The Story of a Bastard Child von dattelpalme11 ================================================================================ Kapitel 59: Die Geschichte meiner Schwester ------------------------------------------- Gedankenverloren stand sie am Fenster und starrte in die dunkle Nacht. Sie fuhr sich über ihr zerzaustes Haar und seufzte leise. Ihr schlechtes Gewissen holte sie ein, da sie ohne sich richtig von Sora und Matt zu verabschieden, ihre Party verlassen hatte. Mimi war regelrecht getürmt, weil sie es einfach nicht mehr ausgehalten hatte. Ihre Gefühle standen Kopf und tanzten wie wild durch ihren ganzen Körper. Sie legte die Lippen fest aufeinander, als er plötzlich von hinten die Arme um sie schlang und ihren Hals mit Küssen benetzte. „Das kitzelt“, kicherte sie und streichelte über seine maskulinen Unterarme. Mimi genoss es in seinen starken Armen zu liegen und bettete ihren Kopf gegen seine Schulter, als er sie kurzer Hand zu sich drehte, hingebungsvoll küsste und zurück aufs Bett zog. Sie lag zwischen seinen Beinen und fasste mit den Fingern in seine wilde Mähne, als er über ihre Lippen leckte und um Einlass bat. Sie öffnete den Mund leicht und ließ seine Zunge gewähren. Ihre Spitzen berührten sich fordernd, bis sie im Einklang miteinander tanzten, sich ihren Empfindungen vollends hingaben. Mimi spürte die aufkommende Hitze zwischen ihren Beinen, die ihr signalisierte, dass sie so viel mehr wollte, als nur mit ihm rumzuknutschen. Er setzte sich leicht auf, platzierte sie auf seinem Schoss und wanderte mit seinen Küssen ihren Hals hinunter. Sie legte den Hals lustvoll in den Nacken, als er sich an einem empfindlichen Punkt festsaugte und ihn mit der Zunge liebkoste. Gefangen in ihrer Sehnsucht spürte sie seine wachsende Erregung deutlich unter sich und senkte langsam ihr Becken, sodass er genießerisch seufzen musste. Er wanderte mit beiden Händen unter ihr Shirt und wollte es sachte nach oben schieben, als sie überraschend stoppte und ihn mit geröteten Wangen anstarrte. „Ich glaube, dass wäre keine so gute Idee“, murmelte sie außer Atem und drückte ihre Stirn gegen seine. „Schon okay“, antwortete er lächelnd, „gib‘ mir einfach einen Moment, um mich wieder zu beruhigen.“ Er grinste schwer atmend, als Mimi von ihm herunterkletterte und sich neben ihn aufs Bett setzte. Einen kurzen Moment später lehnte er sich wieder zu ihr, um ihr einen kurzen Kuss auf die Lippen zu hauchen und sie in eine Umarmung zu ziehen. Mimi legte den Kopf auf seine Brust und lauschte dem gleichmäßigen Schlagen seines Herzens, währendem er ihr behutsam über den Kopf streichelte. „Vielleicht sollte ich bald nach Hause gehen“, murmelte er verhalten und wirkte ein wenig müde, als Mimi zu ihm hochschaute. „Ich will nicht, dass du gehst“, sagte sie nachdrücklich und krallte ihre Fingernägel in sein Shirt. „Ich weiß, aber du machst es mir gerade echt nicht leicht“, antwortete Tai ein wenig wehleidig. Mimi grinste nur und verstand sofort, was er meinte. Verspielt zog sie Kreise auf seiner Brust und schien ihn damit in den Wahnsinn zu treiben. „Wann ziehst du eigentlich um?“, fragte sie unvermittelt, um vom eigentlichen Thema abzulenken. „Ende nächster Woche“, erwiderte er matt und rieb sich den Schlaf aus den Augen. „Wie wird es dann mit uns weitergehen?“, murmelte sie gegen seine harte Brust und vergrub ihr rötliches Gesicht in seinem Shirt. „Mhm, das werden wir sehen. Wir bekommen das sicher schon hin. Am Wochenende werde ich wohl meistens nach Hause kommen und kann dich nachts besuchen“, sagte er unverschämt grinsend. Mimi musste lächeln und sah ihn herausfordernd an. „Das hättest du wohl gerne, mein Lieber.“ „Klar, ich hätte kein Problem mit so einer entzückenden Person das Bett zu teilen“, raunte er und beugte sich zu ihr hinunter. Sie musste über seine Worte schmunzeln und strich ihm sanft einige Haarsträhnen aus seinem markanten Gesicht, als er sie ohne Vorwarnung zu kitzeln begann. Sie krümmte sich vor Lachen, konnte aber einfach nicht den Blick von ihm wenden, da so viel Wärme in seinen Augen lag. In diesem Moment wusste sie, er Recht hatte. Sie würden es schon irgendwie hinbekommen. _ „Was hast du denn da an? Du versinkst ja in dem Ding“, meinte Masaru stirnrunzelnd und betrachtete Mimi skeptisch. Mimi kuschelte sich allerdings noch ein wenig mehr in die braune Strickjacke, versuchte einerseits ihre rötlichen Wangen vor den anderen zu verbergen, andererseits wollte sie seinen Duft einatmen. Tai hatte ihr seine Jacke überlassen, die sie fast jede freie Minute trug, wenn er nicht bei ihr war. Mittlerweile war er ins Wohnheim gezogen und hatte bereits die ersten Uniwochen hinter sich gebracht. Leider sahen sie sich nur an den Wochenenden, weshalb sie beschlossen hatten, es langsam anzugehen und ihre gemeinsame Zeit in vollen Zügen zu genießen. Auch Sora war bereits schon ein paar Wochen in Paris und meldete sich nur gelegentlich bei ihr. Mimi hatte noch die Gelegenheit gehabt, sich kurz von ihr zu verabschieden, auch wenn ihr Abschied kühler ausfiel, als sie erwartet hatte. Doch darüber wollte sie sich keine Gedanken machen, da sie sich selbst in einem Art Glücksrausch befand und beschlossen hatte, das Positive zu sehen, auch wenn es ihr etwas komisch vorkam. Matt war tatsächlich mit Hideakis Band auf Tour gegangen, was sie sogar in der Zeitung nachlesen konnte. Von Tai wusste sie bereits, dass sie ihre Tour in Los Angeles starten wollten. Doch heute sollte etwas ganz anderes im Fokus stehen. Etsuko hatte sie alle eingeladen, da ihr Abschlussprojekt mit Bestnote ausgezeichnet wurde und mit anderen Projekten in der Aula der Kunsthochschule vorgeführt werden sollte. Gemeinsam mit den Jungs, wartete sie auf den Einlass und hörte Masaru und Chiaki gespannt zu, wie sie über die Uni redeten. Beide wurden auch an der Tokai Universität angenommen und suchten zurzeit nach einer gemeinsamen Wohnung, da besonders Masaru auf eigenen Beinen stehen wollte und Abstand zu seinem Vater suchte. Yasuo war an die Oberschule gewechselt und berichtete euphorisch von seinem Beitritt in den Medien-und Audioclub seiner Schule. Auch Mimi machte einige Veränderungen durch, da sie sich jetzt im Abschlussjahrgang befand und sich mit ihrer Zukunft auseinandersetzen musste. Sie war noch relativ planlos, aber sie war sich sicher, dass sie schon eine Idee ausarbeiten würde. Heute wollte sie sich voll und ganz auf diesen besonderen Abend und Noriko konzentrieren. Sie hatten alle nur Ausschnitte des Films gesehen und Mimi war sehr auf das Endresultat gespannt. Doch kurz bevor sie reingelassen wurden, bat Masaru sie kurz mit ihm mitzukommen. Verwirrt folgte sie ihm und ließ Chiaki und Yasuo genauso irritiert zurück. Er schleifte sie in eine abgelegene Ecke des Campus und sah sie etwas zurückhaltend an, als er etwas aus seiner Jackentasche hervorzog. „Was ist das?“, fragte Mimi verwundert, weil sie es nicht gleich erkannte. Doch ihre Augen weiteten sich augenblicklich als das Licht darauf schien und die Schrift reflektierte. Fassungslos klappte ihr Mund auf, während sie angesäuert die Arme vor der Brust verschränkte. „Masaru!“, grummelte sie bedrohlich, wurde aber direkt von ihm unterbrochen. „Bevor du anfängst zu schimpfen, sie hat mich darum gebeten, dass ich dir die Briefe nach einer bestimmten Zeit gebe. Ich wusste nicht, was drin steht, sondern sollte sie einfach nur bei der Post abgeben. Nur den letzten sollte ich dir persönlich überreichen“, erklärte er und reichte den Umschlag an sie weiter. Verhalten nahm sie das raue Papier entgegen und sah etwas verängstigt zu Masaru, der einen Schritt auf sie zukam und seine Hände sanft auf ihren Schultern platzierte. „Du solltest ihn lesen. Es ist der Letzte und demnach etwas ganz besonders. So wie du“, sagte er und drückte ihr einen Kuss auf sie Stirn. Dann ging er wortlos an ihr vorbei und ließ sie alleine zurück. Hilflos starrte Mimi ihm nach, betrachtete mit Ehrfurcht erfüllt den Umschlag, als sie sich dazu entschied ihn aufzumachen. _ Liebe Mimi, Vergebung ist ein schwieriger Prozess, der manchmal sogar Jahre andauern kann. Ich hätte nie im Leben erwartet, dass ich einer Person verzeihen kann, sie mich seit meines Lebens nur enttäuscht hatte. Aber mittlerweile verstehe ich, dass alles seine zwei Seiten hat, wie eine Medaille. Es ist nicht alles eindeutig, sondern meist hochkomplex und sehr verstrickt, dass man manchmal den Überblick komplett verliert. Doch man sollte alles dran setzen, sich seinen eigenen Überblick wiederzubeschaffen. Sich beide Seiten anhören und erst dann ein Urteil bilden. Und genau das habe ich getan. Du weißt nichts davon und es wird doch wohl genauso überraschen, wie es damals mich überrascht hatte. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte, auch als er sich bei mir entschuldigte und sagte, er wünschte es sei anders gekommen. Unter Tränen gestand er mir, dass er in letzter Zeit oft an mich gedacht hatte und es bereute nie einen Schritt auf mich zugegangen zu sein. Er erzählte mir die unendliche Geschichte über Zweifel, Leid, Herzschmerz und Vergebung. Ich hörte zu, bekam eine Einsicht in seine Lebenslage und erkannte, dass er euch, deine Mutter und dich, nicht verlieren wollte. Er hatte geahnt, dass alles den Bach runtergehen würde, wenn jemals die Wahrheit als Licht käme. Aber er bereute auch. Er gestand sich seine Fehler ein, erklärte glaubwürdig, dass er damals nicht wusste, was wirkliche tiefe Liebe war. Er fand es erst mit den Jahren heraus, indem er sich ein Leben mit dir und deiner Mutter aufbaute und dieses lieben lernte. Ich weiß, dass ich nie zu seinen Plan gehörte. Dass, das mit meiner Mutter nichts Ernstes war, auch wenn sie es damals vielleicht anders sah. Doch man kann Fehler nicht ändern, sie passieren, lassen uns reifer werden und daran wachsen. Selbstverständlich, habe ich mir immer einen Vater gewünscht, der mich liebt und als seine Tochter akzeptiert. Doch das wollte ich nicht von ihm. Er war ein Fremder für mich und den Menschen, den ich all die Jahre als meinen Vater angesehen hatte, wollte mich nicht mehr. Auch wenn ich ihn nicht ersetzen wollte. Im Nachhinein wurde mir klar, dass ich viele Dinge wollte, die nicht richtig zusammenpassten. Ich wollte deine Familie nicht kaputt machen, habe dies aber nicht gescheut, um dich besser kennen zu lernen. Ich wollte dich kennen lernen und nicht den Mann, der mich gezeugt hatte. Ein Kind zu machen ist einfach, aber ein Vater zu sein, umso schwerer. Ich weiß, dass er bei dir gute Arbeit geleistet hat. Er hat dich zu einem wundervollen Menschen erzogen, der mit mir einen wichtigen Weg gegangen ist. Ich kann dir nicht vorschreiben, es nochmal mit ihm zu versuchen, aber denk‘ daran, er ist dein Vater. Er war für dich da, wenn du ihn gebraucht hast. Hasse ihn nicht, weil er nicht mein Vater sein wollte. Rede mit ihm, stell‘ dich deinen Fragen und er wird bereit sein, dir die Antworten zu geben. Ich hingegen, werde immer ein Auge auf dich haben. Dich vor Gefahren schützen, dich auf deinem Weg begleiten, dein Schutzengel sein. Uns wird immer etwas miteinander verbinden. Und das kann nichts auf dieser Welt ändern. Für immer. In aufrichtiger Liebe Noriko _ Mit feuchten Augen ging sie in die Aula und fuhr sich immer wieder mit dem Jackenärmel darüber, auch wenn sie von der rauen Wolle etwas brannten. Sie war überwältigt, wusste gar nicht so wirklich, was sie dazu sagen sollte. Ihre Gefühle standen Kopf, sodass sie sie nicht einordnen konnte. Ein wenig desorientiert lief Mimi durch die Halle, sah kurz auf ihre Platzkarte und suchte die Reihe auf, in der sie zusammen mit den Jungs saß. Tatsächlich fand sie Masaru, Chiaki und Yasuo dort vor, die sich angeregt zu unterhalten schienen. „Also ich finde ihn ja sehr nett, aber wie kann man nur so verknallt sein? Er redet ohne Punkt und Komma von seiner Freundin“, erzählte Masaru überschwänglich und gestikulierte wild umher. Mimi lächelte leicht und schritt näher heran. Sie konnte sich bereits denken, dass Masaru von seinem neuen Kommilitonen sprach, den er am zweiten Tag an der Uni kennenlernte. Beide verstanden sich auf Anhieb so gut, dass Mimi interessiert nachfragte, ob Masaru vielleicht sogar Chancen bei ihm hätte. Doch leider hatte sein neuer Kumpel bereits eine Freundin, von der er tagtäglich schwärmte. Mimi hoffte allerdings, dass auch Masaru irgendwann sein Glück finden würde. „Hey Mimi, da bist du ja endlich“, begrüßte Chiaki sie und der Rest drehte sich zu ihr. Masaru musterte sie besorgt, da ihre Augen wohl rot angelaufen waren. „Ist alles okay?“, stellte er gleich die Frage und nahm ihre Hand. Mimi nickte verhalten, als Yasuo eins auf rutschte und sie sich neben Masaru setzten konnte. „Mir geht es gut“, versicherte sie ihnen geschwächt. Sie sah sich in der Halle um und erkannte Etsuko vorne bei den anderen Absolventen sitzen, als sich Chiaki zu ihr rüber beugte. Masaru hielt noch immer ihre Hand und drückte sie leicht, um ihr zu signalisieren, dass er für sie da war. Sie schenkte ihm einen kurzen dankbaren Blick, als Chiaki sie auf zwei Personen, vier Reihen vor ihnen, aufmerksam machte. „Etsuko hat auch Ayame und ihren Vater eingeladen. Guck‘ da unten sitzen sie“, zeigte er und winkte ihnen zu. Ayame lächelte ihnen zu, als auch Mimi ihr einen kurzen Gruß zuwarf. Sie sah um einiges besser aus und verbrachte viel Zeit mit Etsuko und ihrer Familie. Auch mit ihrer Mutter hatte sie sich in letzter Zeit öfters verabredet gehabt. Zwar hatte Ayame noch immer nicht ihr Gleichgewicht zurückerhalten, aber sie war auf einem guten Weg, es zurückzuerlangen, auch wenn es schwer war. Eine allgemeine Unruhe herrschte dem Saal, als auf einmal das Licht gedämmt wurde und sich die Leute allmählich auf ihren Plätzen bequem machten. Etsukos Film war der Erste, der gezeigt werden sollte. Gespannt richtete Mimi ihre Augen auf die Leinwand, die hinter ihnen angestrahlt wurde und langsam ein Bild zeigte. Nach einer kurzen Begrüßung wurde der Film auch schon abgespielt. „Was ist dein größter Wunsch?“, fragte eine unbekannte Stimme und zeigte ein junges Mädchen, das im Schneidersitz auf einem Krankenhausbett saß. Sie grinste in die Kamera und spielte nervös an der Kanüle, die an ihrem Handgelenk befestig war. Ihre Glatze glänzte und ihre Augen begannen zu leuchten, als sich ihre trockenen Lippen leicht kräuselten. „Mein größter Wunsch?“, sie warf den Kopf nach hinten und kicherte leise. „Das weißt du doch genau, Etsu!“ „Na und? Sag es bitte nochmal in die Kamera! Für die Nachwelt!“, ertönte die Stimme erneut und klang herausfordernd. Grübchen bildeten sich auf dem matten, sehr kindlich wirkenden Gesicht. „Mein größter Wünsch ist es, irgendwann meine Schwester kennen zu lernen!“ Ihr stockte der Atem und sie spürte unter ihrer Jacke eine zarte Gänsehaut aufziehen. Damit hatte sie nicht gerechnet. Es zeigte ihre dreizehnjährige Schwester, die um ihr Leben kämpfte und ihren größten Wunsch äußerte. Mimi hatte nicht erwartet, dass sie ihr größter Wunsch war. Sie legte die Lippen aufeinander und starrte berührt zur Leinwand. Ihr zaghaftes Lächeln brannte sich ein und ließ die Sehnsucht in ihr hochkommen. Sie konnte sie nicht mehr umarmen, ihr sagen, wie gern sie sie hatte…sie konnte nur noch in Erinnerungen schwelgen, die immer noch sehr wehtaten. Kurz wandte sie das Gesicht von der Leinwand und fuhr sich mit den Fingern leise schluchzend über ihre nassen Augen. Sie kniff sie zusammen, als sie merkte, dass Masaru ihre Hand fester drückte. Sie versuchte sich zusammenzureißen, doch ihre Worte hallten in ihrem Kopf, ließen sie nicht mehr los und verfolgten sie bis in die Tiefe ihres Herzens. Erst bekam sie die Dokumentation gar nicht mehr richtig mit, bis sie ihre eigene Stimme vernahm. Überrascht sah sie wieder hin und sah Szenen, die sie bei einem gemeinsamen Abend zeigten. Wie sie lachten und Witze rissen. Wo die Welt noch in Ordnung war. Bilder blitzen auf, zeigten sie auf dem Weg zum Fuji, wie sie fluchtend an Masaru vorbei zog, oder alle gespannt da saßen und den goldenen Sonnenaufgang beobachten. Mimi fühlte sich jedoch nur leer, war von einem stumpfen Schmerz umhüllt, der ihr Herz in der Hand hatte und es schmerzvoll zusammendrückte. „Bist du bereit?“, fragte sie verunsichert, so als wollte sie versuchen, es ihr auszureden. Sie betrachtete ihr Spiegelbild und sah immer wieder zu dem Gegenstand, den sie in ihren Händen hielt. Sie saß vor ihr, ihre langen braunen Haare hingen lasch nach unten und hatten ihren Glanz schon längst verloren, als sie leise seufzte. „Lass‘ es uns hinter uns bringen“, murmelte sie und kämpfte mit ihren eigenen Tränen, die in ihren Augen aufstiegen. „Bist du dir auch wirklich sicher?“, hakte sie ein letztes Mal nach. „Ja! Und jetzt mach‘ bevor ich hier komplett in Tränen ausbreche“, forderte sie sie auf und man hörte das Surren des Apparats, den sie langsam über den Schädel des Mädchens gleiten ließ. Sie presste die Lippen aufeinander und weinte stumme Tränen, als die ersten Haare auf den Boden fielen und ihren kahlen Kopf präsentierten. Ein Schluchzen überkam sie, sodass sie ihre Hand gegen ihren Mund drückte. Das Mädchen mit der Haarschneidemaschine hielt inne und sah traurig in den Spiegel. „Noriko, ich…“, begann sie unsicher und sah zur Kamera, die auf sie gerichtet wurde. „Ist in Ordnung! Das gehört dazu, mach‘ einfach weiter“, sagte sie mit erstickter Stimme und fuhr sich über ihre feuchten Augen. Einen kurzen Moment hielt das Mädchen inne, sah auf sie hinab, bis sie die Maschine erneut an ihrem Kopf ansetzte und sanft darüber fuhr. Es wurde ganz still, so als würde diese Szene immer noch den Raum erfüllen und in Schweigen hüllen. Es war so intensiv, es nochmal zu durchleben, dass Mimi sich kaum zurückhalten konnte. Sie konnte sich noch genau daran erinnern, wie schwer ihr dieser Schritt gefallen war und wie sehr sie es bedauerte, Norikos langen braunen Haare abzurasieren. Es dauerte nur wenige Minuten, als sie auf einmal ihre Glatze berührte und sich sanft über den Kopf fuhr. Noriko versuchte stark zu sein, auch wenn es ihr schwer fiel. Keine Frau trug gerne eine Glatze. Haare konnten viel verändern, dem Gesicht schmeicheln und Vorzüge hervorheben. Wenn man keine mehr hatte, fühlte man sich nur nackt und angreifbar. Und so wollte sich keiner fühlen. Die Szene wurde ausgeblendet und zeigte auf einmal den ersten Auftritt, den sie in Rens Bar hatten. Es fühlte sich komisch an, sich auf einmal auf einer großen Leinwand zu sehen und zu erkennen, dass man die Macht hatte, Menschen zu bewegen. Mimi hatte damals gar nicht richtig wahrgenommen, wie sehr sie das Publikum mitgerissen hatte. Sie spürte plötzlich ein unfassbares Glückgefühl durch ihren Körper strömen, als die Kamera unvermittelt auf Noriko und Chiaki zoomte und zeigte, wie sie sich liebevoll küssten. Mimi richtete den Blick zu Chiaki, der gebannt auf die Leinwand stierte und sich komplett in einer anderen Welt befand. Es war wie Magie. Das Stillstehen der Zeit. Eine Momentaufnahme des Lebens. Sie lächelte, als er ihr gegenüberstand und ihre Hand hielt. Sie trug ein wunderschönes knielanges Kleid, das mit blauer Spitze ihr Dekolleté umrandete. Das frische Make-up brachte Farbe in ihr Gesicht und ließ es erstrahlen. Die braunen langen Haare lockten sich leicht und ein buntes Blumenhaarband schmückte ihren Kopf. Er sah sie an, als könnte er keine Sekunde den Blick von ihr wenden. Zart fuhr er über ihre Arme und erreichte ihr rosiges Gesicht. Er fuhr liebevoll über ihre Wange, als dieser intime Momente durch eine tiefe Stimme unterbrochen wurde. „Sie müssen zuvor noch die Ringe tauschen“, sagte der Mann, der kurz im Fokus des Bildes lag. Beide begannen zu kichern, nahmen die Ringe entgegen und steckten sie dem jeweils anderen an den Ringfinger. „Hiermit erkläre ich sie offiziell zu Mann und Frau. Jetzt dürfen sie auch endlich ihre Braut küssen“, sagte der Mann mit einem Zwinkern und trat aus der Mitte. Die Kamera war auf die beiden Liebenden gerichtet, die ihr Glück nicht weiter verbergen konnten. Sanft legte er die Hände um ihren zierlichen Körper und zog sie näher an sich heran, als er voller Liebe, die Lippen auf ihre legte. In diesem Augenblick drehten sich Ayame und Ren und zu ihnen und musterten Chiaki geschockt. „Jetzt wissen sie wohl Bescheid“, murmelte Masaru und klopfte ihm auf den Oberschenkel. Doch seine Augen waren nach vorne gerichtet. Er schien nichts mehr mitzubekommen, sondern beobachtete den Moment des Glücks schweigsam. Er kaute angespannt auf seiner Unterlippe herum, versuchte sich seine Trauer nicht anmerken zu lassen. Mimi beäugte ihn jedoch kritisch, konnte sich vorstellen, wie er sich fühlte. Langsam beugte sie sich über Masaru hinweg, der sie nur mit großen Augen begutachtete. Sie ertastete Chiakis Arm und fuhr zärtlich zu seiner Hand, die er leicht geöffnet hatte. Er senkte den Kopf, umfasste ihre und schenkte ihr einen von Trauer erfüllten Blick. Es war nicht leicht, all das ein zweites Mal zu durchleben. Egal, ob die Momente schön oder bedrückend waren, es zeigte all das, was sie gemeinsam erlebten. All die winzigen, aber dennoch wichtigen Abschnitte von Norikos Leben. Selbst nach ihrem Tod bildeten sie eine gemeinsame Einheit, die mit Leidenschaft die gemeinsame Schnitzeljagd bestritten, in den einzelnen Sequenzen den Hinweisen hinterher jagten und im großen Finale, sich der Liebe zur Musik hingaben. Norikos letzten Song gemeinsam performten, ihn mit Leben fühlten und zeigten, dass ein Teil von ihr immer noch da war und für immer da sein würde. Der Film endete mit einem herzlichen Lachen. Zeigte sie mit ihrer Mütze und ihrem Beatmungsgerät, dass das Ende voraussehen ließ. Dann wurde der Hintergrund schwarz und es dauerte einige Minuten, bis etwas geschah. Langsam kam das Bild zurück und zeigte einen weißen Hintergrund, vor dem Masaru auf einmal Platz nahm. „Du hast mir gezeigt, dass es wichtig ist, zu sich selbst zu stehen und man sich nie belügen sollte. Auch wenn es nicht einfach ist. Es ist wichtig, sich selbst lieben zu lernen. Und du hast mir gezeigt, wie ich das tun kann.“ Nervös fuhr er sich immer wieder durch die Haare, sah zur Kamera und wieder zu Boden. Ein verhaltenes Lächeln legte sich auf seine Lippen, als in einer Rückblende Noriko mit Masaru gezeigt wurden, wie er sie Huckepack durch den Park trug und sie herzlich miteinander lachten. Als nächstes wurde Chiaki eingeblendet. „Ich wusste nicht, was es heißt jemanden aufrichtig und bedingungslos zu lieben, bis ich dich traf. Du hast mein komplettes Leben auf den Kopf gestellt und mein Herz im Sturm erobert. Vielen Dank für alle Momente, die ich mit dir teilen durfte.“ Man sah sie danach am Strand, wie sie händchenhaltend durch den Sand liefen, direkt in Richtung Sonnenuntergang. Sie trat etwas Sand mit dem Fuß durch die Luft und steuerte auf das Meer zu, als er sie packte und in seinen Armen herumwirbelte. Er stand mit den Füßen ihm Meer, als er seinen Griff um sie etwas lockerte. Sie legte liebevoll die Hände um sein Gesicht und glitt langsam nach unten, als sie ihn voller Liebe küsste. Das Bild wechselte wieder und zeigte Yasuo, der aufgeregt in die Linse blickte. „Es ist nie einfach, anders zu sein. Aber gerade das Andersartige macht uns zu etwas Besonderem. Danke, das du nie den Freak in mir gesehen hast, sondern immer nur Yasuo, der der es liebt, alles Besondere auszuzeichnen.“ Es wurde zu Noriko und Yasuo geblendet, wie sie eine Kamera in den Händen hielten und Yasuo ausdrucksstark gestikulierte. Er zeigte in den Himmel, der die verschiedensten Blautöne zeigte. Er richtete die Kamera nach oben, lachte und sah zu Noriko, die nur bestätigend nickte und das sah, was er sehen konnte. Die Welt mit all ihren Farben, in all ihrer Schönheit, die nur besondere Menschen wahrnahmen. Erneut wechselte die Szene, als Mimi plötzlich starkes Herzklopfen bekam. Sie sah sich selbst, wie sie sich hinsetzte, sich kurz die Haare richtete und angestrengt nach vorne schaute. „Du hast wohl mein komplettes Leben auf den Kopf gestellt, indem du aufgetaucht bist und mir sagtest, du seist meine Schwester. Ich wollte dir anfangs nicht glauben, auch wenn wir uns in gewisser Weise so unglaublich ähnlich waren. Du hast es geschafft, dich in mein Herz zu schleichen und mir eine Welt zu zeigen, von der ich keine Ahnung hatte, dass sie existierte, bis ich dich kennenlernte.“ Ein sagenumwobenes Gefühl machte sich in ihr breit, als sie auf einmal sich selbst und Noriko sah, wie sie nebeneinandersaßen und zusammen komponierten. Sie saßen an dem alten Klavier, als Noriko kichernd sanft über die Tasten fuhr und Mimi dazu animierte mitzumachen. Sie konnte kein Klavier spielen, aber dennoch fiel es ihr leicht, sich bei ihr fallen zu lassen und ihrer ansteckenden Freude zu folgen. Gemeinsam spielten sie ein Stück ihres Songs, lachten herzlich, tauschten immer wieder tiefe Blicke miteinander, so als würde sie nichts trennen können. Als letztes wurde zu Etsuko selbst geblendet, die sich ebenfalls vor dem weißen Hintergrund niedergelassen hatte. „Ein Held zeichnet sich nicht allein durch seine Worte aus, sondern auch durch seine Taten. Es gibt sehr wenige, die in der Lage sind Menschen zu retten und sie zu inspirieren. Doch durch dich, sehe ich die Welt mit ganz anderen Augen.“ Es wurden ältere Aufnahmen eingefügt, die Etsuko und Noriko während ihres ersten Krankenhausaufenthalts zeigten. Beide trugen kunterbunter Kopftücher und tänzelten voller Freude und Euphorie durch einen Garten, der wohl zum Krankenhaus gehörte. Wahrscheinlich hatte sie damals Ren in einem scheinbar unbeobachteten Augenblick gefilmt, der sie befreit und glücklich zeigte. Es wurde auf Noriko gezoomt, die den Kopf in den Nacken legte und sich vor Lachen den Bauch hielt. Plötzlich hielt sie inne, sah die Kamera und ging mit einem breiten Grinsen auf die Person zu. Sie streckte die Zunge heraus, legte den Kopf zur Seite, blickte lieblich in die Kamera, als sie das Objektiv schließlich zuhielt und das Bild erneut schwarz wurde. Weiße geschnörkelte Schrift erschien und fasste zusammen, was Noriko für sie alle bedeutet hatte. The Story of a Bastard Child: A Documentary by Etsuko Ito In liebevoller Erinnerung an Noriko Tanaka geb. Yamaguchi 1988-2006 Geliebte Tochter, Schwester, Ehefrau und treue Freundin. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)