich dieses Miststück in keiner Weise warm halten muss. „Und wie lange willst du für die Strecke brauchen, wenn wir jedes Mal, wenn sich ein Gespräch zwischen uns anbahnt, anhalten und ficken?“ „Vorausgesetzt, wir nehmen den Sinn von Quickie ernst…“ „Du machst mich fertig. Weißt du das?“, kommentiert er ungeduldig und schnallt sich an. Er fordert mich ebenfalls dazu auf. Ich gehorche und vertiefe mich in mein Skript. „Du bist wirklich ein lausiger Beifahrer!“, murrt er mich nach einer Weile von der Seite an. Als ich aufsehe, richtet sich Kains Blick stur auf die Straße. Doch je länger ich ihn anschaue, umso öfter schielen seine dunklen Augen seitlich zu mir bis er kurz komplett zu mir sieht. „Was? Du bist wirklich ein grausiger Beifahrer. Ich schlafe gleich ein“, seufzt er mir entgegen und streckt seine Hand nach dem Radio aus. Er schaltet es ein. Als er seine Finger wegnimmt, greife ich direkt zu dem Regler und stelle es wieder ab. Mit lauter Musik kann ich nicht arbeiten. Jedenfalls dann nicht, wenn sie nicht aus meinen Kopfhörer kommt. „Okay, wenn ich nicht mal Musik hören darf, dann rede mit mir.“ „Jeff möchte nicht, dass ich ihn vollquatsche“, kommentiere ich ungerührt. „Ich bin nicht Jeff, falls dir das noch nicht aufgefallen ist“, knurrt mir Kain entgegen und ich komme nicht umher verwundert aufzublicken. Was war das denn? „Ist mir aufgefallen, aber auch nur, weil du grundsätzlich 15 km/h zu schnell fährst. Ist dir das aufgefallen?“ „Sagt mir derjenige, der nicht einmal einen Führerschein hat.“ „Verklag mich“, nutze ich Kains Spruch diesmal für mich und ignoriere seine Grimasse, die mich tonlos nach äfft. Ich sehe zurück auf meinen Laptop und bin bei der Formulierung noch kein Stück weitergekommen. „Warum eigentlich nicht?“, fragt er Kain nach kurzer Stille. „Warum, was?“, frage ich abgelenkt und sehe nicht einmal auf. „Wieso sind deine Augen grün und blau! Na, was wohl? Warum hast du keinen Führerschein?“ „Ich habe ihn nicht geschafft. Ganz einfach. Und ich finde Autofahren gruselig“, erkläre ich lapidar. Hinter dem Steuer fühle ich mich nicht wohl. Meine praktischen Fahrstunden waren der blanke Horror und das lag vor allem an der tiefsitzenden Angst irgendwas anzufahren. „Das passt so gar nicht zu dir, Kampfspatz“, kommentiert Kain skeptisch. Ich zucke nur mit den Schultern und versuche die Gefühle zu verdrängen, die langsam, aber sicher meine Gedanken verdunkeln. Kain weiß, dass meine Augenfarbe grünblau ist. Verspätet, aber nun echot der Fakt durch meinen Kopf und verursacht mir ein seltsames Kribbeln in den Zehenspitzen. „Und das passt auch nicht zu dir“, kommentiert Kain die untypische Nichtreaktion auf die Verwendung einer seiner Kosenamen für mich. „Quickie?“, frage ich statt ihm eine ordentliche Antwort zu geben und erreiche das, was ich will. Kain seufzt. Dennoch schalte ich nach einem Augenblick das Radio für ihn ein. Es spielt eine interessante Version von ´I follow river´ interpretiert von Triggerfinger. ´ I follow you. Dark room honey, I follow you´. „Du willst wirklich reden?“, frage ich, „Ich weiß von Sinas Angebot.“ Kains Daumen, der eben noch den Takt des Lieder auf dem Lenkrad mitgetippt hat, erstarrt. „Tatsächlich?“, entgegnet er ruhig, vollkommen unaufgeregt und schaut weiterhin auf die Fahrbahn. Seine Reaktion irritiert mich. „Ja, sie war noch immer Feuer und Flamme für die Idee“, stichele ich. „Ist sie das?“ Wieder so eine seltsame Reaktion. Doch diesmal schaut er kurz zur Seite. „Ich frage mich ja nur, warum du es nicht erwähnt hast. Sie übrigens auch.“ Fahrig streiche ich mir mit der Hand über den Bauch. Ich bekomme Hunger und das Bedürfnis nach einer Zigarette wird immer dringlicher. „Willst du es denn?“, fragt er mit eigenartig ruhiger Schärfe, die mich aus der Bahn wirft. Überrascht sehe ich zu ihm, doch Kains Blick ruht auf der Straße. Ich weiß nicht, was ich ihm entgegnen soll und das offenbart das viel größere Problem. Ich weiß nicht einmal, warum ich es angesprochen habe. Was habe ich erwartet? Sina gegenüber habe ich es bereits verneint. Hat mir das nicht gereicht? „Ich brauche eine Zigarette“, sage ich statt ihm zu antworten. „Gut, ich nehme die nächste Ausfahrt.“ Kain streicht sich durch die schwarzen Haare. An der Reststatte schwingt Kain seine langen Beine aus dem Wagen und steuert geradewegs die Toiletten an. Ich bleibe noch einen Augenblick sitzen und krieche danach mehr schlecht als recht auf den Asphalt. Meine Knochen knacken. Laut und unheimlich. Draußen greife ich mir in den Nacken, massiere unbeholfen die harte Stelle und strecke danach meine Arme in die Luft. Diesmal knackt es in meinem Nacken. Es ist kühl, aber die frische Luft fühlt sich gut an. Die Stimmung eben im Auto war seltsam gewesen. Wieso hatte er so eigenartig verhalten? Ich lehne mich gegen das Auto und ziehe mir eine Kippe aus der Jackentasche. Nach kurzem Zögern stecke ich sie mir an und nehme einen tiefen Zug. Vermutlich wird es ein der Letzten sein für die nächsten drei Wochen. Fast wehmütig starre ich die Glut an und versuche das rauchige Kitzeln auf meiner Zunge zu genießen. Es funktioniert nicht. Ich sollte aufhören. Die Stimme meiner Mutter echot passend dazu durch meinen Kopf, wie ein zustimmendes Mahnen. Fast trotzig nehme ich einen weiteren tiefen Zug und blase den Rauch gen Himmel. Als Kain zurückkommt, rauche ich die zweite letzte Zigarette. In seinen Händen hält er einen Pappbecher mit Kaffee und irgendwas Buntes. „Hier!“ Er wirft es mir entgegen. Ich fange es, spüre Kälte und starre verwundert auf ein Eis. „Jeff meinte, so kann ich dich bei Laune halten.“ Als müsste man mich besänftigen, wie ein kleines Kind. Mir fallen da noch ganz andere Dinge ein, die mich bei Laune halten würde. Eis ist aber auch gut. Kain grinst und kramt im Kofferraum nach einer Flasche Wasser. Zusammen mit den Getränken gesellt er sich zu mir. Das Wasser stellt er auf dem Autodach ab. Ich lasse den Stummel der Zigarette zu Boden fallen und fummele danach das Eis aus der Packung. Das Plastik werfe ich, an Kain vorbei Richtung Müllereimer. Wenige Zentimeter davor fällt es zu Boden. Kain seufzt, bückt sich und sieht mich verärgert an. „Umweltverschmutzer“, kommentiert er gerechtfertigt. Ich schiebe mir demonstrativ das zylindrische Wassereis zwischen die Lippen, was Kain tatsächlich kurz stocken lässt. Was für ein Klischee. Ich widere mich gerade selbst an. Er vollführt ein beeindruckendes Augenkreisen und lässt das Papier im Mülleimer verschwinden. Danach greift er seinen Kaffee, pustet den Dampf beiseite und nimmt einen winzigen Schluck. „Wow, der Kaffee hat die Konsistenz von Teer.“ Kain verzieht das Gesicht und nimmt darauf gleich einen weiteren Schluck. So schlimm kann es nicht sein. Ich sehe amüsiert dabei zu, wie er danach nochmal extrem das Gesicht verzieht und irgendwas von versuchtem Mord und Säureanschlag murmelt. Mein Eis ist definitiv besser. Ich kann nicht klagen und genieße es ohne verbale Ausfälle. Auch Kain scheint sich langsam, aber sicher an sein Getränk zu gewöhnen. Er hört auf zu fluchen und als ich zu ihm sehe, blickt er mich an. Irgendwas liegt ihm auf der Zunge. „Wegen Sina…“, beginnt Kain. „Sie ist nicht mein Typ… Also… lass es gut sein“, sage ich unterbrechend und seltsam zusammengestottert. Ich hoffe, dass Kain damit das Thema ad acta legt. Denn ich bin mir immer noch nicht sicher, warum ich es eigentlich angesprochen habe. Welche Reaktion habe ich von ihm erwartet? Dass er sich gegen die Stirn schlägt und lachend bekennt, dass er es vergessen hatte? Oder dass er peinlich berührt, gesteht, dass er es für ihn nicht in Frage kommt? Sowas lächerliches. Kurz spähe ich in Kains Richtung. Noch immer sieht er mich. Forschend und ergründend. Ich frage mich wieder, ob er es schaffen wird mich zu durchschauen. Oder ob er nicht längst dazu in der Lage ist. „Was?“, pöbele ich ihm abwehrend entgegen. „Nichts.“ Kain widmet sich schnell seinem Kaffee und schafft es nicht sich ein deutliches Grinsen zu verkneifen. Kaffee und Eis vertilgen wir schweigend. Die restlichen Kilometer der Fahrt verlaufen trotz alledem harmonisch. Das Radio spielt leise Musik, während wir uns über das Essen in der Mensa, die Snackautomaten, die Eigenheiten mancher Dozenten und die Spielleistung unserer unieigenen Footballmannschaft unterhalten. Fast normal. Fast angenehm. Kain überlegt im kommenden Semester ins Footballtraining einzusteigen oder mit Rugby zu beginnen. Er ist sich uneins. Ei ist Ei. Ich frage mich nur, wann er dafür noch Zeit finden will. Andererseits kommen seine Muskeln nicht von irgendwoher. Wie oft er wohl Zeit im Fitnessstudio verbringt? Ich bin versucht ihn zu fragen, doch dann merke ich, dass wir am Eingangsschild meines Heimatortes vorbeifahren. Es ist keine große Stadt. Aber weitläufig. Sehr grün und familienfreundlich. Eher ländlich als städtisch. Doch gerade die Anonymität einer richtigen Stadt hat mir hier immer gefehlt. Während ich Kain in die richtige Straße lotse, spüre ich, wie sich langsam, aber sicher Unruhe in mir ausbreitet. Ich weiß nicht mal, ob einer da ist. Ich habe weder gefragt, noch habe ich mein Kommen vorher angekündigt. „Hallo?“, rufe ich in das ruhig wirkende Haus meiner Familie. Es dauert nicht lange und meine Mutter steckt ihren Kopf durch die Tür zur Küche. „Robin?“, fragt sie verwundert und beginnt zu lächeln, als sie merkt, dass ich keine Fata Morgana bin. Mit einem Geschirrtuch in der Hand kommt sie auf mich zu. Ihre Arme schließen sich fest um mich. Sie riecht nach Spülmittel und einem von Hauch Zimt. „Hey“, murmele ich, puste ein paar ihrer hellbraunen Haare davon, die mir im Gesicht rumkitzeln. „Mit dir haben wir noch gar nicht gerechnet. Wie schön.“ Sie drückt mich ein weiteres Mal an sich und entdeckt dann Kain, der brav wartend hinter mir steht. „Oh, Hallo“, sagt sie freundlich lächelnd. „Hi, ich bin Kain, der neue Chauffeur.“ Der Schwarzhaarige nimmt mir die Erklärung vor weg, reicht meiner Mutter die Hand. „Chauffeur? Herrje…“, kichert sie und erwidert die dargebotenen Begrüßung. Ich sehe mich genötigt den Schwarzhaarigen zusätzlich noch als einen Kommilitonen vorzustellen. „Und wo habt ihr Jeff gelassen?“, fragt sie hinterher und lädt Kain ins Haus ein. „Der brät irgendwo in der Südsee“, erkläre ich und halte nicht hinterm Berg, wie sehr es mich nervt. „Ich würde auch lieber in die Südsee fahren, als mit dir stundenlang im Auto zu sitzen.“ Die klare, ungewöhnlich tiefe Stimme meiner Schwester dringt uns von der Treppe entgegen. Den Kommentar begegne ich nur mit einem trägen Brauenzucken, während sie energisch die Stufen runter tänzelt. Ihre schulterlangen dunkelblonden Haare hat sie zu einem kurzen Pferdeschwanz zusammen gebunden. „Sei nicht so gemein“, mahnt meine Mutter und streichelt mir danach besänftigend durchs Haar. So, als würde sie befürchten, dass bereits jetzt der große Streit ausbricht. Ich bin zu müde und gelangweilt um darauf einzugehen. Lena wartet nicht bis ich meine Jacke vollständig ausgezogen habe, sondern empfängt mich mit einer enthusiastischen Begrüßungsumarmung bei der praktischerweise meine Arme noch in den Ärmeln gefangen bleiben. Ich kann mich nicht wehren. Lena ist schlank, aber trainiert und hat eine erstaunliche Kraft. Sehr zu meinem Leidwesen. „Lena, meine Schwester“, sage ich gequält in Kains Richtung und winde mich aus der geschwisterlichen Umklammerung. „Hi. Kain.“ Er reicht ihr die Hand. Sein Blick ist fragend. Ich weiß warum. Wir sehen uns nicht sehr ähnlich. Was größtenteils daran liegt, dass wir nur Halbgeschwister sind. Wir haben beide einen anderen Vater und schlagen jeweils nach diesen. „Hi. Was macht Jeff in der Südsee?“ „Liebesurlaub“ „Na, wird auch Zeit, dass er endlich von dir weg kommt“, plaudert Lena freimütig. Ich will sie erwürgen. Meine Mutter erkundigt sich, aus der Küche rufend nach unseren Nahrungsbedürfnissen und schlägt Kaffee, Tee und Kekse vor. Lena begeistern die Kekse, Kain der Kaffee und ich sehne mich nach einer Zigarette. „Wie war das gemeint?“, fragt Kain verspätet auf Lenas Andeutung und sieht zu meiner kessen, freudig nach Gebäck klatschenden Schwester. „Lena ist der Überzeugung, dass Jeff in mich verliebt sein muss oder Masochist ist, weil sie sich partout nicht erklären kann, wie er es schon so lange mit mir aushält“, komme ich ihr zuvor. „Es muss wahre Liebe sein“, flötet uns Lena entgegen und verschwindet in die Küche. Ich verdrehe die Augen. Jedes Mal wieder muss ich mir diese alte Leier anhören. Jedes Mal wieder geht es mir tierisch auf die Nerven. „Sie hat zu viel Fantasie“, kommentiere ich gelangweilt und hänge meine Jacke endlich an der Garderobe auf. Ich nehme auch Kains und platziere sie über meiner. „Scheint wohl in der Familie zu liegen.“ Ich sehe zu Kain, der sich neugierig umschaut. Ohne weitere Erklärungen greife ich meine Tasche und gehe nach oben. Ich höre, wie mir der Schwarzhaarige folgt und drehe mich nicht zu ihm um, sage auch nicht, dass er es nicht soll. Meine Zimmertür ist offen. Die Rollläden sind unten, so dass nur wenig Licht in den Raum dringt. Ich ignoriere es und gehe weiter. Der Hauptteil meines Zimmers ist ein Anbau über der Garage. Davor befindet sich ein kleiner Raum, den ich als Arbeitsplatz benutze. Er hat einen großen Schreibtisch und einen direkten Übergang zu Lenas Ankleidezimmer und zu einem kleinen Bad. Ich werfe meine Tasche aufs Bett und öffne die Rollläden vollständig. Ebenso, wie eines der Fenster. Kain folgt mir in den Hauptraum und bleibt neben einem der Bücherregale stehen. „Du bist ein Verfechter des Minimalismus, oder?“, sagt er und sieht sich in dem spärlich eingerichteten Zimmer um. Ich selbst lasse meinen Blick schweifen. Vieles habe ich bei meinem Auszug mit ins Wohnheim genommen. Wirklich viel besessen habe ich jedoch nie. „Ich suche nur nicht gern“, erkläre ich ruhig und spüre, wie mich Müdigkeit überkommt. Das Sitzen und die Fahrt waren anstrengend. Die letzten Wochen waren es. Außerdem spüre ich, wie jedes Mal eine innere Anspannung, wenn ich nach Hause komme. „Ihr seht euch gar nicht ähnlich. Du und Lena“, bemerkt er beiläufig, was ich vorhin schon erahnt habe. Mit dem Zeigefinger kippt er interessiert einige Bücher nach vorn und dann zu mir. „Wir haben nicht denselben Vater“, sage ich. Ich öffne die Tasche und lege meine Laptop und einige Klamotten zur Seite. Ich bin müde. „Geht’s dir gut?“, fragt er und setzt sich neben meine Tasche aufs Bett. „Sicher. Warum fragst du?“ Kain streckt seine Hand nach mir aus und zieht mich am Hosenbund zu sich heran. Ich wehre mich nicht gegen die Annäherung des anderen Mannes. Auch nicht, als seine Finger nicht aus meinem Hosenbund verschwinden. Meine Haut beginnt zu prickeln und er verhindert, dass ich mich wieder von ihm entferne. „Du wirkst angespannt und von der Fahrt muss ich nicht anfangen, oder?“ Nein, muss er nicht. Ich weiß selbst nicht, was zwischendurch mit mir los war. „Ich bin nur müde. Nachwirkungen der ganzen Lernerei“, sage ich fest, aber ausweichend. Auch, wenn es stimmt. Es ist nicht der eigentliche Grund. Kain nickt und ich spüre, wie sich seine warme Hand einen Weg unter meinen Pullover sucht. Meine Hand legt sich auf seinen Unterarm ohne ihn daran zu hindern. Auch er sieht müde und geschafft aus. Er streichelt sich über meinen Bauch. Immer höher. Bis ich ihn stoppe. „Nicht.“ Es ist mir tatsächlich unangenehm bei dem Gedanken, daran dass meine Mutter und Lena unten rumlaufen. Wie zu Bestätigung ruft sie nach uns. Kain zieht seine Hand nicht sofort zurück, sondern lässt sie an meiner Hüfte verweilen und bettet einen Kuss auf den Stoff des Pullovers an der Stelle meines Bauchnabels. Seine Augen sind geschlossen. Meine Mutter ruft erneut. Lena vertilgt bereits alle Kekse. Mich dürstet es nach einer Zigarette. Ich sollte dringend wieder auf Kaugummis umsteigen. Oder Gummibärchen. Wie brave Lemminge traben wir die Treppe hinunter. Im Flur wartet meine Mutter und trocknet per Hand einen Glasteller ab. Sie hat das gute Geschirr herausgeholt. „Ich komme gleich nach“, sage ich, deute zur Seite und biege zur Toilette ab. Kain nickt und folgt meiner Mutter ins Wohnzimmer. Ich beuge mich über das Waschbecken und betätige den Hahn. Die Kühle des Wassers ist hilfreich. Eine volle Ladung platsche ich mir ins Gesicht und streiche mir etwas Feuchtigkeit in den Nacken. Ich sehe eine Weile dabei zu, wie abperlende Tropfen über die Keramik in den Abfluss verschwinden. Ich höre meine Mutter und Lena lachen. Ebenso Kain. Die dunkle Nuance seiner Stimme hebt sich deutlich von den beiden Frauen ab und ist mir in diesem Moment vertrauter, als alles andere. Es ist eigenartig. Was Kain ihnen wohl erzählt? Die Neugier in meinem Inneren beginnt zu explodieren. Langsam, aber stetig. Das Handtuch, an dem ich versuche meine Hände zu trocknen, ist nass. Ich streiche mir mit der Restfeuchte meiner Hände die Haare zurück und krame im Flurschrank nach einem weniger schmuddeligen Handtuch. Ich horche auf, als ich die Tür höre und wie etwas Massives auf den Boden aufschlägt. Dasselbe kippt wenig später vollends um und verursacht ein weiteres lautes Geräusch. Ich beuge mich aus dem Türrahmen zur Quelle der Geräusche und sehe Hendrik, der seine schwere Arbeitstasche wieder aufrichtet und leise murmelnd den Tag verflucht. „Hallo Hendrik“, sage ich aus dem Badezimmer heraus, hänge das Handtuch zurück nachdem meine Hände endlich trocken sind. „Robin?“ Mein Stiefvater kommt auf mich zu. Eine kurze Umarmung. Ein ausweichendes Lächeln. Wir erkundigen uns der Form halber, nach dem gegenseitigen Befinden. Verwenden beide denselben Wortlaut, als wir uns erklären, dass alles gut ist. Nur ein kleinen wenig Stress, aber das seien wir gewöhnt. Hendrik ist Ingenieur bei einer großen Automobilfirma und betreut etliche Projekte. Ich weiß nicht, ob er jemals keinen Stress hatte. Erneut dringt lautes Gelächter aus dem Wohnzimmer. Verwundert schaut er zu mir und kräuselt seine Stirn. „Gehört der große Kerl zu dir?“ Die Vorstellung einer wie Kain könnte sich an seine kleine Tochter ran machen, lässt ihn innerlich brodeln. „Ja, keine Sorge. Deine Tochter ist schlau genug, euch ihren Freund erst dann vorzustellen, wenn sie unübersehbar schwanger ist.“ „Nicht witzig.“ Sehe ich anders. Hendriks Miene versteinert sich. Er hat es nicht leicht mit mir. Nie gehabt. „Kain hat mich gefahren. Er ist ein Kommilitone“, gebe ich als Erklärung von mir und sehen, wie sich sein Gesicht wieder entspannt. „Das ist doch, aber Jeffs Auto in der Auffahrt, oder?“, fragt er. Natürlich weiß er, was Jeff für ein Auto fährt. Ich würde höchstwahrscheinlich stundenlang im Parkhaus danach suchen. Bis gestern wusste ich nicht mal, welche Farbe es hat. Ich weiß es auch jetzt schon nicht mehr. „Ja, er hat es uns geliehen und holt sich irgendwo in der Südsee einen Sonnenbrand.“ Gemeinsam gehen wir zu den anderen ins Wohnzimmer. „Kains Studiengang viel cooler als deiner...", merkt Lena trocken an, noch bevor ich mich richtig hingesetzt habe. Sie entlockt dem anderen Mann mit dem augenscheinlich cooleren Studiengang ein herzhaftes Lachen. „Klar, wenn man drauf steht nutzlosen Organismen beim Wachsen zu zusehen, dann ist das total cool...", kommentiere ich exorbitant abwertend, greife nach einem der Kekse und spüre direkt danach einen leichten Rüffel am Hinterkopf. Ich drehe mich empört zu meiner Mutter um. „Hey!!“, beschwere ich mich lauthals, aber zwecklos. „Dass sahst du damals bei deinem ersten Hefeteig anders.“ Boden öffne dich. Sofort. Bitte. Ich werde nicht erhört. Kain lacht erneut, genauso, wie meine kleine Schwester. Mir wird klar, dass ich in dieser Konstellation immer den Kürzeren ziehen werde. Alle auf mich, kommt schon ich halte es aus. Ein leichtes, provozierendes Knurren kann ich mir trotzdem nicht verkneifen. Es folgt eine weitere Kopfnuss meiner Mutter, gefolgt von einen sanften Kuss, der sich gegen meine Schläfe drückt. Diese liebevolle Geste ist ein wichtiger Bestandteil ihrer Liebe zu mir. Es ist Beruhigung und Mahnung zugleich. Unwillkürlich sehe ich zu dem Schwarzhaarigen. Auch er vermittelt mir von Zeit zu Zeit diese sonderbare Form der Zuneigung. Nur etwas anders. Wahrscheinlich macht er es unbewusst. Vielleicht nicht mal gewollt. Mich bringt es zusätzlich durcheinander. „Und Kain, fahren Sie noch weiter?“, fragt Hendrik, während er dankend eine Tasse Kaffee entgegen nimmt und seine Frau begrüßt. „Ja, meine Eltern wohnen noch etwa 3 Stunden von hier entfernt.“ Kain deutet in mehrere Richtungen, weil er einfach nicht weiß, wo Norden, Süden oder Westen ist. Ich bin mir nicht einmal sicher, wo genau er nachher hinmuss. Nur die Lüge im Zusammenhang mit seinen Eltern fällt mir auf. „Oh, Sie sollten nach so einer langen Strecke nicht mehr fahren. Wir haben ein gemütliches Gästezimmer, welches Sie heute Nacht gern nutzen können“, schaltet sich besorgt meine Mutter ein, sieht lächelnd zu Kain und danach zu mir. Auch Kains braune Augen suchen mich, so als würde er von mir eine Bestätigung hören wollen. Ich zucke nur zaghaft mit den Schultern und kaue auf dem Haferkeks herum. „Ähm...ja, gern. Vielen Dank.“ Er entspannt sich sichtbar, als die Option Weiterfahren wegfällt. Nach einer kurzen Inspektion über die Zustände meiner universitären Leistungen, Vorkommnisse und der letzten Klausuren, wird Kain gnadenlos als Vergleichsprobe herangezogen. Wenigstens teilweise bestätigt der Schwarzhaarige meine Versionen, lächelt und fügt sich unbeschwert in jede Unterhaltung ein. Selbst Hendriks kritische Fragen nach Jobaussichten und Möglichkeiten meistert er souverän und ich bin damit zufrieden, dass dieses Mal nicht ich zum Verhör geladen bin. Zudem ist es eine gute, unauffällige Chance etwas über Kain zu erfahren. Und es ist einiges. Er hat schon Pläne für seine Abschlussarbeit und verhandelt seit einiger Zeit mit einer Firma um einen bezahlten Praktikumsplatz. Solche Äußerungen höre ich zum ersten Mal. Als sich Hendrik erkundigt, wie es bei mir aussieht, verweise ich auf die zwei Semester unterschied, die zwischen mir und Kain herrschen. Für ihn ist es kein Argument und mir fehlt die Muße, um mit ihm darüber zu streiten. Da keiner aus meiner Familie weiß, dass ich nebenbei Bücher schreibe, ist die Diskussion über den finanziellen Zusatzverdienst und die damit fehlende Studienzeit immer groß. Sie befürchten, dass ich das Studium dadurch irgendwann vernachlässige. Ich korrigiere es nicht und kläre auch nicht auf, dass das Schreiben in keiner Weise benachteiligend ist. Ich merke, wie mich Kain beobachten und sich schwer zurückhalten kann. Ich bin ihm dankbar, dass er es trotzdem nicht macht. Kain ist in jeder Hinsicht ein guter Gast. Freundlich. Zuvorkommend. Hilfsbereit. Als sich das Abendessen anbahnt, ist Kain der erste, der aufsteht und meine Mutter Hilfe anbietet. Ich bewege mich erst nachdem Hendrik fast ein Loch in meine Brust gestarrt hat und mehrere Mal den Eindruck erweckt er würde gleich Staubbällchen husten. Bei Lena reichen zwei Blicke. Ich schnappe mir das Besteck und brauche außerordentlich lange um es um die Teller zu arrangieren. Auch danach bleibe ich nur im Türrahmen stehen und sehe dabei zu, wie die beiden Frauen mit Gewürzen hantieren und Kain dazu verdonnert ist Kartoffeln zu schälen. Es scheint ihn nicht zu stören. Ich setze mich zu ihm an den Tresen und schnappe mir das zweite Messer. Kains Knie kippt gegen meines und er hält mir grinsend eine Kartoffel entgegen, die nach seinem Schnitt, wie ein Häschen mit drei Ohren aussieht. Nachdem ich es in hauchdünne Scheibe zerschnitten habe, ist nichts mehr davon zu erkennen. Während das Kartoffelgratin im Ofen gart, ist es Lena, die, die Fragerunde fortsetzt und ebenso freimütig über ihr aufregendes und skandalöses Schulleben berichtet. Es gibt nichts Interessanteres, als das Leben einer 16-jährigen. Bitte erschießt mich. Als sie nach nur wenigen Minuten auf das Thema Sport kommen, haben sich Kain und Lena endgültig gefunden. Sie spielt seit Anfang des Schuljahres Hockey. Das ist selbst mir neu. Dass Kain während seiner Schulzeit ebenfalls eifrig dem Puck nachgejagt ist, überrascht mich allerdings wenig. Was hat er eigentlich nicht gemacht? Beim Essen selbst haben wir jeden Sport einmal besprochen. Außer Eiskunstlauf. Sehr zum Ärger meiner Mutter, da dass das Einzige wäre, was sie sich anschaut. Ich bin bei C für Curling ausgestiegen und konzentriere mich darauf das seltsame Gemüse nicht mit zu essen, welches sich zwischen den Kartoffeln versteckt. „Robin, nun folgt dein Part. Zutaten stehen in der Küche.“ Meine Mutter sieht mich auffordernd an und ich lasse meine Gabel samt Kartoffel sinken. „Ich esse noch“, sage ich, deute auf meinen noch nicht leeren Teller und ignoriere die Tatsache, dass alle anderen schon fertig sind. Es ist mir ein Rätsel, wie meine Familie so schnell essen kann. „Du sortierst seit 10 Minuten den Kohlrabi aus den Kartoffelgratin, das ist kein essen“, gibt Lena zum Besten und klaut mir ein Stück des benannten Gemüses vom Teller. „Los ab, mach den Nachtisch“, fordert sie dann grinsend. Ich gebe mich den Blicken der Familie geschlagen und füge mich meinem Schicksal. „Orangen?“, erkundige ich mich auf dem Weg in die Küche. „Stehen im Kühlschrank“, flötet mir Lena hinterher und klatscht freudig in die Hände. „Teig?“, frage ich bevor ich endgültig um die Ecke verschwinde. „Musst du, bitte noch machen“, sagt diesmal meine Mutter. „Eine Organisation zum Davonlaufen. Schlampig, Schlampig“, meckere ich und ernte nichts weiter als murmelndes Gelächter. „Ich bin neugierig. Was zaubert er uns?“, höre ich Kain in die Runde fragen. „Crêpe Suzette.“ Ich bin mir nicht sicher, ob Kain weiß, was das ist. „Robin hat ein Talent für die Zubereitung von Süßspeisen“, plaudert meine Mutter freimütig drauflos. Anscheinend ist ihnen nicht bewusst, dass ich alles mithören kann, oder schlimmer noch, es ist ihnen egal. Sie berichtet ihm von ihrer Soufflé-Katastrophe und das es mir beim ersten Mal gelungen ist. Auch heute fühle ich einen gewissen Stolz. Ich krame die wenigen Zutaten für den Teig aus dem Kühlschrank hervor und greife nach einen Rührschüssel. Vier Eier. Ein Viertelliter Milch. Etwas Mehl. Eine Prise Salz und Zucker. Ich lausche ins Esszimmer. Mittlerweile sind sie beim Thema Eis gekommen. Kain berichtet von dem Eiszwischenstopp an der Raststätte. Langsam, aber sicher fühle ich mich nackt. „Robin ist eine Eisfressmaschine. Vor allem im Sommer. Ich frage mich, wo er das viele Eis hin frisst? Wenn ich nur die Hälfte davon vertilgen würde, hätte ich jetzt schon das Doppelte drauf.“ „Lena, halt den Mund, sonst kriegst du keinen Crêpe“, rufe ich aus der Küche und krame die Pfanne aus dem Schrank. „Früher hat er kein Eis gemocht, weil es ihm dauernd runter gefallen ist…“, kommentiert nun auch meine Mutter und ich widerstehe dem Drang mir die Eisenpfanne über den Schädel zu ziehen. Ich kann das Eisen fast riechen, aber ich lasse sie doch auf die Herdplatte sinken. „Mama“, stöhne ich mahnend und ebenso peinlich berührt. Ich verdrehe die Augen und stelle den Handmixer an. So muss ich mir das seltsame Gequatsche der anderen nicht mehr mit anhören. Ich verrühre die Eiermischung so lange bis sie eine homogene Masse ergibt. Ein Teil davon landet in der heißen Pfanne. Ich merke erst, dass Kain hinter mir steht, als ich den ersten Crêpe fachmännisch zusammenfalte und auf einen Teller ablege. Er lehnt neben mir an der Arbeitsplatte. Sein Oberarm berührt meine Ellenbogen. Mein Puls klettert nach oben. „Kann ich dir helfen?“, fragt er mich, schaut neugierig in die Schüssel und schnuppert an dem fertigen Flachkuchen. Danach an den Orangenschnitzen. „Kannst du flambieren?“ „Meine Augenbrauen womöglich. Wenn ich mir Mühe gebe auch die Arbeitsplatte. …“ Er wackelt mit den vorher Genannten und ich kann mir ein amüsiertes Seufzen nicht verkneifen. „Das sähe bescheuert aus, dass ist dir klar?“ „Einen hübschen Mann kann nichts entstellen.“ Kein bisschen eingebildet. „Ist es wirklich in Ordnung, wenn ich hier übernachte? Von hier fahre ich noch eine Weile und...“, beginnt er zu erklären. „Wie gesagt, wir haben ein gemütliches Gästezimmer“, kommentiere ich mit demselben Wortlaut, den auch meine Mutter gebrauchte. Ich fülle eine weitere Kelle flüssigen Teiges in die Pfanne, schwenke sie und sehe dabei zu, wie einer der flachen Kuchen entsteht. „Robin, ernsthaft! Ist es okay für dich?“, hakt er nach. Als ob es nicht schon zu spät wäre. „Ja“, sage ich direkt und meine es wirklich ehrlich. Seltsamerweise stört es mich nicht. Kain atmet erleichtert aus und seine Hand legt sich auf meinen Rücken. Sie gleitet über mein rechtes Schulterblatt bis in meinem Nacken. „Du warst also ein Tollpatsch?“ raunt er amüsiert. Die Gänsehaut, die sich über meinen Hals zieht, ist intensiv und verräterisch. Wo ist die Eisenpfanne? „Weißt du, dass Gästezimmer ist doch nicht so gemütlich“, gebe ich sofort retour. Das Grinsen verschwindet nicht von seinen Lippen. Im Gegenteil. Ich spüre, wie die Wärme seiner Hand vollends in meinem Nacken zum Stehen kommt. Die Stelle wird immer heißer und ich schließe meine Augen. Ich weiß selbst nicht, warum ich es zulasse. Doch in diesem Moment fühlt es sich einfach nur gut an. Es fühlt sich richtig an. Seine Hand verschwindet, als Lena mit einem Stapel dreckigen Geschirrs die Küche betritt. „Ich gehe auch noch helfen.“ Ich nicke nur, während ich hektisch den Pfannkuchen wende und zusammenklappe. Die berührte Stelle an meinem Nacken kribbelt sanft nach. Ein weiterer Crêpe wandert auf den Teller. Nachdem fünf Stück fertig sind, klappe ich sie noch weiter zusammen, während der Orangensaft, Butter und Zucker in der Pfanne zu köcheln beginnen. Zum Schluss schubse ich die Teigteilchen hinein. Genauso, wie ein paar Orangenschnitze. Den Alkohol und das Flambieren lasse ich weg. Viel Raffinesse ist nicht nötig um meine Familienmitglieder zu begeistern. Auch dieses Mal nicht. Als ich die duftenden Teller verteile, breitet sich diese beginnende befriedigende Stimmung aus. Und die Teller sind nach wenigen Minuten vollkommen leergefegt. Ich bringe sie für den Abwasch zurück in die Küche. „Kain ist cool…“ Lena kommt und lehnt sich gegen den Küchentresen. „Danke für diese obsolete Einschätzung“, kommentiere ich dieses merkwürdigen Gesprächsbeginn. Sie tunkt ihren Finger in den Rest Orangensirup auf einen der Teller und leckt ihn im nächsten Augenblick genüsslich ab. Ich greife ihn mir und entziehe meiner Schwester somit die Chance aufs Naschen. Ihre Stirn runzelt sich und auch ihre Lippen formen einen deutlichen Flunsch. Aus mehreren Gründen. Lena wendet sich zum Kühlschrank. Ich höre, wie sich die Tür öffnet und ein paar Gläser hin und her geschoben werden. Ein Knistern. Lena beginnt zufrieden zu summen. Die Frage, wieso sie nach einem so reichhaltigem Essen noch immer Hunger hat, stelle ich mir nicht mehr. „Du hast noch nie jemand anderen als Jeff hierher gebracht.“ Sie schließt die Kühlschranktür und ich sehe auf ihre Beute. Eine Milchschnitte. „Und?“ Ich weiß nicht, worauf sie hinaus will und werfe ihr meinen genervten Bruderblick zu. „Du magst ihn…“ Eine weitere nichtige Aussage, die sie in den Raum wirft. „Ich dulde. Das ist ein Unterschied.“ „Das ist bei dir gleichzusetzen mit mögen, also…“ Lena lehnt sich wieder neben mich an die Spüle und versucht das Plastik um die Pseudomilch-Leckerei zu entfernen. Es klappt nicht. Sie dreht die Verpackung einmal um und versucht es am anderen Ende. Ich sehe ihr einen Moment dabei zu, dann ziehe ich meine Hände aus dem warmen Wasser und nehme ihr die Schnitte aus den ungeduldigen Fingern. Ein Handgriff und das Plaste reißt ein. Meine Schadenfreude kann ich nicht verbergen. „Scheiß Kindersicherung, nicht wahr?“ Bevor ich es ihr zurückgebe, beiße ich eine Ecke ab. „Sehr witzig. Ich lache dann morgen.“ Sie happst meine Bissspur weg und versucht die Verpackung in den nahegelegenen Mülleimer zu bugsieren. Ich verdrehe nur die Augen, als es beim Versuch bleibt. Aus dem Wohnzimmer dringt Kains wohliges, warmes Lachen zu uns. Unwillkürlich halte ich in meinen Bewegungen inne. Auch meine Mutter frohlockt. Ein Kichern. Ich kann nicht leugnen, dass es mich neugierig macht. „Beantworte mir die Frage oder eher die Vermutung. Du kennst ihn durch Jeff, oder?“ Lena hebt gerade eine Teigseite von der Milchschicht ab und schiebt sie sich feinsäuberlich gerollt in den Mund. Danach wird sie über die weiße Masse lecken. Das macht sie schon immer so. „Nein, ich hab ihn gezüchtet…Du glaubst anscheinend auch, dass ich sozial völlig untergehe, wenn Jeff mir nicht die Hand hält“, kommentiere ich leicht angefressen. Dass sie im Grunde nicht Unrecht hatte, sage ich natürlich nicht. Lena kichert über meinen Kommentar mit der Züchtung und ich frage mich, was gerade in ihrem Kopf passiert. „So viele Möglichkeiten gibt es ja nicht, wie du Leute kennenlernen kannst. Jeff erzählt mir jedes Mal, dass du dich sogar weigerst an Partys teilzunehmen.“ Nun leckt sie quer über den Milchkörper der Schnitte. Ihre Zunge wird weiß. „Seit wann muss ich mich vor meiner Schwester erklären?“, knurre ich verärgert und stelle den Teller in den Abtropfbereich. „Musst du ja nicht, mich interessiert es nur.“ „Okay, wenn du es wissen willst. Kain ist der Mitbewohner von Jeffs Freund, aber ich kannte Kain tatsächlich schon vorher. Wir hatten nur nichts miteinander zu tun.“ „Und wieso jetzt?“ „Weil er ab und an bei uns im Zimmer schläft.“ Den Rest spare ich aus. „Warum?“ „Himmel Lena, du bist keine 3 Jahre mehr“, gebe ich genervt von mir. Wieso. Warum. Weshalb. Nerv. Nerv. Nerv. „Ja, schon klar. Aber wieso schläft er bei dir? Er könnte doch zu seiner Freundin oder, was weiß ich.“ Der Großteil der Milchschnitte ist mittlerweile verschwunden und sie leckt sich weißen Creme vom Daumen. „Frag ihn selbst und seine Freundin hat den IQ eines Brokkolis…“ In dem Moment, in dem ich das Ausspreche, frage ich mich, wieso ich es überhaupt sage. Selbst der Hund unserer Nachbarn würde den eifersüchtigen Touch heraushören und anklagend bellen. „Und ich sagte ab und an“, merke ich an. Nun drehe ich mich wieder vollends zum Abwasch und geben Lena keine weitere Chance, dass Gespräch fortzusetzen. Nachdem Abwasch gehe ich zurück ins Wohnzimmer, setze mich zu Kain auf die Couch und merke eine ganze Weile nicht, wie die Zeit vergeht. Irgendwann verschwindet Hendrik und kommt auch nicht mehr wieder. „So, meine Lieben, für mich wird es Zeit. Macht nicht mehr so lange. Robin, denkst du bitte daran Kain frische Handtücher rauszulegen und das Gästebett zu beziehen?“ Meine Mutter erhebt sich vom Sofa. „Seit wann sind wir ein Hotel…“, setze ich an. „Vielen Dank…“ Bevor ich meinen Satz zu Ende bringen kann, bedankt sich der Schwarzhaarige gewissenhaft und unterbricht meinen Nörgelversuch. Ich nicke es nur ab und winke meiner Mutter eine gute Nacht. Doch sie signalisiert mir stattdessen, dass ich das mit den Handtüchern und mit dem Bett sofort erledigen soll. Ich erhebe mich schwerfällig. „Nacht, Mama“, ruft Lena lächelnd unserer Mutter hinter und streckt mir erheitert die Zunge raus. Ich folge ins dunkle Gästezimmer und lehne mich in den Türrahmen, während sie frische Bettwäsche aus der Schublade nimmt. „Kain ist wirklich sehr nett.“ Noch eine von diesen überflüssigen Anmerkungen. „Japp“, sage ich und sehe absichtlich desinteressiert zur Seite. „Ich finde schön, dass du noch jemand anderen als Jeff hast mit dem du dich verstehst.“ „Mama, ich bin kein Eremit.“ Nun, sehe ich doch zu ihr. „Das weiß ich doch.“ Sie lächelt, drückt mir den Wäscheberg in die Hand und streicht mir ein paar Haare zurück. Wieder gibt sie mir einen liebevollen Kuss. Diesmal auf die Wange. Für diesen Moment schließe ich meine Augen. Sie wird sich immer darüber sorgen machen, dass ich irgendwann allein da stehe, denn sie kennt mich. „Schön, dass du schon da bist. Gute Nacht, Schatz.“ „Nacht“, murmele ich. Ich beziehe das Bett ordentlich, schüttele das Kopfkissen zurecht und schmeiße es an den richtigen Platz. Danach gehe ich wieder runter. Auf dem unteren Treppenabsatz bleibe ich stehen, als ich Kains Stimme höre. „Ist das Robin?“ Ich weiß genau, wo er steht. Weiß sofort welches Bild er meint. Es steht auf der Kommode neben der Tür. Das Abbild eines lächelnden kleinen Jungens. „Nein, das ist René…“ Lena ist bereits aufgesprungen und gesellt sich neben den Schwarzhaarigen. Durch die Türöffnung kann ich sie zum Teil sehen. Mein Herz beginnt wild zu pochen und nur langsam nehme ich die restlichen Stufen. „Von Robin gibt es auch so eins. Das ist eines der wenigen Bilder, wo er noch drauf lacht… Warte, es müsste hier irgendwo sein“, sagt sie kichernd, zieht eine der Schubladen auf und kramt. Es dauert nicht lange und sie holt mein Pendant hervor. Ich bleibe im Türrahmen stehen. Kain nimmt es ihr aus der Hand und sofort ändert sich sein Gesichtsausdruck. Beide Bilder nebeneinander zeigen deutlich unsere Ähnlichkeit. Wir waren 5 Jahre alt. Der einzige Unterschied zwischen uns ist die Farbe unseres Pullovers. Renés war blau. Meiner grün. Das Pochen meines Herzens setzt aus. Immer dann, wenn ich daran denke, spüre ich, wie es mich bis ins Mark lähmt. Auch jetzt. Überrascht sieht Kain auf. „Zwillinge?“ _____________________________________ PS: Ich hoffe, ihr seid heil durch das Kapitel gekommen. Wie gesagt, die Korrektur wird in den kommenden Tagen nachgeholt. ^^ *schäm* Wie immer muss ich mich entschuldigen, dass ihr so lange auf die Fortsetzungen warten müsst. Leider wird es mit der Uni nicht besser und ich kämpfe um jede freie Minute. Außerdem gestaltet sich das Schreiben auch nicht immer so einfach. Mittlerweile habe ich allein bei Between the Lines 37 Word-Seiten (13.965 Wörter) ausgesiebtes Material fabriziert und habe mich letztens erst selbst darüber erschrocken. Also, bitte entschuldigt die langen Wartezeiten T__T Ich danke euch allen dafür, dass ihr so heldenhaft durchhaltet. Und umso mehr danke ich euch, dass ihr das Interesse nicht verliert. Danke danke Danke, Das del Kapitel 20: Oxytocins Werk und Cortisols Beitrag ------------------------------------------------ Kapitel 20 Oxytocins Werk und Cortisols Beitrag „Was ist mit ihm passiert?“ Die Überraschung in Kains Stimme weicht einer eigenartigen Beklommenheit. Lenas Blick haftet sich auf Renés Abbild. „Ein abgelenkter Autofahrer. Er hat René angefahren.“ Die Einfachheit, mit der diese Worte über ihre Lippen perlen, treibt mir schmerzende Stiche durch den Leib. Lautlos gehe ich zu ihnen und nehme Kain die Bilder aus der Hand. Meins stecke ich in die Hosentasche und Renés stelle ich zurück auf die Kommode. Meine plötzliche Anwesenheit irritiert beide. „Er wollte nur wissen, was passiert ist und ich weiß, dass du nicht gern darüber redest…“ „Oh, und deshalb dachtest du, du vertonst für mich den traurigen Erzählstrang? Lass es einfach!“ Ihr Erklärungsversuch fruchtet nicht. Denn es ist egal. Der Sturm in meinem Inneren ist entfacht und er wütet. Heiß. Brennend. Schmerzhaft. Lena schnaubt. „Er ist auch mein Bruder.“ „Du hast ihn nicht mal kennen gelernt. Also tu nicht so, als würdest du irgendwas verstehen.“ „Robin“, mischt sich nun auch Kain ein. Ich blicke nicht zu ihm, sondern nur zu meiner Schwester. Lena weiß, dass Renés Tod ein rotes Tuch für mich ist. Doch selten reagiere ich derartig feindselig. Ich weiß nicht, warum es heute besonders quälend für mich ist. Warum es noch intensiver schmerzt. Vielleicht, weil es nicht irgendjemand ist, dem sie es erzählt hat. Ich wische die Gedanken daran beiseite. „Du bist nicht fair“, sagt Lena. Ihre Stimme vibriert. Ich habe sie verletzt. Doch gerade jetzt ist es mir egal. „Das Leben ist so…komm damit klar…“ flüstere ich, lasse die beiden im Wohnzimmer zurück und gehe in mein Zimmer. Oben angekommen, bleibe ich mitten im Raum stehen. Mein Herz rast und trotzdem fühlt sich der Rest meines Körpers taub an. Fahrige ertaste ich das Foto in meiner Hosentasche. Unfair. Lena hat Recht. Mit allem. Ich habe es nie wirklich verkraftet. Noch jetzt spüre ich die Angst, die Hilflosigkeit und die Wut, welche ich damals empfunden habe. Und sie fängt mich ein. Jedes Mal genauso intensiv, wie an diesem einen Tag. Sein Tod hat mich entzweigerissen und bisher habe ich es nicht geschafft, vollständig zu verheilen. Ich starre auf einen imaginären Punkt im Nichts, während mich die Erinnerungen einholen. Es war warm. In der Luft lag der Geruch von frischgemähten Gras. Wir hatten gerade gefrühstückt. Cornflakes mit Schokomilch. So, wie es Helden nun mal am Liebsten mögen. Das Auto taubenblau. Obwohl zwischen uns nur wenige Minuten lagen, war er der große Bruder für mich. Er war mein Mut. Er war mein Herz. Und manchmal auch mein Verstand. René war es, der ohne Schrecken auf das Abenteuer zu lief und ich folgte, weil ich wusste, dass mir mit ihm nichts passieren kann. Nur ein einziges Mal folgte ich nicht. René. Der Gedanke an meinen Bruder bedeutet Schmerz für mich. Auch nach 17 Jahren noch, denn ich habe das Gefühl, dass damals ein wichtiger Teil von mir verloren gegangen ist. Kain folgt mir ins Zimmer. Ich bleibe aus Ermangelung weiterer Fluchtmöglichkeiten stehen und nicht, weil ich darauf Wert lege, mit ihm zu reden. Statt mich ihm zu zuwenden, beginne ich die ausgepackten Sachen von meinem Bett zu nehmen und zu verteilen. Die Klamotten gehören in den Kleiderschrank. Der Laptop auf den Schreibtisch. Ich lege sie in Reichweite ab, aber nicht da, wo sie hingehören. Kain ist es, der diese hilflosen Versuche stoppt. Er stellt sich mir in den Weg, als ich zum dritten Mal die Position meines Laptops verändere. Ich weiche zurück, doch er lässt nicht zu, dass ich weit komme. Er greift meine Hand, hält sie fest, während er den Computer zurück auf die Kommode stellt, von der ich ihn gerade genommen habe. „Ich werde mich nicht entschuldigen…“, sage ich, beziehe mich auf die unschönen Worte, die ich Lena an den Kopf geworfen habe und versuche, wieder mehr Abstand zwischen mir und ihm zu bringen. Nur einen Schritt trete ich zurück und bleibe mit einem reißenden Gefühl in der Brust stehen. „Okay“, erwidert er, nickt voller Verständnis und macht meinen Schritt zurück wieder zunichte. Seine Hand entlässt meine und trifft hauchzart auf meine Wange, so als würde er in diesem Moment selbst nicht wissen, ob er mich berühren sollte. Doch umso näher er mir kommt, umso deutlicher nehme ich das vertraute Aroma von Ingwer wahr. Die Erinnerung an die feine Süße auf meinen eigenen Lippen. Ich schließe meine Augen. „Rede mit mir", fordert mich Kain mit leiser, sanfter Stimme auf. „Nein…" „Robin…“ „Kain…nein.“ Statt erneut zu fragen, zieht er mich in seiner Arme. Meine Gegenwehr ist nur marginal. Nicht mehr als ein feines Zucken folgenden Erstarren. Erst als sich Kains Hand in meinen Nacken schiebt, atme ich aus. Die Berührung ist angenehm und beruhigend. Seine Wärme umfängt mich fast erbarmungslos, sodass ich kaum die Chance habe, etwas anderes zu tun, als mich ihr hinzugeben. Ich merke, wie das Reißen in meinem Inneren beginnt zu verebben. In kleinen Wellen. Ganz sacht, aber stetig. Doch ich will das nicht. Ich kann das nicht. „Hör auf. Ich brauche das nicht...", entflieht es mir. Doch Kains Umarmung wird nur noch fester. Ich wiederhole meine Worte. Diesmal kraftlos. „Das weiß ich... aber ich brauche es“, flüstert er. Seine Lippen drücken sich gegen meine Schläfe. Ich schließe meine Augen, während er mit der Nase sanft durch meine Haare streicht. Schnell habe ich jegliches Zeitgefühl verloren. Ich spüre nur noch Kains Berührungen, die Ruhe um uns herum und wie mich irgendwann Müdigkeit erfasst. Ich kann seinen liebvollen Gesten weder entkommen, noch kann ich sie wirklich annehmen, denn das würde bedeuten, dass ich sie doch brauche. Als ich am Morgen erwache, begleitet mich die Schwere des vergangenen Abends noch immer. Ermattet öffne ich meine Augen. Ich habe von René geträumt. So, wie in jeder ersten Nacht, die ich wieder zu Hause verbringe. Doch dieses Mal träumte ich nicht von seinem Tod. Viele meiner Erinnerungen an René sind so deutlich und klar, dass es mir Angst macht. Wenn ich in den Spiegel sehe, dann sehe ich auch immer ihn. Manchmal als Kind und manchmal als eine Version von mir selbst. Vielleicht ein nettere. Eine ehrlichere. An manche unserer Augenblicke erinnere ich mich bis ins kleinste Detail. An unsere Abenteuer und den Unfug, den wir getrieben haben. An die Nächte, in denen ich unter seine Bettdecke krabbelte, weil ich nicht einschlafen konnte. Ich erinnere mich an jedes Muster jeder einzelnen Decke, die wir zum Bau einer Höhle verwendet haben. Sie war die größte und schönste, die man je gesehen hat. Wir waren 5 Jahre alt. René wollte unbedingt der Drache sein und mir dachte er die Rolle des Helden an. Er jagte mich abwechselnd lachend und kindlich knurrend durch das Haus, denn ich war noch nie ein guter Held gewesen. Schlaftrunken schiebe ich meine Füße unter der Decke hervor und seufze erleichtert auf, als ich einen kühlen Luftzug verspüre, der vom geöffneten Fenster ins Zimmer hineinströmt. Mir ist unsagbar warm und ich weiß schnell warum. Kains ruhiger Atem streicht heiß über meinen Nacken und durch meine leichten Bewegungen, regt sich auch der Körper hinter mir. Doch statt sich von mir zu entfernen, schmiegt er sich noch dichter an mich. Der Arm an meiner Hüfte schiebt sich vor meine Brust und die Hitze wird immer heftiger. Auch sein Geruch scheint überall und ich merke sofort, wie sich mein Puls beschleunigt. Das dumpfe Geräusch meines Herzens hallt durch den gesamten Raum. Es scheint unendlich laut, dabei kann nur ich es hören. Es ist mir unangenehm. Ich schiebe Kains Arm beiseite und gebe mir wenig Mühe, ihn nicht zu wecken. Er quittiert es mit einem leisen Murren. Als ich mich aufsetze und die Decke vollends wegschubse, bewegen sich Kains Füße. Mit dem T-Shirt wedele ich mir halbherzig etwas Luft zu. Es hilft nicht. Mir ist heiß und mein Gehirn tadelt unaufhörlich meine Unachtsamkeit. Wieso habe ich zugelassen, dass er in meinem Bett schläft? Ich erinnere mich nur noch an Katzenwäsche und Zähneputzen. Aber nicht daran, wieso Kain nicht ins Gästezimmer verschwunden ist. „Morgen“, murmelt er schläfrig. Ich reagiere nicht, sondern zerre nur ein weiteres Mal am Stoff meines T-Shirts rum. „Du summst im Schlaf“, sagt Kain leise und reißt mich aus meinen Gedanken. Verwundert wende ich mich um. Ich drehe meinen Kopf jedoch nur so weit, dass ich bis zu seiner Körpermitte gucken kann, die mit einem letzten Zipfel Decke abgeschirmt ist. Er trägt nichts weiter, als eine dieser knappen Shorts, die sich perfekt um seinen Hintern schmiegt. Mein Blick wandert über seine trainierten Beine und dann schnell an einen ganz anderen Punkt im Zimmer. „Ach ja“, kommentiere ich abgelenkt, schließe meine Augen und wedele mir wiederholt Luft zu. Es hilft einfach nicht. „Aber es ist wahr.“ „Und?“ „Ich hab es zum ersten Mal gehört und… es ist irgendwie süß“, kommentiert er gut gelaunt. Als ich mich erneut umwende, diesmal in die andere Richtung, überrascht er mich mit einen Kuss. Er hat sich aufgesetzt und trifft meine Lippen unabsichtlich unvollständig. Für einen Augenblick sieht Kain mich danach an, scheint darauf zu warten, dass ich etwas erwidere. Doch den Einwand vergaß ich noch in derselben Sekunde. Als auch Kain es merkt, küsst er mich nochmal. Ebenso zärtlich, wie zuvor. Es ist diese anfängliche Vorsicht, vielleicht auch Sanftheit, die gerade unsere ersten Küsse immer besonders kribbelig macht. Dann spüre ich, wie feine Funken durch meinen Körper jagen, wie sie mich erregen und wie langsam nahezu jeder Rest Vernunft verpufft. Auch jetzt. Nur warum? Noch wähnt sich in mir dieser Unwillen, mich in eine derartige Zärtlichkeit zu verlieren. Es erfüllt keinen Nutzen. Es macht nur Probleme und vieles Schwerer, als es sein muss. Doch der Widerstand bröckelt zusehends und ich ertappe mich dabei, es zu genießen. Denn mit ihm ist es so einfach. Es fühlt sich so leicht an und auch auf den Sex will ich nicht verzichten. Als mir Kain sanft mit der Zungenspitze gegen die Oberlippe stupst, wird es mir umso bewusster. Es kitzelt. Es prickelt. Gleich darauf nimmt er meinen gesamten Mund in Besitz. Er kostet mich ausgiebig. Er nippt und genießt. Ich lasse es willig zu und spüre das intensive anschwellende Pulsieren in meiner Lendengegend. Ich möchte mehr und das mache ich ihm augenblicklich deutlich. Ich neige mich mehr in seine Richtung. Doch bevor ich mich ihm vollends zuwenden kann, zieht er mich zurück und drückt mich mit dem Rücken ins Kissen. Den Kuss unterbricht er nicht. Im Gegenteil, er intensiviert ihn, fordert meine Zunge und entlockt mir ein tiefes Stöhnen. Kain schmeckt nach mehr. Seine Hand schiebt den lockeren Stoff meines Shirts nach oben. Ich will mich aufrichten um es auszuziehen, doch er hält mich zurück. Sein Blick ist tief und das Braun seiner Augen glänzt vielversprechend. Jetzt will ich es nur noch mehr. Ich möchte die süße Verlockung schmecken. Den vertrauten Rausch empfinden. Ich will spüren, wie er in mich eindringt, wie der Druck in meiner Lendengegend immer heftiger wird und wie die erlösende Befriedigung über mich einbricht. „Wirst du mir irgendwann mitteilen, was in diesen Momenten in deinem Kopf passiert?“, fragt er, mustert mich ausgiebig und lässt seine Hand über meine Brust wandern. Ich spüre nur seine Fingerspitzen, wie sie federleichte Linien auf meine Haut malen. „Niemals…“, keuche ich, bäume mich ihm leicht entgegen, als er kitzelnd meine linke Brustwarze umkreist. Er richtet sich etwas auf und lächelt unbestimmt. „Zu schade… Ich denke… deine Fantasien… sind…bestimmt… sehr…aufregend.“ Jede kurze Pause füllt er mit einem Kuss. Einen auf meinen Mund. Ein weiterer auf mein Sternum. Danach küsst er meine linke und rechte Brustwarze. Meinem Bauchnabel. Als letztes bettet er seinen Lippen über den Rand meiner Shorts. Er liebkost sich zurück über die sanften Erhebungen meiner Bauchmuskeln, während er den störenden Stoff von meinen Beinen zieht. Ich sehe dabei zu, wie sich seine rauen Finger um meine Härte schließen und habe nicht mehr das Gefühl, Herr meines Körpers zu sein. Ich schließe meine Augen, während sich seine Hand kontrolliert, aber stetig über meine Härte arbeitet. Mal federleicht. Mal intensiv. Jedes Mal im perfekten Moment ein Wechsel. Ich ziehe scharf die Luft ein, als sich seine Handfläche leicht kreisend über meine Eichel bewegt. „Ich unterbreche nur ungern, aber…hast du was hier…?“ Der herrliche steigende Druck in meiner Lendengegend sorgt dafür, dass die funktionellen Teile meines Gehirns nur langsam anlaufen und ich einen Moment brauche, um diese unpräzise Frage zu deuten. Der Schwarzhaarige trägt auch nicht dazu bei. Er richtet sich auf und schiebt sich zwischen meine Beine. Genüsslich pumpt er meine Härte unentwegt weiter, während sich seine Mund neckend über meine Brust und meinen Hals küsst. Kain versteht es wirklich, mich um den Verstand zu bringen. Kain sieht dabei zu, wie ich umständlich unter dem Bett nach einer bestimmten Kiste suche. Sie enthält Massageöl und eine vermutlich längst abgelaufene Packung mit Kondomen. Meine sexuellen Aktivitäten beschränkten sich auf so ziemlich alle Areale außerhalb dieses Hauses und mein Bett erfährt zum ersten Mal, wie es sich anfühlt, unter der Belastung zweier Körper zu ächzen. Ein großes Ereignis. Ich gratuliere später und verdränge den Gedanken an die etlichen Ereignisse, von denen ich gar nicht weiß. Mein eigener Unwillen, Kain meinen Rücken zu zuwenden, erschwert die Suche nach den nützlichen Utensilien erheblich. Als ich sie endlich ertaste, beginnt der Schwarzhaarige gerade seine Fingerspitzen über meine Seite gleiten zu lassen. Ich zucke zusammen, als er mein Beckenknochen erreicht und sich über die empfindliche Kühle meiner Taille kitzelt. Bewaffnet mit der schmierigen Gleithilfe nehme ich über ihm Platz. Augenblicklich richtet er sich auf. Seine Lippen treffen meinen Kiefer. Erst beim zweiten Mal meine Lippen. Ich lasse das Fläschchen mit Massageöl einfach neben uns fallen. Kains Hände streicheln sich zurück zu meinen Oberschenkeln, weiter zu meinen Hintern. Er zieht mich dichter an sich heran und es erregt mich nur noch mehr, als sich sein trainierter Körper an mich schmiegt. Seine Hitze. Seine Härte. Wie gebannt starre ich auf unsere sich berührenden Körpermitten. Ich greife zwischen uns, umfasse unsere Glieder und führe Kains begonnene Ekstase weiter, indem ich meine Hand genüsslich über unser heißes Fleisch gleiten lasse. Ich sehe dabei zu, wie sich Kain entspannt, wie sich sein Mund öffnet und wie erst ein zartes, dann ein deutliches Keuchen über seine Lippen perlt. Er lässt seine Augen geschlossen und lehnt sich ein kleinwenig zurück. Seine Bauchmuskeln spannen sich an und ein tiefes Stöhnen erfüllt den Raum. Es erfüllt auch mich. Ich spüre deutlich, wie sich Gänsehaut auf meinen Hals bildet. Sie breitet sich aus, wandert über meine Brust und Arme bis zu meinen Knien. Es ist pure Erregung, die mich durchfährt. Kain beobachtet mich. Sein Blick ist tief und durchdringend. Es ist fast schon etwas unangenehm. Er beugt sich vor, greift mir in den Nacken. Doch das negative Gefühl verpufft, als wir einen leidenschaftlichen Kuss beginnen. Er ist mir so nah. Es ist intensiv. Ich bin hin und hergerissen zwischen dem Ersehen dieses berauschenden Gefühls und dem Wunsch, die unwillkürliche Nähe abzulehnen, die sich in diesen Momenten zwischen uns aufbaut. Kains Hand greift zu meiner. Er erhöht den Takt, verstärkt die Reibung und steigert das berauschende Gefühl, welches sich in meinem Körper ausbereitet. Heiß keucht er mir gegen die Lippen, als sich unsere Münder für einen Augenblick trennen. Unwillkürlich dränge ich mich ihm wieder dichter entgegen. Kains Lippen streichen über meine Wange. Ein kurzer Kuss und es folgt ein tiefes Stöhnen, welches so nah an meinem Ohr ist, dass es sich wahrlich heiß über meine Haut ergießt. Ich spüre, wie der Druck in meinen Lenden unerträglich wird und wie ich mir trotzdem nichts sehnlicher wünsche, als dass er mich in noch höhere Sphären treibt. Sein intensives Keuchen, welches unentwegt meinen Gehörgang benebelt, ist gepaart mit der wohligen Reibung genau das, was ich brauche. Ich komme schnell, aber intensiv in seiner Hand. Kain raunt für mich im selben Moment, so als wäre mein Orgasmus seine Genugtuung. Nach kurzem Einatmen intensive ich meine Bemühungen, um ihn selbst zum Ende zu bringen. Kains Lippen necken sich über meinen Hals. Ein leichtes Lecken wird begleitet durch neckendes Beißen. Mich durch fährt ein intensives Kribbeln. „Mehr…“, keucht er mir erregt entgegen. Ich gönne ihm gern mehr, umfasse ihn fester. Er beißt mir leicht ins Ohrläppchen, während auch er kommt und sich seine Hitze über unsere Finger ausbreitet. Sein Atem geht schwer. Genau wie meiner. Ich spüre, wie er auf die feuchte Haut an meinem Hals trifft und mir ein prickelndes Gefühl hinterlässt. Ich genieße es, schließe meine Augen und in meinem Kopf beginnt sofort der zweite Akt. „Hast du schon genug?“, fragt er neckend und neigt seinen Kopf zurück. „Vielleicht…“, lüge ich, obwohl es in meinem Körper bereits zu kribbeln beginnt und sich ein weiterer erotischer Faden durch meine Gehirnwindungen spinnt. Kains Hand streichelt fahrig über meinen Oberschenkel, stoppt kurz vor meiner noch immer deutlichen Erregung. „Vielleicht?“, wiederholt er heiser. „Blöde Frage“, erwidere ich schnippisch und rutsche zurück, entfliehe seinen Berührungen. Kain packt mich, schlingt seine kräftigen Arme um meine Hüfte und zieht mich zurück in seinen Schoß. Er stiehlt sich einen Kuss von meinen feuchten Lippen, ohne den Blickkontakt zu unterbrechen. Ich spüre ein intensives Kribbeln, welches sich von meiner Lende durch den Körper arbeitet. Ich habe nicht genug. Ich will mehr. „Weißt du, wieso ich den Sex mit dir mag?“, raunt Kain mir entgegen. Die Haut an seinem Hals glänzt feucht vor Schweiß. Ich starre auf einen kleinen Tropfen, der fast zärtlich über die Sehne seines Halses perlt. „Weil ich leicht zu haben bin…“ „Nein…“, antwortet er kopfschüttelnd. „Weil ich so dämlich bin und zulasse, dass du dir nimmst, was du willst“, äffe ich lethargisch und zum wiederholten Mal nach. Doch es verliert mehr und mehr an stichelender, gemeiner Bedeutungskraft. Meine Stimme ist ruhig, fast sanft. Vielleicht, weil ich es ebenso will? Kain jedenfalls lächelt. „Weil es die wenigen Momente sind, in denen du wirklich ehrlich bist“, flüstert er. „Tatsächlich?", entgegne ich unaufgeregt, aber abwehrend. „Sex bedeutet mir nichts." „Dein Körper spricht eine ganz andere Sprache." „Mein Körper ist nur Nutznießer“, begründe ich fadenscheinig. Das Lächeln auf Kains Lippen spricht Bände. Er glaubt mir kein Wort. Dennoch hakt er nicht weiter nach. Stattdessen streicht seine Hand über meine Brust, gleitet zu meinem Bauch und bleibt auf meinem Oberschenkel liegen. Ich folge seinen Berührungen mit den Augen, sehe, wie sich deutliche Gänsehaut über meinen Körper zieht. Genauso, wie Kain. Mein Körper reagiert so, wie er es sagt. Ehrlich. Eindeutig. Eigentlich ist es keine Bestätigung, denn die Erregung hatte mich zu keiner Zeit verlassen. „Ich könnte noch bleiben. Vielleicht bis morgen und wir machen etwas Sightseeing.“ „Sightseeing?“, wiederhole ich lachend. „Ja, du könntest mir die Stadt zeigen. Vielleicht deine alte Schule…“ „Hier gibt es nichts Interessantes“, unterbreche ich ihn ruhig und suche seinen Blick. Woher kommt das plötzliche Interesse? Noch vorgestern wollte er schnellst möglich zu seiner Schwester. Und jetzt? Wahrscheinlich sind es nur die Nachwirkungen des Orgasmus. Oxytocin und Vasopressin. Die Hormone, die uns nach dem Geschlechtsakt besonders duselig machen. Ich ergründe die Antworten auf meine stillen Fragen in dem warmen Braun seiner Augen. Ich finde sie, aber ich verstehe sie nicht. „Vielleicht gibt es mehr als du denkst.“ Kain lächelt. Erneut locken mich seine Lippen und er empfängt mich mit seiner forschen Zunge. Ich gebe mich der zurückkehrenden Leidenschaft hin. Er macht mich unersättlich und ich weiß einfach nicht warum. Wir unterbrechen die beginnende neue Runde, als mit einem Mal dumpfe Musikbässe aus Lenas Zimmer zu uns dringen. Dann höre ich die Zwischentür. Sie ist im Bad. „Fuck“, entflieht es mir. Ich lasse meine Augen geschlossen, während Kain amüsiert schnauft. Er bettet seine Stirn gegen meine Schulter. Nur kurz, dann haucht er einen Kuss auf die gleiche Stelle und sieht mich danach an. Auch ich sehe ihn nun an. Sein Aroma haftet auf meinen Lippen und die heftige Erregung in meinem Körper schreit nach Befriedigung. Ich schiele zu dem kleinen Wecker, der auf meinem Nachttisch steht. Dank meiner weitsichtigen Vereinbarung mit meiner Mutter würden wir erst ab 10 Uhr Gefahr laufen, dass jemand hineinkommt. Es ist halb 9. Genügend Zeit. Die Endorphintierchen in meinem Hypothalamus quietschen. Mein Plan hat dennoch eine Schwachstelle. Ich weiß nicht, wie viel Zeit Lena im Badezimmer verbringt und die Wände sind dünn. Mein innerer Zwiespalt scheint derartig offensichtlich, dass mir der Schwarzhaarige leise lachend einen Kuss aufdrückt und sich dann entspannt zurücklehnt. „Wir sollten aufstehen“, bemerkt Kain, während seine Augen über meinen Körper wandern. Als ich nicht antworte, tippt er neckend gegen die Spitze meiner Härte. Meine Reaktion ist ein unzufriedenes Knurren, welches er mit einem weiteren, fast rauchigen Lachen quittiert. „Geh ruhig zuerst duschen. Das große Bad müsste frei sein. Ich warte darauf, dass Lena fertig wird“, entflieht es mir resigniert. Fast schon theatralisch lasse ich mich zur Seite fallen und vergrabe mein Gesicht in die Decke. Kain grinst, tätschelt mir den Oberschenkel und schwingt seine Beine aus dem Bett. Ich sehe mit einem Auge dabei zu, wie der trainierte Körper zurück in seine abgelegten Klamotten steigt. Er streift sich die Hose ohne Unterwäsche über, danach sein Shirt. Die Endorphintierchen in meinem Kopf beginnen einen Tumult, während ich dabei zusehe, wie der Schwarzhaarige aus meinem Zimmer verschwindet. Ermattet drehe ich mich auf den Rücken und blicke an die Decke. Irgendwie fühlt es sich unbefriedigend an, auch wenn das gerade eben durchaus befriedigend gewesen ist. Es war nur nicht genug. Seit wann bin ich derartig anspruchsvoll? Früher war ich definitiv genügsamer, was meine sexuellen Bedürfnisse angeht. Einen One-Night-Stand hier. Eine schnelle Nummer ohne Namen da. Selbst Handbetrieb verschaffte mir größere Genügsamkeit. Und jetzt? Frustriert drehe ich mich zurück auf den Bauch, vergrabe mein Gesicht ein weiteres Mal in das hormongetränkte Kissen und setze mich aufrecht. Schluss damit. Ich sammle meine verstreuten Klamotten zusammen und starte ein Vertreibungsversuch im Badezimmer. Lena mault. Ich nerve weiter. Wie in alten Zeiten. Lena streckt mir die Zunge entgegen, als sie mit Turban und überdimensionalen Handtuch herauskommt. Ich beschlagnahme das Bad, bevor sie es sich anders überlegt. Als ich mit meiner Grundreinigung fertig bin, trabe ich halbnackt zurück ins Zimmer. Von Kain findet sich keine Spur. Auch Lena nebenan ist nicht mehr zu hören. In der Kommode finde ich eine meiner alten Jeans und nur gleiche Paare Socken. Stirnrunzelnd zerlege ich zwei Knäule und stülpe mir jeweils einen davon über die kalten Füße. Ich konnte meiner Mutter nie verständlich machen, weshalb ich das konservative Paarverhalten von Strumpfwaren ablehne. Ich habe ihr auch nie gesagt, dass ich es im Andenken an René tue. Denn damals, als ich damit anfing, trug ich immer einen meines Bruders. Mittlerweile ist es nur noch der Gedanke daran, aber es beruhigt. Es hilft mir. Mit der flachen Hand streiche ich mir einmal übers Gesicht. Ich spüre piekende Bartstoppeln. Ich hätte mich rasieren sollen. Im Gehen streife ich mir den Pullover über den Kopf und bleibe vor dem Treppenabsatz stehen. Aus der Küche ertönen das Rauschen des Wasserkochers und das dumpfe Gelächter meiner Schwester. Auch Kains dunkele Stimme höre ich. Während ich die Treppe runterkomme, richtet sich mein Blick in den Flur. Hendriks Aktenkoffer ist bereits verschwunden. Vermutlich ist er längst auf Arbeit. „…Jeanne hätte sich früher bekennen sollen.“, höre ich Lena aus der Küche sagen. Bei dem Namen Jeanne horche ich auf. „…oder Alex hätte konsequenter sein müssen“, erwidert Kain. Bei der Erwähnung von Alex läuft es mir eiskalt den Rücken hinunter. Als ich zur Küche komme, lacht Kain amüsiert auf. Lena klappt das Buch in ihren Händen zu und als ich auf dem Cover den Titel eines meiner Romane lesen kann, wird mir schwindelig. Kein Tag ohne Liebe. Es ist das dritte Buch, was unter dem Namen Quincey Bird herausgekommen ist. Eine Geschichte über Liebe auf dem dritten ersten Blick. Voller Umwege und Zweifel. „Was sich der Autor wohl dabei gedacht hat? Vielleicht sollten wir fragen?“, murmelt Kain verschwörerisch, greift nach einer Weintraube und lässt sie grinsend in seinen Mund verschwinden. „Du meinst Autorin…und ich wüsste nicht wie…kein Instagram, kein Twitter…“, korrigiert Lena lächelnd, deutet zur Klarstellung auf den Buchrücken und blättert danach grübelnd durch die Seite. Kain beobachtet sie dabei. Als er sich ein weiteres Träubchen nimmt, mache ich den Schritt in die Küche und mich bemerkbar. „Guten Morgen“, begrüßt mich Lena fröhlich. Ich bekomme nur eine schiefe Grimasse zu Stande und wende mich ohne Umschweife an den Schwarzhaarigen. „Kann ich dich kurz sprechen?“, sage ich ebenso kurz angebunden. Ich deute auffordernd nach draußen, während Kains fragender Blick zwischen mir und Lena hin und her fällt. Er folgt mir, nachdem er sich eine weitere Weintraube in den Mund gesteckt hat. Das Blut in meinen Adern strömt schnell und heiß. Ich merke, wie sich mein Puls beschleunigt, als ich auf die Treppe zugehe. Mit jeder Stufe nach oben scheint es mehr zu blubbern und die Ruhe zu bewahren fällt mir schwer, denn ich kann gerade nichts anderes denken, als Kains Fastpreisgabe meiner Autorentätigkeit. Was sollte das? Er hat Autor gesagt! Autor. Maskulin. Er hätte das Buch auch gleich nach mir werfen können. Meine Gedanken rasen, genauso, wie mein Herz. Die Vorstellung, dass jemand aus meiner Familie herausbekommt, was ich nebenher mache, macht mich jedes Mal wieder unruhig. Fast panisch. Meine Mutter kommt uns auf der Treppen entgegen. Ich weiche ihrem freundlichen Blick aus und dränge weiter nach oben. Sie umgibt der Duft von Mandelblüten und Seife. Ich rieche es deutlich, als ich an ihr vorbeigehe. „Guten Morgen. Kommt ihr gleich frühstücken?“, fragt sie uns und bleibt auf Kains Höhe stehen. „Ja“, antworte ich einsilbig und gehe weiter nach oben. Kain folgt mir mit Abstand. Wir sind noch nicht in meinem Zimmer angekommen, doch ich kann mich nicht mehr zurückhalten. „Bist du noch ganz bei Trost“, fahre ich ihn an. „Robin? Möchtest du Kaffee oder Tee?“, ruft Lena von der Treppe aus nach oben. Ich verstumme augenblicklich und beiße die Zähne zusammen. „Eher Tee“, antwortet Kain für mich, als ich aus Ermangelung einer freibeweglichen Mundpartie nur leicht knurre. Ich wende mich um und stampfe die restlichen Meter in meine Zimmer. Kain folgt. „Was sollte das eben?“, werfe ich ihn an den Kopf, als ich sicher bin, dass niemand mehr etwas von unserem Gespräch mithören kann. Kain lehnt sich in den funktionslosen Türbogen zu meinem Zimmer und schaut mich verständnislos an. „Was? Doch lieber Milch?“, fragt er gelassen und absichtlich irrtümlich. Ich beiße mir kurz auf die Zunge, um mir nicht die Haare zu raufen. „Jeanne und Alex?“, sage ich und gehe nicht auf seine Bemerkung ein, auch wenn mich der Schwarzhaarige weiterhin übertrieben unschuldig anschaut. Fast schon meisterlich. Eine ungewöhnliche Taktik. Es ärgert mich nur noch mehr. Dennoch spannen sich Kains Schultern an, als er merkt, dass es mir ernst ist. „Okay“, setzt er an, „Lena liest eines deiner Bücher. Zufälligerweise genau das, was ich auch letztens gelesen habe. Wir haben uns darüber ausgetauscht. So,… wie es Fans nun mal tun…“, witzelt der Schwarzhaarige zum Schluss. Meine Haare raufen sich bald von allein. „In dem du beinahe ausplauderst, dass du den Autor kennst“, meckere ich. Meine innere Zerrissenheit darüber, ob ich es gut oder schlecht finde, dass Kain meine Bücher liest, verlagert sich ins Negative. Ich finde es nicht gut und schon gar nicht kann ich gutheißen, dass er mit jemanden darüber redet. Dass er ausgerechnet mit Lena darüber spricht, macht alles noch schlimmer. „Ja, okay, es ist mir so rausgerutscht. Aber meine Güte, ich hab es doch nicht verraten…Und überhaupt, wieso erzählst du es ihnen nicht einfach? Es würde nämlich einiges erleichtern.“ Auch ihm ist der problematische Tonfall des gestrigen Gespräches mit Hendrik und meiner Mutter aufgefallen. Die Diskussionen habe ich jedes Mal. Aber es ist nicht sein Problem. Nun raufe ich mir die Haare doch. Kain beobachtet mich dabei. Ich will nicht mit ihm darüber reden. „Wolltest du nicht schon längst im Auto sitzen und weiß-ich-wohin fahren?“, geifere ich ihn ausweichend an. Keine Glanzleistung. Nun wechselt auch Kain in eine Abwehrhaltung und verschränkt die Arme vor der Brust. „Wenn es nach dir geht, wäre ich schon gestern bei weiß-ich-wohin angekommen, nicht wahr?“, giftet Kain zurück, „Verdammt Robin, geh doch nicht wegen jeder Kleinigkeit an die Decke.“ Er lässt seine Arme wieder sinken und wirkt ermattet, statt wütend. „Dann mischt du dich nicht überall ein...“ „Ist das dein Ernst? Du schreibst Bücher und sie sind sehr erfolgreich. Das ist nichts, was man verheimlichen muss. Also wo liegt das Problem?“ „Mein Problem? Es geht niemanden etwas an...auch dich nicht. Es ist schlimm genug, dass du es überhaupt weißt. Es ist allein meine Sache. Deshalb tu mir den Gefallen und hör endlich auf mit diesem Nettsein und diesem Verständnismist.“ „Entschuldige vielmals, dass ich es gewagt habe, Interesse an deinem Leben zu haben. Weißt du, was du bist? Ein unsensibler Idiot!“ „Ich bin nur ehrlich, komm damit klar.“ „Nein, Robin, ich bin ehrlich, wenn ich dir sage, dass du ein verdammter Idiot bist und es anscheinend nicht mal schlimm findest. Du sagst andauernd Dinge ohne darüber nachzudenken, wie sie von anderen verstanden werden und verletzt damit alle um dich herum. Du stößt einfach jeden vor den Kopf. Was glaubst du, passiert, wenn du dich auf jemanden einlässt? Was denkst du, mache ich mit deinem Vertrauen? Was macht dir solche Angst?“ „Musst du nicht innerhalb der Besuchszeiten bei deiner kranken Schwester ankommen?", knalle ich ihm ungerührt vor den Kopf. Da ist er wieder, einer dieser Momente, bei dem zwei Sekunden länger nachdenken eine bessere Option gewesen wäre. Kain blickt mir getroffen, fast entsetzt entgehen. „Wow, das war unterirdisch. Aber danke, jetzt hab ich es verstanden", sagt er. Nicht überrascht, sondern tief enttäuscht. Ich weiß es selbst. Wusste es in dem Moment, als die Worte meinen Mund verließen. Reflexartig will ich mich entschuldigen, aber kein Wort dringt über meine Lippen. Auch das ist jedes Mal wieder dasselbe. Kain wendet sich zur Tür und geht ohne ein weiteres Wort. Von mir selbst angewidert, lasse ich mich aufs Bett fallen. Erst bleibe ich sitzen, doch mit zunehmenden Verstehen, dass ich gerade wirklich Mist gebaut habe, scheint mein Körper immer schwerer zu werden. Ich lasse mich rücklinks fallen. Kain hat Recht. Meine Aussage war mehr als unterirdisch. Sie war unsensibel und dumm. Unfair und vor allem ungerecht. Mit wachsender Einsicht drehe ich mich auf die Seite. Die Stelle, in die sich nun meine Wange bettet, riecht nach Kain. So intensiv, dass sich mein gesamter Leib aufbäumt. So intensiv, dass mich schlagartig bebende Scham erfasst. Ich setze mich wieder auf. Er hat mit allem Recht. „Fuck! Fuck! Fuck!“, sage ich laut und stehe auf. Langsam gehe ich den Flur entlang, obwohl ich rennen will. Die Tür zum Gästezimmer ist offen. Ich werfe einen kurzen Blick hinein. Kein Kain. Auch die anderen Zimmertüren sind offen. Unruhig steige ich die Treppe hinab und fahre die gesamte Länge des Handlaufs mit den Fingerspitzen ab, so, als könnte es mir irgendeine Sicherheit bieten. Mein verdammtes Ego. Mein verflixter Stolz. Diese vernebelnde Furcht. Ich sehe kurz zur Haustür, bevor ich zur Küche abbiege. Ich treffe auf Lena und meine Mutter. Sie stehen mit Kaffee und Tee am Küchentisch und blättern in einer Zeitschrift. Sie lachen. Ich schlucke. Keine Spur von Kain. Lena stützt sich mit beiden Ellenbogen auf dem Tisch ab, tippt mit ihren schlanken Fingern auf einer Seite rum und sieht auf, als ich den Kühlschrank öffne. „Hey“, quittiert sie meine Anwesenheit. Ein weiteres ´Guten Morgen´ bekomme ich nicht. Schließlich habe ich das letzte vollkommen ignoriert. Unentschlossen betrachte ich den Inhalt des Kühlschranks und tippe dabei mit den Finger in einem unruhigen Rhythmus am Innenrahmen rum. „Wisst ihr, wo Kain ist?“, frage ich beiläufig, nehme mir endlich eine Flasche Wasser heraus und lehne mich gegen die Küchenzeile. Beide Frauen blicken sich an. Lenas natürlich geschwungene Augenbraue wandert nach oben. „Er ist eben losgefahren“, antwortet Lena lapidar. Ich setze die Flasche wieder ab, ohne auch nur daran zu nippen. „Hat er sich nicht verabschiedet?“, fragt meine Mutter irritiert. Anscheinend ist mir meine Mimik entglitten und auch das Wasser in meiner Hand scheint immer kälter zu werden. „Doch, doch“, versichere ich schnell, stelle die Flasche zur Seite und schaffe es nicht, das leise, schwermütige Seufzen zu unterdrücken, welches sich über meine Lippen schleicht. Ich sehe auf und blicke in zwei Paare blaugrauer Iriden. Sie sind fragend, durchdringend und fordernd. Ich denke an den Schwarzhaarigen und entferne mich ohne Erklärung aus der Küche. „Liebling, was ist mit dem Frühstück?“ Ich reagiere nicht. „Robin?“ Ich kann nicht mal unterscheiden, welche der beiden Frauen nach mir ruft. Es ist auch egal. Gedanklich bin ich schon weit weg. Ich ziehe meine Schlüssel aus der Jackentasche und verlasse das Haus. Egal wohin. Ich muss einfach hier raus. Wie erwartet, ist die Einfahrt verwaist. Nur ein paar Spuren im Schotter sind zu erkennen. Doch erst mit dieser Gewissheit scheint die Tatsache, dass Kain weg ist, wahrhaftig in mich vorzudringen. Ich biege auf dem Bürgersteig nach links ab und achte nicht darauf, wo ich hingehe. Meine Gedanken rasen. Ich spiele die Situation wieder und wieder in meinem Kopf ab. Ich denke an meine Worte und sehe danach Kains Gesicht. Das blitzschnelle Begreifen und den einsetzenden Ausdruck des Schmerzes und der Enttäuschung. Der Schmerz in meiner Brust wird mit jeder Wiederholung heftiger. Genauso, wie die Wut auf mich selbst. Kain ist sauer und verletzt. Ich bin daran schuld, weil ich meine dämliche, unüberlegte Klappe nicht halten kann. Ich bin unsensibel. Ein unsensibler Idiot. Im Grunde ist das nichts Neues. Ich verletze die Menschen in meiner Umgebung. Das kann jeder bestätigen. Lena. Jeff. Kain. Ungewöhnlicher Weise trifft mich dieses Schuldeingeständnis härter als sonst. Ich gebe mich desinteressiert, doch dem ist nicht so. Kain habe ich verletzt. So sehr, dass er nun vor mir geflüchtet ist. Es ist mir nicht egal und das macht mir schwer zu schaffen. Kain schafft es immer wieder, diese Dinge in mir in Gang zu setzen. Durch ihn fühle ich mich angreifbar. Jedes Mal, wenn er da ist und wenn er mich mit diesen warmen, liebevollen Augen ansieht. Aber ich will mich nicht verletzlich fühlen. Mittlerweile bin ich am alten Spielplatz angekommen. Hier haben Jeff und ich als Kinder oft gespielt. Die Spielgeräte sind abgewetzt und schmutzig. Tausende Graffitis und Schriftzüge beleben die Oberfläche des halben Piratenschiffes, welche aus einem körnigen Meer hervor sticht. Er ist nichts besonders, aber er ist Erinnerung. Ich gehe auf eine der Schaukeln zu. Ein riesiger, alter Autoreifen. Jeff und ich haben vor 10 Jahren unsere Namen in einen der Profile reingeritzt. Ich gehe etwas um den Reifen herum und knie mich dorthin, wo ich den Vandalismus vermute. Sie sind noch da. Jeffs Name ist lesbar. Mein eher weniger. Zu viele runde Buchstaben. Ich streiche mit dem Zeigefinger über die Einkerbungen. Hier haben wir das erste Mal geraucht und heimlich getrunken. Seither war Jeff immer an meiner Seite gewesen. Ich ziehe mich auf den Reifen und bette meinen Kopf gegen die grobe Metallkette, die ihn hält. Eine Zigarette könnte ich jetzt auch gebrauchen. Zum Leidwesen meiner nervösen Gehirnwindungen liegt meine angefangene Packung in Jeffs Auto. Bei Kain. Ich seufze schwermütig und hole mein Handy hervor. Ich starre auf das schwarze Display, bevor ich ins Chatprogramm wechsele. Kains Name steht an oberster Stelle in meinem Verlauf. Er würde am Parkplatz auf mich warten und wünscht mir Erfolg für die Klausur. Seine letzte Nachricht an mich. Ich habe darauf nichts erwidert. - Sorry-, tippe ich. Schon beim Absenden weiß ich, dass es so einfach nicht sein wird. Ich weiß nicht, wie lange ich hier sitze und meinen Gedanken nachhänge. Irgendwann höre ich, wie ein Stein am Gummi des Reifens abprallt. Als ich meinen Kopf hebe, sehe ich Lena fünf Meter entfernt stehen. Ihre langen Beine stecken in zerfledderten Jeans, die im starken Kontrast zu der wolligen Strickjacke steht, die sie ebenfalls trägt. Kurz denke ich an Luci, die manchmal ebensolche Ensembles trägt. Auch der Gedanken an sie verstärkt meine Magenschmerzen nur, statt sie zu lindern. „Wusste ich es doch, dass ich dich hier finde!“, sagt meine Schwester, als sie bei mir ankommt. „Willst du jetzt einen Preis?“, kommentiere ich gelangweilt und lehne meinen Kopf wieder an die kühle Kette. „Ein Eis macht es nachher auch“, flötet sie und bleibt neben mir stehen. Ihre Hand greift nach der Kettenaufhängung und der Reifen neigt sich in ihre Richtung. Sie rüttelt so lange daran rum bis ich endlich reagiere, weil ich mich fast von der Schaukel verabschiede. „Hey!“, murre ich. „Mama macht sich sorgen.“ „Warum?“ „Du wirst es kaum glauben, aber das…“, bedeutungsschwanger zeigt sie in meine Richtung, „… ist nicht normal. Selbst bei dir.“ „Ich bin nur müde, das ist alles.“ Wenn es nach der Häufigkeit dieser Äußerung geht, befinde ich mich seit einiger Zeit im Koma. „Weißt du, ich habe mich gefreut, als du gestern nicht allein hier aufgetaucht bist. Ich dachte, vielleicht hast du endlich noch jemanden anderen gefunden, neben Jeff, dem du dich anvertrauen kannst. Nichts gegen Jeff. Jeff ist toll, aber er ist schon so sehr an dich gewöhnt, dass er unbewusst jede deiner kauzigen Eigenschaften unterstützt, indem er sie toleriert.“ Ich schaue mit hochgezogener Augenbraue zu meiner 16-jährigen Schwester. „Wer bist du?“, frage ich verstört. „Du brauchst jemanden, der dich ab und an in die Realität zurückholt. Kain hat das ziemlich gut gemacht, finde ich. Und er sieht echt gut aus.“, hängt sie ran. „Die einzige Qualität, die für mich zählt“, kommentiere ich ironisch. Lena grinst, Ich wende meinen Blick zurück in die Ferne, bis ich es knistern höre. Lena zieht einen gelben Bonbon aus ihrer Hosentasche. Einen von denen, die auch Kain immer bei sich trägt. Ich erkenne sie an dem eigenartigen Logo auf dem durchsichtigen Plastik. Eine Ingwerwurzel, die nicht als solche erkennbar ist. Unwillkürlich legt sich das Aroma der Knolle auf meine Geschmacksknospen, gepaart mit fruchtiger Zitrone und herber Süße. Ich bin mir nicht mehr sicher, ob die Erinnerung an den Geschmack der Süßigkeit einzig die des Bonbons ist. „Möchtest du auch einen?“, fragt Lena, als sie meinen gedankenverlorenen Blick bemerkt. „Nein,…danke. Woher hast du die?“ „Von Kain. Er hat mir gestern ein paar angeboten. Die sind echt gut. Scharf und lecker.“ Die beiden Adjektive hallen in meinem Kopf umher. Mir fallen prompt noch andere ein, die sogar nichts mit Lebensmitteln zu tun haben und mich erfasst das dringende Bedürfnis, meinen Kopf tief in den Sandkasten zu vergraben oder meine Sinne mit krebserregenden Rauch zu betäuben. Meine Fingerspitzen reiben auffällig aneinander. „Eine Zigarette wäre dir lieber, oder?“, fragt sie schnippisch. Ich fühle mich ertappt. Abrupt stehe ich von der Schaukel auf und strecke ihr die Zunge entgegen. Lena runzelt die Stirn. Der Bonbon beult ihre linke Wange aus und sie schaut mir fragend entgegen. Wie ein asymmetrischer Hamster. Ich schüttele die Assoziationen davon, als sie wieder aktiv zu lutschen beginnt. „Geht’s dir wirklich gut?“, fragt sie skeptisch. Einen Sekundenbruchteil denke ich darüber nach. Trotz des negativen Ergebnisses nicke ich es ab.. „Ich mache noch ein paar Besorgungen.“ Ich deute in die eine und gehe in die andere Richtung. Wahrscheinlich habe ich damit mein zuversichtliches Nicken wieder zunichte gemacht. „Keine Zigaretten! Mama grillt dich!“, ruft sie mir nach. Diesmal bekommt sie rückwirkend meinen Mittelfinger zu sehen. Sie bleibt grinsend auf der Schaukel sitzen und sieht mir nach. Ich mache einen Abstecher in die Stadt, fühle mich weiterhin ruhelos und trabe nach etwa zwei Stunde zurück zu meinem Elternhaus. Die leisen Stimmen aus der Küche ignoriere ich, gehe sofort auf mein Zimmer und werfe mich aufs Bett. Fast sofort umnebelt mich der deutliche Geruch von Sex und Kain. Es treibt mich ad hoc wieder hoch. Ich flüchte zu meinem Schreibtisch, baue den Laptop vor mir auf und sehe dabei zu, wie er hochfährt. Kain könnte mittlerweile bei seiner Schwester angekommen sein. Ich ziehe mein Handy aus der Hosentasche. Keine neuen Nachrichten. Keine Reaktion. Mein lachhaftes Sorry scheint fast höhnend im Verlauf zu schweben. Ungelesen. Meine innere Anspannung wird langsam reißend. Unruhig streicht mein Daumen über das Tastenfeld des Telefons. Kain ist direkt nach unserem Streit losgefahren. Verärgert. Wütend. Möglicherweise unkonzentriert. Was ist, wenn er einen Unfall hatte? Autos sind gefährlich. Nein! Stopp! Ich zwinge mein Gehirn aus der Einbahnstraße. Schwerfällig falle ich im Stuhl zurück und blicke mich um. Auf dem Schreibtisch liegen noch ein paar Notizen und korrigierte Ausdrucke meiner letzten Hausarbeiten. Ich greife den Stapel und unternehme den Versuch, ihn in der Schublade verschwinden zu lassen. Es bleibt bei dem Versuch, denn sie ist voll. Statt die Blätter hinein zu stopfen, hole ich den anderen Papierhaufen hervor. Ich durchblättere die Dokumente und mir fällt ein Foto entgegen. Die Schrift auf der Rückseite ist die meiner Mutter. Ich weiß bereits durch das darauf gekritzelte Datum, was ich darauf sehen werde. René und ich in unseren selbstgenähten Pilzkostümen. Wir sind 5 Jahre alt. Mama nannte uns ihre Champign-jungs. Sie kicherte und lachte. Sie schmunzelte noch immer selig, nachdem sie uns vom Fest aus dem Kindergarten abholte. Meine Lippen formen ein trauriges Lächeln, während ich das Bild betrachte. Es ist eine schöne Erinnerung, doch heute erreicht sie mich nicht. Ich greife zu meinem Telefon und tippe die Worte ohne groß nachzudenken. -Es tut mir wirklich leid. Melde dich- -Bitte-, sende ich flehend hinterher. Das Handy lege ich danach zur Seite, schiebe es in die hintere Ecke meines Schreibtisches. Mit bebender Brust fokussiere ich den Bildschirm meines Laptops. Ich klicke mich durch einen Pfad, der mich zu einer ganz bestimmten Datei führt. Das Skript zu meiner ersten Veröffentlichung. Im Grunde ist es die Aufarbeitung meiner eigenen Familientragödie. Nur, dass ich es trotz intensiver Beschäftigung nicht geschafft habe, darüber hinweg zu kommen. Damals veränderte sich einfach alles, denn Renés Tod hat auch unser zurückgebliebenes Familiengebilde mit sich gerissen. Ich verlor meinen Bruder. Meine Eltern verloren ihr Kind. Und mein Vater kam damit nicht zurecht. Ich war zu jung um wirklich alles zu verstehen. Aber nach der Fassungslosigkeit folgte die Stille. Aus gemeinsamen Tränen wurden getrennte. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, ob sie viel miteinander gesprochen haben. Ob sie es überhaupt geschafft haben, darüber zu reden. Ich erinnere mich an die Wärme meiner Mutter, während sie mich jeden Abend im Arm hielt und dass mein Vater irgendwann nicht mehr nach Hause kam. Mein Bruder war tot und mein Vater wollte nicht mehr mein Vater sein. Er schaffte es nicht, darüber hinweg zu kommen, wie also hätte ich es? Renés Tod hinterlässt diese Lücke, die mir seither ein Gefühl der Unvollständigkeit beschert. Damals konnte ich nicht davor fliehen, also tue ich es jetzt. Mit aller Kraft. Ich lehne mich zurück, rutsche unbewusst etwas nach unten und liege damit fast auf dem Stuhl. Mein Blick wandert zur Decke und danach direkt zum schwarzen Display meines Telefons. Ich streiche mit der Hand über den flachen Bauch. Eine schützende Geste, doch sie verhindert nicht die Schmerzen, die sich in mir ausbreiten. Ich atme geräuschvoll ein, setze mich ruckartig auf und widme mich dem PC. Nach mehreren Stunden angestrengtem Arbeiten überfällt mich endlich die Müdigkeit. Ich lasse mich ins Bett fallen. Doch nach nur wenigen Sekunden durchdringt mich der Geruch nach Sex, Schweiß und Kain. Die Vorstellung, diese Mischung die ganze Nacht einatmen zu müssen, verursacht mir Gänsehaut. Mein Magen wird flau, als ich aufstehe und mit müdem Blick auf das Bett runterschaue. Er lässt mich nicht mehr los. Der Gedanke an ihn, breitet sich in Sekundenschnelle in meinem Kopf aus. Ich habe Stunden gebraucht, um ihn für ein paar Sekunden zu vergessen. Da meine Mutter und Hendrik bereits schlafen, komme ich vor morgen früh nicht an neue Bettwäsche. Abgesehen davon, würde ich nicht erklären können, weshalb ich nach nur einer Nacht neue bräuchte. Ich hätte gar nicht zulassen dürfen, dass Kain mir hier so nah kommt, dass er in meinem Bett schläft. Ich hätte ihn ins Gästezimmer schicken sollen. Knallhart. Ganz im Sinne meiner Unsensibilität, motzt es in meinem Kopf. Ein lautes Seufzen ist jedoch das Einzige, was nach außen dringt. Gerade als ich erneut meine Augen schließe und mich meinem Schicksal ergeben will, durchfährt es mich geistesgegenwärtig. Das Gästezimmer! Schnellen Schrittes durchquere ich den Flur. Ich falle fast durch die Tür, als ich beim Gästezimmer ankomme. Als ich eintrete, umfängt mich der Geruch frischer Wäsche und ich atme erleichtert auf. Das Bett sieht genauso aus, wie ich es gestern Abend verlassen habe. Das Kissen liegt nicht am Kopfende, sondern mitten auf der Decke. Ich greife mir beides und schleiche eher plump, statt ninjaartig zurück. In der Zwischentür falle ich beinahe über einen Deckenzipfel und danach über einen unvorteilhaft abgelegten Ordner. Nachdem ich mir sicher bin, dass das Haus weiterhin schläft, reiße ich die kaindurchtränkten Schlafutensilien vom Bett. Decke und Kissen landen weit weg vor dem Bücherregal. Beim Laken schaffe ich nur drei Ecken und schubse sie an der übrigen halbherzig über die Kante. Danach lasse ich mich fallen. Ich schließe meine Augen und atme tief ein. Der Duft von Lavendel strömt mir entgegen. Doch bereits den zweiten Atemzug unterbreche ich. Der Geruch des anderen Mannes ist nicht verschwunden. Das Gedanke an ihn auch nicht. Wahrscheinlich bilde ich es mir nur noch ein, doch es zwingt mich erneut, mich wieder aufzusetzen. Meine Nacht ist weitestgehend schlaflos. Erst zum Morgen hin bin ich so übermüdet, dass ich endlich wegdämmere. Zu meinem Glück ist meine Mutter heute außer Haus und ich schlafe bis mittags, ohne genervt zu werden. Müde fühle ich mich trotzdem. Mittlerweile höre ich laute Musik aus Lenas Zimmer. Bevor ich ins Bad gehe, bleibe ich an der Tür im Übergang stehen. Die Musik ist hier dröhnend. Ich stoße die Tür auf und sehe meine Schwester auf dem Bett lümmeln. „Das ist, aber nicht 5 seconds to summer“, kommentiere ich die deutlich aggressivere Basszusammenstellung, die aus Lenas Boxen dringt. Eine Passage bleibt mir besonders im Kopf ´When something's right, then something is worth to die for´. Eine klischeehafte Theatralik. „Zu laut?“, fragt sie und blickt ungerührt weiter ins Buch, welches vor ihr liegt. „Was??“, brülle ich übertrieben und sehe amüsiert dabei zu, wie sie die Augen verdreht und den Ton per Fernbedienung leise macht. Sie setzt sich auf. „Wie kannst du bei dem Krach lesen?“ „Wieso kannst du es nicht?“ „Wieso bist du nicht in der Schule?“, frage ich verwundert weiter. „Wieso bist du jetzt erst aufgestanden?“, fragt sie retour, ohne meine vorangegangene zu beantworten. Ich zucke nur mit den Schultern, weil ich ungern tiefer darauf eingehen will. Unser Spielplatzgespräch hat mir gereicht. „Schlecht geschlafen?“ Lena lässt sich nicht locker. „Mal im Ernst, warum bist du nicht in der Schule?“, frage ich ausweichend und nachdem mir ihre Anwesenheit immer eigenartiger vorkommt. Lenas Schultern zucken nach oben und sie blickt ertappt zurück in das Buch, in dem sie gelesen hat. Sehr verräterisch. „Du schwänzt…“, hake ich nach. Sie blickt mir genervt entgegen. Wie ein waschechter Teenager. „In den letzten Wochen ist sowieso nicht mehr viel los“, sagt sie rechtfertigend. Meine Schwester macht blau. Ich bin schockiert und gleichzeitig beeindruckt. Das hab nicht einmal ich mir geleistet. Mein Schweigen interpretiert sie als Anschuldigung. „Kriege ich jetzt eine Predigt?“ „Von mir? Ein bisschen scheinheilig, oder?“, frage ich und bin der Letzte, der wegen eines Fehlverhalten zum Prediger wird. Ich lehne mich gegen das Bücherregal neben mir und blicke mich um. Die Einrichtung ihres Zimmers hat sich schon wieder verändert. Es wirkt, wie eine kleine 1-Zimmer-Wohnung mit Schlafecke, Arbeitsplatz und Wohnbereich. Alles untereinander abgestimmt, aber wenig Teenagerlike. Keine Poster. Keine quietschigen Schreine zur juvenilen Herzblutverehrung. Nur ein selbst zu malendes Bild mit zwei Kois in einem Teich. Sie bekam es vor zwei Jahren von mir zu Weihnachten. Hendrik ließ es später, als es fertig war, rahmen. Lena seufzt und rutscht zur Bettkante. „Du schweigst?“, fragt sie mit Nachdruck. Ich habe bestätigend und gleichzeitig abwehrend die Hände. Wieso sollte ich sie absichtlich reinreiten? Ich bin ein Ekel, aber keine Petze. „Wo ist Kain eigentlich so überstürzt hingefahren?“, fragt sie nach einen Moment übereinkommender Stille. „Familie, Freundin, was auch immer“, gebe ich desinteressiert von mir. Mein Inneres beginnt zu brennen und ich weiche ihrem Blick aus. Kain hat mir noch immer nicht geantwortet und obwohl ich versuche, mir einzureden, dass das gerechtfertigt ist, zerfrisst es mich. „Kain sagte mir, er hätte keine Freundin…“, bemerkt Lena. „Ha,…“, entflieht es mir auffällig hell, „Sie ist dumm, rothaarig und zickig.“ „Oh, du bist ein Fan?“, kommentiert sie meine mehr als eindeutige Reaktion. Ich verdrehe die Augen und verschränke die Arme vor der Brust. „…Was liest du da eigentlich?“, frage ich, um von dem leidigen Freundinnenthema abzulenken. Sie wirft mir das Buch entgegen. Es landet etwa einen Meter vor mir. Ich spare mir jeden Kommentar. „Hat mir eine Freundin empfohlen.“ Ich erkenne, dass es eines von meinem ist, als ich mich danach bücke und es vom Boden aufhebe. Kein Tag ohne Liebe. Das, was sie auch in der Küche gelesen hat und wovon Kain gesprochen hatte. Einen Moment lang verknotet sich mein Inneres. „Seit wann stehst du auf Kitsch?“, frage ich, ohne auch nur im Buch zu blättern. Ich muss es auch nicht. Ich erinnere mich an fast jede Passage. Normalerweise ist Lena eher ein Fan von Mord und Totschlag. In ihrem Bücherregal reihen sich etliche Kriminalgeschichten und Thriller. „So kitschig ist es gar nicht. Und ab und an brauche auch ich etwas fürs Herz. Immerhin wünscht sich doch irgendwie jeder etwas Liebe und Voodoo hilft nun mal nicht immer.“ Unwillkürlich denke ich an das putzige Voodoo-ich, welches im Studentenwohnheim neben meinem Bildschirm sitzt. Auch das Zuckerherz war mir nicht entgangen. „Dir ist schon klar, dass das nur Fiktion ist? Es gibt keine Liebe auf dem ersten oder vielleicht dritten Blick, keine Traumprinzen, die dir bedingungslos alles zu Füßen legen und schon gar nicht gibt es Jungs in deinem Alter, die sich nichts sehnlicher wünschen als der Erste zu sein.“ Ich spreche aus Erfahrung. Ich war und bin nicht anders. „Du bist desillusionierend, weißt du das?“ „Du bist naiv.“ „Du bist zu klischeehaft.“ „Und du bist ein Mädchen!“, stelle ich klar. „Und du hast anscheinend zu viel Zeit unter Blondinen verbracht.“ Das untersetzt sie in gestische Gänsefüßchen. Die Mehrdeutigkeit dieses Satzes ist irgendwie beängstigend. „Vielleicht solltest du es mal probieren“, kommentiert Lena. „Was?“ „Liebe! Ein bisschen davon wird dich nämlich nicht umbringen“, sagt sie, während sie sich vom Bett erhebt und altkluggrinsend an mir vorbei zum Badezimmer stolziert. „Sicher?“, murre ich skeptisch hinter her. Lena hat es nicht mehr gehört. Ich bleibe noch einen Moment im Türrahmen zu ihrem Zimmer stehen und trabe danach zurück in mein eigenes. Mein Handy blinkt. Mein Puls steigt, doch es sind nur neue Urlaubsbilder von Jeff. Trotz leichten Missmuts lasse ich mich aufs Bett fallen und öffne seufzend das neuste Bild. Jeff am Pool. Er imitiert den Moment des ins Wasserspringens. Reichlich albern und man kauft es ihm in keiner Weise ab. Zudem weiß ich, dass Jeff zur Sorte Wasserscheu gehört und immer nur einzelne Gliedmaßen nacheinander ins Wasser bringt. Das nächste zeigt ihn mit einem Cocktail. Danach kommen ähnliche Varianten mit Abel und mit beiden zusammen. Widerlich sonnig, zuckrig und verstörend wenig bekleidet. Während ich mich durch weitere irritierende Urlaubsbilder scrolle, wird das Gefühl in meiner Brust immer unangenehmer. Meine gesamte Laune schwebt in den nächsten Tagen kurz über dem Tiefpunkt. Ich gebe mir alle Mühe, an den familiären Pflichtveranstaltungen zufriedenwirkend teilzuhaben, aber es fällt mir schwer. Ich bin unkonzentriert und selten in der Stimmung für lauschige Diskussionen oder konservativen Plaudereien. Ich entschuldige mich regelmäßig mit ausufernden Uniaufgaben und vegetiere dann geistesabwesend auf meinen Stuhl umher. Statt mich auf das Schreiben der Hausarbeiten zu fokussieren, wandert meine Hand von der Tastatur andauernd zum Handy. Manchmal aktiviere ich nur das Display, reiße mich zusammen, um dreißig Sekunden später die Prozedur zu wiederholen. Es ist zum Verrücktwerden. Selbst Jeffs ständig eintreffende Urlaubsgrüße sind eine willkommene Ablenkung, was die Situation für mich noch verschlimmert. Nach ein paar Tagen ohne überschwängliche Urlaubsimpressionen werde ich misstrauisch. Womöglich Ärger im Paradies? Wenn ja, will ich mir das wirklich anhören? Wahrscheinlich würde mir Jeff die Ohren voll heulen. Die Beiden scheinen doch häufiger aneinander zu geraten, als es normal ist. Oder ist es normal? Ich weiß es nicht. Eifersucht. Zickereien. Unzufriedenheit. Wie funktionieren Beziehungen? Da es auch das erste Mal ist, dass ich Jeff in einer Beziehung erlebe, weiß ich es nicht. Gerade als ich so weit bin nachzuhaken, betritt meine Mutter das Wohnzimmer und bleibt direkt bei mir stehen. Ich lege unwillkürlich das Handy beiseite. „Hi,…“, begrüße ich sie voller Misstrauen, als sie sich neben mich auf die Couchlehne setzt. Sie lächelt und ich ahne böses. „Schatz, würdest du für heute Nachmittag noch einen schnellen Kuchen backen?“, fragt sie. Ich sehe ihr einfühlsames Lächeln und verspüre das Erfordernis, irgendwas Dummes von mir zu geben um ihre Bitte zu negieren. „Definiere mir schnellen Kuchen und erkläre das auch dem Herd“, setze ich das Bedürfnis sofort in die Tat um. Ihre schlanken Finger streichen mir eine Haarsträhne hinters Ohr und dann piekt sie mir sachte in die Wange. „Irgendwas Einfaches.“ „Warum?“ „Deine Cousine Mandy kommt vorbei. Sie hat vor ein paar Monaten ihr erstes Kind bekommen.“ Meine Mutter klingt, als wäre das eine Leistung. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Lena vor einer Weile noch von einem gravierenden Unfall gesprochen hat. „Du machst den Kuchen, also für das kleine, neue Wunder.“ „Babys essen keinen Kuchen. Denen fehlen die entscheidenden Zerkleinerungsorgane und die richtigen Enzyme, um zu verdauen.“ „Komiker!“ Sie stupst mir mit der flachen Hand gegen die Schläfe und schiebt sachte meinen Kopf weg. „Und im Übrigen, Babys können Kuchen so lange mit Spuke anreichern, dass er sich irgendwann sehr gut schlucken lässt. Hast du früher auch gemacht.“ „Mama! Urks. Bäh!“ Sie haucht mir einen Kuss auf die Stirn und steht kichernd auf. Das Bild von sabbernden kleinen Kindern setzt sich in meinem Kopf fest. Ich brauche eine Dusche. Ich sehe zurück zu meinem Telefon und schreibe Jeff nach kurzem Zögern eine beiläufige, aber unterschwellige Nachricht. Danach lehne ich mich zurück. Die Unruhe wird wieder stärker. Erneut warten. Es war eine schlechte Idee. Entgegen aller meiner inneren und nach außen getragener Widerstände gehorche ich. Ich krame ein paar vorhandene Zutaten hervor, werfe alles zusammen und bestaune am Ende einen halbwegs gutaussehenden Marmorkuchen in Gugelhupfform. Na ja, Gugelhupf mit Dellen. Trotz alledem duftet er köstlich, scheint weich und fluffig. Appetit habe ich trotzdem keinen. Ich überziehe ihn noch mit etwas dunkler Kuvertüre und als ich damit fertig bin, klingelt es. Es dauert nicht lange und die helle Stimme meiner Cousine trifft auf die dunkele meiner Schwester. Als dann auch noch meine Mutter dazu stößt, hört es sich an, wie ein mehrstimmiges Albtraumsonett. Ich sehe einen Moment nach links und rechts und rechne mir für die Flucht keine guten Chancen aus. Irgendwo können sie mich immer sehen. Allerdings könnte ich versuchen, zimmerweise zu entkommen. Von der Küche ins Esszimmer und durch die Bibliothek und ins Wohnzimmer. Wenn die drei Frauen ins Esszimmer wandern, könnte ich es in den Flur und zur Treppe schaffen. Allerdings ist eine Flucht aus der oberen Etage noch schwieriger und nur mit einem Sprung aus dem Fenster zu bewerkstelligen. Die Wahl zwischen Baby und gebrochenen Beinen fällt mir seltsam leicht. Als ich bereit bin, es zu riskieren, höre ich, wie das Babygeschrei lauter wird und alle drei Richtung Küche kommen. Gut, dass ich keiner Spezialeinheit der Armee angehöre. Reaktion ist eindeutig nicht meine Stärke. Mama und Mandy bleiben im Türrahmen stehen. Lena hat das Baby auf dem Arm. Der hochrote Kopf des kleinen Wesens macht es für mich noch unattraktiver. Sie kommt auf mich zu und ich mache automatisch ein paar Schritte zurück. „Nicht dein ernst!“, kommentiert Lena mein Verhalten und sieht mich fassungslos an, „Sie beißt nicht.“ „Gibst du mir dafür eine Garantie?“, frage ich. „Sie hat keine Zähne“, begründet Lena, doch ich sehe darin keinerlei Grund, an meiner Bissig-Theorie zu zweifeln. Die Vorstellung, dass sich dieser kleine zahnlose Mund in meiner Hand verbeißt, ist so ekelig, wie furchterregend. Lena streicht dem kleinen Mädchen über den noch wenig behaarten Kopf und lächelt, so als würde sie ihr auf diese Art erklären, dass der grimmige Onkel nur spinnt. „Robin?“, höre ich meine Mutter sagen, doch im selben Augenblick beginnt mein Handy auf der Arbeitsplatte zu musizieren. Ich nehme es als willkommene Begründung, um mich aus dem Gespräch zu retten. Mit einem Deut auf das Telefon schiebe ich mich an den Frauen vorbei, ohne sie wirklich zu begrüßen. Meine Cousine sieht mir nach. Für einen kurzen Moment keimt in mir die Hoffnung auf, dass es Kain sein könnte. Doch auf dem Display leuchtet mir nur Brigittas Name entgegen. Ich flüchte in den Flur und lehne mich gegen das Treppengeländer. „Brigitta…“, sage ich als Begrüßung und fahre mir durch die Haare. Trotz versuchter Neutralität klinge ich enttäuscht. Meine Lektorin scheint es nicht zu bemerken oder sie ignoriert es wissentlich. „Wie geht’s meinem fleißigen Schokonugget“, flötet sie mir fröhlich durch den Hörer entgegen. Ich verdrehe meisterhaft, aber ungesehen die Augen und kann nicht widerstehen, mir mit der Zunge über die Zähne zu fahre. Ich muss mir danach unbedingt die Zähne putzen. „Ich atme, esse und unterliege dem Verfall…“, spule ich ab. „Gut, ich hoffe, du findest zwischen den Verwesungsstadien noch genug Zeit zum Schreiben“, kommentiert sie trocken und lässt mich schmunzeln. „Habe ich eine Deadline verpennt?“, erfrage ich und kann mich beim besten Willen nicht daran erinnern. „Nein, mein kleiner Gaumenschmankerl, ich übe mich nur im strengen, autoritären Stil.“ „Erfolgreich?“ „Nein,…“ Sie seufzt und schweigt für einen Moment, bevor sie eine andere Thematik aufgreift, „Hast du noch mal über die Buchconvention nachgedacht?“ Nun seufze ich. „Ich schicke dir morgen meine Kündigung. Antwort genug?“, gebe ich ruhig retour. „Sei nicht albern, Vanillemuffin.“ Sie nimmt es nicht ernst. Muss sie auch nicht. Ich werde nur nicht müde, meinen Unwillen auszudrücken. „Wann soll das Brimborium eigentlich stattfinden?“, frage ich, streiche mir mit der freien Hand durch die Haare und danach über den Bauch. Wohl ist mir dabei immer noch nicht, aber Brigitta hatte beim letzten Gespräch nur allzu deutlich gemacht, dass meine Beteiligung erwartet wird. „Ein genaues Datum haben wir noch nicht. Aber im nächsten Monat planen wir ein erstes organisatorisches Treffen. Und ich habe Karsten gesagt, dass ich dich gern dabei hätte.“ Während Brigittas Erklärung höre ich es aus der Küche leises Lachen und Quietschen. Ich stoße mich vom Treppengeländer ab und wandere durch den Flur. „Und was soll ich da?“, frage ich skeptisch. „Deine Ideen mit einbringen und es eventuell ein wenig nach deinen Bedürfnissen mitgestalten.“ „Brigitta…“, setze ich an und seufze ihren Namen fast. Sie wirft mir ein weiteres diabetesverursachendes Kosewort an den Kopf. Wo nimmt sie nur die ganzen Süßigkeiten her? „Du legst es darauf an, mich zu nerven, oder?“, frage ich deutlich nörgelnd und sehe auf, als ich ein Geräusch aus der Küche höre. Mandy kommt mit ihrem Kind auf dem Arm in den Flur und bleibt vor dem Gästebad stehen. Bevor meine Lektorin zu einen Überzeugungsmarathon ansetzen kann, würge ich sie hab. „Ich melde mich später noch mal.“ Ich warte ihre kurze Erwiderung ab und lege dann auf. Das Telefon wandert in meine Hosentasche. „Deine Freundin?“, fragt sie neugierig. Ich brumme nur als Erwiderung, schiebe mich an ihr vorbei und bin gedanklich noch immer bei Brigittas blöder Buchconvention. Ich bin dagegen. Total dagegen. Es ist eine blöde Idee. „Anscheinend, weißt du trotz deines Alters immer noch nicht, wie man ordentlich mit Frauen spricht“, knallt sie mir entgegen. Ich bleibe stehen und sehe zu ihr. Für eine Millisekunde denke ich darüber nach, es unerwidert zu lassen. Doch es kitzelt zu sehr. „Und du weißt trotz deines Alters nicht, wie man Kondome benutzt. Was wiegt wohl schwerer?“ Das kleine Mädchen in ihren Armen gibt ein quietschendes Geräusch von sich und prompt läuft ein fetter Batzen Spucke über das propere Kinn. Der Schwall tropft auf den gelben Pullover des Kindes und auf Mandys umsonst hergerichtetes Dekolletee. Beleidigt blickt sie mir entgegen und bevor ich nachlegen kann, beginnt mein Handy erneut zu summen. „So charmant, wie früher. Zum Kotzen.“ Wie damals in der Schule. „Heul…doch“, antworte ich, während ich das Telefon hervorziehe. Doch als ich den Namen über der Nachricht lese, geht mir jedes stichelnde Bedürfnis verloren. Sie ist von Kain. ____________________ Ps: Ihr lieben, ich verkrieche mich in die Ecke und schäme mich für die ewigen Zeiten, die ihr auf die neuen Kapitel warten müsst. Ich danke euch von Herzen, dass ihr eine derartige geduld mit mir habt und verspreche euch, dass ich keine meiner Geschichten aufgegeben haben. Ich schreibe an allen weiter!!! Ich bin euch so dankbar für jedes Wort und für jeden Gedanken! Für jede Anregung! Es gib mir Kraft und Energie! Bitte gebt mich nicht auf! PS PS: Ich werde noch die Woche alle Kommies beantworten! Versprochen!!! Kapitel 21: Enemys at the kitchen floor --------------------------------------- Kapitel 21 Enemys at the kitchen floor -Brauche etwas Zeit- Drei einfache Worte. Kain bleibt seinen Emojis treu. Doch dieses Mal sagt mir das Emojicon mehr als es ein Wort je hätte sagen können. Am Ende prangt mir eine Spielkarte entgegen. Ein Joker. Eines meiner Vetos. Es ist wie ein Schlag. Das Kain davon Gebrauch macht, bedeutet nichts Gutes. Unwillkürlich greife ich an meine Hosentasche. Es befindet sich keine der Karten darin und dennoch entbrennt ein schmerzendes Bersten in meinen Fingerspitzen. Ich lese die Nachricht erneut. So oft, bis das stechende Gefühl dumpf wird, aber nicht verschwindet. „Hat sie mit dir Schluss gemacht?", spottet es mir von der Seite entgegen und ich lasse das Telefon in der Hosentasche verschwinden. Mandy ist mit ihrer Tochter aus dem Gästebad gekommen und beobachtet mich auffällig. Wir konnten uns noch nie wirklich leiden. Ich bin allerdings nicht ganz unschuldig daran. In der Grundschule kokelte ich unabsichtlich ihr Lieblingsstofftier an und verfütterte ein paar Mal ihre Hausaufgaben an den Nachbarshund. Alles im Sinne der Wissenschaft. Ich wollte wissen, wie effektiv die Verdauung von Tieren ist und wie hätte ich als 8- jähriger erahnen können, dass eine Lupe in Verbindung mit Sonnenschein gefährlich werden kann? Kinder sind einfach grausam. Allerdings habe ich in der 11. Klasse dann versehentlich ausgeplaudert, dass sie auf den Freund ihrer besten Freundin stand, weil ich noch nie sonderlich gut darin war, Gesichtern den passenden Namen zu zuordnen. Ich betone, es war ein Versehen. Es gab Drama ohne Ende und ich habe mich nie dafür entschuldigt. Wieso auch? Sie war auch nie nett zu mir. Mandy ist ein Jahr älter als ich und schien dadurch der Vorstellung zu unterliegen, dass sie höher gestellt war als ich. Die Tatsache, dass sie dazu auch immer körperlich größer gewesen ist, machte es nur noch schlimmer. Ein primitiver Klassiker und möglicherweise waren die Versehen nicht so versehentlich, wie ich es andeute. Ich werfe meiner Cousine einen genervten Blick zu und taste unbewusst erneut nach dem Telefon in meiner Hosentasche. Ich habe es versaut. „Ich kann mir das gar nicht vorstellen“, lästert sie weiter und holt mich aus meinen Gedanken. Sie schüttelt ihre dunkelblonde Mähne und wischt Spucke vom Mund ihres Kindes. Ich verziehe das Gesicht und trabe missmutig in die Küche. Mandys Ausruf lasse ich absichtlich unerfragt. Ich will keine Konversation führen und vor allem keine der sich andeuteten Diskussionen beginnen. Leider sieht es meine Cousine anders und folgt mir unaufgefordert in den Nachbarraum. „Du und eine Freundin…“ Sie lacht. Im Grunde eine Vorstellung, die mir selbst so fremd ist, dass mich ihr Gelächter kaum stört. Dennoch hat sie nicht das Recht, sich darüber zu amüsieren. „Wer ist nochmal der Vater dieses Kindes?“, frage ich bewusst rabiat und erziele einen Treffer. Mandys Kiefer spannt sich an und sie weicht meinem Blick aus. Versenkt. Mandys kleine Tochter quietscht zur Bestätigung und beginnt zu brabbeln. „Es ist trotzdem albern, was du tust.“ „Du weißt einfach nicht, wann Schluss ist, oder?“ „Und wenn schon, das ist nicht so peinlich, wie in deinem Alter seine Freundin zu verheimlichen“, sagt sie trotzig. Unser kindisches Spiel geht weiter. Wer wird das letzte Wort haben? Ich fühle mich nicht konzentriert genug, um effizient dagegen zu halten. „Wer verheimlicht seine Freundin?“, fragt Lena, die genau in diesem Moment die Bühne betritt. Großartig. Sie bleibt neben Mandy stehen und wobbelt dem Baby am Ohr herum. Danach nimmt sie drei Gläser aus dem Schrank. „Robin.“ „Du hast eine Freundin?“, fragt Lena belustigt und beobachtet meine Reaktion argwöhnisch. Sie wäre sicher beleidigt, wenn sie es durch jemand dritten erfahren müsste. Wobei es sowieso am wahrscheinlichsten ist, dass sie so etwas durch Jeff mitbekommt und nicht durch mich. „Nein, hab ich nicht.“ Ich nehme mir eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank und übersehe absichtlich das hingehaltene Glas von Lena, als ich ansetze und daraus trinke. Selbst als das Glas direkt vor meiner Nase wackelt. Ich bin gnadenlos und lasse es meine Schwester wissen, indem ich ihr danach noch die frisch befeuchtete Zunge rausstrecke. „Und wer ist dann Brigitta?“, wirft Mandy nach einer Atempause ein und ignoriert gekonnt den nächsten Schwall Spucke, der von den brabbelnden Lippen ihres Babys fließt. Nun richten sich Lenas Augen aufmerksam auf mich. Denn auch sie hört den Namen zum ersten Mal. Ich fühle mich genötigt, zu antworten. „Brigitta ist... Wir arbeiten zusammen. Mehr nicht.“ Ich stoppe noch rechtzeitig, bevor ich die wahre Tätigkeit meiner Lektorin ausplaudere. Doch das verwendete Klischee macht das Ganze nicht wirklich besser. „Klar…“, mischt sich nun auch Lena skeptisch ein. Ich versuche sie mit meinem Blick nieder zu strecken, aber leider ist er nicht mehr so wirksam, wie vor 10 Jahren. „Es klang nicht wie eine Kollegin“, kommentiert Mandy und greift sich ein Glas. „Hat man euch schon mal gesagt, dass ihr nervt!“, gebe ich trotzig von mir. Ich kann auch noch 10. Klasse. Lena stemmt die Arme in die Hüfte, fixiert mich und kommt auf mich zu. Sie bleibt direkt vor mir stehen und drückt mir ihren Finger gegen die Brust. „Hat man dir schon mal gesagt, dass deine Geheimniskrämerei übertrieben und kindisch ist!“ „Ja, Jeff, täglich, doch es ist mir egal.“ „Du. Bist. Ein. Blödmann“ Bei jedem Wort wackelt ihr Kopf hin und her. „Und? Du bist ja auch nicht ganz dicht…“, gebe ich neckend retour und komme nicht umher, zu grinsen. „Aber ich bin immerhin niedlich…Und ist sie nun deine Freundin?“ Ich verdrehe nach diesem platten Versuch die Augen, greife meine Flasche und verkrümle mich zurück in mein Zimmer. Fast schon automatisch setze ich mich an den Computer, tippe mein Passwort ein und öffne das Buchskript. Ich beginne von vorn. Das erste Kapitel lese ich, ohne irgendwelche Korrekturen vorzunehmen. Danach lese ich es erneut und setze den virtuellen Rotstift an. Ich suche nach Wortdopplungen, nach präziseren Beschreibungen und entferne Worte, die nichts zur Stärkung des Satzes beitragen. An einigen Stellen frage ich mich, was ich mir dabei gedacht habe und kassiere den kompletten Absatz. So verfahre ich bis zum 10. Kapitel. Ich ignoriere den Aufruf zum Abendbrot. Auch die persönliche Aufforderung meiner Mutter, die bei mir an der Tür erscheint, wimmele ich mit einem Lächeln ab. Ich habe immer eine passende Ausrede parat. Es ist bereits dunkel, als ich das nächste Mal von Bildschirm aufblicke. Meine Finger sind eiskalt und mein Magen verdeutlicht mir, dass ich zu wenig gegessen habe. Meine Augen gleiten über die letzten geschriebenen Zeilen und ich spüre, dass ich fast fertig bin. Dieses besondere Gefühl bekomme ich jedes Mal wieder. Es ist eine Mischung aus Erregung, Spannung und Zufriedenheit. Auch Stolz. Manchmal auch mit einer Spur Scham. Doch dieses Mal ist da noch etwas anderes. Etwas Negatives. Ich denke nicht weiter darüber nach, speichere das Dokument und streiche mir über den flachen, grummelnden Bauch. Im Haus ist es ruhig. Meine Mutter und Hendrik sitzen scheinbar im Wohnzimmer. Ich höre die leisen Stimmen aus dem Fernseher, sehe das flackernde Licht und biege in die Küche ab. Ein langer Blick in den Kühlschrank. Ich bin unschlüssig. Mein Magen protestiert gegen die Leere, doch richtigen Appetit habe ich nicht. Unschlüssig greife ich mir die Käsepackung, Margarine und Senf. Ich krame zwei Scheiben Brot hervor und verteile das Streichfett und die Scheiben darauf. Ich stoppe, als ich Schritte vernehmen. Als ich zur Seite blicke, sehe ich Hendrik, der sich ein Bier aus dem Kühlschrank nimmt. „Möchtest du auch eins?“, fragt er mich ruhig und ich bin mir nicht sicher, ob er es ernst meint, oder mich nur testet. „Nein, danke“, lehne ich ab und verteile einen Klecks Senf auf meiner Käsestulle. Aus Bier mache ich mir sowieso nichts. Ich streiche den Senf überall hin. Danach klappe ich die beiden Enden zusammen und positioniere mich gegen den Küchentresen. Hendrik ist noch immer nicht gegangen, weshalb ich fragend zu ihm sehe. Mit der kühlen Flasche in der Hand lehnt auch er gegen dem Küchenschrank. Sein Daumen tippt gegen das feuchte Glas, bevor er einen Schluck trinkt. Er wiederholt es und sieht mich dabei an. „Was?“, entflieht mir mit der Geduld eines Toasts. Hendriks Schultern straffen sich augenblicklich. „Was ist los, Robin? Hast du mit irgendjemanden Ärger? Stress?“, fragt er endlich, bevor wir uns weitere 10 Minuten schweigsam anstarren. Ich seufze nur schwer als Antwort und knabbere appetitlos an den überstehenden Käseenden. Etwas Senf benetzt meine Lippen und ich lecke die Schärfe davon, während sich Hendrik strenger Blick tiefer in meine Zellen brennt. Seine vergangene und gegenwärtige Taktik, Antworten aus mir herauszubekommen. Damals, wie heute ein nutzloses Prozedere. Wenn ich nicht will, dann rede ich nicht. Es ist mir ein Rätsel, warum er es immer noch versucht, da es nie funktioniert hat. Aber es ist nicht das Einzige. Eigentlich hatte er es mit allem versucht. Freundlichkeit. Verständnis. Strenge. Wut. Nichts davon hatte wirklich geholfen, denn ich könnte und wollte keinen Vater in ihm sehen. Wie so vieles wurde er mir nach dem Verschwinden meines Vaters vorgesetzt. Meine Mutter sah in Hendrik die Möglichkeit, aus der tiefen, dunklen Grube herauszukommen, in der sie sich nach Renes Tod gefangen fühlte. Sie wollte einen Neubeginn. Sie wollte einfach wieder Leben und ließ dabei unbewusst mein kindliches Ich in der Dunkelheit zurück. Denn ich konnte nicht einfach wieder leben. Auch ein Stiefvater und eine kleine Schwester hatten nichts daran geändert. Damals hatte ich das Gefühl, dass die Zeit stillstand. Es schien kein Ende zu nehmen. Doch wenn ich heute zurückrechne, liegt zwischen Renes Tod und Lenas Geburt nur ein Flügelschlag. Erst jetzt nehme ich einen ersten richtigen Bissen von meiner traurigen Mahlzeit und kaue lustlos auf dem zähen Pamps herum, der sich kurz darauf in meine Mund bildet. Mein Hungergefühl ist schon wieder verschwunden und missmutig lege ich das Brot zurück auf das Holzbrett. „Hör zu, deine Mutter macht sich Sorgen…“, setzt mein Stiefvater an. „Muss sie nicht“, unterbreche ich ihn. Ich sehe aus dem Augenwinkel heraus, wie er einen Schluck aus der beschlagenen Flasche nimmt. Ich höre das feine Seufzen, welches von seinen Lippen perlt und vermute Resignation. „Sie ist deine Mutter. Für sie ist sich Sorgenmachen, wie atmen. Und ich merke es auch.“ „Was merkst du?“, frage ich unbeeindruckt und irgendwie unangebracht belustigt. „Dass es dir nicht gut geht. Ich meine, du warst noch nie der gesprächige Typ… schon klar, aber im Moment bist du…“ Er bricht unerklärt ab und seufzt erneut. „Geht es dir wirklich gut? Willst du über irgendwas reden?“ „Hendrik, es ist nichts. Nichts, was ich nicht allein lösen kann“, sage ich mit Nachdruck. „Okay.“ Er gibt endlich auf. Ich beiße ein weiteres Mal appetitlos von meinem Brot ab. Hendrik deutet mir an, dass ich ihm die rausgeräumten Lebensmittel reichen soll und stellt sie zurück in den Kühlschrank. Unschlüssig starre ich auf die Stulle und in meinem Kopf wiederholt sich die Frage nach meinem Befinden. Nein, es geht mir nicht gut. Das mit Kain belastet mich. Mehr als mir lieb ist. Ich würde gern mit ihm reden, mich erklären und mich vor allem noch mal entschuldigen. Aber wer weiß, ob das noch etwas bringt. Bevor sich Hendrik endgültig aus der Küche verabschiedet, kommt er an mir vorbei und drückt mir ein Eis in die Hand. Es ist ein Dominoeis. Meine Lieblingssorte. Ich sehe nicht auf, aber spüre, wie sich für wenige Sekunden seine kühle Handfläche gegen die Seite meines Kopfes legt, gegen meine Schläfe und wie sie sachte durch mein Haar streicht. Nur eine kurze liebgemeinte Geste, die mich tief in meinem Inneren wissen lässt, dass er allem Widerstand zum Trotz ein guter Ersatz gewesen ist. Zurück in meinem Zimmer hole ich das Eis aus der Verpackung. Ich lecke die ersten getauten Nasen zwischen den Waffelhälften davon und lasse meine Zunge tief in das cremige Eis eintauchen. Ich widme mich erst der Schokoladenhaube, als ich mir sicher bin, dass mir die untere Hälfte nicht so schnell davon schmilzt. Der feine Knack ertönt, als die Schokolade an einer Ecke bricht. Ich spüre den zarten Schmelz auf meiner Zunge. Die erst süße und dann herbe Note, die sich mit dem vanilligen Aroma des Eises paart. Ich genieße die Kälte auf meinen Lippen und das seltsam befriedigende Gefühl in meinen Fingerspitzen. Als ich mich genießerisch zurücklehne, koste ich ein weiteres Mal das aromatische Innenleben und schließe die Augen. Mit Eis ist alles einfacher. ~Energie setzt sich frei, die das Herz immer schneller schlagen lässt. Blut pumpt sich durch die Adern. Pulsierend. Heiß. Die Atemfrequenz steigt. Der Puls rast...Ein guter Kuss macht süchtig.~ Ein heißer Schauer arbeitet sich augenblicklich von meinem Nacken über meinen Rücken, als ich mich an die gehauchten Worte des Schwarzhaarigen erinnere. Schlagartig setze ich mich auf. Kains Stimme echot in meinem Kopf umher und ich könnte schwören, erneut seinen warmen Atem an meinem Hals gespürt zu haben. Fahrig streiche ich mir über genau diese Stelle und merke, wie sich meine Körpertemperatur erhöht. Nichts als Einbildung. Jetzt fange ich schon an, zu halluzinieren. Frustrierend. Und die ganze Ungewissheit darüber, wie sich Kain entscheiden wird, macht alles nur noch schlimmer. Er hätte einfach gleich sagen sollen, dass ich seine Gutmütigkeit vollends überstrapaziert habe. Genervt von dieser inneren Zerrissenheit wandere ich vom Arbeitsbereich weiter zum Bett und lasse mich samt Eisreste darauf fallen. Wiederholt blitzen Bilder unseres letzten gemeinsamen Zusammenseins auf. Es hat sich gut angefühlt und genau deswegen macht mich der Gedanke daran jedes Mal wieder wahnsinnig. Ich vertilge die letzten Reste der kalten Köstlichkeit und bleibe mit dem dezenten Aroma von Vanille auf dem Rücken liegen. Meine Hand lege ich auf den Bauch. Ich bin mir nicht sicher, ob das seltsame Gefühl darin Unwohlsein oder nur Hunger ist. Vielleicht ist es auch etwas anderes? Nein. Sicher nur Hunger. Eine Zigarette wäre jetzt gut. Nur sind meine geheimen Vorräte aufgebraucht und die Packung, die ich noch hatte, liegt ungeraucht in Jeffs Wagen. Ich streiche mir langsam über den Bauch, treffe nach einer Weile auf blanke Haut und den stoppeligen Pfad zu meinem Intimbereich. ~ Ein guter Kuss macht süchtig~, wiederholt sich in meinem Kopf. Wahrscheinlich ist es das. Mein Körper lechzt nur nach dem Dopamin, nach dem Serotonin. Nach diesem verräterischen Cocktail von Glückshormonen, der nach jedem Orgasmus meinen willenlosen Leib durchfließt. Er will einen weiterer Schuss Endorphine. Mehr nicht. Am späten Abend schickt mir Jeff eine reichlich belanglose Antwort auf meine ebenso nebensächliche Andeutung. Für einen Moment grübele ich darüber, ob er meine Anspielung nicht verstanden hat oder einfach nur nicht verstehen wollte. Ich entscheide mich dagegen, explizit nach zu bohren. Nach zwei weiteren Tagen ohne frivole Urlaubsimpressionen werde ich dennoch misstrauisch. Theoretisch kommen die beiden in zwei Tagen wieder und statisch gesehen ist Urlaub der größten Beziehungskiller schlechthin. Diskussionen ohne Ende, Unstimmigkeiten und Streit sind bekannte Symptome und die beiden Blonden sind schon ohne Urlaub um keinen Streit verlegen. Eine Trennung wäre der bestmögliche Ausgang für jeden. Jeff könnte sich endlich wieder entspannen. Ich wäre Abels dummes Gesicht los und wenn Kain wirklich beschließt, unser lockeres Arrangement zu beenden, dann hätte er auch keinen Grund mehr, bei mir zu übernachten. Etliche Probleme weniger. Alles könnte wieder so werden wie früher, bevor Jeff die Bombe hat platzen lassen. Ja, eigentlich ist mein Kindheitsfreund an allem Schuld. Ich seufze schwer und gestehe mir schnell ein, dass der Gedanke dumm und kindisch ist. Nur eine Ausrede, um mit meinen eignen Unzulänglichkeiten klar zu kommen. Am letzten Tag ihrer Reise bekomme ich etliche Impressionen nachgeliefert. Noch einmal Sonne, Strand und Meer. Jeff und Abel. Genaugenommen ist es mein Mitbewohner und ein kleiner dressierter Affe, aber die Ähnlichkeit ist bemerkenswert. Danach folgt noch ein Bild mit dem echten Abel. Ich sehe kaum einen Unterschied. Ich wünsche beiden einen guten Rückflug und bin mir nicht einmal sicher, ob Jeff zunächst zurück zum Campus fährt oder direkt zu seiner Mutter. Ich bin und bleibe ein schlechter Zuhörer. Zwei Tage später lehne ich mich neugierig zurück, als ich aufgeregte Stimmen im Flur höre. Lena ist am lautesten. Meine Mutter lacht. Dann vernehme ich Jeffs Stimme und lächele unwillkürlich mit. Ein paar Minuten später lehnt mein Kindheitsfreund keck grinsend im Türrahmen. „Aloha, du oller Stubenhocker! Bist du in den letzten Wochen überhaupt mal rausgekommen?" Jeff trägt kurze Hosen, die einen guten Blick auf seine braungebrannten Unterschenkel eröffnen. Eine Blumenkette um seinen Hals schreit förmlich nach Insel und billigen Plastik. Nur das langärmliche Shirt passt nicht wirklich in das Paradiesoutfit. „Na wenigstens muss ich mir keine Sorge über maligne Melanome machen.“ „Schon mal etwas von Vitamin-D-Mangel gehört?“, gibt er retour. Treffer. „Ist Aloha nicht hawaiianisch?“, frage ich ablenkend und richte meinen Blick zurück auf den Monitor, bevor sich Jeffs sonnengeküssten Arme um meinen Hals schließen. Seine Wange bettet sich gegen meine und ich nehme den vertrauten Geruch meines Jugendfreundes wahr. Er paart sich mit einem Hauch Kokosnuss und dem salzigen Aroma des Meeres. Bevor ich die Umarmungen erwidere, schließe ich meine Augen, erinnere mich an das Gefühl von Sand und Meer auf meiner Haut. Danach lege ich meine Hand gegen seinen Unterarm, streiche ein, zweimal leicht hin und her. „Ist es seltsam, wenn ich sage, dass mir dein notorisches Gegrummel gefehlt hat?“, sagt er witzelnd. „Es ist auf jeden Fall bedenklich“, merke ich ruhig an. Jeff drückt mich kichernd noch etwas fester und richtet sich dann wieder auf. Ich weiß, dass er lächelt. „Wo genau seid ihr eigentlich gewesen?“, frage ich, lehne mich zurück und folge mit dem Blick meinem Mitbewohner in die andere Hälfte des Zimmers. Jeff bleibt neben dem Bücherregal stehen. Genauso, wie es Kain getan hatte. Auch er streckt seine Hand nach einem Buch aus und zieht es mit dem Zeigefinger nach vorn. Es kippt nicht, sondern bleibt am darüber befindlichen Regalbrett hängen. Mit einem rumsenden Geräusch fällt es wieder zurück. „Fidschi Inseln. Es war traumhaft…Viel Sonne, warmer Sand und ununterbrochen leckere Cocktails.“ Mit diesem schwärmerischen Kommentar sieht er wieder zu mir. Sein Grinsen ist breit und übertrieben. Es wirkt gekünstelt. „Ja, dank deines Bildermarathons fühlte ich mich selbst ununterbrochen betrunken…danke dafür“, sage ich sarkastisch. Jeff lacht laut auf und weicht auffällig meinem Blick aus, indem er aus meinem Sichtfeld verschwindet. Es war nicht ganz das Paradies, was er suchte. „Und habt ihr euch da irgendwas angeguckt?“, hake ich nach und folge ihm notgedrungen in den anderen Teil des Zimmers. Jeff ist vor der schmalen Balkontür stehen geblieben und dreht sich um, als ich fast neben ihm stehe. „Na ja, wir waren hauptsächlich zum Rumliegen, Cocktails trinken und Vögeln da…von daher haben wir nicht viel gesehen. Abgesehen vom Pool. Dem Balkon. Dem Strand und einmal auch ein Boot“, kommentiert er zwinkernd meinen kleinkarierten Versuch, wirkliches Interesse an seinem Urlaub zu heucheln. Jeff grinst dümmlich und hat es nur in so einer Deutlichkeit gesagt, um mich zu ärgern. „Oh bitte…zu viel Information…“, sage ich weniger ablehnend, als es den Anschein erweckt. „Du hast gefragt, also komm damit klar.“ Mein Mitbewohner lässt sich schwungvoll aufs Bett fallen und angelt nach der Zeitschrift, die ich mir aus Langeweile von Lena geliehen habe. Es ist noch immer die Seite mit den Beziehungstipps geöffnet. Als seine Augenbraue fragend nach oben wandern, versuche ich, ihm die Zeitschrift wegzunehmen. Ohne Erfolg. Ich werfe mich ans Fußende und blicke zur Decke. Jeff studiert aufmerksam die Seite mit den Tipps für besseren und befriedigenden Sex. „Und hat es dir gefallen?“ „Es war sehr befriedigend…“ Ich verdrehe meisterlich die Augen und mir ist sehr wohl bewusst, dass er im Grunde meiner Frage ausgewichen ist. „Wo ist eigentlich Ben?“, fragt er hinterher, schaut sich kurz um und blättert einmal vor und wieder zurück. Anscheinend sind die Tipps lesenswert. „Hab ihn geraucht“, kommentiere ich trocken und betrachte ein paar Staubflöckchen, die sich im nicht spürbaren Luftzug bewegen. Ohne es zu sehen, weiß ich, dass für einen kurzen Augenblick Jeffs Gesichtszüge entgleisen. Obwohl er weiß, dass ich das seiner geliebten Grünpflanze niemals antun würde. Jeff wartet auf die Anzeichen eines Scherzes, doch ich rege mich nicht. „Bisschen krümelig, aber ansonsten sehr… aromatisch...“, lege ich nach und werde auf der Hälfte meines fiesen Spruches von einem angeflogenen Kissen unterbrochen. Es landet mitten in meinem Gesicht. „Oh, dafür lasse ich dich leiden…“, versichert er mir. Sein Blick spricht Bände und obwohl ich darüber lache, weiß ich, dass Jeffs Rache definitiv zu spüren sein wird. Jetzt mit der Anwesenheit meines Kindheitsfreundes wird es mit meiner selbst auferlegten Scheinisolation komplett vorbei sein. Wie schnell wird mir erst klar, als sein Handy summt und er nach dem lesen der Nachricht grinsend aufsieht. „Eigentlich wollte ich dich noch einen Tag schonen, aber jetzt…gehen wir aus.“ „Wann?“, frage ich wenig beunruhigt und reichlich desinteressiert. „Heute Abend.“ „Wohin?“ „In eine Bar.“ Ich sehe von der Zeitschrift auf, die ich mir heran gezogen habe. „Nee …“, gebe ich nach minimalistischer Bedenkzeit von mir und drehe mich samt Schundblatt von Jeff weg. Ein kurzer Blick auf die Seiten bestätigt meine schlimmsten Ahnungen. Darin stehen Tipps wie zeitintensives Kuscheln und ein gutes, ausgiebiges Vorspiel. Anscheinend hatte bisher keiner der Autoren einen guten Quickie. „Dir ist schon klar, dass ich dein ´Nee´ nicht gelten lasse.“ Jeff lehnt sich auf meine Seite und greift sich das Klatschblatt. Ich ächze übertrieben und gebe mich geschlagen. „Ezra und Marten haben mir vor einer Weile erzählt, dass sie ein eigenes Geschäft eröffnen wollen. Nun ist es so weit“ Ezra und Marten sind zwei ehemalige Mitschüler. „Hier in der Pampa?“ Entweder ist das die dümmste Idee des Jahrhunderts oder brillant. Der Laden könnte ein Hotspot der Jugend werden. Jedenfalls von den wenigen, die hier noch übrig sind. „Japp.“ „Eine Bar voller Dummquatscherei und gegeltem Haar“, deute ich. Die beiden gehörten immer zu der besonders schnöseligen Sorte und wir waren schon zu Schulzeiten nur damit beschäftigt, uns gegenseitig zu foppen. Ich habe kein Bedürfnis, das aufleben zu lassen. Und im Grunde hatte wir nie viel miteinander zu tun. „Frisch gezapftes Bier, Wodka und...Tequilaa…“, beginnt Jeff zu schwelgen. Er betont den Agaven-Brand besonders und in mir kommen Erinnerungen hoch, die eine brennende Zunge, einen Tag Übelkeit und malträtierende Kopfschmerzen enthalten. Trotz meiner mangelnden Begeisterung fängt Jeff an zu kichern und mimt ein hasenartiges Erdmännchen. Mein Blick bleibt skeptisch. Auch wenn mein Kindheitsfreund mittlerweile ein Meister im Machen dummer Gesichtsausdrücke ist. „Du nervst“ „Ja, ja. Du, mein Lieber, bist von allem genervt, was nicht gleich Männchen macht.“ „Männchen macht?“, hake ich irritiert nach. „Okay, wenn du mit mir zur Eröffnung kommst, dann...gehe ich mit Lena zu dem One-Direction-Konzert.“ Am besten war die dramaturgische Pause. Er präsentiert es als Idee des Jahrzehnts und leider muss ich zugeben, dass ich nicht abgeneigt bin. Großversammlung von kreischenden Teenwesen oder peinliches Aufeinandertreffen von alten Schulmenschen. Im Grunde ist es die Wahl zwischen Pest oder Cholera. Wobei aus medizinischer Sicht Cholera die eindeutig bessere Wahl wäre, denn das ist mit ausreichend Wasser und Elektrolyte relativ gut behandelbar. Genauso wie ein Kater. Die Frage, die bleibt, ist, woher er schon wieder von Lenas Plänen weiß. „5 seconds to summer“, berichtige ich, ohne mich wirklich für oder gegen seinen Vorschlag auszusprechen. In der Bar gibt es Alkohol und der Tequila klingt mit einem Mal sehr verlockend. Es bleibt Pest oder Cholera. „Dahin auch... Komm schon!“ Eben hieß es noch, er würde mich zwingen und nun blicken mir zwei bettelnde blaue Augen entgegen. Standhaft ist anders. Er sollte das dringend üben. Ich schrecke zusammen, als mit einem Mal Musik erklingt. Passende Barmusik. Den Titel erkenne ich nicht. Doch nach nur wenigen Takten ist selbst mir klar, dass es ein Handy sein muss. Meins ist es nicht. Bei Jeff dauert es etwas länger. „Oh, oh…wo ist es?“ Jeff beginnt zu suchen. Erst, nachdem er das Kissen zur Seite schiebt, wird das Geräusch lauter. Er blickt auf das Display und runzelt verwundert die Stirn. „Sag dem IT-Futzi endlich, er soll aufhören rumzulabern und dich nach einem Date fragen“, kommentiere ich in der Annahme, dass Jeffs eigenartiges Verhalten nicht durch den sonstigen Anhang ausgelöst wird. „Es ist nicht Jake….“, murmelt er errötet und geht ran, „Hey, Kain.“ Bei der Erwähnung des Schwarzhaarigen ist es an mir, beschämt zur Seite zu blicken. Zu meinem Glück bemerkt er die für mich untypische Reaktion nicht. Ich versuche, nicht genau hinzuhören. Natürlich funktioniert es nicht. Ich nehme nichts anderes mehr wahr, als die leise, gedämpfte Stimme Kains, die aus Jeffs Handy dringt. Es könnte jeder sein, der spricht, doch mein Kopf simuliert die vertraute Stimme des Biotechnologen, als würde er direkt neben mir stehen. Mein Körper reagiert und ich hasse ihn dafür. Ich schmule in Jeffs Richtung. Sein Kopf bewegt sich beim Telefonieren leicht hin und her und seine Hände beginnen, an irgendwas herumzufummeln. Als er mich ansieht, weiche ich seinem Blick aus. Jeff wünscht dem anderen Mann eine schöne Zeit, legt sich wieder hin und bettet seinen Kopf zurück an meine Schulter. „Was wollte er?“, frage ich beiläufig. „Er fährt morgen zurück zum Campus und wollte mich fragen, ob er mein Auto noch woandershin benutzen kann.“ Ich horche auf. „Woandershin?“, hake ich nach. „Jup,…“, erwidert er unaufgeregt und ich möchte ihn erwürgen. „Und wohin?“, bohre ich mit zusammengebissenen Zähnen weiter. Neugieriger, als ich wollte und aggressiver, als ich sollte. Das merkt auch mein Jugendfreund. „Keine Ahnung. Er hat es mir nicht gesagt und ich habe ihn nicht gefragt. Du kannst ihn doch selbst fragen“, wirft Jeff gerechtfertigt ein und in meinem Magen wird es flau. Ich denke an Kains Nachricht und setze mich auf. Jeffs Kopf rutscht auf das Laken. Ich denke nicht, dass Kain will, dass ich mich nach irgendwas erkundige. Noch weniger will er, dass ich meine absurde Neugier stille, nur weil ich jedes Mal wieder dieses schrecklich beißende Gefühl verspüre. Er braucht Zeit. Seine Nachricht echot in meinem Kopf umher wie ein höhnender Peitschenknall. „Hey…“, hakt Jeff verwundert nach. Anscheinend hat er mich etwas gefragt, doch ich habe es nicht einmal mitbekommen. Es ist zum Verrücktwerden. Gut, ich wähle die Cholera. „Heute Abend, sagst du? Ich komme mit und du zahlst…“, sage ich und gebe damit meine Einwilligung für den feuchtfröhlichen Abend. Jeff grinst, angelt zufrieden nach der Zeitschrift und versucht danach herauszubekommen, was für ein hypothetischer Beziehungstyp ich sein könnte. Ich bin mehr Typ, als Beziehung. Dank Jeff kommen wir nach der Eröffnungsansprache und der Lobhudelei bei der Bar an. Ich preise stillschweigend seine Unfähigkeit, sich für ein Outfit zu entscheiden an und will nichts weiter, als schnell an einen Drink kommen. Es sind bereits eine Menge Leute hier. Sie tummeln sich an der Bar, bilden kleine Grüppchen an Stehtischen und scheinen alle bester Stimmung. Meine hingegen scheint mit jedem weiteren Gesicht zu eskalieren. Ich habe schon drei Leute wiedererkannt. Jeff zieht mich zur Bar, wo wir nach nur kurzem Check vor Marten stehen. Die Begrüßung gleicht einer übertriebenen inszenierten Alte-Freunde-Zeremonie. Ich ergebe mich unwillig der aufgezwungenen Körperattacken und nicke wie ein braver Lemming, als Jeff ausplaudert, wie sehr wir uns freuen, an der Eröffnung teilzuhaben. Marten hat sich optisch kein bisschen verändert. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er dasselbe Sakko trägt, wie zu unserer Abschlussfeier. Es hat jedenfalls dieselbe Matschfarbe, wegen der ich mich schon damals fragte, wo sein Geschmack geblieben ist. Der gleiche Gedanke jagt auch jetzt durch meinen Kopf und erzeugt seltsame Assoziationen von tanzenden Lurchen. „Ah Moment, ich möchte eure Ausweise sehen!“, kommt es plötzlich von der anderen Seite und als wir uns umdrehen, kommt Ezra auf uns zu. Er war schon damals ein recht großer, breiter Kerl und hat noch etwas draufgelegt. Echt imposant. Er breitet seine Arme aus und die Begrüßungsphrasen beginnen von neuem. „Ihr zwei hockt also immer noch aufeinander? Wie 90er.“ Marten blickt in meine Richtung und zwinkert dann zu Jeff gewandt mit dem linken Auge. Der lächelt nur. „Und ihr teilt euch noch immer den Lebensvorrat an Hairstylingprodukten. Wie 50er“, kommentiere ich, nachdem mir beim besten Willen keine überzeugende Deutung für Martens Zwinkerei einfallen will. Von den beiden Männern mit Föhnfrise ernte ich dafür Gelächter und von Jeff einen beinahe unglücklichen Tiefschlag. „Schön, dass ihr hier seid!“, greift Ezra auf und lächelt. „Darauf sollten wir anstoßen.“ Marten schiebt uns 4 Gläser mit klarer Flüssigkeit und einer Scheibe Zitrone entgegen. Tequila. Das Salz folgt auf einen kleinen Holzteller. „Wie war das noch mal?“, fragt Jeff. Er greift nach der Zitrone führt sie zu seinen Lippen und deutet dann auf das Häufchen mit Salz. Danach deutet er einen Wechsel an. Wer in unserem Alter nicht weiß, wie man Tequila trinkt, sollte sich verbuddeln lassen. Ich kippe das Glas ohne Schnickschnack runter und ignoriere die fragenden Blicke der anderen. „So geht es natürlich auch“, kommentiert Ezra lachend. Ich genieße das Brennen in der Speiseröhre, welches bis in meinen Magen wandert und dort ein witzig kitzelndes Kribbeln erzeugt. Mein Magengeschwür feiert Fiesta. Genau das habe ich gebraucht. Ich hasse Smalltalk. Überhaupt hasse ich es, in belanglosen Erinnerungen zu schwelgen. Ich habe nicht umsonst keinen Kontakt mehr zu den Leuten aus meiner Schulzeit. Die Drei vollführen das übliche Prozedere und ich beginne zu bereuen, weichgeworden zu sein. „Jetzt im Ernst, was treibt ihr so nach all den Jahren?“, fragt Marten und brüllt gegen die laute Musik an. Im gleichen Atemzug schiebt er uns eine der durchgestylten Karten hin. Ich greife danach, überblättere das ganze Vorgeplänkel des Sinns und der Entstehung und stoppe beim alkoholischen Angebot. Es sind nur 4 Jahre vergangen, seit wir uns das letzte Mal begegnet sind. Ein Katzensprung. Was soll schon passiert sein? Die meisten von uns hängen wie Jeff und ich in Hörsälen ab oder wechseln zum zweiten Mal ihren Ausbildungsberuf. Kontinuität war noch nie ein Zeichen von Mittzwanzigern. Aus diesem Grund bin ich kein Fan von Klassentreffen. Es ist nichts weiter, als ein übererhebliches und stumpfsinniges Gebären von nicht selbst erbrachten Leistungen und unverhältnismäßigen Vorstellungen. Ich frage mich, wie viel von Marten und Ezra wirklich in dieser Bar steckt und wie viel von ihren gönnerhaften Familien. „Wir studieren beide an derselben Uni.“ Jeff platziert sich auf einen der leeren Barhocker am Rand des Tresens. Er schaut während der Erläuterung unseres bisherigen Werdegangs immer wieder zu mir, so als wolle er sich versichern, dass er nichts Falsches erzählt. Inwiefern er bei Lernen, Essen und Schlafen falsch liegen kann, ist mir ein Rätsel. Ich bin einfach nur froh, nicht reden zu müssen und studiere die Getränkekarte, gebe mich dabei ruhig und gleichgültig. Ich sehe mich um. Der Laden ist etwas zu gestylt für meinen Geschmack. Obwohl die Bar eine eigenartige Mischung aus modern und urig ist, wirkt es gewollt und nicht gewachsen. Aber wie sollte es auch? Zudem gibt es keine klare Linie. Wollen sie modern und hipp wirken oder rustikal und derb? Holzelemente treffen auf Metall. Eckkneipenidyll verbeißt sich in Industrieschick. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Mein Blick senkt sich zurück in die Karte. Sie ist umfangreich und enthält Unmengen an Cocktails, deren Namen ich noch nie gehört habe, teilweise nicht aussprechen kann und ich mir auch nichts darunter vorstellen vermag. Planters Punsch? Cucumber Elderflower Mule. Hä? Ich frage mich, wie man den nach zwei oder drei Cocktails bestellt. Es sind auch die Klischeehaften auf der Karte. Jeff bestellte vor einigen Jahren mal einen Sex on the Beach und kicherte nach jedem Schluck, wie eine Horde japanischer Schulmädchen in Harry Potter-Land. Es war durchaus erheiternd. Ich blättere weiter und lande bei den hochprozentigen Angeboten. Etliche Whisky- und Scotch-Sorten aus verschiedenen Ländern reihen sich neben ebenso mannigfaltigen Wodkas. Polnischer. Ukrainischer. Klassisch russisch. „Alle handverlesen und verkostet!“, merkt Ezra an und lehnt sich neben mich an den Tresen. Er tippt mit Zeigefinger auf einen schottischen Unblended Whisky, gleitet weiter zu einem irischen Pure Pot Still Whiskey. „Das hier sind meine Favoriten.“ Er beschreibt mir den Geschmack des Irischen und ich kann es mir beim besten Willen nicht vorstellen. Rauchig und samt? Bei fast 50 Prozent Alkohol ist Geschmack kaum vorstellbar für mich. C2H6O. Ethanol. Nichts weiter als eine Formel für Kopfschmerzen. „Ich hab nach dem Abschluss eine Rundreise durch die Destillen der Inseln gemacht. Oh man, echt raues Klima, aber kalt war mir nie.“ Er lacht bariton und lehnt sich in eine gemütlichere Position. Trotz des ganzen Trubels um ihn herum wirkt er seltsam entspannt. „Und deswegen die Bar?“, frage ich nach, obwohl es mich nicht wirklich interessiert. So kann Jeff nicht behaupten, ich hätte es nicht versucht. „Na ja, eigentlich hätte ich gern meine eigene Destille, aber meine Eltern wollten, dass ich etwas mit Zukunft mache...“ „Und da kamt ihr darauf, eine Bar zu eröffnen?“, erkundige ich mich erneut. Diesmal mit ironischem Unterton. „Ein wenig gastronomisches und kaufmännisches Chichi und voilá…“ „Ein Hoch auf den Alkohol. Den wird es immer geben“, kommentiere ich ein klein wenig zu enthusiastisch. Ezra scheint es nicht zu bemerken. „Genau das hatte ich Ihnen auch gesagt…“ Er lacht erneut. Vollmundig und laut. Dennoch scheint der größte Teil seines Gelächters in der lauten Musik zu verschwinden. Ich folge mit den Augen einer neu ankommenden Gruppe von Gästen, die in eine der hinteren Ecken verschwinden. Ich sehe zu Jeff, der Richtung Marten über den Tresen lehnt und sich verschiedene Biersorten vorführen lässt. Ich weiß nicht, was ich hier soll. Meine Tagesration an Small Talk ist vollbracht und zu mehr fühle ich mich nicht in der Lage. Zudem möchte ich, seit wir hier sind, am liebsten jeden anfallen, der den Eindruck erweckt, er könnte Zigaretten haben. Obwohl in dem Laden niemand raucht, scheint der Geruch von Tabak überall. „Er hat dich überredet, oder?“ Mein ehemaliger Mitschüler steht noch immer neben mir und ich beginne, ihn langsam zu bemitleiden dafür, dass er anscheinend die Aufgabe bekommen hat, mich zu bespaßen. Oder sich zu mindestens dazu verpflichtet fühlt. „Wie bitte?“ „Hierher zu kommen.“ Erwischt. „Wir haben einen Deal“, erkläre ich unaufgeregt „Was, musst du jetzt ein Semester lang seine Hausaufgaben machen?“, fragt er amüsiert. „Nein, es ist etwas spezieller.“ Ezras Augen fixieren mich. „Was gibt es bei euch etwa Sonderleistungen?“ Ich brauche einen Moment, um dem Begriff Sonderleistungen eine klare Bedeutung zu zuordnen und blicke meinem ehemaligen Mitschüler verdutzt entgegen. „Was? Nein…er…er begleitet meine Schwester auf ein Teeniekonzert. Das hätte sonst ich tun müssen“, gebe ich irritiert von mir und suche unvermittelt nach meinem Mitbewohner. Jeff sitzt noch immer an der Bar und hat mittlerweile drei Gläser Bier vor sich stehen. Alle haben eine andere Farbe. Ezra folgt meinem Blick. „Schon klar.“ Er stupst mir mit dem Ellenbogen gegen die Seite und grinst. „Das ist Jeffs Ding, nicht meins“, stelle ich mit wenig Nachdruck klar. Ich brauche eine Zigarette. Dringend. Ich bin im Grunde seit fast zwei Wochen auf Entzug. „Ich hätte ja nicht gedacht, dass es Themen gibt, die dich aus der Bahn werfen. Aber schön, dass sich Dinge ändern.“ Ich verstehe nicht, was er damit meint. Ezra sieht ein weiteres Mal kurz zu Jeff und dann wieder zu mir. „Entschuldige, du sitzt ja die ganze Zeit auf dem Trockenen. Was kann ich dir bringen?“ Trotz Blick in die Karte, weiß ich nicht, was ich darauf antworten soll. „Habt ihr einen Automaten für Zigaretten?“, frage ich stattdessen. „Sicher. Auf dem Gang zur Toilette.“ Er deutet in die Richtung, in die auch die kleine Gruppe verschwunden war. Der Automat schluckt mein Geld gierig, rödelt und wirft dann die Packung der ungesunden Glimmstängel aus. Ich weiß jetzt schon, dass meine Mutter es riechen wird, dass sie mich darauf anspricht und dass ich lügen werde. Immerhin kann ich behaupten, dass man in einer Bar kaum dran vorbei kommt. Am Geruch. Am Aroma. Sie wird trotzdem sauer sein, egal, was ich sage und ich kann es verstehen. Beim Zurückkommen sehe ich Ezra bei Jeff an der Bar. Ich stehle mich ohne Laut zugeben vor die Tür. Augenblicklich legt kühle Luft sich auf meine Haut und erst jetzt merke ich, wie warm es in der Bar gewesen sein muss. Während ich mit geschlossenen Augen die Abkühlung genieße, friemele ich die Plastikfolie von der Packung. Ich stecke mir die Zigarette zwischen die Lippen, sehe in den dunklen Himmel und zünde sie nicht an. Im ersten Moment, weil ich es nicht will und dann aus Ermangelung eines Feuerzeugs. Verdammt. Ich atme tief durch, ziehe etwas des Aromas des Tabaks mit ein und spüre, wie meine Lunge schreit. Was würde ich dafür geben, jetzt einfach ins Bett fallen zu können. Ich könnte mir die Decke über den Kopf ziehen und müsste niemanden mehr etwas vorspielen. „Interessante Methode.“ Ich erkenne Ezras Stimme und muss deswegen meine Augen nicht öffnen. „Angst, dass ich die Zeche prelle?“, frage ich mit der Zigarette im Mund und nuschele. „Nicht wirklich. Immerhin weiß ich, wo du wohnst. Na ja, zumindest, wo du…du weißt schon.“, sagt er lachend und ich höre, wie er das Rädchen eines Feuerzeuges bedient. Als ich zu ihm sehe, hält er es mir hin. Ezra stellt eine halbvolle Flasche Tequila auf den Fenstersims neben ihm ab, holt eine Packung Zigaretten aus seiner Hosentasche und zaubert zwei Schnapsgläser hinter seinem Rücken hervor. Wäre ich nicht so missmutig, würde ich applaudieren. „Bist du nicht etwas zu entspannt für euren Eröffnungstag?“, frage ich, als ein weiteres Grüppchen aus drei jungen Männern und zwei Frauen in die Bar tigern. Die Lokation scheint bald über zu quellen, doch Ezra zieht ohne eine auffällige Reaktion eine Zigarette aus der Packung und lächelt. Er ist tiefenentspannt. Sehr verdächtig. „Die größte Anspannung ist schon weg. Jetzt müssen wir es eh erst mal laufen lassen. Alles andere wäre unnötige Panikmache.“ „Scheint ja gut zu laufen... bisher...“ „Kleine Stadt und viel Mundpropaganda. Und wie du sicher noch weißt, gibt es hier nicht sonderlich viel Unterhaltungsprogramm.“ Soviel zum Thema Katastrophe oder Elysium. Im Moment scheint eher zweites zu zutreffen. Abgesehen von einer verqualmten Eckkneipe und dem Kino existiert in dieser Stadt nichts, was halbwegs zu Schandtaten einlädt. Der einzige Lichtblick unserer infantilen Rebellionen waren die Privatparties und die kleineren, die von der Schule organisiert werden. Der Brünette zündet seine Zigarette an und nimmt einen tiefen Zug. Ich sehe dabei zu, wie sich die Muskeln an seinem Hals bewegen, als sich der Rauch einen Weg über seine Lippen nach außen bahnt. Meine eigenen Geschmacksknospen ziehen sich zusammen, als ich mich an das Aroma der Zigaretten erinnere. Mein Gehirn rebelliert und schreit nach dem Nikotin. Trotz alledem lasse ich meine unangetastet. Statt einen erneuten Versuch, mit dem Feuerzeug zu starten, greift Ezra den Tequila und füllt die beiden Gläser. Er reicht mir eines davon. „Auf die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft.“ Wie theatralisch. Wir kippen den Agavenbrand gleichzeitig runter und während sich der Alkohol meine Speiseröhre entlang brennt, meldet sich schon wieder meine Lunge. Wo ist nur die Bettdecke, wenn man sie braucht. „Jetzt hast du dir extra Zigaretten gekauft und rauchst keine?“ Ezras lehnt sich an den Fenstersims und nimmt einen tiefen Zug. „Ich sollte eigentlich aufhören und wenn es nach meiner Mutter geht, hätte ich nie anfangen dürfen. Das Übliche.“ Ich lasse die einzelne Zigarette in meiner Hosentasche verschwinden. „Also Zwangsentzug?“ „Sozusagen…aber nicht nur deswegen.“ Ich denke an Kain. Er hat sich nie wirklich beschwert, aber gut findet er es sicher auch nicht. Unweigerlich denke ich an das Aroma fruchtigen Ingwers, welches ich hin und wieder bei dem Schwarzhaarigen schmecke. „Ich hab auch schon gehört, dass Aschenbecher küssen nicht das Wahre ist. Hast du eine Freundin?“ „Nein,…“ „Aber du hörst doch nicht wegen deiner Mama auf.“ „Nein, wegen der Gesundheit…“, sage ich ausweichend. Ezras Blick nach, glaubt er mir kein Wort. Er schenkt uns ein weiteres Glas ein. „Na dann, ein Hoch auf die Gesundheit….und die anderen Dinge, die uns bezwingen.“ „Lass das nächste Mal deine Sprüchebuch lieber zu Hause“, kommentiere ich diesen seltsamen Trinkspruch und kippe das nächste Glas weg. Wenn es in diesem Tempo weiter geht, dann werde ich morgen den schlimmsten Kater meines Lebens haben. „Hier seid ihr!“ Wir drehen uns beide um. Jeff stolpert die Stufe nach draußen fast runter. Ezra und ich greifen beide nach dem Blonden. Ich bin ein kleinwenig schneller. „Hey, vorsichtig…“, sage ich, ziehe meinen Kindheitsfreund in eine aufrechte Position und lasse ihn erst los, als ich sicher bin, dass er nicht über einen Fantasie-Elefanten fällt. „Die Stufe war da vorher nicht, oder? Ich stehe…“, beschwichtigt er und stellt sich für zwei Sekunden auf ein Bein. Die Logik von angetrunkenen Gehirnen ist großartig. „Wir haben das Gebäude extra 20 Zentimeter angehoben. Nur damit wir da eine Stufe hinbauen konnten“, erklärt Ezra mit einem deutlichen belustigten Unterton. Jeffs Stirn runzelte sich fragend, während er darüber nachdenkt, wie viel Wahrheitsgehalt in dessen Worten steckt. Vermutlich verhindert der Alkohol in seiner Blutbahn, dass das in einem halbwegs erfolgreichen Tempo geschieht. „Okay,…ihr verarscht mich.“ „Niemals“, kommentiere ich ebenfalls belustigt und lege dann kurz meinen Arm um den anderen Mann. Es scheint ihn aus zu söhnen. Er lächelt. „Lasst uns noch eine Runde Tequila trinken“, ruft er übertrieben in die Nacht hinein. Er weiß nicht, dass Ezra und ich bereits gut dabei sind. Jeff zieht mich wieder rein. Nach einer weiteren Stunde hat mich Ezra so weit, dass ich tatsächlich einen seiner favorisierten Whiskys koste. Ich schmecke das Rauchige, aber das Samtige bleibt mir verborgen. Nein, eindeutig nicht meine Welt. Jeff ist guter Laune. Genauso, wie die andere beiden. Ich muss zugeben, dass es schon etwas Spaß macht. Was zum einen an der Menge Alkohol liegt und zum anderen an Jeffs Kommentaren, die verdeutlichen, wie viel grandiosen Mist wir damals gebaut haben. Ezra und Marten erinnern sich zusätzlich noch an Dinge, die ich längst verdrängt habe und irgendwann zaubert einer von beiden das Tanzvideo hervor, bei dem auch Jeff und ich mitwirken. Ich wehre mich vehement dagegen, es anzuschauen und werde lachend überstimmt. Dirrty ist definitiv anders. An Marten habe ich gar nicht mehr gedacht. Doch auch er bewegt darin seine scheinbar unfähigen Beine hin und her. Der Einzige, der neben den Mädels einen wirklich souveränen Auftritt hinlegt, ist Jeff. Es folgen zwei weitere Runden Tequila und weitere frivole Details, über die ich niemals Bescheid wissen wollte. Auch Marten und Ezra hatten etwas mit Tabea. Ich halte mich zurück und bin dennoch einigermaßen erschüttert, aber nur für ein paar Sekunden. Die Augen waren es einfach wert. Es folgen noch etliche Schenkelklopfer und die Zeit vergeht, ohne dass ich es merke. Nur mein Kopf beginnt mich langsam zu warnen, dass ich genug getrunken habe und ich weiß, dass es bereits zu spät ist. Auch den anderen merkt man den vielen Alkohol an. Allen voran Jeff, dessen Kopf bereits verräterisch nach unten absackt. Ich ziehe die Reißleine. „Ich denke, wir sollten los“, merke ich an und taste meine Hosentaschen nach meinem Handy ab. In etwa 10 Minuten kommt der Bus, der uns direkt wieder nach Hause bringt und fast vor die Haustüren fährt. Einer der wenigen Vorteile, wenn man in einer kleinen Stadt wohnt. Alles relativ fußläufig und nah beieinander. „Wie kommt ihr nach Hause?“, fragt Ezra und schaut zu Jeff, dessen Kopf nur noch Millimeter über dem Tresen schwebt. Bevor seine Stirn endgültig auf das harte Holz prallt, schiebe ich meine Hand dazwischen. Mein Mitbewohner zuckt wieder hoch. „Noch nicht gehen…“ Wie aus dem Lehrbuch. „Kommt das nächste Mal vorbei, wenn ihr hier seid“ Mehr eine Aufforderung, als ein Vorschlag. Jeff bestätigt begeistert Termine für die kommenden 10 Jahre. Ich greife den brabbelnden Blonden am Jackenkragen und ziehe ihn trotz Gezeter zum Ausgang. Wir bekommen den Bus in letzter Minute. Ich bugsiere den Blonden auf einen der leeren Sitze und lasse mich auf den Platz neben ihn fallen. Ich spüre, wie der Alkohol in meiner Blutbahn langsam aber sicher meine Gehirnzellen lähmt und mich ins Traumland schickt. Zum Glück sind es nur ein paar Stationen. Jeff schmatzt und gibt hin und wieder kleine Seufzer von sich. So zufrieden will ich mich auch mal wieder fühlen. Selbst mit dem ganzen Alkohol in meinem Blut schaffe ich es nicht, mein Gehirn abzuschalten. „Was ist eigentlich los mit dir?“, nuschelt er ruhig und müde, als hätte er meine Gedanken gehört und nachdem er seinen Kopf auf meiner Schulter abgelegt hat. „Was meinst du?“ Es dauert eine Weile, bis Jeff antwortet. Vermutlich braucht es immer noch alles länger, bis es bei ihm ankommt. „Du wirkst so…“ Er stockt. „Mir fällt das Wort nicht ein… Ist es wegen René? Fehlt er dir? Ist nicht bald sein…?“ Die letzte Frage beendet er nicht. Trotz der vielen anderen, gebe ich Jeff keine klare Antwort. „Hm.“ Mehr sage ich nicht. Auch Kain erwähne ich nicht. Mein Jugendfreund schmiegt sich für einen Moment dichter an mich. Ein kleines Zeichen seiner Zuneigung und seine Anteilnahme. „Unausgeglichen…du wirkst unausgeglichen.“ Jeff strahlt mit geschlossenen Augen. Ich bin mir nicht sicher, was er damit meint und frage auch nicht nach, sondern mache nur ein hinnehmendes Geräusch. „Weißt du was?“ Jeff beginnt zu kichern und schmiegt seinen Kopf etwas mehr in meine Halsbeuge. Jeffs Haut fühlt sich warm an. „Was?“ Obwohl ich schrecklich müde bin, spiele ich mit. „Du hattest Recht! Jake will mit mir ausgehen.“ „Möchte er das?“ „Ja, will er. Also, er hat noch nicht gefragt, aber er will… ich denke jedenfalls, dass er es möchte…. also vielleicht.“ Die wirren Worte eines Betrunkenen. Ich komme nicht umher, zu lächeln. „Du hast aber einen Freund…“, erwähne ich, ohne dabei auch nur den geringsten Anschein einer Verurteilung zu erwecken. Nach Abel kann alles nur besser werden. „Jaaa…ich weiß, dass ich das nicht gut finden sollte…aber es ist auch irgendwie aufregend. Und er ist einfach echt heiß…“ Ich versuche mir den ITler vorzustellen, doch es gelingt mir nicht. Ich habe immer nur einen Stereotyp im Kopf. Vermutlich würde ich sowieso nie das sehen, was Jeff sieht. „Du solltest auch mal wieder mit jemanden ausgehen. Jemand heißen…“ Der Blonde wiederholt seine vorigen Worte kichernd. Der Kopf an meiner Schulter nickt übermütig und rutscht dabei weg. Ich mache meine Augen auf und sehe nachdraußen. „Fuck! Wir sind vorbeigefahren!“, sage ich aufgebracht und betätige schleunigst den Halteknopf. „Wir haben noch nicht einmal angehalten?“, stellt Jeff irritiert und verwirrt fest. Er versucht nach draußen zu schauen, aber ihm prangt nur sein reichlich verschwommenes Spiegelbild im verkratzten Fenster entgegen. „Ja, wenn niemand den Knopf drückt oder an der Haltestelle steht, dann hält der Bus nicht an, du Steinchenkrabbler. Komm jetzt! Hoch!“ „Steinchen…“, beginnt er zu murmeln, „wunderschöne Silikate und…Karbonate. Oh Oh...ich muss dir mal den Glimmerschiefer aus der Gesteinssammlung zeigen. Wirklich chic…“ Während Jeff begeistert rumquatscht, ziehe ich ihn in eine aufrechte Position und signalisiere den Busfahrer, dass er uns an der nächsten Haltestelle etwas mehr Zeit zur Verfügung stellen muss, damit ich den betrunkenen Blonden halbwegs sicher rausbekomme. Ein paar Minuten und weitere hübsche Funkelsteinchen später kommen wir bei Jeff an. Ich helfe dem Blonden aus den Schuhen und sehe dann dabei zu, wie dieser quer auf sein Bett fällt. Vorsorglich schiebe ich Jeffs Papierkorb in greifbare Nähe und sehe auf den Wecker auf Jeffs Nachttisch. Es ist mittlerweile 3 Uhr morgens und ich habe keine Lust, nach Hause zu laufen. Ich lasse mich auf die zerfledderte Couch fallen, auf der wir in der Schulzeit häufig zusammen Hausaufgaben gemacht haben. Trotz Müdigkeit kann ich nicht schlafen. Hinzukommt, dass der Alkohol die Funktionen meines Kleinhirns hemmt und somit die die Feinabstimmung meiner Körper- und Augenbewegungen behindert. Dreht sich der Raum oder vielleicht nur die Couch? Ich ziehe mein Handy hervor und lese zum wiederholten Male Kains Nachricht. Er braucht etwas Zeit. Zeit für was? Um endlich zu verinnerlichen, was für ein schlechter Freund ich bin? Ich dachte, dass wäre ihm längst klar. Meine Umgebung schwankt immer noch. Ich rutsche die Rückenlehne wieder hoch und bleibe sitzen. Das Zimmer wird langsamer, mein Blick klarer und ich erkenne, dass Kain gerade online ist. Mein sowieso schon unruhiger Herzschlag nimmt an Tempo auf. Meine erste Reaktion ist es, das Handy zur Seite zu legen. Doch gleich darauf greife ich wieder danach. Ich beginne zu tippen, aber schaffe es nicht, die Nachricht zu Ende zu bringen. Ich kann nicht. Und Kain will es nicht. Er will Zeit. Ich breche nach wenigen Worten ab und kippe zurück zur Seite. Jeff regt sich, dreht sich aus seiner Bauchlage in eine Rückenlage. Mit einem Mal setzt er sich auf und jagt mir einen heftigen Schrecken ein. „Fuck, Jeff…“, entflieht es mir aufgebracht, doch mein Kindheitsfreund stöhnt nur gequält und steht auf „Schlecht“, murmelt er, bevor aus seinem Zimmer herausstiefelt und hoffentlich im Badezimmer landet. Folgen tue ich ihm nicht. Irgendwann höre ich die Spülung. Danach ein weiteres Mal. Als Jeff endlich zurückkommt, setzt er sich zu mir auf die Couch. „Wieso hast du mich nicht davon abgehalten?“ Vorwurfsvoll. „Von deiner Bierverkostung?“ „Nein, vom Tequila…“ Jeffs Kopf kippt auf die Rückenlehne. Ich sehe zur Seite und betrachte sein Profil. Auch mein Kopf fühlt sich langsam immer schwerer an. „Du bist alt genug, um das allein zu wissen.“ Jeff dreht sich in meine Richtung und streckt mir die Zunge heraus. Ich rieche den Alkohol und dass er sich die Zähne geputzt hat. Ich würde es ihm gern gleich tun, aber meine Zahnbürste liegt etwas zwei Kilometer von hier entfernt. Allerdings könnte sie auch neben mir liegen und ich würde trotzdem überlegen, ob ich dafür wirklich aufstehen will. „Du hast vorhin meine Frage nicht beantwortet.“ „Welches mein Lieblingssilikatgestein ist? Ich bin da ehrlich gesagt nicht so festgelegt“, murmele ich schlaftrunken und schließe meine Augen. „Du bist doof! Das meine ich nicht…Was hast du im Moment? Familienüberschuss? Allgemeine Unzufriedenheit? Sexuelle Frustration?“ Wieder ein Fragenmarathon. Ich möchte ihm weiterhin nicht antworten. Wieso führen sich im Moment alle wie Samariter auf? Mir geht es gut. Wenigstens halbwegs, behauptet der Alkohol in meiner Blutbahn. „Eine Freundin streitest du ab, aber du verheimlichst mehr als sonst. “ Jeff lässt nicht locker. „Darf ich nicht auch meine Geheimnisse habe?“ „Sicher, aber…ich bin doch dein Freund…“ Ein Freund, der mir ein halbes Jahr lang seine Beziehung verschwiegen hat. Noch dazu mit wem. Ich bin ihm nicht mal mehr böse, aber das muss er ja nicht wissen. Nun kippt Jeffs Kopf auf meine Schulter. Er seufzt. Nur halb so theatralisch, wie sonst und dennoch weiß ich, dass er schmollt. Er riecht nach der Bar und nach Gummibärchen. „Wie spät ist es eigentlich?“ „Spät…“, antworte ich und merke, wie Jeff seinen Kopf von meiner Schulter nimmt. Ich sehe auf, als es mit einem Mal heller wird. „Oh, hast du dich mit Kain verkracht?“, fragt er verwundert. Der Blonde hat mein Handy ertastet und das Display aktiviert. Ich hatte den Chat mit Kain nicht geschlossen. Ich schrecke hoch und nehme ihm sofort das Gerät aus der Hand. „Nein.“ Ich schüttele verstärkend dazu den Kopf. Auch wenn Jeff es gar nicht sehen kann. „Wofür entschuldigst du dich dann?“ „Für nichts weiter.“ „Du hast dich noch nie für nichts entschuldigt…“, bohrt er weiter. Ich schlucke ungesehen und weiche Jeffs Blick aus. Selbst in der Dunkelheit merke ich, wie sich seinen blauen Iriden regelrecht in mein Gehirn bohren. „Ich hab ihn auf der Fahrt hier her genervt…Alles halb so wild.“ Nicht einmal unwahr. „Aha…“ Die Skepsis schreit mir förmlich aus den drei Buchstaben entgegen, die mein Kindheitsfreund hervorbringt. Mit angespannten Kiefer stehe ich auf und greife nach dem verräterischen Mistding von Telefon. Ich kann im Grunde froh sein, dass Jeff nicht zum Scrollen gekommen ist und die ganzen verräterischen Andeutungen und Bilder gefunden hat. Er packt mich am Handgelenk. „Dir ist schon klar, dass dich dieses dauernde Weggerenne nur noch verdächtiger macht.“ Mit diesen Worten zieht er mich zurück auf die Couch. Der plötzliche Wechsel von stehend zu sitzend, hat meinen Kopf gar nicht gefallen. Ich ächze unter dem hämmernden Kopfschmerz und sehe Jeff flehend entgegen. „Hältst du endlich die Klappe, wenn ich hier bleibe?“, gebe ich murrend von mir. Jeff drückt mit der flachen Hand mein Gesicht in die andere Richtung und steht von der Couch auf. Er wirft mir sein zweites Kissen zu. „Schlaf gut.“ Ich quetsche mir das Kissen zurecht und schaffe es nicht, die Stille so zu genießen, wie ich es möchte. Schlafen kann ich immer noch nicht. Das Erwachen startet genauso, wie der Abend endete. Mit Kopfschmerzen. Das grelle Tageslicht, welches unaufhörlich, gleißend und nervend in den Raum dringt, macht es nur noch schlimmer. Das Perfide an der Sache ist, dass nur an einer winzigen Stelle wirklich Licht durch die Jalousien dringt und genau dieser trifft mein Gesicht. Ich drehe mich auf der Couch um und drücke meinen Kopf in das abgelegene Polster. Als irgendwann einfach nicht mehr genug Sauerstoff in meiner Lunge ankommt, setze ich mich auf. Jeff regt sich nicht. Ich werfe das Kissen aufs Bett, treffe seine Kehrseite, doch auch das hat keine Regung zur Folge. Ich rappele mich hoch, höre wie scheinbar jeder Knochen in meinem Skelett zu knacken beginnt und ernte ein erstes Murren vom Schlafenden. Mehr jedoch nicht. Nach einer Katzenwäsche und gurgeln mit Zahnpasta, schleiche ich in die Küche. Ich treffe auf Jeffs Mama, die mich zur selben Zeit fragend, tadelnd und mitleidig anschaut. Ich glaube, das schaffen nur Mütter. Eine ihrer Spezialfähigkeiten neben dauerndes in Verlegenheit bringen und Überfürsorge. Auch sie fragt mich nach meinem Befinden. Ich beschreibe ihr eine Mischung aus draufgängerischem Pragmatismus und klassischem Runterreden. Kurz; ich atme, esse und unterliege dem Verfall. Marlis lacht immer gern über meine trockenen Witze. Ich genieße die lockere Konversation, während sie durch die Küche wirbelt und mir einen Teller mit Armen Rittern vor die Nase stellt. Bei meiner zweiten Portion trollt sich auch Jeff zu uns. Ich bin erst am Nachmittag wieder zu Hause. Donnerstagabend machen sich Jeff und Lena auf zum Konzert. Ich verbringe den Abend mit meiner Mutter, die dankbar ist, dass sie nun nicht fahren musste. Hendrik ist bei einer Firmenfeier. Wir teilen uns einen riesigen Becher griechischen Joghurt mit Honig, trinken Tee und plaudern. Ich philosophiere über die Eigenarten meiner Dozenten und Professoren, höre zu, wie meine Mutter über ihre eigenen Erfahrungen spricht. Anscheinend haben sich die Lehrkräfte in den vergangenen Jahren nicht verändert oder erlernen automatisch die gleiche Verschrobenheit. Ich erzähle ihr von dem Tutorium, von Shari und dem indischen Essen. Von Jeff. All die Kleinigkeiten, die eine Mutter gerne hört, damit sie sich nicht ausgeschlossen fühlt. Ich genieße die Einfachheit. Solche Momente sind für uns nur noch selten. Einfach nur so sein, kann ich nur allein. Als das Hauptkonzert startet, bekommen wir das erste Update. Jeff schickt mir ein Bild von Lena. Sie streckt ihre Daumen in die Kamera und grinst über beide Backen. Im Hintergrund erkenne ich die Bühne. Lichter. Instrumente. Eine Unmenge an kreischenden Teenager. Ich muss sie nicht einmal hören, um das zu wissen. Es folgt ein weiteres mit beiden. Gegen 23:30 Uhr sind sie wieder zurück. Sie sind aufgedreht und überschlagen sich gegenseitig bei ihren Erzählungen. Ich frage mich, wer von ihnen lauter kreischt und für einen Moment lang verspüre ich Wehmut, weil ich nicht Mäuschen spielte. Jeff und Lena sind eine beeindruckende und powergeladene Kombination. Für mich nur stufenweise erträglich. Die nächsten Tage bleiben angenehm ereignisfrei und am Samstagmorgen steige ich in den Zug zurück zum Campus und das, obwohl ich jedes Semester wieder die gleichen Diskussionen führe. Meine Mutter bittet mich länger zu bleiben. Samstag noch. Sonntag noch. Bis zu René Todestag. Auch meine Argumentation ist immer dieselbe. Drei Wochen Familie sind mehr als ausreichend und nur Samstag gibt es noch Möglichkeiten zum Einkaufen. Und ich denke auch ohne ein bestimmtes Datum jeden Tag an ihn. Auf der Hälfte der Strecke besorge ich mir einen Tee aus dem Speisewagon und schreibe Marie eine Nachricht, dass ich heute noch vorbeikomme. Sie antwortet nicht. Die restliche Zeit nutze ich dafür, die übrigen Kapitel des neuen Buches durchzugehen. Ich schicke es noch während der Fahrt ab. Vor der Zeit und eigentlich auch ohne bestätigtem Auftrag. Falls sie es nicht nehmen, ist es mir auch egal. Das rede ich mir jedenfalls ein. Vom Bahnhof aus fahre ich direkt zu meiner Bibliothekskomplizin. Freundlicherweise hat sie während meiner Abwesenheit für Jeffs heißgeliebten Ficus Pflanzensitter gespielt und ich empfand diese Variante als am tauglichsten. Minimal invasive Eingriffe hinsichtlich Standort, Transport und Pflege. Optimale Lösung. Jeff sah es ein wenig anders. Es ist nicht Marie, die mir die Tür öffnet, sondern einer ihrer Mitbewohner. Ein schlanker, müde aussehender junger Mann. Seinen Namen habe ich schon wieder vergessen. Auch er blinzelt mir erkennend, aber fragend entgegen und wir einigen uns stillschweigend darauf, dass Namen keinen weiteren Nutzen haben. Ich frage nach Marie und erfahre, dass sie bisher nicht auf meine Nachricht reagiert hat, weil sie am gestrigen Abend erst spät aus der Bibliothek nach Hause gekommen ist. Sie schläft. Ich bin versucht, sie zu wecken, doch ich möchte nicht daran schuld sein, dass sie irgendwann mit dem Gebäude verwächst. Außerdem braucht ihr Kopf schlaf, um zu funktionieren. Ben finde ich in der Küche. Ich begutachte ihn einen Moment lang argwöhnisch. Ich hatte ein vorher Foto machen sollen, damit ich auf der sicheren Seite bin. Der Ficus benjamina hat ein paar Blätter gelassen. Diese Pflanzen sind ziemliche Zicken. Jeder kleinen Irritation begegnen sie mit Kahlschlag und bitterer Selbstkasteiung. Photosynthese ersetzt eben keine Gehirnmasse. Wobei einige Menschen mit dem Syntheseprozess schon in neue Sphären aufsteigen könnten. Ein gewisser Blonder gehört definitiv dazu. Ich schlage einen obligatorischen Kaffee aus und bitte darum, Marie Grüße auszurichten. Ich werde mich in irgendeiner Weise bei ihr revanchieren. Mit der Pflanze unter dem Arm laufe ich zurück zum Campus. Micha begrüßt mich im Foyer. Ich frage mich, ob der arme Mann jemals nach Hause geht, denn im Grunde ist er immer da. Überschwänglich schiebt er mir meine Post zu und beginnt zu plappern. Ich lasse den Small Talk über mich ergehen, der mit der Frage nach der Pflanze in meinem Arm beginnt und mit der Klarheit endet, dass Micha verheiratet ist und Zwillingstöchter hat. Auf der Treppe stöpsele ich meine Kopfhörer wieder ein. Sina tritt aus der Gemeinschaftsdusche der Frauen und kommt auf mich zu, als sie mich im Gang erkennt. Ihre Kleidung besteht aus nicht mehr als einer bequemen Hose und ein Tanktop, unter dem sich deutlich die Konturen ihres Körpers abbilden. Ihre Haare sind noch feucht. Und aus irgendeinem Grund erwarte ich, dass im nächsten Augenblick auch Kati folgt, doch die Blondine bleibt allein. „Heute ohne deine brünette Kopie unterwegs?", frage ich wenig galant, nehme einen der Ohrstöpsel heraus und puste ein paar von Bens Blättern aus meinem Gesicht. Sina lächelt unbeeindruckt und bleibt neben mir stehen. „Kati ist bei ihrer Familie in irgend so einem Kaff am Ende der Welt. Freiwillig, 6 Wochen lang“, sagt sie fassungslos und in meine Richtung geflüstert, so als würde sie sonst jemand hören, der es nicht sollte. „Und wo ist deine Entourage?", hängt sie hinterher, als mir ihre Ausführung nur ein mildes Lächeln abverlangt. „Gesetzlicher Urlaubsanspruch. Immer nur Ärger mit dem Pack." Ebenso gleichgültig, greife ich ihre Beleidigung auf und führe sie weiter. Sina verdreht gekünstelt die Augen, kicherte amüsiert und deutet danach auf Ben ohne die Frage zu formulieren. „Lange langweilige Geschichte“, antworte ich und stelle das Bäumchen am Boden ab. „So, so. Du bist also doch ein braver Mitbewohner.“ „Bitte“, schmettere ich abwertend ab, „Was ist eigentlich aus eurem dämlichen Spiel geworden?“ „Was, willst du einen Nachschlag?“ Auf ihren Lippen entsteht ein amüsiertes Grienen. Kein richtiges Lächeln. Jede Regung ist vollkommen kontrolliert. Es ist Flirten für mein Niveau. Ich reagiere nicht auf reine Freundlichkeiten und das ist ihr mittlerweile sehr wohl bewusst. Sie kommt noch etwas dichter an mich heran. Ich gehe nicht darauf ein, sondern sehe dabei zu, wie sie direkt vor mir stehen bleibt. Nun rieche ich den feinen Duft von Seife, gemischt mit irgendeinem süßlichen Blumendeo und Zahnpasta. Ihre femininen Gesichtszüge unterstreichen auffallende Natürlichkeit. Sie trägt nur etwas von diesem schwarzen Wimpernzeug. Ungewohnt echt. Erfrischend ehrlich „Wieso versuchst du es immer wieder?“, erfrage ich stattdessen. „Du hast schon wieder diesen Blick und ich habe das Gefühl, dass du diesmal schwach werden könntest", erklärt sie selbstbewusst. Ich senke meinen Blick in ihr Dekolleté. Ihre Brüste scheinen makellos und ich erinnere mich noch immer gut daran, wie wunderbar sich dieses weiche und schöne Körperteil der Frau anfühlen kann. „Läuft’s nicht gut zwischen dir und Kain?", fragt sie, sieht absichtlich kurz zur Seite statt direkt zu mir. Ich spüre, wie mein Herzschlag aussetzt. Nur kurz, um dann im doppelten Tempo zu schlagen. Es macht mich wahnsinnig, weil ich deutlich spüren kann, wie sich die Vene an meinen Hals hervordrückt. „Da ist nichts zwischen mir und Kain", spule ich monoton ab. Es klingt falsch noch während ich es ausspreche. Ihr Blick ist intensiv. Ihre blauen Augen scheinen mich zu durchdringen. Sie weiß es. Durchschaut mich mittlerweile jeder? Sie stellt sich auf ihre Zehenspitzen und ich fühle, wie ihr warmer Atem über meinen Hals streicht. „Gut… dann fick mich doch", flüstert sie mir auffordert zu. Ihre Hand stoppt über meiner Gürtelschnalle. Ihre Aufforderung hallt durch meinen Kopf. Das Gegenecho schreit nein, doch mit jeder Wiederholung wird es leiser. Solange bis es vollends verstummt. Ich bin seit gut drei Wochen ohne Sex und ihre frivolen Einladungen offeriert mir eine durchaus befriedigende Nacht. Ich habe keine Verpflichtungen. Es könnte genauso sein, wie früher. Nur Sex. Sie wäre perfekt dafür. Sina stiehlt sich einen kurzen Kuss von meinen Lippen und wartet darauf, dass ich den nächsten Schritt mache. Ich merke, wie sich ihre weichen Brüste gegen meinen Oberkörper drücken. Ich spüre die Wärme, die von ihrem Körper ausgeht, aber ich fühle sie nicht. Ich fühle nichts. Nicht einmal das verlässliche Kribbeln, verursacht durch die Berührung körperfremder Glieder. Was will ich mir eigentlich beweisen? „Du bist echt in ihn verliebt, nicht wahr?“ Lüge. „Sei nicht albern… Du machst mich nur nicht an“, sage ich kalt und gehe an ihr vorbei. Ich greife mir den Ficus, der mich verächtlich zitternd empfängt. Sicher nimmt er mir übel, dass ich ihn stehen ließ. Er ist heute nicht der Einzige. Das Leben ist nun mal kein feucht warmes Gewächshaus. Im Wohnheimzimmer stelle ich die Pflanze zurück an ihren Platz, öffne das Fenster und lasse mich auf meinen Stuhl fallen. Ich blicke zur Decke und danach direkt wieder zu dem kleinen Baum. Ein weiteres Blatt. „Bist du jemals zufrieden?“, frage ich murrend in die Dunkelheit hinein. Ich rede mit einem Baum. Am Wochenende ertappe ich mich wiederholt dabei, wie ich mit Ben rede und mache mich daraufhin frustriert auf den Weg zu der hübschen Italienerin. Auch wenn mir die Inhalte unseres letzten Gesprächs noch immer auf den Magen schlagen. Doch im Café ist nichts von ihr zu sehen. Ich setze mich draußen auf die Bank bei den Bäumen und zücke mein Handy. -Mich dürstet es nach gefrorenen Köstlichkeiten, wo bist du, kleine Eismagd?- Die Antwort folgt schnell. -Sitze im Verließ und darf es erst wieder verlassen, wenn ich Merlin Konkurrenz mache.- -Versuchs mal mit Avada kedavra- Falscher Film. Es ist mir egal. Das erste Mal in meinem Leben bin ich versucht, einen traurigen Emoji zu benutzen. Frustrierend. Mein einziger Lichtblick des Tages ist hin. Ich bleibe noch sitzen und produziere Kohlendioxid. Auf dem Rückweg komme ich am Parkplatz des Hauptgebäudes vorbei. Es dauert einen Moment, bis mir der Wagen auffällt. Ich gehe extra ein paar Schritte zurück, betrachte das Kennzeichen und bin froh, dass ich wenigstens das meinem bewohnten Landkreis zuordnen kann. Es ist Jeffs. Kain ist also wieder hier. Meine Hand zuckt zur Hosentasche, in der sich mein Handy befindet. Ich atme kurz durch, sehe auf die Uhr und gehe statt zum Wohnheim zur Mensa. Als ich den Eingang zum Saal betrete, wähle ich Kains Nummer und höre im nächsten Moment, wie hinter mir ein Telefon zu singen beginnt. Die Melodie kommt mir bekannt vor, aber es dauert einen Moment, bis ich Teile des Gesangs verstehe. `… is aching me sadly. You know that it should make me happy…´. Kain drückt mich weg und auch der Song verstummt. ................................................................................. PS: Ich kann es nur wiederholen: SORRY!!!!! Entschuldigung!! Gomen nasai!!! Dafür das ihr immer so lange warten müsst. Aber die Uni macht mich echt fertig und lässt mir kaum Zeit um irgendwas anderes zu schaffen T____T Ich bitte um Verzeihung! Ps 2.0: Würde es irgendjemanden interessieren, wenn es von mir Updates und Kram bei Twitter gäbe? Kapitel 22: Slapstick für Fortgeschrittene und Bibliomane --------------------------------------------------------- Kapitel 22 Slapstick für Fortgeschrittene und Bibliomane Als ich mich zur Geräuschquelle drehe, sehe ich wie der große Schwarzhaarige auf mich zukommt. Für einen Moment stockt mir der Atem. Mein Herz wappnet sich für einen Marathon, um dann kläglich zu versagen. So fühlt es sich jedenfalls an. Ich sehe dabei zu, wie er sich geschmeidig nähert, um dann verhalten seinem Blick auszuweichen. Nicht lange, denn ich kann nicht wegsehen. Kain trägt eine gutsitzende schwarze Jeans, die seine trainierten Beine betont, sowie ein dunkelblaues Shirt mit weißer Aufschrift und schlichte weiße Schuhe. Seine Arme und sein Gesicht sind gebräunt. Es wirkt, als wäre er, statt Jeff, in der Südsee gewesen. Ich sehe zu dem Tisch, von dem aus Kain gekommen ist. Ich erkenne seinen besten Freund Marvin wieder, der auffällig unauffällig zu uns rüber schielt. Er kippelt mit dem Stuhl so weit nach hinten, dass es scheint, als würde er jeden Moment einfach umkippen. Nur noch ein paar Zentimeter, dann käme ihm der Boden auffällig nahe. Leider passiert nichts. Es sitzen noch drei weitere Kerle dort. Vermutlich sind sie aus Kains Ringerteam oder aus der Rugbymannschaft. Ich kenne keinen von ihnen. Ich nutze den interessiert wirkenden Blick nur als Ablenkung, um meinem Atmen unter Kontrolle zu bekommen und um zu verhindern, dass ich, wie so oft, über die Fahrlässigkeit meiner eigenen Worte stolpere. Nur leider scheint nichts davon zu funktionieren. Kain bleibt bei mir stehen, folgt meinem Blick zurück zu seinem Ausgangspunkt und schiebt währenddessen sein Handy in die Hosentasche. Das, was ich gehört habe, war wirklich sein Klingelton und wiederholt habe ich das Gefühl, den Song zu kennen. Ich kann mich nur nicht erinnern. „Hey... ich hab Jeffs Auto draußen gesehen…“, plappere ich los aus Ermangelung eines sinnvolleren Einstiegs in dieses Gespräch und stoppe rechtzeitig eine allzu verräterische Geste der Hilflosigkeit. Mein noch immer heftig pulsierendes Herz ist ebenfalls keine Hilfe. „Ja…“, sagt er ungewöhnlich neutral. Kains Blick geht zur Seite und er verschränkt locker die Arme vor der Brust. „Können wir kurz reden?“, erfrage ich unnötiger Weise. Er würde kaum noch hier stehen, wenn er es gänzlich ablehnte. Dennoch ist auch Kain die Situation sichtbar unangenehm und für einen Moment wünschte ich, ich hätte uns dieses unüberlegte Aufeinandertreffen erspart. „Kurz“, antwortet er betont lässig. Ein weiterer kleiner Hieb, genauso wie der Blick auf die Uhr, die er nicht trägt, um mir zu verdeutlichen, dass er eigentlich noch nicht dazu bereit ist, um mit mir darüber zu reden. Kain macht eine auffordernde Geste, als ich nicht reagiere, doch in meinem Kopf herrscht Chaos. Ich weiß nicht wie. Solche Situationen sind nicht mein Ding. Ich hätte einfach ins Wohnheim gehen sollen. Ich hätte den Wagen ignorieren sollen. Jetzt ist es zu spät dafür und Kain lässt mich deutlich spüren, dass ich am Zug bin. Er wird mir nichts abnehmen. Keinen Schritt. Kein Wort. Ich kann mich selbst unruhig atmen hören. Kains Blick ständig auf mir. In meinem Kopf ergibt plötzlich nichts mehr einen Sinn. „Hast du nun was zu sagen, oder nicht? Denn für gewöhnlich benutzt man fürs Reden Worte“, kommentiert er bissig und macht mit seinen Händen eine auffordernde Geste. Er provoziert mich und ich spüre das Kitzeln. Schlucke es jedoch runter. „Okay,…“, beginne ich angestachelt und hole kurz Luft, “Ich hätte das damals nicht sagen sollen und…“ „Richtig, das war nämlich phänomenal unterirdisch von dir“, fährt er mir dazwischen und ich beiße mir sichtbar auf die Unterlippe. „Ich weiß…“, sage ich für meine Verhältnisse seltsam unterwürfig, „Ich hätte… na ja, vielleicht drüber nachdenken sollen…“ „Ist das dein Ernst?“ „Ich weiß. Ich bin einfach nicht gut in diesem zwischenmenschlichen Kram und...“ Ich hasse mich gerade selbst für meine inhaltlose Druckserei. Viel schlimmer ist jedoch, dass Kain mir Zeit zum Kontern einräumt, die ich nicht vernünftig nutzen kann, nur um mich dann erfolgreich vorzuführen. So, wie ich es oft mache. Kein schönes Gefühl. „Was du nicht sagst! Du bist unsensibel hoch 10.“ „Schon klar, aber…“, setze ich an und schwupp, fährt er mir dazwischen. „Scheiße Robin, das war einfach verdammt mies, unfair und du machst es mir echt schwer...“, platzt es aus ihm heraus. Lauter, als ich es von ihm gewohnt bin. Ich bin ehrlich überrascht. „Ich weiß“, wiederhole ich leise meine Phrase des Tages. „Nein, weißt du nicht! Meinst du, mir machen diese ständige Diskussionen Spaß, Spatz?“, entgegnet er laut und aufgebracht. Kain kommt richtig in Fahrt und von seiner sonstigen Zurückhaltung ist nichts mehr zu spüren. Die Verwendung des Kosewortes irritiert mich jedoch. Es verärgert mich nicht. Im Gegenteil, irgendwas in mir ist erleichtert. Nur ein wenig, aber immerhin. Ich sehe auf. Direkt in das wutgezeichnete Gesicht meines Gegenübers. „Du flippst wegen jeder Kleinigkeit aus. Du bist launenhaft und andauernd abweisend. Ich weiß einfach nie, woran ich bin. Mal abgesehen davon, dass du…“, führt er seinen Anfall fort. „Du hast vollkommen Recht…“, unterbreche ich ihn ebenso laut und energisch, aber nicht sauer. Kain sieht mich entgeistert an. „Mit allem…und es tut mir sehr leid.“, setze ich in Zimmerlautstärke nach. Seine verschränkten Arme lockern sich und nach kurzem Zögern atmet er merklich aus. Ich habe ihm den Wind aus den Segeln genommen und werde verhindern, dass er wieder Luft holen kann. Er streicht sich durch die Haare und bringt sie damit durcheinander. „Kain, ich wollte dir nicht...“, fahre ich fort und mache einen Schritt auf ihn zu. „Kain!“, ertönt laut der Name des anderen Mannes. Diesmal nicht von mir. Wir schauen beide zu der Rothaarigen, die präsent im Eingang zur Mensa steht. Ihr Lächeln ist breit und übertrieben, während sie auf uns zukommt. Kain neben mir wird unruhig. Ich kann deutlich sehen, wie er sich verspannt. Doch bevor er zu ihr gehen und sie abfangen kann, ist sie bereits bei uns. „Hi,…“, raunt sie überschwänglich und flirtend. Sie lächelt, stellt sich auf die Zehenspitzen und haucht einen Kuss auf seine Lippen. Sie versucht es besonders verführerisch wirken zu lassen, doch es ist nichts weiter als Show und Kain lässt es geschehen. So wie jedes Mal. Eine Strähne ihres roten Haares bleibt am Stoff seines T-Shirts hängen. So dicht bleibt sie bei ihm. Sie ist sommerlich gekleidet und trägt nicht mehr als einen kurzen Rock und ein Tanktop. An ihren Ohren baumeln überdimensionale Ohrringe aus bunten Perlen und auch sie wirkt deutlich erholter, als ich. Sie wirft einen Blick zur Seite, der mich mustert und ich verschränke unwillkürlich die Arme vor der Brust. „Robin...“ Sie spuckt mir meinen Namen fast vor die Füße und widmet sich dann wieder dem großen Schwarzhaarigen. Während ihre Ohrringe heftig hin und herschwingen, zieht sie einen durchsichtigen Plastikbeutel mit Zahnbürste, Deo und irgendeiner Tube mit gelartigem Inhalt aus ihrer riesigen Tasche hervor. „Hier, das hast du in unserem Gästehaus vergessen“, flötet sie und sieht kurz zur Seite. Zu mir. Genauso, wie Kain. Doch er aus einem anderen Grund. So viel zu seinem Aufenthalt. Er nimmt die Utensilien nur zögernd entgegen. Die wollen mich doch beide verarschen? Er war bei ihr. Ausgerechnet bei ihr. Mein Brustkorb zieht sich zusammen und verursacht ein Schaudern, welches über meinen gesamten Körper jagt und mich niederzwingt, wie ein tonnenschwerer Bulldozer. Es ist mehr als unangenehm. Es schmerzt. Jegliche Gelassenheit und ebensolches Wohlwollen sind augenblicklich aus meinem Inneren getilgt. Ich ziehe die Packung Zigaretten aus meiner Hosentasche und pfriemele einen weiteren Stängel hervor. Ich atme erschwert, weil der Druck auf meinem Brustkorb nicht verfliegt. Ich muss hier weg. Unerwartet werde ich durch Kains Griff an meinem Handgelenk gestoppt, als ich mich von der Scharade abwende. „Robin,…“ Ich sehe auf die Berührung, spüre, wie sich mein Handgelenk erwärmt und bemerke den Blick der Rothaarigen. Ihre Augen kneifen sich zusammen und stieren mich regelrecht an. Ich stecke mir demonstrativ mit der freien Hand eine Zigarette zwischen die Lippen, entziehe mich Kains Griff und gehe. Mit jedem Schritt, den ich mich von den beiden entferne, fällt meine Fassade immer mehr in sich zusammen. Ich hätte einfach ins Wohnheim verschwinden sollen. Ich hätte den Wagen ignorieren sollen. Ich hätte das mit Kain nach dem Zwischenfall komplett vergessen sollen. Schallt es ergänzend in meinem Kopf, als ich die mahnenden Ausflüchte wiederhole, die sich bereits vorhin einen Weg in meinen Kopf gebahnt hatten. Die Wut verschwand schneller als mir lieb ist und machte einem anderen Gefühl Platz, mit dem ich noch weniger umzugehen wusste. Enttäuschung. Das heftige Reißen in meiner Brust scheint dabei nur die geringste aller Bestätigungen zu sein. Auf dem Weg zum Wohnheim rauche ich drei Zigaretten. Ein trauriger Rekord. Meine Lunge schreit und diesmal nicht aus Sehnsucht, sondern als Präventionsmaßnahme. Bevor ich den angebrochenen Stängel in den Mülleimer befördern kann, klingelt mein Telefon. Jeffs Name taucht auf dem Display auf und ich nehme den letzten Zug der Zigarette doch noch. „Was?“, frage ich mit dumpfer, rauchiger Stimme. „Wow“, kommt es erstaunt von dem anderen, „Im Ernst, Robin, du solltest dich mal wieder flachlegen lassen. Dringend!“, spaßt mein Mitbewohner. Ich höre ihn gigglen, kann aber mit der Scherzerei gerade überhaupt nichts anfangen. „Okay, dann beweg deinen Schwanz her. Ich bin bereit!“, knalle ich ihm fordernd vor den Latz. Das Kichern verstummt und am anderen Ende bleibt es still. Für den Moment sehr zufriedenstellend. Jedenfalls für wenige Sekunden. Danach setzt sogleich das katerartige Erwachen ein. Ich habe es schon wieder getan. „Was willst du, Jeff?“, frage ich weniger aggressiv hinterher und streiche mir mit der flachen Hand über den Mund. Wenn Jeff jetzt einfach auflegt, würde ich es verstehen. Anscheinend ist unterirdisch mein neues On-top. Ich schließe meine Augen, sehe seinen getroffenen Blick vor mir und muss ihm nicht einmal persönlich gegenüber stehen. So oft habe ich ihn schon gesehen. Die Antwort meines Kindheitsfreunds kommt nur mit reichlicher Verzögerung. „Ezra hat gefragt, ob er deine Nummer haben kann. Er hat mir aber nicht gesagt, was er will“, kommt es dann doch noch. Seine Stimme ist zurückhaltend. Ich streiche mir ermattet durch die Haare und seufze fahrig. Ezra? Ich weiß nicht, was der Barbesitzer noch von mir wollen könnte. „Also?“, hakt er ungeduldig nach. „Gib sie ihm einfach“, bestätige ich. Danach bleibt es still. „Jeff…“, setze ich an. „Hast du an Ben gedacht?“, fragt er mich unterbrechend. „Sicher. Ich hab ihn Samstag gleich abgeholt und gegossen“, erkläre ich ruhig und gehe fast liebevoll auf die absurde Beziehung zu seinem floralen Haustier ein. Das bin ich ihm schuldig. „Okay, danke. Bis dann.“ „Jeff, es…“, beginne ich kleinlaut meine Entschuldigung, doch er hat bereits aufgelegt. Obwohl es mich ärgert, bin ich mir mittlerweile sicher, dass es zu meinem besten ist, wenn man mich nicht ausreden lässt. Ich bleibe mit dem Telefon in der Hand stehen. Der Nächste auf der endlosen Liste meiner schwerwiegenden Komplettausfälle. Nein, eigentlich ist Jeffs Name darauf ein ständiger Wiederkehrer und das hat er nicht verdient. Ich verstehe mich im Moment einfach selbst nicht mehr. Logorrhoe ist eine Krankheit. Vielleicht sollte ich mich darauf berufen? So oder so, es macht nichts besser. Diesmal schaffe ich es ohne Probleme, mich an Micha vorbei zu schleichen, der zu meinem Glück von einer redefrohen Gruppe Mädels abgelenkt wird. Im Wohnheimzimmer gehe ich schnurstracks auf den Kleiderschrank zu, hole meine Sporthose heraus und letztendlich krame ich den Basketball unter dem Bett hervor. Ich brauche Ablenkung und körperliche Ertüchtigung. Da ich anscheinend nicht mal mehr in der Lage bin, belanglosen Sex zu haben, ist das meine einzige sinnvolle Idee. Beim Hinausgehen werfe ich mein Handy aufs Bett, in der Annahme, dass so verhindert wird, dass ich weitere Fehltritte produziere. Ich nutze den Hinterausgang und mache mich schnellen Schrittes auf den Weg zum Sportplatz. Dort angekommen sehe ich ein paar tapfere Läuferlein, die ihre Runden über den roten Insitubelag der Tartanbahn drehen. Ich schaue ihnen stillschweigend dabei zu, wie sie mit regungslosen, starren Gesichtern, scheinbar vollkommen in Gedanken versunken, an mir vorüberrennen. Geistloses Getrabe war noch nie mein Favorit, doch in diesem Moment, die Stille im Kopf herbeisehnend, bin ich hart am Überlegen, mich denen einfach anzuschließen. Einfach zu laufen, bis mir die Beine versagen. Selbst dazu kann ich mich nicht aufraffen. Ich atme tief ein und betrete den leeren Basketballplatz. Irgendwann werfe ich die Körbe, wie in Trance. Erst langsam, dann immer schneller. Einen nach dem anderen. Bis es schummerig wird. Ich höre erst auf, als die Hälfte meiner Würfe daneben geht, weil ich den Korb nicht mehr erkennen kann. Mein Kopf fühlt sich endlich leer an. Meine Glieder brennen und dann ist mit einem Mal der Gedanke wieder da. Kain und die Rothaarige. Ich schleudere den Ball mit aller Wucht gegen den Ballfang. Das metallische Geräusch, welches entsteht, arbeitet sich laut durch die Dunkelheit. Die Vibrationen des Gitters scheinen sich über den Boden bis zu mir auszubreiten. Ich wiederhole es. Solange und so oft, bis ich vollkommen außer Atem bin und mein Herz im gleichen Takt der Vibration hin und her schwingt. Allerdings könnte es einfach nur sein, dass es einfach noch immer flattert, weil mich der Gedanke nicht losgelassen hat. Ich fühle mich erst besser, als ich meinen ausgelaugten Körper unter die Dusche im Wohnheim verfrachte. Das warme Wasser ist heilsam. Mit dem Arm stütze ich mich neben der Brause an der Wand ab und schließe die Augen. Ich neige meinen Kopf in den Nacken, lasse mir die Flüssigkeit in den Mund laufen und spucke sie dann zu Boden. Leider bedingt die Tatsache, dass sich Körper irgendwann auflösen, dass ich nicht ewig hier stehen bleiben kann. Daher genieße ich es umso mehr, wie der Wasserstrahl auf meinen verspannten Nacken trifft. Eine hauchzarte Massage für meine malträtierten Muskeln und für einen Augenblick spült es mir sogar die unangenehmen Gedanken fort. Ich brauche eine gefühlte Ewigkeit, um die Annehmlichkeiten der Dusche hinter mir zu lassen und ins Wohnheimzimmer zurückzukehren. Ich werfe mich direkt aufs Bett, lande auf mein Telefon. Nur mühsam und mit erheblichem Kraftaufwand ziehe ich es unter meinem Hintern hervor. Es blinkt. Ich seufze und spüre, wie sich mein Magen verkrampft. Ich sollte mich wirklich verbuddeln lassen. Dann würde mir und allen anderen mein destruktives Ego erspart bleiben. Erleichtert stelle ich fest, dass es nur Brigitta ist. Mein Magen beruhigt sich. Sie hat das Skript erhalten und verspricht, es in den kommenden Tagen durchzuarbeiten. Sie schlägt ein Treffen für Dienstag vor und ich sag zu. Auch, wenn ich mir nicht vorstellen kann, dass sie es bis dahin bereits fertig hat. Danach vergrabe ich mich in meiner Bettdecke. Nur noch meine Füße, das linke Bein und der rechte Arm schauen hervor und es ist mir reichlich egal. Selbst, als meine Gliedmaßen immer kälter werden. Lena versucht mich während meine Letharnei mehrfach zu erreichen. Ich ignoriere ihre Anrufe so lange ich kann. Doch irgendwann lese ich die Nachrichten, die sie mir parallel dazu schreibt und damit mein Handy in einen stetigen Wechsel zwischen Summen und Vibrieren zwingt. Es nervt. Sie will wissen, warum ich gemein zu Jeff war. Ich weiß es selbst nicht und möchte eher erfahren, wieso er es ihr erzählen musste. Allerdings wundert es mich nicht, denn sie bereden ständig allen möglichen Scheiß. Lena war für ihn schon immer sowas, wie eine Ersatzschwester. Er selbst hatte ja keine eigene. Dementsprechend gab es schon in der Vergangenheit etliche Momente, in denen ich ihm Lena ohne schlechtes Gewissen geschenkt hätte. Ohne Rückgabemöglichkeit. So wie jetzt. Mein Handy singt erneut auf. Sie sieht, dass ich die Nachrichten gelesen habe. Ich drehe mich auf den Rücken und seufze schwer. Kleine Schwestern nerven. „Was willst du?“, murre ich ohne Umschweife. Sie kennt es gar nicht anders. „Hat der Herr endlich den Annahmeknopf gefunden?“, flötet sie spottend. „Mein Handy hat keinen Annahmeknopf mehr.“ „Dann, liebes Brüderchen, muss man nach rechts streichen.“ Sie klingt, als wäre ich 5 Jahre alt und dazu noch schwer vom Begriff. Ich spare mir den Vermerk, dass ich bei meinem Handy die Bewegung nach oben machen muss. „Ich wiederhole, was willst du?“ „Macht es dir Spaß, dauernd jedem vor den Kopf zu stoßen?“, fragt sie mich und klingt dabei weder belustigt, noch anklagend. „Ist wie eine Olympische Disziplin für mich“, kommentiere ich zynisch. Und im selben Moment ermüdet. „Und, wie läuft es für dich?“ In den letzten Wochen habe ich schon dreimal Gold abgeräumt. Ich sage nichts. Durch das Telefon hindurch höre ich, wie sie sich auf ihrem Bett niederlässt. Irgendwo in der Nähe der linken Fußecke. Dort war vor etlichen Jahren einmal die innere Halterung des Lattenrosts abgebrochen. Hendrik hatte sie notdürftig wieder angebracht und seither knarrte ihr Bett, sobald man die Stelle belastete. Dieses Knarren höre ich jetzt. Laut und durchdringend. „Ich werde mich entschuldigen, wenn er wieder hier ist und nicht einfach auflegen kann…“, sage ich ermattet und drehe mich auf die Seite. „Solltest du unbedingt. Er ist dein Freund und so viele hast du davon nicht.“ Treffer. „Gut, du hast deinen Soll erfüllt, mir ins Gewissen zu reden, lässt du mich jetzt in Ruhe schlafen?“, gebe ich von mir und schließe die Augen. „Es ist noch hell draußen…“, kommt es ungläubig von ihr. „Und? Gute Nacht!“ Ich lege auf. Bevor ich das Handy wieder unter das Kissen schiebe, blicke ich auf meinen Chatverlauf. Neben Lena hat mir auch Marie geschrieben. Ebenso eine unbekannte Nummer. Ich vermute es ist Ezra. Ich starre auf Kains Name und verspüre erneut diese eigenartige Mischung aus Wut und Verzweiflung. Wieso tangiert es mich, was er mit der Rothaarigen treibt? Es kann und sollte mir egal sein. Doch das ist es nicht. Mit einmal zeigt es mir an, dass Kain schreibt. Ich lasse das Gerät beinahe fallen und überlege hin und her, ob ich es abwarten oder ignorieren soll. Ich überlege zu lange, denn mit einmal taucht die geschriebene Bitte nach einer ruhigen Unterhaltung auf. Ohne darauf zu antworten, schiebe ich das Telefon unter mein Kissen und ignoriere jedes weitere Vibrieren und Summen. Wirklich schlafen kann ich aber nicht. Den Montag verbringe ich damit, mich in die Hausarbeit einzuarbeiten, die ich in drei Wochen fertig haben muss und für die ich bis auf ein Grundgerüst noch nichts getan habe. Mit Kopfhörern auf den Ohren lasse ich mich in der Bibliothek nieder. Ich verbleibe dort den gesamten Tag, hole mir einzig während einer kurzen Pause im Foodstore etwas zu essen. Selbst das Telefon habe ich im Wohnheimzimmer zurückgelassen und sehe es auch nicht an, als ich am Abend direkt ins Bett falle. Am Morgen darauf muss ich es wohl oder übel nachholen. Ich blicke auf das Display meines handangepasstem Telekommunikationsgerätes und mir prangt eine zweistellige Zahl an Nachrichten entgegen. Seit wann bin ich derart beliebt? Schließlich setze ich in der letzten Zeit alles daran, wirklich jedem klar zu machen, dass ich der Teufel in Person bin. Etliche Nachrichten sind von meiner Schwester. Immer noch die unbekannte Nummer, Marie und Kain. Ich habe noch Zeit bis zum Treffen mit Brigitta im Café und sollte meinen Energiehaushalt wieder auf Vordermann bringen. Auch nach Renés Tod hatte ich eine lange Phase, in der die Nahrungsaufnahme nicht zu meinen Lieblingsbeschäftigungen zählte. Ich konnte einfach nicht, was etliche Diskussionen mit sich brachte. Darauf kann ich gut und gern verzichten. Ich weiß selbst, dass es nicht gut ist. Gerade, als ich die Mensa betrete, höre ich Kains Stimme. Er steht mit seinem übertrieben aufgepumpten Freund nur wenige Meter vor mir am Eingang. In seiner Hand hält er ein leeres Tablett, während Marvin unentwegt auf ihn einredet. Der Schwarzhaarige selbst wirkt abwesend, nickt nur hin und wieder bis er plötzlich grinst, so, als hätte der andere etwas Abwegiges gesagt. Als er gedankenverloren in meine Richtung sieht, halte ich die Luft an. Bevor er mich entdeckt, drehe ich mich um und schiebe mich an einer kleinen Gruppe vorbei ins Freie. Mit dem Fingern der linken Hand streiche ich mir über den Nasenrücken, während ich routiniert eine Zigarette aus meiner Tasche ziehe. Ich kriege Kopfschmerzen und mein Magen regt sich ebenfalls, doch wiedermal ins Negative. „Robin…Hey…“, ruft es meinen Namen aus einiger Entfernung. Es ist die kleine Inderin. Schön wie immer sehe ich sie winken und obwohl mir nicht im Geringsten danach ist, zwinge ich mich zu einem Lächeln. Sie schwebt leichten Schrittes auf mich zu und startet ohne weitere Begrüßung direkt eine Umarmung. Mein Körper versteift sich unerwartet und ich brauche einen Augenblick, um die Geste zu erwidern. Ihre Arme legen sich fest um meinen Hals und ein paar ihrer schwarzen Haare kitzeln mein Gesicht. Erst jetzt nehme ich den Duft von Yasmine, Bergamotte und Mirabelle an ihr wahr. Süß und blumig. Shari ist der personifizierte Sommer. „Ich hab die Klausur gerockt“, quietscht sie mir begeistert ins Ohr, kurz bevor sie mich aus der Umarmung entlässt. Die Formulierung passt so gar nicht zu ihrem sonst so sanften Gemüt. „Freut mich zu hören.“ „Nur dank dir, Robin! Ehrlich, ohne dich hätte ich wahrscheinlich verzweifelt das ganze Lehrbuch auswendig gelernt, um es direkt danach wieder zu vergessen. Dank dir habe ich es aber verstanden.“ Sie scheint darüber wirklich glücklich zu sein, was mich etwas Grinsen lässt. Trotzdem habe ich keinen großen Anteil daran, dass sie die Klausur bestanden hat. Sie hat es ganz von allein geschafft. Denn es gibt nicht viele solcher fleißigen Studenten, wie sie. „Und ich dachte, Bulimielernen sei das neuste Must-have für den Sommer?“, kommentiere ich trocken und seltsam freudlos. Sharis tiefbraune Augen mustern mich fragend. Eine ihrer perfekten Augenbraue hebt sich und ich bereue meinen unsensiblen Kommentar sogleich. Doch dann bildet sich ein breites Grinsen auf ihren Lippen. „Gut, dass ich keinen Trends folge“, gibt sie gigglend von sich. Auch ihr Lachen ist ein Ruf nach Sommer. Warm und einladend. Ehrlich. Ich sollte mich mit ihr freuen, doch ich denke unentwegt an den Schwarzhaarigen, der in diesem Moment nur wenige Meter von mir in der Mensa sitzt und ebenso fröhlich unbedarft sein Leben frönt. „Freut mich, wenn ich dir helfen konnte“, sage ich ablenkend, um meine ungewöhnliche Unruhe zu kaschieren. Mehr für mich selbst, als der Situation zuträglich. Shari nickt lächelnd und scheint mich noch nicht gehen lassen zu wollen. „Ich habe einigen meiner Kommilitonen deine Übungsblätter gezeigt und sie haben mich angefleht, Kopien machen zu dürfen. Also habe ich ihnen vom Tutorium erzählt und jetzt sind sie alle ganz heiß darauf, im kommenden Semester daran teilzunehmen. Oh, und ich habe mit der Professorin gesprochen. Sie will sich bei dir melden und sie meinte, dass sie...“ Sie hat was? „Fuck, nein!!! Wieso tust du das?“, fahre ich sie ungehalten an. Shari schreckt zurück und sieht mich verwundert an. Mit der Hand streiche ich mir durch die Haare, gleite danach über mein Gesicht und knurre. „Robin, entschuldige bitte, ich wollte dich nicht übervorteilen. Ich dachte nur…“, setzt sie zurückhaltend zur Erklärung an. Ich will es nicht hören. „Was? Dass du mir damit einen Gefallen tust. Tust du nicht!“ Sharis Blick senkt sich getroffen. Frustriert wende ich mich ab, raufe mir die Haare und drehe mich wieder um. „Shari, ich habe es nicht freiwillig gemacht und ich werde mich garantiert nicht ein weiteres Mal von völlig überforderten Erstsemestern nerven lassen. Mach mit dem Übungsblättern, was du willst. Binde dir ein Buch draus oder benutze sie als Papierflieger. Aber lass es einfach…“, sage ich mürrisch und kühl. Ich ignoriere den getroffenen Blick der schönen Inderin und wende mich ab. Kurze drehe ich mich wieder zu ihr zurück, spüre sogleich die Reue darüber, ihr diese Worte so hart entgegen geschleudert zu haben. Ein weiteres Mal raufe ich mir durch die Haare und sehe mich missmutig auf dem Goldtreppchen für den unangenehmsten Zeitgenossen des Jahrzehnts. Vorzeitig mache ich mich auf dem Weg zu dem Treffen mit Brigitta. Meine Stimmung sinkt mit jedem Meter, den ich zurücklege. Erst Kain, dann Jeff und jetzt Shari. Was um alles in der Welt stimmt nicht mit mir? Sie hat es nur gut gemeint. Im Grunde weiß ich es ganz genau und doch schaffe ich es einfach nicht, über meinen gewaltigen, hirnlosen und irrationalen Schatten zu steigen. Das macht mich alles wahnsinnig Als ich am Eiscafé ankomme, möchte ich nichts lieber, als einen Ball ununterbrochen gegen die Wand schleudern. Oder gegen den Kopf der Rothaarigen. Oder wahlweise auch gegen Kains. Mit ihm hat alles angefangen. Vorher interessierte ich mich für niemanden und niemand für mich. Alles war so viel einfacher. Schon von draußen kann ich Lucy ausmachen. Ihre langen Haare sind wie immer zu einem locker geflochtenen Zopf zusammen gebunden, der streichelnd über ihre Schulter fällt. Sie lächelt. Ich sehe eine Weile dabei zu, wie sie sich grazil hinter dem Tresen bewegt und gekonnt Eisbecher arrangiert und perfekte Kugeln formt. Es könnte alles so einfach sein. Ich müsste nur zwei Jahre warten und dann könnte Luci meine Traumfrau sein. Vorausgesetzt ich wäre gut im Warten und sie würde weiterhin ihren Verstand nicht benutzen. Sehr unwahrscheinlich also. Außerdem würde ihr Vater niemals zulassen, dass der Tresen zwischen mir und ihr verschwindet. Es wäre auch nicht das Richtige. Beziehungen sind nicht das Konzept, dem ich folge und meine in den letzten Wochen bewiesenermaßen fehlende Sozialkompetenz beantwortet die Frage nach dem Wieso. Als ich mich endgültig von den Gedanken von Friede-Freude-Eierkuchen-Rosa verabschiede, sehe ich, wie sich die kleine Italienerin ein paar Strähnen aus dem Gesicht streicht, während sie lachend einem Kind eine Kugel leuchtend blauem Eis reicht. Ich seufze schwermütig. Schlumpfeis. Ich bin zu alt für Schlumpfeis. Obwohl… Die Scheibe beginnt zu vibrieren und ein lautes Klopfen entreißt mich meinen arglosen Gedanken. Ich zucke zusammen, als ich die schemenhafte Gestalt von Lucis Vater als Spiegelung erkenne. Seine Hand ist für ein weiteres energisches Bemerkbarmachen gehoben und ich bin mir sicher, dass mich sein Blick toten könnte, würde er nicht von der Scheibe reflektiert werden. „Oh. Hallo… Signore di Santos“, sage ich ungewollt ertappt. Auch mein Alibiitalienisch ändert nichts an seinem Gesichtsausdruck. Ich wende mich zu dem großen Italiener um, der in der Hand mehrere Einkaufstüten hält und mich skeptisch mustert. „Was genau tust du da?“, fragt er argwöhnisch, während sein Blick ebenfalls durch die Scheibe geht und dann wieder zurück zu mir. Ganz sicher hat er seine hübsche Tochter gesehen und kann sich sehr wohl vorstellen, was ich getan haben könnte. „Schlumpfeis…“, entflieht es mir. „Wie bitte?“ „Ich habe mich gefragt, wonach eigentlich Schlumpfeis schmeckt… und ob Schlümpfe tatsächlich blaues Blut haben“, konstruiere ich eine mehr als absurde Antwort und hoffe inständig, das Lucis Vater erkennt, dass ich weitaus harmloser bin, als ich es wirklich bin. In meinem Kopf entsteht ein selbst herbeigeführter Knoten und ich würde mich selbst fragend ansehen, wenn ich es könnte. Mein Spiegelbild, allerdings, straft mich unverhohlen mit dem scheinbar Unmöglichen. Mit etwas Abstand folge ich dem Italiener ins Café und spaziere direkt zu dem gerade leeren Verkaufstresen. Luci hat mich sofort entdeckt, als ich den Laden betrat. „Na, zurück von der Heimatfront“, begrüßt sie mich laut und ehrlich erfreut. „Hey,…“ Meine Erwiderung fällt spärlicher aus als sonst und ich schaue zögerlich zur Seite, als Lucis Vater hinter dem Tresen verschwindet und dabei seinen skeptischen Blick nicht absetzt. Auch die junge Italienerin blickt ihm hinterher und sieht dann fragend zu mir. „Was ist los?“, fragt sie flüsternd. „Ich befürchte, dein Vater denkt, ich bin ein verrückter Stalker und wünscht sich, ich wäre ein Eunuch“, flüstere ich ihr entgegen und beobachte den Schatten, der aus dem Vorbereitungsbereich der Küche kommt. Als ich zurück zu Luci blicke, runzelt sich ihre Stirn und ihre Augenbrauen wackeln. „Was ist ein Eunuch?“ „Eine arme Seele mit einem Schicksal, über das ich nicht nachdenken möchte.“ Ich mache eine Grimasse und die junge Frau beginnt zu lachen. „Wie lief die Lernerei?“, erfrage ich. Nun ist es an Luci, zu seufzen. „Semioptimal. Gandalf wird für mich nie ein Feuerwerk machen.“ Wieder der falsche Film. Ihr Kommentar lässt mich dennoch schmunzeln. „Wie war es zu Hause?“, erkundigt sich Luci. Ich antworte nicht, sondern mache einem Kunden Platz, der wenig später mit einem gigantischen Eisberg und einem Kaffee davonzieht. „Und?“, hakt Luci nach. Ich bin noch genauso unwillig, wie vor dem Kunden. „Wie immer. Familie eben“, murmele ich ausweichend, greife mir einen der Holzstäbchen, mit denen man seinen Kaffee umrührt und beginne auf der Tresenoberfläche herum zu kritzeln. Als ich aufsehe, blicke ich in zwei forsche grüne Augen, die mich regelrecht niederstrecken. Seit neusten treffen mich diese wissenden Blicke besonders hart. Auch jetzt. „Was ist los?“, fragt sie erneut und nimmt mir das Holzstäbchen weg. Erbarmungslos. „Nichts. Gar nichts.“ „Gar nichts also?“, kommentiert sie wissend, doch bevor ich ihrem Blick nachgeben kann, meldet sich mein Telefon. Ich ziehe es hervor und sehe eine Nachricht von Kain. Er wiederholt seine Aufforderung nach einem ruhigen Treffen. Er hätte mich in der Mensa gesehen. Verdammt. Ich ignoriere es. Als ich wieder aufsehe, merke ich, wie sich Luci verschwörerisch auf dem Tresen nach vorn lehnt. So, als wollte sie verhindern, dass ihr Vater hört, was sie mir anbieten wird. „Du hast noch ein Eis offen“, flüstert Luci. Ihre Augen wandern von mir zum Küchenbereich und wieder zurück. Ich folge ihrem Blick und beuge mich ebenfalls nach vorn, sodass uns nur noch eine halbe Armlänge trennt. „Heute reicht mir ein Tee“, erwidere ich ruhig. Die schöne Italienerin sieht mich skeptisch an und nickt. Der Kunde ist schließlich König. „Okay…wir haben Kamille, Frucht, Pfefferminz, Earl Gray und eine neue Sorte, die sich Asiens Sonne nennt. Das ist ein Grüner, der dir sicher Erleuchtung bringt….“, witzelt sie und lässt ihre schlanken Finger über die Gläser hüpfen, in denen sie dich dreieckigen Teebeutel türmen. „Kamille reicht…“ Lucy lächelt und wendet sich zum Zubereitungsbereich. „Kamillentee?“, kommt spottend von der Seite und ich blicke direkt in das bebrillte Gesicht meiner Lektorin, als ich mich wieder aufrichte. „Besser als der arterienverklebende Scheiß, den du immer in dich reinkippst.“ „Von wegen, ich bin eine Genießerin.“ „Klar, mit einem Lächeln in den Tod, nicht wahr?“, spotte ich weiter. „Mit einem Lächeln auf den Lippen ist man für jede Situation perfekt gekleidet“, kontert sie und setzt ein buddhaartiges Lächeln auf, während ich mich frage, wie viele Glückskekse sie heute schon hatte. „Klar“, gebe ich argwöhnisch von mir. „Was hat dir heut schon wieder die Laune geschwärzt, Lakritzstängel?“ Bei der Verwendung ihrer kariesfördernden Spitznamen für mich, vernehme ich von Luci ein vielsagendes Kichern. Brigitta lächelt der schönen Italienerin zu und sieht dann bedeutungsvoll zu mir. Ich verdrehe nur die Augen. Sie deutet auf einen der freien Tische im Außenbereich. Ich trabe ihr mit wenig Elan hinterher, falle mehr auf den Stuhl, als mich zu setzen und sehe dabei zu, wie sie nacheinander mehrere Schichten ihrer Kleidung ablegt. Danach lässt sich Brigitta seufzend auf einem Stuhl nieder und stellt die glänzende Lacktasche auf ihrem Schoss ab. „Und?“, hakt sie nach. Ich blicke ihr irritiert entgegen. „Und was?“, frage ich nach. „Was ist los mit dir?“ Schon wieder. Ich will die Frage nicht mehr beantworten müssen. Ich lehne mich mit verschränkten Armen zurück und wende meinen Blick ab. „Nichts…“, murre ich. Brigitta seufzt und holt das ausgedruckte Manuskript hervor, bevor sie die Tasche auf dem Boden abstellt. Sie knallt es auf den Tisch und obwohl ich damit rechne, schrecke ich heftig zusammen. „Okay dann überspringen wir das. Was hast du dir dabei gedacht?“ Heute also kein Vorspiel. Ihr Zeigefinger piekt energisch gegen den fettgedruckten Titel des Buches. Meiner Lektorin hat es definitiv nicht gefallen. Ich sehe es an ihrem Gesichtsausdruck. Ihre Stirn kräuselt sich und ihre dunkel geschminkten Augen sind schmaler als sonst. Die Kellnerin bringt meinen Tee und Brigitta bestellt sich einen Latte Macchiato mit viel Sahne und Karamell. Ich lehne mich wieder nach vorn und greife behutsam nach der Tasse. „Das ist wirklich übertriebener Herzschmerzstoff.“ „Übertreib es nicht“, seufze ich genervt. „Du sollst jungen Menschen nicht knallhart ins Gesicht sagen, dass es die wahre Liebe nicht gibt.“ Brigitta lässt sich nicht von ihrer Theatralik abbringen. Ich finde, dass sie übertreibt. „Warum nicht? Es ist schließlich so und ich bin nur realistisch.“ „Mag sein, aber du gibst den Menschen zu verstehen, dass Liebe scheiße ist und das jeder, der sich verliebt, einem grausamen Ende entgegen sieht.“ „Wenn es nun mal so ist“, amüsiere ich mich über ihre blauäugige Einstellung. „Was ist los? Liebeskummer, mein Guter?“ „So ein Quatsch. Ich ertrage es nur nicht mehr, diesen übertrieben und heuchlerischen Mist zu schreiben, das ist alles.“ „Wieso nennst du das Buch nicht gleich ´Wahre Liebe ist scheiße´?“ „Gute Idee, benutze ich beim Nächsten.“ „Nein. Nein. Nein. In dem Nächsten wirst du wieder schön klebrig, kitschig und rosa. Verstanden?“ „Warum bist du so extrem gegen Realismus? Nicht alle Liebeleien enden in rosaroten Wolken. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Mensch, in den man verliebt ist, deine Liebe erwidert, ist derartig gering, dass es sich kaum errechnen lässt“; sage ich ungehalten. „Gefühle kann man nicht errechnen, Robin“, erwidert sie laut. „Gefühle sind nichts weiter als ein Cocktail aus Hormonen, Neurotransmitter und anderen körperlichen Reaktionen…“ Brigitta verdreht meisterlich die Augen. „Schwarzmaler.“ „Realist“ „Pessimist“ „Optimist mit Erfahrung.“ „Robin, wir sind mehr als Biochemie…“ „Und darin liegt der Fehler. Euer aller Fehler. Wir sind nichts weiter als eine Ansammlung von chemischen Elementen und die daraus resultierenden Reaktionen. Sauerstoff, Wasserstoff. Kohlenstoff. Stickstoff. Alle Substanzen, aus denen unser Körper besteht, bestehen aus diesen Elementen und Gefühle sind nichts weiter als ein giftiger Cocktail…“ Ich breche ab, als meine Lektorin mit der flachen Hand auf den Tisch schlägt. Ein Schwall Tee ergießt sich über den Rand meiner Tasse und bildet eine kleine Pfütze auf dem Holz des Tisches. Die anderen Gäste um uns herum blicken uns ebenso erschrocken entgegen. Drei Tisch entfernt, beginnt ein Kind zu weinen. „Es reicht.“ Aus Brigittas Gesicht scheint jegliche übertriebene Fröhlichkeit verschwunden. Sie seufzt, nimmt ihre Brille ab und streicht sich über die rötlichen Druckstellen auf dem Nasenrücken. „Weißt du, Robin“, setzt sie ruhig an, “Ich bin eine 37-Jährige, alleinstehende Frau und die längste Beziehung, die ich je hatte, hielt ein Jahr. Auch ich gehöre zu den Menschen, die sich gern einfach mal in diese glückliche Scheinwelt flüchtet, weil das richtige Leben einfach nicht für jeden etwas Rosafarbenes bereithält. Ich möchte daran glauben, dass wir mehr sind, als die Summe unserer Elemente. Aber du gibst dir nicht einmal die Chance, glücklich zu werden und das ist wirklich armselig.“ Treffer. Es passiert selten, dass man mir derartig Paroli bietet. Ich starre auf die feuchte Tasse, auf den gefluteten Unterteller und sehe dann erst auf. „Das Buch wird uns auf jeden Fall ein paar Leser kosten“, seufzt sie. Ihre hellen, braunen Augen wirken ohne Umrahmung irgendwie fremd. „Aber ihr druckt es?“ „Karsten hat es gefallen, weil es dramatisch ist“, kommentiert sie. Welch qualitative Kritik. Obwohl es mich eigentlich freuen sollte, diesen kleinen Sieg eingefahren zu haben, entflieht mir nur ein lauteres Raunen. Ich lehne mich auf den Tisch, stelle die Ellenbogen auf und fahre mir mit beiden Händen übers Gesicht. „Blaubeermuffin, was ist wirklich los mit dir?“ Sie blickt mich an und setzt ihre Sehhilfe wieder auf die Nase. In diesem Moment kommt ihre Latte. Sie sieht süß und klebrig aus. Genauso, wie sie es mag. Mir wird schon vom Anblick schlecht. „Was soll los sein? Ich will mich nur nicht ständig wiederholen.“ Brigitta seufzt. „Ich habe dir schon mal erklärt, dass ein Spartenwechsel schwierig wird. Du bist in diesem Genre integriert und hast eine kleine Fangemeinschaft. Sie wünschen sich übrigens vermehrt eine Fortsetzung zu Jeanne und Alex. Das Ende war nicht sehr befriedigend.“ Ich hebe meine Augenbraue, als sie mir das sagt. Wahrscheinlich hat sie schon wieder die Foren durchforstet. „Ohne explizite Sexszenen hätte die Fortsetzung keine Wirkung“, kommentiere ich trocken, greife nach meiner halbleeren Teetasse und schlürfe daran rum. Brigittas Schweigsamkeit irritiert mich und so sehe ich auf. Sie grinst ungewöhnlich breit und im Blau-grün ihrer Augen ist dieses furchteinflößende Funkeln. „War ein Scherz!“, relativiere ich. „Nein, war es nicht“, säuselt sie, „So einer bist du also…“ „Und was für einer ist das?“, erfrage ich skeptisch. Sie zwinkert nur als Antwort und lässt mich dumm und elendig sterben. Ich sehe dabei zu, wie sie das fertige Manuskript aufblättert und bereits bei der ersten Seite herbe Kritik walten lässt. Sie ist dieses Mal strenger und ihr Unwillen ist deutlich zu spüren, aber jede ihrer Anmerkungen ist hilfreich und konstruktiv. Brigitta hat ein System und eine Vorliebe für farbenreiche Post-its und Textmarker. Rot sind die Passagen, die ich streichen kann oder vollends überarbeiten muss. Es sind nur wenige. Blau sind Unstimmigkeiten in der Logik. Hellblau passend dazu fehlerhafte oder fehlende Zusammenhänge. Dinge, die ich mir in meinem Kopf komplett überlegt habe, aber dann vergaß nieder zuschreiben oder sie fielen bei meiner eigenen Streichwut weg. Es ist nicht immer einfach bei meinem chaotischen, affektiven Schreibtypus immer den Überblick zu behalten. Strategen haben eindeutig einen Vorteil. Allerdings habe ich die auch schon verzweifeln sehen, weil sie an dem Punkt, an dem sie waren, einfach nicht weiter kamen. Das passiert mir selten, aber auch ich bin nicht vollkommen intuitiv. Eine Grundstruktur ist mir immer lieber. Die grünen Post-its signalisieren mir, dass Brigitta hier noch eine Kleinigkeit fehlt. Nichts inhaltliches, sondern Gefühl, Spannung oder auch einfach nur das transportierte Bild. Solche Momente, in denen jemand seine Hand nach etwas ausstreckt und sich in der nahen Scheibe die untergehende Sonne reflektiert. In einem malerischen Rot, durchzogen von zartgelben Lichteffekten, die sich passend in den sinnlichen, begehrenden Augen des Gegenübers spiegeln. Oftmals sind es Klischees, die hier zum Tragen kommen und dieser versuche ich zu vermeiden. Diesmal ist auch Rosa dabei. Schnell stellt sich heraus, dass es ironischerweise genau die Stellen sind, die ihrer Meinung nach zu intensiv und zu dunkel sind. Allerdings lässt sie mir freie Hand, dort noch etwas zu ändern. Aus einem inneren Impuls heraus will ich es nun gerade nicht. „Das nächste Buch muss wieder so rosa und glücklich werden, dass ich mich ein Jahr darin suhlen kann. Verstanden?“ Sie schnappt sich mit ihren krallenbestückten Fingern mein Kinn, lässt meinen Kopf ein paar Mal hin und her wackeln und gibt mir zu guter Letzt noch eine leichte Ohrfeige. Ich verziehe keine Miene und dennoch weiß ich, dass sie wirklich sauer gewesen ist. „Von mir aus“, gebe ich ruhig von mir. „Komm, ich lad dich auf ein Eis ein“, sagt sie nach einer Weile und ich schüttele den Kopf. „Nein, danke.“ „Du willst kein Eis? Bei dir läuft gerade wirklich irgendwas nicht rund, oder?“, kommentiert sie meine Ablehnung und sieht verwundert aus. Normalerweise esse ich immer Eis. Doch diesmal ist mir nicht danach. „Tja, rosa ist einfach scheiße“, sage ich, stehe auf und nehme mir das Skript samt Anmerkungen. „Du kriegst die korrigierte Version nächste Woche. Lass es dir schmecken. Ich melde mich.“ Ich stecke die Papierberg in meiner Tasche, krame 5 Euro hervor und lege sie ihr hin. Brigitta sieht mir seufzend nach, als ich gehe. Ich mache einen Abstecher in der Buchhandlung im Einkaufszentrum und stehe gedankenverloren eine Weile von dem Regal, welches auch einige meiner Bücher enthält. Ob das Neue wirklich schlecht ankommt? Ja, es ist anders, aber bei weitem nicht so tragisch schwarzmalerisch, wie Brigitta behauptet. Es ist nur etwas realistischer. Es enthält genau wie alle anderen meiner Bücher eine klassische Liebesgeschichte und eben eine Tragische. Ist es wirklich schlimm? Ich bin irgendwie verunsichert. Mein Blick wandert über die Buchrücken und ich ziehe das letzte ein kleines Stück heraus. Ich habe nie verstanden, was die Leute daran finden, für alles ein Happy End herbeizuwünschen. So ist es nun mal nicht. Aber vielleicht ist es genau das? Wie Brigitta es bereits sagte. Nicht jeder hat ein glückliches Ende und deshalb flüchtet man sich in die Wunschvorstellung, dass man es haben könnte. Doch macht man sich damit nicht bewusster, wie weit entfernt man wirklich ist? Wird man dadurch nicht noch angreifbarer? Für mich fühlt es sich jedenfalls so an. Seit Kain um mich herum schwirrt, habe ich das Gefühl, nicht mehr Herr meiner Gedanken zu sein. Schon eine ganze Weile nicht mehr. Sein andauerndes, stures Einfühlungsvermögen hat irgendwas in mir ausgelöst und ich bin mir immer noch nicht sicher, was das für mich bedeutet. Vielleicht sollten wir das Ganze wieder vergessen? Grandioser Sex hin oder her. Dieses ständige Auf und Ab macht mich wahnsinnig und ich weiß nur, dass es mir auf die Nerven geht. Ich will so nicht sein. Ich will das nicht fühlen. Seufzend stelle ich das herausgezogene Buch zurück in die Reihe und verlasse den Buchladen. Auf dem Rückweg zum Studentenwohnheim nestle ich gedankenverloren an der Schachtel Zigaretten. Die Erste rauche ich schnell und ungeduldig. Die zweite langsam. Das brennende Gefühl in mir lässt nicht nach. Als ich an der Campusredaktion vorbeigehe, sehe ich die Rothaarige und die kleine Brünette, auf die ich schon einmal getroffen bin, am Eingang stehen. Kann der Tag noch schlechter werden? Die angerauchte Zigarette schnipse ich neben die Treppe ins Blumenbeet und gehe schnellen Schrittes an den beiden vorbei. Doch dann höre ich hinter mir das Klackern von hohen Absätzen und dann meinen Namen. „Hey, Quinn“, ruft sie mir nach. Ich reagiere nicht. Aus ihrem Mund kommt sowieso nichts, was mich interessieren könnte. „Okay, dann vielleicht Quincey Bird.“ Die Verwendung meines Pseudonyms setzt etwas in mir in Gang. Nun bleibe ich doch stehen. Auch, wenn es besser gewesen wäre, es einfach zu ignorieren. „Wer?“, murre ich versucht neutral. Doch es funktioniert nicht. Sie schließt zu mir auf und ich widerstehe dem Bedürfnis, sofort einen kilometerweiten Abstand zwischen uns zu bringen. Ein Kontinent wäre auch gut. Ein Planet. Vielleicht der Saturn? Die Rothaarige ist schon wieder eigenartig angezogen. Sie trägt ein Etwas, was ich weder als Kleid noch als Hosenanzug identifizieren kann. Wahrscheinlich denkt sie, sie sei sexy. Doch es wirkt lächerlich. „Dein Pseudonym ist nicht gerade einfallsreich…und…“, gluckst sie verächtlich, “… ich kann mir kaum vorstellen, dass irgendwas in den Büchern tatsächlich von dir stammt, aber anscheinend…“ Immer wieder lacht sie arrogant auf. „Bist du fertig?“, frage ich gelangweilt. Sie presst ihre Lippen aufeinander. Meine Gleichgültigkeit gefällt ihr nicht. Sie will mich reizen. Sie will mich mit der Konfrontation bloßstellen. Darauf kann sie lange warten. Sie ist mir zu egal, um irgendwas in mir zu wecken, außer den Drang, sie selbst zu blamieren. „Das ist so absurd und lächerlich, weißt du das? Du und Liebesromane. Du und so einfühlsames Zeug. Das ist wie Nonnen und Sex on the Beach.“ Ihr Vergleich hinkt. „Hast du kein eigenes Leben?“, frage ich sie, statt auf ihre Worte einzugehen und verschränke die Arme vor der Brust. Obwohl es in meinem Inneren zu kitzeln beginnt, lasse ich mir nichts anmerken. Bis sie eines meiner Bücher aus ihrer Tasche zieht. Es ist gelesen und zerfleddert. Ich erinnere mich daran, dass sie einmal sagte, dass ihre Schwester meine Bücher liest. Sicher hat sie es von ihr. Ich ziehe nur fragend die Augenbraue nach oben und gebe ihr zu erkennen, dass ich bisher noch verstanden habe, was sie von mir will. „Bist du jetzt doch Fan von guter Unterhaltungsliteratur mit intellektuellem Anspruch!“, kommentiere ich desinteressiert. „Das ist nichts weiter als klischeehafter Schund“, gibt sie abwertend von sich und ich habe dem wenig entgegen zu setzen, denn ich sehe es ja ähnlich. Trotzdem kitzelt es meinen Stolz. „Und ich weiß absolut nicht, was meine Schwester und Kai…andere…daran finden“ Die kurze Unterbrechung lässt mich stutzen. „Trotzdem hast du es gelesen…“, merke ich an und kann mir ein überhebliches Grienen nicht mehr verkneifen. Anscheinend war ihre Neugier doch größer, als ihre Abneigung mir gegenüber. Meines Erachtens ist das ein kleiner Sieg. Dennoch, woher weiß sie, dass Kain meine Bücher liest? Sie wüsste es nur dann, wenn sie sie in seinem Wohnheimzimmer gesehen hat. Wieder regt sich meine irrationale Eifersucht. Ich versuche sie schwerlich zu unterdrücken. „Du denkst immer, du wärst allen überlegen, oder? Aber du täuscht dich“, schmettert sie mir entgegen. „Schätzchen, mag ab und an sein, aber… bei dir definitiv nicht“, sage ich abfällig und kann mir ein geringschätziges Grinsen nicht mehr verkneifen. Die Rothaarige presst ihre Lippen aufeinander und in ihren Augen entsteht dieses wütende Funkeln, welches ich schon des Öfteren bei ihr erblicken konnte. „Was willst du eigentlich? Ich denke nämlich nicht, dass das hier auf ein Meet and Greet hinausläuft?“, frage ich sie direkt und von dieser nutzlosen Diskussion ermüdet. „Ich will wissen, was das für eine Farce zwischen dir und Kain ist.“ Na endlich. Sie schiebt das Buch zurück in ihre Tasche. „Farce? Wow, ich wusste nicht, dass du solche Wörter kennst. Fleißig im Duden geblättert? Oh, warte. Sesamstraße weiter geguckt, oder?“, reize ich sie zwinkernd einfach weiter. Sie ärgert sich und kann es weniger gut verbergen. Das ist wirklich eine Farce, wie sie im Buche steht. „Meinst du ich bin bescheuert? Ich habe sehr wohl gemerkt, dass du und Kain seit Neusten mehr Zeit miteinander verbringen. Aber eins will ich dir mal sagen…es ist völlig egal, was du ihm über mich erzählst oder wir sehr du glaubst, ihn beeinflussen zu können. Kain gehört mir. Er wird bald wieder mit mir zusammen kommen.“ Die Rothaarige kommt mir während ihrer Ansprache immer näher, bis sie direkt bei mir steht. Ich weiche nicht zurück. „Wie blind bist eigentlich?“, frage ich amüsiert. „Wir lieben uns!“ Sie kann das doch nicht wirklich glauben? „Wach endlich auf“, kontere ich. „Ich will, dass du dich von ihm fern hältst.“ „Das ist nen Witz, oder? Glaubst du wirklich, nur, weil er sich dich warm hält, dass du irgendwann mit ihm in den Sonnenuntergang reitest?“, frage ich ungläubig, “Dann bist du ja noch dümmer als ich dachte. Du bist nichts weiter, als ein billiger Gelegenheitsfick. Mehr nicht!“ Ihre Hand hebt sich, doch ich fange sie ab, bevor sie mich trifft. „Hey!“, mahne ich an. „Er liebt mich! Wir haben wunderschöne Tage am Meer verbracht. Gemeinsame Essen. Intensive Gespräche und hatte sehr intime Momente“, reibt sie mir noch einmal deutlich unter die Nase. Sie entreißt mir ihre Hand, macht einen Schritt zurück und funkelt mir entgegen. „Das ist echt lächerlich. Du bist echt lächerlich.“ Ich mache eine kreisende Handbewegung in ihrer Kopfhöhe. Die Gesichtszüge der Rothaarigen verhärten sich noch etwas mehr. Sie denkt es wirklich. Ich gebe ein belustigtes Schnaufen von mir und kann mir noch schwer einen gespielten Lachanfall verkneifen. „Halt die Klappe!“, faucht sie mir entgegen. Sicher nicht. Ich kann gar nicht anders, als weiter zu machen. „Wie kommst du darauf, dass er noch mit dir zusammen sein will? Ich meine, wenn du nicht so eine frigide, verklemmte und nervende Kuh wärst, dann hätte er dich doch niemals verlassen…wieso also sollte er…“ Ich schaffe es nicht den Satz zu beenden. Ihre Tasche trifft mich direkt am Kopf. Ich beuge mich nach vorn und greife mir an die Schläfe. Der Schmerz ist stechend, arbeitet sich durch meinen Schädel, wie ein schallendes Lachen. „Merena! Hey, bist du noch ganz bei Trost? Verdammt…“, ertönt es aufgeregt. Ich kann in dem Moment nicht erkennen, wer es gesagt hat. Ich höre wirres Durcheinander an Worten und dann wie sich klackernde Schuhe entfernen. Lange Beine kommen auf mich zu. Kain. Ich erkenne ihn an seinen Schuhen. Als sich seine Hand nach mir ausstreckt, mache ich einen Schritt zurück, spüre augenblicklich Schwindel und kann nicht verhindern, dass ich nun doch zu Boden gehe. Mit der rechten Hand lande ich im Gras. Mit der anderen im Kiesbett. „Scheiße, die schleppt ein Bücherregal in ihrer verfickten Tasche rum…“, fluche ich haltlos, sehe nicht auf und betrachte die blutigen Druckstellen auf meiner Handfläche. Niedergestreckt mit meinen eigenen Worten. Pure Ironie. Die Tasche war schwer gewesen und eine harte Ecke hat mich direkt am rechten Auge getroffen. Das macht sich mit jedem Zwinkern bemerkbar. Hinzukommt, dass ich abgesehen vom Tee mit Brigitta heute noch nichts zu mir genommen habe. Mein Schädel brummt. Weil ich nicht reagiere, hockt sich der große Schwarzhaarige zu mir. Ich sehe kurz auf. In seinen braunen Iriden spiegelt sich Sorge. „Neues Hobby von dir?" Kains Stimme ist nicht halb so belustigt, wie sie es sein müsste. „Urkomisch…“, erwidere ich sarkastisch. Er zögert, doch dann legen sich seine leicht rauen Finger an mein Kinn. „Sieh mich mal an!", fordert er mich auf. Mir ist nicht einmal bewusst, dass ich weggesehen habe. „Spatz, bitte. Sieh mich an.“ Ich blicke stoisch auf. Zum einen wegen des Kosewortes und zum anderen, weil seine Stimme so liebevoll klingt, dass es mich innerlich zerreißt. Mein Schädel dröhnt und ich habe Schwierigkeiten, den Schwarzhaarigen vollkommen zu fixieren. „Ist dir schwindlig?" „Nein." Lüge. „Ist dir schlecht?" „Nein." Lüge. „Hast du Schmerzen?", fragt er als nächstes. Ich gebe ihm dieses Mal keine Antwort und sehe ihn nur finster an. Kain lässt sich nicht beirren, dreht meinen Kopf ein wenig hin und her, bevor er mit dem Daumen nahe an meinem Auge entlang streicht. Nun entziehe ich mich seinem Griff und starte einen weiteren Versuch, aufzustehen. Etwas wackelig, aber ich schaffe es. Ich ignoriere den Dreck und die vereinzelten Grashalme an meiner Hose und würde am liebsten direkt ins Wohnheim verschwinden, doch dazu fühle ich mich gar nicht in der Lage. „Worum ging es in eurem Streit?“, fragt er und mustert mich. Er streckt seine Hand nach mir aus und zieht einen Grashalm aus meinem Haar. „Das Übliche“, gebe ich unpräzise von mir. Er muss ja nicht wissen, weswegen wir wieder einmal aneinander geraten sind. „Wirklich? Sah dieses Mal etwas weniger passivaggressiv aus!“, erwidert er sarkastisch. Ich knurre abschätzig. „Ich hab ja geschnallt, dass ihr keine Freunde mehr werdet, aber...ernsthaft, das ist echt unnötig.“ Er macht eine ausholende Handbewegung und spricht damit die vorgefallende Situation an. „Hey, ich bin hier der Leidtragende!“ Mein Schädel gibt ein deutliches Genau als Antwort und surrt. „Wirklich?“, kommentiert Kain ungläubig. Ich starre ihn verärgert an. Allerdings schlucke ich meine aufkommende Wut runter, mache eine aufgebrachte, aber abschließende Geste in seine Richtung und wende mich von ihm ab. Ich gehe. Ich möchte nicht mit ihm reden, will nicht hören, wie unfair und irrational ich mich verhalte. „Renn nicht wieder weg! Robin,…komm schon…was, wenn du umfällst?“ Kain folgt mir und holt mich dank seiner langen Beine viel zu schnell ein. Er greift nach meinem Arm und hält mich zurück. „Du machst mit ihr Urlaub?", platzt es laut und ungehalten aus mir heraus. Es klingt getroffener, als ich es vorhatte. Leider ist es auch noch völlig unpassend. Ich verhalte mich schon wieder wie ein Vollidiot. Jedes Mal, wenn die Rothaarige auf den Plan tritt, ist es, als würde sich mein Gehirn von mir verabschieden. Ich hasse es, so unkontrolliert zu sein. Doch ihre Beschreibungen hallen unentwegt in meinem Kopf umher und malen unangenehme Bilder, die ich nicht mehr loswerde. „Ich war nicht mit ihr im Urlaub.“ Glatte Lüge. Ich sehe ihn skeptisch an. Kains Haltung ändert sich, weil er genau weiß, was mein Blick zu bedeuten hat. „Ja, ich war bei ihr. Aber nicht wegen dem, was du denkst.“ „Sicher,…“ „Wirklich nicht! Okay, lass es mich erklären…“ Kain seufzt. „Sicher, jeder steht auf Fiktion…“ „Hey,…“, unterbricht er mich laut, „Du willst eine Erklärung, dann halt die Klappe.“ Seine Augen sehen mir ernst und intensiv entgegen. Ich wende meinen Blick ab, weil ich die Intensität nicht ertragen kann. „Merenas Vater hat mich vor mehreren Wochen angerufen und mir ein Angebot gemacht. Das ist das, was ich zu Hause bei dir erzählt hatte.“ Ich erinnere mich. Auch, dass er es mir nicht erzählt hat und ich es damals zum ersten Mal hörte. „Ihr Vater leitet die Hauptzentrale eines größeren Pharmazie-Konzernes und sie bauen ihre biotechnologische Abteilung aus. Er wollte wissen, ob ich Interesse daran habe, meine Abschlussarbeit mit einem Projekt dieser Abteilung zu koppeln. Er weiß, wie hart ich arbeite und meint, ich hätte Potenzial. Wir haben uns schon damals oft über die biotechnologischen Möglichkeiten im Zusammenhang mit pharmazeutischen Entwicklungen gesprochen. Ich finde es hochinteressant und er bietet mir die Chance, direkt dort einzusteigen und später masterbegleitend an Projekten mitwirken zu können." „Und dafür musst du nur seine Tochter heiraten und den perfekter Schwiegersohn geben!", kommentiere ich bissig, statt ihm einen anerkennenden Glückwunsch auszusprechen. Ich hasse mich augenblicklich selbst dafür. Kain atmet schwer aus. „Um Himmelswillen, Robin…was willst du eigentlich von mir? Was willst du von mir hören?“, entflieht es ihm aufgebracht. „Wir haben nur Spaß, schon vergessen? Aber das hier macht kein Spaß.“ „Okay, dann sollten wir endlich damit aufhören“, platzt es ungeduldig und angespannt aus mir heraus. Meine Hände sind mittlerweile eiskalt. „Nein, verdammt!“, schmettert er mir aufgebracht entgegen und für einen Moment sehen wir uns einfach nur an. Mein Herz rast und es braucht eine Weile, bis die Bedeutung seiner Worte wahrhaftig zu mir vordringt. Bis sie das laute Pochen in meinen Ohren übertönen. Kain will es nicht beenden. „Nicht?“, frage ich seltsam verunsichert nach. So als hätte ich es nicht richtig verstanden. „Nein. Das ist schließlich keine Lösung“, sagt er ruhig. Gefasst. Ich merke, wie endlich wieder Blut in meinen Fingerspitzen ankommt. Wie sie sich kribbelnd erwärmen, weil die bedrückende Kälte verfliegt. Ich bin erleichtert. Wir sehen uns eine Weile schweigend an und keiner von uns beiden scheint zu wissen, wie wir das verbalisieren, was in unseren Köpfen geschieht. Ich, jedenfalls weiß es nicht. „Wirst du das Angebot annehmen?“, frage ich. „Ich denke schon.“ „Gut. Es ist eine tolle Chance“, zolle ich ihm die Anerkennung, die er verdient. Ich meine es ehrlich. „Und die Bachelorarbeit kannst du auch schon dort schreiben?“ Kain nickt. „Ja, ich bekomme ein paar Grundthemen vorgegeben, darf aber innerhalb dieser meine Abschlussarbeit frei wählen. Ich werde bezahlt und kann frei arbeiten. Außerdem garantiert er mir mehr oder weniger eine Übernahme nach dem Master." Kain sieht mich eindringlich an. Das ist ein unfassbar tolles Angebot. Ich schweige. „Es war eine spontane Entscheidung hinzufahren und deswegen habe ich Merenas Angebot angenommen, das Gästehaus zu nutzen. Es waren nur vier Tage. Ich war hauptsächlich in der Firma ihres Vaters unterwegs und danach bei Marvin.“ Also keine lauschigen Strandspaziergänge, Candle-Light-Dinner und Wochenenden im Bett. Wenn dann nur mit dem aufgepumpten Trainingsjunkie, was wiederum eine äußerst eigenartige Vorstellung ist. Obwohl ich ihm glaube, bleibt ein Rest Unwohlsein zurück, den ich einfach nicht verdrängen kann. „Habt ihr darüber gestritten?“, hakt Kain nach. Ich sehe auf, aber antworte nicht. „Was hat sie gesagt?“, fragt er weiter. „Den üblichen unsinnigen Mist…“ „Sicher und das hat dich so provoziert, dass deine Äußerungen sie dazu animierten, dir ihre Tasche um die Ohren hauen?“ Vereinfacht gesagt, ja. Nach einem kurzen unwilligen Moment nicke ich zögerlich. Kain schließt die Augen und seufzt. „Sie weiß von meinen Büchern und denkt, dass sie und du…“, beginne ich und setze die Erklärung nicht fort, als es darum geht, dass die Rothaarige denkt, dass Kain zu ihr zurückkommt. Mein Gegenüber mustert mich eindringlich und wartet darauf, dass ich weiter rede. „Sie und ich?“, hakte er nach, als ich meine Lippen einfach nur zusammenpresse. „…dass sie und du gemeinsam in den Sonnenaufgang reiten werdet.“ „Und du glaubst das auch?“ Ich antworte wieder nicht, sondern weiche einfach nur seinem Blick aus, weil ich nicht weiß, wie ich darauf reagieren soll, ohne mich vollends zu verraten. „Robin,…“ Ich schüttele den Kopf und sehe zu einer heranströmenden Gruppe von Kindern, die auf dem Fußgängerweg auf uns zukommen. Ich mache keine Anstalten, auszuweichen. Kain zieht mich jedoch zu sich heran und somit von dem heranströmenden Tross lauter plaudernden Schulkindern weg. Wir bleiben ruhig und schweigsam stehen. Seine Hand bleibt an meiner Hüfte liegen. In meinen Fingerspitzen beginnt es zu kribbeln, als ich den vertrauten Geruch des anderen Mannes wahrnehme. Kain hätte mich einfach nur zur Seite bitten oder schieben müssen. Doch das hat er nicht. Ich bin ihm so nah. Höre seinen ruhigen Atem und kann fast spüren, wie er meine Schulter trifft. Seine Hand schiebt sich von meiner Hüfte nach oben zu meinem Schulterblatt. Im ersten Moment blicke zu Boden, sehe, wie etliche beschmutzte Kinderschuhe in grausigen Farben an uns vorbeiziehen. Dann schließe ich meine Augen und langsam wird es wieder still um uns herum. Doch keiner von uns beiden rührt sich. Auch Kain nicht. Er steht einfach nur vor mir. Kains Hand greift mir ans Kinn und er lässt seinen Finger über die gerötete Stelle unterhalb meines rechten Auges fahren. Die Berührung ist federleicht, sanft und warm. „Du solltest dir dafür Eis besorgen...“, sagt er ruhig. Ich winke ab. „Ich esse Eis lieber.“ Kain schmunzelt, lässt jedoch nicht von mir ab. Sein Blick ist abwesend. Auch wenn mir seine Berührung Fürsorge bescheinigt, spüre ich die Zurückhaltung. Er hat es mir noch nicht vollends verziehen. Ich verstehe wieso. „Wie geht es ihr?“, frage ich ruhig und drehe mein Gesicht aus seiner Hand heraus. Auch wenn ich die fehlende Wärme sofort vermisse. Kain lässt es geschehen und runzelt weiterhin besorgt seine Stirn. „Was meinst du?“, fragt er irritiert. Ich ziehe eine meiner Karten aus der Hosentasche. Im ersten Moment stockt er, versteht nicht, dass ich sie keineswegs für mich anwende. Sondern, weil er sie in seiner Nachricht benutzt hatte. „Dein digitaler Timeout…“, erkläre ich, „ Also, wie geht es deiner Schwester?“ Als ich meine Frage wiederhole, sehe ich auf. Kains Blick ist unruhig, so, als müsste er darüber nachdenken, was er sagt oder ob er es mir überhaupt sagen sollte. „Sie ist okay. Sie bekommt neue Medikamente und die schlagen bisher gut an. Wir konnten uns lange unterhalten und ich hatte seit langem mal wieder das Gefühl, dass sie selbst nach vorne schaut. Also ein gutes Zeichen.“ Das Lächeln auf seinen Lippen wird unendlich sanft. Doch sein Blick wandert in die Ferne. Er liebt sie wirklich sehr. „Und deine Eltern?“ Kain löst sich von dem fixierten Punkt. Er zögert wieder mit der Antwort, doch nach einem Augenblick lächelt er. „Na ja, meine Eltern sind meine Eltern“, sagt er letztendlich. In seiner Stimme höre ich Resignation und sein Gesicht zeigt deutlich die Glücklosigkeit, die mit der Erwähnung seiner Erzeuger einhergeht. Ich will nicht, dass er bei der Nennung meines Namens so schaut. „Es tut mir leid, Kain. Ich wollte dir…dich nicht verletzen“, sage ich ehrlich und hoffe, dass er mir glaubt. Doch statt etwas zu erwidern, greift er mir in den Nacken und ziehe mich in einen Kuss. Ich spüre den stetig schneller werdenden Herzschlag in all meinen Gliedern. Sein vertrauter Geruch und seine fühlbare Nähe scheinen meinen Zustand nur noch zu verschlimmern. Ich habe es vermisst. Sehr. So sehr, dass mir gerade sogar egal ist, dass wir hier mitten auf der Straße stehen. „Ich bin immer noch sauer“, flüstert er, als er den Kuss löst und ich sehe dabei zu, wie er sich deutlich auf die Unterlippe beißt. Seine Zähne schaben über die empfindsame Haut, so als würde er das letzte bisschen Aroma hinfort schmecken wollen. Mir wird ganz heiß. „Verstehe“, erwidere ich. _________________________________________________ PS: Ich weiß und es tut mir ser leid, dass ich eure wunderbaren, herzlichen Kommentaren vom letzten Kapitel noch immer nicht beantwortet habe! Mein Stresspegel ist mittlerweile so hoch, dass ich zum Kardiologen muss -.-. Ich habe mir fest vorgenommen am Donnerstag allen zu schreiben, sobald ich aufgestanden bin!! Aber hier schon mal: ICH DANKE EUCH VON HERZEN!!! Für eure Geduld! Für eure lieben und aufbauenden Worte, die mich jedes Mal wieder vor Liebe Quicken lassen! Ich danke euch einfach dafür, dass ihr mich schon so lange begleitet und ich durch euch so viel Energie und Freude schöpfen kann! Ihr seid alle wundervoll und großartig! Eure del Kapitel 23: Vielleicht, vielleicht…erst recht --------------------------------------------- Kapitel 23 Vielleicht, vielleicht…erst recht Als ich merke, dass sich der Schwarzhaarige trotz seiner ablehnenden Worte nicht von mir entfernt, bleibe ich bei ihm stehen. Keinen Millimeter weichen wir voneinander. Stattdessen lässt Kain seine Hand über meine Schulter hin zu meinem Rücken gleiten. Die Hitze in mir wird stärker. Unbewusst lehne ich mich der Berührung entgegen und spüre ihre Sanftheit durch den dünnen Pullover hindurch, der garantiert vor nicht allzu langer Zeit noch Jeff gehörte. „Das heißt also erstmal kein Sex?“, frage ich locker. „Kein Sex“, wiederholt er ernsthaft. Es fühlt sich eigenartig an. Hier mit ihm zu stehen, seine Nähe zu spüren, die mich beruhigt und befriedigt und im selben Moment mein Inneres in Aufruhre versetzt. Ich bin mir nicht sicher, voran es liegt. Vielleicht an der Tatsache, dass Kain in so kurzer Zeit so weit in mich vorgedrungen ist, wie kein anderer. Vielleicht auch nur daran, dass ich weich geworden bin. Letztendlich bin ich einfach nur froh, dass Kain trotz der Vorkommnisse nicht mit mir gebrochen hat. Vielleicht, also, sollte ich lernen, es zu genießen. Wenigstens ein wenig. Kains Handy klingelt und durchbricht mit unmelodischen Technomist diese angenehme Ruhe. Obwohl er unmissverständlich seufzt, geht er ran und löst sich dabei von mir. „Hey Marv… ja.“ Ich verdrehe bei dem verwendeten Spitznamen auffällig die Augen. Marv. Es klingt einfach nur albern. Kain bemerkt es, drückt mir seine flache Hand gegen die Stirn und stupst sanft meinen Kopf nach hinten. Dabei streckt er mir kurz die Zunge raus. Diese kindische Aktion lässt mich amüsiert Schnauben. Allerdings wird mir jetzt wieder bewusst, wo wir eigentlich sind und dass wir mitten auf der Straße stehen. Ich sehe mich unauffällig um. Auf dem Parkplatz sind ein paar Studenten, aber kein mir bekanntes Gesicht. Ansonsten ist es ruhig und ich sehe wieder zu dem anderen Mann. „Ich bin bei den Wohnheimen… Mir kam etwas dazwischen…Nein, ich hab es nicht vergessen.“ Kain streicht sich durch die Haare und schaut nach links und rechts, um etwas zu finden, was seine Position genauer beschreibt. Im Grunde sieht hier alles gleich aus. Die 6 Wohnheime sind sich sehr ähnlich und unterscheiden sich nur durch geringfügige Gestaltungselemente und Nummern, die man aber von unserer Stelle aus nicht sehen kann. Als Treffpunkt wählt er den Foodstore in der Nähe des Instituts. „Okay, in 10 Minuten. Bis gleich.“ Damit legt er auf und sieht mich an. Sein durchdringender Blick zwingt fragend meine Augenbraue nach oben. „Was?“, frage ich misstrauisch. „Du kommst mit!“, sagt Kain kurzentschlossen, packt mich an den Schultern, dreht mich um. Er schiebt mich gnadenlos in die Richtung des kleinen Supermarktes. „Wieso? Ich will eurem stumpfsinnigen Muskeldate nicht beiwohnen“, schwatze ich ablehnend rum. Seine Daumen reiben erst sachte, dann energischer über meine Trapezmuskeln, so, als würde das verhindern, dass ich mich gegen diese vorschreibende Taktik wehre. „Tja, würdest du sehen, was ich sehe, dann würdest du nicht so doof fragen! Und halt einfach die Klappe.“ Als ich meine Augen zusammenkneife, merke ich, was er meint. Das linke Auge brennt, trotzdem verdrehe ich alle beide genervt und ächze laut. Schmerz hin oder her. Das muss einfach sein. Kain lässt sich nicht beirren. „Wir besorgen dir ein Kühlpad oder meinetwegen auch ein Liter Vanilleeis“, schmückt Kain seinen Entschluss aus. Gegen das Vanilleeis habe ich nichts einzuwenden. Am liebsten eine gefüllte Badewanne davon. Meine Gedanken schweifen ab. „Bei ´Besorgen´ denke ich an etwas anderes“, murmele ich und bedenke nicht, dass Kain direkt hinter mir ist. Ich beiße mir auf die Unterlippe, als er sich dichter an mein Ohr beugt. „Du bist schamlos, weißt du das?“, knurrt er mir entgegen, klingt dabei weniger ernst. Eher verlegen. „Ich dachte, du stehst drauf?“, säusele ich neckend. „Du solltest den Mund lieber nicht zu voll nehmen“, mahnt er mich an. „Was? Hat es dir beim letzten Mal nicht gefallen?“, frage ich dezent empört in Anspielung auf unsere letzte gemeinsame Begegnung vor meinem Familienzirkus und spüre deutlich, wie ein Ruck durch den größeren Körper geht. Wenn ich mich zu ihm wende, würde ich wahrscheinlich sehen, wie er errötet und dann im nächsten Moment die Augen verdreht. Doch jetzt spüre ich nur seinen Atem, der heiß über meinen Hals streicht. „Übertreib es nicht, Spatz“, flüstert er bestimmt, aber wie schon beim letzten Mal beruhigt mich die Verwendung des Spitznamens mehr, als dass sie mich verärgert. Auch, wenn es eine deutliche Erinnerung seiner vorigen Abfuhr ist. „Ow, nicht mal Dirty Talk?“, frage ich enttäuscht. Ich kann es einfach nicht lassen und provoziere weiter. Nun kann ich sein Augenrollen förmlich hören. Kains Hände drücken meine Schultern und dann lässt er mich vollends los. Er geht neben mir her und meidet den Blick in meine Richtung. Ich erkenne eine feine Röte auf seinen Wangen, die mir ein euphorisches Gefühl beschert. Es sitzt ganz tief und pulsiert. Nun selbst beschämt lächelnd streiche ich mir durch die Haare und beiße mir auf die Unterlippe. Moment! Seit wann empfinde ich Scham? Niemals. Nie. In keinem Fall. Das fehlt in meiner Programmierung. Es muss mit der Erschütterung meines Kopfes zu tun haben. Ganz sicher. Andere Gründe sind gänzlich ausgeschlossen. „Was studiert er eigentlich?“, frage ich schnell, um auch mich aus dieser Situation zu befreien. Frische Luft ist etwas Gutes. Und was, um Himmelswillen, mache ich normalerweise mit meinen Händen? „Ich habe ´Marv´ noch nie im normalen Betrieb auf dem Campus gesehen“, fahre ich fort. Das dümmliche Namenskürzel benutze ich extra übertrieben und schiebe in gelangweilter Zuschaustellung meine Hände kurzerhand in die Hosentaschen. „Sportmanagement“, kommt es knapp vom Schwarzhaarigen und er wirft einen Blick auf sein Handy. Sportmanagement ist nichts, was hier an dieser Uni angeboten wird, aber an einer privaten Fachhochschule, die die Sporteinrichtungen unserer Hochschule mit nutzt. Ich runzele die Stirn und verdränge den Gedanken an Doping für Fortgeschrittene als Hauptfach und rhythmische Bettgymnastik für Profis und Emporkömmlinge. „Wieso machst du nichts in diese Richtung?“, hake ich neugierig nach und frage mich, welches Hauptfach Kain wohl hätte. „Wieso sollte ich?“ Aus ihm spricht die Verwunderung. „Na ja, du ringst, du spielst Football oder war es Rugby? Du bist sehr athletisch und Dauergast im Fitnessbereich…“, zähle ich das Offensichtliche auf. Kain ist ein Sportfreak. „Und deswegen denkst du, hätte ich auch etwas mit Sport machen müssen?“, kommentiert er mit einem beinahe angegriffenen Unterton. Habe ich möglicherweise etwas Falsches angesprochen? „Ich frag ja nur“, erwidere ich schärfer als beabsichtigt. „Entschuldige…“ Kain bleibt stehen. Ich drehe mich nach kurzem Zögern zu ihm um. Es sind nur ein paar Schritte zwischen uns und doch spüre ich seinen Blick so tief eindringen, als stände er direkt vor mir. „Ich hatte es vor. Jahrelang und dann wurde meine Schwester krank.“ Er pausiert und ich schweige. „Weißt du, ich fühlte mich ununterbrochen hilflos und Sport lenkte mich ab. Sehr gut, sogar. Aber nicht lange und ich wollte es irgendwie ändern, irgendwie helfen.“ Seine Stimme ist ruhig und durchtränkt von dieser sanften Traurigkeit, die sich jedes Mal einstellt, wenn er über seine Schwester spricht. Es ist ein wandelndes Klischee, aber es berührt mich. „Und ich will das auch jetzt noch.“ Kains Schultern zucken unsicher nach oben. Dennoch lächelt er. „Fuck, du verdammter Heiliger… du perfekter Schwiegersohn“, gebe ich ernüchtert von mir und frage mich zum wiederholten Male, wieso sich Kain mit mir abgibt. „Haha, Witzbold“, raunt er mir unbeeindruckt zu und gleichwohl beleidigt, „Außerdem ist es nie gut, sein Hobby zum Beruf zu machen. Stresst nur und man verliert die Freude daran.“ Gut argumentiert. Auf mich treffen keine dieser Gründe zu. Ich schreibe nicht, weil ich es liebe, sondern nur weil ich es gut kann. Und die Biochemie ist nichts weiter als ein haltloser Versuch, das zu erklären, was ich selbst nicht wahrhaben kann und was ich mir selbst nicht eingestehen will. Im Grunde bin ich die Definition von leidenschaftslos. Nicht gerade fürsprechend. Mit einem einfachen Hm wende ich mich von ihm ab und setze mich wieder in Bewegung. „Hey, warte!“ Ich spüre seine Hand an meinem Oberarm. „Solltest du nicht schnell zu deinem Date? Nicht, dass dein Muskelberg unleidlich wird…“ Kains Blick und seine stoppandeutende Hand verhindert jeden weiteren meine dümmlichen Kommentare. Obwohl es stark und erregend in mir kitzelt. „Tust du mir einen Gefallen? Nein, tun wir uns gegenseitig einen Gefallen?“, beginnt er. Ich bleibe erwartungsvoll still und sehe ihn aufmerksam an, „Bitte, keine Spielchen mehr. Von nun an nur noch direkt, ehrlich und ohne weglaufen.“ „Beim letzten Mal war mein Direkt noch unsensibel“, merke ich an. Kain macht einen Schritt auf mich zu, steht nun vor mir. Ganz nah. Er greift mir ans Kinn und neigt meinen Kopf nach oben, sodass ich in seine tiefen braunen Augen sehen muss. „Okay, dein Direkt nur besser dosiert.“ Die Berührung prickelt sich meinen Kiefer entlang und scheint über meinem Hals zu explodieren. Sein Blick versetzt mein Inneres in Aufruhre und ich halte unwillkürlich den Atem an. Kain verlangt viel von mir. Er verlangt Vertrauen. Mehr, als ich je jemand anderen zugestanden habe. Ich bin mir nicht sicher, ob ich es wirklich kann. „Kriegen wir das hin?“, flüstert er. Ich bin nicht sicher, ob er wirklich eine Antwort will. Wüsste auch nicht, welche ich ihm geben kann. Ich weiß nur, dass ich seit geraumer Zeit nicht mehr geatmet habe. Hauchzart legen sich seine Lippen auf meine, ohne dass er den Augenkontakt bricht. Als ihm bewusst wird, dass wir nicht in einem unserer lauschigen Wohnheimzimmer stehen, stoppt er in der Bewegung. Möglicherweise auch, weil er sich erinnert, dass ich dauerndes Küssen ablehne. „Sorry..“ Kain saugt scharf die Luft ein, ächzt und wendet sich wieder dem kleinen Supermarkt zu. Eigenartig. So viel dazu, dass er noch sauer sei. Ich sehe ihm einen Moment nach und folge dann. Seine Schritte sind deutlich schneller als eben. Im Laden läuft leise das Radio. Niemand sitzt an der Kasse, aber in der Nähe der Hygieneartikel steht eine junge Frau, die missmutig ein paar Döschen Creme einräumt. Kain fragt sie nach unserem gewünschten Artikel und geht zielstrebig in den hinteren Bereich des Foodstores. Ich folge ihm mit Abstand und ignoriere den Blick der Kassiererin. Als ich bei Kain ankomme, setzt ein neuer Song ein, der mich augenblicklich seufzen lässt. ´You have my heart. And we'll never be worlds apart. May be in magazines. But you'll still be my star. Baby, 'cause in the dark. You can't see shiny cars`. Sofort regt sich in mir der Ohrwurm und tanzt samt Regenschirm in meinem Kopf umher. Großartig. Ich sehe zu Kain, der sich leise mitsummend zwischen den Truhen hin und her bewegt. Er sieht sich nach den blauen Gelpads um und bewegt seine Lippen zu ` Under my umbrella, ella, ella, eh, eh, eh`. Er beugt sich in die Gefriereinheit und beginnt, darin zu wühlen. Ich möchte mir am liebsten die Haare raufen. „Gehst du Eiswürfel tauchen?“, fragt Marvin und Kains Kopf ruckt wieder hoch. Der blonde Muskelberg ist plötzlich zwischen den Regalen aufgetaucht und grinst. „Nee, stehe nur auf Gehirnfrost…“ Marvin lacht schrill auf, tritt an Kains Seite und legt ihm kumpelhaft seinen Arm um die Schulter. Ich verschränke meine vor der Brust. „Ihr kennt euch ja“, sagt Kain knapp. „Jo“, kommt es so einsilbig von dem aufgepumpten Muskelberg, wie ich es erwartet habe. Mögen mich die Vorurteile irgendwann niederstrecken, aber Kains bester Freund sieht aus, als wären vierwörtrige Sätze das höchste aller Gefühle. Marvin lehnt sich an eine der Kühltruhen. Ich sehe, wie mich der große Blonde mustert und wie sich nach einem Blick zu seinem Freund ein undefiniertes Lächeln auf seine Lippen schleicht. Kain kramt unterdessen ungerührt in der Truhe rum. „Hat er das blaue Auge von dir?“, fragt Marvin belustigt. Kain richtet sich entsetzt auf. „Nein! Hier“ Im selben Atemzug wirft er mir die blaue Kaltkompresse zu. Ich lasse sie beinahe fallen und drücke mir das kalte Ding ungeschickt gegen die Hüfte, ehe ich es richtig greifen kann. Abkühlung im wahrsten Sinne des Wortes. Marvin lacht erneut. Ich wünschte, er würde einfach in die Kühltruhe fallen. Und ups, die Tür friert zu. „Oh, weil wir schon mal hier sind, ich brauche noch ein paar Dinge…“ Damit verschwindet Kain zwischen zwei Regalen und lässt mich mit dem Herkulesverschnitt zurück. Ich drücke mir das Kühlpack gegen das Auge und sehe gelangweilt zur Seite. Marvin mustert mich. Ich kann seinen Blick regelrecht auf meiner Haut spüren. Als ich ihn böse anfunkle, um ihm zu zeigen, dass ich sein Gestarre sehr wohl bemerke, grient er mir überheblich entgegen. „Was?“, frage ich sichtlich überstrapaziert. „Nichts“, kommt es zu schnell und zu amüsiert von dem anderen. „Gut, dann glotz woanders hin.“ Ich wende meine Augen wieder Richtung Boden, jedoch nur so lange, bis ich von Marvin ein eigenartiges Schnaufen vernehme. Er greift nach einer Packung Einwegrasierer, die an einem Haken über der Kühltruhe hängen. Marvin beäugt sie stirnrunzelnd und ich stelle mir vor, wie er auf dem Wannenrand sitzt und sich die Haare von den Zehen rasiert. Mit einem angewiderten Schütteln verblasst das Bild. Leider nicht so schnell, wie gehofft. „Ich verstehs nicht…“, sagt er plötzlich und unterstreicht seine Ungläubigkeit mit einem passenden Lachen. „Ich denke, es gibt so einige Dinge, die du nicht verstehst…“, entgegne ich trocken. Seine Schultern straffen sich merklich und dann fixiert er mich mit einem besonders durchdringenden Blick. Ich frage mich, was das soll. Er hängt die Packung Rasierer zurück. „Kain hat einen echten Narren an dir gefressen, weißt du das?“ Seine Aussage irritiert mich nur noch weiter. Marvins Kopf neigt sich in die Richtung, in die sein Freund verschwunden ist. Meine Augen folgen ihm. Ich kann Kains schwarzen Haarschopf in einiger Entfernung erkennen. Er überragt die Regale locker und scheint irgendwas zu suchen. „Wie meinst du das?“, frage ich leise, drücke mir das Kühlpack stärker ans Auge und beobachte Kains Bewegungen. Ich höre erst damit auf, als Marvin plötzlich dicht neben mir steht. Er riecht nach scharfem, fast strengem Rasierwasser und irgendwas Süßlichem. In diesem Moment frage ich mich, wie viel Kain dem anderen preisgibt. Bis jetzt war ich mir sicher gewesen, das auch er kein Interesse daran hat, dass irgendjemand von unserem Experiment weiß. Nun bin ich mir nicht mehr sicher. „Na ja, Kain quatscht viel, wenn er betrunken ist. Das passiert selten, deswegen ist es immer wieder ein kleines Highlight. Und du warst der Höhepunkt der letzten Wochen.“ Er macht eine dramaturgische Pause und sieht mich mit seinen starren Augen direkt an. „Hör zu, ich weiß nicht, was das mit euch ist, aber ich kann es nicht leiden, ihn so zusehen.“ „Wie denn?“ Ich scheue nicht zurück. „Durcheinander…verletzt.“ Eindringlich wirft er mir das vor. Ich wollte nie, dass Kain sich so fühlt. Es ist mir so oder so unangenehm. Doch, dass jetzt auch sein bester Freund der Ansicht ist, mir das mitteilen zu müssen, macht es nur noch schlimmer. Auch das übertriebene Grinsen ist aus Marvins Gesicht verschwunden. Kain muss ihm wirklich viel bedeuten. Seine Worte sind keine direkte Drohung, aber ich verstehe sehr wohl, was er mir damit sagen will. „Okay, wir können…“, ertönt Kains vertraute Stimme und er bleibt neben uns stehen. Er scheint die seltsame Stimmung zu spüren, denn er schaut uns fragend an und stellt den gefüllten Einkaufskorb auf der Kühltruhe ab. „Hast du alles?“, erkundigt sich Marvin mit einer wiedererweckten Fröhlichkeit. Er grinst, als er ohne zu fragen in Kains Einkauf rumkramt. „Nein, aber nicht so wild.“ „Tja, nicht jeder Laden führt unsere XXL-Kondome…“, witzelt der Blonde, legt Kain seinen Arm um die Schulter und dreht ihn von mir weg, bevor ich seine Reaktion darauf sehen kann. Ich bin versucht, es zu kommentieren, lasse es aber sein. Ich folge ihnen langsam. Kain legt die Waren aufs Band und sie schäkern immer weiter. Das meiste davon sind Insider oder Belanglosigkeiten. Ich höre gar nicht weiter zu, betrachte stattdessen die verschiedenen Artikel, die Kain kaufen möchte. Müsliriegel. Vollkornbrot und Frischkäse. Feuchttücher. Rasierklingen. Ich bezahle das Gelpack und werde von der Kassiererin schief angesehen, als ich für die paar Euro meine Geldkarte zücke. Vor dem Laden bleiben wir stehen. Ich ziehe die Packung Zigaretten aus der Hosentasche und werde von Marvin tadelnd angeschaut. Jetzt stecke ich mir erst recht einen der Glimmstängel zwischen die Lippen. „Die sind ungesund und minimieren die Potenz“, belehrt er mich. „Steroide auch“, kontere ich sofort. Marvin grinst mich unverhohlen an und schüttelt den Kopf. Er greift Kain an die Schulter, um ihn zum Gehen zu bewegen. Doch der kommt auf mich zu und nimmt mir die Zigaretten aus dem Mund. „Er hat Recht.“ Damit schiebt er sich die Zigarette hinter das Ohr. Ich sehe ihm missmutig dabei zu. Sowas hat er schon mal getan. Auch meine Lunge würde Einspruch einlegen, wenn sie könnte. „Was habt ihr heute vor?“, frage ich, ohne auf die Tadelei einzugehen und um mich abzulenken. „Wir gehen zu dem guten Argentinier am Boulevard. Willst du mitkommen?“ „Und an einer Testosteronüberdosis krepieren? Nein, danke“, lehne ich schnell ab. Überdies macht Kains bester Freund nicht den Eindruck, als würde er mich noch länger dabei haben wollen. Auch jetzt beäugt er mich kritisch und ich widerstehe dem Drang, ihm meinem Mittelfinger entgegen zu strecken. „Wie du willst. Mehr Steak für mich. Du kommst klar?“, fragt er mich fürsorglich und deutet auf mein malträtiertes Auge. „Immer. Außerdem muss ich meine Rache planen.“ „Kain, komm jetzt…ich verhungere“, ruft Marvin dazwischen. Der Angesprochene schnauft. Ich hebe meine Hand und zeige ihm den nicht so freundlichen Finger doch. Er hat es so gewollt. Der Schwarzhaarige zieht meinen Arm wieder runter und schüttelt vorwurfsvoll das Haupt. „Bitte, lass das. Ich werde noch mal mit Merena reden und sie wird sich entschuldigen.“ „Lass gut sein.“ Ich will keine Entschuldigung und sie wird einen Teufel tun. Dank ihrer ledernen Schwungwaffe ist sie als Sieger aus dieser Schlacht hervorgegangen und mein Ego wird noch eine Weile brauchen, um das zu verkraften. Kain entflieht ein leises ´Na gut´ und er verschwindet mit Marvin in Richtung Boulevard. Unentschlossen darüber, direkt ins Wohnheim zurückzugehen oder noch eine Weile dumm rumzustehen, sehe ich ihnen noch einen Moment nach. Der Schwarzhaarige wirkt neben dem großen Blonden fast schmal. Marvin stampft prollig, während Kain fast leichtfüßig tänzelt. Auch, wenn er selbst etliche Muskeln mit sich rumschleppt. Gute, definierte Muskeln im genau richtigen Maß. Ich weiß, wie sie sich anfühlen, wenn er sie bewegt. Die Härte unter weicher Haut. Gerade, als ich über meine eigenen Gedanken den Kopf schütteln will, blickt Kain zurück. Ich zucke zusammen, weil er mich doch tatsächlich beim Starren erwischt. Doch er lächelt nur und dreht sich vollkommen zu mir, um die nächsten paar Schritte rückwärts neben Marvin herzulaufen. Ich kann seine Gesichtsregungen nicht mehr richtig erkennen und brauche es auch nicht. Marvins Hände fuchteln in der Gegend rum und erst, nachdem er dem Schwarzhaarigen mehrfach gegen die Schulter stupst, dreht der sich wieder um. Wirklich seltsam. Und eigenartig befriedigend. Trotzdem denke ich an Marvins Worte. Durcheinander und verletzt hat er gesagt. Kain war anscheinend in den Wochen nach unserem Streit wirklich in keiner guten Stimmung gewesen und es war meine Schuld. Unbestreitbar. Ich atme tief ein. Was für ein Tag. Was für Wochen. Ich muss damit aufhören. Langsam melden sich die Kopfschmerzen zurück. Ich ziehe mir eine neue Zigarette aus der Schachtel und zünde sie schnell an, damit sie nicht wieder wie aus Zauberhand verschwindet. Ich werde die andere zurückfordern. Mit Zinsen und Leidenszuschlag. Der Rauch füllt schnell meine Lunge. Ich spüre das Kratzen und die leichte Bitterkeit an meinem Gaumen und fühle mich trotz alledem vollkommen unbefriedigt. Noch bevor ich am Wohnheim ankommen, werfe ich die halb aufgerauchte Zigarette in die Büsche. Das Kühlpack landet in meiner Hosentasche, während ich Micha kurz zu winke und meinen Weg nach oben fortsetze. „Robin warte! Der wurde für dich abgegeben“, ruft er mir nach. Ich stoppe seufzend, sehe wie Micha einen braunen Umschlag in der Luft umherschwingt und mache kehrt. Mittlerweile kann ich ihn meinen persönlichen Postboten nennen. „Solltest du nicht im Urlaub sein?“, frage ich, als ich den Brief entgegen nehme. „Morgen ist der letzte Tag…dann heißt es Sonne, Strand und kalte Schorle“, singt er vergnügt, schwingt tänzelnd seine Hüfte und macht dabei mit vor der Brust erhobenen Händen kreisende Bewegungen. Dabei erinnert er mich an einen dieser kleinen gelben Hilfsarbeiter, die nur seltsames Silbenblabla von sich geben. Ich weiß nicht, ob es an dem gelben Shirt und der blauen Latzhose liegt oder an dem verrückten Grinsen in seinem Gesicht. Er trinkt nicht mal Bier, sondern Schorle. Herrje. „Woher hast du das blaue Auge?“, fragt er verwundert und nimmt die Arme wieder runter. Ich grinse verlegen und sehe zur Seite, so, als würde mich das aus der Situation retten. Da mir das in der nächsten Zeit sicher öfter passieren wird, sollte ich mich lieber damit abfinden und mir eine plausible Erklärung zurechtlegen, ohne dabei die taschenschwingende Verrückte zu erwähnen. „Ja, also das…alles halb so wild. Ich wünsche dir und deiner Familie einen erholsamen Urlaub…“, rattere ich runter und mache mich vom Acker, ehe er nachhaken kann und das kühlende Etwas in meiner Hose Schaden anrichtet. Bevor ich ins Zimmer gehe, mache ich einen Abstecher ins Gemeinschaftsbad. Vor dem Spiegel offenbart sich mir endlich das Ausmaß der Taschenbegegnung und zu meinem Leidwesen muss ich Kain Recht geben. Schön ist anders. Die Schwellung hält sich in Grenzen, aber da Weiß um meiner Iris ist rötlich unterlaufen. Genauso, wie die Haut drum herum. Spätestens morgen wird dann das immer stärker werdende Violett perfekt mit meiner blau-grünen Augenfarbe harmonieren. Es ist nicht mein erstes und wird auch nicht mein letztes blaues Auge sein. Ich seufze fahrig, presse mir das kühlende Gelpack wieder auf die malträtierte Stelle und bin froh, dass ich bereits zu Hause gewesen bin und wenigstens meiner Mutter gegenüber keine Erklärung finden muss. Ich tippe den Türcode ins Eingabefeld und sehe aus dem Augenwinkel heraus, wie Sina über den Flur schreitet. Seit ihrer offensiven Anmache und meiner wenig schmeichelnden Abfuhr sind wir uns nicht mehr begegnet. Als sie an mir vorüber geht, straffen sich ihre Schultern. Ihre blonden, gelockten Haare wippen im Takt ihrer Schritte. Sie sieht mich unverhohlen an, kokett und lächelnd. Ihr Selbstbewusstsein scheint nicht angekratzt. Im Gegenteil, es wirkt vollkommen unerschüttert. Irgendwie bemerkenswert. Hätte ich nicht diese bizarre Sperre in meinem Kopf, wäre ich spätestens jetzt auf sie angesprungen. Blond hin oder her. Ihre Hüften erzählen Geschichten von außerordentlicher Freude. Oh nein. Es wird Zeit für einen neuen meiner klischeehaften Schundromane. Die Story ganz klar. Eine sextolle Musterschülerin schmeißt sich Hals über Kopf an den schuleigenen Miesepeter heran. Eine vielversprechende Klischeerundfahrt samt eines Happy Ends, welches einen weniger miesepeterischen Schwarzmaler beinhaltet. Brigitta würde es sicher gefallen und das rosarote Sarkasmuseinhorn in meinem Kopf dreht sich hufeklatschend im Kreis. Mein Auge beginnt zu brennen und ich verfluche die rothaarige Hexe. Morgen suche ich mir eine Apotheke. Mein Handy vibriert, als ich endlich die Tür aufdrücke. Während ich es mühsam aus der Hosentasche ziehe, lege ich alles andere zur Seite. Das kaputte Auge lasse ich geschlossen, während ich versuche, etwas auf dem Display zu erkennen. Es ist eine Nachricht von Kain. -Mittagessen. Morgen. Sag ja.- Wer würde bei dieser freundlichen Ansage schon nein sagen? Das wiehernde Sarkasmuseinhorn dreht eine Extrarunde. Ein Hoch auf die Evolution der Sprachverkürzung. Irgendwann kommunizieren wir wirklich nur noch mit Buchstabenkürzel und Icons. Oder per Gedankenübertragung. Wäre in meinem Fall eher nicht so günstig. -Dein momentanes Date ist noch nicht vorbei und du suchst schon ein neues?-, schreibe ich amüsiert. Meine Antwort liest er sofort. Ich lasse mich rücklings aufs Bett fallen, während ich auf eine Antwort warte. -Sehr witzig. Aber interessant zu erfahren, was du für ein Date hältst- -Zwei Personen. Nahrungsaufnahme. Per se Date-, tippe ich ein. Ich hatte nie eine richtige, per gesellschaftlicher Definition genormte Verabredung und habe auch nie eine gewollt. Von daher könnte meine Auslegung etwas hinken. Ich sehe mich nach dem Kühlpack um und entdecke es neben dem Kühlschrank. Der Ort hat eine gewisse Logik, allerdings wäre das Ding in meinen Händen wesentlich hilfreicher. Schwerfällig richte ich mich. Meine Muskeln streiken. Mein Kopf schreit. Ich habe zu wenig getrunken. Ich mache drei große Schritte zum Kühlschrank, greife mir das Pad und eine Flasche Wasser und gehe den gleichen Weg rückwärts zurück. Nach einem großen Schluck Wasser sehe ich mein Telefon blinken. -Mir scheint, als brauchst du mal ein richtiges Date-, schreibt Kain. -Nicht so mein Ding- -Wieso wusste ich, dass du das sagst? Trotzdem morgen, 12:30?- Nach einer knappformulierten Annahme lasse ich mich zurückfallen. Mein Kissen umfängt mich wie Balsam. Ich fühle mich erschöpft und ich habe weiterhin Kopfschmerzen. Liegen ist eine Wohltat für meinen malträtierten Schädel. Mit einer oder zwei Ohrfeigen habe ich gerechnet. Aber nicht mit einer derartigen Attacke. Vielleicht habe ich es wirklich übertrieben, aber die Rothaarige und ihr dummes Getue bringen mich jedes Mal zur Weißglut. Was bildet sie sich ein, mir den Umgang mit Kain verbieten zu wollen? Denkt sie wirklich, dass sie noch eine Chance bei ihm hat? Wie, um alles in der Welt, verhält sich Kain ihr gegenüber, wenn sie immer noch an eine Beziehung glaubt? So weich und lieb, wie gegenüber jedem anderen auch. Es ist absurd. Vor allem, dass ich mir darüber Gedanken mache. Selbst wenn es so wäre, sollte es mir egal sein. Gleichwohl zermürbt es mich. Ich rolle mich hin und her und murre in den ruhigen Raum hin. Frustriert angle ich nach dem Briefumschlag und betrachte ihn, drehe ihn dabei in alle Richtungen. Er ist ungewöhnlich dick, doch als ich den Absender sehe, wird mir einiges klar. Er ist vom Verlag und wurde nicht abgeschickt, sondern tatsächlich abgegeben. Brigitta war also eben noch hier gewesen. Wieso hat sie ihn mir nicht im Café überreicht? Vermutlich, weil ich zu schnell abgerauscht bin, wie ein Softeis in der Sahara. Vielleicht auch, weil sie mich damit in ein grenzenloses Untergangsstimmungstief versetzt hätte und meine Laune bereits Tartarosniveau hatte. Ich denke an das lektorierte Skript, welches in meiner Tasche schlummert und atme geräuschvoll aus. Ich öffne schwer seufzend den Umschlag und ziehe den Inhalt raus. Zwischen den Seiten liegt eine handgeschriebene Notiz meiner Lektorin. `Muffin, ich konnte dich nicht mehr drauf vorbereiten. Lass uns telefonieren. Brigitta´ Beim Lesen flötet die Stimme der kessen Lektorin in meinem Kopf umher. Vorbereiten? Ich ahne böses. Ich entfalte die restlichen Seiten und komme nicht umher, einmal lautstark auf zu jaulen. Ich wusste es. Es geht um diese ominöse Konvention. Ich wiederhole meinen Klagelaut. Immerhin ist niemand da, der mein wehleidiges Beklagen beobachten könnte. Dann höre ich ein leises verräterisches Rascheln und schaue zu der einzig möglichen Quelle. Der Ficus. „Ich hoffe, dir ist klar, wer der Herr des Wassers ist?“, drohe ich der Topfpflanze. Ich sehe die Blätter zittern und fühle Genugtuung. Ich greife nach den anderen Papieren. Es sind eine Hotelreservierung und ein Vorabfahrplan für das erste organisatorische Treffen. Ebenso die Reservierungsbenachrichtigung für ein Hin- und Rückfahrtsticket. Geplant ist das Ganze schon in 11 Tagen. Selbst eine Vorbereitung hätte nichts daran geändert, dass so ziemlich alles in mir Nein schreit. Immerhin sieht der Plan ein kostenfreies Mittagessen vor. Vielleicht gibt es sogar Kekse. Aber auch damit wird der Gedanke nicht besser. Ich bin und bleibe unwillig und nichts wird daran etwas ändern können. Außerdem stößt mir auf, dass ich wieder Mal nicht fragt wurde. Ich hätte ja auch Pläne haben können? Irgendwas Wichtiges und Ernstes. Etwas, dass ich nicht verschieben kann. Leider weiß Brigitta, dass ich der sozialkontaktloseste Mensch der Welt bin. Zu meiner Überraschung stelle ich fest, dass die Besprechung nicht in den Räumen des Verlags stattfindet, sondern in einer Stadt in der Nähe meiner Heimat. Das macht es nicht einfacher. Frustriert lege ich die ganze Zettelei zur Seite und lasse mich ins Kissen fallen. Nun bin ich zu Renés Todestag fast zu Hause. Fast bei ihm. Es fühlt sich ernüchternd an und schmerzhaft. Doch ich weiß, dass ich es nicht jedes Mal wieder aufschieben kann. Nach 5 Minuten lethargisch an die Decke starren, widere ich mich selbst an. Das Kühlpad bugsiere ich ins Gefrierfach, dann schnappe ich mir ein neues Handtuch und stelle mich unter die Dusche. Diesmal schaffe ich es sogar, mich zu rasieren. Und abgesehen von dem blauen Auge sehe ich danach wieder aus, wie ein Mensch. Statt der Kaltkompresse krame ich mir ein richtiges Eis aus dem Fach und sehne mich nach dem versprochenen Liter Vanilleeis. Danach wäre mir sicher schlecht, aber trotzdem ist die Vorstellung mehr als verführerisch. Cremiges, leckeres Sahneeis. Zarter Schmelz und samtige Süße, die auf feine zitronige Schärfe trifft. Stopp. Moment mal. Kains Bonbons passen so gar nicht zu meiner Badewannenfantasie voller Speiseeis. Irgendwas läuft definitiv falsch in meinem Hirn. Seufzend schmeiße ich mich an den Rechner und wickele mein Wassereis aus der Packung. Der Geschmack von Orange kollidiert mit der Vorstellung in meinem Kopf auf vielerlei Hinsicht. Ich drücke den Powerknopf, rutsche im Stuhl soweit runter, dass ich fast liege und sehe dabei zu, wie die Farbe auf dem Desktop mehrere Male hin und her wechselt, ehe mir mein gewohntes Hintergrundbild angezeigt wird. Meine Gedanken driften wieder ab. Ich bin geil und die Schäkerei mit Kain hat nicht dazu beigetragen, meinen Zustand zu verbessern. Kein Sex. Das hat Kain gesagt. Er hat weder eine zeitliche Begrenzung genannt, noch ob die Situation sich durch irgendwas ändern ließe. Das Eis macht plötzlich nur noch halb so viel Spaß. Ich hole das korrigierte Skript aus der Tasche und beginne Brigittas Anmerkungen abzuarbeiten. Mein Gehirn will nur nicht so recht. Ich lasse es sein, als ich nach der fünffachen Umstellung eines einzigen Satzes das Gefühl habe, klingonisch zu sprechen. An irgendeiner Stelle wird mir ein verräterisches Mevyap rot unterstrichen. Stattdessen öffne ich eine andere Datei und wandele meine sexuelle Energie in ein schlüpfriges Geheimtreffen mit Pornoqualität um. Gut, aber nicht genügend. Es ist kein richtiger Sex. Ich hätte länger duschen sollen. Meine Augen wandern zu dem noch feuchten Handtuch und aller Bedenken zum Trotz, verschwinde ich noch einmal ins Gemeinschaftsbad. Am nächsten Tag mache ich mich gegen 12 Uhr auf den Weg zur Mensa. Ich rauche eine Zigarette und bleibe vor dem Hauptgebäude mit dem Stummel in der Hand stehen. Ich sollte aufhören. Natürlich nur für meinen Geldbeutel und nicht für meine Gesundheit. Plötzlich steht jemand vor mir. Ich brauche einen Moment, um zu realisieren, wer es ist. Mark, Sharis Kumpel. Seine dunkelbraunen Augen blitzen mich scharf an. Ich hätte damit rechnen sollen und doch überrascht es mich. Ich schnipse seufzend den Stummel ins Beet. „Robin, oder?“, beginnt er. „Was willst du?“, frage ich unbeeindruckt und doch rammt sich mein Herz aufgeregt gegen den Brustkorb. Marks Blick wird immer grimmiger. Sein Finger tippt mir hart gegen die Schulter und dann fasst seine Hand nach meinen Kragen. Fest und unnachgiebig. Er ist kräftiger, als er aussieht. Shari ruft Marks Namen und ich werfe abgelenkt einen Blick in die Richtung, aus der die Stimme der schönen Inderin gekommen ist. Sie sieht wie immer zauberhaft aus. „Hey, klopf klopf. Hier spielt die Musik. Sie wird dir nicht helfen“, holt er mich zurück. Ich sehe ihn ungerührt an und mache mit der Hand eine Geste, die ihm andeutet, fortzufahren. „Shari wollte dir nur einen Gefallen tun, weil sie der Überzeugung war, dass das, was du erklärst, gut ist und deine mühsam verfassten Skripte nicht so in die Welt geworfen gehören. Reine freundschaftliche Nächstenliebe und du hast nichts Besseres zu tun, als auszuflippen. Geht’s noch?“ „Ich habe nicht darum gebeten.“ „Hör mal zu, du Biologiefritze, wenn du es noch einmal wagst, mein Blümchen derartig anzugehen, dann mache ich dich schneller zu Kompost als du Polymerasekettenreaktion sagen kannst.“ „Eigentlich Biochemie“, kommentiere ich diesen amüsanten Ausbruch. Ich unterschätze aber keineswegs die Ernsthaftigkeit, die mit seinen Worten einhergeht. „Beides Grünzeug. Haben wir uns verstanden?“ Mein blaues Auge ignoriert er geflissentlich. „Ja“, sage ich knapp, sehe dabei zu, wie sich seine Schultern entspannen und er zu lächeln beginnt. „Braves Schiebchen.“ Es fehlt nur noch, dass er mir niedlich auf dem Kopf pattet. Seine Hand zuckt hoch und ich zurück. „Alter,…“, warne ich und sehe, wie sich in seinem Gesicht ein freches und zu gleich sehr attraktives Lächeln bildet. Jetzt finde ich auch noch das Lächeln eines anderen Mannes interessant. So weit ist es mit mir schon gekommen. „Sehr gut“, flötet mir Mark entgegen, vollführt, als er von mir weggeht, eine Ich-habe-dich-im-Blick-Geste samt bösem Stieren und bleibt bei Shari und einem muskulösen, aber schlanken Mann stehen. Sie haben uns die gesamte Zeit dabei zu gesehen und er lächelt, als der Brünette ankommt. Marks Blick ändert sich sofort. Er wird weich, sanft und unglaublich liebevoll. Sie wechseln ein paar Worte. Ihre Finger verschränken sich miteinander und er küsst Mark sanft auf den Scheitel. Shari hat in einem Nebensatz erwähnt, dass ihr bester Freund schwul ist. Doch entgegen des ablehnenden Gefühls in meiner Brust, welches ich empfinde, wenn ich Abel und Jeff zusammen sehe, fühle ich bei den beiden nur neidvolle Zufriedenheit. Shari schaut zu mir und ich sehe Zurückhaltung, Kummer und auch Zärtlichkeit. Sie ist verletzt und ich dämlich. Ich nehme mir vor, mich nachher bei ihr zu melden. Ich wende mich ab und stehe auf einmal vor Kain. Auch er sieht zu den anderen und ich frage mich, wie viel er von unserer kleinen Auseinandersetzung mitbekommen hat. „Kompost, ja?“, kommentiert Kain. Natürlich alles. Ich seufze laut auf. „Polymerasekettenreaktion. Herrlich und dein Blick erst“, plappert er weiter und kichert kindlich. „Bist du fertig?“ „Ich dachte, er verhaut dich gleich und da wollte ich einen Platz in der ersten Reihe. Schau, ich hatte sogar schon das Handy zum Filmen bereit.“ Das angesprochene Gerät taucht in meinem Blickfeld auf. Wackelnd. Ich erkenne Kains Hintergrundbild. Es ist eine Aufnahme von ihm und seiner Schwester. „Und was wird das?“, frage ich ein wenig affektiert und führe mit meiner Hand eine kreisende Bewegung vor seinem Gesicht aus. Das Grinsen in seinem Gesicht ist nur noch breiter geworden. „Was? Meinst du meine belustigte Gesichtsmimik? Nennt man Grinsen und ist für gewöhnlich ein Zeichen von verspielter Freude. In meinem Fall allerdings ein Zeichen für hocherfreute, amüsierte Genugtuung.“ „Du hättest also mit Freude dabei zugesehen, wie er mir die Nase bricht?“, erfrage ich gespielt entsetzt. „Ich denke nicht, dass er dir mit einem Schlag die Nase bricht, aber … nun gut, ich wäre dir schon zur Hilfe gekommen, wenn die 70 Kilo da ein Problem geworden wären.“ Er deutet lachend in die Richtung in die Mark verschwunden ist und ich sehe ihm nur entgeistert entgegen. „Was hast du ihm getan?“, fragt Kain, als ich ihm einen Kommentar schuldig bleibe. „Ich hab nicht ihm etwas getan, sondern…“, stockend schließe ich kurz die Augen, “Shari… und nein, auch ihr hab ich eigentlich nichts getan. Ich war nur nicht sehr zuvorkommend.“ Eine von Kains dunklen Augenbrauen hebt sich in die Lüfte. Er kann sich genau vorstellen, was ich damit meine. Zu meinem Glück fängt Kain nur an zu lächeln und reicht mir, statt einen weiteren Schlagabtausch einzuleiten, einen seiner gestern gekauften Müsliriegel. „Hunger?“ Danach gehen wir zusammen Richtung Mensa. Die Auswahl an Gerichten ist durch die vorlesungsfreie Zeit eingeschränkt und ich entscheide mich leidenschaftslos für ein einfaches Kartoffelgericht mit einer undefinierten Scheibe Fleisch und Karottengemüse. Eigentlich hätte mir das Kartoffelpüree gereicht. Kain hingegen gönnt sich ein XXL-Schnitzel mit Pommes und in mir keimt der Futterneid. „XXL, ja?“, gebe ich ungerührt von mir, als sich der Schwarzhaarige neben mich setzt. Kain ächzt theatralisch auf. „Ich wusste, dass da etwas kommt. Ich mach dir einen Vorschlag, Du bekommst meinen Pudding, dafür hältst du die Klappe. Okay?“ „Puddingtastisch“, erwidere ich geschwind und greife nach der Schale mit der vanilligen Creme, bevor es Kain sich anders überlegt. Aber er macht keine Anstalten, sondern beginnt nur leise zu lachen. „Apropos Süßes, du schuldest mir einen Kuchen. Einen mit ganz viel Schokolade und Sahne.“ „Ach wirklich? Wovon träumst du nachts?“ „Na ja, hin und wieder von Schokolade und Sahne…“, kommentiert er nonchalant und ich stocke. Ich kann in diesem Moment nicht einschätzen, wie seine Äußerung gemeint ist. Kuchenbetreffend oder versaut. Kain scheint mich nicht aufklären zu wollen und widmet sich grinsend seinem Essen. „Nehm ich sofort. Beides“, sagt eine vertraute, aber nicht erwartete Stimme hinter uns und wir drehen uns beide überrascht um. „Das Boardrestaurant war geschlossen und sie gaben nur schlecht aufgebrühten Kaffee aus. Ich hatte fünf davon“ Jeff lässt sich samt Koffer auf einen der freien Stühle fallen. Er setzt gerade dazu an, uns von seinem schrecklichen Martyrium mit dem öffentlichem Fernverkehr zu berichten, als sein Blick auf mich fällt. „Wow, wer ist mir zu vorgekommen?“, fragt er an Kain gerichtet und grinst. Ich wusste, dass ich mitnichten auf Mitleid hätte hoffen können, aber dass es ihn unterhält, verletzt mich ein wenig. „Merena und ihre Handtasche“, äußert sich der Angesprochene freimütig und ich werfe ihm einen entgeisterten Blick zu. Ernsthaft? Hätte er es nicht ausschmücken können. Hätte er ihm nicht sagen können, dass ich einem gefährlichen Drachen unterlegen war? Wäre ja gar nicht so falsch. „Was ist denn passiert?“, erkundigt sich Jeff weiter und lässt seinen Blick über mein Gesicht wandern. Seine Augenbraue hebt sich fragend in die Lüfte. Mein Mitbewohner sieht müde und abgekämpft aus. Anscheinend hat ihn der böse Zugverkehr wirklich zugesetzt. „Robin und sein charmantes Wesen. Mal wieder“, erklärt der Schwarzhaarige und sieht mich an. Auf seinen Lippen liegt ein Lächeln und ich bin für eine Millisekunde weniger sauer. „Sie hat mich provoziert“, wehre ich mich. „Womit? Ach, lass mich raten, mit ihrem bloßen Dasein? Ihrer Stimme? Oh, die Schuhe...es müssen ihre Schuhe sein.“ „Nein, es sind die Haare…“, mischt Kain dazwischen und entfernt Panade von seinem Schnitzel. „Seid ihr fertig?“ Beide grinsen sich an. Jeff schnappt sich die abgenommene Panade und seufzt genießerisch. „Wieso bist du schon wieder hier?“, frage ich, um das Thema zu wechseln. Jeff beäugt mein Mittagessen gierig und ich widerstehe dem Drang, schützend meine Arme um den Kartoffelbrei zu legen. „Mum fährt übermorgen zum Tantchen und alle anderen treffenswerten Personen sind genau jetzt im Urlaub… und du bist ja auch schon hier und ich wollte nicht allein rumhängen…“ Den Teil mit mir verschluckt er mehr, als dass er ihn wirklich sagt. Kain sieht auf, wechselt mit Jeff und dann mit mir ein paar forschende Blicke. „Hat dich Ezra erreicht?“ Oh, Ezra hatte ich vergessen. Ich habe seine Nachricht bisher gemieden, weil ich befürchte, dass er weiter einen auf alte Bekannte machen will. „Wer ist Ezra?“ „Ein alter Schulfreund. Wir waren letzte Woche bei seiner Bareröffnung und ich glaube, er hat sich ein bisschen in Robin verknallt. War bestimmt der ganze Tequila…Kriege ich etwas von deinen Pommes?“ Jeffs hungriger Blick richtet sich nun auf Kains Teller. Wenn wir nicht aufpassen, dann sitzen Kain und ich bald mit einer neuen luftigen Frisur da. Ich ziehe mein Portemonnaie aus der Tasche und werfe dem Blonden meine Mensakarte zu. Dieser versteht den Wink sofort, klatscht freudig in die Hände und ist so schnell verschwunden, dass für einen kurzen Moment sein schemenhaftes Abbild auf dem vormaligen Sitzplatz zurück bleibt. „Eine Bareröffnung?“, fragt der Schwarzhaarige neugierig. „Ich wurde gezwungen. Aber es gab wie gesagt Tequila. Sehr viel Tequila.“ Ich denke an den Abend zurück, an dem ich nur so viel Alkohol getrunken habe, weil der Schwarzhaarige berechtigterweise in meinem Kopf rumgeisterte. „Ich dachte, du wärst eher der Wodkatyp.“ „Ich würde dir jetzt auf Russisch antworten, wenn ich könnte“, kommentiere ich. Kain lacht sein tiefes kehliges Lachen und wackelt mit den Augenbrauen. Den anderen Ausspruch Jeffs lässt er unkommentiert. Jeff kommt mit einem Berg Kartoffelbrei zurück und lässt sich selig lächelnd auf einen der leeren Plätze nieder. Kain ergreift die Initiative und fragt nach dem Urlaub. Mein Kindheitsfreund schafft es mit vollem Mund einen beeindruckenden Abriss der Erlebnisse wiederzugeben. Alles ausschweifend und detailgetreu. Bunt und voller Sonnenschein. Ich habe wieder das Gefühl, dass er zu ausschmückend ist, sage, aber nichts. Es folgt eine zum Brechen entzückende Kitschgeschichte mit Picknick und Sonnenuntergang am Strand, die zum Glück durch Kains Handy unterbrochen wird. „Entschuldigt“ Er steht auf und entfernt sich ein paar Schritte, bevor er rangeht. Ich frage mich, ob er das wirklich aus Höflichkeit macht oder weil er nicht will, dass man mithören kann. Wenn es das Zweite ist, dann macht er es falsch. „Ja, Te-Club. Freitag 21 Uhr. Klingt gut“, hören wir ihm sagen. Ich versuche, ihn nicht allzu auffällig zu beobachten, doch es gelingt mir nicht. Er wiederholt auch alles so schön stalkergerecht. Irgendwann richtet er seine braunen Augen direkt wieder auf mich, noch während er telefoniert und ich schaffe es nicht, ihnen zu entfliehen. Jetzt plötzlich wegzuschauen, wäre auch albern und verdächtig. Also belasse ich es dabei, interessiert auszusehen. Kain gibt noch weitere genervte Bestätigungen von sich bevor er auflegt und zurück an unseren Tisch kommt. „Du gehst aus? So richtig feiern?“, fragt Jeff überschwänglich und wirklich interessiert. Er kennt den Club sicher, den Kain eben erwähnt hat. Vermutlich war ich auch schon einmal dort und habe es nur vergessen. „Ja, mit Marvin und den anderen Jungs aus der Ringermannschaft. Freitag ist das letzte Mal Training und dann läuten wir die Sommerpause ein.“ Kain klingt, als bedarf es noch etwas mehr Begeisterung für diesen feuchtfröhlichen Abend. Er sieht zu mir. Danach zu Jeff. Ihr Augenkontakt dauert etwas länger. Es ist wie eine stille Übereinkunft, von der ich auch in Hundertjahren nichts wissen werde. Ich vertilge den letzten Rest meines Kartoffelbreis, während die beiden darüber diskutieren, ob Trance das gleiche ist, wie Techno. Ich hielt Techno immer für den Überbegriff, aber was weiß ich schon. Mit einem Blick auf die Uhr verabschiedet sich Kain von uns. Jeff und ich machen uns auf den Rückweg zum Wohnheim. Draußen schaue ich mir unauffällig die Nachricht von Ezra an. Er hat sich gefreut, dass ich bei der Eröffnung dabei war und möchte wissen, ob ich Interesse daran habe, einer Verkostung beizuwohnen. Die besten Whiskeysorten, die sie haben. Mit Jeff natürlich. Ich sehe zu meinem Jugendfreund, der gerade mit seinem übertrieben großen Koffer und der Tür kämpft. Erst als ich mich umdrehe und die böse Zugangsöffnung aufhalte, schafft er es raus. „Danke“, murrt Jeff gereizt und seufzt, „Bei euch scheint alles wieder okay zu sein. Kain und dir?“ Mehr eine Feststellung, als eine Frage. Ich stecke das Telefon zurück in meine Tasche und zucke mit den Schultern. „Scheint so, aber ich bin nur auf Bewährung“, gestehe ich. „Ist das so? Sagst du mir noch, was eigentlich passiert ist?“ „Wenn du mir erzählst, wie euer Urlaub wirklich war. Denn so rosarot und glitzernd, wie du ihn verkaufst, ist er in Wirklichkeit eine Kaffeefahrt gewesen.“ „Was soll das heißen? Mein Urlaub war großartig. Ständig Sonne. Cocktails….viel Sex.“ Die gleiche Leier, wie beim letzten Mal. „Und wenn du bald noch Glitzer scheißt, dann können wir dich offiziell Lonny das Einhorn nennen“, zerfließe ich im Sarkasmus. Jeff scheint einen Schritt rückwärts zu machen. Als ich merke, dass er stehen geblieben ist, wende ich mich um. Er sieht frustriert aus. Grübelnd. „Wir haben uns fast die ganze Zeit gestritten. Wegen Müll und… beschissener Eifersucht. Zufrieden?“ Jeff setzt sich wieder in Bewegung, zieht missmutig und beidhändig seinen Koffer hinter sich her. Drama also. Als er an mir vorbeikommt, halte ich ihn am Arm zurück. „Nein, keineswegs. Jeff, ich weiß, dass ich nicht immer der beste Freund bin, aber du musst mir nicht vorlügen, dass du eine glückliche Zeit hattest, wenn es eigentlich nicht so war.“ „Es war auch schön!“, versucht sich zu rechtfertigen. „Jeff, verdammt, das ist ne glatte Lüge!“, entflieht es mir entrüstet. Der Kerl ist nicht zu fassen. Was soll das? „Okay!“, ruft er laut und atmet tief ein. „Bilder sind eben das perfekte Lügenwerkzeug. Vor allem, wenn man sich nur für 30 Sekunden verstellen muss. Streiten. Versöhnen. Streiten und wieder Versöhnen. Die Phasen, in denen wir einfach nur glücklich sind, werden immer kürzer. Es ist so ernüchternd. Abel ist sofort extrem eifersüchtig, wenn ich nur mit jemand anderen rede oder ihn ansehe, aber er…er flirtet. Ungeniert und direkt vor meiner Nase. Und und und…“ Jeffs Kiefer spannt sich an. Definitiv keine Beziehungen-machen-glücklich-Werbung. Er atmet tief ein und streicht sich die blonden Haare zurück. Dann sehe ich auf einmal Sorge in den blauen Augen meines Freundes. Seine Hand streckt sich nach mir aus und sein Daumen berührt vorsichtig die rot-violette Verfärbung unterhalb meines Auges. „Sieht schlimm aus“, merkt er an. Seine Verärgerung scheint verraucht. Ich greife nach seinem Handgelenk, führe seine Hand nicht fort, aber stoppe ihn in seinem Tun. „Es tut mir leid, was ich am Telefon gesagt hab…und es tut mir leid, dass es mit Abel nicht so läuft, wie du es dir vorgestellt hast“, sage ich, ohne noch länger vor meinem Schatten zurück zu schrecken. Es war und blieb unfair, was ich gesagt habe. Ich gebe keine weiteren Erklärungen von mir. Es tut mir einfach nur leid. Jeffs Blick senkt sich zu Boden, bevor er zaghaft lächelnd aufsieht. „Lonny das Einhorn wird wohl jemand anderes werden müssen“, sagt er. „Na ja, es ist sicher auch nicht so angenehm, Glitzer zu scheißen…“, kommentiere ich. „Ja, nur, wenn es dieses schicke, irisierende Glitzerpulver ist…das hätte was.“ Ich sehe Jeff bestürzt an. „Zu viel?“ „Ein kleinen wenig.“ Ich nehme Jeff den Koffer aus der Hand und setze mich kopfschüttelnd in Bewegung. Jeff folgt mir lachend. „Was hat Merena eigentlich gesagt?“, fragt er mich. „Nichts als dummes Zeug. So, wie immer.“ Ich präzisere es nicht weiter und weiche aus. Wenn ich ihm berichte, dass sie von mir verlangte, dass ich mich von Kain fernhalte, dann würde er nur falsche Rückschlüsse daraus ziehen. „Du bist nicht ehrlich.“ Wie ich ihm, so er mir. Er hat Recht. Ich hadere noch eine Weile mit mir, ehe ich ihm antworte. „Weißt du, dass sie wirklich denkt, dass sie wieder mit Kain zusammenkommt? So wirklich wirklich. Sie würden sich lieben, hat sie gesagt“, erzähle ich übertrieben zuckrig und schaue reichlich angewidert drein. „Das hat sie gesagt? Klingt das absurd für dich?“ „Für dich nicht? Ich meine, Kain hatte seine Gründe, sich zu trennen und mir fallen noch zwei Duzend Dinge mehr ein.“ „Über sowas redet ihr? Und deine Gründe zählen nicht. Was interessiert dich eigentlich ihre Wahnvorstellung?“, hakt er nach. „Tut es nicht, aber sie glaubt, ich würde Kain schlechte Dinge über sie einreden und glaub mir, ich halte mich echt zurück.“ „Klar, weil du die zurückhaltendste Person bist, die ich kenne.“ „Mein ich doch!“, gebe ich überzeugt von mir und tippe den Türcode zu unserem Wohnheimzimmer ein. Jeff lacht und schafft es diesmal allein, seinen Koffer durch die Tür zu bugsieren. Er lässt ihn an Ort und Stelle, - also mitten im Raum- stehen und lässt sich auf sein Bett fallen. Er kuschelt sich selig ins Kissen und eine Weile ist der Raum mit verdächtig wohligen Geräuschen gefüllt. Gut, dass ich schamlos bin. Den restlichen Tag verbringen wir mit weiteren freundschaftlichen Neckereien und dämlichen Kommentaren. Auf die Frage, warum er sich nicht sofort von Abel trennt und mit IT-Jake durchbrennt, druckst Jeff nur rum. Anscheinend ist er masochistisch veranlagt oder braucht seine tägliche Dröhnung Drama. Es kann natürlich sein, dass es nicht so einfach ist, sich von seiner ersten ordentlichen Beziehung zu verabschieden. Bei Jeff tippe ich allerdings auf das Drama. So lange Abel noch bei seiner Familie ist, würde sich sowieso nichts klären lassen. Trotzdem erwische ich meinen blonden Mitbewohner dabei, wie er am Abend eine Nachricht an Jake verfasst. Darauf angesprochen erklärt er mir, dass es ausschließlich um seinen alten Laptop geht. Sicher. Ich erinnere mich ungewöhnlich klar an Jeff dümmlich grinsendes Gesicht, als er mir im betrunkenen Zustand erzählte, dass Jake ihn nach einem Date fragen will. Allein der Gedanke hatte ihm ein glückliches Glitzern in die Augen gezaubert und es lag sicherlich nicht an der schmeichelhaften Vorstellung. Am folgenden Tag überredet mich Jeff zu einem Haushaltstag. Es juckt ihm in den Fingern. Mir juckt nur das Auge. Wäsche waschen, putzen und aufräumen. Nur unter Protest entferne ich den mühsam herangezüchteten Staubteppich auf den Regalen über dem Kühlschrank. Immerhin verhindert dieser, dass unsere kaum genutzten Kochutensilien geklaut werden. Abwaschen und Studenten scheint keine gutlaufende Kombination zu sein. Am Nachmittag packt meinem Jugendfreund der vollkommende Rappel und er beschließt, seinen Kleiderschrank neu zu ordnen und meinen gleich mit. Ein Mammutprojekt. Ich vermute, dass das sein Mittel zur Ablenkung ist. Während Jeff das gesamte Zimmer in Beschlag nimmt, auf meinem Bett Pullover und Hemden stapelt und auf seinem Hosen und Unterwäsche, verteilt er auf dem Boden Socken und T-Shirts. Ich sehe eine Weile skeptisch dabei zu. Als er beginnt, darüber zu philosophieren, ob er lieber nach Farben, Marke, Material oder Verwendungszweck sortieren soll, beschließe ich, dass mein Leben zu kurz ist, um freiwillig an einer derartigen Folter teilzunehmen. Mein Beitrag wären auch nur nutzlose Bemerkungen. Ich stöpsele mir meine Ohrstecker ein, nicke noch mehrmals interessiert in Jeffs Richtung und schnappe mir das korrigierte Skript des neuen Buches. Vielleicht klappt es ja heute. Irgendwann trifft mich eine Sockenrolle am Kopf. Jeff steht neben meinem Bett und deutet auf mein Handy, welche bis eben noch unbeachtet rumlag. Es ist Brigitta, die den gestern angedrohten Anruf nachholen will. Im Grunde will sie nur eine Bestätigung für die obligatorische Teilnahme. Ich druckse rum, mache Ausflüchte, jammere theatralisch und sage dann auf dem Höhepunkt meiner Hampelmannkür zu. Am Abend hat sich an dem Zustand unseres Zimmers nichts geändert. Statt halbwegs geordneten Chaos liegen nun überall kleine Stapel mit irgendwie geordneten Klamotten auf dem Boden. Da Jeff mein Bett wieder freigegeben hat, schlucke ich jeden weiteren Kommentar brav runter und lege mich mit Kopfhörer schlafen. Erst, als sich auch Jeff ins Bett trollt, lege ich den Player weg. „Robin!“ Ein hauchzartes Geflüster in meinem Kopf. Ich muss träumen. Es wiederholt sich und mit einem Mal merke ich etwas Schweres auf meiner Schulter und auf weiten Teilen meiner Brust. Ich gebe ein Brummen von mir, ausgelöst durch den plötzlichen, störenden Druck. Zugleich ist es aber warm und wohlig. Ich will einfach weiterschlafen. „Hey, wach auf“, raunt es erneut leise. „Robin.“ Ein weiteres Flüstern meines Namens folgt. Ich spüre einen feinen Schauer, der durch meinen Körper schwebt. Ich rege mich nur langsam, eingelullt durch die angenehme Wärme und der klassischen Ohnmacht nach dem Erwachen. Ich drehe meinen Kopf müde der Stimme entgegen. Doch erst, als warme Lippen auf meine treffen, öffne ich die Augen. Erst eines. Ich schmecke eine herbe Süße mit zitroniger Note. Genau die, die ich schon eine ganze Weile her fantasiere und öffne das zweite Auge. „Kain?“ „Entschuldige, bin leider nicht die vollbusige Blondine deiner Träume“, haucht er mir neckisch gegen die Lippen. Seine Zunge scheint schwer zu sein, denn er benötigt mehr Zeit, um den Satz zu formulieren. „Sagt der, mit der dürren Rothaarigen…Was wird das? Es ist mitten in der Nacht“, kontere ich träge und zu laut. „Psssch, ich weiß. Ich glaube, ich habe einen Stapel Pullover umgerissen“, murmelt er und sieht zu Jeff hinüber. Ich bin zu müde, um darüber nachzudenken, dass mein Jugendfreund im Nebenbett liegt. Allerdings weiß ich auch, dass ihn nichts wecken kann, egal wie laut es ist. Jeff verwandelt sich beim Schlafen zu einem seiner geliebten Steine. Nur, dass er nicht funkelt oder glimmert. Kichernd lockt mich Kain in einen weiteren Kuss, der deutlich leidenschaftlicher ist als der vorige. Ich schmecke neben den bekannten, vertrauten Aromen einen Hauch Alkohol. Ich löse den Kuss halbherzig. Kain lässt sich nicht daran stören, immer wieder nach meinen Lippen zu schnappen oder einfach nur meine Wange zu küssen. Keuchend drücke ich ihn an der Schulter zurück. „Bist du betrunken?“, frage ich irritiert. Das würde diese seltsame Aktion erklären. „Nein! Jein. Nur ein bisschen vielleicht“, murmelt er und küsst sich meinen Kiefer entlang. Er hört von allein wieder auf und ich keuche erleichtert, aber auch enttäuscht auf. „So genug! Komm mit, ich will dir etwas zeigen.“ Er sieht auf meinen Wecker und zieht mir in nur einer Bewegung die gesamte Decke weg. Ich wackele unwillig mit den Füßen. Kain packt spielerisch einen davon und zieht mich runter. Mein Oberteil rutscht dabei ein Stück nach oben und legt Teile meines Bauches und meiner Brust frei. Noch mehr Kälte. Ich ächze. Kains Lippen treffen auf meinen Bauch. Nur ganz kurz und hauchzart. Dann steht er auf und ich setze mich hin. Ich starre in die Dunkelheit. „Komm jetzt.“ Er wirft mir einen Pullover zu und greift zusätzlich nach meiner Jacke. Eine andere Hose darf ich anscheinend nicht mehr anziehen. Kain blickt auf die Uhr, packt meine Hand und zieht mich mit sich mit. Ich blinzele seinen Rücken an, während er mich den Flur entlang führt. Erst, als er die Tür zum Dach aufdrückt, lässt er meine Hand los. Kieselsteine knirschen unter den dünnen Sohlen meiner Schuhe. Ich sehe mich zurückhaltend auf dem flachen Dach des Studentenwohnheimes um. Ist die Bewährungszeit zu Ende und ich kriege jetzt doch noch meine Strafe? Ein Freiflug vom Dach. Ich bin mir nicht sicher, ob die Höhe optimal ist. Ich könnte das überleben. Eine kühle Brise erfasst mich und ich beginne zu bibbern. Mir wird wieder bewusst, dass ich müde bin und mehr oder weniger gekidnappt wurde. Kain blickt wiederholt auf die Uhr und wirkt dabei ungewohnt unruhig, fast hibbelig. Ich habe ihn noch nie betrunken erlebt. Vielleicht ist es normal, dass er sich dann so verhält. Er schiebt mich zum Rand und lehnt sich rücklings ans Geländer. „Was machen wir hier und wo hast du den Schlüssel her?“, frage ich. Nachdem Kain keine Antwort rausrückt, schließe ich meine Jacke und murre. Durch das plötzliche Entreißen aus meinen gemütlichen Federn, merke ich die Kälte ganz besonders. Meine luftige Stoffhose trägt ebenso dazu bei, dass ich nur schwer das Zähneklappern verhindern kann. Trotzdem versuche ich ihm einen angestrengten und genervten Blick zu zuwerfen. „Gleich…“, kommentiert er meine skeptische Fragerei und lässt sich in keiner Weise beeindrucken. Kain fasst nach dem Rand meiner Jacke und zieht mich dichter ans Geländer. Was hat er nur vor? „Hast du mich hier hoch geführt, damit ich erfriere? Ich präferiere Erschießung“, erkläre ich. „Geduld ist eine Tugend, junger Padawan“, säuselt mir Kain mit alkoholbelegter, rauer Stimme entgegen. Es hat etwas, ihn so zu sehen. Sonst so beherrscht und zurückhaltend, wirkt er nun irgendwie verwegen. „Star Wars, ernsthaft?“, frage ich mit gerunzelter Stirn. „Obi-Wan Kenobi?“ Kain ist betrunken also ein Witzbold. Das kann ja heiter werden. „Nicht gut für dich wird sein, mich erfrieren zu lassen“, markiere ich den Yoda und verschränke die Arme vor der Brust. Ich reibe mir fahrig über die Oberarme. Kain macht grinsend den Reißverschluss seiner Jacke auf. Er zeigt mir eine einladende Geste, indem er die Seiten seiner Jacke ausbreitet. Ich betrachte die Szene ungläubig und zögere. Das kann nicht sein ernst sein. Oder doch? Es braucht nur einen weiteren kalten Luftzug und ich werfe meine pingeligen Gedanken über Board. Ich mutiere zu Jeff. Dieses Mal lacht der Schwarzhaarige laut, während ich mich mit angemessener Zurückhaltung gegen seine Brust lehne. Ich spüre die Wärme seines alkoholisierten Körpers und finde es geil. Der Geruch von Alkohol umgibt ihn, genauso, wie die feine Süße, die ich seit neustem öfter an ihm rieche und die mich jedes Mal etwas benebelt. Auch jetzt. „Gar nicht so schlimm, oder?“, raunt er und legt seine Arme um mich. Keine Chance mehr für Hemmungen. „Kein Kommentar“, nuschele ich. Ich will auch nichts anderes mehr sagen, denn in diesem Moment blitzt etwas über den Nachthimmel. Ein weiteres Leuchten, gefolgt von Etlichen mehr. Wie gebannt starre ich nach oben, sehe dabei zu, wie entfliehende Gesteinsbrocken zarte, helle Striche in den dunklen Himmel zeichnen. Ein akzentuiertes Gemälde. Ein unvorstellbares, zauberhaftes Naturschauspiel. Es ist wunderschön. „Ein Meteoritenschauer“, flüstere ich. Dafür hat er mich also mitten in der Nacht aufs Dach gebracht. „Ja, wunderbar, nicht wahr?“, fragt er mich. Ich kann es nur bestätigen. Ich betrachte weiter das ungewöhnliche Schauspiel, bis nur noch vereinzelte Gesteinsbrocken in der Atmosphäre verglühen. Die letzten Sternschnuppen sind kaum mehr zu erkennen. Als ich zu Kain sehe, bemerke ich, dass er mich ansieht und lächelt. Kains Lippen drücken sich sanft gegen meine Schläfe und ich schließe automatisch die Augen, in der Annahme, dass mich ein angenehmes Gefühl erfasst. Ich werde nicht enttäuscht. Ich senke mein Haupt und nähere mich seiner Halsbeuge. Mein Puls steigt unaufhörlich, während ich den wohlbekannten Duft inhaliere, der diesmal gespickt ist mit den klassischen Gerüchen einer durchfeierten Nacht. Das ruhige Atmen fällt mir schwer. Ich öffne meine Lippen und mir entflieht ein fast lautloses Keuchen, welches trotzdem nicht ungehört bleibt. „Ist dir noch kalt?“ Es ist mehr eine rhetorische Frage, denn er muss deutlich merken, dass meine Körpertemperatur stetig nach oben klettert. Allein der Gedanke daran, das Spiel seiner Muskeln unter meinen Fingern zu spüren und seinem heißen Fleisch ausgesetzt zu sein, das mich in Besitz nimmt und umfängt, erregt mich unglaublich. Jeder kleine Funken in meinem Gehirn schreit nach Sex. Alles in mir verlangt danach. Ich versuche mich zu zügeln, doch es funktioniert nicht, solange er in meiner Nähe bleibt. Der Versuch, mich von ihm zu entfernen, Abstand zwischen uns zubringen, misslingt, weil Kain mich davon abhält. Ich meide seinen Blick, konzentriere mich darauf, gleichmäßig und ruhig zu atmen. „Du machst mich fertig, weißt du das?“, murmelt er träge. „Ich dich?“ Ich sehe keinerlei Schuld bei mir. „Ja, du mich. Ich wollte mindestens zwei Wochen sauer sein und jetzt...“ Mit den Lippen fährt er mir hauchzart über den Hals. Kain hat also geplant, auf mich wütend zu sein. Perfide. Gemein. Erregend. Er zieht scharf die Luft ein und wirft dann den Kopf zurück, um sie wieder auszustoßen. „Das ist der Alkohol, der vernebelt dir das Gehirn… und du redest deshalb dummes Zeug.“ „Und welche Ausrede hast du? „Ich? Keine. Ich bin schon die ganze Zeit offen geil“, raune ich mit vollkommender Unschuld. Kain feixt und bleibt danach auffällig still. Seine Augen bekommen wieder diesen Ausdruck. Es ist, als würde er etwas suchen. Diesmal scheint er es zu finden und zu bewahren. „Er hält sich bewusst zurück, lässt seine Lippen über meinen Hals wandern. Küssend. Beißend. Ich zergehe vor Gier.“ Seine Stimme ist ein heißes Flüstern, während ich geräuschvoll die Luft ziehe. Er drückt unvermittelt seine Lippen auf meine, während mir nur langsam in den Sinn kommt, dass er erneut eine Stelle aus meiner Geschichte zitiert hat. Wenn er wüsste, dass ich längst weiter geschrieben habe, das noch mehr Sex und Gier die Seiten füllen. Und das die Geschichte längst nicht mehr nur aus zusammenhangslosen erotischen Szenen besteht. Ich erwidere den Kuss mit Bestimmtheit und halbwegs kontrollierter Dringlichkeit. Es fühlt sich gut an. Kains Hände schieben sich unter meinen Pullover. Seine Zunge vollführt stichelnde Neckerei, lockt und streichelt. Ich greife in seinen Nacken und biete mich ihm an. Ich will alles. Ich will es jetzt. „Zu dir?“, schlage ich vor, „Oder willst du zwei Wochen sauer sein?“ Ich hoffe inständig, dass er nicht die zweite Variante wählt. Nach mehr als 4 Wochen ohne Sex scheint einfach jede seiner Berührungen meinen Körper zu entflammen. Ich brauche es dringend. Ich will es schnell und hart. Und Kain scheint mir diesen unausgesprochenen Wunsch zu erfüllen. Er holt seine Hände unter meinem Pullover hervor, streicht sich durch die Haare und schleift mich bestimmt zum Ausgang. Auf dem Weg zu seinem Wohnheim schweigen wir absichtlich. Alles andere würde die Stimmung versauen. Ich spüre das aufregende Kribbeln. Das Kitzeln der Vorfreude. Kain sicher auch. Mich würde interessieren, was er denkt. Was er sich in diesem Moment vorstellt, aber das behalte ich für mich. Im Flur bemerke ich seine verstohlenen Blicke und grinse bei den nervösen Bewegungen seiner Hände. Wir schaffen es nicht ins Zimmer, bevor wir beginnen übereinander herzufallen. Energisch drückt er mich gegen die Wand. Sein Knie schiebt sich zwischen meine Beine und ich keuche erregt auf. Kains Blick ist gierig. Ich weiche seinem angesetzten Kuss aus und grinse, als er mich forsch anschaut. Er probiert es erneut und ich gestatte ihm nicht mehr, als ein hauchzartes Nippen, ehe ich seine Jacke öffne und ihn damit Richtung Tür ziehe. Kain folgt mir willig. Für den Türcode braucht er vier Anläufe. Und das bei einer Kombination aus 2 Ziffern. Meine Hände sind nicht ganz unschuldig. Ich stehe hinter ihm, grinse in seinen Rücken, während sich meine Finger bestimmt über seinen trainierten Bauch und seiner Brust streicheln. Ich male gerade Kreise um seine Brustwarze, als er sich zum ersten Mal vertippt. Beim zweiten und dritten Mal schiebe ich meine neugierigen Hände geradewegs in seine Hose. Als er sich unvermittelt umdreht, erhascht er meine Lippen. Er macht keinen Hehl daraus, was er will und es gefällt mir. Jeder Kuss entzündet einen Funken und lässt meine Lenden erwartungsfroh vibrieren. Ohne Mühe navigiert er mich zum Bett, weicht abgelegten Klamotten und Bücherstapeln aus. Keine Sekunden löst er dabei den Kuss. Bevor er mich aufs Bett schubst, streift er mir die Oberteile ab. Alles in nur einer einzigen Bewegung. Dann drückt er mich ins Laken. Kain kniet mit einem Bein auf dem Bett und beugt sich über mich. Seine Finger wandern über meine Brust zu meinem Hals, als würde er einer unsichtbaren Linie folgen. Allerdings stoppt sie vor dem mir gewünschten Ende und gleitet wieder nach oben. Einen Augenblick lang habe ich das Gefühl, dass er etwas sagen will, doch stattdessen küsst er meinen Kiefer. Ich schließe meine Augen. Seine Hände nehmen jeden Zentimeter meiner Haut in Besitz, gleiten über meine Brust und meinem Bauch. Ich strecke mich der rauen Berührung gierig entgegen und Kain nimmt jede meiner Regungen mit seinen Augen auf. Meinen rechten Arm drückt er nach oben und macht sich mit feuchter Zunge über meine Seite her. Es kitzelt. Es versetzt meinen Körper in blanke Aufregung. Ich winde mich unter ihm, packe nach seinem dunklen Haarschopf. Kain gibt ein tiefes Raunen von sich, greift meine Hand und drückt auch diese über meinen Kopf. Er schafft es, meine beiden Arme mit nur einer Hand oben zu halten. Ich wehre mich auch nur halbherzig, während sein Mund federleicht über meine Brust flattert. Unkontrolliert hasche ich nach seinen Lippen, als er wieder höher kommt, doch er entzieht sich mir. Er stoppt an meiner Stoffhose und folgt den Pfad zurück zu meinen Brustwarzen. Ich will keine Spielereien. Ich will, dass er mich fickt. Fordernd rolle ich mein Becken gegen sein Oberschenkel, welcher immer dichter an meinen Schritt glitt. „Fick mich“, wispere ich. Heiß und tief. Wieder erfasst mich diese berauschende Zufriedenheit, als ich merke, wie sich Kains Körper für einen Moment lang versteift, wie sich seinen Pupillen erweitern bis ein tiefes Keuchen seinen Lippen entweicht. Er steht drauf. Egal, wie rüde und hart es klingt. Mir geht es genauso. Lächelnd zupft er an dem dünnen Stoff meiner Hose, entblößt mit einem kurzen Ruck meine Beckenknochen und senkt währenddessen seine Lippen auf die empfindliche Haut an meinem Schlüsselbein. Erst jetzt lässt Kain meine Hände los. Gedankenverloren fummele ich an seiner Jacke rum und stöhne leise auf, als er zu beißt. Er wiederholt es und schabt mit den Zähnen über meinen Hals. „Hey,…“, beschwere ich mich schwach. Ich will keine Spuren. Murrend richtet er sich auf und schiebt sich die Jacke von den Schultern. Ich mache die gleichen Andeutungen mit seinem Shirt und auch das fliegt in hohen Bogen zu Boden. Bevor er sich wieder runterbeugt, setze ich mich auf und knie mich hin. Kain bleibt vor dem Bett stehen. Mein Mund trifft seine trainierte Brust, doch ich will ihn nicht streicheln oder liebkosen. Auch wenn es sehr verlockend ist. Ich will mehr. Mit schnellen Handgriffen öffne ich seinen Gürtel und den Knopf seiner Hose. Schon beim Auseinanderziehen des Reißverschlusses kann ich seine harte Erregung unter dem dünnen Stoff seiner Shorts erkennen und mein Puls beschleunigt sich. Ich lehne mich dichter vor, atme heiß gegen sein Sternum und hauche mich tiefer. Kain greift mir in den Nacken, sanft, aber sicher. Bewusst drückt er mich runter. Ich hauche einen Kuss auf seinen Unterbauch und ziehe ihm ruckartig die Hose von den Beinen. Der Schwarzhaarige keucht erschrocken auf, aber versteht den Wink. Ich lasse mich zurück ins Laken fallen, sehe dabei zu, wie Kain aus der Hose steigt. Direkt danach folgen seine Shorts. Da ich nicht mehr als meine Schlafhose trage, ist es für ihn ein leichtes, mich vollkommen zu entblößen. Bevor er sich zu mir gesellt, greift er in seinen Nachtschrank und wirft mir ein Tube Gleitgel zu. Endlich. Nackt und heiß. Ich will ihn fühlen. Ungeduldig drücke ich mir etwas des Gels in die Hand, bringe es an die Stelle, die es nötig hat. „Geduld ist echt nicht deine Stärke“, säuselt er. Ich stehe dazu. Kain grinst und sieht mir dabei zu, wie ich seine Härte in die Hand nehme und das feuchte Gel streichelnd auch darauf verteile. Als ich ihn massiere, schließe sich seine Augen für einen Moment. Ich allerdings, kann meine nicht von ihm abwenden. Sein Bauch spannt sich an und die eh schon gut definierten Muskeln zeichnen sich wie gemeißelt unter seiner Haut ab. Alles an ihm passt zusammen und bildet eine durch und durch perfekte Einheit von berauschenden Anreizen. Ich kann es nicht länger leugnen, aber Kain ist wirklich verführerisch. Nun bin ich es, der nach seinen Lippen verlangt. Er gewährt mir einen Kuss, aber nicht, ohne hämisch zu lächeln. Ich bin heuchlerisch. Ich wehre mich gegen das Verlangen, seine Lippen zu schmecken. Dabei ist es stark und sehnsüchtig. Aber weil es mir gefällt, will ich es erst recht nicht. Kain zieht mein Becken mit gespreizten Beinen auf seinen Schoß. Er streichelt meine Oberschenkel entlang. Seine Daumen bewegen sich federleicht über die Innenseite meiner Schenkel. Ich spüre das Zucken meiner Härte. Dieser verräterische Beweis, dass ich es sehr genieße, dass er mich dominiert. Ich fühle die ungeduldige Anspannung in all meinen Gliedern. Genauso, wie den kribbelnden Reiz, den seine rauen Hände auf meiner Haut hinterlassen. Es macht mich wahnsinnig. Er macht mich wahnsinnig. Mit Bestimmtheit umfasst er meinen harten Schwanz und beginnt mich gemächlich und gleichmäßig zu massieren. Langsam von der Wurzel zur Spitze, bis sein Handballen neckend über meine feuchte Eichel reibt. Nur als kleine Ablenkung. Doch ich brauche sie gar nicht. Ich genieße es, seinen geschickten Finger zu spüren, der sich unaufhörlich tiefer bahnt, streichelnde und berauschende Gefühle schenkend. Seine Sorgfalt ist lobenswert, aber schnell winde ich mich unter seinen Berührungen. Die Hand an meiner Härte neckt mich ruhig und beständig. Die Finger in mir treiben mich in die volle Ektase. Heiser entflieht mir Kains Name und bald schon bin ich mir sicher, dass er es mit Absicht macht. Nur damit er seinen Namen verzückt von meinen Lippen perlen hört. Es muss die pure Genugtuung für ihn sein. „Komm schon…“, stöhne ich ungehalten und nehme mich auch nicht mehr zurück. Kain lässt seine Hände, wo sie sind und betrachtet mich voller Gier. Ich bin mir sicher, dass auch er sich kaum noch zurückhalten kann. Und ich habe Recht. Während er in mich hinein stößt, senkt er seine Lippen endlich auf meine. Kain verharrt in seiner Position. Ich spüre ihn tief und glühend in mir. Mein Unterleib erzittert. Allein dieses Gefühl lässt mich genüsslich aufstöhnen. Ich genieße es, seinen heißen Körper direkt auf meinem zu spüren. Die Schwere. Den Druck. „Mehr…“, hauche ich und bewege mich gegen seinen Schoss. Er ist so tief in mir. Ich will mehr. Tiefer, immer tiefer. Mein Körper reagiert mit eindringlichen Erregungszuständen und ich beuge unwillkürlich den Rücken durch. Auch Kain entlocke ich damit ein tiefes Stöhnen und entfache endlich seinen Bewegungsdrang. Seine Stöße sind langsam und kontrolliert. Ich sehe, wie er jedes bisschen Reibung an seiner Härte auskostet. Seine Augen sind geschlossen. Seine Haare wirr und mit jedem Stoß spannen sich die Muskeln seines Bauches an. Ebenso seiner Arme. Mit halbgeschlossenen Augen gleite ich seinen Körper entlang, sehe zu der Tätowierung auf seinem Oberarm und greife danach. Mit dem Daumen streiche ich die Stelle nach. Docendo discimus. Durch Lehren lernen wir. Die Bedeutung geht mir durch den Kopf, obwohl ich nicht mehr weiß, woher ich sie eigentlich kenne. Kains Hände ziehen mein Becken noch etwas höher. Seine Lippen treffen meine Brust. Er leckt gierig über meine Brustwarze. Erst auf der rechten Seite, dann die linke. Ein kurzes Saugen, während er sich mit erbarmungslos langsamen Stößen in mir bewegt. „Mehr…“, keuche ich. Ich möchte es härter. Schneller. Kain lässt mich betteln. Ich tue es. „Bitte!...Bitte…“ Es kostet mich einen langen, intensiven Kuss, bis er sich wieder aufrichtet und seine Hände meine Hüfte stabilisieren. Er steigert sich langsam, aber hemmungslos. Ich weiß nicht mehr wohin mit meinen Händen. Hebe sie über meinen Kopf und kralle mich im Laken fest. Er treibt sich unaufhörlich und ausdauernd gegen mich. So habe ich es gewollt. So habe ich es mir vorgestellt. Aber es ist noch viel besser. Kains Keuchen erfüllt den Raum und mischt sich mit meinem. Ich fühle die Hitze. Ich bin derartig berauscht, dass ich nicht mehr brauche, als kurzzeitiges Stimulieren meiner Körpermitte, damit ich komme. Kain beobachtet, wie ich in seiner Hand komme, doch seine Bewegungen werden nur einen Moment lang zögernder. Es muss der Alkohol sein. Kain drängt sich unaufhörlich gegen mich. Seine Arme zittern vor Anstrengung, aber das Tempo nimmt nicht ab. Er richtet sich wieder auf und ich schlinge meine Arme um seinen Hals, sodass er mich mit hochzieht. Ich komme auf seinem Schoss zum Sitzen, keuche heiß in seine Halsbeuge. Für einen Moment pausieren wir, atmen unkontrolliert und ausgelaugt. Doch ich spüre ihn noch immer hart und pochend in mir. Kain küsst meinen Hals und bewegt sich dabei sachte und kreisend unter mir. Es ist anders, zarter, leichter und nicht heftig, so wie eben, aber nicht minder intensiv. Zudem sorgt die jetzige Position dafür, dass ich ihn in einem anderen Winkel erlebe. Kains Becken zuckt hoch. Ich stöhne auf. Laut. Deutlich. Es fühlt sich einfach nur gut an. Ich greife in sein volles Haar, ziehe seinen Kopf in den Nacken und mein Blick haftet sich auf seine Lippen. Seine Augen sind halbgeschlossen und leidenschaftlich getränkt mit einem erotischen Schimmer. Er keucht und drückt meinen Körper noch dichter an seinen. Ich beuge mich zu seinem Mund, lasse meine Zungenspitze zärtlich über seine Unterlippen tippen. Küssend bedecke ich seine Oberlippe, koste und schmecke ihn federleicht. Bis er mich in einen leidenschaftlichen Kuss verwickelt. Seine Hand in meinem Nacken verhindert, dass ich mich zu schnell von ihm löse. Ich will es gar nicht. Unsere Zungen tanzen, während er seine Erregung immer tiefer in mich treibt. Die Kombination macht es nur noch reizvoller für mich. Ich stehe vollständig unter Strom. Mit geschlossenen Augen treibt mich das anregende Spiel wieder in anderen Sphären. Erst, als Kain den Kuss nur noch halbherzig führt, wird mir klar, dass er kurz vor dem Ende ist. Sein Atem geht stoßweise. Der Griff an meiner Hüfte wird fest und die letzten seiner Stöße sind hart und unkontrolliert. Kain stöhnt heiß gegen meinen Hals. _______________________________________________________________________________________________ PS vom Autor: Wie immer ein richtig dickes fettes Dankeschön an all euch tollen, wunderbaren Menschen und an eure Geduld!! Ihr seid großartig! Ihr seid meine Motivation! Danke! Kapitel 24: Oxytocine mich! --------------------------- Kapitel 24 Oxytocine mich! Ich genieße das warme Pochen in meinen Gliedern. Es berauscht mich und es fühlt sich gut an. Ich versuche meine Atmung unter Kontrolle zu bringen, indem ich mich von ihm löse und mich an die Bettkante setze. Kain lässt sich schweratmend ins Kissen fallen. Ich beuge mich vor und angle nach meinen Klamotten, die neben dem Bett liegen. Ich ziehe mir die Hose auf den Schoss und blicke über meine Schulter hinweg zu Kain. Während ich ihn dabei beobachte, streichelt er sich mit der flachen Hand über den trainierten Bauch, lässt sie einen Moment auf seiner Brust verweilen und tastet dann nach der Bettdecke. Das Pulsieren unter meiner Haut scheint nicht weniger zu werden, wandert von Körperregion zu Körperregion. Von meinen Fingern zu meinen Zehen. Von dort direkt wieder in meine Körpermitte. Ich seufze schwer und versuche, den Eingang zu meiner Hose zu finden. „Bleib hier“, murmelt Kain hinter mir. „Und dann? Quetschen wir uns gemeinsam auf diesen Meter von Bett?“, frage ich skeptisch, aber erstaunlich sanft. Allein Kain nimmt im seitlichen Zustand mehr als die Hälfte des Bettes ein. Für diese Variante gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder ich kämpfe die gesamte Nacht mit dem Abgrund oder mit der Hölle in Form von Kain als Hitzekern. Die Hose scheint in meinem jetzigen Zustand unüberwindbar und frustriert lasse ich sie auf meinen Knien liegen. „Na ja, du kannst auch in Abels Bett schlafen, wenn dir das lieber ist oder du schleichst in der Kälte zurück“, kommentiert er gelassen. Die Kälte. Daran habe ich nicht mehr gedacht. Ich neige meinen Kopf in seine Richtung. Der Schwarzhaarige scheint so tiefenentspannt, dass er meinen Zweispalt nicht bemerkt. Nicht einmal seine Augen sind geöffnet. Ich sehe ein paar Strähnen seines schwarzen Haares zur Seite fallen. Ich weiß, wie weich sie sind, wie sie riechen. Ich spüre ein zartes Kribbeln in meinen Fingerspitzen, widerstehe dem, Drang sie zurück zu streichen und sehe zu dem Bett von Kains Mitbewohner. Es ist zerwühlt und sieht aus, als wäre Abel erst gestern dort aufgestanden. Allein die Vorstellung, dass es nach ihm riecht, verursacht mir Übelkeit. Niemals würde ich mich dort hineinlegen. Der Mann hinter mir erweckt, zu meinem Leidwesen, nicht den Anschein, als würde ich ihn so wie beim letzten Mal überreden können, mit mir die Plätze zu tauschen. Im Moment wirkt er, als würde er nicht mal mehr einen Zeh bewegen wollen. Für nichts auf der Welt. Vermutlich schläft er bereits. „Du wirst viel zu warm…“, beklage ich undeutlich als letzte mögliche Ausrede. „Wie bitte?“, fragt er leise, aber verwundert. Er schläft wohl doch noch nicht. „Warm... hochtemperiert… heiß“, wiederhole ich leise, stütze mein Kinn in die Handfläche und vernuschele dabei meine Beispiele. „Was?“ „DU. BIST. ZU. HEIß…“, murre ich laut und genervt. Zwei braune Augen blicken mich perplex an und mir wird klar, dass mein Ausruf eindeutig mehrdeutig war. „Du wirst extrem warm beim Schlafen…das ist unerträglich“, korrigiere ich schnell. Kain beginnt lauthals zu lachen und braucht einen Moment, um sich wieder zu beruhigen. Ich sehe ihm dabei zu, wie er seine Hand auf seinen flachen Bauch legt und wie er erheitert die Augen zusammenkneift. „Wir können die Decke weglassen“, entgegnet er versöhnlich und pattet auffordernd neben sich auf die Matratze. Ich antworte mit einem Brummen. Ich schwanke zwischen dem dringenden Bedürfnis, mich einfach fallenzulassen und dem gewohnten Fluchtreflex. Kain streckt seine Hand nach mir aus. Seine Fingerspitzen streicheln meinen Arm entlang bis zu der Stelle, wo er zu meinem Oberschenkel übergeht. Gespannt folge ich der Berührung und das nicht nur mit den Augen. Sie ist so zart, dass sie mir augenblicklich Gänsehaut verursacht. Auch er bemerkt das Aufrichten meiner Haut, das seine Berührung hinterlässt und interpretiert es falsch. „Wenn du noch länger da sitzt und auskühlst, wirst du dir meine Hitze bald herbeisehnen“, flüstert er verführerisch. „Vielleicht sogar erbetteln…“ Kain hat sich lautlos aufgerichtet und haucht mir den letzten Rest seiner Provokation direkt ins Ohr. „Und du nennst mich schamlos…“, erwidere mich. Er kichert leise, aber tief und brummend. Ich spüre es direkt in meiner Brust. Ich bin mir sicher, dass es nur der Alkohol sein kann, der aus ihm spricht. Federleicht haucht er mir einen Kuss in die Halsbeuge, greift mir in den Nacken und sorgt dafür, dass ich einfach seitlich umkippe und neben ihm zum Liegen komme. Ich ergebe mich meinem nächtlichen Schicksal. Mittlerweile bin ich auch zu müde, um mich meinem fruchtlosen Fluchtverhalten hinzugeben. Ich spüre die gesamte Länge seines Körpers an meinem. Wie er mich nackt und heiß ummantelt. Obwohl ich mich eben noch beschwerte, fühlt sich Kains Wärme unbeschreiblich wohltuend an. Genauso, wie die leichte Reibung von Haut auf Haut, wenn er eines seiner Gliedmaßen regt. Die feine Bewegung seine Brust, die sich beim Atmen gegen meinen Rücken schmiegt. Im Liegen werden meine Lider schwerer und ich bin so schnell eingeschlafen, dass ich mir keinen Gedanken mehr darum machen kann, dass mich Kains sanfter, ruhiger Atem im Nacken kitzelt. Am Morgen weckt mich ein betäubendes Pieken. Ich lokalisiere es nach komplizierter Hochrechnung mit meinem noch schlafenden Gehirn und geschlossenen Augen in meinem linken Arm. Der Versuch, meine Finger zu bewegen, verursacht einen weiteren heftigen Schub und lässt mich schmerzerfüllt wimmern. Meine Position zeigt mir, dass ich mich während der gesamten Nacht keinen Millimeter bewegt habe. Ich ziehe den tauben Arm unter meinem Körper hervor und jammere nur noch lauter. „Fuck...“, grummele ich. Ich schmule zu dem Oldschool-Wecker, der auf Kains Nachttisch steht und frage mich, wo sein heißgeliebter Hightec-Wecker ist, dessen Betriebsanleitung er so gern liest. Ich ignoriere die Gewissheit, dass ich in dieser Nacht zu keiner Zeit 4 Stunden am Stück geschlafen habe und richte mich mühsam seitlich auf. Ich höre meine Knochen lautstark knacken und erschrecke, als ich direkt wieder in die Horizontale befördert werde. „Huch,…“, gebe ich von mir und rudere hilflos umher. „Nicht weglaufen, Spatz“, sagt Kain mit rauer, schlaftrunkener Stimme. „Zum Laufen bräuchte man funktionierende Beine ….“ Meine Beine fühlen sich an wie funktionslose Holzstümpfe, die von einem Zitteraal umschlungen sind. Als ich mich im Liegen strecke, folgen weitere laute Knackgeräusche und außerordentlich mühsam stütze ich mich auf dem Arm ab. „Kommst du klar, alter Mann?“, fragt es kichernd hinter mir und ich sehe dieses kleine, schelmische Grinsen in seinem Gesicht, welches er zur Hälfte im Kissen zu verstecken versucht. „Frechheit“, entgegne ich unaufgeregt und sehe weiterhin zu Kain, der seine Augen geschlossen hält und vor sich hin lächelt. Ich wende mich ab, streiche mir durch die zerzausten Haare und starte einen weiteren Versuch, mich aufzurichten. Diesmal werde ich schon auf dem halben Weg zur Senkrechten gestoppt und zurückgezogen. „Noch nicht“ „Ich sollte zurück. Jeff wundern sich sonst, wo ich bin…“, seufze ich angesäuert. „Der schläft bestimmt selbst noch…“, mutmaßt Kain, greift mir an die Schulter und presst sein Gesicht in meine Halsbeuge, als ich wieder ins Kissen sinke. Er verteilt federleichte Küsse auf meiner Haut, die mich besänftigen und einlullen sollen. Und es gelingt ihm. Jedoch nur für einen Moment. „Ich meine es ernst…er ist sowieso schon misstrauisch…“, murmele ich und drehe mich von ihm weg. Ich keuche angestrengt auf. Ich würde es glatt genießen, wenn sich mein Körper nicht anfühlte, als würde er jeden Augenblick zu Staub zerbröseln. „Wegen mir?“, hakt er nach. „Nein, wegen meines überaus mitteilsamen Wesens...“, gebe ich sarkastisch von mir. „Ist ja gut... nur noch eine Sache…“ Er macht eine kunstvolle Pause, „Dreh dich auf den Bauch“, fordert er mich auf. „Wieso?“, frage ich misstrauisch. Der Gedanke gefällt mir ganz und gar nicht, denn wenn ich mich auf den Bauch drehe, liegt mein Rücken vollkommen frei und es ist tageslichthell. „Tu es einfach…“, murrt er leise, aber mitnichten angefressen. Ich zögere immer noch, was Kain zum Anlass nimmt, seiner Forderung physischen Ausdruck zu verleihen. Er greift mir an die Schulter und drückt sie nach vorn, so dass ich mich auf den Bauch legen muss. Da jegliche Gegenwehr ins Leere laufen würde, lasse ich es geschehen. Ich spüre, wie sich der größere Körper mit einem zufriedenen Raunen auf meine Oberschenkel niederlässt. Die Hitze seiner Haut trifft direkt meinen Hintern. Seine Hände streichen über mein Schulterblatt und meine Wirbelsäule. Nervös zucke ich wieder hoch und blicke zurück. „Was wird das?“, frage ich verunsichert. Erst, als er sich mir entgegen beugt, gelingt es mir, den anderen etwas zusehen. „Null vertrauen, oder? Denkst du wirklich, ich würde etwas Unschönes machen?“, stichelt er. „Das nicht, aber etwas unanständiges vielleicht“, säusele ich angestrengt und höre ihn lachen. Tief und voll. Ich stehe auf dieses Geräusch und mein Körper reagiert auf die feinen Vibrationen. Dass ich mich im Grunde nur wegen dem Tattoo unwohl fühle, erwähne ich nicht. Es ist auch albern. Er hat es längst gesehen und längst verstanden, für was es steht. „Ich möchte dich nur massieren...“, erklärt er, beugt sich dabei dicht an mein Ohr und ich erschaudere, „…ganz harmlos. Nur, so lange bis du wieder im Einklang mit deinen Muskeln bist.“ „Im Einklang mit meinen Muskeln?“, wiederhole ich amüsiert, als die Anspannung von mir abfällt. „Sportlereinmaleins“, begründet er überzeugt. „Du klingst wie ein Glückskeks.“ „Ein sportlicher Glückskeks und jetzt halt still.“ Kain knufft mir in die Seite. Ich zucke zurück und schnappe gigglend nach Luft. Ich sinke mit einem gleichmütigen Seufzen ins Kissen, während seine Hände zu meinen Schultern fahren. Erst ertastend, dann immer bestimmter. Sie kreisen, finden jeden einzelnen Muskelstrang und gleiten diese entlang, bis mir nichts anderes übrigbleibt, als ergeben zu keuchen. Seine Daumen fahren fest an den Seiten meiner Wirbelsäule entlang und jedes Mal, wenn er einen dieser festen Punkte trifft, presse ich mich seinen Berührungen bettelnd entgegen. Auch, wenn es schmerzt. „Fühlt sich gut an, nicht wahr?“, flüstert Kain, als er sich zu mir runter neigt. Sanft treffen seine Lippen mein Ohr. Ein Kuss. Ein zweiter an der Helix entlang. Sein warmer Atem. Ich keuche besänftigt auf. Es ist wirklich gut. Dann spüre ich seine Härte, wie sie unschuldig über meine Hintern streichelt. Nun entflieht mir ein erregtes Stöhnen. Kain küsst sich meinen Hals entlang, über meine Schulter, während er seine Körpermitte immer fester an mir reibt. Allein die Vorstellung und das Gefühl, wie sein Schwanz immer wieder zwischen meinen Pobacken entlang gleitet, versetzt meinen Körper in Aufruhre. Trotz unserer leidenschaftlichen Nacht fühle ich ein unbändiges Verlangen nach mehr. Nach mehr seiner Berührungen. Nach mehr von dem erfüllenden Gefühl. Ich richte mich wieder mehr auf, stütze mich auf meinen Unterarmen ab und drehe meinen Kopf zur Seite. Kains Lippen finden meine. Ganz ohne Worte. Er nimmt meine Unterlippen zwischen seine. Lockt mit seiner Zunge. „Fuck…“ Zur Untermalung des Ausrufes, fällt eine Tasche lautstark zu Boden. Kain und ich fahren erschrocken zusammen und direkt auseinander. „Ein Live-Porn nach meinem Geschmack.“ Beinahe instant habe ich das Gefühl, dass mein Herz etliche Etagen tiefer rutscht, als ich Kains blonden Mitbewohner im Bereich der Tür erkenne. Unwillkürlich ziehe ich die Decke höher, was allerdings nicht viel bringt, weil Kain mehr oder weniger drauf sitzt. „Fuck, Kain, das ist echt hardco…Robin?“ Nun ist es Abel, der erst mich und dann Kain perplex anstarrt. Ein Albtraum. „Fuck,…das ist...damit hab ich nicht gerechnet“, wiederholt Abel. Ich ringe nach einer Erwiderung, doch in meinem Kopf gibt es nichts als panische Leere. „Okay, lasst euch nicht weiter stören“, sagt er, dreht sich grinsend um und verlässt das Zimmer. Ich fixiere noch einen Moment lang die zurückgelassene Reisetasche. „Fuck, Fuck, Fuck, Fuck, Fuck, Fuck“, rattere ich runter, wie ein höhnendes Mantra, als sich mit einem Mal der Schock löst. In meinen Ohren scheint es übertrieben laut zu rauschen und so bekomme ich zwar mit, dass Kain etwas sagt, aber verstehe nicht, was es ist. Panisch falle ich fast aus dem Bett, als ich versuche aufzustehen. Ich greife nach meiner Hose und dem T-Shirt, welche am Boden liegen, ziehe mir die Hose über und stürze aus der Tür. „Robin…“, ruft mir Kain hinterher, doch ich bleibe nicht stehen. Während ich Abel über den Flur hinterher renne, ziehe ich mir das Shirt über den Kopf. „Abel warte!“ Er macht keine Anstalten, stehen zu bleiben und ich folge ihm notgedrungen mit schnellen Schritten. Ich erwische ihn erst am Ausgang. „Bleib stehen, verdammt…“ Als ich ihn erreiche, packe ich grob seinen Arm. Abel sieht mich im ersten Moment irritiert an und reißt sich dann los. Er schnauft. „Du fickst Kain…oder sollte ich sagen, er fickt dich“, entflieht es ihm grinsend, „Wie lange läuft das schon?“ „Spielt keine Rolle.“ „Jeff denkt, du vögelst mit Sina…“ Ich verdrehe die Augen und versuche ruhig zu bleiben. „Ja…“ Jeff hat es sogar schon vor mir geäußert. „…Aber ganz im Ernst…sie ist gar nicht dein Typ, oder?“, plappert er weiter. Woher will er wissen, was mein Typ ist? Abel weiß einfach gar nichts. Außer...Ich besinne mich auf das Problems des aktuellen Moments zurück. „Hör zu, ich…“ Jeffs Freund lässt mir keine Chance, mein Anliegen zu formulieren und ich bin mir nicht sicher, ob das seine immer dumme, unhöfliche Art ist oder böswillige Absicht. „…dann warst du der geile Blowjob“, grient Abel wissend und klatscht in die Hände. Ich weiß nicht, was ich darauf sagen soll. „Ich hätte es mir denken können. Merena weigert sich, seinen Schwanz auch nur anzusehen, geschweige denn, ihn in den Mund zunehmen.“ Ein weiteres Lachen hallt mir entgegen. Ich habe das Gefühl gleich zu explodieren und versuche, merklich ruhig zu atmen. Es fällt mir echt schwer. Gelaber. Sein dummes Gesicht. Ich verabscheue diese ganze verdammte Situation. „Abel…“, setze ich erneut an, doch er gibt mir wieder keine Möglichkeit, sondern greift mir ans Kinn und betrachtet mein blaues Augen. „Wo hast du denn das her?“, fragt er belustigt. „Geht dich überhaupt nichts an und nimm deine Griffel weg“, patze ich grimmig und ungehalten. Abel mustert mich abschätzig mit diesen matten blauen Augen, während ich mein Gesicht seiner Berührung entziehe. „Du solltest dringend damit aufhören, so mit mir zu reden und etwas netter zu mir sein. Ich denke nämlich, dass die Tatsache, dass du mir gefolgt bist, deutlich danach schreit, dass du nicht willst, dass jemand Bestimmtes davon erfährt.“ Sein Tonfall ändert sich schlagartig. Fast wird er drohend. Er macht einen Schritt auf mich zu, bleibt so dicht vor mir stehen, dass ich ein wenig aufsehen muss. Unter anderen Umständen hätte ich mich köstlich über die Tatsache amüsiert, dass der Blonde einen derartigen Satz zustande bekommt. Doch nun halte ich verbissen den Atem an. „Also, was kannst du mir bieten, damit ich den Mund halte?“ „Ist das dein Ernst? Du machst eine Erpressung daraus?“, presse ich brüskiert hervor. Abel grinst. „Wieso nicht? Du willst ja endlich mal etwas von mir.“ Die Überheblichkeit des Blonden ist wirklich das Letzte. Dann lacht er auch noch und ich möchte ihm dieses lächerliche Gesicht zu Brei schlagen. „Weißt du, es ist nicht gerade einfach, so ein irrsinniges Geheimnis für sich zu behalten vor der Person, mit der man ausgeht“, setzt er nach und leckt sich dabei ungeniert über die Lippen. Ich stoße geräuschvoll die Luft aus und mache einen Schritt zurück, so dass mir Abel nicht mehr derartig nahe ist. Seine Worte hallen nach. Ich sehe ihn an und bin mir sicher, dass ihm gar nicht klar ist, was er gerade gesagt hat. Seinem lüsternen Blick nach zu urteilen, jedenfalls nicht. „So ist das also“, kommentiere ich trocken. Absichtlich senke ich meinen Blick. „So ist was?“, fragt er dümmlich und bestätigt meinen Verdacht. Er hat es nicht bemerkt, nicht verstanden. Seine mattblauen Augen sehen mir inhaltsleer entgegen. „Du gehst mit ihm aus...“, wiederhole ich verächtlich. Abels Augenbrauen ziehen sich zusammen. „Jeff fände es sicher interessant, zu erfahren, dass er für dich nur irgendjemand ist, mit dem du AUSGEHST“, fahre ich fort. Jeff ist nicht die Person, die er liebt. Das erklärt einiges. „So habe ich es nicht gemeint…das weißt du…“ Schwach. Ein mehr als mangelhafter Versuch. „Weiß ich das? Tja, ich weiß nicht, ob ich es Jeff so rüberbringen kann, wie du es eigentlich meinst…“ Die Augen des blonden Mannes funkeln mir wütend entgegen, als er begreift, dass ich den Spieß umdrehe. Ich lasse mich nicht erpressen. Schon gar nicht von ihm. Heftig stößt mir Abel gegen die Brust und ich taumele zurück. Ich fange mich, mache drei Schritte vor und erwidere die Geste mit Nachdruck. Abel geht zu Boden, ist aber schnell wieder auf den Beinen. Er packt mich beim Kragen meines T-Shirts und drückt mich gegen die Wand. „Das tust du nicht.“ „Was willst du dagegen machen? Mich verprügeln?“ „Scheint dir ja nicht neu zu sein und vielleicht hältst du dann mal deine beleidigende Klappe.“ „Du kannst mich mal, Abel. Lieber beichte ich Jeff alles und glaub mir, ich beichte alles…vor allem, dass du mich mehrfach angegraben hast. Und dann wird er endgültig merken, was für ein gigantischer Fehler du bist“, belle ich ihm kampflustig zu. „Er wird dir nicht glauben.“ „Oh, mit Sicherheit mehr als dir. Meinst du es überhaupt ernst mit ihm? Bedeutet er dir etwas? Warst du jemals ehrlich zu ihm?“ Abels Kiefer pressen sich aufeinander und sein Blick ist verbissen, als ich ihm diese Vorwürfe mache. „Bist du es? Sicher nicht! Und was du sagst, wird er als das abtun, was es ist. Als Lügen, um uns auseinander zubringen, weil du mich nicht leiden kannst...oh oder stehst du selbst auf ihn?“ „Wie billig und dumm ist das denn? Jeff ist mein Freund, verdammt noch mal.“ „Würde aber einiges erklären...“ „In deiner verqueren Fantasiewelt vielleicht... und lass mich los...“, motze ich. Abel macht im ersten Moment keine Anstalten. Doch dann entlässt er mich aus seinen Fängen, streicht sich durch die wirren Haare. „Du bringst uns nicht auseinander...“ „Glaub mir, das schaffst du ganz allein, aber meine Worte wären die Kirsche auf der Sahnehaube deiner Vernichtung.“ „Was hast du eigentlich für ein verficktes Problem mit mir?“ Wieder stößt er mir seine Hände gegen die Brust, doch dieses Mal pralle ich nur wieder zurück an die Wand. Eine Wohnheimbewohnerin kommt aus ihrem Zimmer und beäugt uns kritisch. Als keiner von uns beiden Anstalten macht, erneut handgreiflich zu werden, geht sie Richtung Gemeinschaftsbad. „Begreif es endlich, du bist Geschichte, es ist nur eine Frage der Zeit...“, belle ich. „Ja, vielleicht, aber du... was denkst du, wie oft er sich noch wegstoßen lässt? Sag schon?“ Ich schweige. Einen Moment lang starren wir uns einfach nur an. Beharrlich und wütend. „Du hast viel mehr zu verlieren... nämlich deinen einzigen Freund.“ „Tja, wir sind wohl beide eine Enttäuschung für Jeff“, sage ich, versuche es fest und unbeeindruckt klingen zu lassen. Es bleibt bei dem Versuch. Wie heißt es so schön? Gegenseitige Zerstörung. Keine Gewinner, sondern nur Verlierer. Ich kann es nicht zugeben, aber die Vorstellung, dass sich Jeff von mir abwendet, reißt eine unangenehme Leere in mir auf. Abel ist der erste, der nach draußen verschwindet und ich folge ihm mit geringer Entfernung. Als der Blonde schnurstracks an Jeff und meinem Wohnheim vorbeigeht, atme ich erleichtert aus und bleibe stehen. Mit angespannten Fingern fasse ich an meine Hosentasche zu dem Ort, an dem normalerweise meine Zigarette sind. Doch ich ertaste nur Nichts. Ich trage noch immer meine Schlafhose und die hat nicht mal Taschen. Damit habe ich auch keine Zigaretten bei mir und mein Hirn kann so laut schreien, wie es will. Mit anhaltender Unzufriedenheit und wachsender Verunsicherung verschwinde ich rauf ins Wohnheimzimmer. Bevor ich den Code eintippe, bleibe ich kurz stehen. Ich versuche ruhig zu atmen, mich zu konzentrieren und mich nicht zu verraten. Wo ist das Pokerface, wenn man es braucht. „Hey, wo warst du denn?“, begrüßt mich Jeff verwundert und lehnt sich in seinen Schreibtischstuhl zurück, sodass er zur Tür sehen kann. „Ich habe gar nicht mitbekommen, dass du aufgestanden bist.“ „Hier könnte ein Hurrikan durchfegen und du würdest es nicht merken…“, kommentiere ich leise und lasse mich auf mein Bett fallen. Ich bin seltsam gefasst. Jedenfalls äußerlich. Mein Mitbewohner dreht sich nun vollkommen zu mir um und mustert mich. „Ist das nicht die Hose, mit der du sonst schläfst?“ Obwohl ich es nicht will und es auch nicht nötig ist, wandert mein Blick nach unten auf meine Knie. Ich betrachte den Stoff, der meine Beine bedeckt und auffällig knittrig ist. „Ja, und?“, erwidere ich. Mittlerweile ist Jeffs linke Augenbraue nach oben geklettert. „Warst du damit draußen?“ „Und?“ „Und?“, wiederholt er mit einer anderen Betonung, die auf pure Neugier hindeutet. Ich werde nervös. „Casual …Satur…day?“, stammele ich zusammen. Ich hätte mir vorher etwas Plausibles überlegen sollen, aber das Zusammentreffen mit Jeffs dämlichen Anhängsel hat mich innerlich ganz schön durcheinander gewürfelt. „Dein Ernst? Ich meine, ich verstehe schon, dass du mir nicht sagen willst, wo du gewesen bist…Aber das? Du warst definitiv schon kreativer.“ Ich murre als Antwort und stehe auf. Eine wirkliche Erklärung bleibe ich ihm schuldig. „Okay, du könntest mir sonst was erzählen und ich würde es dir nicht glauben.“ Vor meinem Kleiderschrank bleibe ich stehen und sehe zu ihm. In dem Moment zeigt er mit dem Finger auf mich und deutet einmal hoch und runter und zählt auf, „Schlafanzughose. Fickfrise.“ „Fick-was? Ich war nur Luft schnappen… nichts weiter.“. Ich deute mit meinen Fingern eine klassische Rauchergeste an und streiche ich mir danach durch die wirren Haare. „Klar.“ „Wirklich“, versichere ich. „Sicher!“, donnert er mir siegesgewiss zu. Die Taschen. Meine Hose hat keine Taschen. Jetzt noch umzuschwenken, reitet mich nur weiter rein. Ich seufze gequält auf, mache ich ihm deutlich, dass ich jede weitere Konversation ablehne und greife nach meiner Jeans. Jeff betrachtet mich amüsiert. Wenn er wüsste. Fast in Zeitlupe dreht sich seinen Stuhl wieder in die richtige Position. Seine Finger huschen übertrieben über die Tastatur seines Laptops, während sich sein Kopf, mich noch immer ansehend, nur sehr langsam in Richtung Schreibtisch wendet. Sehr effektvoll. Mein Mitbewohner hatte einen Clown zum Frühstück. Ich folge dem Schauspiel mit einem Schmunzeln. Vielleicht sollte ich es ihm einfach sagen. Grade heraus. Ohne Umschweife. Direkt. Ist doch gar nicht so schwer. Ich schlafe mit Kain. Direkt nach diesem Gedanken spüre ich, wie irgendwas in meinem Kopf Feuer schreit und mich augenblicklich Panik erfasst. Meine Hände zucken. Mein Herz rast, als wäre es mit einem Mal der Überzeugung, in einem Kolibri zu stecken. Zum Glück nicht in einer Etruskaspitzmaus, dann würde ich vollends zusammenbrechen. Okay, vielleicht ist es doch nicht so leicht. Ich versuche meine Atmung unter Kontrolle zu bekommen und starre auf eines der T-Shirts, das ich seit Jahren nicht mehr trage, weil es voller Löcher ist. Ich weiß nicht, warum ich es noch habe. Mit ungewöhnlich zittrigen Fingern ziehe ich es hervor, wende mich zum Schreibtisch und lasse es, so wie es ist, in den Papierkorb fallen. Gar nicht eigenartig, Robin. Mein Kindheitsfreund scheint es nicht mitbekommen zu haben und summt mit dem Lied mit, welches leise aus seinem Laptop dringt. „Oh, hast du schon gehört, dass Kaworus Schwester jetzt auch hier an der Uni ist?“ „Er hat eine Schwester?“, gebe ich zum Besten. „Sie spielt in einer Band.“ „Wow“, sage ich trocken und streife mir die Schlafhose von den Beinen. Darunter bin ich noch immer nackt. Noch während des Hosentauschs, meldet sich mein Handy. Unbewusst wende ich mich meinem Nachtisch zu, doch da liegt es nicht. Meine Augen wandern suchend dem Geräusch nach und ich entdecke es auf dem Schreibtisch. Ich greife nicht sofort danach, sondern blicke noch einmal zurück zu meinem Bett. Ich bin mir sicher, dass ich es dort liegen gelassen habe. Nicht am Schreibtisch. Fast sicher. Hatte ich es während Kains nächtlicher Aktion in der Hand? Ich kann mich nicht mehr daran erinnern. Aber falls es so war, hätte ich es sicher mitgenommen und nicht da gelassen. Ich greife danach, sehe kurz zu meinem Mitbewohner und aktiviere das Display. Kain fragt mich nach Abel. Er ist nicht ins Zimmer zurückgekommen. Genauso wenig, wie ich. Er möchte wissen, wie es mir geht. Ich habe keine Ahnung, wie es mir geht. In meinem Kopf durchblättere ich eine Enzyklopädie möglicher Emotionen. Wut. Ärger. Bestürzung. Scham. Gleichgültigkeit. Nichts davon ist wirklich passend oder spiegelt das wider, was gerade in mir vorgeht. Ich will meine Blase der Ruhe zurück. Doch darauf kann ich lange warten und eigentlich sehne ich mich einfach nur nach dem zufriedenen Gefühl zurück, welches mir Kains Nähe in der Nacht brachte. Es müssen Nachwirkungen des Oxytocins sein. Nicht mehr und nicht weniger. Seltsam unbefriedigt, setze ich mich ebenfalls an den Schreibtisch und mache den Computer an. Unweigerlich beginnt es in meinem Kopf zu arbeiten. Was würde er sagen? Wäre er geschockt? Entsetzt? Wütend? Ich weiß es einfach nicht. Genauso wenig, wie ich weiß, weshalb mir der Gedanke solche Magenschmerzen bereitet. Wahrscheinlich würde es Jeff nicht mal stören. Er ist mein Freund. Warum sollte ihn die Nachricht, dass ich mit Kain schlafe, in irgendeiner Weise verärgern? Schließlich ist es auch nichts Ernstes. Nur ein Experiment. Nichts als Spaß. Einfach nur Neugier. Das sagt auch Kain. Obwohl ich versuche, es mir genauso einzureden, klingt es falsch. Das ist doch albern. Kindisch und absolut idiotisch. Ich drehe meinen Schreibtischstuhl so, dass ich geradewegs in Jeffs Rücken starren kann. Als würde er es spüren, wendet er sich zu mir um. Einfach grade heraus. Ohne Umschweife. Direkt. „Hey, hör mal…ich muss dir was sagen…“, beginne ich und werde genau in dem Moment von Jeffs singenden Handy unterbrochen. Kurz starrt er mich an und dann auf das Display. Mit einem erhobenen Finger, der mir andeutet, dass ich warten soll, steht er auf und geht ran. „Hey du…“ Die Stimme meines Mitbewohners klingt wie flüssiger Honig, während er sich mit der Hand durch die frisch gewaschenen Haare streicht. Er dreht sich ein wenig von mir weg, so als würde er befürchten, dass ich etwas sehe, was ich nicht sehen soll. Ich fürchte, dafür ist es längst zu spät. Schon an seinem Gesichtsausdruck kann ich sehen, dass es nicht Abel ist, mit dem er telefoniert, sondern jemand anderes. Jemand bestimmtes. Sie sprechen eine ganze Weile miteinander und in der Zwischenzeit tippe ich meinen Gedanken nachhängend auf meiner Tastatur Fantasiewörter zusammen. Nowibidi und Quibbeldiwob. Gerade bin ich mir nicht mal sicher, ob Jeff weiß, dass Abel schon wieder zurück ist. Ich höre Jeffs Verabschiedung und drehe mich unauffällig wieder zu ihm, als er aufgeregt quietscht. „Yes! Jake hat wohl einen Käufer für meinen Laptop.“ Klar, einen Käufer. Er kauft ihn vermutlich selbst. Ich behalte meinen Gedanken für mich und mache stattdessen eine freudige Geste. Die Faust schwingend vor meiner Brust und ich verziere das Ganze mit einem aufgesetzten Lächeln, was Jeff sofort durchschaut. Er zeigt mir mit einem ebenso übertriebenen Gesichtsausdruck den Mittelfinger. „Er hat mir angeboten, die alte Schüssel auf Vordermann zu bringen und alles ordentlich zu löschen“, plappert er munter und springt von seinem Stuhl auf. Ich kann dabei zusehen, wie es in seinem Kopf zu rattern beginnt und wie er sich hektisch nach vernünftigen Klamotten umsieht, die sein momentanes Couch-Potato-Outfit ersetzen. „Besser so. Nicht auszudenken, dass der Käufer deine geheime Pornosammlung entdeckt.“ Jeffs Kopf zuckt nach oben und dann sieht er einen verdächtigen Augenblick lang zu dem alten Laptop. Verräterischer geht’s kaum. „Jake macht sicher vorher eine Datensicherung, dann hat es sich für ihn wenigstens gelohnt“, sage ich grinsend. Falls er ihn nicht wirklich behält. „Nicht witzig.“ Bei dem Anblick meines verwirrten Mitbewohners kann ich mir ein Lachen nicht mehr verkneifen. „Vielleicht sollte ich…“ „..das schmutzige Zeug vorher löschen? Ja, solltest du“, beende ich den angefangen Satz. Jeff verdreht meisterlich die Augen. „Da ist nichts drauf, wofür ich mich schämen muss.“ Er zieht sich sein Gammelshirt über den Kopf und greift nach einem schwarzen, kurzärmeligen Hemd mit einem für mich seltsamen roten Blütenmuster. „Ooh, da will ich widersprechen…Sex and the City…Shopaholic…Greates Hits von Elton John und Celine Dion. Weißt du, mir wird immer unklarer, wieso mir nicht früher aufgefallen ist, dass du schwul bist.“ Mein Mitbewohner zieht sich bei der Aufzählung gerade eine gutsitzende, fast schon enge Jeans über die schlanken Beine und ich sehe ihm unverhohlen dabei zu. „Weil du unfassbar ignorant und manchmal schwer von Begriff bist?“, kontert er und ich nicke es einvernehmlich ab. „Schon möglich.“ „Eher genau auf dem Punkt...“, erwidert er keck, streicht sich durch die Haare und sieht mich an, als müsste ich ihm bestätigen, dass er vorzeigbar ist. Ich mache eine hilfelose Geste mit der Hand und Jeff scheint damit zufrieden. Er greift sich sein Schrottgerät, schiebt es in die Tasche und wirft einen Blick auf sein Handy. Jeff nickt und atmet tief durch. „Oh,..“ An der Tür dreht er sich zu mir um, „Reden wir später?“ Ich sehe seine Aufregung und dass es ihm Leidtut, dass er mich gerade irgendwie versetzt. „Klar.“ Das komische Gefühl in meinem Magen kehrt zurück und ich bin mir nicht mehr sicher, ob ich später noch den Mut aufbringen werde. Immerhin ist er nicht bei Abel, wenn er bei IT-Jake ist. Ein kleiner Lichtblick, wenn auch nur kurz. Als Jeff die Tür schließt, greife ich nach meinem Telefon und lese Kains Nachricht erneut. Ich weiß noch immer nicht, wie ich das emotionale Wirrwarr in meinem Kopf einschätze. Bin ich bestürzt. Ja, irgendwie schon. Bin ich beschämt. Nein niemals. Bin ich sauer? Ja, das bin ich definitiv. Abels Dreistheit und sein dreckiges Grinsen machen mich rasend. Aber nicht nur das. Jeff bedeutet ihm nichts und auch wenn ich noch nie der gefühlsduseligste Freund war, verspüre ich das dringende Bedürfnis, dafür zu sorgen, dass Jeff schnellst möglich in den Armen eines anderen landet. Also, wenn Jake den beknackten Laptop nicht kauft, werde ich es. Und dann werde ich Jeff dazu bringen, die Neuanschaffung auch über den IT-Fritzen laufen zu lassen. So lange, bis Jeff sich gezwungen fühlt, sich besonders aufmerksam bei dem Kerl zu bedanken. Oh ja! Was ist nur los mit mir? Von meinen eigenen Gedanken überrascht und gleichwohl entsetzt, lasse ich mich vom Stuhl auf das Bett fallen. Im Grunde schafft es nur mein Oberkörper. Der Rest bleibt zwischen Boden und Bett hängen. Ich bin so erbärmlich. Und unsicher, wie ich mit allem umgehen soll. Wäre jetzt nicht der beste Zeitpunkt, das Ganze in den Limbus zu schicken? Das mit Kain vollends zu beenden. Unsere Neugier ist immerhin gestillt. Wir wissen, dass es sich gut anfühlt und dass es mehr als geil ist. Es ist zu dem ein Wunder, dass es bis auf Sina bisher niemand mitbekommen hatte. Dezent waren wir in der letzten Zeit nicht mehr. Mein Handy macht sich bemerkbar. Es ist Kain. Ich ignoriere den Anruf und wundere mich nicht, als er es direkt danach schriftlich versucht. -Können wir uns in einer halben Stunde vor der Mensa treffen? Wir sollten reden.- Keinerlei Emojicons. Kain meint es ernst. Ich richte mich wieder auf, sehe auf die Uhr und beschließe, in Ruhe duschen zu gehen. Als ich aus dem Gemeinschaftsbad komme, wird es mit der halben Stunde knapp. Ich schreibe Kain, dass ich mich verspäte und trotte mit der Begeisterung einer Bittermandel zum Treffpunkt. Der Schwarzhaarige hat es sich auf einer Bank gemütlich gemacht. Seine langen Beine sind in entspannter Pose von ihm fort gestreckt. Seine Augen sind geschlossen. In einiger Entfernung bleibe ich stehen. Ich spiele mit dem Gedanken, mir eine Zigarette anzustecken, doch ich komme wieder davon ab, als sich langsam der Geschmack von Zitrone und Ingwer auf meine Zunge schleicht. Es ist nur der Hauch einer Erinnerung und doch ist es intensiv und eigenartig erfüllend. „Schläfst du??“, ruft es mir entgegen. Ich erwache aus meinen Gedanken und schaue zu Kain. Er hat sich nach vorn gebeugt und seine Beine angezogen. „Kannst du es mir verübeln? Ich hab ja kaum geschlafen...“, rufe ich zurück. Ich streiche mir mit der Hand durch die Haare, die an den Spitzen noch feucht sind. „Mehr als ich...“, erwidert er ebenso laut. Ich verdrehe die Augen und verringere den Abstand zwischen uns, damit wir uns nicht mehr anbrüllen müssen. Hinsetzen werde ich mich nicht. Als auch Kain das merkt, steht er auf. Seine Hände schieben sich in seine Hosentaschen und er sieht mich an, als würde er erwarten, dass ich mit dem Gespräch beginne. Ich war noch nie gut darin und weiche diesen lästigen menschlichen Angewohnheiten lieber aus. Aber gut, ich komme nicht Drumherum. „Kain...“brüllt es uns entgegen und schon beim Klang dieser Stimme verdrehe ich genervt die Augen. Nicht sein Ernst! Marvin kommt mit wackelnden Armen auf uns zu. Als er fast bei uns ist, erkenne ich, wie er mich kurz mustert, um dann seine ganze Aufmerksamkeit Kain zu widmen. „Da ist ja der Mann der Stunde. Nein, des Tages.“ Der Muskelprotz breitet seine Arme aus. Sie wirken wie ein anabolikagetränktes Omen. Ich hätte an Kains Stelle bereits etliche Schritte zurück gemacht. Doch er lässt es ohne Widerstand geschehen und lächelt dabei. „Noch mal alles Gute, Großer. Du warst so schnell aus dem Club verschwunden, dass ich keine Zeit hatte, dir das noch zu geben.“ Marvin drückt ihm ein buchgroßes, grünes Päckchen in die Hand und bei mir fällt endlich der Groschen. Kain hat Geburtstag. Heute. Auch schon heute Nacht. „Danke, Mann“, erwidert er lachend und betrachtet das Geschenk. Er schüttelt es. Ein weiteres Rückenklopfen folgt, während Kain kurz zu mir sieht. Ich starre fassungslos zurück. „Kann ich es hier öffnen oder sollte ich das lieber allein im Zimmer tun?“, fragt er vorsichtig und sein bester Freund beginnt zu grinsen. Lachend und wissend steckt Kain es vorsorglich in die Tasche. Ich erinnere mich daran, dass Jeff vor kurzem noch davon gesprochen hatte, dass Kain bald Geburtstag hat. Aber ich hab es wie gewohnt überhört. „Heute lade ich dich mal zum Essen ein. Worauf immer du Lust hast!“ Marvins Blick ist starr auf Kain gerichtet. Mich ignoriert er weiter. „Bist du sicher?“, fragt Kain. Marvin nickt. „Okay, dann wirst du wohl indisch essen müssen. Schönes scharfes Chicken tikka masala und du wirst nach Luft hecheln und deine Augen werden tränen...“, schwärmt er und fängt nach den letzten Worten an zu lachen. Wie nett. Ich denke augenblicklich an die Snackorgie von Shari, wie lecker die Teigtaschen gewesen sind und nehme mir ein weiteres mal vor, ihr zu schreiben. „Du mieser Sadist!“ Marvin lacht übertrieben auf und hämmert seine Pranke ein weiteres Mal gegen Kains Schulter. Dieser scheint sich aber wirklich zu freuen. Nicht nur als Höflichkeit. Ich hätte längst blaue Flecke. Marvin stürmt bereits in die Richtung, in die ich das Lokal vermute, doch bevor auch Kain hinterhereilen kann, halte ich ihn zurück. Marvin beschwert sich lautstark. Ich ignoriere es. Kain signalisiert ihm, dass er sofort nachkommt und blickt mir lächelnd entgegen. „Wieso hast du nichts gesagt?“, frage ich, ohne den konkreten Grund noch mal aussprechen zu müssen. Kain lacht leise auf. „Die Phase, in der ich jedem freudig davon berichte, dass ich heute Geburtstag habe, ist schon seit gut 15 Jahren vorbei... Obwohl ich schon irgendwie auf die vielen Umarmungen stehe.“ „Du hast mich quasi auflaufen lassen“, beschwere ich mich, ohne auf den Umstand einzugehen, dass der Schwarzhaarige weich wie Butter ist. Doch als ich Kains verständnislosen Blick sehe, presse ich die Lippen aufeinander und wünschte, ich hätte es nicht ausgesprochen. „Okay, entschuldige, du solltest es gar nicht erfahren. Außerdem kenne ich deinen Geburtstag auch nicht. Wir sind also quitt.“ Er hat Recht. Mittlerweile habe ich sogar Jeff soweit, dass er trotz Folter niemanden verraten würde, wann ich Geburtstag habe. Dabei müsste Kain nichts weiter tun, als nach der zweiten Ziffer seines Türcodes einen Punkt zu setzen und schon hat er Tag und Monat. Doch das weiß er nicht und wenn es nach mir geht, wird er es auch nicht erfahren. Mir sind die vielen, unehrlichen Umarmungen nämlich zuwider. „Kain, komm endlich, sonst gibt es keinen Geburtstagskuchennachtisch“, ruft Marvin dazwischen. Wir sehen beide zu dem Blonden, aber nur ich fixiere ihn einen Moment länger. Sein Blick sagt mir deutlich, wie weniger er von mir hält. Er kann mich mal kreuzweise. Geburtstagskuchennachtisch, äfft es in meinem Kopf. So ein Idiot. „Lass uns später reden, okay? Ich melde mich“, sagt Kain und sorgt so dafür, dass ich mich ihm zuwende, aber seinem Blick ausweiche. Zum zweiten Mal werde ich versetzt. Auch jetzt nicke es ich es einfach ab. Kains Hand legt sich kurz auf meine Schulter und dann folgt er seinem besten Freund. Selbst in diesem Moment schaffe ich es nicht, ihn anzusehen, sondern starre den blonden Idioten an, der in der letzten Zeit scheinbar an Kains Seite zu kleben scheint. Hat er vorher schon so viel mit dem Blödmann zusammen gemacht? Ich weiß es nicht. Es hat mich bisher auch nicht interessiert, was Kain außerhalb der Uni unternimmt. Und mit wem. Warum also jetzt? Weil ich langsam den Verstand verliere, echot es in meinem Kopf. Mit diesem Gedanken fahre ich mir durch das Haar und widerstehe dem Drang, mir wie ein Verrückter die Haare zu raufen. Zurück im Wohnheim setze ich mich direkt an den PC. Mache ihn aber nicht an. Meine Finger klopfen unruhig neben der Mouse auf dem Tisch. Ich muss irgendwas machen, was mich ablenkt. Aufräumen. Ich sehe mich um. Unser Zimmer sieht trotz Jeffs Kleiderschrankaktion erstaunlich ordentlich aus. „Allgemeine Ablage“, flüstere ich euphorisch und merke selbst die Ironie dahinter. Doch das ist mir gerade egal. Ich sammle die auffindbaren Briefumschläge zusammen. Tantiemenschreiben vom Verlag. Rückmeldungsaufforderung der Uni. Die Reiseunterlagen, welche ich brummend über den Tisch schleudere und dann doch sorgsam wieder zusammenfächere. Brigitta macht mich noch mal wahnsinnig mit ihren Ideen und Vorstellungen. Ich hefte die wenigen Blätter ordnungsgemäß in meinen unbeschrifteten Aktenordnern ab und sitze schon wieder auf dem Trockenen. Seufzend hole ich das Buch für Pathobiochemie hervor und werfe mich aufs Bett. Ich muss drei Kapitel zurückgehen, weil ich mich beim besten Willen nicht mehr an die Inhalte erinnern kann. Ich unterbreche meinen Lesemarathon nur für einen Snack und ein Eis. Als es langsam dunkel wird, mache ich die Nachtischlampe an und sehe zum ersten Mal auf die Uhr. Jeff ist immer noch nicht zurück. Ob er vielleicht doch bei Abel ist? Mich erfasst ein Schauer und ich lasse das Buch sinken. Mein Blick richtet sich auf das leere Bett meines Mitbewohners und die Unruhe ist wieder zurück. Diesmal werde ich sie nicht durch intensives Lesen los und merke ab und an, dass ich ganze Absätze zweimal lesen muss. Immerhin schlage ich damit Zeit tot. Irgendwann am Abend schreibt mir Kain. Auf dem Display erkenne ich nur seinen Namen und die ersten Worte seiner Nachricht. Er ist von Essen zurück. Bravourös, wiehert das Sarkasmuseinhorn in meinem Kopf, welches ich heute Pascal taufe. Es ist mintgrün. Mir egal, dass er wieder zurück ist, denn ich stehe heute garantiert nicht mehr auf. Ich drehe mich schmollend zur Seite, ohne den gesimsten Text komplett zu lesen. Ich stürze mich wieder auf die Pathobiochemie, bis ich aus dem Schlaf erwache und meine Wange an der Buchseite fest geklebt ist. Müde rolle mich ich in die Bettdecke ein. Zum Glück bleibt mein Denkmotor abgewürgt und ich schlafe schnell wieder ein, bis mich beim nächsten Mal das Läuten meines Handys weckt. Auf dem Display sehe ich die Nummer meiner Mutter. Noch im Halbschlaf gehe ich ran und merke nicht mal, dass meine Mutter gegen unsere Abmachung verstößt. Es ist gerade so halb 9 Uhr. Ich setze mich langsam auf und wieder machen sich meine Knochen bemerkbar. Ich sollte mich mehr bewegen. „Hey Mama“, sage ich leise, streiche mir die Haare zurück und sehe zum Bett meines Jugendfreundes. Ein Berg Bettdecke regt sich langsam und ich spüre eine einnehmende Erleichterung, die sich bedächtig in meinem Körper ausbreitet. Jeff ist da und er hat mich nicht wütend in der Nacht geweckt, um mir den Kopf abzureißen. Das ist ein gutes Zeichen, denke ich jedenfalls. „Guten Morgen, mein Schatz“, ertönt die Stimme meiner Mutter heiter von der anderen Seite der Leitung, „Wie geht es dir? Und sag jetzt nicht wieder `Es lebe der Verfall´.“ „Das habe ich noch nie gesagt“, stelle ich gähnend klar und höre sie mit dem Kopf schütteln. „Na oder das, was du sonst immer sagst.“ „Ich atme, esse und unterliege dem Verfall“, kläre ich auf. Ein definitiver Unterschied. „Genau das. Mir wäre es allerdings lieber, wenn du Dinge sagst, wie: Ich bin gesund, glücklich…“ „Und mir scheint die Sonne aus dem Arsch?“, ergänze ich trocken. „Robin!!“, mahnt sie, doch ich höre sie leise lachen. „Was denn? Du hast es provoziert. Du weißt, ich würde sowas niemals sagen.“ Ich drehe mich zu Jeff, der mit hochgezogener Augenbraue und verschlafener Miene vor seinem Bett steht. Richtig wach scheint er nicht zu sein. Er streckt seine Hand nach ein paar zusammengerollten Socken aus und merkt erst danach, dass er welche an hat. Daraufhin streicht er sich durch die verwuschelten Haare und angelt nach einem abgelegten T-Shirt. Während er daran schnuppert, tritt er neben mich. „Einen wunderschönen guten Morgen Marianne“, flötet Jeff laut gegen mein Handy belegtes Ohr. Meine Mutter hätte ihn bei dieser Lautstärke auch am anderen Ende des Zimmers gehört. Zu meinem Leidwesen erwiderte sie den Gruß ebenso prompt und lautstark. Nur, dass Jeff es definitiv nicht hören kann. Menschen sind so unlogisch. Ich rolle mit den Augen. „Herrje, geht’s noch, Leute?“, murre ich ungehalten, aber kaum verärgert. Jeff stupst mir sachte mit dem Ellenbogen in die Seite und greift sich eine Hose. Noch während ich meiner Mutter dabei zuhöre, wie sie mir von den letzten Familiengeschehnissen berichtet, verabschiedet sich mein Kindheitsfreund in die Waschräume. Mein Onkel will wieder heiraten. Zum dritten Mal. Lena ist begeistert. Meine Mutter schwankt zwischen leiser Freude und irrsinniger Bestürzung. Ich hoffe nur, dass ich nicht dabei sein muss. Sie räuspert sich kurz und ein mulmiges Gefühl breitet sich in mir aus. Das Vorige war nur das Geplänkel und nun kommt der eigentliche Knaller. „Robin...Schatz...“, setzt sie verhängnisvoll an. Ich wappne mich innerlich schon dafür, gleich wieder lügen zu müssen, „Ich möchte dich bitten, noch einmal darüber nachzudenken, ob du nicht doch herkommen magst. Wir könnten gemeinsam…“ „Mama,…“, beginne ich flüsternd. „Es sind fast drei Jahre…seit wir das letzte Mal gemeinsam bei ihm am Grab waren.“ Ich erinnere mich. Ich erinnere mich genau an diesen Tag. Nur mache ich das nicht gern. Ich sehe sie nicht gern weinen, höre nicht gern dabei, wie sehr sie sein Lachen vermisst und ich verstehe den Sinn dahinter nicht, wieder und wieder daran erinnert zu werden. Das Prozedere ist keinesfalls heilsam, sondern eher mühsam. Sie kauft jedes Jahr Renés Lieblingssüßigkeit und stellt sie in einer kleinen Schale auf sein Grab. Dann redet sie. Über die Familie. Das Leben, welchem René nicht mehr beiwohnt und all die Dinge, die ihm vielleicht gefallen hätten. Dann weint sie. „Wir bezahlen dir auch die Fahrt“, bietet sie mir an, als ich schweige und reißt mich aus dem herbeigeführten Trübsal. Mein Blick fällt auf die Reiseunterlagen, die auf meinen Schreibtisch liegen. Ich strecke meine Hand danach aus, berühre mit den Fingerspitzen das glatte Papier. „Mama, ich kann nicht. Ich nehme an einer bezahlten Vortragsreihe teil und kann es nicht mehr stornieren." „Genau an dem Wochenende?“ „Ja.“ Und ja, ich bin ein Heuchler. Ich könnte am selben Abend bei meiner Mutter und Lena sein. Und bei René. Der Schmerz in meiner Brust wird mit einem mal so heftig, dass ich mich nach vorn lehne muss, um den Druck zu verringern. Es hilft nur nicht. Ich kann ihre Enttäuschung förmlich spüren, auch wenn sie nichts sagt und nicht bei mir ist. Sie atmet einfach. Leise, aber eindringlich. Dann atmet sie plötzlich laut ein. „Okay, mein Schatz. Tu mir nur den Gefallen und igle dich nicht ein, ja? Ich rufe sonst Jeff an, glaub mir!“, droht sie mir zärtlich. „Daran zweifele ich keine Sekunde.“ „Pass auf dich auf.“ „Mach ich.“ Als ich auflege, fühle ich mich fürchterlich. Jeff kommt erst nach einer Stunde zurück. Seine Haare sind nass. Er ist frisch rasiert, trägt nur ein Handtuch und ich kann sein Aftershave quer durch das Zimmer riechen. Noch bevor er vollständig eingetreten ist, echauffiert er sich lautstark darüber, dass Tobi aus dem Zimmer schräg gegenüber seine Zehnägel schneidet und die abgeschnitten Stücke einfach rumfliegen lässt. Ich bestätige seine Beschwerde mit dem angewidertsten Gesichtsausdruck, den ich parat habe und sehe dabei zu, wie er sich als erstes Socken anzieht und danach erst Unterwäsche sucht. Jeffs Tirade findet aber dadurch kein Ende. Mit jedem weiteren Kleidungstück scheint er eine weitere Ungeheuerlichkeit in dem kunterbunten Lebensraum aufzudecken, in dem er existiert. Die Unterwäsche begleitet der allgemeine Zustand der Wohnheime. Sie sind nicht mehr die neusten und welche Uni hat noch immer Gemeinschaftsbäder? Zimmer mit eigenen Toiletten und Küchen, das ist die Parole. Ich nicke beständig. Die Hose ist ein Zeichen für die unzumutbaren Qualitäts- und Quantitätsunterschiede der geisteswissenschaftlichen und naturwissenschaftlichen Fakultäten. Heute hat er seinen Motztag. Nun bin ich mir sicher. Immerhin lenkt es mich ab. Beim T-Shirt driftet er zu seinem eigenen Fachbereich ab. Geologie ist steinhart, felsenfest, wenn nicht sogar eisern. Ich hätte fast Mitleid, wäre da nicht der Umstand, dass er Steinchen dreht. Gut, es ist im Grunde noch viel mehr, aber das mit dem Mitgefühl ist bei mir eben so eine Sache. Ich liege währenddessen die ganze Zeit im Bett und verspüre keinerlei Bedürfnis, aufzustehen. Was seltsam und eigenartig ist, weil ich normalerweise derartigen Tiraden auszuweichen vermag. Beiläufig fragt er mich, ob ich weiß, ob der PC-Pool auch sonntags offen hat. Ich weiß es nicht und lasse es mir nicht nehmen, ihn daraufhin zu weisen, dass er, mein liebeswerter Mitbewohner, seit neusten an der Quelle sitzt. Er müsse sie nur nutzen. Jeffs Wangen färben sich unvermeidlich rot. Eine Reaktion, die ich schon lange nicht mehr bei ihm gesehen habe und erstaunlicher Weise weicht er dem Thema dieses Mal nicht aus, sondern berichtet mir von dem gestrigen Treffen. Selbst von den peinlichen Momenten, die es anscheinend reichlich gegeben haben muss. Aus alldem höre ich heraus, dass Jake nicht nach einem Date fragen wird. Vielleicht ist es eine gemeinsame Übereinkunft. Vielleicht eine stille Bitte. Ich vermute es nur. Doch irgendwas in mir will sich damit nicht zufrieden geben. Es muss doch eine Möglichkeit geben, Jeff von Abel zu Jake zukriegen, ohne dass mein Kindheitsfreund der Böse ist. Vielleicht sollte ich an Jakes inneren Macho appellieren. Oder an Jeffs in Ketten gelegten Nymphomanen. Er müsste nur ein klein wenig mehr Arschloch sein und dann würde er sich etliches ersparen können. So, wie ich. Wieder schießt mir durch den Kopf, dass jetzt der perfekte Moment wäre, um es anzusprechen. Doch mein Kopf scheint augenblicklich in einem akuten Stillstand verfallen zu sein. Nichts regt sich. Ich habe Angst vor seiner Reaktion. Seinen Worten. Angst vor dem, was ich mache, wenn es Jeff wirklich stören sollte. Ich sehe dabei zu, wie er murmelnd und flüsternd Unterlagen auf seinem Schreibtisch hin und herräumt, ohne, dass ich einen wirklichen Sinn dahinter erkennen kann. Jeff scheint wirklich durcheinander zu sein. Hin und hergerissen. In gewisser Weise kann ich es nachfühlen. Ich bin zurzeit auch kein gefestigtes Beispiel. Langsam wühle ich mich wieder aus der Bettdecke. Ich brauche frische Luft. Saubere, durch Nikotin und Teer gefilterte Luft. Und ich muss hier raus. Draußen stecke ich mir eine Fluppe zwischen die Lippen. Ich lasse das Feuerzeug klicken und nehme es runter, ohne die Zigarette entzündet zu haben. Was ist nur los mit mir? Ich stecke die Zigarette zurück, fahre mir durch die ungekämmten Haare und sehe mich um. Diese anhaltende Rastlosigkeit geht mir auf den Geist. In diesem Moment fällt mir Jeffs Frage wieder ein und nun habe ich immerhin ein gewisses Ziel. Ich setze mir die Kopfhörer auf und trabe los. Beim Hauptgebäude angekommen, gehe ich, ohne weiter beachtet zu werden, in die zweite Etage und bleibe vor dem PC-Pool stehen. Heute ist er geschlossen. Jeffs Frage ist damit beantwortet. Ich ziehe mein Handy hervor, tippe eine Nachricht an Jeff. Danach lese ich endlich auch Kains. Ich sehe, dass er online ist und prompt zu schreiben beginnt. - Wo bist du?- - Unterwegs-, gebe ich kurzangebunden zurück. -Wo?- Ich widerstehe dem Drang, etwas Dummes, wie Planet Erde oder Campus zu schreiben und antworte mit dem Tatsächlichen. Hauptgebäude. Ich erhalte keine Rückantwort, mache ein Foto vom Öffnungszeitenschild, weil Jeff danach fragt und trabe wieder zum Ausgang. Als ich die Treppen runterkomme, kann ich in einiger Entfernung den Schwarzhaarigen erkennen. Lässig lehnt er an der Spintreihe und schaut geradewegs in meine Richtung. Unweigerlich verlangsamt sich mein Schritt und die letzten Stufen nehme ich bedächtig und zeitschindend. Wie um alles in der Welt kann es sein, dass er genau jetzt auch hier in diesem Gebäude ist? Im Ernst? Wie? Er beobachtet mich, ohne irgendeine Geste zu machen. Er sieht mich nur an. Ich folge ohne Aufforderung und bleibe mit den Steckern in den Ohren vor ihm stehen. Seine Lippen bewegen sich. Ich lausche dem Takt der Musik. ´In your mind. Hold me like you never lost your patience. Tell me that you love me more than hate me. All the time. And you're still mine´. „…unhöflich ist…“ Ich höre nur die letzten seiner Worte laut, als er mir mit beiden Händen die Stecker aus den Ohren zieht. Er behält sie in seiner Hand. „Ist das eine Beschwerde?“, frage ich ruhig. „Vielleicht.“ „Ja oder Nein?“, hake ich nach. Kain schmunzelt und lässt die Kopfhörer los. „Du hast meine Nachricht ignoriert.“ „Ich war schon im Bett.“ Kains wachsame, braunen Augen mustern mich. Sie gleiten mein Gesicht entlang, so als würde er dadurch besser einschätzen können, ob ich schwindle oder nicht. Ich lüge nicht, denn ich lag im Bett. Ich habe nur noch nicht geschlafen, auch wenn meine Aussage derartiges impliziert. Seinem Blick halte ich stand. Das erste Mal seit langem. „Wie war dein Geburtstagskuchennachtisch?“, frage ich, als er einfach nicht weiter spricht. Ich schaffe es allerdings nicht, den spottenden Unterton zu kaschieren. „Schokoladig“, antwortet er ruhig. Fast Schmelzend. Nun weiche ich seinem Blick doch aus. „Mit viel Sahne?“, bohre ich weiter. Ich quäle mich eigentlich nur selbst. Kain atmet tief ein. „Wollen wir jetzt reden oder weiter dieses kleine Spielchen spielen?“ Sein Finger zeigt ein paarmal zwischen uns hin und her. „Weiß nicht, haben wir Zeit zum Reden oder planst du gleich wieder mit Marvin essen zu gehen?“ „Das Spielchen also.“ „Hm.“, erwidere ich zuckend. „Wenn ich es nicht besser wüsste, dann könnte ich denken, dass du auf meinen besten Freund eifersüchtig bist.“ „Gut, dass du es besser weißt…“ „Okay, verstanden, du kannst ihn nicht leiden.“ „Wohl eher er mich nicht...“, berichtige ich. Kain schaut mich fragend an und scheint sich an etwas zu erinnern. Anscheinend ist ihm der Umstand nicht neu. Und ich kann einen weiteren Namen auf meine Anti-Liste setzen. „Marvin kriegt sich wieder ein“, beschwichtigt er. „Ist mir egal...“ „Robin...“ Mein Namenperlt mit dieser besonderen Betonung von seinen Lippen. Ich spüre einen feinen Schauer, der sich über meinen Nacken bis zu meinem unteren Rücken zieht. Ich weiß nicht wieso, aber ich bleibe still. „Was hat Abel gesagt?“, fragt er gelassen, lehnt sich wieder zurück gegen den Spind und verschränkt die Arme vor der Brust. Ich hadere mit mir. Sollte ich ihm erzählen, dass mir Abel droht. Sollte ich ihm beichten, dass ich es ebenso tue? Dass wir uns gegenseitig fast an die Gurgel gegangen sind und dass meine Unterredung mit ihm im Grunde gar kein Ergebnis brachte. Abgesehen von dem offensichtlichem, dass ich Abel nur noch weniger mag. Nein, das muss er alles nicht wissen. Ich hole tief Luft, verschränke meine Arme ebenfalls und sehe überall hin, nur nicht ihn an. „Er meinte, dass es ihm sicher sehr schwer fallen wird, vor Jeff zu verheimlichen, was er gesehen hat“, sage ich so ausdruckslos, wie ich nur kann. Mein Gegenüber mustert mich kritisch. Ich zucke mit den Schultern. „Und da Arschkriecherei nicht in mein Repertoire gehört, nehme ich an, dass es bald jeder weiß“, ergänze ich und sehe, wie zur Bestätigung Kains Augenbrauen nach oben zucken. Er erwidert nichts, sondern schließt die Augen. Möglicherweise ist nun doch der Zeitpunkt gekommen, um das Ganze zu beenden. Schnell und schmerzlos. „Vielleicht sollten wir…“, beginne ich. „Nein!“ „Du weißt gar nicht, was ich sagen wollte.“ „Aber ich kann es mir denken…und nein!“ „Und wenn ich jetzt vorgeschlagen hätte, für einen Quicki auf Klo zu verschwinden?“ Kain sieht mich an, hin und her schwankend, ob er meiner Aussage Glauben schenken soll oder nicht. „Trotzdem nein“, sagt er und klingt dabei erstaunlich sicher. Wie kann er nur so ruhig sein? Es ist mir ein Rätsel. Stört es ihn nicht? Ich denke an nichts anderes mehr. Ich denke auch daran, dass es Sina weiß und dass mich das nicht ansatzweise aufgewühlt hat. Nicht mal ein bisschen. Doch dass Abel uns gesehen hat, macht mich rasend. Der Gedanke daran, dass Jeff es erfahren könnte, ausgerechnet von ihm, verursacht mir ungewöhnlich viel Unwohlsein. Ich weiß nicht mal wieso. Es ist schließlich nur Sex und Jeff hat mir selbst viel verheimlicht. Er braucht sich also nicht wundern, wenn ich damit bei ihm nicht hausieren komme. „Es scheint dich überhaupt nicht zu stören. Wieso nicht?“ Kain antwortet nicht sofort, sondern zuckt erstmal nur mit den Schultern und wirft die Hände in die Höhe. „Keine Ahnung, es ist nur Abel...“ „Der es Jeff sagt...“ „Und?“ „Das darf er einfach nicht“, belle ich aufgebracht. „Wieso ist es ein Problem für dich?“ „Wieso für dich nicht?“, frage ich Retour. Immerhin hat Kain mehr Image einzubüßen als ich. „Aber es ist doch nichts dabei. Es ist nur... Eigentlich wundert es mich nur, dass sie es nicht längst mitbekommen haben...Ich meine, Sina weiß es auch und wir sind nicht unbedingt zurückhaltend.“ Meine Gedanken hängen dem abgebrochenen Satz nach. „Ist es, weil du noch sauer bist, dass Jeff dir nicht selbst von Abel erzählt hat?“, fährt er fort. „Ich bin und war nie sauer, dass er mir nicht von Abel erzählt hat“, zische ich schärfer als gewollt. Kain legt bedeutungsvoll seinen Kopf schief. „Ich war sauer, dass er mir nicht anvertraut hat, dass er schwul ist. Abel hätte er mir ruhig verheimlichen können. Ich wünschte sogar, mir wäre seine Existenz auch jetzt noch unbekannt“, erläutere ich. Kain schnauft leise und schafft es nicht, sich das Grinsen zu kneifen. Ich verstehe es trotzdem nicht. Er sagt, es sei nichts dabei. Es sei eben nur Sex. Also nichts von Bedeutung, weshalb es ruhig jeder erfahren kann. Kain lehnt weiterhin gegen den Spind und schaut mich an. „Was?“, frage ich, weil ich seinen Blick nicht ganz deuten kann. „Ich weiß nicht, ich kann mir nicht vorstellen, dass dein und Abels Gespräch so gesittet abgelaufen sein soll.“ „Von gesittet habe ich auch nie etwas gesagt. Ich hab es dir nur grob zusammengefasst. Ich wollte ihn einfach nur bitten seinen Mund zu halten...“ Kain seufzt. „Was ist passiert?“ „Wie gesagt, ich wollte ihn einfach nur bitten seinen Mund zu halten... aber dann hat er etwas Fieses gesagt. Ich auch, dann wieder er und dann ich. Und dann hat er mich geschubst und ich ihn... Du weißt ja.“ Kains Augen weiten sich von Wort zu Wort. „Habt ihr euch...“, beginnt er und streckt seine Hand nach mir aus. Er zieht mich am Kragen meiner Jacke näher. Und obwohl ich seine Vermutung gestisch verneine, spüre ich, wie seine warme Hand vorsichtig den Kragensaum meines Pullovers runterzieht und er einen kurzen Blick auf die freigelegte Haut wirft. Kain schließt seine Augen und atmet tief ein. „Ich bin kein Wilder. Ein blaues Auge reicht mir“, beschwichtige ich. Mittlerweile leuchtet es schon Lila. „Lass mich raten, du hast trotzdem weiter provoziert...“ „Nicht mehr, als er mich...“ „Und denkst du nicht, dass das zur Eskalation beigetragen haben könnte?“ „Möglicherweise. Aber ich kann mir ja nicht alles gefallen lassen...“ „Ich meine ja nur, dass du dieses Verhalten besser dossieren könntest“, erklärt er hoch diplomatisch. Ich bin beeindruckt und würde applaudieren, wenn es nicht harte Kritik an meiner Art und Weise wäre. „Ab und an ein bisschen.“ Kain formt zur Verdeutlichung seines Maßnahmenvorschlags einen minimalen Abstand zwischen Daumen und Zeigefinger. Erweitert ihn, um ihn gleich darauf wieder zu verkleinern. Ich greife nach seiner Hand und ersticke die Geste im Keim. „Ich hab es verstanden.“ „Wirklich?“, hakt er nach und betrachtet mich kritisch. Ich drücke seine Hand mit beiden Händen wieder runter und behalte sie gefangen. Kain lächelt und zieht sie nicht zurück. Ich spüre die Hitze, die von ihr ausgeht an meinen Fingern. Auf meine Haut. Erst nach einem Moment entferne ich meine linke Hand und danach auch die Rechte. „Vielleicht“, relativiere ich, wie aus einem Zwang heraus. „Wieso diskutierst du dauernd mit mir, Spatz?“, fragt er und ich funkle ihn wegen des Spitznamens an, zucke aber mit den Schultern. Spaß. Freude. Vielleicht finde ich es auch geil. „Wäre doch sonst langweilig“, argumentiere ich flapsig. Kain sieht kurz an mir vorbei, packt mich ruckartig am Kragen und zieht mich zu sich heran. Ich stoße leicht quietschend die Luft aus, weil es mich überrascht. Mein Körper durchfährt ein aufgeregtes Kribbeln, welches sich in meiner Magengegend bündelt und dort verweilt. Kain grinst gewinnend und fährt dann mit seinen braunen Augen mein Gesicht ab. Diesmal als zärtliche Geste. „Du kannst einfach nicht anders, oder?“, flüstert er. „Wäre doch son...“, setze ich wiederholt an, doch Kain unterbricht mich mit einem gierigen Kuss. Ich fühle mich sofort wie benebelt. Das vertraute Aroma seiner Lippen wird durch das fieberhafte Verlangen in mir nur noch verstärkt. Mein Körper bettelt und giert nach seinen Berührungen und dem Gefühl, ihn ganz nah bei mir zu spüren. Wir hätte niemals damit anfangen dürfen. Das Küssen macht mich weich und schrecklich dumm. Wir hören eine Tür ins Schloss fallen und lösen uns augenblicklich voneinander. Kain räuspert sich und streicht mir die Jacke glatt. „Ich werde noch mal mit Abel reden. Vielleicht bin ich etwas besser in Kehrseite tätscheln, als du.“ In meiner Hosentasche vibriert es. „Wie eloquent du das ausgedrückt hast“, säusele ich und ziehe mein Handy hervor. Ein verpasster Anruf von Brigitta. Mehrere Nachrichten. Seit wann bin ich so beliebt? „Du solltest es Jeff einfach sagen“, rät mir Kain. „Was? Sonst machst du es? ...Ich muss los“, sage ich, schüttele den Kopf, ohne ihm zu erzählen, dass ich es gestern beinahe getan hätte und seither nur noch mehr zweifele. Ich wende mich ab und gehe ich ans Telefon. „Sei gegrüßt, Sahnebaiser...“, flötet meine Lektorin durchs Telefon. „Werden dir jemals diese zuckrigen Begrüßungen ausgehen? Sie sind scheußlich.“ „Niemals, mein kleiner Sour Drops.“ Ich stöhne gequält auf. Nicht nur wegen der sich anbahnenden Zahnschmerzen. „Hey,…wir könnten auch mal zusammen essen gehen…“, ruft mir Kain hinterher und ich drehe mich wieder zu ihm um, lasse das Telefon dabei kurz sinken. „Machen wir doch…ständig in der Mensa“, erwidere ich abschließend und ebenso laut. Ich lasse ihm keine Zeit, etwas zu erwidern und gehe schnurstracks Richtung Ausgang. „Okay, was willst du?“, frage ich ruppiger als nötig, als ich wieder rangehe. „Zuckerhase, du solltest das Angebot annehmen. Ein wenig Zerstreuung täte dir ganz gut...“ „Beim Mittagessen?“ „Für mich klang, dass nach einem Date.“ „Mach dich nicht lächerlich.“ Brigitta seufzt, als ich das sage und murmelt mehrere Male `Oh man, Oh man`. Ich kann mir vorstellen, wie sie ihre Brille zurück auf die Nasenwurzel schiebt und ihren Kopf schüttelt. „Hast du die Reiseunterlagen bekommen?“, erkundigt sie sich, ohne weiteren Small Talk. Ich weiß es sehr zu schätzen. Ich bin sowieso nicht ganz bei der Sache. „Ja.“ „Wirst du es schaffen?“ „Hab ich denn eine Wahl?“ „Du klingst, als würde ich dich zu einer Untat zwingen.“ „Ihr begeht die Untat, weil ihr mich auf naive Mädchen loslassen wollt. Ich werde Träume vernichten, das ist euch klar? Nicht, dass es mich stört“, erkläre ich wahrheitsgemäß und bleibe vor dem Wohnheim stehen. „Du bist gar nicht so hart, wie du immer tust...“ Ich ziehe mir wieder eine Zigarette hervor, schiebe sie mir zwischen die Lippen und zünde sie diesmal an. Aus den Augenwinkel heraus sehe ich Jeff und Abel im Foyer stehen und reden. Sofort wende ich meine volle Aufmerksamkeit den beiden zu. Ich spüre, wie mein Herz zu rasen beginnt, wie die Zigarette auf und ab wippt, weil meine Hände zittern. „...hast du gehört?“ Damit holt mich Brigitta kurz zurück. „Ehrlich gesagt nicht. Ich melde mich später noch mal, okay?“; sage ich und lege auf. Im selben Moment blickt Jeff zu mir und bewegt sich zur Tür. Als Abel erkennt, wen sein Freund entdeckt hat, ändert sich sein Gesichtsausdruck schlagartig. Ich könnte schwören, dass es in seinen matten Iriden zu funkeln beginnt. Nur für einen Moment, aber so intensiv wütend, dass sich mein Magen einmal mehr verdreht. Jeff drückt energisch die Tür auf. „Ist es wahr?“ ...................................................................................................................... PS: Ich danke euch von Herzen! Aufrichtig und ehrlich, auch wenn ich eine schrecklich lahme und unbefriedigende Kommiebeantworterin bin!! Es tut mir echt leicht T__T Ich verspreche, dass ich es morgen nachhole und hoffe, ich kann euch mit dem neuen Kapitel gnädig stimmen. Ihr seid die Besten Kapitel 25: Von der Kunst, zwischen den Zeilen zu lesen ------------------------------------------------------- Kapitel 25 Von der Kunst, zwischen den Zeilen zu lesen Jeder Muskel in meinem Rücken scheint mit einem Mal zum Bersten gespannt. Ich ziehe die Schultern soweit zurück, dass ich problemlos rückwärts meine Arme verschränken könnte und sehe dabei zu, wie mein Mitbewohner mit undefinierbarer Miene auf mich zusteuert. Er hat eine kleine Falte zwischen den Augenbrauen. Ist er wütend? Verärgert? Sein linker Mundwinkel zuckt. Allerdings in die positive Richtung, nach oben. Es wirkt schelmisch. Also ist er amüsiert? Ich bin verwirrt. Anscheinend braucht meine Emotionserkennung einen Reboot. Mein Blick wandert unruhig zu Abel, der hinter Jeff her trabt und mich mit matten blauen Augen fokussiert. In seinem Gesicht regt sich nichts, außer der permanenten Dämlichkeit. Somit habe ich immer noch kein Anhaltspunkt zu der aktuellen Gefühlslage der einzelnen Parteien. „Und ist es wahr?“, fragt mein Mitbewohner erneut und bleibt unvermittelt vor mir stehen. Sehr nah. Sehr direkt. „Was?“, erfrage ich vorsichtig und sehe unabsichtlich wieder an Jeff vorbei zu Abel. In dessen Gesicht hat sich immer noch nichts getan. Ich könnte auch einen Esel beim Trampeln zu schauen oder einer Kuh beim Kauen. Ich schaue zurück zu meinem Jugendfreund. Dessen Mundwinkelzucken ist noch da. „Dass du Sina halbnackt abserviert hast? Du mieser Filou.“ Mit dieser Aussage stößt er mir seine Handfläche gegen den Arm und ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Ich bin mir gerade nicht mal sicher, was mein Gesicht macht. „Wer erzählt das?“, frage ich atemlos. Ich habe unbeabsichtigt während Jeffs Männergebärden den Atem angehalten und merke schnell den Mangel an Sauerstoff. Wer um Himmelswillen könnten Sina und mich gesehen haben? Es ist doch niemand auf dem Campus. „Sie! Sie hat sich dir lüstern an den Hals geworfen und du hast sie praktisch stehen gelassen“, fasst er malerisch zusammen. Ich greife mir an den Kopf. „Das hat sie dir gesagt?“, frage ich argwöhnisch. Hölle, was hat sie ihm dann noch gesagt? Die Panik findet mit heftigem Herzschlag zu mir zurück. Ich bekomme gleich einen Herzinfarkt. Mit Sicherheit jeden Augenblick. Ich spüre schon den verdächtigen Schmerz in meinem linken Oberarm. Wobei auch das dem Schlag geschuldet sein kann, den mir Jeff verpasst hat. Mein Körper begreift allmählich, dass er auch ohne Zutun einer konkreten Ansage von allein atmen muss. Allerdings begreift er das sehr langsam. Vielleicht helfe ich ihm einfach etwas aus. Atmen. Atmen. Atmen. Beinahe sage ich es laut. „Nein, hat sie nicht. Sie hat mit Kati telefoniert und ich hab es zufällig gehört...“, erklärt er. „Du hast sie belauscht“, stelle ich richtig. Jeff sieht ertappt aus und zögert, bevor er sich rechtfertigt. „Ein bisschen vielleicht... Okay, ja, aber darum geht es nicht!“ Ich runzele die Stirn und sehe ihn entgeistert an. Innerlich kämpfe ich noch immer mit der Aufregung über die mögliche Entdeckung von Kain und meiner sexuell sehr aktiven Neugier. Ich ziehe ein letztes Mal an meiner Zigarette, die sowieso nur noch ein trauriger Stummel voll Asche und Selbstmitleid ist und bereue es. Der Geschmack des Filtermaterials breitet sich auf meiner Zunge aus. Ich verziehe angewidert das Gesicht und schnipse die Zigarette energisch ins Beet. „Die Frage ist eher, wieso lehnst du eine heiße Nacht mit einer hübschen, willigen Frau ab?“ „Wieso nicht?“ „Wer bist du?“, gibt Jeff entgeistert retour. „Echt jetzt?“, frage ich entgeistert, „Du hast das ausschlaggebende Blond vergessen...“ Hört mir eigentlich nie jemand zu? Blond ist nicht mein Fall. „Genau, Robin steht mehr auf dunkelhaarig...schwarz zum Beispiel“, gibt nun auch Abel zum Besten, sieht mich schelmisch an und ich schwöre, dass ich etwas nach ihm werfen würde, wenn ich irgendwas zur Hand hätte. Gern etwas Spitzes, Scharfes oder Schweres. Gern alles zusammen. Mir bleibt allerdings nichts anderes übrig, als bitter zu lächeln. „Also doch die kleine Inderin? Oder vielleicht...“, beginnt Jeff zu mutmaßen und legt grübelnd seine Hand ans Kinn. Nun ist mir doch wieder nach Weinen. Wo ist mein Bett, wenn ich es brauche? Ich will mich einrollen und in Embryonalstellung den Rest meiner Tage fristen. „Verdammt noch mal, sie hat einen Freund!“, belle ich aggressiver als gewollt und unterbreche ihn, bevor er weitere dumme Mutmaßung von sich geben kann. „Als ob dich das stört“, kontert mein Mitbewohner lachend und ich spüre diesen alles beschwörenden Stich mitten ins Herz, der sich schnell in Wut umkehrt. „Klar, weil ich das Arschloch vom Dienst bin...schon verstanden.“ Ich streiche mir durch die Haare und mache das, was ich am besten kann. Mürrisch gehen. Doch diesmal mischt sich Enttäuschung dazu und mein frustrierter, missmutiger Gang ist bei weitem nicht so effektiv und anschaulich. „Robin...so war es nicht gemeint“, ruft mir Jeff hinter. Ich drehe mich noch mal um, lasse ihm eine der Ein-Finger-Gesten zukommen. Allerdings keiner der Netten. Danach schiebe ich meine Hände zurück in die Hosentaschen. Ich fluche leise vor mich hin, während ich ins Wohnheim verschwinde. Verdammt. Vermaledeit und Avada Kedavra. Hätte ich doch mit zwölf meinen Brief bekommen. Ich wäre anscheinend ein vortrefflicher Todesser geworden. Wieso führe ich mich eigentlich so auf? Jetzt wäre der passende Moment gewesen, ihm klar und deutlich mitzuteilen, dass ich die Blondine nicht nötig habe, weil mich ein gewisser Schwarzhaariger viel besser befriedigt. Doch nichts. Ich bin wie ein Volltrottel davongerannt und rege mich jetzt auch noch darüber auf. Irgendwas läuft hier ganz gewaltig falsch. Wieso stelle ich mich an, wie ein Kleinkind, wenn es darum geht, Jeff einfach die Wahrheit zu sagen? Nein, ich stelle mich an, wie eine Primaballerina bei Schokoladeneis essen im rosafarbenen Tütü. Immerhin sagen kleine Kinder immer die Wahrheit, egal ob man sie hören will, oder nicht. Ich allerdings schaffe es nicht einmal, meinem Kindheitsfreund, meinem Jugendfreund und eigentlich auch besten Freund zusagen, dass ich experimentierfreudiger bin als geahnt. Was um alles in der Welt ist mit meiner Schlagfertigkeit und meiner Gelassenheit passiert? Ich verstehe mich selbst nicht mehr. Im Zimmer angekommen führt mein Gehirn weiterhin beharrlich ein lautstarkes Zwiegespräch mit Kopfschmerzen als Nebeneffekt. Ich falle direkt ins Bett und drücke mein Gesicht ins Kissen. Wenn ich lange genug die Luft anhalte, dann haben sich meine Probleme definitiv erledigt. Allerdings ist es keine wirkliche Lösung. Na ja, nur eine endgültige. Ich drehe mich auf den Rücken, starre kurz an die Decke und richte mich gleich wieder auf. Es ist nicht meine Art. Ich setze mich an meinen Computer und schaue seit langem Mal wieder in meine Emails. Brigitta hat mir ein paar Unterlagen zugeschickt. Ich ignoriere sie. Weitere Mails sind von der Fachschaft, AStA und des Qualitätsmanagements der Uni. Es gab bisher nur einen Kurs, bei dem ich beim Ausfüllen des Validierungsbogens wirklich Freude empfand. Methoden der Biochemie und Molekularbiologie beim Frosch. Froschschenkel provencal. Ich habe aus ihm schriftliches Frikassee gemacht. Und es war gut. Richtig gut. Ich zergehe selbst jetzt noch in berauschender Schwelgerei bei der Erinnerung meiner perfekt ausformulierten Diffamierung seiner unqualifizierten Lehrereigenschaften. Hätte ich doch nur sein Gesicht dabei sehen können. Ich finde auch eine Mail der Professorin, die mir das Tutorium aufgedrückt hat in meinem Postfach. Sie bittet mich um einen Terminvorschlag und bestätigt die Worte der hübschen Inderin. Sie sei zufrieden mit meiner Leistung und sie habe gutes Feedback erhalten. Ich kann es nur belächeln, denn ich weiß ja, dass die sogenannte Rückmeldung nur von einer Person kam. Mit dem Gedanken an die schöne Schwarzhaarige kommt auch mein schlechtes Gewissen zurück und frisst sich schmerzhaft langsam durch meine Eingeweide. Danieder ist der kurze Genuss meiner teuflischen Wesensmerkmale. Ich habe mich noch immer nicht entschuldig. Mich nicht erklärt. Auch wenn jegliche Erklärung nichts daran ändert, dass ich mich wie ein Idiot verhalten habe. Mark hat Recht. Ich verdiene den Kompost. Ich ziehe schuldbewusst mein Handy hervor und öffne den Chat mit Shari. Im ersten Moment weiß ich nicht, was ich ihr schreiben soll. Ich tippe mehrere Varianten ein und bin mit keiner zufrieden. Zu Kurz. Zu unpersönlich. Zu unglaubwürdig. Wie entschuldigt man sich richtig? Ich hab es in Grunde nie wirklich gelernt. Lernt man es überhaupt? Nicht-Entschuldigungen sind wesentlich einfacher, weil man die Schuld von sich fortschieben kann und nicht dazu gezwungen ist, sich selbst zu überdenken. Ich bin mir durchaus bewusst, dass ich mich wie ein Vollidiot verhalten habe und auch, dass Shari eine derartige Behandlung nicht verdient hat. Kurzerhand tippe ich genau das ein und sende es ab. Danach atme ich tief ein, lege das Telefon zufrieden zur Seite und falle fast vom Stuhl, als es im selben Moment zu klingeln beginnt. Erschrocken starre ich auf das Display, welches mir Sharis Namen ankündigt und lauthals rumbimmelt. Sie ruft mich an. Jetzt. Wieso? Ich hasse es, wenn Leute unerwartete Dinge tun. Kann sie nicht einfach Blödmann zurückschreiben, wie jeder andere juvenile Smartphoneverrückte auch? Etwas hilflos sehe ich dabei zu, wie es auf meiner Tischplatte tanzt und schlucke schwer. Jetzt nicht ran zu gehen, wäre ein definitives Armutszeugnis. Widerstrebend bestätige ich den grünen Hörer. „Hey…“, entflieht mir langgezogen und zwei Oktaven höher also für mich normal ist. Ein wenig verräterisch, aber was soll ich sagen? Ich bin gerade kilometerweit von meiner üblichen Komfortzone entfernt und führe mich auf, wie der letzte Mensch. Oder auch, wie ein Clown. Der letzte Clown. Urkomisch. „Hey“, erwidert sie mit sanfter Stimme und mein dahin tropfendes schlechtes Gewissen wird zum reißenden Fluss samt Stromschnellen. Das war sicher ihr Plan. Sie weiß, wie süß sie ist und das nutzt sie schamlos los. Wie perfide. Dass es nur ein weiterer fadenscheiniger Versuch ist, die Schuld von mir zu schieben, ignoriere ich wie immer gekonnt. Darin bin ich meisterlich. „Es tut mir leid, dass ich dich verärgert habe, Robin. Ich dachte wirklich, dass…“, beginnt sie aufgeregt, doch ich unterbreche sie sofort. „Himmel, Shari, nein. Du musst dich nicht entschuldigen. Ich hab mich falsch verhalten… also bitte entschuldige. Ich hatte einfach einen beschissenen Tag… und das ist im Grunde auch keine Entschuldigung dafür, dass ich derart scheiße war“, erkläre ich mich. Eher schlecht als recht. Danach folgt betretenes Schweigen auf beiden Seiten, bis Shari leise kichert. „Weißt du, ich habe gar nicht damit gerechnet, dass du rangehst“, bekennt sie lachend. Ich schnaube zustimmend. „Ja, ich auch“, gestehe ich. „Gut, dass du es doch getan hast. Ich hasse es, zu streiten. Wirklich sehr. Ich muss dann immer weinen“, beklagt sie und ich merke so gleich, wie es in meine Magen zu rumpeln beginnt. „Das sagst du absichtlich, um mir ein schlechtes Gewissen zu machen, oder?“ „Funktioniert es?“, gibt sie keck retour. Ja, es funktioniert. Meisterlich. Die Vorstellung, dass Shari wegen mir weint, versetzt mir tatsächlich einen Stich. Ich höre am anderen Ende des Telefons etwas in einer fremden Sprache und die kleine Inderin seufzt theatralisch. „Ja, Papa…“ dringt gedämpft zu mir und nun kann ich mir ein Grinsen nicht mehr verkneifen. Sie antwortet ebenfalls noch etwas auf Hindi. Allerdings scheint es nicht den gewünschten Effekt zubringen, denn gleich darauf vernehme ich erneut das tiefe Brummen ihres Erzeugers. „Ich komme ja… Entschuldige, Robin. Wir haben heute Waschtag und es herrscht blankes Chaos. Meine Brüder laufen seit einer Stunde nur noch in Socken durch das Haus und wir kriegen sie nicht eingefangen.“ Eine urkomische Vorstellung. Ich sage nichts, sondern grinse nur vor mich hin. “Hey, lass uns doch nächste Woche zusammen Mittag essen. Du kannst Kain mitbringen“, schlägt sie freudig vor, wirft noch ein begeistertes ‚Bis dann' hinterher und legt auf, ohne, dass ich antworten kann. Ich hätte es sowieso nicht gekonnt, denn mein Gehirn arbeitet fieberhaft daran zu verstehen, wie sie das mit Kain meint. Seit der Begegnung im Hauptgebäude mit Kain liegen die Kopfhörer um meinen Hals und spielen munter irgendwelche Songs ab. Ich hörte die ganze Zeit über nicht hin. Erst jetzt. Im Takt zu dem dumpf herausdringenden Song von Sam Smith `Like i can´ lehne ich mich in meinem Stuhl zurück. `He could be a sinner, or a gentleman. He could be your preacher. When your soul is damned´. „Hey,...“, dringt es leise von der Tür aus zu mir. Als ich mich mit dem Stuhl umdrehe, sehe ich Jeff im Übergang stehen. Er lehnt an meinem Kleiderschrank und schaut schuldbewusst auf seine Hände. Weil ich nichts sage, kann ich bald dabei zusehen, wie er sich auf der Wange rumkaut und ab und an vorsichtig zu mir schmult. Er denkt, ich schmolle. Er glaubt, meine Reaktion war übertrieben. Vielleicht war sie es. ´He could be a stranger, you gave a second glance. He could be a trophy, of a one night stand. He could have your humour, but I don't understand, 'cause...` „Bist du sauer?“, fragt er mich und ich merke, wie er sich mir vorsichtig nähert und neben meinem Schreibtisch stehen bleibt. Mit der Hüfte lehnt er gegen die Tischplatte. Ich lasse ihn nicht aus den Augen, während sein Blick über meinen Schreibtisch gleitet. Er streckt seine Hand nach der kleinen Voodoopuppe aus, die artig neben meinem Bildschirm sitzt. „Von Lena, oder?“ Ich sehe ihn weiterhin nur an. Jeffs Zeigefinger tippt gegen den kleinen Stoffbauch. Er seufzt. Mein Schweigen quält ihn besonders. Doch ich habe keine Freude daran, ihn damit zu ärgern. „Das vorhin... ich hab es wirklich nicht so gemei-“ „Doch hast du“, schneide ich ihm das Wort ab, „Solltest du dich nicht eigentlich mit Abel vergnügen?“ Wieder sind meine Worte bissig und gemein. Jeff sieht auf seine Hände, weil er weiß, dass ich ihn damit nur noch ein Stück weiter von mir fort stoßen will. „Robin, hör zu, ich weiß, dass es gerade nicht einfach für dich ist...René, er...“ „Nicht...“ Mit der Erwähnung seines Namens ist es wieder da. Das Gefühl, zu fallen. „Ich weiß, er fehlt dir und...“ „Jeff...“ „Ich will nur, dass du weißt, das ich...“ „Lass es einfach... bitte...“, unterbreche ich ihn energisch und stehe auf. Ich will nicht darüber nachdenken, will nicht darüber reden. Ich fahre mir mit beiden Händen durch die Haare und seufze. So laut, dass es auch Jeff bemerkt und sich von mir entfernt. Unwillkürlich greife ich an meine Hosentasche, ertaste mein Portemonnaie mit dem Bild von René. Die kommende Woche ist die schwerste Woche des Jahres für mich. Jeff weiß das. Genauso, wie ich weiß, dass er für mich da ist, wenn ich es zulasse. „Ich wünschte, du würdest mir einfach mehr erzählen, dann würde ich nicht dauernd in dein Minenfeld treten. Ich bin nicht dein Feind. Ich bin dein Freund“, sagt Jeff betrübt. Nun drehe ich mich zu ihm um. Er steht mit gesenktem Kopf mitten im Zimmer. Er hat nicht Unrecht. Ich könnte diese Momente entschärfen, wenn ich nur offener wäre. Aber es fällt mir so schwer. Abwartend sieht mich Jeff mit einem Mal an und abermals erfasst mich dieses Kitzeln, es ihm einfach zusagen. Gradeheraus. Ohne weiteres Gelaber. Meine Überlegung wird je unterbrochen, als es plötzlich heftig an unserer Tür hämmert. „Jeff, komm endlich...“, ruft Abel von draußen und setzt die Klopferei fort. Jeff hat seinen Freund also draußen abgestellt, um mit mir zu reden. Irgendwie ehrt es mich. „Moment!“, keift Jeff zurück und ächzt sein klassisches Jeff-Seufzen. Und dieses Mal kann ich deutlich sehen, dass es ihn furchtbar frustriert. Fast schon nervt. „Wenn er Löcher in die Tür haut, dann bezahlst du das“, sage ich, während Jeff die Augen schließt und sich durch die gestylten Haare fährt. Alles fällt in die perfekte Position zurück. „Wir haben Kinokarten für ein Steven King- Spezial. Beide „Es“- Filme. Danach kommt auch der alte noch.“ „Das ist der mit dem Clown, oder?“, frage ich. Steven King ist nicht unbedingt einer meiner Lieblingsautoren. Eigentlich habe ich bisher nur ´Friedhof der Kuscheltiere´ von ihm gelesen und kann mich kaum noch daran erinnern. „Für dich kriegen wir sicher noch eine Karte“, schlägt er vor. „Du weißt, ich bin kein Kinogänger.“ Und abgesehen von der fehlenden Lust, sinnlose Filme zu gucken, habe ich so gar keine Lust auf einen gemeinsamen Abend mit Pat und Patachon. „Aber sie sollen echt gut sein...“, versucht er es ein weiteres Mal und scheint schon beim Aussprechen zu merken, dass seine Argumentation im Raum verpufft. „Verstanden. Ich gehe mal lieber, bevor er wirklich noch ein Guckloch hineinschlägt.“ Er deutet mit dem Daumen in Richtung Tür, zieht seine Augenbrauen vielsagend nach oben und grinst schief. Für einen kurzen Moment sieht es so aus, als würde er noch etwas sagen wollen, doch stattdessen holt er tief Luft und brüllt Abel durch die Tür hindurch entgegen, dass er jetzt rauskommt und keine Rücksicht auf seinen Kopf nimmt, falls dieser beim Öffnen direkt hinter der Tür ist. Ich sehe ihm erfreut nach. Als Jeff weg ist, beginne ich damit, Brigittas gesendete Unterlagen durchzusehen. Eine Agenda mit Punkten, die besprochen werden sollen. Eine Liste mit den Veröffentlichungen für das neue Quartal. Darunter ist auch mein eigenes Buch. Nicht das von Martin und Ryan. Die Namen der anderen Autoren sagen mir nichts, obwohl ich mir sicher bin, dass Brigitta ab und zu von ihnen spricht. Ich bin nicht wirklich bei der Sache. Es gibt zu viele Dinge, die gerade in meinem Kopf herumschwirren. Als dann auch noch mein Handy vibriert und mir eine Nachricht von Kain ankündigt, schwindet der letzte Rest meine Konzentration vollends. -Ich glaube, die Waschmaschine knabbert an meinen Socken.- Es folgt ein Bild von zwei verschieden farbigen Strumpfwaren. Eine hat ein gigantisches Loch, aus welchem einer von Kains Finger herauslugt. Mir entflieht ein amüsiertes Schnauben und ein Lächeln legt sich auf meine Lippen. Ich lehne mich im Stuhl zurück und scrolle unseren Chat durch bis ich zu der Stelle gelange, an der meine hilflosen Entschuldigungen stehen. Wieder wird es schwer in meiner Brust. Mit jedem weiteren Tag der Woche wird es schlimmer für mich. Dieses Mal ist es wesentlich heftiger als sonst. Ich bin nicht nur abgelenkt und mies drauf, sondern auch durcheinander und im Grunde überfordert mit allem. Gefühle sind nicht mein Ding. Jeden Morgen stehe ich bestimmt zwei Stunden unter der Dusche und schaffe es nicht, die anhaftenden Sorgen abzuwaschen. Es ist schleichend, aber präsent. Am Mittwoch ist einer der Höhepunkte erreicht. Ich fühle mich unausgeglichen und angespannt. Brigitta bombardiert mich mit allerhand Kram für das Vorbereitungstreffen und nach der vierten Änderung der Besprechungspunkte, will ich mir die Haare raufen und irgendwas in seine Einzelteile zerlegen. Ich habe keine Ahnung, was sie von mir erwartet. Ich bin weder Eventplaner, noch bin ich Partyclown. Diese Veranstaltung ärgert mich mehr, als ich dachte, dabei hat sie noch gar nicht stattgefunden. Irgendwann werde ich mich dafür bei Brigitta rächen. Meine Rache wird fürchterlich sein. Ein leises Pling und mir wird eine weitere Nachricht von Brigitta angezeigt. Der Anhang trägt den Namen Version 5. Zu viel des guten. „Es reicht“, rufe ich aus, schlage beiden Hände flach auf den Tisch. Ich brauche Zerstreuung und stehe ruckartig von meinem Platz auf, sodass der Stuhl hinter mir umkippt. Es ist mir egal. Ich verabschiede mich nicht von Jeff, der sich schockiert zu mir umdrehte, greife die Packung Zigaretten und streife mir eine Strickjacke über. Dann verlasse ich das Wohnheim. Draußen stecke ich mir eine Zigarette zwischen die Lippen, doch ich zünde sie nicht an, weil ich weiß, dass sie mir nur eine kurzfristige Befriedigung bringt. Ich brauche etwas anderes. Ich drehe mich in die möglichen Richtungen, in die ich gehen kann und lasse die Zigarette in meinem Mund wippen. Irgendwann und nach mehrmaligen Drehen trabe ich los und finde mich wenig später vor dem Wohnheimkomplex von Kain wieder. Ich schiebe die ungebrauchte Zigarette zurück in die Schachtel und streiche mir mit dem Daumen über die Unterlippe. Das Bedürfnis ist noch da. In diesem Wohnheim ist wesentlich mehr los, als in Jeff und meinem. Beim Vorrübergehen höre ich laute Stimmen aus der großen Gemeinschaftsküche. Der Duft von Tomate und Kräutern weht über den Flur. Auf dem Weg nach oben, kommen mir mehrere Bewohner entgegen. Sie wissen, dass ich hier nicht her gehöre, aber niemand sagt etwas. Ich tippe den Türcode ein und bekomme Gänsehaut. In diesem Moment zögere ich zum ersten Mal. Es ist seltsam. Vielleicht hätte ich klopfen sollen, doch von drinnen ist nichts zuhören. Die geöffnete Tür offenbart nur gedämmtes Licht, welches den Raum nur unerheblich erhellt. Trotzdem sehe ich ausreichend. Das Chaos in dem Zimmer der beiden höheren Semester schockiert mich immer wieder aufs Neue. Überall liegen Klamotten, Bücher und unaussprechliche Dinge. An Abels Bettpfosten baumeln ein paar Handschellen, die ich bei meinem letzten Besuch gar nicht bemerkt habe. Ich verspüre augenblicklich das Bedürfnis, auf dem Absatz kehrt zu machen. Wie hält Kain das hier nur aus? Wenigstens steht nirgendwo Geschirr mit Essensresten rum. Immerhin. Vielleicht sollte ich den beiden beim nächsten Mal applaudieren. Mein Blick bleibt an Kains Bett hängen. Er liegt auf dem Rücken und seine Arme verschränken sich locker auf dem Bauch. Kain schläft. Ich bleibe vor dem ruhigen Körper stehen, sehe dabei zu, wie sich sein Brustkorb im sanften Takt seiner Atmung bewegt. Sein Gesicht schmiegt sich seitlich ins Kissen. Er ist vollkommen ruhig, entspannt und trägt ungewohnter Weise nur legere Kleidung. Eine einfache Stoffhose und einen Kapuzenpulli. Vermutlich kam er vom Training. Obwohl es in meinem Inneren noch immer tobt, merke ich, wie sich seine Ruhe auf mich überträgt. Ich fühle mich leichter. Nur weil ich, nein, weil er hier ist. Das Buch, welches er liest, ist zur Seite gerutscht. Ich nehme es vorsichtig von der Bettkante bevor es fällt und drehe es so, dass ich den Einband sehen kann. Es ist eines meiner Bücher. Mittlerweile scheint er beim vierten Roman angekommen zu sein. Es ist die Story mit Martin und Ryan. Neben dem Kissen liegt das zum Lesezeichen umfunktionierte Bild mit ihm und seiner Schwester. Ich schiebe es nach kurzem Betrachten ins Buch, klappe es zu und lege es auf einen der Türme neben seinem Bett ab. „Das gefällt mir bisher am besten…“, flüstert er und greift nach meiner freien Hand. Obwohl mein Herz kurz stolpert, weiche ich nicht zurück. Kains Augen sind geschlossen. „Du bist wach?“, frage ich. „Es könnte etwas Erotik vertragen.“ „Scherzkeks, das sind Kinderbücher“, kommentiere ich gelassen, richte mich auf und löse mich dabei sachte aus seinem Griff. „Kinderbücher sind in meinen Augen etwas anderes.“ „Gut, Jugendbücher“, gestehe ich ein. „Aber mit etwas Erotik wären sie noch besser. Nicht das ganz harte Sexzeug, aber so ein bisschen mehr.. na ja... lecken und anfassen.“ Ich höre dabei zu, wie er seine Beispiele mit Bedacht wählt und seine Stimme dabei verstellt. Es lässt mich schmunzeln. Was Kain sich wohl bei ganz hartem Sexzeug vorstellt? Leder und Peitsche? Vielleicht Spielzeug. Die Vorstellung lässt mich amüsiert kichern. Ich nehme mir vor, ihn bei Gelegenheit danach zu befragen. „Was verschafft mir eigentlich die Ehre deiner Anwesenheit im Müllparadies?“, erkundigt sich Kain belustigt. Vom Bett ertönt ein Rascheln und Kain setzt sich auf. Er lächelt. Ich lasse meinen Blick durch den Raum wandern und ziehe meine Stirn in Kraus. Es ist mir ein Rätsel, wie Kain das hier aushält. Überall in dem Raum herrscht blankes Chaos. Ob er selbst Verursacher ist? Ich wage es zu bezweifeln, denn so schätze ich ihn nicht ein. „Was?“, fragt er, nachdem ich ihm eine Antwort schuldig bleibe. Kain schwingt seine langen Beine über die Bettkante und streicht sich durch die frischgewaschenen Haare. „Nichts. Ich rate euch nur immer noch zu einer Putzfrau“, sage ich und stupse angewidert ein abgelegtes Stück Stoff mit dem Fuß an. Ich will gar nicht wissen, was es ist. Aber es sieht verdächtig nach Unterwäsche aus. „Bewerbungen nehmen wir gern entgegen...aber vorsichtig, es gibt eine gewisse Arbeitskleidung“, deutet er neckend an und ich habe sogleich ganz bestimmte Bilder im Kopf. So ein Klischee. „Hm, mit Jogginghose und Hoodie komme ich klar...“, kommentiere ich gelassen. Der Schwarzhaarige schaut an sich hinab und beginnt lauthals zu lachen. Noch immer grinsend steht er auf und nun fällt mein Blick auf seine Füße. Er trägt genauso wie ich zwei verschiedene Socken. Eine heimelige Wärme erfasst mich. Sie ist so intensiv, so irritierend, dass ich mich unwillkürlich abwende. „Bist du zum Rumstehen gekommen oder aus einem bestimmten Grund?“, fragt Kain mich nun direkt. Ich bin mir nicht sicher, was ich ihm antworten soll. „Nur so...“, flüstere ich ausweichend. Ich sollte einfach gehen, aber ich kann nicht. Meine Hand drückt halbherzig die Klinke hinab und die Tür öffnet sich einen Spalt breit. Kains Bewegungen sind fast lautlos und ich spüre seine warme Präsenz an meinem Rücken. Er drückt die Tür wieder zu. „Was hat mein Spatz?“, wispert er mir zu. Ich fühle, wie sich die feinen Härchen an meinem gesamten Körper aufrichten. Beginnend am Hals strömt dieses Gefühl immer weiter, tief hinein in jede noch so kleine Zelle. „Lass das...“, murre ich. Es ist nur noch ein Hauch der genervten Energie übrig, die sonst mit meinen Widerworten mitschwingt. Ich schließe die Augen und spüre, wie sich Kains Lippen kurz unterhalb meines rechten Ohres platzieren. Seine Hände legen sich auf meinem Bauch und er zieht sich dichter an mich heran. Er verhindert, dass ich meinen haltlosen Versuch fortsetze, zu gehen. Der sanfte Atem, der meinen Hals streift, lässt mich selbst tief einatmen und erweckt im selben Moment ein ausgiebiges Schaudern. Seine Wärme. Sein Geruch. Sie fangen mich ein, so wie so oft in der letzten Zeit. Kain ist der Grund, weshalb ich hier bin. Ich wollte ihn sehen und genau diese Nähe spüren. Wie seltsam. Denn das passt nicht zu mir. „Muss ich erst eine der Karten einsetzen?“, droht er mir schwach und berührt mit seinen Lippen die Helix meines Ohres. Danach schiebt sich seine Nase in mein Haar. Kain verdreht die Bedeutung unserer spielerischen Abmachung. Doch ich weise nicht darauf hin. „Du hast gar keine...“, argumentiere ich stattdessen halbherzig und meine Finger streichen automatisch über meine Hosentasche. Ich trage keine der Karten bei mir und irgendwie habe ich das Gefühl, sie nicht mehr zu brauchen. Meine Hand legt sich an seinen Unterarm, ohne irgendwas damit zu bezwecken. Nur Haut auf Haut. „Ich mache einfach neue...“, kommentiert er flachs. „Das wäre schummeln...“, entgegne ich und merke, wie ich mich in seine Arme schmiege. „Mein Spiel. Meine Regeln.“ Ein Anflug von Arroganz, die er schon lange nicht mehr blicken lassen hat. Diesmal belustigt sie mich. Meine Augen sind die ganze Zeit geschlossen und mir entflieht ein leises Keuchen, als sich Kains Hüfte nach vorn bewegt. Ich drehe mich aus der Umarmung heraus und wende mich zu ihm um. Kain hindert mich nicht daran, sondern schaut mich nur fragend an. Ich kippe mit meiner Stirn gegen seine Schulter. Er schweigt und ich bin ihm dankbar für die Zurückhaltung. Doch im Grunde liest er mich Zeile für Zeile. Das macht er schon die ganze Zeit. Ich weiß nicht warum. Ich weiß nicht, wie er es macht. Aber er schafft es. Dieses tiefe, vertraute Gefühl hatte ich bisher nur noch bei René. Ich denke an meinen Bruder und das schwelende Gefühl in meiner Brust wird wieder schmerzhaft. Brennend. Ich halte meine Augen geschlossen, als tausende Erinnerungen auf mich einprasseln. Ich hasse diese Zeit, denn so sehr ich es auch versuche, ich kann den Gedanken und den Erinnerungen einfach nicht entfliehen. Wird es jemals leichter werden? Wird der Gedanke an René je weniger schmerzvoll? Fragen, die ich mir jedes Mal aufs Neue stelle und auf die ich nie eine Antwort finde. Irgendwann spüre ich, wie sich Kains Hand in meinen Nacken legt. Erst unbewegt. Stillen Trost spendend. Bis er beginnt sein Daumen über meinen Haaransatz streicheln zu lassen. Wenig später sind es seine Finger, die durch mein Haar fahren und in meinem Nacken stoppen. Ganz sanft. Liebevoll. Kains Gesicht neigt sich tiefer in meine Halsbeuge und ein feines Kitzeln durchfährt mich. Pulsierend breitet es sich in mir aus. Er haucht einen Kuss in den Bogenansatz zwischen meinem Hals und der Schulter. Ein Weiterer folgt auf den Trapezmuskel. Mein Körper verrät mich immer und das hat Kain schnell gemerkt. Ich hebe meinen Kopf, spüre Kains Wange an meiner und dann seine Lippen. Sein Kuss ist zärtlich. Sein Geschmack ist süß. Ich genieße den Hauch der vertrauten Aromen, die sich mit jeder Berührung intensivieren. Nur ein Hauch Ingwer und ich giere nach mehr. Doch Kain löst den Kuss. „Geht es dir gut?“, fragt er mich besorgt. Ich schließe meine Augen. „Was für Erotik hast du dir für die Bücher vorgestellt?“, erkundige ich mich, ohne ihm zu antworten. Kain gibt ein grübelndes Geräusch von sich, während er sich wieder zu meinem Hals neigt. Seine Lippen treffen meine empfindliche Seite. Und obwohl ich zusammenzucke, wehre ich mich nicht dagegen, dass er dort verweilt. Nein, ich genieße sogar das Kribbeln, welches sich heftig brennend durch meinen Körper arbeitet. „Vielleicht ein bisschen hiervon...“, schlägt er vor, küsst sich meinen Kiefer entlang und legt seine Lippen wieder auf meine. Er schnurrt spielerisch. So lange, bis er seine Zunge zwischen meine Lippen schiebt und einen genüsslichen Kampf mit meiner beginnt. Ich genieße seine Dominanz, necke ihn zu mehr. Kains warme Hand schiebt sich unter mein Shirt und über meine Brust. „Davon auch“, raunt er, als wir uns voneinander lösen und er ein letztes Mal mit der Zunge meine empfindliche Haut berührt. „Aber sie küssen sich doch...“, merke ich an. Rasch schießen mir Worte in den Kopf, die diesen Moment beschreiben könnten und wie ich ihn in den Büchern bereits beschrieben habe. Einzelne Szenen. Augenblicke. In jedem meiner Bücher gibt es sie. Mal lang und ausführlich. Mal kurz, aber intensiv. Auch Kain scheint sich an einzelne Passagen zu erinnern. Ich spinne die Gedanken in meinem Kopf weiter, beschreibe den Weg, den seine Hände gehen könnten und den Ort, an den ich seine Lippen wissen will. „Woran denkst du?“, fragt mich Kain und seine Hand gleitet meinem Bauch entgegen. Ich ziehe scharf die Luft ein und keuche heiß, als sein Daumen hauchzart über meinen Rippenbogen flattert. Ich verstehe nicht genau, was er meint. Er will hören, woran ich denke? Unweigerlich schüttle ich meinen Kopf. „Ich sehe doch, wie es in dir arbeitet. Sprich es aus...“ „Wieso?“, erfrage ich. Doch ohne mir eine Antwort zu geben, küsst er mich erneut. Seine Lippen erkunden jeden Millimeter meines Mundes, bis ich ihn für ihn öffne. Unsere Zungenspitzen ertasten einander. Streicheln und verbünden sich. Ich will mehr davon. Viel mehr. Doch mehr gewehrt er mir nicht. „Ich möchte hören, wie du es formulierst“, erklärt er, „Seine weichen Lippen schmeckten die Lust“, säuselt er mir mit tiefer, erregender Stimme zu und gibt mir ein Beispiel für das, was er von mir will. Seine Zungenspitze schiebt sich neckend unter meine Unterlippe. Es kitzelt. „Schmeckten die Lust?“, wiederhole ich danach skeptisch. Ich will ihn aufziehen. „Kann man das nicht sagen?“ „Wonach schmeckt Lust?“, frage ich retour. Wenn Lust einen Geschmack hätte, wüsste ich genau, welchen. Kain gibt ein abwägendes Raunen von sich und lächelt. Ich mag es, wenn er lächelt. „Er wollte den Geschmack seine Lippen kosten“, schlage ich vor. Kain starrt wie gebannt auf meinem Mund. „Na dann.. Er wollte den Geschmack seiner Lippen kosten.“ Mit der Wiederholung des Satzes führt er ihn bereits aus. Sanft nimmt er meine Unterlippe zwischen seine Lippen. Wiederholt es mit der oberen, eher er mich ausgiebig mit Zunge küsst. Wir necken uns gegenseitig mit anstachelnden kleinen Seufzern und tiefen, wohligem Keuchen. Ich mag auch das. Sehr sogar. Er schließt mit der gleichen Prozedur wieder ab. Erst die untere, dann die obere Lippe. Meine Augen bleiben geschlossen. Diesmal schmeckt er keinen Zigarettenrauch. „Hmm, ja, kosten ist wirklich passend“, wispert er und nascht erneut. Dabei dreht er mich sanft, aber bestimmt ins Zimmer hinein. Ohne uns voneinander zu lösen, führt er uns zu seinem Bett. „Sag mir mehr“, bittet er. Ich lasse meine Augen geschlossen und verstehe nicht, warum ich Kains Begehren nachkomme. Ich würde ihm meine Gedanken offenbaren und das habe noch nie getan. Es beschämt mich und jagt mir im selben Moment erregende Schauer durch den Körper. Ich bin mir nicht sicher, ob es mir gefällt, so entblößt zu sein. Allerdings bin ich schon jetzt so hart, dass nur noch wenig Blut in meinem oberen Gehirn ankommt. „Er labte sich an dem zur Schau gestellten Widerwillen, weil er genau spürte, wie gierig und willig sich der Körper des anderen Mannes an ihn presste“, probiert er sich erneut und ich sehe ihn erstaunt an. Kain grinst, gibt mir einen leichten Schubs und ich lande auf seinem Bett. Nun gut. Dieses Spiel kann ich auch spielen. Ich will es auch. Von unten herauf blicke ich ihn an und lehne mich ganz bewusst mit beiden Armen entspannt zurück. Während des Fallens ist mein Shirt ein Stück nach oben gerutscht und gibt die Haut meines Unterbauches preis. Langsam ziehe ich mein linkes Bein hoch und winkle es an. Erst, als ich die Beine leicht spreize, bricht er den Blickkontakt und wandert mit seinen Augen tiefer. Ich biete mich ihm an, gebe ihm deutlich meinen ausgebeulten Schritt zuerkennen. So viel zu meinem Widerwillen. Mein Körper hat erneut gesprochen. „Er beobachtete, wie sich ihm der athletische Leib mit gierigem Blick näherte. Er spüre, wie ihn die elektrisierte Spannung immer weiter zu ihm zog. Und er wollte es. Er wollte die zarten Lippen an seinem Körper wissen. Wie sie küssend an ihm hinabglitten. Seine Haut neckend. Liebkosend. Jede Berührung als wohltuendes Erlebnis empfinden." Kain lauscht gespannt und ich höre ihn leise keuchen, während er dicht an das Bett herantritt. Ich sehe mit jedem Wort, wie sein und auch mein Körper reagiert. Wie sehr es ihn antörnt und wie sehr er es genießt. Mit meinem letzten Satz beugt er sich zu mir runter und drückt mich ins Kissen. Ich lasse es geschehen. Ich diktiere ihm einen Weg, dem er folgt. Meine Fantasie. Seine Umsetzung. Ich weise ihn an, mich meiner Jacke und des Shirts zu entledigen. Er folgt. Sein Oberteil verschwindet ebenfalls und ich lasse es mir nicht entgehen, die empfindlichen Stellen seines Körpers zu reizen, während ich ihm weitere Formulierungen zu flüstere. Die Liebkosung meiner Brust. Das neckische Spiel mit meinen erhärteten Brustwarzen und er setzt es willig um, lässt seine Zunge kreisen. Leckt. Knabbert. Beißt. Ich spüre, wie sich mein Körper nach jeder Berührung sehnt und wie sich meine Fantasien immer detaillierter formen. Ich will seinen Lippen, seinen Mund einfach überall. Ich diktiere ihm einen Pfad, der ihn hinunter lenkt „Der Weg seiner Lippen führte ihn über feste Muskeln. Tiefer und tiefer. Er erkundete Senken und Erhebungen. Der Atem, der seine erhitzte Haut traf, versprach prickelnde Erregung und kühlende Befriedigung.“ Kains Zunge leckt ein letztes Mal neckisch über meine Brustwarze und öffnet den Knopf meiner Jeans. Dann blickt er auf, als er langsam meine Hose samt Unterhose von meinen Beinen zieht. Er versteht, worauf ich mit meinen Worten hindeute. Doch er will es hören. „Weiter“, fordert er mich auf. Ich spüre, wie sich mein Herzschlag beschleunigt und wie meine Härte zuckt, als der Schwarzhaarige unbeirrt seinen Weg fortsetzt. Seine Mund küsst sich über meinen Bauch, weicht dann nach links ab. Mit einem Kuss auf meinen Beckenknochen speist er Frustration und Erregung zu gleich. Ein weiterer. Ich halte kurz die Luft an. In meinem Kopf arbeitet es nur noch langsam, weil sich der Nebel der Lust immer weiter verdichtet. Kain wechselt zur anderen Seite. Einer der Küsse landet dichter am Übergang zu meiner Erregung. Meine Eichel streift seine Wange. Ein feines Keuchen verursacht durch den Anblick, der sich mir bietet. Kain sieht erneut auf. Auffordernd. Fast gespannt, so als würde er es kaum erwarten können, zu hören, wie weit meine Fantasien wirklich gehen. Ich hingegen frage mich, wie weit er meinen Fantasien folgen wird. Das intensive Braun seiner Iriden nimmt mich gefangen. Seine feuchtglänzenden Lippen rufen nach mir. Die Erregung in seinem Blick lässt mich angespannt nach Luft japsen. Also fahre ich unbeirrt fort. „Er wünschte streichelnde Hände, die sich seiner bettelnden Härte annahmen. Er wollte seine Lippen spüren, die sich fest um sein pochendes Fleisch legten.“ Ich höre Kain schnurren, als ich meine Absicht verkünde. „Oh, er bettelt förmlich nach Aufmerksamkeit“, raunt Kain mir grinsend zu und sein warmer Atem trifft meine empfindliche Eichel. Noch immer sieht er zu mir hoch, während sich seine Fingerspitzen einmal meine gesamte Länge entlang streicheln. Vom Schaft zur Spitze. Mein Körper bebt vor Aufregung. Er haucht einen Kuss auf meinen Unterbauch und sieht dann erneut auf. „Mehr...komm schon...“, verlangt Kain, streicht mit seiner Hand über die Innenseite meines Oberschenkels, sodass ich meine Beine mehr öffne. Die Worte formulieren sich von ganz allein. „Der Moment, in dem sich die ersehnten Lippen um seine Eichel schlossen, schien so nah und ließ seine Körper verräterisch erbeben. Nichts lieber als den feuchten, warmen Mund des anderen wollte er spüren. Das neckische Spiel seiner Zunge und wie ihn die berauschende Hitze umfängt.“ Kain brummt leise. Keucht. Bevor ich nachsehen kann, was dieses Geräusch bedeutet, spüre ich seine Lippen, die einen Kuss gegen meine Härte drücken. Kurz unterhalb meiner bereits feuchten Eichel. Dann fühle ich seine Hand, die von der anderen Seite stabilisiert. Ich zucke unbewusst etwas zusammen, während Kain sich die gesamte Länge meines Schwanzes entlang küsst. Er vollführt das Gleiche noch einmal mit seiner Zunge und wechselt dann auf die andere Seite. Quälend süße Küsse und heißes, feuchtes Lecken bevor er seine Zunge leicht kreisend um meine Spitze wandern lässt, machen mich fast wahnsinnig. Seine Zungenspitze gleitet hauchzart mehrere Mal über die Mitte meiner hochsensiblen Erregung, taucht in den Spalt. Kostet. Neckt. Das berauschende Gefühl lähmt meine Gehirnzellen. Ich will mehr davon spüren und er erfüllt mir meinen Wunsch ohne weitere Worte. Er lässt mich tief in seinen Mund gleiten, hält dabei seine Lippen in einem festen Ring um mich geschlossen. Zunächst sind seine Bewegungen langsam, fast nur tastend. Probierend. Seine feuchten Lippen reiben zart über meine weiche Haut. Mit jedem Mal, wenn er meine Härte tief in seinen Mund eintauchen lässt, entkommt mir ein tiefes, ekstatisches Stöhnen. Das Gefühl ist atemberaubend. Immer wieder höre ich ihn selbst leise stöhnen und genüsslich schmatzen. Er macht mich wahnsinnig. Ich stöhne hemmungslos und laut. Kains Bewegungen werden schneller, die Reibung heftiger und der Druck in meinen Lenden immer stärker. Ich halte ihn zurück, kurz bevor ich komme. Auch, wenn es mir unglaublich schwerfällt. „Warte...Warte.“ Ich taste fahrig durch seine dunklen Haare. Kains löst sich von mir. Erst sieht er mich verwundert an. Dann robbt er höher und legt seine Hand fest um meine Erregung. Ich stöhne hilflos auf. Alles in mir zuckt und schreit. Der Druck, den er an der richtigen Stelle ausübt, verhindert, dass ich doch noch komme. Normalerweise bin ich ein Fan der Verzögerung, doch in diesen Moment zweifele ich an meinem Verstand. Kain küsst meine flatternde Brust. „Du hattest ruhig kommen können“, sagt er und küsst meine Wange. Ich schüttle zaghaft meinen Kopf, keuche heftig gegen seine Lippen. Kain grinst. „Okay, dann sag mir, was ich jetzt tun soll. Soll ich es mit der Hand beenden...“, fragt er, lässt demonstrativ seine Hand zweimal meine Härte pumpen. Ich stöhne erregt und leicht verzweifelt auf. „Oder willst du vielleicht noch mehr von der Hitze meiner feuchten Lippen spüren...“ Mir entgeht die feine Verspottung nicht, die mit der Wiederholung meiner eigenen Worte einhergeht. Sie verärgert mich nicht, sondern erregt mich. Er pumpt mich hauchzart weiter, reibt dabei mit Daumen und Handfläche über meine heißpulsierende Eichel und raubt mir den letzten Rest Verstandes. Ich bäume mich ihm entgegen. „Fick mich...“, entflieht mir flehend. Kain lacht tief auf. „Oh, ich bin ein großer Fan dieser ordinären Wörterwahl“, schnurrt Kain grinsend und küsst mich leidenschaftlich. Ich schmecke das herbe Aroma meines eigenen Körpers, als seine Zunge meine umkreist. Kain packt mich an der Hüfte und zwingt mich auf den Bauch. Seine Hände gleiten über meinen bebilderten Rücken. Ich lasse alles widerstandslos geschehen. In meinem Kopf existiert gerade nur noch eins. Lust. Er zieht mein Becken hoch, sodass ich ihm meinen Hintern entblößt entgegenstrecke. Ich keuche auf, als ich das kühle Gel merke und zucke, als ich einen ersten Finger spüre. Kain hat noch immer so viel Geduld, dass er die spielenden Neckereien nicht unterlässt, die mich regelmäßig in den ekstatischen Wahnsinn treiben. Auch, wenn sie es mir umso angenehmer machen. Doch heute kann ich mir ein verzweifeltes Stöhnen seines Namens nicht länger verkneifen, als er behutsam einen zweiten und noch dritten Finger nimmt, während er meine Wirbelsäule entlang leckt. Kain stoppt. Ein Brummen vibriert an meinem Rücken. „Bitte, mach es noch mal. Noch mal so leidenschaftlich...Stöhn ihn noch mal...bitte!“, raunt er mir entgegen. Ich schüttle den Kopf. „Fick mich endlich...“, sage ich stattdessen. Die Poesie ist mir nun gänzlich abhandengekommen. So ist es wirkungsvoller. Kain packt erneut mein Becken und bringt sich in Position. Doch statt des erwarteten Drucks und dem guten Gefühl, ihn endlich in mir zu spüren, merke ich nur, wie er ihn sanft zwischen meinen Pobacken reibt. Seine Hände streicheln meinen Rücken und wieder beugt er sich vor. „Noch einmal...bitte.“ Ich rolle ungesehen mit den Augen und weiß, dass er nicht locker lassen wird. Wie zu Bestätigung lässt er noch einmal quälend langsam seine harte Erregung gegen meine Hintern reiben. Ich gebe unwillkürlich ein verzweifeltes Geräusch von mir und stöhne direkt danach seinen Namen. Heiß und rau. Das Beben, welches durch Kains Körper geht, ist selbst für mich spürbar. Danach endlich spüre ich ihn. Langsam. Vorsichtig. Er genießt es. Genauso, wie ich. Seine Hand streichelt über meinem Rücken, so, als würde er jede Zeile lesen und berühren wollen. Der Gedanke lässt mich aufgeregt erschaudern, aber ich will einfach nur mehr von ihm spüren. Kains Stöße sind bedacht und intensiv. Tief und langsam. Ebenso sein stetiges Keuchen. Er will es auskosten. Doch es wandelt sich in tiefes, durchdringendes Stöhnen, während auch seine Bewegungen leidenschaftlicher werden. Mein Stöhnen ist fast noch lauter als seines. Er greift meine Hüfte fester, als es auch seine Stöße werden. Ich gebe mich seinem Rhythmus hin, lasse meinen Oberkörper aufs Bett sinken, als meine Arme vor Anstrengung zu zittern beginnen. Mein Gesicht bettet sich in sein Kissen und ich werde von Kains Duft umnebelt. Alles wird noch etwas intensiver und ich beiße erregt in den Stoff. „Festhalten...“, keucht er. Schwungvoll dreht er uns um, so dass er liegt und ich über ihm sitze. Ich habe keine Ahnung, wie er das hinbekommen hat, ohne dass ich mir die Beine breche. Aber ich knie über ihm. Ich halte mich überrascht an seinen muskulösen Beinen fest und stöhne laut auf, als ich ihn unweigerlich noch tiefer spüre. „Lehn dich zurück“, weist er mich an und ich bin folgsam. Die intensiven Stöße beginnen schnell von neuem. Kain treibt seine Becken unaufhörlich nach oben. Jedes Mal begleitet durch intensives Pulsieren, welche ungewohnte Kontraktion auslösen. Ich brauche keine zusätzliche Stimulation, sondern werde von dem Orgasmus gepackt und immer höher getrieben. Ich komme so befriedigend, wie noch nie und reiße Kain gleich mit mir. Würde Kain mich nicht an der Hüfte festhalten, würde ich jeden Moment einfach vom Bett kippen. „Wow, das war...intensiv...“, keucht er atemlos. „Das war das erste Mal…“, entgegne ich mit bebender Brust und streiche mir eine feuchte Strähne von der Stirn. „Bin froh, dabei gewesen zu sein“, kommentiert Kain grinsend und ich schlage ihn gegen den Oberschenkel. Leicht entkräftet, steige ich von ihm runter und lehne mich gegen die Wand. Die Beine strecke ich über seine hinweg aus und streiche mir fahrig die Haare zurück. Mein Körper pulsiert. Kain setzt sich auf und greift meine Knie. Ich sehe ihn schweigend an. „Und noch einen Wunsch? Oder habe ich es geschafft, dich mit nur einem Mal zufriedenzustellen“, säuselt er frech. „Möglich“, kontere ich nur. Kain rutscht dichter an mich heran. „Einen Wunsch erfülle ich dir noch...du musst es nur aussprechen.“ Seine Hand streichelt von meinem Knie tiefer über meinen Oberschenkel. Es hat ihm anscheinend wirklich gut gefallen. Mir zugegebenermaßen auch. Auch, wenn es mich schon etwas Überwindung kostete, ihm so freizügig einen Einblick in mein verrücktes Autorhirn zu geben. „Ein Kuss. Heiß und feucht!“, sage ich mit lieblicher Stimme und ziehe dabei jedes Klischee aus der Tasche, was ich an Absurdität finden kann. Minimal zuckt Kains Augenbraue nach oben, doch dann beugt er sich zu mir, legt seine Lippen auf meine. Der Kuss ist zu sanft, um heiß zu sein und gerade, als ich das bemängeln möchte, spüre ich seine warme Zunge, die sich neckend hervorschiebt und den Kuss intensiviert. Mit halbgeschlossenen Augen sehe ich ihn an und er blickt zurück. Kurz leckt er mir über die Innenseite meine Oberlippen und dann blitzschnell über meine Nasenspitze. Definitiv feucht. Ich schaue ihn entsetzt an, sehe sein spitzbübisches Grinsen und kann mir das Lachen nicht mehr verkneifen. Kain steigt schnell mit ein. „Das ... war ...echt ekelig...“, sage ich zwischen mehreren Lachern. „Ach ja...seit wann bist du so zimperlich?“, fragt er, drückt mich lachend ins Kissen und bleibt über mir sitzen. Ich setze mich sofort wieder auf und bin ihm mit einem Mal wieder ganz nah. Kain riecht wirklich gut. Nicht nach Aftershave oder irgendwelchen Parfüms. Nur nach sauberer, warmer Haut. Nur nach ihm selbst. Und zusätzlich nach Sex. „Ich habe mir immer vorgestellt, dass du eher der laute und redselige Typ beim Sex bist“, plappert er und ich werfe ihm einen verwirrten Blick zu. Laut und redselig? Vorgestellt? „Also so richtig derb.“ „Tja, Bücher sollte man auch nicht nach ihrem Einband beurteilen. Allerdings bilden wir uns laut wissenschaftlichen Studien in den ersten 3 Sekunden eine Meinung, von der wir selten wieder abrücken“, erläutere ich, löse mich aus Kains Umarmung und rutsche zum Rand. Mein Hintern kribbelt. Diesmal werde ich unser Stelldichein länger merken. „Ach ja? Dann hast du dir damals für diese drei Sekunden unbewusst Mühe gegeben?“, fragt er keck. Hab ich das? Ich versuche mich an unser erstes Treffen zu erinnern. „Weißt du, wann ich dich das erste Mal bemerkt habe?“ „Als ich dich wegen irgendwas vollgemault habe?“, rate ich. Ein Versuch ins mindestens 90% abdeckende Blaue. Kain lacht auf und schüttelt kurz darauf energisch seinen Kopf. „Nein, nicht ganz. Ich bin in die Veranstaltung von Prof. Mandes geplatzt... Bioorganische Chemie, glaub ich. Ein paar Wochen zuvor habe ich beim Ringerteam angefangen und eine Wette verloren, also musste ich an diesem Tag das Kostüm vom Maskottchen tragen. Chabby.“ „Chabby“, sagen wir beide fast gleichzeitig, „Das warst du?“ Ich erinnere mich daran. „Ja. Ich bin durch alle Hörsäle getobt. Auch in euren. Es war so peinlich. Alle haben sich zu mir umgedreht. Gelacht und geklatscht. Nur du nicht.“ Er macht eine kurze Pause. „Du hast am Rand gesessen und einfach nur todunglücklich aus dem Fenster gestarrt.“ „Gelangweilt“, korrigiere ich, „Seltsam, dass dir das aufgefallen ist bei der riesigen Menge an Studenten in dem Saal.“ Er zuckt nachdenklich mit den Schultern, so als würde er selbst nicht wissen, warum er sich daran erinnert. Ich denke an den Moment zurück. Es war im November. Mein erstes Semester. Mir ging es an dem Tag nicht sonderlich gut, denn es war mein Geburtstag und tatsächlich hatte er mich mit dieser dämlichen Aktion zum Lächeln gebracht. Kain kitzelt sanft meine Seite. Nicht um mich zu ärgern, sondern aus Ermangelung der geeigneten Reichweite, um mich richtig zu streicheln. Ich merke, wie sich die feinen Härchen an meinem Hals gespannt aufrichten und ich mich zu der Berührung hin lehne. „Willst du wirklich schon gehen?“, erkundigt er sich. „Ja, denn im Gegensatz zu unseren Mitbewohnern bin ich nicht sehr scharf darauf, dass uns dauernd jemand beim Vögeln erwischt. Das eine Mal hat mir gereicht“, erkläre ich und ziehe mir konsequent das Shirt über, welches neben dem Bücherstapel liegt. Ich nehme Kain damit jegliche Chance, meine Haut zu necken. Abel könnte jeder Zeit wieder zurückkommen. Zusammen mit Jeff. Oder auch ohne ihn. Egal, keine der Varianten bereitet mir besondere Freude. Ein kalter Schauer erfasst mich und ich schüttele mich unweigerlich. „Hast du mit Jeff geredet?“ „Ich rede andauernd mit Jeff“, kommentiere ich lapidar. Es ist nicht mal gelogen. Ich spreche jeden Tag mit Jeff. Manchmal nur zwei, drei Worte, aber nicht die Quantität macht eine Konversation aus. „So meine ich es nicht und das weißt du.“ „Ich weiß.“ „Wirst du es?“ „Hm“, mache ich einsilbig und angele nach meiner Hose und den Socken. Als ich sie greife, bin ich für einen Moment nicht mehr sicher, ob ich den grauen und den grünen, oder den grünen und türkisen an hatte. Grün und grau sind okay. Kain gibt einen unklaren Laut von sich und sieht dabei zu, wie ich mir reichlich ungelenk meine Socken überziehe. Die Stille beunruhigt mich und so sehe ich zu dem Schwarzhaarigen, der an der Wand gelehnt im Bett sitzt. Sein Gesicht ist ernst. „Was?“, frage ich spitz und ziehe beim Aufstehen meine Hose mit nach oben. Kain antwortet nicht, also drehe ich mich zu ihm um und schließe dabei den Knopf. „Nichts...Es ist nur...ich...“ Seine Schultern zucken nach oben und er fährt sich frustriert durch die dunklen Haare. „Lass uns Samstag ausgehen...“, sagt er unvermittelt. Ich greife nach der Strickjacke und halte augenblicklich in meiner Bewegung inne. Was? Ich dachte, jetzt kommt ein weiterer Appel, es Jeff endlich zu beichten. „Ausgehen?“ „Ja, ausgehen. Wir beide zusammen. Essen...Kino... Zoo. Was du willst.“ Zoo? Ich sehe Kain stillschweigend an. Brigitta hatte Recht. Beim letzten Mal war es nicht einfach so daher gesagt. „Ein Date?“, frage ich nach, um sicher zu gehen, dass ich es nicht falsch verstehe. „Ja.“ „Mit mir?“, hake ich verständnislos nach. „Ja“ „Wir daten nicht, schon vergessen? Wir ficken ohne Verbindlichkeiten“, äffe ich ruhig nach. Ich kann es nicht lassen, aber genau das ist, was mir Kain vor nicht allzu langer Zeit noch selbst an den Kopf geworfen hat. Allerdings fühlt es sich komisch an, es zu wiederholen. „Ich weiß, was ich gesagt habe“, harscht er mich kratzbürstig an, besinnt sich eines Besseren und seufzt. „Aber...ich will das so nicht mehr.“ „Kain...“ „Wieso nicht?“, fällt er mir direkt ins Wort und unterbricht mich energisch, bevor ich es noch bestimmter ablehnen kann. Obwohl ich das gar nicht vorhatte. Sein Blick zeigt mir, dass ich um keine Erklärung herumkomme. Auch Kopfwackeln und Schulterzucken ändert nichts daran. Außer. dass eine von Kains dunklen Augenbrauen nach oben wandert. Ich muss ihm erklären, was dagegen spricht. Wie soll ich ihm nur sagen, dass ich die denkbar ungünstige Person dafür bin? Ich habe keine Erfahrung mit Dates. Und überhaupt, was will er bitte von mir? Was denkt er, was das wird? „Okay, weil wir uns auf Sex geeinigt haben...das war unsere Vereinbarung...bla bla “, erläutere ich unmotiviert. Kain schiebt die Decke von seinen Füßen. Ich weiche zurück, als er auf mich zukommt und nackt vor mir stehen bleibt. Ich beobachte jede seiner Bewegungen, betrachte das Spiel seiner Muskeln und wie sie sich unter seiner Haut anspannen. Meine Gehirnfunktion ist träge. Jetzt kommt auch noch sein Geruch dazu. Dieser Duft nach Kain und Sex. Ich rieche es so deutlich, dass ich den Sex fast auf meiner Zunge schmecken kann. „Und? Dann erweitern wir unsere Vereinbarung“, erklärt er, als wäre es das Einfachste der Welt. Ich fühle mich eigenartig machtlos. „Das mit dem Essengehen hatten wir doch schon mal“, merke ich an. Schon damals habe ich mich geweigert, mit ihm Essen zugehen und dafür hat er mich mit diesem mexikanisch angehauchten Mahl in der kleinen Gemeinschaftsküche im Wohnheim überrascht. Es war gut. Es war eine schöne Geste, auch wenn ich es nicht als solche erkannt habe. Vielleicht auch nicht erkennen wollte. Und dann war da noch die Vanillesoße. Oh, die Vanillesoße. Die Sauerei war in vielerlei Hinsicht gigantisch. Das augenblickliche Aroma von sexgetränktem Kain paart sich mit der Erinnerung an sanfter Süße und zarter Textur. Ich ziehe scharf die Luft ein, als sich der Geschmack in meinem Mund ausbreitet und erregende Wellen durch meinen Körper schickt. „Ich habe Samstag keine Zeit“, sage ich, ohne es ein weiteres Mal aus einem fadenscheinigen Grund abzulehnen. Mein Zug fährt um 7 Uhr am Hauptbahnhof ab und daran kann ich auch nicht mehr rütteln. „Dann Freitag.“ Bittend. Er gibt nicht auf. Ich finde es fast schon bewundernswert. Kain streckt seine Hand nach mir aus. Seine Fingerknöchel streicheln sanft über mein Kinn, meinen Kiefer entlang. Unwillkürlich schließen sich meine Augen und die zärtliche Berührung wird noch ein klitzekleines bisschen intensiver. „Ich mag chinesisch... “, flüstere ich. „Ich auch.“ „Kein Kino...“ „Nicht mal Popcorn?“, hakt er nach. „Nein.“ „Zoo?“ „Witzbold.“ Kain greift mir ans T-Shirt und hält mich damit vom Abhauen ab. In der gleichen Bewegung zieht er mich dicht an seinen nackten, warmen Körper heran. „Könntest du dir bitte etwas anziehen, bevor wir weiter reden...“, murmele ich meine neuentdeckte Scham im Zaum haltend. „Wieso?“, fragt er. Sein Blick wandert neckisch an sich selbst hinab. Nur um danach wissend mit den Augenbrauen zu wackeln. „So ist es viel interessanter...“, neckt er mich. Noch immer zerknüllt Kain den Rand meines T-Shirts. Er krallt sich fester in den Stoff und unsere Körper stoßen aneinander. Ein leises Keuchen entflieht meinen Lippen, bevor er mich küsst. Ich merke, wie sich mein Gehirn langsam wieder verabschiedet und ich in die wohlige, serotoningetränkte Glückseligkeit abdrifte. „Bist du okay?“, fragt er sanft. „Sicher“, erwidere ich diesmal ohne zu zögern. Denn ich fühle mich wirklich gut. „Du bist mir die meiste Zeit wirklich ein Rätsel. Weißt du das?“, flüstert er und ich merke seine Fingerspitzen, die hauchzart über die Helix meines Ohres streichen. Meine Augen bleiben geschlossen. „Ach ja? Wäre sonst...“, setze ich an. „..langweilig. Ja, ja, ich weiß, Spatz“, beendet er meine Gedanken und ich kann nicht verhindern, dass ich dümmlich grinse. „Freitag. 18 Uhr bei der Bank eures Wohnheims?“, fasst er zusammen. Doch es klingt genauso nach einer Frage. Vielleicht um sicherzugehen, dass ich begreife, was er sich von mir wünscht. Ich habe es verstanden. Ich weiß nur noch nicht, was er sich davon verspricht. „Ich gehe jetzt.“ Die drei Worte kosten mich unglaublich viel Kraft, denn ich wünsche mir nichts sehnlicher, als eine Flasche Vanillesoße und einen neuen Türcode her, sodass uns niemand stört. „Okay...“ Diesmal bleibe ich nicht vor der Tür stehen, sondern öffne sie auch. „Moment! Ich glaub, es hat angefangen zu regnen“, hält mich Kain mit einem Blick aus dem Fenster auf, sieht sich kurz um und drückt mir einen Schirm in die Hand, den er aus einem Wäschehaufen zieht. Obwohl er gar nichts Derartiges macht, höre ich erneut seine Stimme in meinem Kopf, die sanft und tief Rihannas Regenlied summt. ‚ Under my umbrella, ella, ella, eh, eh, eh... „Die paar Tropfen. Ich bin nicht aus Zucker“, wiegele ich ab und nehme den Schirm trotzdem an. Den Song bekomme ich nicht mehr aus meinem Kopf. Nie wieder, vermutlich. Ich kann weiterhin nicht verarbeiten, dass er hier immer noch nackt rumrennt. „Was?“ In Kains Gesicht bildet sich ein vielsagendes Grinsen. „Ich möchte etwas darauf antworten“, gesteht er. Seit wann fragt er um Erlaubnis? In Kains Gesicht bildet sich ein vielsagendes Grinsen. „Lieber nicht. Nachher sagst du noch etwas Nettes und bringst mich dazu zu erröten“, flachse ich spielerisch. Immerhin ist das eine der Regungen, die bei mir höchst selten anzutreffen sind. „Kannst du das denn?“, fragt er prompt. „Nur gegen Bezahlung“, entgegne ich. ` When the sun shine, we shine together. Told you I'll be here forever`. Bevor der Schwarzhaarige zu weiteren Neckereien ansetzen kann, hebe ich bedeutungsvoll den Schirm, verabschiede mich erneut und verschwinde aus dem Zimmer. Es regnet tatsächlich. Doch den Schirm hätte ich wirklich nicht gebraucht. Ich lasse ihn geschlossen, drehe ihn um meinen Finger und summe `Umbrella`. Diesmal mit einem Lächeln auf den Lippen. Noch bevor ich die Tür zu unserem Zimmer öffne, kann ich laute Stimmen hören. Jeff und Abel streiten. Sie streiten laut und so bekomme ich schnell mit, worüber. Weitere Eifersüchteleien. Fremdgehvorwürfe. Abel streitet alles ab. Jeff auch. Bei meinem Kindheitsfreund bin ich mir sicher, dass es stimmt. Auch, wenn ich mir ausnahmsweise mal das Gegenteil wünschen würde. Beziehungen scheinen schrecklich anstrengend sein. Jedenfalls die, der beiden Blonden. Ich habe auch andere funktionierende Beispiele kennengelernt, aber selbst die haben nie das Verlangen in mir geweckt, selbst eine zu haben. Jeff brüllt Abel an. Ich zucke zusammen. Ich wusste bis heute nicht, dass mein Jugendfreund derartig laut werden kann. Ich wende mich von der Tür ab und sehe im Gang zwei Wohnheimbewohner, die mich argwöhnisch mustern. Sie denken, ich würde lauschen. Gut, habe ich auch, aber nicht absichtlich. Und ganz sicher nicht aus Interesse. Wäre ich doch bei Kain geblieben. Ich drehe um, taste nach meinem Portmonee und verschwinde zum Foodstore. Immerhin ist das auch eine gute Begründung für mein Verschwinden, wenn Jeff nachher fragen sollte. Ich kaufe ein paar grundlegende Dinge wie Brot, Käse, Joghurt und eine Wurst, die die Form eines Bären hat. Nach dem Endorphinschub darf ich das. Ich werfe noch ein paar frische Lebensmittel in den Korb und zum Schluss noch eine Packung Gummibärchen für Jeff und saure Skittles für mich. Ich verdrücke sie auf dem Rückweg. Diesmal ist es ruhig, als ich im Zimmer ankomme und es ist leer. Jeff taucht erst irgendwann in der Nacht auf, als ich bereits schlafe. Ich höre nur leise Schritte und das Rascheln seiner Kleidung. Sein Bett quietscht, als er sich hineinwirft. Ich bin längst wach, als Jeffs Wecker zu piepen beginnt und mein Mitbewohner sich ruckartig im Bett aufsetzt. Ich sehe erschrocken dabei zu, wie er sich durch die verwuschelten Haare streicht und aussieht, als würde er gleich wieder ins Kissen fallen. Zu meiner Überraschung hebt er seine schlanken Beine über die Bettkante und hievt sich hoch. Ein Blick auf die Uhr sagt mir, dass er kaum 6 Stunden geschlafen hat, was für Jeffs Verhältnisse ungewöhnlich ist. Mein Jugendfreund murmelt irgendetwas von einem Lerntreffen. Er murmelt ein paar Namen, die ich nicht kenne und zum Glück erwartet er keine Antworten. Er schafft es, mit geschlossenen Augen aus der Tür heraus zu finden und reißt dabei nur seinen Schreibtischstuhl um und den halben Pulloverstapel aus dem Schrank. Eine ganz gute Bilanz. Ich hoffe, dass er spätestens vor der Treppe die Augen kurz aufmacht und es bis draußen schafft, seinen zweiten Arm in den Pullover zu manövrieren. Nachdem er weg ist, stelle ich den Stuhl wieder auf. Die Klamotten lasse ich, wo sie sind. Ich musste mir beim letzten Mal anhören, dass ich sie falsch zusammenlege. Die Erinnerung an diese eigenartige Konversation sorgt jetzt noch dafür, dass ich die Augen verdrehe. Jeff hat damit nur erreicht, dass er es von nun an allein machen darf. Nachdem ich wieder allein bin, holt mich die Ruhelosigkeit wieder ein. Ich setze mich zurück an den Schreibtisch, stehe nach fünf Minuten wieder Jeff hat sein Handy vergessen. Zunächst höre ich das stetige Vibrieren, welches ich nicht zuordnen kann. Als es nicht mehr aufhört, suche ich genervt nach der Geräuschquelle und finde sein Telefon zwischen der zerwühlten Bettdecke. Ein Anruf von Abel. Als er endet, sehe ich, dass er noch etliche verpasste vom gestrigen Abend hat. Alle vom anderen Blonden. Ich habe gedacht, dass sie zusammen gewesen sind. Wo Jeff wohl war? Vielleicht bei Jake. Ich schöpfe Hoffnung, dass sich mein Abelproblem doch etwas schneller löst. Möglicherweise braucht Jake nur einen Schubs. Einen kleinen Anstoß. Ich lege Jeffs Telefon auf seinem Schreibtisch ab und lasse mich auf meinem Stuhl nieder. Ich lehne mich zurück und starre an die Decke. Wie so oft in der letzten Zeit. Es ist zum Verzweifeln. In meinem Kopf beginnt es zu ratternd. Wie würde ich es in meinen Büchern lösen? Welche Möglichkeiten gibt es. Ein direktes Gespräch. Ich habe keine Idee. Außer, dass sich mein Protagonist damit seinen eigene Untergang beschert. Ich könnte den Stupser verursachen. Mit ihm reden. Nur reden. Bevor ich die Konsequenzen zu Ende denken kann, bin ich aufgestanden und greife nach meiner Jacke. Ich kann ihn mir auf jeden Fall noch mal angucken und vielleicht davon überzeugen, dass es sich lohnt weiter an Jeff rumzugraben. Vor dem Hauptgebäude steht der Kaffeewagen und dieses Mal gibt es keine endlose Schlange. Ich mache einen Schwenk dorthin, reihe mich hinter den drei anderen Studenten ein und gönne mir einen Chai Latte und einen Blaubeermuffin, den ich auf dem Weg nach oben zum PC-Pool vertilge. Es sind nur ein paar Plätze besetzt, an den fleißige Studenten sitzen und über die besten Siegesstrategien bei Candy Crush grübeln. Einer spielt Minesweepers. Dass er das noch an den Rechnern spielen kann, lässt tief blicken, was die Modernität dieser Geräte betrifft. Ich linse in den Aufenthaltsbereich der PC-Pool-Mitarbeiter und kann im ersten Moment niemanden entdecken. „Kann ich helfen?“, fragt mich jemand freundlich aus dem Hintergrund und legt einen Ordner zur Seite, in dem er soeben noch grüblerisch geblättert hat. Da er mir bekannt vorkommt, bin ich der Überzeugung, dass er Jake sein muss. Ich habe ihn vorher noch nie so genau angesehen. Doch nun verstehe ich, wieso Jeff ihn attraktiv findet. Er hat fast nichts von diesem klischeehaften Nerdäußeren. Dunkle Haare. Hellbraune, warme Augen. Und er hat den Körper eines griechischen Gottes. Okay, ich übertreibe, aber man erkennt definitiv, dass der Kerl schon mal in einem Fitnessclub gewesen sein könnte. „Bist du Jake?“, frage ich gerade heraus, als er auf mich zukommt. Mein Gegenüber strafft vorsichtshalber seine Schultern und schaut mich verwundert an. „Ja?“ „Ich bin Jeffs Mitbewohner.“ „Der vom Telefon“, stellt er fest, „Warte kurz...“ Damit bewegt er sich aus meinem Blickfeld und kommt wenig später aus einer Seitentür wieder heraus. Er winkt mich heran. Sein Gesicht ist ernster als eben, so als wäre die aufgezwungene Supportfreundlichkeit vollkommen abgewaschen. „Okay, was willst du?“, fragt er mich direkt und scharf. Er ist auf Abwehr. Ich sehe ihn verdattert an, bis mir klar wird, dass er sich dafür wappnet, von mir eine Ansprache zu erhalten. Gut, jetzt im Nachhinein ist mir klar, dass ich mich nicht als der Mitbewohner hätte vorstellen sollen. Das konnte nur auf eine Konfrontation hindeuten. „Ich wollte eigentlich nur einen Tipp zu SSDs. Mein Rechner ist eine Schrottmühle und ich kenne mich nicht aus“, druckse ich beschwichtigend rum und nicht ganz wahrheitsgetreu. Nun schaut mich Jake überrascht an. „Oh, okay... sorry, ich dachte, du willst...“ Er spricht seinen Verdacht nicht aus, sondern beißt sich auffällig auf der Unterlippe rum. „Du dachtest, ich will mit dir über Jeff reden...Vielleicht sollten wir kurz über Jeff reden“, schlage ich vor. Wenn er es schon anspricht. Wir sehen uns einen Moment lang forschend an. „Also, Jeff hat...“, setze ich an. „...hat einen Freund, ich weiß...“, sagt er und ich höre tatsächlich Enttäuschung heraus. Jakes Hand schiebt sich in seine Hosentasche und doch erkenne ich, wie sie sich darin ballt. Er hätte es gern anderes. Ich bin auf seiner Seite, denn schon jetzt merke ich, dass ich mit dem IT-Fritzen mehr anfangen kann, als mit Luftblasenpolster von Abel. „Und ich nehme an, du bist anständig und aufrichtig. Einer von diesen guten Kerlen?“ „Denke schon“, sagt er gerade heraus und nickt. Großartig. Ein Mann mit Manieren und niemand, der einem anderen den Kerl ausspannt. „Dein letztes Wort?“ „Ja.“ Ich sehe meinen ohnehin schon verquerlaufenden und dämlichen Plan den Bach runtersegeln. Es ist, als würde ich gegen Steine stupsen. Das würde Jeff, allerdings mit Sicherheit gefallen. „Schade“, murmele ich leise, kaum hörbar und weiche seinem Blick aus. Eigentlich weiß ich sowieso nicht, was ich mir dabei gedacht habe. Jeff ist derjenige, der die Entscheidung trifft und ich bin mir sicher, dass er ausflippt, wenn er hiervon erfährt. Ich kann nur hoffe, dass es dem ITler genauso peinlich ist, wie mir und er es deswegen verschweigt. Außerdem hat Jake nun auch verstanden, dass meine vorige SSD-Ausrede nichts anderes war, als eine Ablenkung und ist dementsprechend angespannt. Ich seufze schwermütig. „Hast du die Laptopgurke von Jeff wirklich verkauft bekommen?“, frage ich, um das Thema zu wechseln und etwas Anspannung aus dieser Unterhaltung zu nehmen. Es wirkt. Jakes Schultern lockern sich. Sein Blick bleibt skeptisch. „Ja, eine Bekannte von mir, will ihn für ihre Tochter. Sie soll damit nur Hausaufgaben machen können und dafür reicht er allemal. Wenn ich ihn noch mal neu aufziehe, dann kann sie sogar ohne Probleme YouTube-Videos schauen.“ Ich nicke unaufmerksam. Mehr macht Jeff damit eigentlich auch nicht. YouTube und Pornos. „In guten Händen also..“ „Ja“, erwidert er und schenkt mir ein verwirrtes Lächeln. „Gut...man sieht sich. Vermutlich “, sage ich abrupt und deute zum Ausgang. Ich drehe mich nicht noch mal um, selbst als er mir noch etwas nachruft. Bereits auf dem Weg ins Foyer stopfe ich mir die Ohrstöpsel in die Ohren zurück und bin nun der wahrhaftigen Überzeugung, dass ich langsam aber sicher den Verstand verliere. Ich verhalte mich nicht mehr normal. Ganz und gar nicht. Was habe ich mir dabei gedacht? Habe ich überhaupt gedacht? Ich bezweifele es. Auf dem Weg zurück zum Wohnheim erreichen mich mehrere Nachrichten gleichzeitig. Lena. Brigitta. Luci. Lena will wissen, ob ich bei Hendriks Geburtstagsgeschenk dazulegen will. Und wie ich das will. Jetzt wo ich nicht mehr im selben Haus wohne, fällt mir die Geschenkeauswahl noch schwerer. Ich frage nicht mal nach, was sie zu kaufen gedenkt, sondern sage direkt ja. Der Preis ist mir fast egal. Brigitta brigittat. Ich antworte ihr lieber später, sonst werde ich heute zu nichts mehr kommen. Als letztes lese ich Lucis Nachricht. Wie immer zaubern mir die Worte meiner kleinen Eismagd ein Lächeln auf die Lippen. Im Grunde ist es ein kleiner Werbespruch, der mich dazu animieren soll, bei ihr vorbeizukommen. Ich hätte meine gewöhnliche Eisration noch nicht in Anspruch genommen. Sie hat Recht. Ich war bisher ungewöhnlich wenig im Café. Vielleicht könnten Kain und ich morgen...Ich breche den Gedanken ab. Herrje, was hat er nur mit mir gemacht? Ich habe einem Date zugestimmt. Einem Date! Einem Date mit Kain. Obwohl meine Gedanken Achterbahnfahren, spüre ich eine eigenartige innere Ruhe. Mein Inneres fühlt sich wohl mit der Vorstellung. Ich ziehe die Schublade meines Schreibtisches aus, hebe die Unterlagen darin an und krame nach einem kleinen Umschlag, der tief vergraben ist. Schneller als gedacht, ziehe ich ihn hervor. Es befinden sich Bilder darin. Die Einzigen, die ich von zu Hause mitgenommen habe. Sie zeigen mich und meinen Bruder. Als Babys. Als Kleinkind. Ich betrachte jedes einzelne Bild lange und mit wachsender Schwere. Aber auch mit unglaublicher Liebe. Jeff kommt wieder erst spät nach Hause und ist am Morgen vor mir verschwunden. Sehr ungewöhnlich. Am Nachmittag kommt er zurück und klärt mich darüber auf, dass er bei einer Klausur, die er im ersten Prüfungszeitraum vor den Ferien geschrieben hat, durchgefallen ist. Ein Punkt hat ihm gefehlt. Ich habe sogar etwas Mitleid mit ihm. Jeff fällt die Lernerei schwerer als mir. Schon damals in der Schule. Wir haben oft zusammen gepaukt und am Ende habe ich es ihm erklärt. Auch jetzt Frage ich ihn, ob ich ihm irgendwie helfen kann, aber er schüttelt nur frustriert den Kopf und schließt für ein paar Minuten die Augen. Ich widme mich wieder meinen Hausarbeiten. „Ich hab vorhin Jake getroffen“, sagt er beiläufig und ich bin mir nicht sicher, ob ich darauf etwas antworten soll oder ob es allein zur Information gedacht ist. Als Jeff jedoch nicht weiterspricht, fühle ich mich fast genötigt, etwas zu erwidern. „Schön... macht ihr es jetzt offiziell?“, frage ich absichtlich provozierend. „Ach komm schon!“, mault er erregt auf, „Dachtest du wirklich, dass Jake mir das nicht erzählt?“ „Ich hatte es gehofft...“, sage ich wahrheitsgemäß und verfluche den brünetten IT-Fritzen. Dieser ehrliche, gute Mistkerl. Vermutlich ist er Heiratsmaterial. Schrecklich. „Was hast du dir dabei gedacht?“ „Nichts.“, sage ich gerade heraus und bin ganz ehrlich. Eigentlich habe ich mir nichts dabei gedacht, außer meinen eigenen Vorteil auszubauen, um Abel loszuwerden. Hat aber nicht geklappt. „Wie nichts?“ „Na ja, nichts eben.“ Er sieht mich ungläubig an. Das Jeff meinen Auftritt nicht begrüßt, war mir vorher klar gewesen. Aber dass er mir jetzt eine Szene macht, ist wirklich unnötig. Ich weiß, dass er nicht locker lassen wird, also sehe ich ihn unverwandt an. Auf alles gefasst und doch nicht ausreichend vorbereitet, wie sich zeigt. „Jake hat mich gefragt, ob es da irgendwas Unausgesprochenes zwischen uns gibt.“ BAMM. Wie bitte? „Unausgesprochenes? Verdammt Jeff, ich wollte nur, dass er endlich den Mumm hat, dich nach einem Date zu fragen. Das ist alles.“ Das ist doch lachhaft. „Aber ich bin in einer Beziehung!“ „Und?“ Gut, ich messe mit zweierlei Maß. Vor ein paar Tagen habe ich Jeff deshalb noch angemotzt, als er mir unterstellte, dass ich Shari trotz ihrer Beziehung gewissenlos angraben würde. Aber Shari und ihr Freund sind nicht Jeff und Abel. Mein Jugendfreund ist nicht glücklich, das sehe selbst. Ich, trotz meines Fuck-the-World-Filters. „Vor ein paar Wochen hättest du dich noch vor Freude gedreht wie ein Brummkreisel, wenn er dich gefragt hätte“, gebe ich zusätzlich als Erklärung von mir. Jeffs Gesichtsfarbe wird rosig. „Ich war betrunken und...und ich bin in einer Beziehung.“ Es klingt wie eine Ausrede. „Ja, in einer die dich unglücklich macht... Abel ist...Du kannst einfach Besseres haben.“ „Was weißt du schon?“, knallt er mir entgegen, „Was ist dein Problem mit ihm?“ „Er existiert und atmet“, kontere ich ohne groß nachzudenken, sehe, wie Jeffs Kopf verständnislos zur Seite fällt. Ich weiß nicht, wie oft er mich das noch fragen will. Meine Antwort wird sich nicht ändern, nur ausgeschmückt abwandeln. Abgemüht schließt er seine Augen und streicht sich durch die blonden Haare. Erst dadurch fällt mir auf, dass er beim Frisör gewesen sein muss. „Oh dear, anscheinend bist du wirklich nur an der Uni, um dein Kotzbrocken-Diplom zu machen“, wettert er. „Richtig, genauso, wie Abel hier sein Vollidioten-Magister absolviert. Summa cum laude.“ Ich wedele mit dem Armen vor seinem Gesicht rum. Jeff seufzt genervt. „Du magst ihn nicht, das hab ich verstanden, aber könntest du nicht ...“ „Ach komm schon, Jeff“, unterbreche ich ihn direkt, bevor er mich zum wiederholten Male darum bitten kann, nett zu seinem Freund zu sein. „Ach komm schon, was, Robin?“, schleudert er mir verärgert zu. Ich beiße die Zähne zusammen. Ich habe es versucht. Ich habe es vielleicht nicht 100% ernsthaft versucht, aber zu 20 % robintechnisch und das ist im Grunde schon das höchste aller Gefühle. Jeff lässt einfach nicht locker und langsam aber sicher merke ich, wie meine Zurückhaltung bröckelt. Er will die Wahrheit? Er kann die Wahrheit gern kriegen. „Okay. Nein, ich kann nicht. Abel ist dämlich. Sein Humor ist zum Kotzen. Seine Stimme ist einschläfernd und er ist gruselig. Ich finde, er ist nicht gut zu dir. Er passt überhaupt nicht mal ein kleines bisschen zu dir und nicht nur, weil du jemanden verdienst, der dich wirklich glücklich macht. Der auf deinem Niveau ist und nicht nur so tut. Der dich so behandelt wie den größten Schatz der Welt und nicht hinterrücks deine Freunde anmacht und sich unterbrochen so anpreist, als wäre er der geilste Typ der Welt. Ach fuck“, beende ich meine Tirade laut und streiche mir die Haare zurück. So habe ich es ihm nicht sagen wollen und zu meinem Entsetzen muss ich feststellen, dass meine Bücher tatsächlich auf mich abfärben. Größter Schatz der Welt? Bitte erschießt mich. Jeff sieht mich überrascht an. Bevor er jedoch den Mund auf machen kann, fange ich noch mal an. „Weiß du was? Du hast Recht. Es ist dein Leben. Es ist deine Beziehung. Ich habe keine Ahnung davon, weil ich nie eine hatte, also werde ich weiterhin, wenn es dir recht ist, versuchen, Abel einfach zu ignorieren...“ Damit drehe ich ihm meinen Rücken zu und richte meinen Blick auf den Bildschirm. Vielleicht hat Jeff den letzten Teil gar nicht mitbekommen. „Wie hast du das gemeint?“, fragt er und wartet meine Antwort gar nicht ab, „Er hat doch nicht... nicht wirklich, oder?“ Ich drehe mich wieder zu meinem Jugendfreund um und weiß nicht, was ich sagen soll. Jeff liest meinen Gesichtsausdruck auch ohne Übersetzungsapp. „Oh, dieser Mistkerl...dieser verfluchte Mistsack“ Er lässt sich zurück aufs Bett fallen und sieht einen Moment lang so aus, als wurde er gleich das Kissen zerfetzen. Stattdessen greift er nach seinem Telefon und tippt ungewöhnlich aggressiv auf das Display ein. Dann wirft er es ins Kissen und verschränkt die Arme vor der Brust. Ich drehe mich langsam wieder zu meinem Bildschirm um und presse meine Lippen aufeinander. Das Timing und Fingerspitzengefühl nicht zu meinen Stärken gehören, habe ich gerade vortrefflich bewiesen. Ich warte auf das verbale Feuerwerk, doch nichts passiert. „Bestellen wir uns nachher eine Pizza?“, fragt Jeff in die bedrückende Stille hinein. Es ist ewig her, dass wir zusammen etwas bestellt haben und ich weiß, dass Pizza eine gute Nervennahrung für ihn ist. Im Grunde bin ich es ihm schuldig, doch heute ist der denkbar schlechteste Zeitpunkt. Mit den Augen suche ich mein Telefon und denke an den Schwarzhaarigen. Ich könnte ihm absagen. Aber ich will es nicht. „Bin nicht da...“, murmele ich. „Was heißt nicht da?“, hakt er nach und legt das Buch zur Seite, mit dem er sich gerade abgelenkt. „Nun ja, ich verlasse dieses Zimmer und gehe raus“, sage ich genauso unpräzise wie vorher. „Du gehst raus? Und was machst du?“, bohrt er weiter. An seinem Tonfall merke ich, dass er weiterhin erregt und angefressen ist. Die Sache mit Abel ist noch nicht vorbei. Vermutlich, weil sich der Blonde davor hütet, auf Jeffs Nachricht zu antworten. „Wahrscheinlich etwas essen“, sage ich ausweichend, da ich nicht weiß, was Kain eigentlich plant. Auf meine Rückfrage hat er nur kryptisch geantwortet. „Essen? Allein?“, fragt er weiter. Nun sehe ich genervt auf. Ich bin ja selber schuld. Ich habe nicht das geringste Bedürfnis, mit Jeff zu streiten, habe ich nie, aber es passiert einfach. Und egal, was ich sage, irgendwann schaukelt es sich hoch. „Jeff!“, mahne ich kraftlos. Mit einem Mal sehe ich das Buch quer durch den Raum fliegen und an der Wand bei meinem Bett abprallen. Es bleibt aufgeklappt auf meiner Decke liegen. „Wieso sagst du es mir nicht einfach?“, bellt Jeff mich plötzlich an, während ich noch immer erschrocken auf die Stelle blicke, an der das arme Buch liegen geblieben ist. Er ist aufgesprungen und ballt seine Hände zu Fäusten. „Was denn?“, erwidere ich irritiert. Ich bin mir nicht sicher, ob wir immer noch beim gleichen Thema sind. „Komm schon! Erspar uns doch diese billige Retourkutsche. Ich weiß es längst...“ Diesmal lässt seine Körperhaltung keinen Zweifel zu. Er weiß es wirklich. _______________________________________________________________________________________________ PS: Euch allen wünsche ich noch ein wunderbares, glückliches und gesundes neues Jahr, welches hoffentlich mit Ruhe und Entspannung, aber auch Abenteuern und Herausforderungen gespickt sein wird! Ich danke euch für die wundervolle Unterstützung, die mir so viel Mut macht, mir so viel Freude schenkt und mich immer wieder freudestrahlend den Tag begehen lässt. Danke, dass ich euch mit meiner Geschichte erfreuen darf Kapitel 26: Ich weiß nicht, was ich wollen soll ----------------------------------------------- Kapitel 26 Ich weiß nicht, was ich wollen soll Jeffs blaue Augen funkeln mir entgegen. Diesmal bin ich mir sicher, dass er von keiner meiner lang zurückliegenden Eskapaden spricht oder von Sina. Nein, diesmal meint er das, wovor ich mich schon so lange drücke. Jeff wartet darauf, dass ich etwas erwidere, aber ich kann nicht. Stattdessen sehe ich dabei zu, wie mein Kindheitsfreund hartnäckig seine Lippen aufeinanderpresst und jeden Moment wie ein Ballon anschwillt und abhebt. „Und?“, entflieht ihn mit einem geblähten, ausstoßenden Laut. „Es ist nicht, was du denkst“, sage ich aus der Gewohnheit heraus und bringe es nicht über die Lippen, es nur Sex zu nennen oder es überhaupt irgendwie zu benennen. „Ach komm! Ist das dein Ernst, nicht mal jetzt kannst du es zugeben?“, blafft er wütend zurück. Er streicht sich fahrig durch die ungemachten Haare und schüttelt seinen Kopf. „Ich weiß es schon eine ganze Weile… also lass es. Und ich verstehe es nicht.“ „Was genau verstehst du nicht?“ „Wieso du es mir nicht gesagt hast.“ „Was willst du denn jetzt hören?“, watsche ich zurück. Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, warum ich es ihm nicht gesagt habe. Am Anfang war es Sex und nichts anderes. Nichts, was ich Jeff jemals brühwarm aufgetischt hätte. Nie habe ich und nie werde ich. „Die Wahrheit wäre ganz nett.“ „Hey, komm...“, entgegne ich angepisst, “Ich habe dich nie belogen und du bist doch genauso selbstverständlich davon ausgegangen, dass es mir vollkommen egal ist, dass du schwul bist und einen Freund hast. Also, bitte ... ich ging von der gleichen Annahme aus. Meine Sexgeschichten haben dich sonst auch nicht interessiert.“ Seine Überreaktion regt mich auf und das soll er wissen. Auch, wenn dieses `So, wie du mir, so ich dir` ziemlich kindisch ist. „Ganz toll. Du gibst mir die Schuld, weil ich dir nicht sofort gesagt habe, dass ich schwul bin und einen Freund habe? Wärst du nicht so ein ignoranter Idiot, hättest du es von allein gemerkt. Und die Tatsache, dass du mir das mit Kain nicht erzählt hast, zeigt doch deutlich, dass du nicht denkst, dass es mir egal ist.“ Langsam dreht sich mein Schädel. Ich brauche von der letzten Tirade eine Kurzfassung. „Was?“, entflieht mir demzufolge genervt und Jeff antwortet mir prompt. „Du hattest nicht den Arsch in der Hose und es ist dir nicht egal, was ich denke“, bellt er mir das Resümee zu. Wäre ich nicht so verwirrt und sauer, würde ich ihm danken. Er hat Recht. Erst war es mir nicht wichtig und dann hatte ich einfach nicht den Mut. „Nein, ist es nicht und es gibt gar nichts zu erzählen. Es ist Sex.“ Nun hab ich es doch gesagt. „Sex mit Kain!“ Der ausgesprochenen Namen des schwarzhaarigen Mannes setzt in meinem Körper eine seltsame Regung in Gang. Alles beginnt zu kribbeln. Doch gerade ist es mir unangenehm. Ich wende mich frustriert von meinem Mitbewohner ab, fahre mir seufzend durch die Haare und einmal übers Gesicht. Wie heißt es noch mal? Fidibidiverschwindibus? Klappt nicht. Jeff holt gerade wieder Luft. „Du vertraust mir nicht. Was denkst du denn, was ich getan oder gesagt hätte?“ „Keine Ahnung. Vermutlich, dass du es überdramatisierst und Dinge hineininterpretierst, die nicht stimmen. Genauso, wie du es jetzt machst“, pampe ich ihn an, als ich mich wieder umdrehe. „Das mache ich nur, weil du mir nie etwas erzählst und mit Kain schläfst.“ „Kannst du damit aufhören!“ „Womit?“ „Na, es ständig auszusprechen!“ „Was, dass du mit Kain schläfst? Ihn vögelst? Dass ihr den Nacktboogie tanzt. Ihr beide miteinander fickt?“ Wie lautmalerisch. „Oh, bist du endlich fertig?“, belle ich genervt, „Ja, genau das! Lass das.“ Wenn Jeff noch einmal ausspricht, dass ich mit Kain schlafe, dann werde ich garantiert zum Grinch. Mein Kindheitsfreund schaut mir unentwegt und seltsam entschlossen entgegen und mir wird deutlich, dass unser Gespräch noch lange nicht beendet ist. Ich wappne mich für einen weiteren hysterischen Jeffanfall und schiele unauffällig zu der Schublade mit meinen geräuschunterdrückenden Kopfhörern. Irgendwo habe ich auch noch Ohropax und ein Eis könnte ich auch gebrauchen. Oder Pudding. Jeff holt tief Luft und atmet dann zu meinem Erstaunen einfach nur langsam und beruhigend aus. „Klär mich auf, bist du jetzt ... bi, schwul...pan? Und wieso Kain?“ „Was? Wie bitte...Was ist das für eine Frage?“ Ich stoppe mich selbst, als ich für einen Augenblick darüber nachdenke, dass die erste Frage durchaus berechtigt ist. „Keine Ahnung. Ist das wichtig?“, stottere ich erst energisch, dann seufzend resigniert. Grundsätzlich hadere ich mit den richtigen Worten. Denn mir fällt eindeutig auf die Füße, dass ich selbst noch nicht über all das nachgedacht habe. Verdrängen war so viel einfacher gewesen. Noch dazu stellt sich mir die Frage, ob ich mich wirklich kategorisieren lassen muss. Auf den zweiten Teil antworte ich nicht. „Und das mit dir und Kain ist was genau?“ „Ähm...pff...eindeutig... Wahnsinn.“, druckse ich rum. Ich blase während meiner Erklärung ein paar Mal kurz die Wangen auf. Jeff starrt mich verbissen an. Anscheinend ist es nicht das, was er von mir hören will. „Okay, es war Neugier. Reine nackte Neugier.“ Jedenfalls zu Beginn, aber nackt sind wir definitiv. „Neugier? Nackte Neugier.“, wiederholt er knurrend, „Verdammt Robin, willst du mich verarschen. Weißt du eigentlich, wie schwer es für mich gewesen ist? Wie oft ich früher vor Verzweiflung am liebsten geheult hätte? Ich habe das Jahre lang mit mir rumgeschleppt, gehadert und gezögert und du sagst, dass du einfach so aus reiner Neugier mit Kain fickst? Fuck, wie oft wollte ich dir...“, bellt er mir haltlos entgegen und stoppt. Jeff beißt die Zähne zusammen und schnauft. Er gesteht mir ein Teil seiner vergangenen und gegenwärtigen Gefühlslage und ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Ich sehe ihn eindringlich an und hoffe inständig, dass es nicht das ist, was ich denke. „Das kann nicht dein Ernst sein! Verdammt Koch, wenn du mir jetzt erzählst, dass du in mich...“, werfe ich ihm erschrocken an den Kopf. „Was? Nein!!!“ „Gut!“ „Gut!“, knallt er mir ebenso energisch entgegen. Wir beide halten kurz die Luft an. Ich spüre, wie ein wenig der angestauten Anspannung von mir abfällt und atme deutlich in die Stille hinein. „Na ja, vielleicht ein bisschen...“, hängt er mit einem Mal leise ran und mein Magen macht eine direkte Kehrtwende. Was ist das Gegenteil von Looping? Rückwärts, quer und dreimal um die eigene Achse. „Jeff, was zum Teufel?“, entflieht mir entsetzt. Das ist ein Albtraum. „Früher, okay!“, entgegnet er schnell, „Ich hatte eine Phase, da war ich ein bisschen in dich verliebt. Ich meine, du bist die Person, die mir neben meiner Mutter immer mit am nächsten war und als ich merkte, dass meine Mädchen-sind-doof-Phase nicht in eine Mädchen-sind-doof-aber-geil-Phase umschwenkte, da war ich ... na ja...eine Weile in dich verknallt.“ Ich starre ihn die ganze Zeit über ungläubig an. „Verknallt?“, wiederhole ich apathisch. „Alles ganz harmlos.“, versichert er mir. „Harmlos?“ Ich kann es immer noch nicht fassen. „Ja. Es waren nur ein paar Fantasien und es gab mir die Möglichkeit, mich mit dem Ganzen auseinanderzusetzen. Und mittlerweile weiß ich, dass du ganz und gar nicht mein Typ bist“, plappert er, „Aber du bist mein bester Freund und ich dachte nach dem ganzen Chaos mit Abel, dass wir endlich ehrlicher zueinander sind.“ Als er endet, erfüllt nur unser Atem den Raum. In meinen Ohren dröhnt er. Jeff dreht sich um, geht auf sein Bett zu und lässt sich rücklings darauf fallen. Ein Sockenknäul hüpft hoch und rollt zu Boden. Ich sehe dabei zu, wie es unter seinen Schreibtisch liegen bleibt und sehe dann erst zurück zu meinem Jugendfreund. Er stützt sich auf beiden Armen hoch und sieht mich an. Ich lasse mich achtsam auf meinen Schreibtischstuhl nieder und erwidere seinen Blick nur halbherzig. Meine Gedanken kreisen. Ich denke an all die Situationen, die mir hätten einen Hinweis geben können. Es gab sie. Etliche. Mit einem Mal kommt mir auch unser Kuss wieder in den Sinn. Zehnte Klasse. Es war eine verlorene Wette meinerseits und Jeff hat sich ganz uneigennützig zur Verfügung gestellt. So aufopfernd war er wohl doch nicht gewesen. Ehrlicher sein. Jeffs Wunsch. Jeffs Vorstellungen. Er war schon immer ehrlicher, anhänglicher, nervig interessiert und hin und wieder sogar kuschelig. Er ist vertrauenswürdig und das schätze ich sehr an ihm. Auch, wenn es mein Leben manchmal schwerer macht, weil er das auch von mir fordert. „Wow, ich hätte nicht gedacht, dass ich dir das jemals erzähle“, beichtet er und klingt dabei mehr als erleichtert. Mein Magen rumpelt lautlos, aber deutlich. Diese Art des Gesprächs ist mir unglaublich unangenehm und ich muss stark gegen meinen Fluchtreflex ankämpfen. „Und ich wünschte mir nichts sehnlicher, als dass du es mir nie erzählt hättest“, gebe ich in gewohnter Weise knirschend retour. Jeff neigt seinen Kopf hin und her und ich bin mir sicher, dass er mich in seinen Gedanken nachäfft. Vermutlich habe ich das genauso verdient. „Schon klar.“, kommentiert er dennoch. So sehr ich mich auch dagegen wehre, aber im Grunde überrascht mich die Offenbarung gar nicht. Jeff hat Recht, wenn ich all die Jahre aufmerksamer gewesen wäre, dann wären mir viele Dinge früher aufgefallen und mit Sicherheit hätte ich ihm damit einiges erträglicher gemacht. Aber so bin ich nicht und so werde ich auch nie sein. Dieses Gespräch war wirklich lange überfällig und so sehr ich es auch verabscheue, umso mehr schätze ich Jeffs Offenheit und verteufele meine Rumdruckserei. Doch, was hätte ich ihm sagen sollen, wo ich doch selbst nicht weiß, was ich mit dem Schwarzhaarigen für eine bizarre Geschichte habe. Ich weiß noch nicht einmal, was ich von dieser Ausgehidee halten soll und am wenigsten verstehe ich, was Kain damit bezweckt. Er kann doch unmöglich denken, dass ich... dass wir... „Okay, also Neugier und Sex... und das heute ist was? Ihr geht zusammen essen... also, ein Date?“ Jeffs Fragen lassen mein Gedankenkarussell innehalten. Fast sofort kippt mein Kopf verdrießlich nach vorn. Für einen winzigen Moment lang hatte ich die Hoffnung, es endlich überstanden zu haben. „Was um Himmelswillen lässt dich diese Annahme treffen?“, frage ich fast schon entsetzt, aber allen voran genervt. Ich habe nichts Derartiges angedeutet, noch habe ich erwähnt, dass ich mich mit Kain treffe. Wie kommt überhaupt irgendjemand darauf, dass Kain und ich ein Date haben könnten? Na ja, abgesehen von Kain selbst. „Wieso solltest du sonst ein Geheimnis darum machen wollen? Du triffst dich doch mit Kain, nicht wahr?“, kontert Jeff und lässt dabei seine Füße wackeln. Er hat Unrecht, denn ich mache aus allem ein Geheimnis. Ganz besonders dann, wenn es um so eine Thematik geht. „Außerdem ist Kain nicht so der Typ für lockere Sachen“, ergänzt er mutmaßend. Das hat er schon einmal gesagt und schon damals wusste ich nichts mit dieser Information anzufangen, außer, dass es mir egal war. Kain ist ein erwachsener Mann. „Bist du jetzt auch Verhaltensexperte? Woher willst du das so genau wissen?“, erwidere ich ungerührt. Ich spare mir die Argumentation, dass, entgegen jeder Erwartung, Kain das lockere Fickverhältnis vorgeschlagen hat. Nicht ich. Und es hat auch recht lange funktioniert. Eigentlich war auch Kain derjenige, der mich verführte. Doch je angestrengter ich darüber nachdenke, umso mehr Momente fallen mir ein, in denen es weit intensiver war, als nur der Akt selbst. Und ich bin nicht ganz unschuldig daran, denn auch ich habe ihm mehr Raum zugestanden, als ich wollte. Außerdem habe ich es weitaus mehr genossen, als ich es dürfte. „Also kein Date, oder doch?“ Ich stoße geräuschvoll die Luft aus und versuche, meinen Jugendfreund bestmöglich zu ignorieren. Gar nicht so einfach. Zudem interpretiert Jeff mein Schweigen als Bestätigung. „Ist das eigentlich dein erstes... richtiges...?“, hakt er nach und lässt sich bei jedem Wort eine Unmenge Zeit. Ich unterbreche ihn als ich begreife, worauf es abzielt. „Jeff! Du willst doch nächstes Jahr nochmal Geburtstag haben, oder?“ Der Name meines Jugendfreundes perlt resigniert von meinen Lippen. „Ich frag ja nur...“ „Wir sind lediglich zwei Menschen, die sich der obligatorischen Nahrungsaufnahme widmen. Und jetzt hör auf zu fragen“, warne ich, nachdem ich dabei zusehe, wie Jeffs Augenbraue beeindruckend weit nach oben wandert. Im Grunde ist es genau die Definition, die ich Kain einmal per Nachricht geliefert habe, als ich mich über sein und Marvins Date lustig gemacht habe. An die Tatsache, dass Kain ebenso von einem Date sprach, als er mich fragte, versuche ich in diesen Augenblick nicht zu denken. So oder so, es ein Date zu nennen, macht es keineswegs einfacher oder sinnvoller für mich. Genervt wende mich nach einem kurzen Blick auf die Uhr meinem Kleiderschrank zu. Obwohl ich der Überzeugung bin, dass es sich nicht um eine wirkliche, echte Verabredung handeln kann, sollte ich wenigstens ein sauberes Oberteil anziehen. Damit spiele ich allerdings Jeffs fabulöser Schnapsidee nur noch mehr in die Hände. „Du ziehst etwas anderes an!“, stellt er fest und schiebt noch ein Interessant hinter her. Ich lasse das Kleidungsstück in meiner Hand bezeichnend sinken. „Und?“, entflieht es mir mit deutlich überstrapazierten Nerven. „Ich könnte dir etwas Ordentliches von mir leihen“, schlägt er vor. Ich schnaufe. „Ich weiß, dass ich in deinen Augen eine modische Katastrophe bin, aber nein... das ist nur ein Essen.“ „Klar“, erwidert er knapp und bleibt danach auffällig still. Ich drehe mich wieder zum Schrank und krame darin rum. „Wenn man es nur oft genug sagt...“, hängt er murmelnd mit ran. Ich verstehe es jedoch deutlich und ignoriere ihn. Jeff erhebt sich vom Bett und setzt sich zurück auf seinen Schreibtischstuhl. Seine Beine schlägt er übereinander. Sofort wippt sein Fuß unruhig auf und ab und verursacht dabei ein sehr nerviges reibendes Geräusch. Nach dem dritten aussortierten Shirt wende ich mich wieder um, weil der Laut immer penetranter wird. „Okay... Was?“ „Nichts.“, sagt er. Zu schnell. Zu spitz. Jeffs Bein stoppt. Ich starre ihn an und sein Fuß zuckt. Danach seine Zehen. „Sag einfach, was du sagen willst“, harsche ich ihn an. „Okay!“ Abwehrend heben sich seine Hände in die Höhe. „Ich schnalle es einfach immer noch nicht.“ Erneut entsteht eine Pause. „Was schnallst du nicht?“, frage ich, als Jeff allein keine Anstalten macht. „Na, du und Kain. Wie kann es sein, dass ihr zwei Heten auf einmal auf die Idee kommt, miteinander ins Bett zu gehen? Im Ernst, Neugier, mehr nicht? Einfach so?", fragt er skeptisch. In Ermangelung einer plausiblen Erklärung nicke ich. Jeffs Blick straft mich voller Unglauben und ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Denn genauso ist es gelaufen. Kain klopfte an meiner Tür, offenbarte mir, dass Jeff schwul ist und nachdem er mich in Grund und Boden genervt hat, haben wir uns betrunken der frivolen Bettwühlerei hingegeben. Das nenne ich eine Geschichte, die man definitiv nicht seinen Eltern erzählt und besser auch niemand anderen. „Du machst mich fertig, weißt du das?“, entfährt ihm geschafft, „Wie genau muss ich mir das eigentlich vorstellen?“ „Was bitte willst du dir vorstellen?“ Am liebsten wäre mir, wenn er sich gar nichts vorstellt. Niemals. Eine, der kleinen Warnleuchten in meinem Kopf beginnt zu rotieren. Das machen sie nicht allzu oft. Jeff streicht sich, bevor er mir antwortet, ein paar imaginäre Fusseln vom T-Shirt. „Na, ist das nur so ein bisschen grabbeln, rubbeln und Frotting a la Highschool zwischen euch oder geht’s so richtig zur Sache?“ Ich beiße die Zähne zusammen und kann nicht verhindern, dass bei Jeffs Umschreibung mein Kopf verzweifelt nach vorn kippt. Frotting? Wieso macht er sich über sowas Gedanken? „Wer liegt bei euch oben?“, fährt er fort. Nicht sein Ernst? Mir entflieht ein weiteres Mal sein Name und ich bin immer wieder begeistert, wie vielfältig die Betonungsmöglichkeiten sind. Diesmal ist es eine herzhafte Mischung aus Entsetzen und Genervtsein. Es ist tief und langgezogen mit einer passenden Welle nach dem Vokal. Ich atme tief durch, ordne die Reste meiner Fassungslosigkeit hinter meiner Fassade der Gleichgültigkeit ein und versuche, das Gespräch schnellstmöglich in eine andere Richtung zu lenken. Es zu beenden, hat ja leider nicht funktioniert. „Woher weißt du es überhaupt?“, frage ich, statt ihm zu antworten. Ich werde jetzt nicht anfangen, irgendwelche Details mit ihm zu sprechen. Außerdem interessiert mich brennend, ob Abel seine Klappe nicht halten konnte oder ob Jeffs Intuition und Kombinationsgabe wirklich so herausragend ist, wie er gern behauptet. Ich würde Variante eins bevorzugen und Abel bei der nächsten Gelegenheit gern eine reinhauen. Dafür braucht man keine Intuition und Kombinatorik. „Ich hab meine Quellen“, gibt er prompt von sich und sieht dabei mächtig überzeugt aus. „Hast du?“, hake ich ungläubig nach. „Ja! Und entgegen deiner Überzeugung, bin ich nicht bescheuert. Die Zeichen waren eindeutig. Du warst noch geheimnisvoller als sonst, ständig weg und da waren die Knutschflecke und die Nachrichten“, präsentiert er mir seine Ermittlungsarbeit. Nichts weiter als Indizien und alles keine Erklärungen dafür, wie er auf Kain kommt. Immerhin war ich auch mehrmals weg, als Kain bei Jeff war. Eismesse sei Dank. Es hat mir das Zombiemassaker erspart. „Muss ich dich jetzt Sherlock nennen?“ „Pff, Jefflock bitte und weißt du was? Es gab sogar Tage, da warst du derartig entspannt, dass es mir Angst gemacht hat... wie hätte ich also nicht drauf kommen können?“, fährt er fort. Ich verdrehe die Augen. Jeder ist mit regelmäßigem Sex entspannter. Selbst grummelige Steine, wie ich. „Und was ist das nun wirklich mit dir und...“ „Sag ich dir, wenn ich es raus gefunden habe.“ Diesmal unterbreche ich ihn, bevor er eine weitere dieser peinlichen Fragen stellen kann. Zu bestreiten, dass es überhaupt irgendwas ist, scheint bei Jeff sowieso nicht zu fruchten. Also lasse ich es. Mein Kindheitsfreund steht wieder auf, lässt sich zurück auf sein Bett fallen und reibt sich den blanken Bauch. Vermutlich war sein Pizzawunsch nicht nur so daher gesagt. „Werden wir jemals normal darüber reden können?“ Jeff schmatzt leise. „Wenn du aufhörst, nach Sex zu fragen... möglicherweise.“ „Witzbold.“ Ich kann nur ein leises `Das ist doch das Spannende` hören, reagiere aber nicht darauf. Er versteht, dreht sich murrend auf den Bauch, vergräbt sein Gesicht ins Kissen und beginnt danach zu meinem Leidwesen, irgendein Zeug zu plappern. Wenigstens scheint er nicht mehr sauer zu sein oder zu mindestens hebt er sich seine Rache für einen Moment auf, in dem ich nicht mehr damit rechne. Drauf hätte er es. Ich lasse die Geräuschuntermalung kommentarlos über mich ergehen, während ich ein halbwegs passables T-Shirt finde, über das ich mir letztendlich einen Pullover ziehe. Logik ist heute ausverkauft. Bevor ich das Zimmer verlasse, vibriert mein Telefon. An der Tür bleibe ich stehen, ziehe es aus der Hosentasche und entdecke eine Nachricht von Kain. Im ersten Moment zögere ich, sie zu öffnen. Mein Herz stolpert blindlinks vor Aufregung. Etwas, was ich schon lange nicht mehr gespürt habe. Das Display wird wieder schwarz, bevor ich die Nachricht lesen kann. Was, wenn er absagt? Was wenn ihm klar geworden ist, dass es eine Schnapsidee ist, mit mir auszugehen? Ich weiß nicht, warum es mich derartig beunruhigt. Dann eben nicht, sage ich mir. Es wäre mir doch egal. Oder? Ich unterdrücke jeden weiteren Gedanken daran, schalte das Handy wieder ein und öffne seine Nachricht. -Muss noch schnell ein Buch wegbringen. Die Bibliothekarin hat mir auf die Finger gehauen. Lauf nicht weg- Untermalt wird das Ganze von mehreren Zwinkeremojis. Unwillkürlich fange ich an zu lächeln und wische mir selbst mehrmals über den Mund, um es wieder weg zubekommen. Jetzt werde ich auch noch zum grinsenden Volldeppen. Nicht weglaufen. Leichter gesagt als getan. -Komme dir entgegen-, antworte ich ihm. Ganz ohne Smileys. „Viel Spaß“, flötet mir Jeff zu, den ich, nach einem kurzen Blick zurück, grinsend und zurückgelehnt auf seinem Stuhl entdecke. Ich antworte ihm diesmal mit meinem Mittelfinger und verschwinde aus dem Wohnheim. Fast automatisch ziehe ich draußen meine Packung Zigaretten hervor und stocke, bevor ich mir wirklich eine zwischen die Lippen stecke. Das feine Kribbeln in meiner Lunge ist nur ein Schatten meines sonstigen Bedürfnisses. Also schiebe ich die Zigarette zurück in meiner Hosentasche und atme stattdessen die abendschwere Luft ein. Ich schaffe gerade die Hälfte der Strecke, als sich mein Handy erneut zu regen beginnt. Diesmal ist es ein Anruf. Seufzend versuche ich ihn so lange wie möglich zu ignorieren. Doch mein Anrufer ist hartnäckig. „Ich bin nicht in Stimmung“, sage ich ohne lästige Begrüßung oder fadenscheiniger Freundlichkeit, als ich den Anruf meine Lektorin annehme. Ein unbeeindrucktes Kichern antwortet mir. „Gut, dass mir das herzlich egal ist, mein kleiner luftiger Cronut. Also blas dich ruhig weiter auf.“ Ich kann nicht verhindern, dass ich mir genau das vorstelle und versuche seufzend die Szenerie aus meinem Kopf zu verbannen. Brigitta fühlt sich urkomisch und macht mir das geräuschvoll deutlich. „Kriegst du Bonusmeilen für jeden unnötigen Anruf?“ „Schön wäre es. Dann hätte ich dank dir schon einen Freiflug nach Australien und wieder zurück. Und keiner meine Anrufe ist unnötig.“ Mit Sicherheit. „Mohnkringel, ich lass dich ja gleich wieder in Ruhe. Ich möchte nur ein paar Dinge wegen des Wochenendes mit dir abklären.“ „Wenn es sein muss.“ Sie startet noch einmal mit dem Ablauf des Treffens und fragt mich, auf welchem Stand ich bin. Allerdings erst, als ich den Vormittag schon im Quadrat kotzen kann. Wie sie richtig vermutet, habe ich irgendwann aufgehört, ihre Änderungsmails zu lesen und habe mich stattdessen mit Kain beschäftigt. Es war meiner Laune deutlich zuträglicher, als zum wiederholten Mal zu lesen, dass sich die Pause um eine halbe Stunde hin und her verschiebt. Solange ich meinen Pudding bekomme, ist es mir egal, wann ich ihn bekomme. Und ich bin der Überzeugung, dass ich das meiner Lektorin auch irgendwann auf die Mail antwortete. Brigitta bestätigt mir, dass ich das dem gesamten Verteiler kundgetan habe. „Es werden noch drei weitere Autorinnen teilnehmen.“ Sie nennt mir ihre Namen. Mir kommt keiner davon bekannt vor. “Hoffentlich bekommen wir einen guten Austausch zustande und können einen ersten Fahrplan festlegen. Es wird bestimmt ganz toll.“ „Großartig!“ Meine Begeisterung lässt sich kaum bändigen. Mein internes Sarkasmuseinhorn macht einen doppelten Toeloop. Heute nenne ich es Vinny. Er kriegt nur 8 von 10 Punkten, denn der Abgang ist bitter. „Und als letztes! Denkst du bitte daran, gute Laune mit zubringen“, mahnt mich meine Lektorin wenig subtil an. „Ich dachte, sie sollen mein wahres Ich kennenlernen?“, bemerke ich trocken und kann mir nicht verkneifen, dass ich bei dem Gedanken kurz mit den Augen rolle. Sowas absurdes. „Mein liebster Karamellbonbon, du sollst keinen beruflichen Selbstmord begehen. Sei einfach du selbst, mit ein bisschen mehr Flausch, Spaß und rosa Wolken.“ „Du willst also meine Hülle gefüllt mit Toffifee, Zuckerwatte und Karies.“ „Ganz genau!“, flötet sie melodisch. Ihre klare, direkte Antwort lässt mich resigniert seufzen. Das kann nicht ihr Ernst sein? Unwillkürlich streiche ich mir massierend über die Wangen, weil ich jetzt schon den Muskelkater vom vielen scheinheiligen Rumgelächele spüre. Mein Tod in Plüsch und rosafarbenen Salztoffis. Das Wochenende wird mein Untergang oder sie merken, dass es keineswegs sinnvoll ist, mich auf zahlende Kundschaft loszulassen. Wenn ich Glück habe, tritt die Erleuchtung noch vor der Mittagspause ein und ich kann mir einen Muskelkrampf ersparen. „Ich glaube daran, dass du dich bestmöglich präsentieren wirst.“ Ja, als Ebenezer Scrooge des Verlags. „Gut, dass das nur intern ist“, kommentiere ich und streiche mir durch die Haare. Ich bleibe zwischendrin hängen. Ich hätte sie mir vielleicht noch mal kämmen sollen. Überhaupt habe ich nicht noch mal in den Spiegel gesehen und fahre mir nun als Resultat dessen mit der Hand über meine stoppeligen Wangen. „Du solltest mehr Vertrauen in dich selbst haben. Du wirst das sicher gut machen“, versichert sie mir euphorisch. Ich zweifele nur weiter. Brigitta kann mit mir umgehen. So als Geist meiner vergangenen, gegenwärtigen und beruflichen Zukunft. Viele können das nicht und für gewöhnlich endet das mit Tränen und ohne Eis für Robin. „Ich muss jetzt los“, sage ich das Einzige, was mir noch dazu einfällt. „Uuh, das Date?“ „Wieso sagst du das... so?“ „Also ist es eins?“, fragt sie prompt zurück. Ich hätte lieber auflegen sollen. In meinem Kopf ist es einen Moment seltsam leer, weshalb eine schnelle, ablehnende Erwiderung ausfällt. „Ah, fantastisch. Ich hoffe doch mit dem Schnuckelchen, den ich bei dir im Wohnheim getroffen habe! Der charmante Adonis mit diesem herrlichen dunklen Haar. Wie hieß er doch gleich? Matt... André...Es war etwas Kurzes...“ Brigitta klingt wie ein Fangirl. Ich kriege Zahnschmerzen und das nur vom Zuhören. Nur ungern denke ich an den Moment zurück, als mir Brigitta im Wohnheim entgegen stöckelte und sie ausgerechnet Kain meine neuen Bücher ausgehändigt hat. Der richtige Name des Schwarzhaarigen folgt erst nach einer erstaunlich langen Liste an Möglichkeiten, die mich so gleich erschüttert, als auch mit etlichen Fragen zurücklässt, die ich keines Wegs stellen werde. „Ich weiß nicht, wovon du sprichst.“ „Du meinst von wem?“, korrigiert sie belustigt und quietscht erneut. „Mal im Ernst, bist du zwölf? Und ganz ehrlich, das passt überhaupt nicht zu mir, also höre auf, dir das vorzustellen.“ „Ach, wie könnte ich nicht? Vor allem, wenn mein liebster Schokodrops endlich begreift, dass ein soziales Leben nichts Gefährliches ist.“ Dem möchte ich energisch widersprechen, komme nur nicht dazu, weil meine nun angeheizte Lektorin weitere zutreffende Spitzen verteilt. „Ich habe...“ „... ein soziales Leben? Nein Zuckerspatz, grummelig ab und an mit mir ein Eis zu essen, ist keine soziale Aktivität. Egal, wie zauberhaft deine Lektorin und die junge Bedienung sind.“ Ich schmatze resigniert. Sie spielt auf Luci an. Auch bei ihr sollte ich mich langsam wieder melden und ein Eis könnte ich auch gebrauchen. Vielleicht ist nach dem Essen noch etwas Zeit, geht es mir durch den Kopf, bevor ich von Brigitta zurückgeholt werde, die eine weitere Kariesbombe über mir explodieren lässt. Irgendwann finde ich ihr zuckriges Notizbuch und werde es verbrennen! „Bist du fertig?“ „Hach, wenn du mich nur lassen würdest...“, flötet sie und ich bin mir sicher, dass sie mir noch etliche weitere Lebensweisheiten mitteilen könnte, die ihrer Meinung nach mein Leben bereichern würden, wenn ich sie nur lasse. „Niemals...“ „Ich weiß. Ich wünsche dir einen wundervollen Abend voller Amour und la Passion! Wir sehen uns morgen und dann will ich alle Details, mon petit four.“ Weitere Zuckrigkeiten folgen und diese sind alle auf Französisch. Noch mehr ertrage ich nicht. „Ja. Ja.“, gebe ich von mir und lege auf, während ich weitere französische Säuseleien höre. Wenn Brigitta wüsste, dass ich schon längst unzählige Details habe, dann würde sie mich nicht mehr aus ihren Fängen lassen und wahrscheinlich nie wieder mit ihrem unmelodischen Französisch aufhören. Als ich das Telefon in die Hosentasche zurückschiebe, streifen meine Finger erneut die Packung Zigaretten. Meine Lunge britzelt, schreit, doch der Geschmack auf meiner Zunge wird schon jetzt bitter. Also lasse ich die Zigarettenpackung an Ort und Stelle und gestehe mir ein, dass ich an einen ganz anderen Geschmack denke. Ich streiche mir über die unruhigen Lippen. Mehrmals, ohne eine Besserung zu verspüren. Okay, ich bin nervös. Ich weiß nicht, wieso, aber ich bin es und es geht mir auf die Nerven. Noch dazu verstehe ich absolut nicht wieso. Immerhin ist es nur Kain. Und es ist nur ein Essen. Ein stinknormales und nichtssagendes Essen. Mittlerweile habe ich es so oft gesagt, dass ich es glatt glauben könnte. Nur tue ich es nicht. Immerhin hat auch Kain mehrmals dieses böse Wort mit vier Buchstaben in den Mund genommen und ich habe es ihm beim Nachfragen auch noch bestätigt. Ein Date. Ja, ein Date. Was habe ich mir dabei nur gedacht? Erst das lauter werdende Geklacker von hochhackigen Schuhen auf Asphalt holt mich wieder ins Hier und Jetzt zurück. Ich sehe auf in der Annahme, eine dieser Barbies durch die Gegend stöckeln zu sehen, doch es ist noch viel schlimmer. Der Campus ist so gut wie ausgestorben. Nur noch wenige Studenten sind hier und mein Weg kreuz ausgerechnet den des großen roten Drachens. Wo ist der alles dahinraffende Virusausbruch, wenn man ihn braucht? Die Horde Zombies? Ich male mir aus, wie sie stolpert und... hach, soviel Blut. Leider bleibt meine Fantasie Fantasie. Ich habe die beruhigenden Glimmstängel zu schnell ausgeschlossen. Vielleicht brauche ich sie doch. Denn sie hat mir gerade noch gefehlt. Meine Hand wandert zu meiner Hosentasche. Unauffällig beobachte ich, wie sie mich ebenfalls bemerkt, als sie von ihrem Handy aufsieht, kurz stockt und dann, wie sie ihren Weg fortsetzt. Vielleicht geht sie einfach an mir vorbei und ich kann mir Nerven und Stimme sparen. Zu meinem Leidwesen bleibt sie wirklich auf meiner Höhe stehen und ich schaffe es nicht, ein eindeutig unwilliges Raunen zu unterdrücken. Die Rothaarige verschränkt ihre Arme vor der Brust und bleibt augenscheinlich unbeeindruckt. Mein Blick wandert zu ihrer Tasche, die lässig auf ihrem linken Unterarm hängt. Ich mache demonstrativ einen kleinen Schritt zurück und behalte unablässig die Schwungwaffe im Auge. Diesmal ist es eine andere, als beim letzten Mal. Sie sieht wesentlich weicher und leichter aus. Auch sie mustert mich wie immer mit diesem despektierlichen Glanz. „Ich entschuldige mich nicht“, sagt sie schnell und hoch. Ihre Nasespitze neigt sich dabei nach oben. „Hab ich auch nicht erwartet...“ „Und ich meinte, was ich sagte. Ich werde Kain nicht einfach so aufgeben.“ „Klar! Findet er sicher ganz toll, seine verrückte Ex ständig im Nacken zu haben“, kommentiere ich abschätzig. Das ist doch verrückt. Wie kann man nur so verblendet sein? Die Rothaarige knurrt. „Ich liebe ihn und ich bin mir sicher, dass ihm das noch etwas bedeutet. Es ist also vollkommen egal, was du ihm erzählst oder wie oft du ihm sagst, dass ich dumm bin“, palavert sie. Ich höre es mir an und schnaufe missbilligend. Unter anderen Umständen wäre ihre Entschlossenheit bewundernswert, doch in diesen Moment ist es einfach nur absurd. Sie beobachtet mich ganz genau und ihre Hände ballen sich wie schon beim letzten Mal zu Fäusten. Auch das wirkt einfach nur lächerlich. „Du hast ein bisschen zu viele von diesen kitschigen Liebesromanen gelesen, oder?“ „Du meinst von dem Schund, den du schreibst.“ Obwohl ich es nicht zeigen will, trifft es mich trotzdem, wenn sie so über meine Bücher spricht. Ich schreibe schließlich keine Groschenromane. „Mal im Ernst, Obsessionen sind nur in Büchern und Filmen attraktiv und das auch nur bis zu einem gewissen Grad. Hast du mal überlegt, dich untersuchen zu lassen? Du gibst eine gute Psychopathin ab.“ „Du kannst nur beleidigen, oder?“ Und erstaunt gucken, weil sie es verstanden hat. „Immerhin... und was kannst du? Ehrlich, du bist fernab jeder annährend realistischen Charakterentwicklung.“ „Du treibst keinen Keil zwischen uns“, wiederholt sie wie eine Endlosschleife an Dummheit und Ignoranz und ich verdrehe wenig galant meine Augen. Es ist, als würde man einem Hunde Sitz zu rufen und er macht einen Purzelbaum. „Erklärst du mir mal, wieso du überhaupt auf die Idee kommst, dass ich nur eine Minute damit verschwende, mit Kain über dich zu reden? Glaub mir, ich habe eindeutig besseres zu tun. Und ich weiß nicht, was es ist, was er je an dir mochte, aber du solltest langsam verstehen, dass auch er seine Gründe hatte, sich von dir zu trennen und du machst es nicht besser, indem du ihm auf die Nerven gehst“, knalle ich ihr deutlich vor dem Latz und für meine Verhältnisse sogar relativ freundlich. Sie geht mir auf den Kreisel. Dabei begrenzt sich unser Kontakt nicht mal auf das Nötigste und schon das könnte meiner Meinung nach noch weniger sein. Die Rothaarige beißt die Zähne zusammen. „Und die schlechteste Idee von allen ist es, mich damit zu behelligen“, lasse ich weniger freundlich folgen. „Ich weiß das, du daran schuld bist, dass Kain sich von mir abwendet, denn bevor du auf der Bildfläche erschienen bist und dich in sein Leben gedrängt hast, wollte er wieder mit mir zusammenkommen.“ Ihre Stimme zittert. Vor Wut? Ärger? Erneut ballen sich ihre Hände angestrengt zusammen. Sie schnieft leise, versucht sich aber zusammenzureißen. Sich derartig vor mir zu entblößen, ist vermutlich das Letzte, was sie will. „Sag mal, hast du ein Sprung in der Platte? Fass dir endlich an die eigene Nase und frag dich, wieso er mit mir mehr Spaß hat, als mit dir.“ „Ich werde kämpfen und ihn zurückgewinnen.“ „Wow, klar... Tu, was du nicht lassen kannst und spiel weiter die verrückte Ex. Die Rolle deines Lebens. Aber belästige mich nicht damit und ...“, setze ich an, doch dann breche ich es ab, “Nein, weißt du was, ich gehe jetzt einfach. Das ist mir zu dumm.“ Den letzten bezeichnenden Rest kriegt sie nur noch zurückgerufen zu hören, denn ich bin bereits beim Reden losgelaufen. Ich höre sie ein quietschendes Geräusch von sich geben und wie einer ihrer hochhakigen Schuhe klackend auf dem Boden knallt. Sie hat tatsächlich mit dem Fuß gestampft, wie ein kleines Kind. Ich bin nur halb so belustigt, wie ich es gern wäre. Sie geht mir so sehr auf die Nerven. Vor allem, weil sie Kain nicht in Frieden lässt. Noch ein weiterer Punkt mehr, der gegen den Ausbau unserer Verbindung spricht. Sie wird nicht locker lassen und ich würde sie irgendwann erwürgen. Ich hätte im Knast sicher keine Chance. Als ich vor der Bibliothek ankomme, lasse ich mich ermattet auf eine der Bänke fallen. Trotz fortgeschrittener Tageszeit ist es noch immer warm und ich ziehe meine Jacke aus. Ich schließe für diesen Moment die Augen und genieße die Ruhe vor dem Sturm. Das Gespräch mit Jeff steckt mir in den Knochen. Ich verstehe seine grundsätzliche Enttäuschung darüber, dass ich nicht früher erwähnt habe, was der Schwarzhaarige und ich manchmal so treiben. Immerhin empfand ich das Gleiche, als ich von Kain erfahren musste, dass Jeff auf Männer steht und seit einem halben Jahr mit einem Kerl liiert ist. Trotzdem ist es nicht vergleichbar. Kain und ich sind kein Paar und bisher war es wirklich nur Sex gewesen. Ich bin bis vor kurzem nicht mal auf die Idee gekommen, darüber nachzudenken, ob es mehr ist. Auch jetzt kann ich es mir schwer vorstellen. Doch auch Kain hat so etwas in der Art angedeutet. Ich hätte so gern eine Anleitung, die mir beschreibt, was die nächsten Schritte sind. Darüber muss es doch Bücher geben? Ratgeber oder Selbsthilfelektüre. Ich war schon lange nicht mehr so verunsichert. Auch die erneute Auseinandersetzung mit der rothaarigen Hexe macht ihr Übriges. Ich seufze leicht. Wenigstens scheint Kain sein Interesse an ihr wirklich runtergefahren zu haben. Ihre Verzweiflung spricht deutliche Bände und ich verspüre eine schaurig schöne Genugtuung. Es erheitert und erleichtert mich. Letzteres mehr, als ich dachte. Ich bin so in Gedanken, dass ich nicht merke, wie sich jemand neben mich auf die Bank setzt. Ich zucke zusammen, als ich seinen warmen Atem an meinem Ohr spüre und sich augenblicklich die gesamte Fläche meines Halses hervorpellt. „Buh…“ „Fuck, Kain“, gebe ich verärgert von mir. Der Schreck wandert in Form von bibbernder Haut von meinem Hals bis zu meiner Brust. „Oh, ich habe eigentlich auf eines von diesen niedlichen ´Huch`s gehofft...“, kommentiert er. Ich schaue ihn entgeistert an und muss zum Glück nichts darauf erwidern, weil im selben Moment sein Telefon zu klingeln beginnt. Er schaut nur missmutig aufs Display und lässt es wieder sinken. Ich positioniere meine Augenbraue in eine fragende Stellung und zucke mit den Schultern, weil ich nicht weiß, was er mir mit seinem Blick andeuten will. Das Klingeln reißt nicht ab, also geht Kain ran und murmelt nach einem Augenblick den Namen der Rothaarigen. Sein freier Arm legt sich über seinen flachen, trainierten Bauch. Er kommt nicht zu Wort und ich bin mir sicher, genau zu wissen, was sie ihm da gerade ins Ohr wettert. Ich äffe sie von Kain unbemerkt nach, lasse meine Augen unbeeindruckt durch die Gegend wandern. Ich wiege dabei meinen Kopf leicht hin und her. Als ich zu ihm zurückblicke, beobachtet er mich ganz genau. Okay, er hat es doch bemerkt. Neckend tippt er mir an die Wange und lächelt. Der Mann macht mich fertig. „Merena, hol tief Luft, geh shoppen oder baden. Ich habe jetzt keine Zeit für sowas.“ Damit legt er auf und überrascht mich im selben Moment. Kein umfangreiches Gespräch. Kein großspuriges Schönreden und Beschwichtigen. Er hat einfach aufgelegt. Mit dem Telefon in der Hand dreht er sich wieder zu mir und macht dabei einen seltsamen kleinen Ruck, so dass sein Knie gegen meins stößt und dort verweilt. Ich sehe auf die Stelle unserer Berührung und kann nicht verhindern, dass mir noch eine Spur wärmer wird. „Du warst wieder unvergleichbar charmant, wie ich höre“, berichtet er mir. „Ich weiß nicht, was du meinst“, sage ich ausweichend und weiß ganz genau, wovon er spricht. Ich suche mir einen neckischen Punkt in kurzer Entfernung und starre ihn an. Er fährt mit seinen Augen mein Profil ab, sucht nach der richtigen Antwort und wird keine finden. „Wieso schafft ihr es nicht, euch wie Erwachsene zu benehmen?“ „Liegt nicht an mir“, watsche ich den Vorwurf ab, „Sie fordert mich jedes Mal praktisch heraus.“ Kain schnaubt belustigt. Er versteht nicht, was mein Problem mit ihr ist. Wird er vermutlich auch nie. Ich verstehe es manchmal selbst nicht. Immerhin kann sie mir eigentlich reichlich egal sein. „Womit? Ihrer bloßen Anwesenheit?“ Ich nicke energisch. Kain greift sich an die Stirn und seufzt. „Du kannst einfach nicht damit aufhören, oder? Du provoziert und provoziert.“ Seine Stimme ist ruhig und gefasst und trotzdem höre ich die leise Verzweiflung heraus. „Das ist nun mal meine Titelmelodie und jeder braucht ein Hobby“, kläre ich ihn abermals auf, ohne auf den Vorwurf einzugehen, dass auch er denkt, dass ich daran schuld bin. Kain sieht mich verständnislos an und ich bin mir sicher, dass er längst weiß, dass seine Rothaarige und ich niemals Freunde werden. „Ist dir klar, dass sie denkt, dass ich verhindere, dass ihr wieder zusammenkommt und du dir tief in deinem Herzen nichts sehnlicher wünscht, als sie zurück zu erobern?“ Den letzten Teil gebe ich mit besonders übertriebener Schnulzenstimme von mir und mache direkt danach ein Würgegeräusch. Danach blicke ich in verwundertes Braun. „Wie kommt sie darauf?“ „Das fragst du mich?“, kontere ich baff, „Ich bitte dich! Allerdings hätte ich ein paar Theorien.“ „Na, die will ich hören“, entgegnet er prompt. Kains Arm legt sich auf die Rückenlehne hinter mich und er macht es sich gemütlich. Oberflächlich gesehen ist es nur eine einfache, legere Haltung. Doch ich spüre seine Finger, die meine Schulter treffen. Ein feines Streicheln. Nur ab und an. Sehr unauffällig und doch scheint jeder dieser kleinen, bedachten Berührungen durch meinen Körper zu explodieren und schwingen, wie ein Donnerhall. Die Härchen an meinem linken Arm richten sich angeregt auf, streichen über den Stoff des Pullovers und für einen Moment wünsche ich mir, ihn mir einfach über den Kopf ziehen zu können, damit Kain meine blanke Haut trifft. „Als erstes Dummheit!“, starte ich meine Argumentationskette. „Zu platt“ „Gut. Arroganz...“, schlage ich als nächstes vor. Kain schüttelt nur ablehnend den Kopf. „Wahrscheinlich sendest du ihr unklare Signale.“ „Welche Signale?“, hakt er amüsiert nach. Ich zucke symptomatisch mit den Schultern. „DVDs gucken. Tanzen. Küsse. Gemeinsamer Urlaub.“ Die Aufzählung verlässt meine Lippen ohne, dass ich wirklich darüber nachdenke. Infolgedessen strafft Kain seine Schultern und ihm entflieht ein geräuschvolles Murren, während er sein Handy zurück in seiner Hosentasche schiebt. „Komm schon, das habe ich alles erklärt und sie weiß auch, dass nichts davon eine Bedeutung für mich hatte und es war kein gemeinsamer Urlaub.“ Daran glaub ich nicht. Für sie waren seine Signale mehr als eindeutig, denn für mich waren sie ebenso missverständlich. „Scheinbar versteht sie es nicht. Wie so vieles!“ „Ich rede mit ihr.“ „Genauso wie die letzten Male?“ „Nein, ich sage ihr deutlich was Sache ist.“ Nun bin ich es, der lacht. Kains Finger tippen mir sanft in den Nacken. Sie streicheln sich kreisend über die feinen Härchen, die am Haaransatz spitz zusammenlaufen. „Und was bitte ist Sache? Du willst ihr doch nicht ernsthaft erzählen, dass du dich in anderen Gewässern tummelst.“ „Wieso nicht? Ist immerhin die Wahrheit und Interessen können sich wandeln, das ist menschlich“ Noch einmal fahren seine Fingerspitzen mein Genick entlang. Diesmal gleiten sie bis zu meinem Ohr, treffen dort auf die feinbehaarte Helix. Das Kitzeln ist intensiv und dringt tief in mich ein. Ich spüre es am gesamten Körper und mit Sicherheit kann Kain eine weitere Reaktion auf meinem Hals erkennen. Er ist mir ein Rätsel. Ich bin so durcheinander wie lange nicht mehr und er sitzt neben mir und sagt, dass er kein Problem damit hat, wenn es scheinbar jeder erfährt. Macht er sich gar keine Gedanken? Es ist absurd und ich kann es nicht vollkommen ernst nehmen. „Wenn du meinst. Ich habe ihr jedenfalls gesagt, dass ich nichts beeinflussen kann und dass ganz allein du die Entscheidung triffst, ob du wieder mit ihr zusammen kommst oder nicht. Aber sie ist total verbohrt und verblendet... so eine blöde Kuh.“ Während ich das sage, wende ich meinen Blick ab, beuge mich leicht nach vorn und entgehe so auch seinen zärtlichen Berührungen. Etwas entfernt läuft ein Pärchen an uns vorbei, welches mit ihrem Hund spazieren geht. Sie halten Händchen. Sie unterhalten sich leise. Ich sehe ihnen nach. Kain beugt sich ebenfalls vor, greift mir unters Kinn und zwingt mich so, ihn anzusehen. „Glaubst du das auch?“, fragt er mich. Ich zucke mit den Schultern. „Was weiß ich.“ „Was, wenn ich dir sagen, dass du es sehr wohl beeinflussen kannst?“ Er beugt sich näher an mich heran. Für einen kurzen Moment spüre ich seine Lippen an meinem Mundwinkel. Nur als Hauch und als das Wegfliegen eines allesversprechenden Schmetterlings. In meinen Büchern wäre das einer dieser Momente, in denen die Protagonistin versteht, was sie wirklich fühlt oder sich mit einem Mal ihrer Gefühle sicher ist. Ich merke das feine Kribbeln an der berührten Stelle, weiß, dass es etwas ist, was ich nur mit ihm fühle, aber ich verstehe noch immer nicht, was es genau bedeutet. Vielleicht kann ich es nicht verstehen oder will es auch nicht. „Jeff, weiß es übrigens“, erzähle ich leise, breche damit den intensiven Moment und gebe das preis, was mir schon die ganze Zeit Kopfschmerzen bereitet. Kain hält in seiner Bewegung inne. Seine Finger, die eben noch meinen Hals berührten, sinken auf seinen Schoss zurück. „Was genau?“ Ich mustere sein Gesicht. Mir fällt es schwer, in den dunkelbraunen Augen zu lesen. Ich verstehe bei ihm so vieles nicht. „Er weiß, dass wir beide miteinander ficken“, kommentiere ich und betone es dabei deutlich. Kain zieht scharf die Luft ein. Ob er das wegen des Umstands macht, dass Jeff es weiß oder wegen meinen drastischen Worten, ist mir nicht klar. Allerdings merke ich, wie er neben mir ein paar Mal unruhig hin und her rutscht. „Und er macht jetzt sicher Freudensprünge?“, fragt er mit zusammengebissenen Zähnen und einem übertriebenen Grinsen. „Er war ziemlich sauer, weil ich es ihm verheimlicht habe. Er meinte, er würde nicht verstehen, wie wir zwei Heten auf die Idee kommen, miteinander ins Bett zu gehen“, gebe ich zum Besten. „Oh und noch dazu hat er mir gestanden, dass ich anscheinend seit der Schule hin und wieder Hauptakteur in seinen Fantasien gewesen bin. So viel zu den Freudensprüngen.“ „Bitte was?“, hakt Kain nichtverstehend nach. „Soll ich dir ein Bild malen?“ Ich lasse es mir nicht nehmen, meine Worte mit einer eindeutigen Geste zu untermalen, bei der ich meine locker gefasste Faust über meinem Schritt auf und ab bewege. „Oh... scheinbar ein sehr intensives Gespräch, was ihr da hattet. Und Lena hat also recht.“ Kain entweicht ein seltsames Lachen. Er streicht sich durch die schwarzen Haare und lehnt sich zurück. „Früher. Ich bin nicht mehr sein Typ... und Lena hat keineswegs Recht“, entflieht es mir mit der gesamten Situation überfordert. „Verdammt! Sicher hat Abel gequatscht und glaub mir, wenn ich ihn das nächste Mal sehe, dann werde ich ihn...“ Kurz deute ich einen Punsch an, lasse die Hand aber wieder sinken. Ich lehne mich wieder nach vorn und stütze meine Arme auf den Knien hab, während ich mein Gesicht in die Handflächen fallen lasse. „Er weiß es von mir...“, sagt er unvermittelt. Ich drehe meinen Kopf zu dem anderen Mann und erblicke nur sein Profil. Kains Mund bewegt sich unruhig hin und her und ich bin mir sicher, dass er sich auf die Wange rum beißt. „Kannst du das wiederholen?“ Das muss ein Scherz sein. Ein schlechter noch dazu. Kain schließt seine Augen und seufzt. „Ich befürchte, er weiß es von mir.“ „Wie bitte?“ Nun scharf. Unbewusst versteifen sich meine Schultern und ich setze mich aufrecht hin. „Entschuldige! Ich... ich hab mich wohl verplappert.“ „Zu welcher Gelegenheit kann man sich bei sowas verplappern?“, frage ich entgeistert und schwelend sauer. Der Schwarzhaarige zuckt fahrig mit den Schultern und schlägt seine langen Beine übereinander. „Im Gespräch halt.“ „Worüber?“ Kain stöhnt. Hat er wirklich gehofft, dass ich es mit der Begründung ruhen lasse? „Jeff hatte sich irgendwann mal darüber beschwert, dass Abel nach dem Sex fast nie mit ihm kuschelt und wie scheiße er das findet und da rutschte mir raus, dass du auch so bist.“ Kain entschlägt seine Beine wieder und beugt sich nach vorn, um seine Arme abzustützen. „Ich habe mich gleich verbessert und erklärt, dass ich denke, dass du auch so bist... aber... na ja, er hat sich seinen Teil wahrscheinlich gedacht.“ Natürlich hat er das. „Großartig. Wieso hast du nichts gesagt?“, frage ich anklagend. Nun weiß ich, wieso Jeff andauernd so seltsame Kommentare abgelassen hat und wieso er in der letzten Zeit so neugierig gewesen ist. Kain schenkt mir einen Blick, der mir sagt, dass meine Frage mehr als überflüssig ist. „Okay, ich ziehe die Frage zurück.“ Er hat es mir nicht gesagt, weil er ganz genau wusste, dass ich sauer werde. Was ich ja auch bin. So offenkundig und klar, dass Vinny die Hufe aneinander schlägt und wiehernd im Kreis galoppiert. Da soll noch mal einer sagen, ich vertrage keinen Sarkasmus. „Warum redet Jeff mit dir über sowas?“ „Mit wem soll er sonst reden. Immerhin kann ich etwas zu Beziehungsproblemen sagen und du nicht.“ „Ich kann dir auch etwas dazu sagen.“ „Ach ja?“ „Ja, wenn du keine hast, hast du auch keine Probleme.“ „Nicht hilfreich, Spatz!“, seufzt er mir entgegen und lehnt sich wieder zurück. Sein Arm wandert hinter meinen Rücken zurück und ich spüre fast sofort seine warme Hand in meinem Nacken. Die kitzelnden Finger. Die feinen Schauer. „Mir Spitznamen zu verpassen ist auch nie hilfreich und dennoch machst du es andauernd“, erwidere ich schwach und weniger ablehnend, als jemals zuvor. Kain verdreht die Augen und geht nicht weiter auf meinen stupiden Ausbruch ein. „Und was hast du ihm nun gesagt?“, hakt er nach und lässt ein weiteres Mal seine Finger über meinen Nacken tanzen. Das entstehende Prickeln beginnt im unteren Bereich meiner Rippen und zieht bis in meinen Kiefer, wo es mich beinahe schnurren lässt. Doch ich reiße mich zusammen. Auch, wenn es mir fast schon schwerfällt. Stattdessen beiße ich die Zähne zusammen. „Ich hätte ihm lieber weiterhin gar nichts gesagt.“ Aber Jeff musste mich ja so lieb nerven. Ich werde weich. „Das wollte ich nicht wissen… Also…“ Er macht eine dazu passende auffordernde Geste. „Also….“, äffe ich ihn leise nach, „Nichts weiter. Nur, dass wir aus Interesse angefangen haben, miteinander zu schlafen.“ Schlicht und einfach wahr. Jeffs verwunderte Worte kommen mir in den Sinn und dass er sich nicht vorstellen könne, dass nur Neugier ausschlaggebend war. Als ich zu Kain sehe, merke ich, dass er mich mustert. „Neugier?“, wiederholt Kain. „Das hat er dir abgekauft?“ „Ich denke schon, dass er mir das abgenommen hat. Schließlich war es Neugier, Alkohol und Geilheit.“, gebe ich die unrühmlichen Gründe unseres erstes Sexgetümmels wieder und vermeide den Gedanken an Kain als großer geiler Wolf. Trotzdem kann ich nicht verhindern, dass ich dämlich grinse. „Weißt du, dass er mir vorgeworfen hat, dass ich ihm nur deshalb nichts erzählt habe, weil er mir seine Beziehung zu Abel verheimlicht hat? Als wäre ich derartig kindisch. Und dann wollte er wissen, ob wir jetzt ein Paar werden“, sage ich und lasse es so grotesk klingen, wie ich es empfinde. Ich lehne mich komplett zurück und lasse auch meinen Kopf nach hinten kippen. Der Baum, unter dem wir sitzen, scheint aus dieser Position heraus riesig zu sein. Doch die Stille neben mir lässt mir keine Ruhe. Erst als ich mich ihm zuwende, bricht Kain sein Schweigen. „Okay, klär mich mal auf... was ist das hier für dich? Abgesehen von einer kompletten Lachnummer“, fragt er gerade heraus und deutete zwischen uns hin und her. Der Ton seiner Stimme sagt mir, dass er es nicht so witzig findet, wie ich. Hätte ich doch lieber die Klappe gehalten. Ich puste geräuschvoll Luft aus und lasse mein linkes Bein hin und her kippen, grabe dabei mit dem Hacken ein Kuhle in den Boden des Weges. „Passabler Sex...“, gebe ich das erste von mir, was mir einfällt und was nicht unbedingt nett ist. Das beschreibende Adjektiv ist kreativ dazu gedichtet. Kains braune Augen sehen mich wie erwartet gekränkt an. „Mal abgesehen davon, dass das beleidigend war, ist das keine richtige Antwort.“ „Komm, können wir einfach essen gehen. Ich habe keine Lust, auch noch mit dir darüber zu diskutieren.“ Ich stehe auf und werde direkt von Kain zurückgehalten, weil er nach meinem Arm greift. Ich lasse mich seufzend zurück auf die Bank fallen. „Gut, keine Diskussionen, dann antworte mir einfach. Was ist das hier für dich?“ Kains fragender Blick durchdringt mich. „Okay, wirklich befriedigender und abwechslungsreicher Sex. Ich hab wirklich Spaß mit dir. Besser?“, gebe ich noch immer leicht witzelnd von mir. Ich mache es mir einfach und hoffe, dass es wie immer damit erledigt ist. Der Schwarzhaarige sieht es anscheinend anders. Sein Blick wendet sich bei meinen Worten zur Seite. Er hat wissen müssen, dass ich genau das sagen werde, aber warum sieht er dann so niedergeschlagen aus? Was soll dieser verletzte Blick? „Sex...“, wiederholt er und klingt dabei seltsam enttäuscht und ganz und gar nicht zufrieden. „... und wieso hast du dem hier zugestimmt?“ Ich zucke zunächst nur mit den Schultern, doch damit scheint mein Gegenüber nicht zufrieden zu sein. „Keine Ahnung, sehr wahrscheinlich ist es sexumnebelter Wahnsinn…“, erkläre ich in klassischer Robinmanier und kann mir nicht mal ein dümmliches Lachen verkneifen. Hormone sind verteufelte kleine Biester. Kain starrt mich ungläubig an und ich fühle mich genötigt, noch mehr zu erwidern. „Herrje, wir gehen doch nur etwas essen und das mit dem Ausgehen ist doch aberwitzig“, stoße ich genervt aus. „Du siehst das hier nicht als richtiges Date?“, pariert er augenblicklich hinterher und trifft damit den Kern meiner vorigen Diskussion mit Jeff. „Richtiges Date“, wiederhole ich und schnaufe leise, was auch Kain bemerkt. „Du nimmst es überhaupt nicht ernst. Es bedeutet dir nichts…“, stellt er fest und klingt dabei eigenartig verletzt. Ich stoße wiederholt angestrengt die Luft aus. „Ich...ich weiß ehrlich gesagt nicht mal, was das heißen soll, ein richtiges Date. Date klingt einfach nur ernst. Wo bleibt die Neugier und der Spaß?“, krame ich ein weiteres Mal die anfänglichen Plattitüden hervor, die auch Kain damals runter betete. Doch es ist nur mein verzweifelter Versuch, diese Diskussion zu deeskalieren. „Ich finde, wir sind schon weit über Neugier hinaus, Robin.“ „Ach komm schon. Du hast es selbst genauso gewollt. Nur Sex. Etwas Unkompliziertes. Also, wieso willst du es jetzt kompliziert machen?“ „Weil ich mich ganz einfach geirrt habe. Ich mag dich und ich will alles. Alles, was dazu gehört. Nicht nur den Sex.“ „Ist das echt dein Ernst?“, gebe ich baff zurück, „Kain, mich datet man nicht. Mich mag man nicht... Ich... ich date nicht. Das ist doch echt lächerlich.“ Ich kriege die Kurve nicht. Mich zu mögen, bedeutet für ihn nichts weiter als Verzicht und deshalb sollte er es besser wissen. Kain ächzt auf und ich bemerke, wie sich etwas in seiner Körperhaltung ändert. „Für dich ist alles, was mit Gefühlen zu tun hat, dumm, oder? Deshalb kannst du auch Liebesgeschichten hinklatschen, als wären sie ein schnöder Alltagsfakt“, knallt er mir ungehalten an den Kopf. Nein, nicht dumm, aber Gefühle sind mein ganz eigener persönlicher Angstgegner und ich bin nicht bereit für einen Endkampf. „Was hat das jetzt mit meinen Büchern zu tun?“ „Alles!“, entflieht ihm laut, „Weißt du, du könntest wahrscheinlich besser als die jeweilige Person selbst die Gefühle niederschreiben. Sie in wundervolle Sätze packen. Du kennst so viele Worte und weißt um ihre Bedeutung, aber du verstehst sie nicht. Du glaubst, dass du Fiktion schreibst, dass es solche Gefühle und Emotionen in Wirklichkeit gar nicht geben kann, oder? Denkst du jemals darüber nach, was du da schreibst?“ Das Braun seiner Augen ist dunkel und seltsam tief. Ich reagiere nicht und ertrage nicht, dass er so verletzt aussieht. „Das hat doch nichts mit dem hier zu tun“, flüstere ich gezwungenermaßen. Beim letzten Mal habe ich mir geschworen, dass ich nicht der erneute Auslöser sein will. Nicht einmal das schaffe ich. „Doch hat es! Stell dir vor, es gibt wirklich Menschen, die sowas empfinden, die sich verlieben, die sich danach sehnen, die andere Person auch nur zu sehen. Sie berühren zu können oder die einfach nur wissen wollen, dass ihre Gefühle erwidert werden. Liebe ist keine Fiktion. Sie ist real, Robin. Hormone hin oder her und selbst du, ein Idiot erster Liga, wird geliebt, aber du hast nichts Besseres zu tun als anderen ihre Gefühle abzusprechen und alles ins Lächerliche zu ziehen.“ „Aber es ist lächerlich“, wiederhole ich matt und leise. Ich weiche seinem Blick aus, weil ich nicht Gefühle per se meine, sondern die Wahrscheinlichkeit, dass Kain welche für mich hat. Was hätte er auch davon, mit mir zusammen zu sein? Nichts, denn ich kann nur negative Empfindungen zum Ausdruck bringen. Ich würde ihn unglücklich machen und er würde unweigerlich irgendwann gehen. Und das würde mich brechen. „Hast du mir auch nur eine Sekunde zugehört?“, fragt er verzweifelt, weil ich schweige. Anscheinend habe ich das nicht. „Gut, weißt du was…“, seufzt Kain ermattet und stützt sich mit den Händen auf den Knien ab, um sich aufzurichten, „Du datest nicht, dann lassen wir es. Viel Spaß in deiner Blase der Gefühllosigkeit“, knallt er mir entgegen. Ein Stich. Er ist so präzise, dass er mich fast lähmt. „Kain...“, setze ich an. „Nein, Robin. Unsere Neugier ist gestillt. Meine ist es jedenfalls. Ich will und kann das so nicht mehr und wir ... nein, ich sollte aufhören, etwas von dir zu verlangen, was du nicht willst. Ehe ich noch mehr...“ Er stoppt, schluckt und streicht sich durch die dunklen Haare. Er wendet sich von mir ab, macht ein paar Schritte, bevor er wieder stehen bleibt. Noch mehr was?, schreit es in meinem Kopf nach der Beendigung seines Satzes. Ich spreche es nicht aus und trotzdem weiß ich, dass ich ihn nicht gehen lassen will. „Okay, was genau willst du jetzt von mir?“ Auch ich stehe auf und mache die Schritte, die er sich von mir entfernt hat, wieder auf ihn zu. „Du weißt, was ich will und eigentlich solltest du es schon länger wissen. Noch dazu habe ich es dir eben gesagt. Also die Frage lautet eigentlich, Was. Willst. Du?“ Während er das sagt, tippt er mir bei jedem Wort der Frage mit dem Zeigefinger gegen die Brust. Ich sehe auf den Finger, höre den Schrei in meinem Kopf, der mir entgegen brüllt, dass ich mein Herz zum Schweigen bringen muss und weiß nicht, was ich ihm antworten soll. Also sage ich nichts, spüre, wie der Stein in meiner Brust rast und kann mich nicht dagegen wehren, dass ich wie schon des Öfteren bei ihm nicht die richtigen Worte finde. „Du weißt es nicht, oder?“, stellt er resigniert fest und ich falle zurück auf die Bank. Meine Ellenbogen bohren sich in meine Oberschenkel. „Nein, vermutlich weißt du es sehr wohl, aber du willst es nicht. Weil es dumm ist, lächerlich oder weil du sowas nicht brauchst.“ Ein weiterer Stich. So zielsicher und direkt, wie es nur Kain schaffen kann. Ich sehe auf. „Das ist nicht wahr“, sage ich schwach. „Ach nein? Wie ist es dann? ...Hm?“, stichelt er zurück. Die Wut in seinem Gesicht wechselt stetig mit der Enttäuschung. Wieder macht er ein paar Schritte von mir weg. Unruhig und angespannt „Okay, sag mir, was ich wollen soll!“, rufe ich ihm entgegen, springe erneut auf und schließe die paar Schritte auf, die er sich von mir entfernt hat. Kain schüttelt den Kopf. „So läuft das nicht, Spatz“, sagt er, streicht sich über den Mund. Er lässt mich erneut diesen Blick sehen, der mich innerlich verbrennt und geißelt. Wieder verpasse ich den Moment, denn er geht, murmelt etwas, was ich nicht genau verstehe. Muss ich auch nicht. Er geht, weil er gehen muss. Er geht, weil ich ihm keine andere Wahl lasse. „Aber ich weiß doch nicht, wie es laufen muss…“, erwidere ich schwach, als Kain bereits außer Hörweite ist. Ich sehe ihm nach, fühle mich eigenartig gelähmt und zu nichts anderem im Stande, als einfach dumm dazustehen. Was ist gerade passiert? Das drückende Gefühl in meiner Brust wird mit jeder vergehenden Sekunde heftiger und nur langsam sickert die Bedeutung seines Abgangs bis in die kleinsten Zellen meines Gehirns vor. Zurück im Wohnheimzimmer ist von Jeff nichts zu sehen und mich umfängt Stille. Im ersten Moment bin ich erleichtert. Dann verwundert. Ich versuche mich daran zu erinnern, wohin Jeff wollte und ob er wieder hierher zurückkommt. Schlagartig bin ich mir nicht mal mehr sicher, ob er es mir überhaupt gesagt hat oder ob ich es schlicht vergessen habe. Die Tendenz geht zu Variante zwei. Doch eigentlich habe ich das Gefühl, dass ich gerade gar nichts mehr weiß. Ich bin mir nicht mal sicher, ob ich will, dass Jeff zurückkommt. Die Vorstellung, dass er mich bei seiner Rückkehr mit irgendwelchen Fragen löchert, aktiviert meinen genetisch einprogrammierten Fluchtreflex. Ich ziehe mein Handy hervor und checke die Möglichkeit, früher zu dem nutzlosen Autoren-Plausch zu fahren. Keine Chance. Der letzte Zug fuhr vor einer halben Stunde und die nächste Variante, die mir angezeigt wird, bescheinigt mir mehrstündige nächtliche Bahnhofsaufenthalte an mindestens drei Umsteigepunkten. Ich wäre etwa eineinhalb Stunden vor meiner regulären Ankunftszeit da. Für einen kurzen Moment erwäge ich es tatsächlich. Es würde mich immerhin beschäftigen. Ablenken. Danach lasse ich mich mit dem Wissen, dass es völliger Quatsch ist, aufs Bett fallen und drücke mein Gesicht fest ins Kissen. Vinny wiehert und bleibt dann breitbeinig und Zunge raushängend am Boden liegen. Nicht mal mein Sarkasmuseinhorn weiß eine passable Antwort auf diese Situation. Ohnehin fühle ich mich zu nichts im Stande, als apathisch rumzuliegen. Doch das macht alles nur noch schlimmer. Ich rolle kurzerhand vom Bett, lande auf allen Vieren, störe mich nicht daran, dass meine Knie schimpfen und ziehe den Basketball unter meinem Bett hervor. Ich presse ihn zwischen meinen Händen zusammen. Er könnte etwas Luft gebrauchen, aber mir fehlt gerade die Muse, um stundenlang unter dem Bett nach der Pumpe zu suchen. Ich greife meine Kopfhörer und verschwinde zum Ballplatz. Diesmal muss ich ihn mir mit einer kleinen Gruppe teilen. Doch es stört mich nicht. Mit den Kopfhörern höre ich ihre Zurufe nur gedämpft oder sie werden durch die Beats vollkommen geschluckt. Ich werfe einfach nur wieder und wieder Körbe. Ärgere mich nicht mal darüber, dass mehr als die Hälfte vorbeigeht. Eine Dreiviertelstunde lang. Für etwa fünf Minuten schaffe ich es, den Schwarzhaarigen aus meinem Kopf zu verbannen. Danach finde ich mich wie von allein vor Kain und Abels Wohnheimtür wieder. Mein Puls rast. Nicht nur von den schnellen Schritten. Nicht von dem Sport. Auch nach dem dritten Klopfen bekomme ich keine Reaktion aus dem Innenraum, also tippe ich kurzentschlossen den Türcode ein. Bevor ich die Tür etwas aufstoße, warte ich einen Moment ab. Nichts. Also öffne ich die Tür vollständig. Das Zimmer ist leer und dunkel. Was habe ich erwartet? Dass er auf seinem Bett sitzt und nur darauf wartet, dass ich einen Sinneswandel habe? Habe ich denn einen? Ich bin mir noch immer nicht darüber im Klaren, warum ich hier bin. Kann ich ihm denn eine Antwort auf seine Frage geben? Will er sie überhaupt noch hören? Für ihn wäre es besser, wenn er es nicht mehr will. Ich muss es wenigstens versuchen. Daher schließe ich die Tür, rutsche draußen einfach die Wand hinunter und bleibe am Boden sitzen. Den Basketball lege ich auf meinem Schoss ab und starre die raue Oberfläche an. Die schwarze Markierung ist an einigen Stellen bereits abgerubbelt und auch jetzt reibe ich meinen Finger gegen einen der Buchstaben des Markenaufdrucks. Ich frage mich, wohin er wohl gegangen ist. Ob er bei ihr ist? Dieser plötzliche Gedanke setzt mit einem Mal alles in meinem Kopf lahm und verursacht mir eiskalte Schauer. Würde er das wirklich tun? Möglich, immerhin haben sie nun wieder ein gemeinsames Thema, worüber sie reden könnten. Ich und meine Unzulänglichkeiten. Ich greife unruhig nach meinem Telefon, öffne unseren gemeinsamen Chat und lasse meinen Daumen über das Tastenfeld schweben. Ich lese seine letzten Nachricht. Lauf nicht weg. Mein Herz stolpert unkontrolliert. Ich lasse das Telefon sinken und greife mir mit beiden Händen an den Kopf, versenke sie in meinen Haaren. Mit den Fingerspitzen raufe ich mir energisch die Kopfhaut. Danach kippe ich meinen Kopf frustriert nach hinten und starre an die Flurdecke. Sie hat auch schon bessere Zeiten gesehen und ich fühle mich augenblicklich seltsam mit ihr verbunden. Seufzend schließe ich die Augen, fasse mein Telefon fester und angele mit den Füßen nach dem Basketball, der während meiner Haarrauferei von meinem Schoss gekullert ist. Wo ist er nur? Das ist so lächerlich. Ich bin lächerlich. Wieder öffne ich unseren Chat und tippe die Frage nach seinem Aufenthaltsort ins Fenster. Lösche es wieder. Schreibe es erneut. Schicke es nach dem dritten Mal endlich ab. Ich bin erbärmlich. Dennoch kriege ich es nicht aus meinem Kopf. Sind wir längst über Neugier hinaus, so wie es Kain gesagt hat? Woran hat er es gemerkt? Wie lange weiß er es schon? Die ganzen Fragen in meinem Kopf ernüchtern mich nur noch mehr. Es sind nicht nur Kains, die mir durch den Kopf geistern, sondern allen voran Jeffs. Braucht es wirklich eine Definition? Kann ich mich in einer der Kategorien wiederfinden, die er mir vorhin fragend an den Kopf geworfen hat? Bisher habe ich es nicht für nötig gehalten, darüber nachzudenken. Mein Beuteschema war einstweilen sehr eindeutig, wenn auch nicht anspruchsvoll. Einzig er, Kain, bildet hier eine Ausnahme und je mehr ich darüber nachdenke, umso weniger Sinn ergibt es für mich. Andere Männer interessieren mich nicht. Nur Kain. Nur er. Tiefer. Immer tiefer, wiederholt sich in meinem Kopf. Das hat er geschafft. Kain ist so tief in mich eingedrungen, wie kein anderer und jetzt kriege ich ihn nicht mehr aus meinem Kopf oder das Bedürfnis, ihn zu spüren, aus meinem Körper. Ich weiß nicht, wie lange ich vor dem Zimmer der beiden anderen sitze, doch als der vierte Tross an potenziellen Nachtschwärmern an mir vorbeizieht und blöd guckt, rappele ich mich mühsam auf und trabe mit dem Ball zurück in mein eigenes Wohnheim. Unterwegs begegnen mir weitere illustre Menschengrüppchen, die mittlerweile schon gut angeheitert sind. Meine Stimmung sinkt nur noch weiter. Die Duschen sind bereits geschlossen, also hänge ich mich über ein Waschbecken, vollführe eine umfassende Katzenwasche, die mehr an Pandababygeplantsche erinnert und werfe mich aufs Bett. Ich habe es verbockt. Ich habe es so sehr verbockt. Wieder einmal. Nun hat Kain die Geduld mit mir verloren und ich kann es ihm nicht mal verübeln. Wenn ich meine Augen schließe, sehe ich jedes Mal die Enttäuschung in seinem Blick und mein Inneres beginnt zu rotieren. Wesentlich schlimmer sind jedoch die fortwährenden Gedanken, die mich auf eine zusätzliche Achterbahnfahrt schicken. Ich kann das nicht. Ich komme mit diesen Gefühlen einfach nicht zu recht. Nach einer Weile unruhigem Hin-und-her-rollen, setze ich mich an den Schreibtisch. Ich öffne die Story, mit der alles begann, überfliege die bisherigen Seiten und empfinde ein stetiges Kitzeln, wenn ich bestimmte Passagen Wort für Wort vor mich hinmurmele. Wenn ich meine Augen schließe, kann ich sie teilweise noch immer fortsetzen. Ich kann nicht mal verhindern, dass sich in meinem Kopf jedes Mal einer der beschriebenen Körper in Kains wandelt. So sehr ich auch versuche, mir einzureden, dass er nicht das Vorbild gewesen ist. Tiefer. Immer tiefer. Ich stoppe bei der Zeile, die mir einen feinen, aber intensiven Schauer beschert. ´Das Gefühl seines heißen, bebenden Leibes über meinem. Ich spüre die Härte, die sich unentwegt gegen meinen willigen Körper drückt. Er hält sich bewusst zurück, lässt seine Lippen über meinen Hals wandern. Küssend. Beißend. Ich zergehe vor Gier. Ich strecke mich ihm entgegen, lasse ihn deutlich die Härte meiner eigenen Erregung spüren. Biete mich ihm schier an. Ich will ihn spüren. Ich will, dass er mich ausfüllt und fest nimmt. Tiefer. Immer tiefer.´. Kain hat es zitiert. Wort für Wort. Zeile für Zeile. Auch jetzt spüre ich, wie mein Körper vor Hitze und Erregung erbebt. Nicht nur, weil ich seine Stimme erinnere, die mir diese Textstelle heiß ins Ohr raunt, sondern weil ich genau weiß, wie viel Wohlgefühl es mir vermittelt hat. Doch die Erinnerungen daran werden von der Frage überschattet, die er mir zum Schluss gestellt hat. Was will ich? Wieder versucht sie am Schutzschild meiner Hilflosigkeit zu verebben. Doch diesmal lasse ich es nicht zu. Was will ich? Ich will meine Ruhe. Ich will mir nicht anhören müssen, was ich falsch mache. Ich will nicht verstehen müssen, dass ich es verbockt habe. Ich will diesen Schmerz nicht spüren müssen. Was will ich wirklich? ´Meine Hände verweben sich in tiefem Schwarz, ziehen die glücksbringenden Lippen näher, sodass ich jeden Millimeter süßer Verlockung ertasten und erleben kann´. Genau diese Stelle geht mir in diesem Moment durch den Kopf und ich umfasse das Handy in meiner Hand fester. Ich will nicht, dass es vorbei ist. Das will ich. -Können wir reden?-, tippe ich in unserer gemeinsamen Chat und schicke die Nachricht ab, ohne länger darüber nachzudenken oder auf die feine Stimme zu hören, die mir einreden will, dass es vielleicht besser ist, es gar nicht erst zu versuchen. -Bitte-, schiebe ich hinterher als ich bemerke, dass die vorige Nachricht direkt als gelesen markiert wird und bringe das Stimmchen dazu, zu verstummen. ______________________________________________________________ Ps: *auf die knie fall und verbeug* ENTSCHULDIGUNG! Ich weiß einfach nicht, wo das halbe Jahr hin ist T___T Kapitel 27: Wenn Worte... ------------------------- Kapitel 27 Wenn Worte meine Sprache wären… (1/2) Ich sehe ihn tippen, doch es passiert nichts. Also drücke ich kurzerhand auf das grüne Anrufsymbol und spüre im selben Moment, wie sich mein Brustkorb in eine Bassbox verwandelt. Das Geräusch aus meinem Inneren wird immer lauter und eindringlicher. Die Vibrationen breiten sich in meinem gesamten Körper aus, sodass ich nichts anderes tun kann, als zu erzittern. Aber als er den Anruf bestätigt, herrscht mit einem Mal eine bedenkliche Stille. Nicht nur in meiner Brust, sondern vor allem in meinem Kopf. Auch von Kain kommt kein Wort, also kann ich die dudelnde Musik im Hintergrund wahrnehmen, die mir von der anderen Seite der Leitung entgegen schlägt. Irgendein Popsong gepaart mit irgendwelchen heiteren Gesprächen. Irgendeine Bar. Ich sammele mich und beginne mit meinem jetzt schon kläglichen Versuch, eine weitere Chance zu erbitten. „Kain, können wir bitte darüber...“ „Nein, könnt ihr nicht...“, werde ich harsch unterbrochen. Es ist eine männliche Stimme, die definitiv nicht Kains ist. Ich brauche einen Moment, bis ich begreife, dass es Marvin ist, der spricht. Wieso geht er an Kains Telefon? Mit dieser Wendung habe ich nicht gerechnet. Ausgerechnet er. Aber wer auch sonst. Im Grunde gibt es nicht so viele Möglichkeiten, zu wem Kain gehen würde und Marvin ist mir allemal lieber als das rothaarige Dumpfbrot, mit dem er sich das letzte Mal vergnügt hat. Trotzdem regt sich mein innerer Drachen und es fällt mir schwer, ihn zu kontrollieren. „Gib ihn mir... Bitte...“, fordere ich mit zusammengebissenen Zähnen und hänge das höflichkeitsheuchelnde Bitte verzögert ran. Dabei verliert es jegliche Wirkung und es ist mir herzlich egal. Höflich war noch nie mein Ding und wird es nie werden. „Nein.“ Seine Antwort ist simpel und nicht unerwartet. Trotzdem kitzelt es meine Wut mehr, als es gut für mich ist. Mein gesamter Körper erbebt unter dem kaltbeißenden Schauer, welchen die Ablehnung auslöst. „Im Ernst? Was soll das? Wieso gehst du überhaupt an sein Telefon?“, belle ich angestachelt und eines völligen Systemausfalls nahe. Noch schalten sich ein paar meiner Backups ein, doch ich weiß nicht, wie lange ich mich zurückhalten kann. Das Gefühl in meiner Brust wird zur tickenden Zeitbombe. „Ganz einfach, ich hab´s ihm abgenommen, um zu verhindern, dass genau das hier passiert.“ „Das hier? Bist du jetzt sein Bodyguard, oder was?“ Marvin lacht bei diesem nichtigen Vergleich erheitert auf und ich wünschte, ich könnte ihm das Maul einfach stopfen. Ein Schlag mitten ins Gesicht. So einfach und schnöde. So viel Effekt. Mein eigenes blaues Auge zwiebelt. „Ich würde eher Fullback sagen, aber vor allem bin ich sein Freund und ich werde ihn verteidigen, wenn er es nicht selbst kann. Und vor dir muss er scheinbar doch beschützt werden. Also hör genau zu! Er. Will. Nicht. Mit. Dir. Reden.“ Jeden Teil des letzten Satzes betont er besonders deutlich. Doch es ist nicht nur die Sportmetapher, die mich irritiert, sondern auch der Rest. Vor mir beschützen? Vor was genau will er ihn verteidigen? Meines Erachtens nach kann sich Kain effektiv selbst wehren, was er bei unserem Gespräch eindrucksvoll bewiesen hat. Schließlich sind es seine Worte, die noch immer nachwirken und mir keine Ruhe gönnen. „Kann er mir das bitte selber sagen“, patze ich zurück und höre Marvin direkt auflachen. „Kann er nicht. Er ist gerade beschäftigt.“ „Und womit?“, frage ich spitz und nur noch halb verbissen. Ich kann mir ausmalen, womit er in einer Bar beschäftigt sein könnte und dennoch favorisiere ich die Vorstellung, dass er mit einem Drink neben seinem Fitnesslakaien sitzt, jedes Wort mitbekommt und energisch mit dem Kopf schüttelt. „Mit wem, meinst du wohl. Ich glaube, ihr Name ist Anni. Sie ist ganz sein Typ“, sagt er. Ich kann ihn grinsen hören und spüre, wie eine meiner Warnleuchten angeht. „Sag mir, wo ihr seid!“ Prompt vernehme ich sein herablassendes Schnaufen. „Garantiert nicht. Hör einfach auf, ihm zu schreiben. Ruf nicht mehr an...“ „Fick dich!“ „Ow, der Herr verliert bereits die Fassung? Das war aber einfach.“ Seine Stimme trieft förmlich vor Schadenfreude. „Lass es lieber gut sein, bevor es richtig peinlich für dich wird.“ Damit legt er auf, ehe ich eine weitere Beschimpfung vom Stapel lassen kann und lässt mich mit dem Gedanken an Kain und einer anderen Frau zurück. Ich hasse es noch im selben Moment und in mir entbrennt ein Kampf, der einer Supernova gleicht. Es macht mich wahnsinnig. Dabei bin ich mir sogar sicher, dass Marvin alles sagen würde, nur um dafür zu sorgen, dass mein schlechtes Gewissen weiter wächst und ich mir die schlimmsten Dinge vorstelle. Die Schlimmsten, hallt es nach und mir den Schwarzhaarigen mit einer anderen Frau vorzustellen, gehört eindeutig dazu, egal welche Haarfarbe sie hat. Das wird mir gerade schmerzlich bewusst. Und wieder frage ich mich, wie viel Kains bester Freund eigentlich weiß. Ob Kain ihm wirklich erzählt hat, dass wir seit längerem miteinander schlafen? Ob er ihm gesagt hat, dass er darüber nachdenkt, mit mir auszugehen oder es zu mindestens vor hatte? Weiß er, dass Kain tatsächlich einen anderen Mann mag? Das Kain mich mag? Er mag mich, wiederhole ich flüsternd. Auch das wiederholt sich in meinem Kopf, als würde ich es zum ersten Mal richtig verstehen. Allerdings begreife ich immer noch nicht, wieso und das sorgt dafür, dass sich ein stilles und doch verzerrendes Gefühl in mir ausbreitet. Ist es schon zu spät? Kain wird keine meiner Nachrichten lesen und er wird sich darin bestätigt fühlen, dass seine Entscheidung, die Notbremse zu ziehen, richtig gewesen ist. Welchen Sinn macht es also, es weiter zu versuchen? Die Chancen, die ich hatte, habe ich bravourös versaut. Grob gesagt, völlig vermurkst. Wieder einmal. Wieso sollte ich eine weitere bekommen? Welchen Grund sollte er haben, mir diese zu gewähren? Anscheinend kann ich nicht anders, als andere unentwegt zu enttäuschen, selbst, wenn ich es nicht mal bewusst darauf anlege, es zu tun. In diesem Fall habe ich es auch noch unabsichtlich bewusst getan, weil ich nicht dazu bereit bin, über meine Gefühle nachzudenken. Ich bin nicht mal wirklich bereit, mir einzugestehen, dass ich welche haben könnte. Egal, welcher Art sie auch sind. Doch genau diese überrollen mich gerade wie eine gigantische Dampfwalze und ich kann nichts dagegen tun, als dabei zusehen, wie all die heiße Luft aus mir herausgepresst wird, die ich so erbarmungslos zurückhalte. Es ist ernüchternd und ist genauso schmerzhaft, wie ich es stets befürchtete. Schlimmer noch, denn die bittere Erkenntnis, dass ich nicht so gefühlsfrei bin, wie ich es gehofft habe, reißt mich fast in zwei. Ich lasse mich auf mein Bett fallen, fühle mich mit einem Mal unglaublich müde und doch bin ich hell wach, weil mein Kopf nicht aufhört, zu arbeiten. Es formen sich ganz unwillkürlich und ungehindert Szenerien vor meinem geistigen Auge. Das schummerige typische Licht in einer Bar, das Fantasien eher bestärkt als verhindert. Schlanke Finger, die über starke Arme reiben, die die kleine Narbe an seinem Ellenbogen ertasten und sie zärtlich liebkosen, als würde allein diese Geste jeden erlebten Schmerz davon streicheln können. Er würde es willkommen heißen, weil es das ist, was er vermisst. Es formulieren sich Dialoge. Flirtende Worte voller Neugier und Erwartungen. Seine Stimme ist eine Nuance tiefer, wenn er trinkt. Das weiß ich vom letzten Mal, als er mich aufs Dach entführte. Ich spüre deutlich, wie die Erinnerung daran mit der Sanftheit eines Seidenschal über meinen Hals gleitet. Und er zieht sich zusammen, als ich daran denke, dass seine Worte in dieser Nacht jemand anderen gelten könnten. Trotz der fortschreitenden Uhrzeit mache ich kein Auge zu. Jedenfalls fühlt es sich so an, als ich mich am Morgen aufsetze und beginne, leise, aber derb vor mich hin zu fluchen. Es ist nicht mehr als ein kraftloses Flüstern und dennoch transportiert es meine gesamte Gefühlslage. „Fuck!“, sage ich laut, als mit nichts Innovatives mehr einfällt. In meinem Kopf ist es matt und nebelig. Ich hasse es, mich so zu fühlen. Die Müdigkeit wabert durch meinen Körper und scheint mich regelrecht lahm zu legen. Dazu kommt dieses grässliche Gefühl, welches sich seit dem gestrigen Telefonat mit Marvin in mir ausbreitet, wie eine verdammte Seuche. Kains bester Freund ist ein echter Mistkerl. Nicht, dass ich das nicht bereits wusste, doch die Gewissheit macht es noch eine Spur schmerzhafter. Zumal er Kain damit wirklich ein guter Freund ist. Nach einer kurzen Grundreinigungsaktion mit Zähneputzen und schlampiger Rasur leere ich meinen Rucksack auf dem Bett aus und ziehe mir ein paar Klamotten aus dem Schrank. Zusätzlich greife ich mir den Laptop, das von Brigitta bearbeitete Skript, die Reiseunterlagen und stopfe alles hinein. Danach lege ich Jeff einen Zettel auf den Tisch, auf dem ich ihm mitteile, dass ich das Wochenende über nicht anwesend bin. Dazu packe ich die Gummibärchen, die ich vor ein paar Tagen für ihn gekauft und dann aber vergessen habe. Bevor ich aus der Tür trete, werfe ich einen letzten Blick auf meinen handlichen Kommunikationsapparat. Nichts. Nur die schelmisch lachende Uhrzeitanzeige, die mich daran erinnert, dass es eigentlich viel zu früh ist, um auch nur den kleinen Zeh zu bewegen. Unwillkürlich versuche ich meinen linken wackeln zu lassen und scheitere. Auch das reiht sich perfekt in diesen Moment ein. Draußen greife ich automatisch nach der Packung Zigaretten in meiner Hosentasche. Ich ziehe einen Stängel hervor, starre ihn einen Moment lang an und habe das Gefühl, dass jegliche Willensstärke aus mir herausweicht, wie Luft aus einem löchrigen Schwimmreifen. Letztendlich rauche ich auf dem Weg zum Bahnhof drei Zigaretten, die mich weder beruhigen, noch befriedigen. An einem Kiosk besorge ich mir ausnahmsweise einen Kaffee und einen Muffin, an dem Blaubeere dran stand und Apfel drin ist. Doch es ist mir vollkommen egal, während ich ihn mühsam runter würge. Der Zug ist ungewöhnlich pünktlich und erstaunlich leer. Ich lasse mich auf einen Viersitzer mit Tisch fallen, ziehe mir den Rucksack auf dem Schoss und lege meine Arme darum, als wäre er meine Rettungsboje. Das Gesicht drücke ich in den harten Stoff und bin leise, aber lustlos erfreut, als der Zug relativ schnell losfährt. Die drei Sitze in meiner Nische bleiben auch nach dem vierten Halt leer und ich fange langsam an, mich zu entspannen. Müde streiche ich mir mit zwei Fingern mehrmals über den Nasenrücken. Weiter hinauf über die Nasenwurzel zur Stirn. Ich kriege Kopfschmerzen. Der Tag wird die Hölle, das weiß ich bereits jetzt. Das wusste ich schon nach den zehn Minuten Schlaf, die ich vermutlich letzte Nacht hatte und bevor mein Wecker klingelte. Und ich war mir absolut sicher, als ich am Bahnhof angekommen bin und die Nachricht meine Mutter bekam, die mir wie immer an diesem einem Tag versicherte, wie sehr sie mich liebt. Selbst Lena meldet sich jedes Mal. Meistens sind es nur kleine Belanglosigkeiten, die sie mir schreibt und ich weiß, dass sie es macht, um mir zu zeigen, dass sie an mich denkt. Und an René, der heute vor genau 17 Jahren starb. Doch wie immer ist dieses Gefühlsgeplausche müßig. Darüber nachzudenken ist zwecklos. René kommt nicht wieder, das verstehe ich seit je her und der stetige Gedanken an ihn lähmt mich mehr, als dass er mich voranbringt. Auch das weiß ich nicht erst seit heute. Kaum einer versteht, dass ich, nur weil ich diesem Tag keine Besonderheit beimesse, nicht weniger an ihn denke. Im Gegenteil, es vergeht kein Tag, an dem ich ihn mehr oder weniger vermisse. Denn Fakt ist, Renè fehlt in jeder Sekunde meines Lebens. Ich ziehe das Bild meines Bruders aus dem Portemonnaie, neige während des Betrachtens meinen Kopf gegen die kühle, vibrierende Scheibe und wünsche mich ausnahmsweise in mein fünfjähriges Selbst zurück. Damals war alles so viel einfacher, war so viel leichter. Unbeschwerter und frei. Denn mit René an meiner Seite war jedes Leid nur halb so wild. Wenn mein Lieblingskuscheltier kaputt ging, war es nicht so schlimm, weil er seins einfach mit mir teilte. Wenn mein Eis zu Boden fiel, gab er mir seine zweite Kugel. Auch dann, wenn diese seine Lieblingssorte gewesen war. Doch jedes weitere Eis, was danach fiel, war schlichtweg eine Tragödie für mich. Selbst, wenn ich direkt ein neues bekam. Denn jedes davon zeigte mir, dass ich von nun an allein war. Mein Bruder konnte nicht mehr mit mir teilen und die Lücke, die damals entstand, scheint auch nach all den Jahren nicht kleiner zu werden. Manchmal glaube ich, dass sie stellvertretend für die Distanz steht, die ich unweigerlich zu den anderen Menschen in meinem Leben aufbaue und einfach nicht schaffe zu überwinden. Nach 20 Minuten Fahrt werden die Abstände zwischen den Haltestellen immer länger und ich muss mir kaum noch Sorgen machen, dass sich irgendwelche nervigen Menschen zu mir setzen. Ich sehe dabei zu, wie die Landschaft schnell an mir vorbeizieht und nehme es doch kaum wahr. Seufzend und nachdem ich feststelle, dass apathisch in der Gegend rumgucken keine Lösung für meine Probleme bringt, stecke ich das Bild von René zurück und hole ich das Skript des neuen Buches hervor. Zuerst blättere ich die markierten Stellen noch einmal durch und mache mir selbst ein paar Anmerkungen. Als ich damit fertig bin, bearbeite ich die restlichen Hinweise meiner Lektorin und meine eigenen am Laptop. Normalerweise wiege ich stets ab, wie viel von Brigittas Korrekturen ich umsetze und wie. Doch diesmal kassiere ich die von ihr rotmarkierten Absätze entschlossen und denke nicht mal über Alternativen nach. Wenn sie Brigitta nicht als nötig erachtet, dann sind sie es auch nicht. Der Rest ist ein übertrieben flauschiges, happy-end-glucksendes Kinderspiel, so wie ich es gewohnt bin. Auch, wenn sich diesmal kein rosafarbenes Ende für alle Parteien abbildet. Ryan ist definitiv Verlierer dieser Dreieckssituation. Seine Liebe bleibt unerwidert und seine Wünsche werden zu nichts anderem, als zur blassen Reflektion eines einst klaren Begehrens. Es ist das erste Mal, dass ich es bedauere, nicht für jeden etwas Gutes gefunden zu haben. Als ich mit allem fertig bin, ziehe ich die überarbeitete Version auf einen der USB-Sticks, die in meiner Federtasche rumkullern und stecke ihn in die Tasche, um ihn nachher Brigitta aushändigen zu können. Wir haben zwar noch immer nicht geklärt, wann das neue Buch ins Programm aufgenommen wird, aber das wird sich sicher ergeben. Vielleicht frage ich Karsten direkt danach. Immerhin wird er heute auch anwesend sein, soweit ich es verstanden habe. Eine willkommene Abwechslung. Mit dem Gedanken an die bevorstehenden Stunden wird meine Laune noch eine Spur schlechter. Seufzend schließe ich die Augen, was sich als schlechte Idee herausstellt, denn unwillkürlich schleicht sich der enttäuschte Blick des Schwarzhaarigen herbei und sorgt dafür, dass die eben noch abgewehrte Trübseligkeit weiter voranschreitet. Genervt richte ich mich auf und beginne durch die zuletzt geöffneten Dokumente zu scrollen. Ich schmunzele bei dem Titel, den ich einer Hausarbeit gegeben habe und stocke, als ich bei einer bestimmten Datei ankomme, die mich augenblicklich schwerer Aufatmen lässt. Ich zögere. Doch dann tippe ich das Touchpad zweimal an und sie öffnet sich. Ich bestätige das Pop-up-Fenster, welches mich an die zuletzt bearbeitete Stelle bringt und lande nicht am Ende des Dokuments. Während ich mehr und mehr der geschriebenen Passagen überfliege, bemerke ich zum ersten Mal, dass es weitaus mehr ist, als das Aneinanderreihen von sexgeladenen Szenarien und Augenblicke. Es fühlt sich erlebt an und es zu lesen, greift tief in mein Inneres hinein. Die bedeutenden Stellen sind anders, als ich sonst von meinen Texten gewohnt bin. Sie transportieren Gefühl, ohne aufgesetzt zu sein. Es ist einfach, weich und subtil. Etwas, was ich schon lange nicht mehr für meine Bücher nutze. Meistens sind es eher viele dieser für mich abgedroschenen Floskeln, die beim Leser mit Wiedererkennung und Sehnsüchte verbunden sind. Sie erzeugen den größtmöglichen Effekt. Auch wenn sich Stile ändern und Autoren ihre Wortschätze erweitern, gibt es immer wieder bestimmte Phrasen oder Wörter, die in ihren Büchern auftauchen. Manchmal sind es ganze Szenerien, die sich in jedem Buch wiederfinden. Nur leicht abgewandelt und der Situation des Absatzes angepasst, aber die Notation ist die Gleiche. Sie sind fast wie eine Signatur, die sich einschleicht, ohne es zu bemerken. Bei mir ist es nicht anders. Doch im Gegensatz zu manch anderen bin ich mir dessen bewusst. Nicht zuletzt, weil meine Lektorin tolle Arbeit leistet und gnadenlos jede Szene auseinandernimmt, wenn etwas nicht stimmt. Aber ich ändere es nicht immer, denn ich nutze die Worte, auch weil ich sie mag, weil sie passen oder einfach nur weil sie funktionieren. Zugegebenermaßen ist es auch oft Faulheit und für meine vorigen Bücher ist es nie wichtig gewesen, wie ausgeklügelt oder raffiniert mein Wortschatz ist. Sie sind so voller Klischees und hirnloser Belanglosigkeiten, dass eine wortwörtliche Wiederholung kaum auffällt. Doch subtil ist eigentlich schöner. Subtil ist stärker. Denn zwischen den Zeilen wird jedes Wort wahrhaftiger. Auch, wenn es schwerer fällt, sie zu verstehen. Witzig ist, dass sich Menschen oftmals ebenso verhalten. Häufig nutzen wir bestimmte Gesten und Reaktionen, weil sie sich, obwohl wir ganz genau wissen, dass sie nicht das gewünschte Resultat erzielen, dennoch bewährt haben. Oder weil wir uns selbst darauf konditionieren. Manchmal auch, weil wir es nicht besser wissen. Vielleicht auch, um Reaktionen zu provozieren, die uns eher zurückwerfen, als voranbringen, weil wir wissen, dass es einfacher ist, die Schuld bei jemand anderen zu suchen, als bei uns selbst. Ich bin ein unausgesprochener Meister darin. Ein Schritt nach vorn, zwei zurück. Das Gespräch mit Kain hat es mir eindrucksvoll bewiesen. Wieder einmal. Aus der Gewohnheit heraus habe ich abgeblockt, noch bevor es überhaupt eine Chance gab und die heftigste Regung, welche seither meinen Körper durchströmt, ist Bedauern. Es dominiert auf, während ich weiterlese und langsam begreife, dass sich zwischen den Zeilen eine ganz andere Geschichte verbirgt. Es ist eine abgewandelte Chronologie meiner und Kains vergangener Wochen und unserer gemeinsamen Momente. Erst vor kurzem fragte mich Kain danach, ob ich sie weitergeschrieben habe. Ich habe es verneint, aber es war gelogen. Mittlerweile hat sie mehr als 180 Seiten und ich habe sogar etliche Stellen auf gewohntem Weg korrigiert. Denn diese Passagen leuchten mir in einem hübschen dunklen Blau entgegen statt in schwarz. Meine Bearbeitungsmethode. Doch ein Ende hat sie nicht. Mich erfasst genau derselbe Gedanke, wie am gestrigen Abend. Ich will nicht, dass es endet. Aber ich weiß auch, dass in der Literatur das Ende eines Buches nicht das Ende eine Geschichte bedeutet. Das Leben hat selten nur einen einzigen Teil und manchmal müssen wir Dinge abschließen, um ein neues Kapitel beginnen zu können. Aber was bedeutet es in meinem Fall? Auch, wenn ich es anfangs vehement bestritt, dass Kain Modell für eine der Personen steht und ich auch noch immer widersprechen würde, stimmt es. Kain hat mich nicht mehr losgelassen. Nicht nur, weil mich der Geschmack seiner Bonbons bis in die Träume verfolgt, sondern auch, weil er einer der wenigen Menschen ist, die mich zur selben Zeit Wut, Zufriedenheit und Faszination spüren lassen. Zu ihm fühlt sich die Distanz nicht so groß an, wie zu den anderen. Dennoch ist sie da und nach dem gestrigen Tag scheint sie zusätzlich unüberwindbar für mich. Kain wusste es, hat es längst verstanden. Vermutlich, weil er stets aufmerksamer ist als ich. Hat er es deshalb lesen wollen, weil das hier mehr aussagt, als ich es jemals persönlich könnte? Er hat mit allem Recht. Ich kenne die Bedeutung von so vielen Worten und in den seltensten Fällen verstehe ich sie. Doch, was soll ich tun? Gefühle sind meine Nemesis. Mein wunder Punkt. Außerdem bin ich bisher gut damit gefahren, das alles nicht an mich heran zu lassen. Oder nicht? Die in meinem Kopf geführte Debatte entscheidet sich diesmal nicht zu meinen Gunsten. Und deswegen beschaue ich letztendlich die leeren Seiten eines abrupt endenden Buches. René. Kain. Es ist keine gute Kombination. Meine Gedanken sind rastlos und der Druck in meiner Brust, verursacht durch das Gefühl des Verlustes, wird immer heftiger. Aus einem inneren Zwang heraus ziehe ich mein Handy hervor und wähle Kains Nummer. Es klingelt dreimal, dann lege ich wieder auf. Statt vor mir auf das leuchtende Display zu sehen, starre ich direkt aus dem Fenster. Was habe ich erwartet? Sicher schläft er noch nach dieser feuchtfröhlichen Nacht mit Marvin und Anni. In meinem Kopf wiehert heute Nils. Ich lasse meine Hand samt Handy in meinen Schoss fallen und erschrecke als es sich plötzlich regt. „Kain?“, frage ich, ohne auf das Display zu schauen. „Tut mir leid, Mausespeck, nur deine stets nervende Lektorin.“ In mir lodert die Ernüchterung und das trotz des erschreckend selbstreflektierenden Kommentars, welches mich grundsätzlich erheitern sollte. „Ich bin nicht in Stimmung...“, entgegne ich und schiebe es auf die Müdigkeit. „Bist du das jemals?“ „Durchaus.“ „Ach ja und wann genau?“, hakt sie zu meinem Leidwesen auch noch nach. „Etwa in dem Moment zwischen Aufsetzen und Beine aus dem Bettschwingen am Sonntag.“ „Das macht ein Zeitfenster von zehn Minuten, einmal pro Woche“, eruiert sie und lässt mich einen Moment lang zweifelnd schweigen. Zehn Minuten? In meinem Kopf sind es höchstens zwei. An schlechten Tagen drei. „Dafür brauchst du zehn Minuten?“ „Meistens sogar länger“, erklärt sie, ohne sich auch im Geringsten daran zu stören, dass das regelrecht unverhältnismäßig ist. „Okay... was willst du denn schon wieder?“ „Pah, ich wollte nur noch mal hören, wann du hier eintrudelst. Die Damen aus dem Sekretariat habe die Kopie deines Fahrplans verschlampt und ich würde gern wissen, wann ich dich am Bahnhof abholen muss.“ „Du musst mich nicht abholen.“ „Ach Schokotrüffelchen, das mache ich doch gern für dich... Apropos, wie lief das gestrige Date?“, flötet sie langgezogen und scheint in keiner Weise zu bemerken, dass die Überleitung mehr als dürftig ist. Wahrscheinlich ist das der Grund, aus dem sie überhaupt angerufen hat. Von wegen Fahrplan und Abholen. Am Arsch. Außerdem kann ich ihre Augenbrauen förmlich wackeln hören und beginne meinen Kampf gegen das wachsende Bedürfnis, einfach aufzulegen und zu schreien. „Kurz vor zehn“, erwidere ich. „Wie bitte?“, fragt sie irritiert. Sie hat mit einer anderen Antwort gerechnet, als die am wahrscheinlichsten Erwartete. Ein großer Fehler. „Laut Fahrplan komme ich kurz vor zehn Uhr an“, sage ich als einziges und lausche der abwartenden Stille, die folgt. Sie hält erstaunlich lange an und ich zögere es noch weiter hinaus, indem ich den Teufel tue auch nur das kleinste Wort von mir gebe. Ich höre es fast Knistern und wie sie langsam vor Anstrengung zur pfeifen beginnt. Für sie wäre Auflegen definitiv erträglicher gewesen. „Und?“, hakt sie ungeduldig nach. „Und was?“ „Du weichst meiner Frage aus“, stellt sie nutzloserweise fest. Sie ist so schlau und liegt dennoch falsch. „Ich bin nicht ausgewichen, ich habe bewusst nicht darauf geantwortet. Das ist ein Unterschied.“ „Du bist wie immer die Rosine im Studentenfutter, nicht wahr?“ Wer will schon eine Erdnuss sein? „Ich leg jetzt auf.“ Ich atme tief aus, als ich das Telefon von meinem Ohr nehme und zurück in meinem Schoss plumpsen lasse. Es ist ein Albtraum. Das alles. Und Kain reagiert einfach nicht auf meine Kontaktaufnahmen. Wenn er nicht mehr in meiner Nähe sein will, dann fällt der Intelligenzquotient meiner Bekanntschaften deutlich ab. Bedauerlich. Mein Spaßfaktor ebenso. Vor allem aber der Sex. Mein innerer Sarkasmusindex klettert ins Unermessliche und fällt garstig lachend über mich her, wie ein schelmhungriges Tier. Ich kann es fast selbst nicht mehr hören. Wem mache ich eigentlich etwas vor? Was auch immer Kain und ich teilen, ist nicht nur das gemeinsame Stille sexueller Belange. Auch, wenn es das ist, was ich mir hartnäckig einrede. Alte Muster sind schwer abzulegen. Ich stoße frustriert die Luft aus und lehne mich in den Sitz zurück, weil ich selbst langsam merke, wie sehr ich mich im Kreis drehe. Mir wird langsam schwindelig und ich fühle mich überfordert. Denn es ist völlig egal, was ich versuche, mir einzureden, ich hatte mich auf das Essen mit Kain gefreut. Kurz bevor ich an meiner Haltestelle ankomme, ziehe ich auch die andere Geschichte auf einen USB-Stick und stecke ihn in die Hosentasche. Ich verpacke alles zurück in meinen Rucksack, während ich mich in die Schlange für den Ausstieg einreihe und wie ein braver Lemming der strömenden Meute folge, bis die schmalen Zugänge in der Bahnhofshalle münden. Brigitta wartet bereits an einem Kaffeestand auf mich. Ich muss sie nicht mal suchen, denn ihre intensiv aubergineroten Haare scheinen fast zu leuchten. Unbewusst bleibe ich in einiger Entfernung stehen und merke, wie mein Fluchtreflex nach möglichen Verstecken Ausschau hält. Ich atme langsam tief ein und wieder aus. So viele Möglichkeiten und doch bleibe ich mitten in der Halle stehen. Meine Augen verfolgen ihren Bewegungen. Sie zirkelt mit einem übervollen Becher Kaffee, pumpt gerade das dritte Tütchen Zucker hinein und schafft es, das Getränk umzurühren, ohne dass das geringste Bisschen Schaum am Rand hinabläuft. Beeindruckend und im gleichen Maß verstörend. Währenddessen quatscht und flirtet sie mit dem jungen Barista und hat mich noch immer nicht bemerkt. Ich wiederhole meine beruhigende Atemtechnik und fühle mich kein bisschen besser gewappnet als vorher. Ich hoffe inständig, dass ihr Fragenkatalog verlorengegangen oder durch die überhöhte Koffeindosis in Vergessenheit geraten ist. Ich rege mich erst, als mir Brigitta energisch mit dem Arm entgegen wedelt. Denn damit ist die letzte Chance, mich einfach in Luft aufzulösen, verspielt. Ich schultere meinen Rucksack fester und gehe trotz Widerwillen auf die grinsende Winkekatze zu. „Also das mit der guten Laune müssen wir noch üben“, begrüßt mich meine Lektorin, als ich nahe genug bin und sorgt dafür, dass mein Gesichtsausdruck einen Mü grimmiger wird. „Was denn? Ich bündele nur jedes bisschen Freude, das ich aufbringen kann, für das Treffen“, pampe ich ihr mit zusammengebissenen Zähnen erklärend entgegen und zeige ein passendes Lächeln, welches auch als gruselig durchgehen würde. Ich bin so samtig, wie ein verkalkter Wasserkocher. „Klar doch, Sonnenscheinchen. Es muss wahre Anstrengung für dich sein, dass du vor lauter positiver Energie nicht augenblicklich implodierst.“ Wenn sie wüsste. „Können wir das bitte überspringen? Ich werde mich benehmen. Mehr kann ich dir heute nicht anbieten“, versichere ich ihr mit einem Übermaß an heuchlerischer Überzeugungskraft. Brigitta mustert mich kritisch, nickt es aber ab, denn sie weiß, wann sie nachgeben sollte. Sie deutet in die Richtung ihres Autos und ich folge ihr mit dem Elan eines Teilnehmers bei einer Bobby-Car-Rallye in der Wüste. Während der Fahrt lasse ich meine Lektorin reden und das nutzt sie gnadenlos aus. Nachdem ich weiß, was sie in den letzten Tagen zum Mittag hatte und wie ihre Nichte und ihre Katze heißen, schaltet sich langsam aber sicher mein Gehirn ab. Ich schnappe nur noch einzelne Fetzen und Worte auf und gehe meiner heutigen Lieblingsbeschäftigung nach. Irgendwohin starren. Zum Glück erwartet Brigitta wohlwissend keine Erwiderung von mir. Selbst, als wir das Verlagsgebäude betreten, scheint sie noch immer neue Themen zu finden, was in Anbetracht der bereits abgehakten Liste eine Unglaublichkeit darstellt. Aber was wundere ich mich überhaupt. Brigitta gehört zu den Personen, die selbst nach ihrem Tod noch reden würden und damit der gesamten Trauergemeinde das Fürchten lehren. Während Brigitta freudestrahlend mit ihren Kolleginnen schnattert, stehe ich desinteressiert daneben und sehe mich nach fünf unendlich langen Minuten ungeduldig um. Leider nicht unbemerkt. Sie schiebt mich seufzend zum vorbereiteten Konferenzsaal und zieht leise, aber übertrieben meckernd ab. Sie wusste, was auf sie zukommen kann. Ich lasse mich auf einen der noch reichlich vorhandenen freien Stühle nieder und bereue es zutiefst, dass ich nicht versucht habe, während der Fahrt zu schlafen. Ein müder Robin ist noch dreimal missmutiger als der normale Robin. Was selbst für mich anstrengend wird. Ohne Kaffee hätte es vielleicht geklappt. Mein Fehler. Ich atme tief durch und sehe mich um. Keine Couch. Keine Hängematte. Wo kann ich mein Veto einlegen? Weil der leere Raum auch nach mehrmaligem Seufzen keine Notiz von mir und meinen Belanglosigkeiten nimmt, lehne ich mich einfach zurück. Auf jedem Platz liegt eine dicke Mappe mit Papieren und Ausdrucken. Ich widerstehe mühelos der Neugier, hineinzuschauen, aber auch nur, weil der Inhalt für mich so spannend ist, wie die Klatschspalte eines Frauenmagazins. Darin wird nichts stehen, was uns Brigitta bei ihrem letzten E-Mailtsunami nicht schon mitgesendet hat. In der Mitte des Tisches stehen Gläser und Tassen auf dem Kopf, Flaschen mit Wasser und eine Schale voller Gebäck und etwas Rosafarbenen. Ich beuge mich vor und ziehe die kleine Schüssel geräuschvoll zu mir heran. Sie ist gefüllt mit rosafarbene Salztoffees und bevor ich meiner Verzweiflung geräuschvoll Nachdruck verleihe, kippt mein Kopf mit der Stirn voran und einem leisen Plopp einfach auf die Tischplatte. Mein theatralisches Schluchzen erfüllt den gesamten Raum. Nun bin ich offiziell in der Hölle angekommen. Einem pinken Ort der Verdammnis voller hochtrabendem Liebesgeschwafel und klischeehafter Pseudorealitäten. Ich werde Happy End-Floskeln bald in allen Farben kotzen und mit Sicherheit nur noch glitzernde Rosé-Sekttränen vergießen können. Keine Fähigkeiten, die ich besitzen möchte und etwas, was selbst meinem inneren Sarkasmusgetier Einhalt gebietet. Es ist schon schwer genug, beim Schreiben nicht jedes Mal in den klischeeumwobenen Liebessumpf abzudriften, nur weil es als besonders wertvolles Prädikat eines Liebesromans gilt, dass sich am Ende die Hauptfiguren gemeinsam in den siebten Himmel verabschieden. Egal, wie abstrus oder weithergeholt es ist. Liebe auf dem ersten Blick ist so unwahrscheinlich, wie von einem vom Himmel fallenden Legostein am kleinen Zeh getroffen zu werden. Und selbst das ist vermutlich noch im Rahmen des absolut möglichen. Und dennoch wird auf nichts davon Wert gelegt. Wozu Realität, wenn man himmelhochjauchzenden Scheinsurrealimus betreiben kann. Es ist zum Verrücktwerden. Mit einem gequälten Raunen greife ich mir eine der Wasserflaschen und trinke sie bis zur Hälfte leer. Danach geht sogleich die Tür auf und ich schaffe es nicht, meinen unwilligen Gesichtsausdruck zu kaschieren, den ich auch noch direkt ins Blickfeld der Tür richte. Brigitta und eine viel jüngere Frau stehen im Türrahmen. Ihre Haarfarbe kollaboriert akzentuiert mit der meiner Verlegerin. Vielleicht sollte ich mir beim nächsten Mal die Haare einfach blau färben. Beide mustern mich, aber nur ein Blick ist wissend. Ich lehne mich zurück und mache keine Anstalten, aufzustehen oder als erstes das Wort zu ergreifen. Für Höflichkeiten habe ich heute keine Energien übrig. „Bemüh dich nicht. Robin, das ist Maren Dey und das, meine Liebe, ist Robin Quinn.“ Brigitta formuliert die klassischen Vorstellungsgesten und ich sehe, wie Maren eifrig nickt. Außerdem kann ich deutlich erkennen, wie es in ihrem Gehirn arbeitet. Nein, diesen Namen wird sie nicht kennen und garantiert wirke ich nicht wie der typische Schriftsteller. Wieso also bin ich hier? Eine Frage, die ich mir schon seit Wochen stelle. Ich bin mir auch nicht sicher, ob Brigitta absichtlich darauf verzichtet, mich mit meinem Pseudonym vorzustellen oder sie mich schlicht dazu zwingen will, selbst auszupacken. Den Gefallen tue ich ihr nicht. Hinter den beiden taucht noch eine weitere Frau auf. Kara Wang. Auch sie wird mir vorgestellt. Nur mir. Anscheinend sind die anderen Autoren untereinander gut vernetzt. Sie hat ungewöhnlich strenge asiatische Züge, aber wenigstens klassisch schwarze Haare. Ihr Name kommt mir im Gegensatz zu der anderen bekannt vor. Ich meine mich daran zu erinnern, dass ich erst vor kurzem eines ihrer Bücher in der Hand hatte und mich still darüber echauffierte, dass ihre Cover wesentlich hübscher sind, als meine. Darauf werde ich Brigitta noch mal ansprechen müssen. Es folgen noch zwei Kolleginnen von Brigitta, bei denen ich nicht weiß, ob sie ebenfalls als Lektorin arbeiten, oder ob sie andere Stellen innehaben, wie Marketing oder einen dieser anderen hübschen englischen Berufsbezeichnungen. Direkt hinter der weiblichen Ansammlung kann ich Karsten, meinen Verleger, ausmachen. Er wirft mir einen Blick zu, hebt seine Hand und obwohl er alle überragt, verliert sich seine Spur plötzlich in der Menge. Vielleicht hat er die Flucht ergriffen? Vielleicht könnte er mich in sein Versteck einladen? Für einen kurzen Moment bin ich hoffnungsfroh, doch dann schiebt er die Frauen einfach durch die Tür und fordert alle auf, sich hinzusetzen. Eine der Sekretärinnen bringt eine Thermoskanne mit Kaffee und zusätzlich eine mit Tee. Ich bin freudig überrascht. Auch, dass ich nicht der Einzige bin, der Tee favorisiert. Fräulein Wang ebenso. Ich danke ihr, als sie mir ebenfalls eine Tasse eingießt und das Lächeln, womit sie den Dank erwidert, verdrängt mit einem Mal jede Härte aus ihrem Gesicht. Ein Unterschied von Tag und Nacht. Ich kann nicht verhindern, dass ich sie einen Moment länger ansehe und meinen Blick erst löse, als sie an ihrer Tasse nippt. Die Begrüßung und überschwängliche Einleitung in das Vorhaben übernimmt Brigitta, während Karsten stetig und bedächtig nickend neben ihr sitzt und dabei wirkt als wäre er ihr Schoßhund und nicht ihr Chef. Ob er bellt, wenn man ein Leckerli aus der Tasche holt? Bei der Vorstellung schleicht sich ein Grinsen auf meine Lippen. Dabei kann ich meinen Verleger wirklich gut leiden. Er ist geradeheraus und hält sich selten mit Kleinigkeiten auf. Er sagt direkt, wenn ihm etwas gefällt oder nicht und damit kann ich wesentlich besser umgehen, als mit zurückhaltenden Weichspülerattitüden. Ich beobachte ihn noch einen Moment länger und erkenne nun, dass seine Finger unruhig unter die Tischplatte gegen das Holz klopfen. Er ist mit so viel Elan dabei, wie ich. Als er meinen Blick bemerkt, lächelt er und hält für zwei Minuten still. Brigitta skizziert wortreich ihre Vorstellungen und zieht währenddessen die zwei Flipcharts heran, die bis eben noch unschuldig an der Seite rumstanden. Oh oh. Ich ahne böses. Mein Gefühl bestätigt sich, als sie verschiedenfarbige Kärtchen und Stifte rumgeben lässt. Ich muss nicht nur zuhören, sondern auch mitmachen. Das war nicht der Deal. Ich setze zum Widerspruch an und werde von meiner Lektorin unterbrochen, ehe ich überhaupt einen Laut hervorbringe. Sie legt sogar noch ein paar Karten mehr auf meinen Stapel und grinst. Ich schnappe mir den Stift und schreibe mit Druckbuchstaben das Wort Rache auf eine der rosaroten Karten und halte sie in Brigittas Richtung. Karsten lacht laut auf und Brigitta winkt kokett ab, nachdem sie mir einen Luftkuss zu geworfen hat. Ich bringe sie nicht mehr aus der Ruhe. Daher ergänze ich das Schild noch mit `coming soon` und klebe es mir demonstrativ als Namensschild ans Oberteil. Sie lächelt und fährt fort. „Natürlich sprechen wir auch von den klassischen Features im Sinne von Signierstunden, Buchverkäufen, Meet and Greets und Lesungen...“ Yippie. Ich, in einer Lesung. Eine derartige Szene malt sich augenblicklich in meinem Kopf und sie ist der reine Horror. Wo ist das bodenlose Loch, in das ich mich stürzen kann? Ich verstehe immer noch nicht, wieso ich hier bin. „Schön wäre es auch, wenn wir Diskussionsrunden aufziehen können, um zu erfahren, wohin sich die Vorstellungen der Leser*innen entwickeln. Wünschen Sie sich eher seichte Liebe auf dem ersten Blick oder spannende Versteckspiele mit Herzschmerz erfülltem Liebeskolla“, setzt sie begeistert und überschwänglich fort. Sie schreibt definitiv zu viele Klappentexte. Automatisch verdrehe ich die Augen und ich schaffe es nicht schnell genug, meinen Blick abzuwenden. Ich merke einen leicht zwiebelnden Schmerz an meinem Hals und wie etwas in meinen Schoss fällt. „Au!“, gebe ich entsetzt von mir. Als ich nach dem Objekt greife, welches mich getroffen hat, erkenne ich einen der Salztoffees und blicke direkt zu meiner Lektorin, die mich mit blitzenden Augen durch ihre Brille hindurch fixiert. Oder wahlweise auch erdolcht. Ihr Gesichtsausdruck hat einen gewaltigen Interpretationsspielraum. Ich entferne die Hülle und stecke mir das süße Ding demonstrativ in den Mund. Großer Fehler. Das Wort Süß bekommt eine neue Bedeutung und paart sich mit der Definition von das Grauen. Es ist schrecklich. „Hast du zu dem Thema eine Meinung?“, fragt Brigitta trotz alledem, als ich angestrengt mampfe, statt zu parieren. „Habe ich, ... aber die will hier ... keiner hören...“, sage ich mit Verzögerungen, da der Toffee in meinen Zähnen klebt. Ich schmatze kurz auf und verhindere gerade so, dass sich meine Spucke verselbstständigt. „Ah, du meinst, ich kenne sie bereits...“ Oder so. Gehopst, wie gesprungen. Oder gehoppelt? Ich zucke desinteressiert mit den Schultern. Brigitta lässt sich nicht beirren und blubbert einfach weiter, während ich gegen den Karieskleber kämpfe. Ein Kampf der Giganten und für einen Moment befürchte ich, zu unterliegen. Meine Kopfschmerzen nehmen weiter zu. Meine Zahnschmerzen auch. Ich blicke fast sehnsüchtig auf mein Handy, welches auf meinen Schoss unter dem Tisch liegt, während ich mit der Zunge versuche, meine Zähne zu reinigen und verspüre das dringende Bedürfnis, jemanden mein Leid kundzutun. Doch der Einzige, der mir einfällt, wäre Kain. Das steinerne Etwas in meiner Brust wird schwerer. Trotzdem öffne ich den Chat mit dem Schwarzhaarigen und das miese Gefühl wird nur noch schlimmer. Meine Nachrichten wurden gelesen, aber nicht beantwortet. Dafür gibt es nur zwei Gründe. Marvin hat sie vorher gelöscht oder Kain will mir nicht antworten. Keine davon gefällt mir und meine Konzentrationsfähigkeit verabschiedet sich endgültig. Ich horche erst wieder auf, als die Diskussion um mich herum plötzlich mit den Phrasen ewiger Liebe und Wunscherfüllung rumwirft, wie mit Konfetti. Die fünf Frauen sind definitiv auf einem glitzernden Regenbogen unterwegs. Vielleicht sollte ich ihnen Nils zur Verfügung stellen, denn mein kleiner Sarkasmusfreund schabt bereits mit den Hufen. Die Runde tauscht sich über vergangene und aktuelle Bestseller des Genres und deren Plots aus und ich wage es kaum zu sagen, dass ich so gut wie nichts davon gelesen habe. Meine Gelüste werden eher von Fachliteratur und morbiden Thrillern gestillt. Oder von der Tatsache, dass mein Gehirn genügend eigenen Kram produziert. „Was spricht eigentlich gegen Realismus in Liebesgeschichten?“, frage ich, als Maren nach einem ausschweifenden Monolog über die fantastische Welt des unbegreiflich unwahrscheinlichen Liebesobjektes Luft holt. Superreiche, aber kaltherzige Millionäre, frenetisch geliebte Idole und super strenge, aber super sexy Chefs. Ich scheine in einem anderen Universum zu existieren, weil ich den Sinn dahinter einfach nicht begreife. Sie jedoch behauptet felsenfest zu wissen, was genau ihre Leser*innen sich wünschen und wieso sie es sich genauso vorstellen. Die Chance auf das Erleben des Unmöglichen und ein Happy End sind das Einzige, was zählt. So als würde nur ein derartiges Ende ihre Existenzen rechtfertigen. Ich habe schon fast ein wenig Mitleid, wenn ihr Lebensinhalt einzig darin besteht, darauf zu hoffen, dass sie irgendwann ihren unantastbaren Traumprinzen besteigen können. Alle sehen mich an, als ich meine simple, aber ernstgemeinte Frage ausspreche. Karsten räuspert sich und in den Augen meiner Lektorin erkenne ich die wachsende Panik, dass ich gleich zum Meuchelmord des Liebesgenres ansetze. Es ist nicht meine Absicht. Ich möchte nur einen adäquaten Beitrag zur Diskussion leisten. „Was genau verstehst du darunter?“, fragt mein Verleger und ich bin mir sicher, dass er ebenso, wie Brigitta meinen letzten Romaninhalt im Kopf hat. Ehe ich antworte, lasse ich meinen ungenutzten Stift auf die Mappe tippen, zucke mit den Schultern und weiche ihren unangenehmen Blicken aus. „Na ja,...“, beginne ich zögerlich und versuche alle vorher angesprochenen Thema aufzugreifen, „... dass es nicht immer sofort klappt, zum Beispiel. Manchmal bedarf es einer zweiten Chance oder einer Dritten. Oder dass man nicht immer dem Neuen nachgeht, sondern auch mal für das Alte kämpft. Auch, wenn das Neue aufregend und glitzernd wirkt, kann man einen Menschen auch ein zweites Mal kennenlernen und dabei Dinge entdecken, die man vielleicht schon wieder vergessen hatte.“ Während ich spreche, bemerke ich, dass sich Brigitta beruhigt zurücklehnt und mich trotzdem ganz genau beobachtet. Auch Maren und Kara sehen mich aufmerksam an. „Ich meine ja nur, dass es auch andere Wege gibt, eine gute Liebesgeschichte zu kreieren, ohne permanent das Unmögliche wahrzumachen. Ich sage es nur ungern, aber so viele Millionäre gibt es einfach nicht und Narzissten bleiben Narzissten, egal, wie devot man sich zeigt.“ Im echten Leben fällt niemand so einfach aus seiner Rolle, wieso sollten es Romanfiguren? Menschen lassen sich nicht einfach ändern. Wir sind, was wir sind und jede Veränderung kostet Kraft, Zeit und eigene Willen. Alles andere ist vergebliche Liebesmüh. „Du bist also gegen den klassischen Mainstream. Das finde ich gut“, sagt Karsten und sieht zu Brigitta. „Ich bin gegen die verschwenderische genutzten Kli....“, beginne ich, doch Brigitta fährt mir energisch in die Parade. „Robin kann das auch bleiben, aber wir dürfen uns nicht gegen den Mainstream verschließen.“ Wie diplomatisch. „Die Zahlen zeigen einen deutlichen Trend und den greift Maren definitiv mit ihren Ideen auf.“ Trotz ihrer Worte sehe ich, wie sie sich etwas auf ihrem Block notiert. „Ich finde allerdings, dass das ein gutes Thema für eine Diskussion darstellt. Warum sehnen wir uns eigentlich nach dem Unmöglichen? Was reizt uns an dem Unwahrscheinlichen? Warum will jeder eine Prinzessin sein?“ „Ich nicht.“, lehne ich prompt die Hypothese ab. „Okay, Robin, darf das schlosseigene Ungetüm im Burggraben sein“, kommentiert Karsten und deutet auf seine Uhr. Alle anderen kichern. „Gut, wenn das geklärt ist, machen wir erstmal Pause.“ Ich lasse mich draußen auf eine der Bänke fallen, während die anderen essen gehen. Brigitta versucht mich zur Nahrungsaufnahme zu motivieren, doch ich lehne dankend ab. Ich habe keinen Hunger und dank der Kariesbombe habe ich Zahnschmerzen. Nicht mal der Pudding und die Zusicherung, dass ich auch ihren bekomme, können mich locken. Draußen ist es angenehm warm, so dass ich keine Jacke brauche. Nun bin ich froh, dass mir Brigitta vorher das Racheschild abgenommen hat. Aus der Gewohnheit heraus stecke ich mir eine Zigarette zwischen die Lippen, zünde sie aber nicht an. Ich lasse sie nur eine Weile hin und her wippen und starre gen Himmel. In der letzten Zeit ist das Bedürfnis nach Nikotin wirklich weniger geworden. Selbst in den letzten Stunden merkte ich keine übertriebene Unruhe. Jedenfalls nicht aus diesem Grund. Ich werde von Sonnenstrahlen geblendet und schließe die Augen. Ich bin müde und überhaupt nicht bei der Sache. Die Zigarette stecke ich mir hinters Ohr, pfriemele leise schmatzend mein Handy aus der Hosentasche und versuche auf dem Display irgendwas zu erkennen. Ein verpasster Anruf und mehrere Nachrichten. Es ist alles von Jeff. -Hab mich von Abel getrennt.-, lautet die Erste. -Er kann so ein Arsch sein.- Nummer zwei. Für mich ist das Zweite keine neuwertige Information. Auch der Schritt zur Ersten nicht. Trotzdem bin ich überrascht, wie schnell es plötzlich ging. Ist es meine Schuld? Waren meine Worte dafür ausschlaggebend, weil ich ihm gesagt habe, dass er mich angemacht hat? Oder hat Jeff mit einem Mal begriffen, dass Abel nichts weiter als eine Luftnummer ist? Ich glaube nicht wirklich daran. Da ist sicher noch nicht das letzte Wort gefallen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Abel es so einfach darauf beruhen lässt und Jeff gehört nicht zu den Personen, die wirklich konsequent sind. Was das überstürzte Handeln noch eigenartiger macht. Ich lese die restlichen Nachrichten, um vielleicht einen Grund zu erfahren. -Wo bist du überhaupt? Danke für die Gummibärchen. Sind schon alle- Eine Weitere. -Hab Kain getroffen. Was ist los?- Nach dieser Textnachricht lasse ich das Telefon sinken und beiße mir auf die Unterlippe. Kain ist also schon wieder auf den Beinen. Unterwegs nach seiner feuchtfröhlichen Kumpelnacht. Gut. Fantastisch. Sein Handy hat er sicher auch wieder. Aber er hat noch keine Zeit gefunden, um auf meine Nachrichten zu reagieren. Oder auf meinen Anruf. Too busy. Gut. Fantastisch. Ich nicke nach jedem Satz und störe mich nicht mal daran, dass sie selbst in meinem Kopf vor Verzweiflung nur so triefen. Himmel bitte erschießt mich. Ein Treffer mitten in die Stirn. Dann hört auch endlich dieses kindische, selbstbemitleidende Gefasel auf. Ich bin selbst schuld, dass er sich zu dem Schritt gezwungen fühlt und jetzt muss ich verdammt noch mal damit leben. Allerdings bin auch niemand, der etwas einfach so ruhen lässt. Um zu verhindern, dass Jeff weitere Male versucht, mich zu erreiche, antworte ich ihm. -Bin bis morgen unterwegs. Im Gefrierfach liegt Eis. Kommst du klar?- Ich frage mich für einen kurzen Moment, ob es schroff klingt und schicke es dennoch ab. Jeff ist nichts anderes von mir gewöhnt und übertrieben Freundlichkeit macht ihn eher misstrauisch. Trotzdem würde ich gern den Grund von ihm erfahren. Danach lege ich das Handy auf meinem Schoss ab. Ich habe keine Ahnung, wie sehr Jeff die Trennung mitnimmt. Weder er noch ich bringen da viel Erfahrung mit. Aber Eis hilft immer. Mit Eis kann man nichts falsch machen. Mein Kopf kippt in den Nacken. Die feinen Sonnenstrahlen treffen mein Gesicht erneut. Sie sind warm und angenehm. Sie winden sich mühelos durch die Verästelung des Baumes und werden davon getragen von einen sanften Luftzug. Was würde ich dafür geben, einfach einer dieser Sonnenstrahlen zu sein. Schwerelos und frei. Erneut geistern Kains und Renés Namen durch meinen Kopf. Mittlerweile kann ich die Intensität, die sie auslösen, nicht mehr voneinander unterscheiden. Im Gegenteil, sie scheinen sich gegenseitig anzustacheln. Die leisen Stimmen und nahenden Schritte nehme ich kaum wahr. Erst, als sich jemand neben mir auf die Bank niederlässt, öffne ich meine Augen. „Was ist mit dir los, Brausebär? Alles okay?“ Meine Lektorin hält einem Kaffeebecher in der Hand und ruft das Kosewort so laut aus, dass sich die anderen Teilnehmer noch mal umdrehen. Ich bin zu langsam, um angemessen auf Brigitta zu reagieren. Dementsprechend schenke ich ihr nur einen halbherzigen Blick und ziehe einen Flunsch. Sie legt mir als Reaktion darauf einen Vanillepudding in de, Schoss, der sich unter ihrem Kaffeebecher versteckt hat. Ich kriege sogar einen Löffel. „Nichts. Ich bin so brav, wie du wolltest, oder nicht?“, ringe ich mir ab. „Ich wollte dich friedlich, nicht apathisch“, kommentiert sie und schiebt ihre Brille etwas nach oben. Ich krächze theatralisch, nehme den Pudding in die Hand und lehne mich nach vorn. Meine Ellenbogen drücken sich in meine Oberschenkel. Mein Blick richtet sich auf eine weit entfernte Stelle. Einem orangefarbenen Fleck inmitten einer samtig grünen Hecke. „Ich rate mal“, beginnt Brigitta neben mir. Ich seufze, sage aber nichts. Wohlwissend, dass ich sie sowieso nicht aufhalten kann. “Es geht um das Schnuckelchen und scheinbar ist euer Date gestern nicht so gelaufen, wie ich es mir gewünscht hätte.“ Treffer. Versenkt. Ob ich nun wieder in Ruhe vor mich hinvegetieren darf? „Es war nur ein Essen und... es hat nicht stattgefunden“, gebe ich monoton preis. Nicht so, wie sie es sich gewünscht hat, wiederholt sich in meinen Kopf. Ich mir auch nicht. Allerdings mit dem Unterschied, dass ich im Grunde gar keine Erwartungen hatte. Warum also bin ich so enttäuscht? „Oh“, gibt sie als einziges von sich und ich sehe auf den Kaffee in ihrer Hand. Ihre langen, türkisfarbenen Fingernägel kratzen über die bedruckte Pappe, pfriemeln an einen lockeren Papierfetzen rum und lenken mich kurz ab. Wir schweigen einen Moment lang und ich beginne das Plaste meines Puddings vorsichtig zusammenzudrücken, sodass sich die Abdeckung wölbt. Es knistert. Es knirscht und überdeckt das feine Seufzen, welche sich von meinen Lippen löst. Es ist fast eine Melodie. Eine Melodie des Trübsinns. „Willst du mir gar nicht unterstellen, dass ich es verbockt haben muss?“, frage ich, nachdem sie etwa zwei Zentimeter Papier abgepellt hat. „Würde dir das denn helfen?“, erkundigt sie sich und ich sehe auf. Durch die Brillengläser hindurch blicken mir zwei klare, graugrüne Augen entgegen. Nein, das würde es nicht. „Robin, ich weiß nicht, was passiert ist und ich werde auch nicht weiter mutmaßen. Du kannst mit mir darüber reden oder du lässt es.“ Die beste Wahl für mich zu treffen war noch nie meine Stärke und auch jetzt mache ich das Typische. Schweigen. Schulterzuckend lehne ich mich zurück, verschränke die Arme locker vor dem Bauch und drehe den Becher Pudding mit einer Hand umher. Ich wechsele zur anderen und werfe die Süßspeise hin und her. Nur nicht lange. Brigitta greift sich den Pudding und zwingt mich so, sie wieder anzusehen. „Weißt du, Mausespeck, du bist der Inbegriff von unromantisch und doch, liebe und glaube ich dir jedes Wort deiner Bücher. Und weißt du, wieso?“ Die damit herbeigeführte Pause zwingt mich erneut, sie anzusehen. Auf ihren Brillengläsern sind kleine Wasserflecke zu erkennen. „Weil es authentisch ist. Weil du nicht nur blind etwas fantasierst und ausschmückst. In jeder Zeile stecken Wünsche und Sehnsüchte, die so variabel, schön und farbenfroh sind, wie die Menschen selbst und das ist wunderbar. Selbst deine eigenen, auch wenn du sie leugnest.“ Mit einer einfachen Geste erstickt sie jede meiner typischen Ablehnungen im Keim, bevor sie sich auch nur ansatzweise über meine Lippen mühen. „Ich weiß, wir haben diese Diskussion schon geführt. Ich kenne deinen Standpunkt und du meinen. Aber ich betone gern noch mal, Liebe ist etwas Gutes und sie ist weitaus vielschichtiger, als es uns die Wissenschaft diktiert. Ich denke, dass...“ „Was?“, unterbreche ich sie, „Wird sie dadurch weniger anstrengend oder sinnvoller?“ Ich reagiere gereizt und weiß nicht einmal, wieso. Ihr blinder Enthusiasmus ist wie immer beeindruckend. Aber ich bin es leid, diese Grundsatzdiskussion zu führen. Für manche Dinge gibt es keine allgemeingültige Definition und Liebe gehört für mich dazu. „Du betonst zwar immer wieder, wie sehr du Emotionen verabscheust und wie wenig es dir bedeuten, aber im Grunde hast du einfach nur Angst. So wie alle anderen auch und das ist okay.“ Angst. Ja, ich habe Angst. Auch sie trifft den Nagel auf den Kopf, was es nicht einfacher für mich macht oder brauchbar. „Vielleicht solltest du da ansetzen. Akzeptiere, dass es okay ist, Angst zu haben und dann merkst du endlich, dass du um dich herum Menschen hast, die dir die Ängste auch nehmen können... wenn du es zulässt.“ Langsam bin ich mir sicher, dass sie nebenberuflich Glückskekstexte schreibt. Ich greife nach der Zigarette hinter meinem Ohr, stecke sie mir zwischen die Lippen und taste nach meinem Feuerzeug. Doch statt diesem, ertaste ich in der Tasche nur den USB-Stick, ziehe ihn hervor und halte ihr diesen hin. „Hier die Korrekturen zu `Niemals nicht´“ Es klingt vernuschelt, wegen der Zigarette in meinem Mund. „Oh, du mein braver Vorzeigeautor“, säuselt sie und nimmt mir den Stick ab. Mitnichten. Ich verdrehe schon währenddessen theatralisch die Augen. Erst beim zweiten Versuch finde ich das Feuerzeug und zünde die Zigarette an. Brigitta steht auf und lässt mich mit meinem Krebserzeuger allein. Und mit meinen Gedanken. Kapitel 28: ...meine Sprache wären… ----------------------------------- Kapitel 27 Wenn Worte meine Sprache wären… (2/2) Auch für die zweite Runde fehlt mir deutlich der Elan und diesmal gebe ich mir weniger Mühe, das zu verbergen. Ein Prozent ist teilgenommen. Dennoch bleibe ich brav auf meinem Platz sitzen, nicke ab und an und versuche, mich einzubringen. Ich mache sogar zwei, drei nützliche Vorschläge, die danach von den anderen enthusiastisch aufgegriffen und diskutiert werden, was mir jedes Mal genügend Zeit zum Abdriften bietet. Am Ende sind die beiden Flipcharts bunt beklebt und beschrieben. Es zeichnet sich tatsachlich ein halbwegs deutlicher Fahrplan ab und auch meine Lektorin scheint sichtlich zufrieden, als sie ihre Hände in die Taille stemmt und es zusätzlich laut ausspricht. Dass ich mich augenblicklich fühle, wie ein Welpe beim ersten Gassi gehen, ist scheinbar beabsichtigt. Ein Leckerli kriege ich nicht, dabei habe ich so vortrefflich das Bäumchen gefunden. Wir beenden das Treffen mit einigen letzten motivierenden Worten und obwohl ich nicht damit gerechnet habe, bitten mich Maren und Kara um meine Kontaktdaten. Ich kann ihnen nur meine Handynummer anbieten. Alles andere habe ich nicht. Vermutlich werden sie direkt Brigitta fragen, ob das mein Ernst ist. Sie fragen mich nicht nach meinen Büchern, weshalb ich mein Pseudonym nicht preisgeben muss. Bevor ich mich endgültig verabschieden kann, werde ich von Karsten abgefangen. Ich folge ihm in sein Büro. Er fragt mich nach meinem Befinden und meint damit zum Glück nur die geschäftliche Beziehung zum Verlag. Ich gebe ihm ein Stimmungsbild mit grundsätzlicher Zufriedenheit und versäume aber nicht anzumerken, dass ich den Wunsch nach Veränderung habe, wie auch immer diese dann aussieht. Er weiß, dass ich mich mit dem persönlichen Marketing und der öffentlichen Präsenz schwer tue. Er verteidigt Brigittas Wunsch, mich mehr in den Prozess der Convention mit einzubinden. Interessanterweise meine ich mich daran zu erinnern, dass Brigitta meinte, dass Karsten die Entscheidung traf, mich dazu zu verpflichten. Ich sage nichts. Als letztes sprechen wir über die Veröffentlichung des neuen Buches. Es wird in das Frühjahrsprogramm aufgenommen. Ich nicke dankend und verabschiede mich. Im Flur fängt mich Brigitta ab und bietet mir an, mich zurück zum Bahnhof zu fahren. Auch das nicke ich ab. Sie begleitet mich bis zum Bahnsteig. „Fährst du jetzt noch zum Campus zurück?“, fragt sie und kramt in ihrer riesigen Tasche nach einem Kaugummi. „Du kannst immer noch einen der Hotelvoucher benutzen. Die Betten sind total bequem und das Frühstück ist fantastisch“ Sie schwärmt, während ich mir am Automaten ein Ticket ziehe. „Nein und nein“, antworte ich und sehe auf die Uhr. Es ist spät. „Ich fahre noch nach Hause.“ Brigitta nickt. Sie weiß, wo meine Heimatstadt ist, da wir uns während des Lektorats meines ersten Buches mehrfach dort getroffen haben. Dort hat sich auch das kleine Ritual entwickelt, gemeinsam Eis zu vertilgen. Ich glaube, sie wollte mich nur aus der Reserve locken und ich bin mir sicher, dass sie das immer wieder von neuem versucht. Ich bin mir sicher, dass sie weiß, dass sich in diesen Monaten der Todestag meines Bruders jährt. Sie weiß wahrscheinlich das genaue Datum nicht mehr und ich bin mir auch nicht sicher, ob ich es jemals erwähnt habe, aber sie stellt keine weitere Frage darüber, wieso ich nach Hause fahre und nicht zum Campus. So, als würde sie es ahnen. Ich sehe sie einen Moment und sie hält mir die Packung Kaugummis hin. „Oh, bevor ich es vergesse!“ Sie greift ein weiteres Mal in die Tasche, reicht mir den USB-Stick, den ich ihr erst heute Mittag gegeben habe. „Hier, ich denke, du hast mir den Falschen geben.“ Ich brauche einen Moment bis ich verstehe, was sie damit meint. Ich habe ihr versehentlich die Kopie von Kains Geschichte ausgehändigt. Peinlich. Brigitta ist schlau und hat anhand der Beschreibungen sicher erkannt, wer da meiner Fantasie nachgeholfen hat. Ich greife den Stick ohne hinzugucken und presse die Lippen aufeinander. Ich hoffe, dass sie nicht allzu viel davon gelesen hat. Doch als ich endlich aufblicke, platzt die Hoffnungsblase ohne weiteres Zutun. Brigitta grinst. Ohne Ohren wäre es mit Sicherheit 360 Grad. „Das war nicht für meine Augen gedacht...“, stellt sie fest und blinzelt mir entgegen, „Aber ich verspreche dir, dass ich jeder Zeit dazu bereit bin, abzustreiten, dass ich weiß, dass das von dir stammt.“ Ihr Grinsen wird wieder umfassend. Es hat ihr gefallen, geht mir durch den Kopf und ich beginne nervös mit dem Papier des Kaugummis zu spielen. Ehe ich ihn mir in den Mund stecke. „Willst du es veröffentlichen?“ „Nein...“, sage ich etwas zu schnell, beiße mir auf die Unterlippe und versuche es nochmal, „Nein, es ist...es ist nur... eine Schreibübung.“ Etwas anderes fällt mir gerade nicht ein und im Grunde hätte ich es mir sparen können. „Es ist also für ihn?“ Ich hasse sie. Inbrünstig. „Nein, niemals.“ Das Lachen, was folgt ist gekünstelt und ich schlucke es schnell wieder runter. Meine Lektorin schüttelt ihren Kopf. „Weißt du, wenn der Kerl und die Beziehung, die du in dem Text beschreibst, auch nur ansatzweise so sind, dann solltest du nicht mehr so viel nachdenken und handeln.“ Brigitta lehnt sich dichter an mich heran. Sodass ihre Schulter meine berührt. Sie grinst und verabschiedet sich mit wehender Mähne, während die Durchsage für meine Linie eine Verspätung ankündigt. Völlig normal bei Regionalzügen. Ich steige in den Zug, der mich in meine Heimatstadt fährt. Diesmal habe ich kein Glück bei der Platzwahl und zwänge mich mit sieben Fahrrädern und etlichen Pendlern ins Fahrradabteil. Zum Glück stehe ich an einem geöffneten Fenster und spüre bei jedem Meter, den der Zug vorankommt, einen angenehmen Lufthauch auf meinem Gesicht. Ich lasse meine Augen geschlossen und konzentriere mich auf die vielfältigen Geräusche in dem Abteil. Jemand blättert in einer Zeitschrift und scheint die Hälfte der Artikel einfach zu überblättern. Irgendwo höre ich leise Musik. Die Lautstärke muss enorm sein, wenn ich sie bis hierher hören kann. Woher es kommt, kann ich nicht ausmachen. Das Geräusch der Motoren. Als mein Telefon zu vibrieren beginnt, habe ich neben dem akuten Unwillen ranzugehen, zudem große Mühe, es aus meiner Hosentasche zubekommen. Ich nehme ab, ohne nach dem Anrufer zuschauen, da mir diese Bewegung sonst eine splitternde Ulnafraktur verursachen hätte. Ich verdrehe mich bereits jetzt unangenehm und merke, wie sich ein Teil eines Lenkers in meine Hüfte bohrt. „Hey,...“, seufzt Jeff mir entgegen. „Den Eisvorrat schon aufgebraucht?“, frage ich ohne begrüßende Erwiderung und wohlwissend, dass mir mein frisch befreiter Mitbewohner nur sein Leid klagen will. „Bin ich Eiszilla?“, erwidert Jeff empört und etwas zu schnell, „Ich hatte drei. Jetzt ist mir schlecht.“ Gesteht er quengelig. Ich höre meinen Jugendfreund ächzen und wie er sich scheinbar auf dem Bett hin und her wälzt. Danach ertönt ein folgenschweres Seufzen, welches mir den Beginn seiner Klagen ankündigt. „Ich bin so sauer...“, startet er und ich verschlucke mich überrascht. „Alles okay?“, fragt er, nachdem ich ihm volle 30 Sekunden ins Ohr huste, da ich das Telefon nicht runternehmen kann. „Du bist sauer? Ich habe damit gerechnet, dass du am Boden zerstört bist und mir gleich die Ohren volljammerst.“, sage ich etwas zu ehrlich. Jeff murrt lautmalerisch. „Ich bin am Boden zerstört, aber eben auch sauer, weil Abel ein totaler Lügner ist und...“ „...ein Vollpfosten?“, ergänze ich angespornt und freimütig nach der unerwarteten Offenbarung. Mein Mitbewohner knurrt erneut. Diesmal lauter. „Dass du ihn denunzierst, habe ich erwartet. Wobei du ganz und gar nicht das Recht dazu hast.“ „Was, soll ich ihn plötzlich bemitleiden oder dir dazu raten, dass du das Ganze noch mal überdenken solltest? Darauf kannst du lange warten.“ Jeff weiß, wie ich über Abel denke. Mit ihm ist er nicht glücklich, wieso also sollte ich es schön reden? Mein Jugendfreund gibt wieder nur einen Laut von sich, der letztendlich alles bedeuten kann. „Außerdem... endlich freie Bahn für deinen IT-Fritzen. Was willst du mehr? Greif zu“, gebe ich platt und gewohnt monoton von mir. Natürlich ist es nicht so einfach und das ist mit sehr wohl bewusst. Jeff hat schließlich nicht grundlos mehrere Monate eine Beziehung mit diesem Schokoladenhohlkörper geführt. „Bist du wirklich so abgestumpft?“ „Ist es nicht das, was alle erwarten?“ Irgendwoher dringt Musik zu mir durch. Ich erkenne das Lied. Den gleichmäßigen Beat von Billy Eillishs `Bad guy`. Wie passend. Jedenfalls vom Titel her. Spontan denke ich trotzdem an einen anderen ihrer Songs. „Ich bin nicht alle, Robin und das solltest du langsam wissen.“ Eindringlich. Sogar sein Tonfall ändert sich. Er klingt vorwurfsvoll. „Tue ich, aber du solltest langsam wissen, dass ich nun mal so bin, wie ich bin.“ Ich schließe ermattet meine Augen, da ich selbst nicht verstehe, wieso ich dauernd darauf rumreite. „Und das ist deine Entschuldigung für alles? Du machst es dir zu einfach.“ „Oh bitte, kannst du mir das heute einfach ersparen...“, johle ich genervt auf. Ich brauche nicht noch mehr Besserwissersprüche oder Moralpredigten. „Weil nicht darüber reden einfacher ist, ja?“, kommentiert er bissig und trifft voll ins Schwarze. Bin ich heute voller Zielscheiben? Ich imitiere seine Lautepalette und erfinde noch ein paar neue hinzu. „Ich habe mit Kain gesprochen.“, sagt er hinter. „Und?“ Keine neue Information, denn das hatte er mir bereits geschrieben. Trotzdem beschleunigt sich mein Puls und ich reibe ein paar Mal unruhig die Fingerkuppen über den rauen Stoff meiner Jeans. „Er sah nicht wie der taufrische Morgen aus, wenn du verstehst. Sehr mitteilsam war er auch nicht. Hast du dich deshalb in Luft aufgelöst?“ Wenn das doch nur möglich wäre. Physik ist Scheiße. Der Zug ruckelt und alle stöhnen auf. Ich spüre einen Ellenbogen, der sich auffällig stark in meinen linken unteren Rippenbereich drückt und rücke noch dichter ans Fenster, ohne den Mann hinter mir zu bemerken, den ich dabei anstoße. Auch er murrt und schafft es nicht rechtzeitig, die Flasche Bier zu stabilisieren, die er hält. Ein Schwall der Flüssigkeit landet auf meiner Hüfte und sofort schlägt mir der malzige, herbe Geruch entgegen. Großartig. Er entschuldigt sich nicht mal. Die nächste Station wird durchgesagt. Es ist meine Haltestelle und ich merke, wie die blecherne Ansage im heftigen Rauschen meines aufgeschäumten Blutes untergeht. „Du bist nach Hause gefahren?“, stellt Jeff überrascht fest. Natürlich hat er das gehört und auch erkannt. Wie sollte es auch anders sein? „Es bot sich an, denn ich hatte in der Nähe zu tun“, erkläre ich ehrlich in der Hoffnung, dass es er keine weiteren Schlüsse zieht. „Wirklich?“ Ich kann die Skepsis quasi schmecken, riechen, sehen und ganz klar hören. Was für einen Sinn gab es noch? Ich kann mich nicht erinnern, nur dass es fünf sein müssten. „Oh...“, entflieht ihm plötzlich und im ersten Moment, weiß ich nicht, wofür es steht. Er wiederholt es mit ein paar kleinen Ausweichlauten, wie Ähm und uh. Es dämmert mir. Er druckst herum, weil ihm eingefallen, was heute für ein Tag ist. „Grüßt du deine Mama von mir? Und natürlich Lena...und...“ „Mach ich “, unterbreche ich das Gestammel, „Bin morgen zurück.“ Damit lege ich auf. Nach der Ankunft bleibe ich auf dem Bahnsteig stehen. Es ist vollkommen idiotisch, aber trotzdem rühre ich mich nicht. Auch dann nicht, als die Masse an Menschen an mir vorüber ist und ich vollkommen allein zurückbleibe. Auch, wenn ich weiß, dass sich meine Mutter sehr freuen wird, dass ich hier bin, will ich nicht nach Hause fahren. Ich will nicht gefragt werden, wie es mir geht. Ich will nicht darüber reden, dass der Tod meines Zwillingsbruders eine Tragödie ist, wie unfair die Welt ist und wie sehr wir ihn vermissen. Ich möchte auch nicht hören, was ich anders machen muss, um besser damit klar zu kommen. Für jeden Ratschlag, den ich ungefragt in den letzten Jahren bekam und der mir erklärte, dass ich mich mit allem auseinandersetzen muss, hätte ich einen Baum pflanzen können und wir würden mittlerweile als Tarzan im Urwald leben. Reden ist einfach. Fühlen nicht. So einfach ist das. Erst die sanften Vibrationen in meiner Hosentasche holen mich aus meinen Gedanken zurück und ich ziehe mein Handy hervor, während mein Rucksack zu Boden gleitet. - Jeff sagt, du seist nicht im Wohnheim. Wo bist du?- Ich starre die Nachricht lange an. Mein Herz pulsiert flatternd. Erneut holt mich der Kolibri ein und ich schlucke trocken. So sehr ich es die letzten Stunden auch gewollt habe, so sehr überfordert mich nun die Tatsache, dass sich Kain meldet. Auch wenn es nur eine schnöde nichtssagende Nachricht ist. - Hatte vom Verlag aus zu tun-, antworte ich und tippe mit unruhigen Fingern. Bei ihm brauche ich diesen Fakt nicht verschweigen. Auch, wenn er mir vermutlich sowieso nicht glaubt. Er denkt mit Sicherheit, dass ich wie immer vor allem weggelaufen bin. Doch diesmal ist es nur die halbe Wahrheit. - Vom Verlag? Geht es um neue Bücher?- Weiteres oberflächliches Geplänkel. Was soll das? - Nur eine langweilige Besprechung. War schon länger geplant.-, tippe ich. Ob er weiß, dass Marvin mich gestern abgewürgt hat? Wahrscheinlich nicht. Mir wird angezeigt, dass er schreibt, aber eine Weile lang passiert nichts. Mit dem Fuß stupse ich ungeduldig meinen Rucksack an und ich bin versucht, mir die Haare zu raufen. Stattdessen kratze ich mir mehrfach über den Hals. Doch auch das hilft nicht. Kain lässt sich Zeit oder er weiß nicht, was er mir noch sagen soll. - Ich hab mehrfach versucht, dich zu erreichen-, gebe ich stattdessen preis und schicke es ab, bevor mir klar wird, dass das schrecklich vorwurfsvoll klingt. Jedenfalls wird er es so auffassen. Kain stoppt das Schreiben seiner Nachricht. Ich habe ihn aus dem Konzept gebracht. - Ich war noch mit Marvin unterwegs.- - Weiß ich -, schreibe ich und beiße mir dabei unbewusst auf die Unterlippe, um keine Beleidigung seines Freundes hinterher zu schicken. Das Telefon in meiner Hand beginnt zu singen und kündigt mir einen Anruf an. Es ist Kain. Ich zögere, bevor ich rangehe. „Woher?“, erkundigt er sich direkt. „Frag doch Marv“, patze ich erwartungsgemäß bissig zurück. Auch die verräterisch angeekelte Art und Weise, Marvins Namen auszusprechen, kann ich mir nicht verkneifen. Angemessene Zurückhaltung ist definitiv anders. Kein guter Start. „Ich frage aber dich“, zischt er zurück und ich höre, wie er unvermittelt danach seufzt. Kain will das nicht. Er will nicht mit mir streiten. Und eigentlich will ich das auch nicht, also schlucke ich meine Wut über den anderen Mann runter. Auch, wenn es mir unsagbar schwerfällt. „Ich hab... dich gestern angerufen und Marvin ging ran. Du seist nicht zu sprechen und er habe dir das Handy abgenommen, um zu verhindern, dass ich dich weiter...keine Ahnung, was ich seiner Meinung nach mache...“, erkläre ich unzufrieden. Meine Stimme ist nicht so ruhig, wie ich sie gern hätte. Erst seine Ex, nun sein Bastard von Freund. Ich bin es ja gewöhnt, nicht gut anzukommen, aber die beiden haben nichts mit mir zu tun und pissen mir trotzdem dauernd ans Bein. Ich höre Kain am anderen Ende der Leitung instant raunen. „Davon hat er mir nichts erzählt.“ Natürlich hat er das nicht. Wahrscheinlich hat er wirklich meine Nachrichten gelöscht, wenn er schon mal dabei war. Danach fragen werden ich nicht. „Entschuldige, ich brauchte nach dem Gespräch gestern Zerstreuung und ich hab ihn darum gebeten, mein Handy zunehmen. Er hat das wohl etwas zu strikt aufgefasst... und ganz ehrlich ... ich hätte auch nicht damit gerechnet, dass du dich... meldest...“, gesteht er ebenso zurückhaltend. Seine Stimme wird ungewöhnlich leise beim letzten Teil. Er hat nicht damit gerechnet und trotzdem sein Telefon weggeben? Warum? Was dachte er, würde passieren? Hatte er vielleicht mehr Angst davor, dass er selbst nicht so strikt ist, wie er sein wollte? Ich spüre, wie sie sich mein Herzschlag heftig beschleunigt, gespeist von dem Funken Hoffnung. „Können wir noch mal reden, wenn ich wieder zurück bin?“, frage ich vorsichtig und ohne weiter um den heißen Brei herumzureden. „Hast du eine Antwort für mich, denn ich werde dir genau dieselbe Frage stellen.“ Seine Worte treffen mich mit einem stillem BÄMM und ich gehe ad hoc K.o. Kain nimmt kein Blatt vor dem Mund und er muss es auch nicht. Normalerweise finde ich das sehr angenehm an ihm. Doch diesmal trifft es mich mit voller Wucht. „Dir sollte klar sein, dass ich nicht damit aufhören werde, Dinge über dich wissen zu wollen. Ich werde weiter Fragen stellen, weil es für mich einfach dazu gehört. Robin, ist dir auch klar, warum ich darauf poche?“ Mein Name. Kein Spatz. Mit einem Mal macht es mir Magenschmerzen, dass es mir aufgefallen ist und dass ich es mir anders gewünscht hätte. Ich bestätige mit einem raunenden Laut und schließe die Augen. „Es ist nicht nur Sex, nicht für mich.“ „Ich weiß.“ „Warum fällt es dir so schwer, mir zu vertrauen?“, fragt er weiter und wieder habe ich darauf keine geeignete Antwort, die ich ihm aus dem Stand formulieren kann. Jedenfalls keine, die mir in diesem Moment Punkte bringt. Ich tue es nicht, weil ich es nicht will. Ganz einfach. Ich tue es nicht, weil mein Glaube an das Vertrauen einen so tiefen Knacks hat, dass ich es gar nicht mehr anders kann. Vertrauen zu schenken ist schwer für mich. Aber auch Brigitta hat Recht. Ich habe schlichtweg Angst davor. Ich will nicht verwundbar sein und Kain macht mich verletzlich. Der Wahnwitz jedoch ist, dass ich Kain schon mehr vertraue, als allen anderen. Das sollte er längst wissen, aber scheinbar ist das nicht genug für ihn. „Liege ich denn wirklich so falsch?“ Kain füllt die Stille mit einer weiteren Frage, die mir beinahe das Herz zerreißt. „Kain, ich...“, setze ich an und werde direkt wieder von Kain unterbrochen. „Nein, schon gut... Ich... entschuldige, aber ich hab heute nicht die Kondition dafür, um mich im Kreis zu drehen“, sagt er und legt auf. Es ist nicht nur eine Metapher. Wahrscheinlich geht es ihm nach dem gestrigen Zerstreuungsversuch wirklich schlecht und meine Unentschlossenheit gießt nur noch Öl ins Feuer. Dabei will ich das gar nicht. Ich greife nach meinem Rucksack und verlassen den Bahnsteig. Mittlerweile regnet es. Bewusst oder nicht, ich steige nicht in den Bus, der mich nach Hause fährt, sondern in den der entgegengesetzten Richtung. Vor dem Eingang zum Friedhof bleibe ich stehen und sofort ist nur noch dieses eine Gefühl da. Hilflosigkeit. Sie umfängt mich und all meine Sinne mit einer Kraft, die ihr nicht mehr zugetraut habe. Den Weg zu Renés Grab gehe ich ohne jegliche Wahrnehmung. Blind. Taub. Stumm. Ich finde den Weg, ohne auch nur einmal zu zögern. Es werden Erinnerungen geweckt, die tausendfach auf mich einströmen und so sehr ich auch versuche, es zu verhindern, es funktioniert nicht. Deshalb lasse ich es geschehen. Was bleibt mir auch anderes übrig? Ich starre auf einen entfernten Punkt, als ich vor dem Grab stehen bleibe. Die schweren alten Eichen des kleinen Wäldchens sind nur schemenhaft zu erkennen, da sie langsam von der Dämmerung verschluckt werden. Sie wirken als dunkle Giganten nur noch eindrucksvoller in dieser Szenerie. Ich höre das leise Rascheln regenfeuchter Blätter und blicke zum ersten Mal hinab. Meine Augen gleiten über die saubere Kante des Grabsteins, streicheln sich über die feinsäuberlich gravierten Buchstaben, die seinen Namen bilden. Ich war damals der von uns beiden, der unsere Namen schreiben konnte. René tat sich eher schwer damit. Er hat auch nie gern gemalt. Stattdessen war er derjenige, der früher sprach und irgendwann redete ohne Unterlass. Jeden einzelnen seiner Gedanken teilte er mir mit. Ich erinnere mich noch an so vieles dieser Dinge. Fantastereien. Verrückte Ideen. Kindlicher Spaß. Ich erinnere mich vor allem daran, dass es in meinem Kopf seltsam leer schien, als er nicht mehr bei mir war. Nur wenige Menschen erinnern sich an Dinge aus den ersten Jahren ihrer Kindheit. Neurologen nennen das Kindheitsamnesie. Dazu gibt es viele verschiedene Theorien. Aber neuere Forschungen ergaben, dass es womöglich einen starken Zusammenhang mit der sprachlichen Entwicklung eines Kindes gibt. Erinnerungen, die nicht mit Worten verknüpft werden, werden später auch schlechter von uns erinnert. Weshalb wir uns ab dem siebten Lebensjahr immer schlechter an die ersten sechs Jahre unseres Lebens entsinnen. René und ich hatten unsere eigene Sprache gehabt. Eine, die zwischen den Zeilen las. Vielleicht erinnere ich mich deshalb an so vieles mehr. Ich lasse meinen Blick über das hergerichtete Grab wandern. Meine Mutter und Lena waren vermutlich schon am Morgen hier. Sie haben frische Blumen gebracht und wie jedes Jahr eine kleine Schüssel mit Süßigkeiten dazugestellt. Diesmal sind es verschiedene Sachen. Auch Smarties sind dabei, die durch den feinen, aber stetigen Regen bereits ihre Farbe verlieren. Und Schlümpfe. Es sind die großen, die man nur bei bestimmten Ständen bekommt. Wir haben sie damals geliebt. Unwillkürlich schleicht sich der süße chemische Geschmack in meinen Mund. Genauso wie die Erinnerung an sein Lachen, wenn er mir zeigt, wie die blaue Masse überall in seinem Mund klebte. Die blaue Zunge. Ich hocke mich hin und rücke die Schale etwas dichter an den Grabstein heran. Danach lasse ich meine Finger über eine der weißen Lilien streichen und spüre das unangenehme Kitzeln in meinem Hals, welches sich die Seitenstränge entlang arbeitet. Ich verdränge es. Das letzte Mal war ich kurz nach dem Abi hier. Auch damals ging es mir nicht gut, denn ich war uneins mit mir. Ich hatte den Vertrag für das Buch in der Tasche. Brigitta überredete mich, über weitere Romane nachzudenken. Ich tat es. Mit dem Ergebnis, dass ich mir plötzlich nicht mehr sicher gewesen bin, ob ich wirklich studieren wollte. Letztendlich bin ich nach Italien gefahren, habe Eis gegessen und am Ende alles beides unter einen Hut bekommen. Keine Ahnung, was mir am Ende Klarheit verschafft hat. So wie damals rede ich auch jetzt nicht, sondern hänge einfach nur meinen Gedanken nach und sie enden jedes Mal bei Kain. Obwohl ich am Grab meines Bruders stehe, denke ich an ihn und so gleich entbrennt ein zerrissenes Gefühl in meiner Brust. Der Schmerz, meinen Zwillingsbruder verloren zu haben, sitzt tief in mir und die Angst, ein solches Leid wieder zu erfahren, scheint alles zu überdecken. Auch die vernunftbestärkte Gewissheit, dass ich nicht mein Leben lang davor weglaufen kann. Ohne Gefühle ist die Enttäuschung kleiner, wenn jemand geht. Das habe ich gelernt, nachdem René starb und als mein Vater mich verließ. Denn Liebe ist keine Garantie. Liebe ist keine Sicherheit. Mein Vater ging, weil er René liebte und er konnte nicht bleiben, obwohl er mich liebte. Also ist Liebe nicht genug. Was also bringt sie mir dann? Können die berauschend glücklichen Momente wirklich die zerstörerische Kraft aufwiegen? In meinen Büchern folgt nach Regen immer Sonnenschein, doch die Realität sieht meistens anders aus. Doch erneut spüre ich die Schärfe auf meiner Zunge und das zitronige Prickeln als aromatisiertes Gewitter, welches alle meine Sinne elektrisiert. Alles um mich herum scheint für diese Sekunden stehenzubleiben. Ich fühle die kühle Brise nicht mehr auf meiner Haut, hören keinen Laut. Nicht einmal den Wind, der eben noch raschelnd durch die Bäume glitt. Ich merke nichts von dem Regen, der Tropfen und kleine Rinnsale auf meiner freiliegenden Haut bildet. Ich kann es nur anschauen und erahnen, dass es kitzelt. Spüren tue ich es nicht. `You can stand under my umbrella`. Ein Flüstern. Es streicht warm über meine Haut. Es ist nur in meinem Kopf und doch verursacht mir die Stimme, die ich ersinne, eine Gänsehaut. Das Lied setzt sich fort. Nicht als der beatlastige Song, sondern als das sanfte Reden des anderen Mannes. Alles in mir schreit nach ihm. Selbst der Geruch der feuchten Erde um mich herum wandelt sich zu fruchtigem Ingwer. ´You can run into my arms. It's okay, don't be alarmed. Come into me.` Ich bin am Arsch und wünsche mir diesen Scheißregenschirm. Ich weiß nicht, wie lange ich letztendlich hier knie, doch als ich mich aus meine Starre löse, ist es bereits stockdunkel. Meine Hose ist bis über die Knie von Feuchtigkeit durchzogen und fühlt sich klamm und schwer an. Als ich mich aufrapple, erkenne ich die feuchte Erde nur als dunkle Kleckse, die meine Glieder bedecken. Es ist mir egal. Ich richte meinen Blick zurück auf den Grabstein, strecke meine Hand danach aus und streichele ein letztes Mal über den oberen Rand. Ich versuche die Tür so leise wie möglich zu öffnen, doch meine Hände zittern. Vor Kälte und wegen des brennenden Gefühls in meiner Brust. Dieser Tag, nein, eigentlich die letzten Tage habe mich viel Kraft gekostet. Noch dazu fühle ich mich genauso verloren wie damals, als René starb. Es ist sogar noch schlimmer. Denn neben dem Verlust meines Bruders und der Erinnerung daran, ist es diesmal mein eigenes Schuldbewusstsein, das mich zusätzlich quält. „Robin?“ Ich sehe erschrocken zu der schemenhaften Gestalt im Übergang zur Küche. Ich weiß nicht, ob es einfach der Schreck ist, der mich bei den Gliedern packt und die gesamte Situation, doch es lösen sich ein paar Tränen. Meine Mutter tritt aus dem Schatten und stellt das Glas Wasser, welches sie sich geholt hat, auf der kleinen Kommode neben sich ab. „Ist etwas passiert? Was machst du hier?“, fragt sie atemlos und schaltet im selben Moment das Licht an. Ich zucke zusammen und bewege mich nicht vom Fleck, sondern spüre nur, wie weitere Tränen über meine Wangen fließen. Sie wiederholt die Frage, während sie auf mich zu kommt und ich verneine gestisch. Es ist nichts passiert. Es hat mich nur eingeholt. Wieder einmal. Ihre Hand legt sich an meine Wange und erst jetzt sehe ich richtig auf. Ich erkenne die Sorge in ihren Augen. Ihr Blick wandert zu meinen feuchten, dreckigen Knien und zurück zu meinem Gesicht. Damit weiß sie, wo ich war und führt mich sofort in eine Umarmung. „Er fehlt mir so…“, flüstere ich mit bebenden Lippen, als ich den vertrauten Geruch einsauge, der meine Mutter umgibt. Er gibt mir den Rest. „Ich weiß… mir auch, mein Schatz, mir auch.“, erwidert sie zärtlich und drückt mich fester. Sie wiegt mich lange in ihren Armen, streichelt meinen Nacken und küsst wieder und wieder sanft meine Schläfe. Das Heilmittel meine Kindheit. Wir haben nach Renés Tod oft zusammen gesessen. Ich wollte nie reden. Ich wollte einfach nur weinen und genau das konnte ich bei ihr auch. Als ich mich wieder von ihr löse, fühle ich mich dennoch geschafft und ausgelaugt. Meinen Blick wende ich ab. Es ist lange her, dass sie mich so gesehen hat und es wäre mir lieber gewesen, dass der Zeitraum länger angedauert hätte. Doch heute ist mir einfach alles zu viel. Sie schiebt mir eine widerspenstige Strähne hinters Ohr und sie lächelt mich an, trotz der feuchten Tränenspur auf ihren und meinen Wangen. „Es ist schon sehr spät, versuch ein bisschen zur Ruhe zu kommen und morgen reden wir.“ Es ist kein Angebot, sondern ein Pflichttermin. Ich nicke und wende mich seufzend der Treppe zu. Oben angekommen, sehe ich Lena im Schlafanzug im Türrahmen zu ihrem Zimmer stehen. Ihre Haare sind verwuschelt, ihre Augen müde. Doch als sie mich erkennt, atmet sie erleichtert ein und aus. Sie kommt ohne zu zögern auf mich zu und schlingt ihre Arme fest um meinen Bauch. Ich wehre mich nur zum Schein und eigentlich auch nur, weil eine Umarmung in solchen Situationen unweigerlich dazu führt, dass die Emotionen ein weiteres Mal hoch kochen. Das ist bei mir nicht anders. Wenn auch ich einmal die Grenze überschritten habe, kann ich mich nur noch schwer zusammenreißen. Ein Grund mehr, warum ich emotionalen Kram gern meide.. „Nicht du auch noch. Lena, hör auf. Dein Bett liegt doch voller Plüschtiere, nimm die“, motze ich mit ruhiger, aber belegter Stimme, drücke sachte ihren Kopf weg und erreiche so, dass sie die Umklammerung löst. „Geht’s dir gut?“ „Fantastisch! Alles, was ich brauche ist Schlaf. Also gute Nacht“, erkläre ich resolut, drehe mich schon zu meiner Zimmertür und lasse keinerlei Widerspruch oder etwaige weitere Gefühlsduseleien zu. „Und eine Dusche“, ruft sie mir zu, „Du riechst wie eine Bar und kannst froh sein, dass Mama das blaue Auge nicht gesehen hat.“ Sicher hat sie das und war nur so gnädig, nicht darauf einzugehen. „Woher weißt du, wie eine Bar riecht“, kontere ich und hebe ertappend meinen Kopf in die Höhe. Auf die Bemerkung über meine unrühmliche Drachenkampfverletzung gehe ich nicht ein. Lena lächelt wissend und schenkt mir, statt zu antworten, nur ein neckendes Augenbrauenzucken. Während sie in ihr Zimmer schlendert, ruft sie mir einen Nachtgruß zu und ich tue es ihr gleich. Obwohl ich ihr mit der Dusche beipflichten muss, lasse ich mich einfach nur auf mein Bett fallen. Ich bin unglaublich müde und doch schließen sich meine Augen nicht, sondern richten sich an die Decke meines ehemaligen Kinderzimmers. Ich ziehe mein Handy aus der Tasche und lande wieder bei Kain. Ich scrolle in unserem Chat umher, ehe ich ihm doch etwas schreibe. - Bist du noch wach?- keine Reaktion. Auch nach mehreren Minuten nicht. - Es tut mir leid.-, hänge ich mit ran, lege das Gerät zur Seite und drehe mich um. Das Erste, was ich nach dem Aufwachen mache, ist duschen. Lange und ausgiebig. Danach ziehe ich mein eingesautes Bettzeug ab und stelle mich dabei sondergleichen neanderthalerisch an. Beim Bettlaken ziehe ich die halbe Matratze mit und verursache ein lautes Rumsen, als sie wieder zurück auf den Lattenrost fällt. „Herrje, ich hoffe, ihr habt zuvor ein Saveword vereinbart“, höre ich Lenas dunkle Stimme und drehe mich erschrocken um. Saveword? Ich muss verdattert drein schauen, denn meine kleine Schwester beginnt herzhaft zu kichern, so als hätte sie gerade den Joke des Jahrhunderts gerissen. Ich wundere mich eher über ihren kruden Humor. „Ernsthaft, Lena? Saveword?“ Sie kichert weiter und wackelt auffällig mit ihren Augenbrauen. Meine Schwester scheint also auch dem Mainstream verfallen zu sein. Den numerologisch Schattigen vor allem. Ich bin entsetzt und trotzdem nicht verwundert. Ob Mama davon weiß? Vermutlich hat sie es selbst gelesen. Ich ziehe scharf die Luft ein und will nicht mehr darüber nachdenken. „Spaßbremse!“, knallt sie plötzlich raus. „Wie bitte?“ „Dein Saveword, oder?“ Nun bin ich es, der die Augen verdreht und ihr nur ein trockenes Haha zukommen lässt. Ich raffe das Bettzeug zusammen und lege es auf der Matratze ab. Danach beginne ich, meine schmutzigen Klamotten einzusammeln und zu verstauen. „Du bist doch nicht nur wegen René so schlecht drauf, oder?“ Ich sehe nur kurz auf und räume weiter meine Sache zusammen. Meine Schwester. Lieb und reizend und hin und wieder so einfühlsam, wie ein Bulldozer auf Speed. Ich spüre, wie Wassertropfen den Kragen meines T-Shirts durchnässen und greife nach dem Bettzeug, um sie im Wäschekorb zu verstauen. Ohne ihr zu antworten, gehe in den Arbeitsbereich. „Okay, was ist los? Hast du dich noch nicht mit Kain vertragen?“, fragt Lena, als sie mir folgt und im Übergang zu ihrem Zimmer stehen bleibt. Bei der Erwähnung des Schwarzhaarigen sehe ich überrascht auf. Ich versuche in den klaren graublauen Augen meiner Schwester zu erkennen, wieso sie gerade nach ihm fragt. Doch es ist aussichtslos. Ich kann sie so wenig lesen, wie chinesische Novel oder andere Menschen. „Doch hatte ich, aber der Aufwärtstrend ging schnell wieder bergab“, witzele ich mit einem deutlich bitteren Unterton. Auch Lena scheint keineswegs amüsiert und sieht mich einfach nur mit ihren klaren Augen an. Ich hasse diesen Blick. Auch meine Schwester hat es drauf, mich zu durchschauen. Vielleicht nicht im gleichen Maß, wie Kain es vermag, aber dennoch ausreichend. „Warst du wieder ganz du selbst?“, fragt sie und zieht eine Augenbraue nach oben. Nur ein kurzer weiterer Blick und sie wendet sich um, um in ihrem Zimmer zu verschwinden. Nun folge ich ihr und bleibe neben dem Bücherregal stehen, weil ich diesen unqualifizierten Kommentar nicht auf mir sitzen lassen kann. „Wie sollte ich sonst sein?“, watsche ich zurück. Langsam muss sie wissen, dass ich es selten aus meiner Haut heraus schaffe. „Wieso fragst du ausgerechnet nach ihm?“ Ihre Augenbrauen hüpfen überrascht nach oben. Sie lässt sich auf ihr Bett fallen und greift nach einem ihrer Kissen. „Ich habe euch beobachtet.“ „Klar und was bitte ist dir aufgefallen?“, frage ich amüsiert. „Eure Blicke“, sagt sie verträumt und drückt das Kissen. Ich pruste haltlos. „Unsere Blicke? Wow Lena, das ist klischeehafter Prosaschmunz und es ist absoluter Schwachsinn.“ Wo hat sie nur diese billigen Traumvorstellungen her. Blicke? Als nächstes erzählt sie mir, dass sie unsere verliebte Aura gespürt hat. Ich verdränge gekonnt, dass ich derartigen Kram auch in meinen Romanen verwende. „Quatsch nur weiter, aber du würdest es nicht mal begreifen, wenn er es dir rot und in Druckbuchstaben auf ein Plakat malt.“ Kain hätte das drauf. Ich sehe sie ungerührt an und sie erwidert forsch. „Und was soll das bitte bedeuten? Kain ist ein Kommilitone und wenn er nicht mehr mit mir reden will, bitte, ein Stressfaktor weniger. Whatever. Suíbiàn.“ „Du bist ein Schwachmat“, kontert sie schlicht. „Und du Kitschiger als ich dachte. Wie kommst du nur auf solche Ideen?“ „Ich bin ein Mädchen“, kokettiert sie zuckersüß. „Wage ich manchmal zu bezweifeln.“ Sie macht genau das, was ich warte und zeigt mir den Mittelfinger und rollt dann mit ihren schönen Augen. „Robin, nach vierzehn aktiven Jahren mit dir als meinem Bruder kann ich deine Grimmigkeit lesen, wie ein Buch. Sie hat Abstufungen und diese...“ Sie malt mit dem Finger wilde Kreise in die Luft, „...ist geprägt von tiefer amouröser Verzweiflung.“ Ich rolle mit den Augen, weil das Schwachmatengen wohl in der Familie liegt. Ich bin wirklich voller Verzweiflung. Aber weil ich mittlerweile glaube, dass die Welt dank dieser Einstellung dem Ende entgegenblicken kann. „Wow, bitte nicht... niemals wieder...nie... gib mir die Bücher. Los!“, fordere ich sie auf und greife nach dem, was auf dem Bett liegt. Mit der zitierten Stelle aus meinem eigenen Buch gibt sie mir den Rest. „Wirklich!“, bekräftigt sie und nimmt mir das Buch sofort wieder aus der Hand, „Mal im ernst, sind da keine Schmetterlinge in deinem Bauch?“ „Schmetterlinge? Ich bitte dich. Dieser Effekt ist vollkommener Quatsch. Es ist nichts weiter als Epinephrinausschüttung, also Adrenalin, das dafür sorgt, dass Blut aus dem Magen in die Muskeln geschickt wird“, erläutere ich und mache dabei begleitende Handbewegungen, die ich auch lassen könnte, da nichts zur Erklärung beträgt. „Bla Bla Bla...seit wann bist du der personifizierte Discovery Channel? Wenn ich das wissen will, dann schaue ich `Es war einmal...Das Leben` und erfreue mich an knubbelig gemalten Blutzellen“, kommentiert Lena mit tiefer Stimme und lässt schon während meiner Erklärung ihr Haupt hin und her wackeln, „Fragt dich doch eher, wieso der Körper das tut und denk da mal drüber nach, was der Auslöser ist. Oder sollte ich wer sagen?“ „Wie kommst du nur auf solche Ideen?“ „Was? Dass ich meinem Bruder jemanden wünsche, der ihn glücklich macht? Oh, verdammtes Familiengefühl.“ Wieder trumpft sie mit Over-acting auf und mir entflieht ein amüsiertes Schnauben. Ich nenne es Familienfluch. Apropos. „Deshalb das Voodoopüppchen? Glaub ich nicht, dass ich den plumpen Versuch mit dem Zuckerherz nicht bemerkt habe...“ „Als ich fand ihn nicht plump. Immerhin hast du jemand wirklich Netten mit nach Hause gebracht, der nicht Jeff ist.“ „Hör auf.“, watsche ich zurück im zweierlei Sinn. „Wieso?“ „Kain ist ein Kerl...“ „Ow, sei nicht so einfältig, das passt nicht zu dir, Brüderchen. Und in Anbetracht der Tatsache, dass du beim weiblichen Geschlecht sowieso kaum Sympathiepunkte sammelst, ist das doch die perfekte Lösung.“ Und wieder überrollt mich der schwesterliche Bulldozer. „Boha, muss ich mir sowas wirklich von meiner kleinen Schwester sagen lassen?“ „Musst du!“, erwidert sie, ohne zu zögern. Sie beeindruckt mich hin und wieder doch mit ihrem Selbstbewusstsein. „Okay, das glaubst du vielleicht, aber es macht keinen Unterschied.“ Wieder ist es Bitterkeit, die die Worte über meine Lippen trägt und ich bin mir sicher, dass sie Lena definitiv hört. Also presse ich sie direkt danach zusammen und wende mein Gesicht ab. „Rede doch einfach mit ihm. Ich habe das Gefühl, dass man mit Kain sehr gut reden kann.“ „Mag sein, aber das ist keine meiner Stärken, wie du weißt“, sage ich ehrlich. Lena nickt zustimmend und grinst mich schief an. „Okay, dann... dann schreib, was immer es auch ist, auf. Denn das kannst du.“ „Und woher willst du das wissen?“ „Weil ich noch immer lache, wenn ich den erzwungenen Eintrag durchlese, den du vor acht Jahren in mein Poesiealbum geschrieben hast und ich kenne den Leserbrief, den du an den Fernsehsender geschickt hast, weil sie Batman & Robin abgesetzt haben.“ „Woher denn bitte?“, frage ich sichtlich verwundert und durch die Erinnerung leicht amüsiert. Ich war damals 12 oder 13 Jahre alt. Es ist ewig her. „Mama hat ihn aus der Zeitschrift ausgeschnitten und ich habe ihn in einem der alten Fotoalben gefunden. Hab selten so gelacht.“ Lena hätte sicher auch Freude an meinen ausgefüllten Evaluierungsbögen der Dozenten meiner Uni. „Gib mir mal dein Handy!“ Lenas Hand streckt ihre Hand aus und ich gebe ihr mein Telefon. Gleichzeitig nimmt sie ihr eigenes zur Hand und nach ein paar Sekunden reicht sie mir meines zurück. Ich sehe, dass sie mir eine Datei geschickt hat. Ein Lied. ´Wenn Worte meine Sprache wären`. Ich kenne sogar den Interpreten, habe aber keine Melodie im Kopf. Damit gibt sie mir einen sanften Rüffel am Hinterkopf und stampft runter zu unserer Mutter in die Küche. Ich bleibe noch einen Moment auf ihrem Bett sitzen und streiche mir ermattet die feuchten Haare zurück. Es aufschreiben. Im Grunde habe ich das bereits. Sogar ausführlich, detailliert und tiefgehend. Bei jeder von Kains Nachfragen habe ich verneint, dass ich weiter an der Geschichte arbeite und doch habe ich es immer wieder getan, weil es mich nicht losgelassen hat. Weil es mir ein dringliches Bedürfnis war und schlicht weg auch, weil es mir Freude bereitet hat. Mir ist auch klar, warum ich nicht will, dass Kain sie liest. Ich möchte nicht, dass er noch tiefer in mich hineinblicken kann, dass er all die Gründe herausliest, die mich anspornten, diese Worte zu formulieren. Er soll meine Wünsche und Sehnsüchte nicht sehen. Meine Ängste. Es ist genau das, wovon auch Brigitta gesprochen hat. Noch immer schreit ein großer Teil in mir Nein. Aber ein kleinerer ebenso laut Ja. Vielleicht ist es der beste Weg. Ich atme tief durch, stehe auf und gehe in mein eigenes Zimmer zurück. Ich suche nach einer günstigen Zugverbindung, speichere sie ab und gehe ebenfalls runter. „Guten Morgen mein Schatz“, begrüßt mich meine Mutter herzlich, als ich die Küche betrete. Lena sitzt bereits am Küchentisch und blättert in einer Zeitschrift. Noch bevor ich die Chance habe, irgendwas zu erwidern, kommt meine Mutter auf mich zu und nimmt mich in den Arm. Es ist so herzergreifend liebevoll, dass mir nichts anderes übrig bleibt, als mich dankbar in ihre Halsbeuge zu schmiegen und die Augen zu schließen. Es ist nicht nötig. Mir geht es gut und doch weiß ich, dass es schon damals das war, was mir am meisten half. Sie streichelt mir eine Weile durch die noch feuchten Haare, löst sich von mir und reicht mir eine Tasse Tee. Ein Weißer mit einer sanften Note von Kirschblüten und Jasmine. Ich schnuppere daran, bevor ich koste und bin sehr zufrieden. Er ist köstlich und erinnert mich an den Frühling. „Wo ist Hendrik?“, frage ich und nehme einen weiteren Schluck. „Er ist schon weg. Er hilft einen Kollegen dabei, einen Baum zu fällen.“, erklärt meine Mutter und stellt einen Teller mit sorgfältig drapiertem Aufschnitt zu den anderen Frühstücksleckereien. Ich wusste nicht, dass Hendrik weiß, wie man einen Baum fällt, aber ich hake nicht weiter nach. Ich setze mich nicht zu den beiden Frauen an den Tresen, sondern bleibe an der Arbeitsplatte gelehnt stehen, während Lena beim Brötchen schmieren beginnt, über ihren anstehenden Wettkampf zu wettern. Sie nimmt kein Blatt vor den Mund. Ich bin dem Irrglauben erlegen, dass alle schulischen Sportaktivitäten während der Ferien ausgesetzt sind. Doch dem ist nicht so. Ich gestehe mir sogar ganz schnell ein, dass ich mir nicht herleiten kann, von welcher Sportart sie gerade spricht, da ich mittlerweile nicht mal mehr weiß, welchen sie nachgeht. Basketball? Volleyball? Rugby, so wie Kain? Vielleicht doch Fußball. Noch während des überschwänglichen Aufregens über ihre penetrante Trainerin hüpft Lena von ihrem Stuhl, drückt mir einen Teller mit zwei geschmierten Brötchenhälften in die Hand und tapst wild gestikulierend wieder zurück zum Tisch, ohne auf meine Reaktion zu warten. Verblüfft schaue ich auf das angereichte Mahl. Eine Hälfte des Miniaturbrotes ist mit Teewurst und eine mit Honig und Butter bestrichen. So mochte ich es als Kind. Ich sehe zu meiner Schwester, die sich gerade einen großen Schluck aus ihrer Tasse mit warmen Kakao gönnt. Sie fängt meinen Blick auf und lächelt. Ein Dank ist nicht nötig. Während ich die beiden Hälften verspeise, lausche ich ihren Gesprächen. Es fühlt sich vertraut und auch irgendwie vermisst an. Dennoch leere ich meine Tasse und bitte meine Mutter darum, mich zum Bahnhof zu fahren. Diesmal versucht sie mich nicht zum Bleiben zu überreden. Auch das am Abend angedrohte Gespräch bleibt aus, stattdessen drückt sie mich geschlagene fünf Minuten einfach nur an sich. Ich versichere ihr, dass ich auf mich aufpasse und dass es mir gut geht. Ich bin mir nicht sicher, ob sie mir glaubt. Während der Fahrt gebe ich der Geschichte ein Ende und einen Titel und lasse mich durch eine besonders seichte Musikauswahl berieseln. Ich habe keine Ahnung, ob es das Richtige ist oder ob es ansatzweise befriedigend es. Es ist ehrlich und das ist es, was in diesem Moment für mich zählt. Ich weiß nicht, ob es überhaupt etwas ändert. Ich weiß nur, dass ich es versuchen muss. Mit dem letzten Punkt sende ich die Datei vorab zu meinem Printservice des Vertrauens, als es nur noch wenige Minuten sind, bis ich an meinem Zielbahnhof eintreffe. Mein Auftrag ist fast erledigt, als ich den Laden betrete und nur noch die Thermoklebebindung abwarten muss. Mehr war nicht drin. Alles andere würde zu lange dauern und das kann einfach nicht warten. Ich bedanke mich bei dem armen Kerl, der die Sonntagsschicht schiebt und mache mich auf den Weg zum Campus. Währenddessen schreibe ich Kain eine kurze Nachricht und erkundige mich nach seinem Aufenthaltsort. Binnen weniger Minuten habe ich eine Antwort. Er ist in der Mensa und ich gehe direkt dorthin. Mein Herz flattert. Genauso, wie der Rest meines Körpers. Ich sehe Kain neben Marvin sitzen. Seine Schultern sind angespannt, während er in seinem Essen rumrührt und nur semiaufmerksam an dem angeregten Gespräch teilnimmt, welches die anderen drei Tischkollegen führen. Ich will gar nicht wissen, worüber sie reden, denn es kann nur etwas Belangloses sein, wie Sport, Steroide oder schlimmer noch Weiber. Ich atme tief durch, ehe ich mich dem Tisch nähere und lasse bewusst meine Kopfhörer auf. Marvin bemerkt mich als Erster. Sein Blick verfinstert sich und ich erwidere ihn ebenso störrisch. Kain sieht erst zu seinem besten Freund und dann zu mir. Er hat ihm nicht gesagt, dass ich komme. Marvins Blick sagt mir deutlich, dass ich nicht willkommen bin. Ich lege das Buch neben Kains Teller ab, ignoriere seinen verwirrten Gesichtsausdruck genauso wie die nichts wissenden Gesichter der anderen Anwesenden und wende mich ab. „Hey, warte!“, ruft Kain mir hinter und steht so energisch auf, dass dabei der Stuhl umkippt auf dem er saß. Er kümmert sich nicht darum und ich reagiere nicht auf seine Aufforderung. Ich spüre, wie mein Herz einen fein erzitternden Satz macht und wie meine Fingerspitzen mit einem Mal zu kribbeln beginnen. So intensiv, dass es durch meinen gesamten Körper schreit und noch lauter wird, als prompt die ersten Töne von Rihanna `Umbrella` aus meinen Kopfhörern dringen. Ich bleibe stehen, als sich das Prickeln zärtlich kitzelnd über die empfindlichen Stränge meines Halses zieht und pulsierend in meinen Lippen verebbt. Wieso gerade jetzt dieses Lied? Kain bleibt dicht bei mir stehen. Das Buch liegt in seiner Hand. Ich sehe nur, wie sich seine Lippen bewegen und höre die Worte, die er spricht, nur gedämpft. Eine sich in der letzten Zeit wiederholende Szenerie, in der er mir eine Seite der Kopfhörer vom Ohr zieht und so meine akustische Barriere bricht. „Was ist das?“, wiederholt er. „Ein Buch“, gebe ich das naheliegende von mir und ernte einen passenden Blick meines Gegenübers, der mir klare Ungeduld signalisiert. Keine weitere Frage folgt, sondern einzig die eindringliche gestische Aufforderung zu erklären, indem er mir das Buch mehrfach gegen die Brust drückt, so als würde er es mir ohne die passende Begründung einfach wieder zurückgeben. Doch das will ich nicht. Marvin ruft Kains Namen. Doch Kain nimmt keiner Notiz davon. Er ist nur auf mich konzentriert. „Du wolltest es lesen, also lies...“, sage ich. Kain stoppt mit der Stupserei und sieht auf den Band in seiner Hand. Ich weiß, dass er längst begriffen hat, was es ist und was es bedeutet. Sein Zögern ist mir Indiz genug. Neugier paart sich mit Angst. Er blättert bedachtsam auf die ersten Seiten und stoppt bei der Widmung. Sein Adamsapfel hüpft. Dreimal. Bei jedem Mal etwas weniger. Dann atmet er ein und wieder aus. „Was willst du damit sagen?“, fragt er ruhig und sieht mich nicht an. „... dass du nicht falsch liegst. Jedenfalls nicht mit allem“, antworte ich. Es ist nur ein Flüstern. Es kostet mich viel Kraft. Statt nachzuhaken, greift Kain in seine Hosentasche und zieht einen Satz Karten heraus. Ich sehe nur die Kartenrücken und doch weiß ich, was auf der Vorderseite geschrieben steht. Die Zahlen von eins bis sechs. Unwillkürlich halte ich die Luft an. Er will, dass ich ihn in Ruhe lasse, schreit die Furcht in meinem Kopf. Ich hab es wirklich versaut. Mein Blick haftet sich auf seine Hände, als er sie mir entgegen streckt und ich denke augenblicklich daran, wie es sich anfühlt, wenn sie über meinen Haut streicheln. Die raue Begebenheit seiner Fingerspitzen, die es schafft, alles in mir in Flammen zu setzen und doch nie Unbehagen auslöst. Ich würde es vermissen. So sehr. „6 Karten. 1 Frage...Du antwortest“, stellt er ruhig klar. Unser Spiel auf Anfang. Ich sehe ihn unverwandt an und mein Herz hüpft als das sanfte, tiefe Braun meinen Blick erwidert. Die Karten nehme ich ohne eine zusätzliche Erwiderung an und akzeptiere damit seine Spielregeln. Die Erleichterung ist ein hauchzartes Huschen, welches nur für einen winzigen Augenblick in seinen Iriden glänzt. Nicht mehr als eine halbe Armlänge ist zwischen uns. Ich warte darauf, dass er endlich die Frage stellt und sehe dabei zu, wie Kains Daumen mehrfach zart über den Titel des Buches streicht. Between the Lines. Als er endlich zu sprechen beginnt, ist seine Stimme sanft und sein Blick klar. „Hat es ein Happy End?“               ~ Widmung ~ Für den einen, dem es gelingt zwischen den Zeilen zu lesen ~ Ende BÄMM!! ✨🎉🎊🎇 Eure Karodel PS: ♥️♥️♥️ an euch alle! Danke sehr! Für eure Unterstützung! Für euer unfassbares Durchhaltevermögen und eure Geduld! Ich habe so lange an dieser Geschichte gearbeitet und dabei das gesamte menschliche Gefühlsspektrum durchlebt beim Schreiben. 😵 Dass es nun endet ist für mich kaum zu fassen und unglaublich intensiv. Aber auch ein kleiner Meilenstein. Etwas zu beenden ist auch ein gutes Gefühl und ich hoffe, dass mein Chaotenhaufen dazu beitragen konnte euch zu unterhalten und witzige und auch nachdenkliche Stunden zu schenken! DANKE SCHÖN!!!!! PSPS: 🤫 PSSSCH! Schnell zum Epilog. Zack zack! Epilog: Epilog -------------- Kleine Vorschau Between the Lines Chapter 2 ~It's more than just words~ „Ich würde gern das auf Seite 167 ausprobieren.“ „Würdest du?“ „Oh ja...und vielleicht steigern wir uns dabei auf Seite 69?“ Ich verdrehe ungehalten die Augen, als ich Kains rauer Stimme dabei zu höre, wie sie mir die Anspielungen aus dem Buch durch das Telefon zu säuselt. Und ich gestehe, dass ich mir nur schwer ein Grinsen verkneifen kann, während sich die Inhalte der genannten Seiten ebenso vor meinem inneren Auge abspielen. Wesentlich nackter als ich sie in Erinnerung habe. Die Tatsache, dass Kain dank seines eidetischen Gedächtnisses dazu noch jede der Seiten auswendig weiß, macht es nicht unbedingt einfacher zu widerstehen. Der Schwarzhaarige ist definitiv mein Verhängnis. Ich atme geräuschvoll ein und blicke zu Jeff, meinen Mitbewohner und Jugendfreund, der neben mir steht und euphorisch mit den Augenbrauen wackelt. Dabei hat er gar nicht mitbekommen, worum es geht. „Komm erst mal zurück auf den Campus, dann reden wir weiter“, würge ich das Telefonat ab, weil Kain mir daraufhin eindrücklich verdeutlichen will, dass ihm etwas anderes als Reden vorschwebt. Seufzend schiebe ich das Telefon in meine Hosentasche und lausche einen Moment lang dem leisen Ton, der aus meinen Kopfhörern dringt, die um meinem Hals liegen. Das Lied erkenne ich nicht. Es ist auch viel zu laut hier. Jeff und ich stehen in der überfüllten Mensa und machen einer Horde Erstsemestern Platz, die sich gierig über die Dessertstation hermachen. Hier steht alles, was einen auf schnellstem Weg Karies und verklebte Arterien verschafft. Es gibt eine neue Puddingsorte, die so gar nicht schmackhaft aussieht, weil sie mir mit einem unnatürlichen, quietschigen rosa entgegen leuchtet. Ich bin mir nicht mal sicher, um welche Sorte es sich handelt. Erdbeere. Himbeeren. Kotzbeere. Irgendetwas aus dieser Kategorie. Wieder sehe ich meinen Mitbewohner an, welcher grinst, als hätte er jedes Wort meines Telefonats gehört. Zum Glück hat er das nicht. „Was?“, frage ich mit deutlich einschüchternder Stimme, greife mein sparsam gefülltes Tablett mit beiden Händen und gehe zur Kasse, ohne Nachtisch und ohne Jeffs Antwort abzuwarten. In den meisten Fällen will ich sowieso nicht wissen, was in seinem Kopf vorgeht. In der letzten Zeit schon gar nicht, denn es gibt nur drei Themen, denen sich mein Kindheitsfreund ausschweifend widmet. Wut auf Abel. Scham wegen Jake und das eigenartige, unanständige Interesse an mir und dem Schwarzhaarigen. „Nichts“, ruft mir Jeff unnötigerweise hinterher, greift sich einen Nachtisch, der grün und wackelig ist und eilt mir nach. Noch bevor ich an der Kasse stehe, beginnt mein Handy im Zwanzigsekundentakt zu vibrieren. Kain tippt wirklich schnell und ist, obwohl ich ihn ignoriere, sehr ausdauernd. So einen Nachrichtenmarathon hatten wir bereits gestern Abend und das endete damit, dass ich vor lauter Anspannung nicht mehr einschlafen konnte. „Wann kommt er denn wieder?“, fragt Jeff, platziert sein Tablett hinter meinem und inspiziert die reichhaltige Auswahl an Schokoriegeln. :::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::: Between the Lines Chapter 2 ~It's more than just words *Coming soon* Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)