The Story of a Bastard Child von dattelpalme11 ================================================================================ Kapitel 57: Die Musikschnitzeljagd ---------------------------------- Die Zeit schritt stetig voran und ließ die letzten paar Wochen im Nu vergehen. Es war bereits Anfang März und die Ferien würden bald beginnen. Etwas niedergeschlagen über die baldige Tatsache, sich ebenfalls im Abschlussjahrgang zu befinden und sich für ein Studium entscheiden zu müssen, sank Mimi die Couch hinab und fixierte ihre beste Freundin, die die Schule vor ungefähr einer Woche beendet hatte. Sora hatte darauf bestanden den Freitagabend zusammen zu verbringen, da beide nicht sonderlich viel Zeit miteinander verbringen konnten. Sie sprachen über Soras Praktikum und das Abschlussjahr, sodass Mimi immer mehr bewusst wurde, dass sich alles veränderte. Ihre Gruppe brach immer mehr auseinander und Mimi vermisste das starke Band der Freundschaft, dass sie alle miteinander verbunden hatte. Jetzt schien es so, als würde jeder seinen eigenen Weg gehen. Joe hatten sie bereits letztes Jahr an sein Medizinstudium verloren, Sora und Matt waren die nächsten, die gingen und sogar die weite Welt bereisten. Von Kari hatte Mimi lediglich erfahren, dass Tai auf der Tokai Universität angenommen wurde und bereits nach einem Zimmer suchte. Seit dem Abschlussball hatten sie nicht mehr miteinander gesprochen. Etwas, das auch Sora nicht unbemerkt blieb. „Und wie geht es jetzt zwischen euch weiter?“, fragte sie interessiert und reichte die Tüte Paprikachips an sie weiter. Mimi langte zu und knabberte lustlos an der gebackenen Leckerei. „Seit dem Abschlussball hatte ich ihn nur mal kurz in der Schule gesehen“, gab sie kleinlaut zu und senkte betrübt den Kopf. „Er geht mir aus dem Weg. Ich habe es wohl komplett versaut.“ „Ach Mimi“, kam es besorgt von Sora, als sie auch noch ihre Hand auf ihre Schulter legte, „es tut mir so unfassbar leid. Ich würde dir echt gern helfen, aber ich weiß wirklich nicht wie. Mit mir redet er darüber nicht, sondern blockt gleich ab.“ Unsicher sah Mimi zu ihrer Freundin und zuckte nur hilflos mit den Schultern. Sie hatte überhaupt keine Ahnung, was in ihm vorging, oder was er wirklich für sie empfand. Sie wusste nur, dass sie ihm nicht egal war, aber das konnte ja bekanntlich vieles bedeuten. „Willst du mir erzählen, was zwischen euch vorgefallen ist?“ Soras Stimme durchdrang sie und hallte in ihrem Inneren. Seit dem Abschlussball hatte sie immer wieder versucht, dieses Thema anzusprechen, doch Mimi war es unangenehm über die kleinen hoffnungsvollen Momente und die gemeinsame Nacht zu sprechen. Sie überlegte immer wieder, wie sie Sora erzählen sollte, doch je länger sie darüber nachdachte, desto unsicherer wurde sie. Mimi fiel auf, dass sich die Anspannung zwischen ihr und Tai, bis zu jenem Abend gesammelt hatte. Allerdings war nicht sie diejenige, die die Grenze letztlich überschritten hatte. Er hatte sie geküsst. „Er hat mich geküsst“, sprach sie letztlich aus, huschte mit den Augen hin und her. „Und dann kam eins zum anderen.“ „Habt ihr miteinander…“ Sie traute sich nicht ihre Frage zu Ende zu stellen, doch das brauchte sie auch gar nicht. Mimis Gesicht verriet eigentlich so gut wie alles. „Oh“, machte Sora nur und wurde etwas rot um die Nase. Ihr war es immer noch peinlich, sich über das Thema Sex zu unterhalten, da sie in diesem Punkt nur wenige Erfahrungen gesammelt hatte. Aber auch für Mimi war dieses Thema ein wunder Punkt. Sie bereute es, ihre Jungfräulichkeit so früh verloren zu haben und war daher stolz, dass Sora sich aufhob. Sie hätte auch lieber gewartet, ließ sich jedoch von dem Jungen, den sie dachte zu lieben, unter Druck setzen. Und auch ihre weiteren Erfahrungen zu diesem heiklen Thema, waren alles andere als traumhaft gewesen. Mimi biss sich instinktiv auf ihre Unterlippe, wandte den Blick von Sora, da ihr schlechtes Gewissen sie gepackt hatte. Warum hatte sie nur mit Matt geschlafen? Wie konnte sie Sora nur so etwas antun? Sie hatte es richtig gemacht und hatte beiden Jungs klar gemacht, dass sie sich nicht entscheiden konnte, auch wenn sich ihr Herz mittlerweile entschieden hatte. Und Mimi? Sie hatte einfach in ihrer Trauer und Wut, mit dem Jungen geschlafen, den Sora immer noch liebte. „Aber wenn ihr euch bereits so nahe gekommen seid, verstehe ich nicht, warum ihr nicht einfach über eure Gefühle sprecht. Es könnte doch so einfach sein“, meldete sich Sora wieder zu Wort und versuchte mit allen Mitteln eine Lösung für dieses ganze Schlamassel zu finden. Doch für Mimi war es alles andere als einfach. Sie hatte den Weg gewählt, der mit Lügen zugepflastert war und sie daran hinderte ehrlich zu sich und den Menschen zu sein, die ihr so wichtig waren. „I-Ich habe ihn damals versetzt. Er wollte sich mit mir in der Stadt treffen, aber i-ich bin nicht hingegangen“, offenbarte sie schwerfällig, als plötzlich die Tränen in ihren Augen aufstiegen. „Warum?“, fragte Sora verständnislos und musterte sie nachdenklich. „Weil es nicht ging“, erwiderte sie mit krächzender Stimme und zog die Beine an ihren Körper. Ihre Tränen machten sich qualvoll bemerkbar, als sie unkontrolliert über ihre Wangen liefen und Soras Alarmsignale zum Läuten brachten. „Was ist denn los?“, hakte sie verzweifelt nach, als ein tiefsitzender Schmerz über Mimis Kehle hinweg wanderte und sich in einem leisen Wimmern äußerte. Sie presste ihr Gesicht gegen ihre Knie, als ihre beste Freundin behutsam darüber tätschelte und immer wieder aufs Neue fragte, was passiert sei. Doch ihre Verzweiflung war allgegenwärtig, als ihr schmerzhaft bewusst wurde, was sie getan hatte. Nicht nur, dass sie mit Matt geschlafen hatte…nein, sie hatte sogar ihre eigene Schwester verleugnet. „I-Ich habe euch alle angelogen“, brachte sie über ihre zitternden Lippen und konnte kaum den Kopf anheben, als Sora sie plötzlich fest an sich drückte. „Mimi…“ „I-Ich habe sie verleugnet. Vor euch allen, weil ich mich so geschämt habe“, gab sie zu und presste die Lippen qualvoll aufeinander. „Aber wovon redest du nur? Wen hast du verleugnet?“, fragte Sora verwirrt und hilflos zu gleich. Für sie machte all das natürlich überhaupt keinen Sinn, weshalb Mimi ihren ganzen Mut zusammen nahm. Sie blickte mit geröteten Augen zu Sora, als ihr Herz bis zum Hals schlug und sie die Worte in den Mund nahm, vor denen sie sich die ganze Zeit so sehr gefürchtet hatte. „M-Mein Vater hat noch eine Tochter.“ Ungläubig weiteten sich Soras Augen und ihr Mund klappte augenblicklich auf. „Noch eine Tochter? D-Du hast eine Halbschwester?“ Mimi nickte beschwerlich, als sie erneut in ihrem Tränenmeer versank und ihr Unterbewusstsein ihr schmerzvoll in Erinnerung rief, dass all das der Vergangenheit angehörte. Noriko war tot. _ Sprachlos saß Sora ihr direkt gegenüber, als sie genügend Kraft gesammelt hatte und ihr die leidvolle Geschichte ihrer Schwester erzählte. Sie unterbrach sie nicht, sondern hörte ihr aufmerksam zu, während Mimi nach wie vor um ihre Fassung rang. Je mehr sie von Noriko erzählte, desto mehr bereute sie es, sie so lange vor ihren Freunden geheim gehalten zu haben. „Oh mein Gott“, löste sich von Soras Lippen, als sie völlig fassungslos die Hände vor dem Gesicht zusammenschlug, aber Mimi keinen Augenblick aus den Augen ließ. „Warum hast du mir das nicht erzählt?“, hinterfragte sie, ohne anklagend zu klingen. Es war viel mehr die Enttäuschung aus ihrer Stimme herauszuhören. Mimi fuhr sich hektisch über ihre Augen, als Sora sie sofort wieder in den Arm nahm und sie fest an sich drückte. „Mimi…es tut mir alles so leid. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.“ Halbherzig erwiderte Mimi ihre Umarmung und wusste selbst nicht, was sie denken, oder fühlen sollte. In ihrem Kopf herrschte Chaos, da sie gerade ihrer besten Freundin alles über Noriko, ihre Krankheit und ihren unerbittlichen Lebensmut erzählt hatte, den sie Tag für Tag immer mehr vermisste. Sie löste sich aus Sora Umarmung, die ihr augenblicklich zu viel wurde. Sie hatte das nicht verdient. Verwirrt, aber liebevoll blickte Sora sie mit großen Augen an und schenkte ihr somit die nötige Kraft zu ihren eigenen verwirrenden Gefühlen zu stehen, die sie über Wochen, nein sogar schon Monate begleitet hatten. „Ich wollte euch so oft von ihr erzählen, doch ich…ich konnte es nicht. Am Anfang wollte ich ihr all das nicht glauben, auch wenn ich irgendwie gemerkt hatte, dass sie nicht lügt, a-aber…“, sie biss sich auf die Unterlippe, sah nach oben und blinzelte gegen ihre aufkommenden Tränen an. „Ich konnte eine Zeitlang meine Gefühle für sie gar nicht beschreiben. Ich hatte ihr lange die Schuld gegeben, dass sich meine Eltern getrennt hatten, ohne es wirklich zu merken. Ich war in einem Zwiespalt gefangen, hatte Angst sie noch mehr in mein Leben zu lassen, weil ich gefürchtet hatte, dass ich sie dadurch noch mehr in mein Herz schließe, als es ohne hin schon möglich war. Ich wollte nicht, dass sie ein Teil meines Lebens wird, w-weil ich genau gewusst hatte, dass sie mich auch irgendwann verlassen wird“, ihre Stimme brach ab und ihr Gesicht drückte sich in Soras Schoss. „Ich hatte versucht, sie nicht in mein Herz zu lassen, besonders als ich von ihrer Diagnose erfahren hatte. A-Aber sie war…“ Ein leiser Schrei überkam sie, ließ sie laut aufschluchzen und auf Soras Schoss sinken, während sie bedacht über ihren Rücken stich und ihren Kopf darauf bettete. „Du hast sie sehr geliebt…“, ertönte ihre leise Stimme an ihrem Ohr. „Und manchmal versuchen wir gerade die Menschen, die wir lieben, so sehr festzuhalten, dass wir sie praktisch in einem Marmeladenglas einsperren, statt ihnen ihre Flügel zu geben.“ Überrascht über ihre Worte, wand sie sich aus ihrem Griff und betrachtete ihre beste Freundin nachdenklich. „Wie meinst du das denn?“ Auch ihre Augen waren leicht trüb, auch wenn ein wärmendes Lächeln ihre Lippen umspielte. Sie ergriff ihre Hände und drückte sie zart. „Du wolltest sie nicht verlieren und manchmal handeln wir dadurch egoistisch. Du hattest sie erst kennengelernt und musstest dich mit einem baldigen Verlust auseinandersetzen. Es ist also eine natürliche Reaktion, dass du erst einmal damit zurechtkommen musstest, bevor du dich jemandem anvertrauen konntest. Manchmal geschieht sowas einfach unfassbar schnell, dass wir wie erstarrt sind und nicht wissen, wie wir uns richtig verhalten sollen. Sie war dir unglaublich wichtig, dass sehe ich in deinen Augen. Und keiner wird dich dafür verurteilen! Aber du solltest ehrlich sein. Besonders zu Taichi. Er wird das verstehen und für dich da sein, so wie ich für dich da sein werde.“ Gerührt über Soras Worte fand sie erneut Schutz in ihren Armen, die sich behutsam um sie legten und ihr das Gefühl von Geborgenheit vermittelten. Sie hatte Recht. Mimi war lange genug weggelaufen und wollte nicht noch mehr Menschen verlieren, die sie hingebungsvoll liebte. _ Nachdem Mimi einen tränenreichen Mädelsabend mit Sora verbracht hatte, war am nächsten Tag die langersehnte Schnitzeljagd angesetzt. Noch nie hatte sie an einem Abend so viel über Noriko gesprochen gehabt, sodass ihr Anreiz gleich umso größer war. Sora hatte ihr viel Verständnis entgegen gebracht, ihr den nötigen Mut gegeben, ehrlich zu sein und sie ebenfalls bestärkt an der Schnitzeljagd teilzunehmen. Und sie hatte sich vorgenommen, für Noriko zu gewinnen. Nach langen Überredungsversuchen schafften es Chiaki und Mimi tatsächlich Masaru dazu zu bringen, mitzumachen. Gemeinsam begaben sie sich auf das Gelände der Hiroo Oberschule, trennten sich aber kurz danach, da Mimi noch einmal in den Musikraum wollte, indem sie mit Noriko viel Zeit verbringen durfte. Sie schritt langsam umher, ging an dem Klavier vorbei, wo sie immer komponiert hatten und fuhr mit den Fingern die Tasten entlang. Sie hörte keinen einzigen Ton erklingen und blickte finster zu Masaru, der auf der gegenüberliegenden Fensterbank saß. „Wann ist es kaputt gegangen?“, fragte sie traurig und nahm die Finger von den kühlen Tasten. „Schon vor zwei Wochen...unser Orchesterleiter meinte, es sei schon sehr alt gewesen, aber die Schule wird sich wohl erst neue Blasinstrumente anschaffen, bevor sie sich um das Klavier kümmern werden“, erklärte er mit bebender Stimme. Er war nervös, dass konnte Mimi heraushören. Sie legte ein leichtes Lächeln auf die Lippen und setzte sich auf einen der freien Stühle. „Es freut mich, dass du doch noch mitmachst“, sagte sie erleichtert, da sie die Hoffnung beinahe aufgegeben hätte. Masaru konnte manchmal ein Sturkopf sein, wie es im Buche stand, doch auch er wollte Norikos Wunsch erfüllen. Selbst Etsuko war gekommen, um das Spektakel zu filmen und Ausschnitte für ihre Dokumentation zu verwenden, die sie bald fertigstellen wollte. Leider hatte Masaru mit seiner Vermutung Recht behalten, da auch Hideaki mit seiner Band teilnehmen wollte. Seit Mimi die Geschichte der beiden kannte, konnte sie Masarus Abneigung gegenüber ihm nachvollziehen. Es war nicht fair, was er gemacht hatte. Noch unfairer war das Verhalten von Masarus Vater, der Hideaki regelrecht vor die Wahl gestellt hatte. „Und wie geht’s dir?“, hakte Mimi nach, nachdem Masaru nicht geantwortet hatte. Er zuckte nur mit den Achseln und blickte stur aus dem Fenster. „Ich bin zwar nicht froh, dass er mitmacht, aber vielleicht begegnen wir ihm ja während der Schnitzeljagd kaum und danach ist er eh erstmal weg“, murmelte er beruhigt. Verwundert hob Mimi die Augenbraue an und betrachtete Masaru argwöhnisch. „Wie er ist danach erstmal weg?“ Masaru richtete sein Gesicht wieder zu ihr und blickte sie unbeeindruckt an. „Hab ich dir das noch nicht erzählt?“, fragte er verwirrt. Mimi schüttelte nur den Kopf. „Er geht mit seiner tollen Band auf Tour. In Amerika, für mindestens sechs Monate. Sie haben sogar eine Vorband“, meinte er spöttisch und rümpfte die Nase. „Die Vorband ist bei euch sogar recht bekannt. Wie heißen die nochmal?“ Er überlegte kurz und nahm eine Denkerposition ein, indem er sich mit Zeigefinger und Daumen am Kinn entlang rieb. „Ach ja, die Teenage Wolves!“ Mimis Augen weiteten sich. „WAS?“, platzte aus ihr hervor, da sie sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte, dass Matt ausgerechnet mit so einem Idioten auf Tour gehen wollte. „Ah, du kennst sie also. Ich habe von irgendjemandem gehört, dass sie vor ein paar Monaten nach einer Vorband gesucht hatten, aber es hatten sich wohl nicht allzu viele beworben, aber das liegt wohl an Hideakis Art.“ Mimi nickte und kaute geistesabwesend auf ihrem Daumennagel herum. Sollte sie Masaru sagen, dass sie Matt sogar besser kannte, als ihr eigentlich lieb war? Er wusste schließlich von der Sache, aber…nein! Sie musste, alles einfach hinter sich lassen. Sie hatte nur ein schlechtes Gewissen, das durch die letzten Wochen verstärkt wurde. Es konnte ihr doch egal sein, dass ausgerechnet Matt mit Hideaki auf Tour gehen würde. Deswegen würde sie noch lange nicht nachsichtig werden. Noriko hatte sie angemeldet, damit sie ihr Bestes gaben und vielleicht sogar gewannen. Mimi durfte sich deshalb nicht ablenken lassen. _ „Wo bleibt ihr denn nur?“, fragte Etsuko aufgebracht und wedelte schwerfällig mit ihrer Kamera umher. Neben ihr stand ihr Tonassistent Kota, den Mimi lediglich vom Sehen kannte. Sie begrüßte ihn kurz, als auch schon der Schuldirektor der Hiroo Oberschule alle Teilnehmer begrüßte. „Darfst du hier überhaupt filmen?“, fragte Chiaki, der zwischen Etsuko und Mimi stand. „Natürlich“, sagte sie überzeugend, „Ich filme ja nur öffentliche Plätze und hier in der Schule habe ich selbstverständlich um Erlaubnis gebeten.“ Sie verdrehte die Augen, stupste Kota an und signalisierte ihm, dass sie weiter nach vorne gehen sollten. Danach war sie für kurze Zeit verschwunden und filmte den Anfang wahrscheinlich von einer anderen Perspektive. Mimi hingegen hörte gespannt zu, wie der Direktor von Kenzo Wantanabes Werdegang erzählte und die letzte Schnitzeljagd kurz thematisierte. „Bevor es nun losgeht, möchte ich noch erwähnen, dass eine ehemalige Schülerin von uns die heutige Schnitzeljagd etwas mit der Kamera begleiten wird. Verwendet werden die Aufnahmen für ihr Abschlussprojekt“, erklärte er, während Etsuko die aufgeregte Menge filmte. Chiaki stöhnte leise und stupste Masaru an, der seine Reaktion nur mit einem Kopfschütteln quittierte. „Okay dann beginnen wir nun“, kündigte er an und ließ die weiße Wand hinter sich anstrahlen. r = a * Phi M-A Minato „Also, so eine Formel hatte ich noch nicht in der Schule“, meldete sich Yasuo zu Wort und starrte wie Mimi zur Wand. Mathe. Damit hatte sie wirklich nicht gerechnet. Verzweifelt sah sie zu den Jungs, die konzentriert zur Wand stierten. „Vor ihnen sehen sie eine Formel. Es ist eine besondere Formel, die auch in der Musik ihre Wichtigkeit hat. Mehr wird jedoch nicht verraten. Ich wünsche ihnen nun viel Erfolg und Spaß bei unserer diesjährigen Schnitzeljagd“, verabschiedete sich der Schuldirektor und ließ alle Mitmachenden ratlos zurück. Eine allgemeine Unruhe zog sich durch die große Runde. Einige schienen schon ein paar Ideen zu haben und entfernten sich von der größeren Gruppe, während Mimi ratlos drein blickte. „Was soll das denn heißen?“, fragte sie hilflos und wandte sich zu den Jungs. Yasuo schien genauso ratlos wie sie, während Chiaki und Masaru fleißig grübelten. Nachdem sich jedoch immer mehr von ihnen entfernten, wurde Mimi immer unruhiger. Kurze Zeit später traf Etsuko wieder bei ihnen ein. „Und habt ihr schon eine Idee? Ein paar sind schon weg“, informierte sie die kleine Gruppe mit Nachdruck. „Warum muss es ausgerechnet Mathe sein?“, knurrte Mimi, als hätte der Veranstalter ihre Matheschwäche gerochen. Am liebsten würde sie diesen Kenzo Watanabe den Hals umdrehen. „Ich glaube, ich hab’s!“, kam es von Masaru und zog direkt die Aufmerksamkeit der anderen auf sich. „Na los, spuck es schon aus“, drängelte Chiaki, doch Masaru veranlasste die Gruppe dazu, ihm unauffällig zu folgen. Als sie ein paar Meter von Schulgelände entfernt waren, unterbreitete Masaru seine Idee. „Kennt einer von euch die Archimedische Spirale?“ Mimi runzelte augenblicklich die Stirn, da ihr diese komische Spirale rein gar nichts sagte. Auch Yasuo schien nur bedingt zu verstehen, was gemeint war. „Wird sie nicht als Speichermedium für Schallplatten und CDs verwendet?“, warf Chiaki neugierig ein. Masaru bestätigte seine Aussage durch ein Nicken. „Genau und das ist die mathematische Formel der Archimedischen Spirale und das da unten muss eine Adresse sein. Minato ist ein Bezirk von Tokio“, schlussfolgerte er scharfsinnig, als Etsuko auf einmal applaudierte. „Wow, du bist echt ein Genie“, sagte sie ein kleinwenig arrogant. „Was machst du eigentlich noch hier? Du weißt doch schon alles und sollst die Schnitzeljagd filmen“, murrte Masaru und fixierte Etsuko mit einem vielsagenden Blick. „Ja, ja, aber trotzdem liegt mein Fokus auf euch und ich wollte nur nochmal Yasuo erinnern, in meiner Abwesenheit, alles mit der kleinen Kamera zu filmen. Das gibt nachher die ultimative Perspektive“, antwortete sie gelassen und wuschelte dem Jüngsten durch die Haare. Masaru verdrehte nur die Augen und widmete sich wieder dem Rest. „Und was soll M-A bedeuten?“, hakte Mimi nach, da sie damit rein gar nichts in Verbindung bringen konnte. Nach einer Weile war Etsuko mit samt ihres Tonassistenten wieder verschwunden, als Chiakis plötzlich eine Eingebung hatte. „Wartet mal, gibt es in Minami-Aoyama, einem der Stadtteile von Minato, nicht so ein Gebäude, dass innen drinnen spiralförmig verläuft?“ „Stimmt, das Spiral Building!“, sagte Masaru und fasste sich an die Stirn. „Da gibt es doch auch immer diese besonderen Kunstaustellungen.“ „Dann muss es das sein!“, beschloss Chiaki überzeugt. „Wir müssen da hin!“ _ Missmutig schleppte sie sich von Ziel zu Ziel. Sie hatte nicht das Gefühl eine sonderlich große Hilfe für die anderen zu sein. Die meisten Rätsel lösten Chiaki und Masaru, während Mimi nur dumm nebendran stand und noch nicht mal verstand, was von ihr verlangt wurde. Nach und nach holten sie immer mehr auf, was ihnen Etsuko freudig berichtete, als sie an einer Zwischenstation ankamen. Vom Ehrgeiz gepackt, stachelten sich die Jungs immer mehr an, während Mimi allmählich das Interesse verlor. Sie hatte es sich irgendwie anders vorgestellt. Die Fragen, die gestellt wurden, deckten sämtliche Bereiche der verschiedensten Disziplinen ab und hatten dennoch immer einen Bezug zur Musik und anderen künstlerischen Fachrichtungen. Sie war frustriert, weil sie so wenig helfen konnte und sich so vorkam, als würde sie ihre Gruppe mehr behindern, als das Gegenteil zu bewirken. Selbst Yasuo hatte eine Aufgabe gefunden, in der er gut war. Er filmte das mit, was Etsuko nicht mitbekam und richtete die Kamera auf alles und jeden. Mittlerweile waren sie auf der Suche nach dem nächsten Hinweis. Es war bereits Abend geworden, als sie den Yoyori-Park erreichten. Das Zentrum des Parks bildete ein riesiger See, um den ringsherum Kirchbäume gepflanzt waren, die noch etwas kahl aussahen. Der Winter war zwar recht mild gewesen, doch Mimi sehnte sich jetzt schon nach ein paar Stunden Sonne am Stück. Schwerfällig ließ sie sich auf einer der Bänke nieder und sah sich um. Mimi konnte sich gut vorstellen, dass hier viele Musik-und Tanzfeste stattfanden und der Park ein anziehender Treffpunkt für viele Musiker war. „Man Mimi, jetzt beweg‘ deinen Arsch hier her! Wir haben den nächsten Hinweis gefunden“, kam es von Masaru, der etwas genervt klang. Mimi seufzte nur leise und bewegte sich langsam zu den anderen. Sie konnte doch sowieso nicht helfen. Sie war viel zu blöd für alles, hatte keine Ahnung von Mathe oder sonstigen Naturwissenschaften. Und auch auf zwischenmenschlicher Basis schien sie komplett versagt zu haben. Vielleicht war es doch keine gute Idee gewesen mitzukommen, auch wenn es Norikos Wunsch war. Niedergeschlagen begab sie sich zu den Jungs, die den Zettel, der an einem Kirchbaum abgebracht war, in ihren Händen hielten. Masaru sah zu Chiaki, so als hätte er keine Ahnung, was es diesmal zu bedeuten hatte. „Willst du ihn dir mal angucken?“, fragte er hoffnungsvoll. Mimi sah zu ihm auf und nickte widerwillig. Wahrscheinlich hatte sie ebenfalls keine Ahnung und würde sich nur lächerlich machen. Doch als sie den Hinweis sah, wurde sie stutzig. Have I gone mad? I'm afraid so. You're entirely bonkers. But I'll tell you a secret. All the best people are. Plötzlich erinnerte sie sich an etwas. An etwas, dass sie verdrängt hatte, weil es zu sehr wehtat. Mimi schluckte und sah zu den Jungs, die ihr neugierige Blicke zuwarfen. „Und? Hast du eine Idee?“ Mimi sagte nichts, sondern nickte nur schwach. Sie wusste genau, wo es als Nächstes hinging. _ „Was ist das denn?“, fragte sie neugierig und klappte den Flyer auf. „Alice in Wonderland?“ Verwirrt richtete sie den Blick zu Noriko, die auf ihrem Bett saß und müde aussah. Doch Alice trieb ihr sofort die Euphorie ins Gesicht. „Ja, das ist ein englisches Theaterstück über die neuen Abenteuer von Alice im Wunderland. Sie kommen nächstes Jahr im März nach Japan, um es aufzuführen!“, erzählte sie begeistert. Mimi lächelte verhalten und klappte den Flyer wieder zu. März. Bis dahin war es noch lange hin. In dieser Zeit konnte noch viel passieren. „Wollen wir da zusammen hingehen? Ist bestimmt voll spannend! Man sieht alle Charaktere auf der Bühne. Den Hutmacher, die Grinsekatze, das weiße Kaninchen, die Herzkönigin und ihre Gefolgschaft. Lass uns da unbedingt hingehen“, sagte sie strahlend, sodass sie für den Moment gar nicht krank wirkte. Mimi presste die Lippen aufeinander und krallte ihre Nägel in das dünne Papier. Sie war sich nicht sicher, was sie sagen sollte, auch wenn ihr Herz ihr eine klare Anweisung gab. „Natürlich, wir werden Alice ganz sicher anfeuern und mit ihr mitfiebern, versprochen.“ Sie erinnerte sich an diesen Moment, so als wäre es erst gestern gewesen. Als Noriko ihr den Flyer zeigte, ging es ihr bereits sehr schlecht. Mimi wusste, dass sie ihr etwas Unmögliches versprochen hatte, aber jede rationale Erklärung, hätte ihre letzten Hoffnungen zerstört – und das konnte sie ihr nicht antun. Alice war ihre Heldin, sie hätte es verdient gehabt, sie live zu sehen. Mit der U-Bahn gelangten sie schnell an den Ort, der Mimi in Erinnerung gekommen war. „Das Theater?“, skeptisch hob Masaru die Augenbraue, da er den Zusammenhang noch nicht verstanden hatte. „Ja, das Theater“, wirbelte Mimi herum. „Die Sätze kamen mir gleich bekannt vor, weil ich sie mal auf einem Flyer gelesen hatte. Ab nächster Woche wird hier die Geschichte von Alice im Wunderland weitererzählt.“ Aus der Ferne konnte man ein großes Plakat erkennen, dass das weiße Kaninchen mit seiner Taschenuhr zeigte. Anerkennend klopfte Masaru ihr auf die Schulter und auch Chiaki und Yasuo schienen beeindruckt. Gerade als sie mit der Suche des nächsten Hinweises beginnen wollten, erschien auch die Gruppe von Hideaki, der überrascht war, schon jemanden anzutreffen. „Na, wen haben wir denn da?“, tönte er überheblich wie immer. „Ist ja interessant, dass wir mal zeitgleich irgendwo eintreffen, sonst wart ihr doch weit hinter uns.“ „Halt deine dumme Fresse“, platzte aus Masaru hervor, der ihn feindselig musterte. „Sitzt dein Strumpfhöschen zu eng, oder warum wirst du so ausfallen?“, grinste er süffisant und sah ihn niederträchtig an. Mimi glaubte sich schon verhört zu haben, doch seit ihre einstige Beziehung in die Brüche gegangen war, hatten sich beide wohl nicht mehr viel zu sagen. Jedenfalls nichts mehr Nettes. „Was ist dein verdammtes Problem? Ich kann wenigstens zu dem stehen, was ich bin und was nicht. Ich ziehe nicht einfach so den Schwanz ein, wenn‘ s Probleme gibt.“ Seine Worte hörte sich nach einer indirekten Anklage an, was Hideaki auch als solche verstand. Er packte ihn am Kragen, fletschte die Zähne, während sich ihre Gesichter immer näher kamen. Chiaki stand angespannt neben Mimi, bereit jeden Augenblick einzugreifen. Auch Hideakis Gefolgschaft beobachtete das Ganze mit Argwohn, hielten sich allerdings vorerst bedeckt. „Ich habe dir schon tausend Mal gesagt, dass du darüber hinweg kommen sollst“, giftete er, ließ ihn jedoch abrupt wieder los. „Lasst uns gehen, die lenken uns nur ab.“ Ohne ein weiteres Wort an Masaru zu verlieren, wandte er sich von ihm ab und ging mit seiner Gruppe zum Eingang des Theaters. Masaru sah ihm immer noch hinterher. Sein Blick wirkte wie eingefroren, sodass Mimi bedacht ihre Hand auf seinen Oberarm legte. Er reagierte nicht sofort, sondern schnaufte nur herzlich. „Darüber hinwegkommen? Er ist doch selbst nicht drüber hinweg“, murmelte er nur und steuerte auf seinen Bruder zu, der die ganze Zeit bereits nach dem nächsten Hinweis gesucht hatte. Mimi blieb immer noch an der Stelle stehen und sah hilflos zu Chiaki, der nur auf sie zugeschritten kam und den Arm um sie legte. „Er kommt schon damit klar, mach‘ dir nicht so viele Sorgen.“ Mimi lächelte nur matt, als Chiaki den Arm von ihr löste und ebenfalls zu den anderen ging. Sie ließ sich ein bisschen Zeit und hörte nur noch, wie Yasuo unvermittelt zu brüllen begann. „Ich hab ihn!“, rief er freudig und kam aus einem nahegelegenen Busch gesprungen. Ein paar kleine Äste hatten sich in seinen Haaren verfangen, als er stolz den kleinen Zettel in die Lüfte hielt. „Na los mach‘ ihn schon auf“, drängelte Masaru und riss ihn Yasuo förmlich aus der Hand, weil er zu langsam war. Treue war seine hervorstechendste Charaktereigenschaft. Wartete Tag für Tag aufs Neue, bis der Tod ihn mit seinem Besitzer vereinte. Doch noch heute, ist er dort zu finden, wo er einst wartete. „Und was soll das schon wieder heißen?“ Es war der letzte Hinweis und wohl auch der Schwerste von allen. Sie grübelten gemeinsam, doch keiner schien darauf zu kommen, was damit gemeint war. „Wir müssen uns beeilen, nachher sind sie noch vor uns da!“, nörgelte Masaru und hatte die andere Gruppe stets im Blick. Nach und nach trudelten weitere Teilnehmer ein und machten sich auf die Suche nach ihren Zetteln. Es war wichtig unter die ersten vier zu kommen, die nochmal in einem Art Showdown aufeinander trafen. Meist wurde gegeneinander gesungen, doch das durfte man nur, wenn man rechtzeitig am letzten Standort ankam. „Was meinen die denn mit Besitzer? Ich bin gerade völlig überfragt“, gab Chiaki zu und rieb sich die Stirn. „Vielleicht meinen sie ja Hachiko“, sagte Yasuo auf einmal. „Der hat doch auch immer auf sein Herrschen gewartet, bis er gestorben ist. Und jetzt gibt es dort die Hundestatue.“ Alle drei sahen sich kurz argwöhnisch an und schienen zu überlegen, was Yasuo gerade gesagt hatte. „Das ist genial! Natürlich!“, kam es von Masaru, der auf Yasuo zustürmte und ihm fast die Kamera aus der Hand warf. Er drückte ihn fest an sich und zupfte ein paar Äste aus seinen Haaren. „Wir sollten los!“, bestimmte er ohne jeden Zweifel. „Wir werden das Ding hier gewinnen.“ _ Als sie die Hundestatue erreichten, sahen sie bereits, wie Etsuko ihnen freudig zuwinkte und die Kamera auf sie gerichtet hatte. „Ihr seid die Zweiten“, rief sie fröhlich, während Mimi schnaufend ausatmete. Ihre Lunge brannte wie Feuer und ihr wurde mal wieder bewusst, wie wenig Sport sie gemacht hatte. Masaru hatte sie regelrecht zum Treffpunkt gehetzt, sodass Mimi keine Zeit zum Verschnaufen hatte. „Und was passiert jetzt als Nächstes?“, wollte Yasuo wissen und erspähte aus der Ferne einen Kleinbus, der auf der anderen Straßenseite parkte. „Jetzt heißt es erstmal warten“, meinte Etsuko und schaltete die Kamera aus. Kota seufzte erleichtert und fuhr sich über seine schweißnasse Stirn. Er sah aus, wie durch die Mangel gedreht und schenkte Etsuko den ein oder anderen bösen Blick. „So eine Hexe“, zischte er, als sie außer Reichweite war. Mimi musste grinsen und konnte sich durchaus vorstellen, das Etsuko anstrengend sein konnte. Sie war eben eine Perfektionistin, die sich nur mit dem Besten zufrieden gab. Nach und nach tauchten weitere Gruppen auf. Direkt nach ihnen trafen Sense of Rhythm ein, die sich automatisch für das große Finale qualifizierten. Keiner hatte eine Ahnung, was sie erwartete, alle wussten nur, dass es etwas mit Musik zu tun hatte. „Und wie geht es jetzt weiter?“, fragte Mimi und lehnte sich gegen eine Mauer. Als hätte er diesen Moment abgewartet, tauchte plötzlich Kenzo Watanabe hinter dem Kleinbus auf. Mimis Augen weiteten sich und ihr Herz stockte. „Oh mein Gott, das ist er!“, rief sie und deutete zur Mitte. Eine große Menschentraube bildete sich unvermittelt und Mimi drängelte sich mit den anderen nach vorne. „Herzlich Willkommen“, begrüßte Kenzo sie und war nach Mimis eigenem Empfinden etwas zu kurz geraten. „Es freut mich, dass ihr alle wohlbehalten hergefunden habt! Allerdings gab es auch diesmal vier Gruppen, die besonders schnell waren”, führte er fort und las die Namen laut vor. Man meldete sich generell als Gruppe an, was Noriko schon für sie erledigt hatte. Die meisten waren bereits schon bestehende Bands, oder spielten zusammen im Schulorchester. Gespannt richtete Mimi den Blick auf diesen faszinierenden kleinen Mann, der die letzte Aufgabe erteilte. „Der Fokus liegt auf der Musik. Es ist das, was sie alle miteinander verbindet…daher zeigen sie, was sie können. Werden sie kreativ! Sie haben eine Stunde Zeit! Instrumente sind reichlich im Kleinbus vorhanden und wurden von der Stadt Tokio zur Verfügung gestellt. Viel Erfolg!“, er grinste und verschwand aus dem Mittelpunkt des Geschehens, als das Gerede untereinander begann. „Ihr wisst, welchen Song wir spielen, oder?“, hakte Masaru dringlich nach. Allen sahen sich untereinander an, brauchten aber nicht zu antworten, da jeder wusste, dass es das Richtige war. Der Song war perfekt. Von der Euphorie getrieben, versammelten sich die letzten vier Gruppen vor dem Kleinbus, der die entsprechenden Instrumente rausgab. Es wurden nur Akustikinstrumente verteilt, die die Unverfälschtheit der Musik fördern sollten. Alles sollte eine stabile robuste Klangmauer ergeben, die nichts zum einstürzten bringen konnte. Nach kurzen Absprachen begann das große Finale. Etsuko stellte sich wieder auf Position und drangsalierte Kota herum, der auf einen guten Ton achten sollte. Alle Unbeteiligten standen in einem großen Kreis, in der Nähe der Hachiko Statue, während sich die vier übriggebliebenen Gruppen startklar machten. Mimi wurde immer nervöser und ihre Hände fingen an zu schwitzen, als sie feststellte, dass nur die Besten der Besten vertreten waren. Wie der Zufall es wollte, waren sie die dritte Gruppe, die noch vor Sense of Rhythm antreten durfte. Doch Mimi wurde immer unsicherer, je mehr Strophen, kreative Soloparts mit Rapeinlage und interessante Musikeinlagen sie hörte. Sie sah kurz zu Hideaki, der verbissen auf seinem Daumennagel herumkaute. Auch er musste wohl feststellen, dass sie anderen Bands alles andere als schlecht waren. Und jeder wollte gewinnen. Gerade als die zweite Gruppe angefangen hatte zu spielen, sanken Mimis Hoffnungen ins Bodenlose. Mit einer interessanten Mischung aus modernen und traditionellen Instrumenten, brachten sie das Publikum zum Ausrasten. Auch Mimi musste zugeben, dass sie die Mischung zwischen Geige, Gitarre und modernen Rap äußerst faszinierend fand. Doch sie wollte nicht verlieren. Sie durften nicht verlieren. Nicht nachdem sie sich vorgenommen hatte, das Geld für etwas Sinnvolles auszugeben. Traurig verfolgte sie den Gig und bemerkte erst gar nicht, wie jemand ihre Schulter berührte. Sie schnellte herum und runzelte die Stirn, als sie auf einmal Hideaki neben sich sah. „Bevor du was sagst, hör‘ mir einfach zu, okay?“ Verwirrt hielt sie inne und spitzte gespannt die Ohren. „Ich schätze mal, dass ihr genauso gewinnen wollt wie wir“, sagte er geheimnisvoll und zog sie etwas weiter nach hinten. „Ich hätte ein Plan, wie wir beide profitieren könnten.“ _ Sie stand in der Mitte und atmete unruhig. Sie blickte hinter sich und sah wie Masaru sie kurz fixierte. Mimi konnte sich vorstellen, dass er die Idee alles andere als gut fand, aber er musste sie verstehen. Sie tat es ja schließlich nicht für Hideaki, sondern für sie. Angespannt nickte sie den Jungs zu, die sich bereit machten. Dann richtete sie ihren Blick wieder nach vorne, schloss die Augen und kontrollierte ihren Puls. Sie hörte wie die Gitarre einsetzte und ihr eine Richtung wies. Sie öffnete die Augen, richtete sie weit in den unendlichen Nachthimmel, als die Musik sie erfasste und mit sich trug: Flashing lights and we Took a wrong turn and we Fell down a rabbit hole. I want to hide the truth I want to shelter you But with the beast inside There's nowhere we can hide Mimi drehte sich zu der Stimme, die ertönte. Die gesamte Aufmerksamkeit wurde darauf verlagert und von Mimi gewandt, die sich auf die verschiedenen Klänge und Töne konzentrieren musste, um ihren Einsatz wiederzufinden. Aus der Menge trat Hideaki, der sie fast schon provokant herausforderte, gegen ihn zu singen. Der Rest seiner Band formierte sich und stand ihnen gegenüber, als Mimi forsch voranschritt und direkt vor ihm zum Stehen kam. Sie stemmte die Hände in die Hüfte und lächelte überlegen. Der Krieg konnte beginnen. But darling, we found wonderland You and I got lost in it And we pretended it could last forever When you feel my heat Look into my eyes It's where my demons hide Es war ein Kampf, um Stärke und Schwäche. Um Gewinn und Verlust. Doch nur gemeinsam hatte sie eine Chance zu gewinnen. Sie standen zu acht in dem kleinen Kreis, begegneten sich stimmlich immer wieder aufs Neue, dominierten einander, spielten mit ihren Reizen, die in Form ihrer harmonievollen Stimmen miteinander tanzten. Mimi hob die Arme, ging rückwärts und gesellte sich zu den Jungs, die eine Einheit gegen die anderen bildeten. Hideaki blieb in der Mitte stehen, teilte sein Anliegen durch seinen lyrischen Text mit, schritt zurück und machte erneut Platz für Mimi, die sich besonders vor der nächsten Strophe fürchtete. Es waren nicht ihre Worte, die sie sang. Sie bedeuteten so viel mehr, als das. Es war ein Versprechen, dass sie einhalten wollte. Es waren ihre letzten Worte. Sie ging auf Hideaki zu, tippte ihm kraftvoll gegen die Brust und musterte ihn vielsagend. Ihre Kehle brannte und sie bekam unheimlichen Durst, der ihr nur ihre eigene Angst klar werden ließ. Das so viel Wahrheit in ihren Sätzen lag. Sie hatte ihr die Inspiration geliefert, ihr praktisch die Worte in den Mund gelegt, da sie genau wusste, was Noriko mit diesem Song bezweckt hatte. Sie war gegangen, doch blieb unvergessen. Sie lebte weiter. War ein Teil des Himmels geworden, der nun auf sie herabschaute und diesen Moment möglicherweise mehr genoss als sie. Allein deswegen, konzentrierte sie sich genau auf die Worte, die sie sang. Füllte sie mit all ihrer Liebe und brüllte sie in die Welt, damit jeder sie hören konnte. I reached for you but you were gone I knew I had to go back home You search the world for something else to make you feel like what we had And in the end in wonderland we both went mad. Your eyes, they shine so bright I want to save their light I can't escape this now Unless you show me how Mimi spürte sämtliche Gefühle auf die niederprasseln. Sie war gepackt von Wut, Schmerz, Trauer aber auch Hoffnung, die alles andere ausschaltete. Vollkommen beflügelt, zauberte sich ein Lächeln auf ihre Lippen. Sie fühlte den Rückhalt, den ihr Masaru und die anderen gaben. Glücklich sah sie zu Etsuko, die fast vorm Ausrasten stand. Es war wie ein Befreiungsschlag, der alles Negative und Schlechte zerstörte und ihrer Seele die Chance zur Heilung gab. Das Leben war nie leicht. Es hatte Höhen und Tiefen, beinhaltete Schmerz und Trauer, aber auch Hoffnung und Liebe. Und wenn Mimi sah, wie viele Menschen es gab, die sie liebten und dies auch mit all ihren Fehlern taten, machte es sie unsagbar glücklich im hier und jetzt zu leben. Es war nicht leicht, nein. Aber das war okay. Daher bereitete sie ihre Arme aus, spürte den Wind, der ihre Haare zerzauste und sang mit voller Gefühl die letzten Zeilen des Songs, der ihr die Stärke gab, loszulassen. We found wonderland You and I got lost in it And we pretended it could last forever Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)