Wir wollten doch spazieren gehen von Shizana (Creepypasta) ================================================================================ Du hast es versprochen ---------------------- Wo bist du? Wir wollten doch spazieren gehen, weißt du nicht mehr? An den Silbernen See, hast du mir versprochen. Ich liebte den See so sehr im Schein des Mondlichts …   „Du, übrigens“, höre ich meine Freundin sagen. Als mein Blick fragend in die Höhe geht, deutet sie unnötig mit ihrem blauen Eisbecherlöffel auf mich. „Habe ich dir schon erzählt? Ich spiele neuerdings wieder Pokémon.“ Ich horche auf. „Oha. Hat dich jetzt doch die ORAS-Welle erwischt?“, frage ich sie. „Also nein, ich bitte dich.“ Sie schnaubt beleidigt durch die Nase aus. „Ich habe dir doch gesagt, dass ich’s mir nicht leisten kann. Ich habe noch nicht mal einen 3DS.“ „Naja, hätte ja sein können“, winke ich ab und will sie beschwichtigen. „Nein. Mein Freund hat mir HeartGold geschenkt“, erklärt sie und ich sehe, wie ein stolzes Lächeln ihre Lippen umspielt. Ich muss automatisch mitlächeln. „Ich spiele es jetzt seit zirka einer Woche. Ich habe ja schon Gold und Silber damals sehr gemocht. Obwohl es nur ein Remake ist, finde ich es echt toll. Es macht mir richtig Spaß und ich finde es so süß, wie mir mein Lorblatt auf Schritt und Tritt überallhin folgt, hihi.“ „Wieder der Pflanzen-Starter, ja?“, schmunzle ich und will sie ein wenig necken. „Erst war’s Bisasam in Blau, dann Endivie in Gold, dann Geckarbor in Saphir … Ich könnte die Liste so fortführen bis Weiß, nehme ich an?“ „Na und?“, schmollt sie zurück. Schon wieder. „Ich mag eben gern Pflanzenpokémon um mich herum. Gäbe es Pokémon in echt, würde ich nur Pflanzenpokémon trainieren.“ „Das dürfte auf die Dauer schwierig werden“, merke ich an. „Naja, zum Glück gibt es ja Tropius seit der dritten Generation, ne? Zumindest Fliegen kannst du schon mal.“ „Und für Surfer habe ich Kappalores“, grinst sie zuversichtlich. „Lang lebe Hoenn!“ „Auf jeden Fall“, versucht sie auf ihr Thema zurückzukommen, „bin ich total verliebt in das Spiel. Und ich finde den PokéWalker echt toll!“ Ich beobachte, wie sie daraufhin in ihrer kleinen Jeanstasche kramt. Mir ist klar, was sie vorhat, und ich nippe gemächlich an meinem Karamellcappuccino. „Schau, so sieht es aus“, erklärt sie mir und hält mir den kleinen rot-weißen Schrittzähler in Form eines Pokéballs mit kleinem Display in der Mitte entgegen. „Finde ich echt toll, dass man damit seinen Liebling auch immer bei sich tragen kann.“ „Ich kenne den PokéWalker. Ich habe selbst einen durch meine SoulSilver-Edition“, merke ich an. „Im Moment habe ich Hoppspross darauf. Ihm können ein paar Extra-EP echt nicht schaden.“   Wo bist du? Alles dunkel um mich herum. Still. Der Boden ist hart. Kalt. Mein Körper schwer. Steif.   Kaum zu Hause angekommen, weiß ich ganz genau, was ich tun möchte. Es ist früh am Abend. Die viele Schwärmerei meiner Freundin zu ihrer neuen Errungenschaft hat die Sehnsucht in mir hervorgerufen. Ganz klar, was mein erstes Vorhaben ist. Gezielt steuere ich auf den Schrank zu und hole die kleine schwarze Kunststofftasche meines Nintendo DS heraus. Die schwarze Konsole liegt darin, wie es sich gehört. Ich prüfe kurz die Rückseite und stelle mit Erleichterung fest, dass nach wie vor das richtige Spiel eingelegt ist. Vorsichtig ziehe ich die kleine, wenige Millimeter breite Platte heraus. »Pokémon Silberne Edition SoulSilver« lese ich darauf und bin fasziniert von dem hübschen grau-silbernen Hintergrundverlauf. Andächtig streiche ich mit dem Daumen über den glatten Aufkleber. Ein leises Seufzen entweicht mir. Erinnerungen werden wach. Ich verbinde so viel mit dieser Edition. SoulSilver war die erste Pokémon-Edition, in der ich den Pokédex vervollständigt hatte. Es war die erste Edition, in der ich meine Pokémon ganz ohne die Hilfe von Sonderbonbons auf Level 100 trainiert hatte. Und es war die Edition, in der sich mein gesamtes Spielverhalten komplett verändert hatte. Mit SoulSilver entdeckte ich die Pokémon-Zucht für mich. Ich begann, gezielt zu züchten und tastete mich an das FP-Training heran. Seinerzeit war das eine ganz neue Entdeckung für mich gewesen und ich war unsagbar stolz auf meine Erfolge. Ein wohliges Kribbeln zieht sich von meinen Fingern bis zu meinen Zehenspitzen, als ich an mein altes Team denke. Mein Herz schlägt spürbar kleine Purzelbäume, als ich ihre Namen in Gedanken hervorrufe. Blaze, mein Tornupto. Mein Starter und treuer Partner, auf den ich unendlich stolz bin. Der Papa im Team und Mentor nachziehender Teamanwärter. Elynn, mein Lapras. Dieses Pokémon begleitet mich seit der ersten Edition. Ich liebe es. Ray, mein Rayquaza. Als Shiny lernte ich es lieben. Mein erstes legendäres Pokémon nach Arktos in Rot, das länger Teil meines Teams war. Mein liebes Noctuh. Und meine liebe Evoli-Familie. Ich kann es kaum erwarten, sie endlich wiederzusehen!   Wann kommst du? Ich vermisse dich. Ich vermisse euch. Blaze, der mich immer gewärmt hat. Elynn, die immer sanft zu mir war. Ray, auf dem wir gemeinsam geflogen sind. Meine Schwestern … Wann werde ich euch wiedersehen?   Ich beschließe, eben noch die restlichen Erledigungen und Vorbereitungen zu tätigen, um mir anschließend den Abend für SoulSilver zu reservieren. So lege ich den DS vorerst wieder zur Seite, kümmere mich um mein Abendessen, vergesse die Hygiene nicht und beeile mich, für alles nicht zu lange zu brauchen.   Wann werde ich dich wiedersehen? Hier ist alles dunkel. Es ist kalt. Niemand ist hier. Nur endloses Nichts. Ich bin allein hier. Ich bin einsam. Wann kommst du zu mir zurück?   Später liege ich in mein Bett gekuschelt. Ich schalte den DS ein und genieße die kurze Videosequenz, die ich so lange nicht mehr gesehen habe. Zum Schluss beobachte ich Lugia, wie es unter Wasser schwimmt und freue mich sehr, den lang vermissten Ruf des Pokémon zu hören, als ich »Start« betätige. Es kommt mir wie Jahre vor. Nein, so falsch ist das gar nicht. Seit X/Y vor über einem Jahr auf den Markt gekommen ist, habe ich keine andere Edition mehr gespielt. Wie lange ist es also wirklich her? Eineinhalb Jahre? Zwei? Ich finde mich in Dukatia City nahe der Pokémon-Pension wieder. Wie passend. Gut möglich, dass ich SoulSilver zuletzt für einen Zuchttest gespielt habe. Ich schmunzle bei dem Gedanken. Ich öffne das Team-Fenster. Tornupto, Rayquaza, Lapras, Folipurba und Glaziola begleiten mich. Im letzten Slot finde ich ein Pokémon-Ei vor. „Nanu?“ Verwundert klicke ich das Ei an, um mir den Status anzusehen. Nichts Ungewöhnliches. Die Beschreibung erklärt mir, dass es noch lange dauern wird, bis das Baby schlüpfen wird. Vielleicht von meinem letzten Zuchtversuch, denke ich bei mir. Sehr gut möglich. Aber welches Pokémon hatte ich zuletzt gezüchtet? Kurzerhand betrete ich die Pension. In dem kleinen Gehege rechterseits der Pensionsleiterin warten keine Pokémon. Seltsam. Vermutlich hatte ich nur ein Ei gezüchtet, die Eltern sofort zurückgeholt und in die Box zurückgelegt. Gut möglich. Ich verlasse die Pension wieder und überlege kurz, was ich eigentlich tun möchte. Das Spiel habe ich längst durchgespielt. Der Pokédex ist vollständig. Vielleicht ein wenig zum PokéAthlon? „Wie spät ist es jetzt?“, frage ich mich selbst. Kurz prüfe ich meine Wanduhr: Samstag, 19:41 Uhr. Kurzentschlossen wähle ich meinen PokéCom an und klicke ins Telefonbuch. Bei »Bianka (Leiterin)« stoppe ich und verabrede mich mit der Arenaleiterin zu einem Rematch in Saffronia City. „Lasst uns ein wenig spielen“, lächle ich. Die Worte sind an mein Team gerichtet. Dann laufe ich die kurze Strecke im Spiel hoch nach Dukatia City und fahre dort mit dem Magnetzug rüber nach Saffronia City in Kanto.   Wo bist du? Ich höre deine Stimme in weiter Ferne. Unverständlich, wie im Traum. Bitte, ruf nach mir …   Eine kurze Zugfahrt später habe ich Saffronia City erreicht. Kaum, dass ich den Bahnhof verlassen habe, erscheint ein Textfeld: »Wie?« Ich bin handlungsunfähig, als sich der Bildschirm kurz verdunkelt. Kurz darauf sehe ich das Pokémon-Ei aus meinem Team. Sofort spielt sich die ruckelnde Sequenz ab, in der die Schale mehr und mehr einreißt, bis das Pokémon schlussendlich schlüpft. Ein Evoli begrüßt mich mit seinem fröhlichen Ruf. „Ähm … wie jetzt?“, ist alles, was ich hervorbringe. Viele Dinge gehen mir durch den Kopf. Als leidenschaftlicher Pokémon-Züchter weiß ich, dass ein Evoli knapp neuntausend Ei-Schritte benötigt, um zu schlüpfen. Der Ei-Bericht hatte mir ganz eindeutig zu verstehen gegeben, dass ich noch nicht einmal die Hälfte davon abgelaufen war. Ich habe zudem kein Brutpokémon im Team und ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich mir damals den Pin geholt hatte. Wie also ist es möglich, dass geschätzt einhundert Schritte gereicht haben, um dieses Ei zum Schlüpfen zu bringen? Ich schüttle den Kopf. Wie ich es auch versuche, es macht keinen Sinn. Aber ich versuche mich damit zu trösten, dass ich mich nicht mehr daran erinnere, was ich zuletzt im Spiel gemacht hatte. Vielleicht hatte ich tatsächlich mit der Ausbrütung begonnen und der Zähler hat sich nur vertan. Kann ja sein? Gewohnt gehe ich ins Team-Menü und wähle unser neues Mitglied an. Ein weibliches Evoli, hui! Das freut mich natürlich sehr, denn die Wahrscheinlichkeit auf ein Weibchen ist bei Evoli sehr gering. Sonst aber sehe ich nichts Besonderes: keine speziellen Zuchtattacken, kein erwähnenswertes Wesen, generell alles gewöhnlich. Ich zucke mit den Schultern. Wer weiß, was ich damals mit dieser Zucht ausprobiert hatte. Ich beschließe, das Evoli zu behalten. Auch wenn ich bereits im Besitz aller Entwicklungen bin, ein Weibchen ist und bleibt selten. Und meine Schwäche für dieses niedliche Pokémon ist einfach zu groß. Damit schließe ich das Menü-Fenster komplett. Auf dem Fahrrad nehme ich den kurzen Umweg auf mich und steuere das Pokémon-Center an. Ich habe vor, im Dojo zu trainieren. Da wäre es mir unlieb, ein Baby-Pokémon dabeizuhaben. Am PC wähle ich die Pokémon-Boxen aus. Ich will Evoli ablegen, doch zu meiner Verwunderung sagt mir das Spiel, dass ich dieses Ei nicht lagern kann. Ich versuche es noch einmal und noch einmal, doch die Fehlermeldung bleibt stets dieselbe. Ich bin verwirrt. Einerseits handelt es sich bei Evoli um kein Ei, andererseits kann man Eier normalerweise in der Box lagern. Handelt es sich um einen Systemfehler? Hängt es mit dem verfrühten Schlüpfen zusammen? Ein erster Anflug von Panik überkommt mich. Ich habe Angst, mir einen Glitch eingefangen zu haben. Bitte nicht! Nicht in SoulSilver! Ich möchte nicht, dass mein Spielstand einen nachhaltigen Fehler davontragen könnte. Aber was kann ich schon tun, wenn dem nun so wäre? Das Spiel auszuschalten, könnte alles nur noch schlimmer machen. Speichern oder besser nicht? Früher oder später muss ich das Spiel beenden, da führt kein Weg dran vorbei. Ich entscheide mich für Schadensbegrenzung. Entschlossen, wenn auch mit zittrigen Fingern, schalte ich den DS aus. Nach einem kurzen Zögern lege ich ihn ganz zur Seite und beschließe, das Ganze kurz ruhen zu lassen. Solange suche ich nach einer Ablenkung, um die Panik in mir abklingen zu lassen.   Wo bist du? Ich will so sehr zu dir. Ich will dich sehen. Bitte, hol mich zu dir …   Noch einmal atme ich tief durch. Dann schalte ich die Handkonsole wieder ein und wage einen zweiten Versuch. Alles ist wieder wie zu Beginn. Wieder habe ich das ominöse Ei im Team. Dieses Mal aber beschließe ich, es sofort in der Box zu lagern. Direkt in der Pokémon-Pension greife ich auf das Lagerungssystem zu, doch ich erhalte erneut dieselbe Fehlermeldung wie vorhin schon. Ich seufze geschlagen. Eigentlich hatte ich es geahnt. Ich hatte zu meinen Zuchtanfängen genug Guides gelesen, um zu wissen, dass es bereits ab dem Moment zu spät ist, wenn man ein fehlerhaftes Ei erhalten hat. Dennoch hatte ich gehofft, es würde sich nur um einen Hänger im System oder Ähnliches handeln. Da ich bereits weiß, wie es weitergehen wird, greife ich einfach mein ursprüngliches Vorhaben wieder auf. Mittlerweile ist es weit nach neun. Bianka wird nun nicht mehr für ein Rematch zur Verfügung stehen, aber Rocko sehr wohl. In Saffronia City beobachte ich apathisch, wie das Ei schlüpft. Anschließend habe ich wieder ein weibliches Evoli im Team. Ich lehne abermals ab, ihm einen Spitznamen zu geben. Damit ist alles absolut identisch zum ersten Mal. Ich wähle wieder den PokéCom aus und rufe dieses Mal Rocko an, um ihn zu einem Rematch herauszufordern. Direkt danach fahre ich via Fahrrad zum Dojo hinauf, um mich mit ihm zu treffen. Ich lasse den üblichen Text über mich ergehen, bis unser Kampf beginnt. Ich bestreite drei Kämpfe gegen Rocko. Viel Mühe haben meine Pokémon nicht gegen ihn. Nach dem dritten Kampf ist mein Team soweit erschöpft, dass es sich lohnt, das Pokémon-Center aufzusuchen, um es zu heilen. Ich verlasse das Dojo und steige auf mein Fahrrad. In der Abbiegung zum Center geht mir plötzlich ein Textfeld auf und wieder lese ich die bekannte »Wie?«-Meldung, bevor der Bildschirm schwarz wird. Dieses Mal ist es kein Ei, sondern das geschlüpfte Evoli, das in der Bildmitte auftaucht. Es stößt seinen fröhlichen Ruf aus und mit der Meldung »Hey? EVOLI entwickelt sich!« im Textfeld umgeben es Lichtkugeln, woraufhin seine ausgeweißte Silhouette mit einer neuen Form hin und her springt. Ich beobachte das Geschehen, ohne zu begreifen, was da gerade passiert. »Glückwunsch! Dein EVOLI wurde zu NACHTARA!«, gratuliert mir das Spiel. Im Anschluss fragt es mich: »Möchtest du NACHTARA einen Spitznamen geben?« Eine Wahl lässt es mir offenbar nicht, denn mir geht sofort das Fenster auf, um einen neuen Namen einzugeben. Ich verstehe gar nichts. Wie kann das passieren? Evoli steht an letzter Stelle meines Teams, gezwungenermaßen. Ich habe ihm kein Item gegeben. Wie konnte es sich ohne Levelaufstieg entwickeln? Und wieso verlangt das Spiel einen Spitznamen? Es überfordert mich. Das alles ist mir nicht geheuer. Es widerspricht jeglicher Logik. Hastig drücke ich die B-Taste. Das Fenster bleibt. Es gibt keine Möglichkeit, die Namensvergabe abzubrechen. Der kleine Nachtara-Sprite hüpft kontinuierlich auf und ab. Wartend, dass ich die gestrichelte Zeile mit Buchstaben fülle.   Ich will zu dir.   In einem Anflug von Frust und Panik lasse ich die Konsole fallen. Sie landet weich auf meiner Bettdecke. Wieso passiert das? Was soll das alles? Ich atme mehrmals tief durch. Es ist nur ein Spiel, rede ich mir dabei wieder und wieder ein. Es kann mir nichts tun. Es kann nichts passieren. Jedenfalls nicht mehr, als dass ich meinen Spielstand verliere, richtig? Tief atme ich ein. Lang wieder aus. Dann nehme ich den DS erneut auf. Schaue auf die gestrichelte Linie. Beobachte das hüpfende Mini-Nachtara davor.   Bitte, ruf nach mir.   Ich komme aus dem Fenster noch immer nicht heraus. Ob ich will oder nicht, ich muss dem frisch entwickelten Nachtara einen Spitznamen geben. Mein erster Impuls ist, einfach »WTF?!« einzugeben. Doch ich schüttle entschieden den Kopf. Nein, das kann ich nicht machen. Das ist nicht meine Art. Ein letztes Mal atme ich durch. Dann gebe ich den einzigen Namen ein, der mir für Nachtara in den Sinn kommt: »Yora« Ich bestätige meine Eingabe. Endlich schließt sich das Fenster. Ich sehe wieder meinen Avatar auf seinem Fahrrad sitzen. Doch noch ehe ich dazu komme, etwas zu machen, höre ich das vertraute „Pling!“, dass mein Spielstand soeben gespeichert wurde. Ich seufze. Ich bin mit meinen Nerven vollkommen am Ende. Geschlagen schalte ich die Spielkonsole aus und lege sie vorsichtig neben meinem Bett auf dem Fußboden ab. Großartig. Nun ist es zu spät. Das Spiel hat sich vollkommen selbständig gemacht und mir keinerlei Wahl gelassen. Morgen, wenn ich nachschaue, wird sich mein Spielstand bestimmt verabschiedet haben. Da bin ich mir sicher. Genervt schalte ich das Licht aus und drehe mich in meinem Bett herum. Die Bettdecke ziehe ich mir bis zum Kinn. So war das alles nicht geplant. Ich hatte doch nur ein bisschen spielen und in Nostalgie schwelgen wollen. Ich schließe die Augen und versuche, nicht weiter über das Erlebte nachzudenken. Morgen schon wird mir alles wie ein schlechter Traum vorkommen. Ein äußerst unheimlicher Traum. Trotz allem ein Traum, frei jeglicher Realität. Morgen, sobald ich den DS eingeschaltet und mich selbst einen Narr gescholten habe.   Bitte, hol mich zu dir.   Mitten in der Nacht wache ich auf. Ich weiß nicht, wie spät es ist oder wie lange ich geschlafen habe. Das ist auch vollkommen unerheblich. Mir ist etwas eingefallen! Das Gerede meiner Freundin. Der PokéWalker. SoulSilver. Mein Team. Yora. Yora! Ich drehe mich halb aus dem Bett und schnappe nach meinem DS. Hastig schalte ich ihn ein und überspringe die Videosequenz, um so schnell es geht in meinen Spielstand zurückzukehren. Yora! Noch immer wartet mein Avatar auf seinem Fahrrad in der Straße zum Pokémon-Center. Genau dort will ich auch hin. Ich muss etwas nachprüfen! Ich fahre wenige Schritte. Plötzlich wackelt mein Bildschirm mit einem kurzen, tiefen Zittergeräusch. Es kommt mir bekannt vor, wie wenn eines meiner Pokémon im Team Schaden durch eine anhaltende Vergiftung erleidet. Sofort gehe ich ins Team-Menü … und erschrecke. Yoras KP-Anzeige ist ein Stück heruntergegangen. Unter dem schwarzen Nachtara-Sprite sehe ich eine violette Statusanzeige und lese »GIF« darin. Dazu hüpft Yoras Sprite nicht wie die anderen munter auf und ab, sondern wackelt jede zweite Sekunde kurz. Wie konnte das nur passieren? Ich hatte Yora nie in einem Kampf eingesetzt. Ihr Level beträgt nach wie vor eins, so wie sie geschlüpft war. Aber es macht keinen Sinn, nach einer Logik zu suchen. Das Spiel macht ohnehin, was es will. Ich beeile mich lediglich, ins Pokémon-Center zu kommen, um das zu tun, was ich ursprünglich vorhatte. Nur kurz wende ich mich der Schwester hinter dem Empfangstresen im Center zu. Sie begrüßt mich wie gewohnt und ich überreiche ihr meine Pokémon, um Yoras Vergiftung zu heilen. »Eines deiner Pokémon leidet an einer unbekannten Krankheit«, erklärt mir die Schwester, statt sich wie gehabt der Heilungsmaschine zuzuwenden, und schüttelt einmal mit dem Kopf. »Ich kann es nicht heilen. Tut mir leid.« „Was?!“, platzt es aus mir heraus. Ich glaube, nicht richtig zu lesen. Träume ich noch? Erneut prüfe ich mein Team. Für einen Moment scheint mir das Herz stehenzubleiben. Yoras KP-Anzeige liegt derweil im roten Bereich. Ihr Statusbericht zeigt mir, dass nur noch 1 KP verblieben ist. Und das ist nicht alles. Glaziola, Folipurba und Tornupto, die von unten nach oben Yora am nächsten stehen, tragen nun ebenfalls den Vergiftungsstatus. Es scheint, als hätte Yora sie angesteckt. „Was tust du denn da?!“, schreie ich meinen DS an. Meine Stimme zittert. „Wieso tust du das? Wie kannst du deiner Familie das antun?!“ Ich öffne den Beutel. Schnell wähle ich ein Gegengift-Item aus und wende es auf Yora an. Es funktioniert nicht. »Es wird keine Wirkung haben«, erklärt wir die Textanzeige. Verdammt! Ich versuche dasselbe bei Tornupto. Es funktioniert. Ich bin zutiefst erleichtert und behandle auch Glaziola und Folipurba, um sie von der Vergiftung zu befreien. Anschließend gehe ich hinüber zum PC. Der Bildschirm wackelt noch einmal. Vorsichtshalber prüfe ich erneut mein Team. Yoras KP-Anzeige ist unverändert geblieben, ebenso ihr Status. Allerdings hat es nun Lapras erwischt. Ich beschließe, es später zu heilen. Zuerst muss ich überprüfen, was mir vorhin im Schlaf eingefallen war. Ich schalte den PC ein und wähle sofort das Lagerungssystem aus. Akribisch untersuche ich meine Boxen, auf der Suche nach einem ganz bestimmten Pokémon.   Ruf meinen Namen.   „Sie ist nicht da“, bemerke ich kurz darauf. Unwillkürlich schnappe ich nach Luft. „Alle anderen ja. Blitza, Flamara, Aquana und Psiana liegen in einer Box zusammen. Folipurba und Glaziola sind im Team. Aber Nachtara fehlt!“ Es fällt mir wie Schuppen von den Augen. Meine Befürchtung hat sich bestätigt. Wieso habe ich nicht früher daran gedacht? Sie fehlt. Mein Nachtara fehlt. Sie ist nicht mit den anderen in den Boxen. Und ich weiß jetzt wieder, wo sie ist. „Es tut mir leid …“ Der PokéWalker. „Es tut mir so leid …“ Ich hatte Nachtara auf den Walker übertragen, als der Levelabstand zu den anderen Teammitgliedern zu groß geworden war. Es war schwieriger geworden, sie zu trainieren, und die anderen waren zu weit im Level vorausgeeilt. Im Ausgleich hatte ich Nachtara im Walker immer bei mir. Ich wollte sie nicht im Stich lassen. „Bitte verzeih mir …“ Wie lange ist das jetzt her? Ein Jahr? Zwei? Ich habe den Walker lange nicht mehr gesehen. Seit meinem Umzug im letzten Jahr liegen noch viele Dinge in Kartons. Wo kann er sein? Wo ist er jetzt? Wo ist sie? „… Yora.“   Endlich.   Ich nehme ein schwaches Licht in meinem dunklen Zimmer wahr. Anfangs bin ich unsicher, dann klappe ich den DS zu, um jede mögliche Lichtquelle auszuschließen. Ein gelber Schein, rhythmisch leuchtend. Er wird von überall von meinen Wänden reflektiert.   Hier bist du.   Ich drehe meinen Kopf nach vorn in Richtung Tür. Dort glaube ich, eine Silhouette in der Dunkelheit zu erkennen. Bilde ich es mir nur ein? Drei gelbe Kreise leuchten in Dreieckskonstellation auf im gelben Schein. Zwei weitere neben den unteren. Zwei senkrechte Streifen weiter oben im seitlichen Abstand zum oberen Kreis. Ein weiterer Streifen neben den unteren. Keine Einbildung. Das Leuchten ist schwach, aber ich weiß, dass es tatsächlich da ist. Ich weiß, dass sie da ist. „Yora?“   Hier bist du. Ich will zu dir. Kann mich nicht bewegen. Spüre meine Pfoten nicht. Sie tun so weh. Mein Körper ist schwer. Es schmerzt so sehr.   Ich stürze förmlich aus dem Bett. Stolpere die wenigen Schritte auf das helle Leuchten zu. Und auf das rot glühende Augenpaar, das sich auf mich richtet. Langsam und schwer. Ich gehe vor dem schwarzen Wesen auf die Knie. Umschließe es mit beiden Armen. Drücke es fest und zaghaft zugleich an mich und wünsche mir, es nie wieder loslassen zu müssen. „Yora“, jauchze ich leise. Aufsteigende Tränen belegen meine Stimme und pressen ein leises Schluchzen aus mir heraus. „Es tut mir so leid. Bitte verzeih mir.“ Ich will sie fester an mich drücken, da merke ich erst, wie wenig Widerstand von ihrem Körper kommt. Alarmiert schiebe ich mich zurück, halte das Wesen fest, dessen schwarzes Fell sich wie ausgekühlt unter meinen Fingern anfühlt. In dem gelben Schein erkenne ich besser aus der Nähe. Meine Augen haben sich den dunklen Verhältnissen angepasst. Und was ich sehe, lässt mich regelrecht erstarren. Nachtaras schlanker, katzenartiger Körper ist wie ausgemagert. Ich kann jeden Knochen spüren. Das schwarze Fell fühlt sich kalt an. Teilweise verklebt, seltsam verstaubt. Und während ich zögerlich darüberfahre, stelle ich fest, dass es vereinzelt kahle Stellen aufweist. Mein sanftes Streicheln reicht aus, um weitere Büschel weichunterlegten Fells zu lösen. Ich ziehe meine Hand erschrocken zurück. Ein seltsam öliger Film liegt auf meinen Fingern. Aber das ist meine geringste Sorge. „Was ist nur mit dir passiert?“ Ihre großen, roten Augen schauen zu mir hoch. Ihnen fehlt jeglicher Glanz. Ihr Blick wirkt müde, und doch bin ich mir sicher, dass sie mich ansieht. Tränen steigen in mir auf. Fließen meine Wangen hinab. „Das ist alles nur meine Schuld …“   Endlich.   Ich spüre, wie Yora sich regt. Sie will sich mir wohl entgegenstrecken, vielleicht um mich zu trösten. Doch mir wird erst bewusst, wie schwach sie ist, als sie stattdessen in meinen Armen zusammenbricht. „Yora!“ Und da wird mir klar, dass sie keine Kraft mehr hat. Dass die Schwäche sie zerfrisst. Und dass ich ihr das Allerscheußlichste angetan habe, das man einem Wesen nur antun kann. Einem Freund.   Hier sind wir.   Ich weiß nicht, was ich tun soll. Soll ich sie stützen? Soll ich sie halten? Soll ich sie lassen? Ich bin verzweifelt. Es tut weh, sie so zu sehen. Doch es ist nichts im Vergleich zu dem Schmerz, den sie empfinden muss. Den sie schon so lange empfindet. Meinetwegen. Ich hasse mich dafür.   Für immer.   „Hey“, spreche ich leise. Ich quäle mich zu einem sanften Lächeln. „Wir wollten doch spazieren gehen, weißt du noch? Hast du Lust?“ Sie sieht zu mir hoch. Ihr Kopf liegt schwer auf meinem Arm. Ihr Körper ist schlaff. Dann schließt sie die Augen wieder. Vorsichtig schiebe ich meine Arme weiter unter ihren Körper. Hebe ihn. Er trägt nahezu keinerlei Gewicht. Mühelos richte ich mich auf. Voller Behutsamkeit halte ich den schmächtigen Körper des schwarzen Wesens auf meinen Armen. Sie liegt auf dem Rücken, ihre Pfoten kraftlos auf ihrem Bauch und an meiner Ellenbeuge. Mit dem Ellenbogen drücke ich die Türklinge hinunter. Verlasse mein Zimmer. So wie ich bin, gehe ich mit ihr nach draußen. Lächle unbeirrt in das müde Gesicht meiner Freundin.   Endlich.   Barfuß laufe ich durch die Nacht. Ungeachtet des Weges. Yora auf meinen Armen. Ich spüre, wie die Feuchtigkeit in ihrem Fell zunimmt. Sich an meiner Haut festsetzt. Stechend, brennend und kalt. Egal. Ich gehe mit ihr hinunter zum See. Auf seiner glatten Oberfläche spiegelt sich der silberne Schein des Mondes. So wie ich es mir immer vorgestellt hatte. An dem Ufer lasse ich mich nieder. Gehe in die Knie und spüre, wie das seichte Wasser eisig meine Haut umspült. Ich lächle. „Schau, wir sind da“, sage ich leise. „Du liebst den See, nicht wahr? Schau, was für eine wunderschöne Nacht wir wieder haben.“ Meine Arme fühlen sich taub an. Es kribbelt unangenehm in meinen Händen. Etwas scheint mir Zelle um Zelle die Haut wegätzen zu wollen. Doch ich konzentriere all meine Kraft darauf, die knochige schwarze Pfote sanft zu umfassen und in Richtung Wasser zu führen. Ich werde müde. Ich bin erschöpft. Yora rührt sich nicht auf meinen Armen. Regt sich nicht. Kein Leuchten geht von den hellen Kreisen in ihrem dunklen Fell aus. Ihre Augen sind geschlossen. Ich wechsle in den Schneidersitz. Biete Yora mehr Fläche zum Liegen. So ist es bequemer für uns beide. Ich lasse den Kopf müde hängen. Tief atme ich den Geruch ein, der von Yoras schwarzem Fell ausgeht. Er ist beißend, schwer. Irgendwie moderig. Er erinnert mich an feuchtes Holz, altes Gestein, schmieriges Öl und verwesendes Laub zugleich. Abgestanden. Stechender als zuvor. Das seltsame Kribbeln zieht meine Arme hinauf. Hinterlässt ein schweres Taubheitsgefühl. Unter Yoras Körper fühlt es sich an, als würde sich dasselbe Gefühl durch meine Kleidung zu meinen Beinen hindurchfressen. Ich lächle. Nie mehr werde ich Yora alleinlassen.   Hier bist du. Wir wollten doch spazieren gehen, erinnerst du dich noch? An den Silbernen See, hast du mir versprochen. Ich blickte so gern zum klaren Sternenhimmel auf mit dir … Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)