The Story of a Bastard Child von dattelpalme11 ================================================================================ Prolog: Traumwelten ------------------- „Das Unmögliche zu schaffen, gelingt einem nur, wenn man es für möglich befindet.“ -Alice im Wunderland- Er berührte sanft ihre Haut. Ihre zarten Härchen stellten sich auf, als er mit der Fingerkuppe über ihren Arm strich und liebevoll die Worte in ihr Ohr flüsterte, die sie schon immer von ihm hören wollte. Ihre Atmung beschleunigte sich, als er begann ihren Hals zu liebkosen. Mit ihren langen Fingern vergrub sie sich in seiner wilden Mähne und säuselte vor Erregung mehrfach seinen Namen, was ihm ein keckes Grinsen ins Gesicht zauberte. Es gefiel ihm wohl, wenn sie seinen Namen rief, schrie, hauchte – was auch immer. Begierig sah sie ihm in die Augen, als er sich von seinen Küssen löste. Ein warmes Lächeln umspielte seine Lippen. Auch sie signalisierte ihm, durch ein leichtes Nicken, dass sie mehr als nur bereit war. Sie wollte ihm nah sein. Ihn spüren, küssen, am liebsten die Kleider vom Leib reißen. Es fehlte nicht mehr viel. Sie wollte es. Ihr Herz pochte gegen ihre Brust, als er sich leicht aufsetzte und sich an dem Knopf ihrer Jeans zu schaffen machte. Er öffnete ihn geschickt und sie presste die Lippen aufeinander, als er langsam das raue Stück Stoff nach unten zog. Achtlos landete es auf dem Boden. Das Gleiche passierte mit seinem blauen T-Shirt und seiner dunkelgrauen Hose. Als letztes streifte sie sich ihr pinkes Top über den Kopf und warf es neben ihr Bett. Einen kurzen Moment schauten sich die beiden an und bewunderten die halbnackten Körper des jeweils anderen. Er machte den ersten Schritt und lehnte sich zu ihr vor, um ihr einen sanften Kuss auf die Lippen zu hauchen. Dieser war nicht fordernd, sondern zeigte seine tiefen Gefühle für sie. Er war süß, fast schon ein wenig unschuldig. Langsam legte sie sich auf den Rücken und spürte sein zusätzliches Gewicht auf ihrer Brust, dass sie nicht einengte, sondern regelrecht in eine Art Rausch versetzte. Sie wollte ihn. Jetzt. Mit ihren Fingern fuhr sie seinen muskulösen Rücken entlang und spürte die zarten Härchen auf seiner Haut, die sich ebenfalls, wie elektrisiert, aufstellten. Er wurde langsam wieder etwas mutiger und intensivierte seinen Kuss, indem er sich zaghaft mit seiner Zunge vortastete, bis sie ihren Mund leicht öffnete. Ihre Zungen trafen sich. Erst ganz kurz, doch dann lieferten sie sich ein wahrhaftiges Gefecht miteinander, das beiden das Signal gab, noch weiter zu gehen. Sie wanderte mit ihren Händen, die vor kurzem noch auf seinem Rücken ruhten, weiter nach unten und spielte am Saum seiner Boxershorts. Er löste sich von ihrem Zungenkampf und grinste sie keck an. Er gab ihr einen kurzen Kuss auf die Lippen, dann wanderte er wieder ihren Hals hinunter und glitt mit seiner Hand hinter ihren Rücken. Sie machte ein leichtes Hohlkreuz, als er ihr den Verschluss öffnete. Sie atmete scharf ein, als er plötzlich mit den Fingern unter ihren BH ging und sie, an einer ihrer empfindlichsten Stellen, berührte. Er wanderte mit seinen Küssen ihren Hals weiter hinab und entfernte das störende Stück Stoff. Sie murmelte immer wieder seinen Namen, als er mit dem Mund ihre Brustwarze zu liebkosen begann. Auch seine Hand schien plötzlich überall gleichzeitig zu sein. Sie spürte die eine an ihrer Brust, während die andere ihre Wanderschaft fortsetzte. Plötzlich merkte sie, wie er ihren Slip mit dem Finger beiseiteschob und tiefer nach unten glitt... Kapitel 1: Neues Schuljahr, neues Chaos? ---------------------------------------- „Mimi aufstehen, sonst kommst du noch zu spät!“ Sie blinzelte leicht und stöhnte, als sie sich zum Fenster drehte. Die Sonne schien direkt auf ihr Bett und blendete sie, sodass sie sich direkt das Kissen über den Kopf zog. Ihr Hals fühlte sich staubtrocken an und sie spürte eine zarte Gänsehaut auf ihren Armen. Warum musste ihre Mutter sie ausgerechnet jetzt aus ihrem Traum reißen? Hätte sie nicht noch fünf Minuten warten können? Wahrscheinlich nicht. Genervt zog sie das Kissen vom Gesicht und setzte sich auf. Sie streckte sich kurz und schwang aus dem Bett. Ihr Kissen und ihre Bettdecke lagen zerknautscht hinter ihr, als sie zielstrebig zum Kleiderschrank ging und ihre Schuluniform heraus kramte. Sie betrachtete den blauen, gebügelten Stoff missmutig und kräuselte die Lippen. Eigentlich zog sie lieber ihre eigenen Sachen an, doch seit sie wieder in Japan lebte, musste sie sich mit ihrer Schuluniform auseinandersetzen. Individualität war wohl nur in den USA gestattet gewesen. Als sie fünfzehn war, zogen ihre Eltern und sie wieder nach Japan. Auf der einen Seite freute sie sich, ihre alten Freunde wiederzusehen, doch sie vermisste auch Amerika. Immerhin hatten sie einige Jahre in den Staaten gelebt. Sie hatte neue Freunde gefunden und sich mühsam mit ihrem damaligen Schulenglisch durch die erste Zeit hindurch gequält. Eigentlich hatte sie sich gerade heimisch gefühlt, als ihre Eltern ihr verkündeten, dass ihr Vater nach Japan versetzt wurde. Hier würde sie ihren Schulabschluss machen. Was danach kam, wusste sie noch nicht. Was sie wusste, war das sie ein hartes Jahr mit viel Lernen und Stress hinter sich hatte. Schon wieder musste sie sich umgewöhnen. In Amerika sprach sie meistens nur zu Hause oder beim Skypen mit Freunden japanisch, obwohl ihr der Sprachwechsel am wenigsten zu schaffen machte. Mimi hatte große Probleme sich im japanischen Schulsystem zurecht zu finden. Der Stoff war um einiges schwerer, als der auf ihrer amerikanischen High School. Eigentlich war sie im ersten Jahr nur in Englisch so richtig gut. Der Rest war wirklich harte Arbeit gewesen, der fast ihre ganze Freizeit eingespannt hatte. Doch sie hatte es geschafft und wurde in die elfte Klasse versetzt. Nächstes Jahr würde sie sich im Abschlussjahrgang befinden. Eine Tatsache, die ihr, schon sehr große Angst bereitete, da sie noch gar nicht genau wusste, was sie eigentlich machen wollte. Ihre beste Freundin Sora hingegen, hatte schon einen festen Plan für ihr Leben ausgearbeitet. Für den sie auch von morgens bis abends zu ackern schien. Sora wollte Designerin werden und hatte in den letzten Sommerferien ein bereits ein Praktikum erfolgreich absolviert. Nebenbei verdiente sie sich in einem kleinen Klamottenladen etwas Geld dazu, um sich ihr Studium mitfinanzieren zu können. Mimi bewunderte ihre Zielstrebigkeit und ärgerte sich manchmal, nicht so wie sie zu sein. Wahrscheinlich war sie nach dem Abschluss noch genauso planlos wie jetzt. Nur das dann noch die Verzweiflung und Panik hinzukam. Sie schnaufte und ging mit ihrer Uniform ins Badezimmer. Sie legte sie achtlos beiseite und wusch sich zuerst mit kaltem Wasser das Gesicht. Danach sprang sie direkt unter die Dusche und summte eine Melodie vor sich hin, während sie ihre Haare shampoonierte. Seelenruhig stieg sie danach aus der Dusche, ohne auf die fortgeschrittene Zeit zu achten. Ihre Mutter würde sie sicher zur Schule fahren, wenn sie zu spät dran war. Wahrscheinlich hatte sie sogar schon ihr Frühstück eingepackt, das sie auf dem Weg dorthin noch schnell essen konnte. Sie zog sich an und föhnte sich noch die Haare, bevor sie in die Küche ging. Wie sie sich bereits gedacht hatte, war ihr Frühstück schon in ihrer Brotbox verschwunden, auch wenn ihre Mutter sie heute äußerst böse anstarrte. „Was ist denn?“, fragte Mimi unschuldig und schaute sie verständnislos an. „Hättest du dich an deinem ersten Schultag nicht ein bisschen beeilen können?“, meinte sie vorwurfsvoll und schüttelte den Kopf. „So spät bin ich doch gar nicht“, grummelte sie. „Ach Mimi…komm ich fahr dich jetzt einfach hin“, sagte ihre Mutter und stand auf. Sie lächelte entschuldigend, auch wenn sie es nicht so meinte. Mimi wusste eben genau, dass sie sich auf ihre Eltern verlassen konnte. _ „Guten Morgen!“, rief sie fröhlich und lief auf ihre beste Freundin zu, die bereits am Tor auf sie wartete. „Da bist du ja endlich“, begrüße Sora sie ebenfalls und lächelte sie breit an. „Ich dachte schon du kommst nicht mehr“. „Ach was, meine Mutter hat mich schnell gefahren“. Sie wank ab und betrachtete die Rothaarige kritisch. Ein breites Grinsen hatte sich auf ihre Lippen gelegt und sie sah sie verträumt an. „Lass mich raten, dein Date gestern war gut?“ „Und wie“, eröffnete sie ihr und hakte sich bei der Brünetten unter. „Es war so romantisch und wir haben uns sogar geküsst“. „Ach echt? Sagst du mir jetzt auch endlich mal, mit welchem geheimnisvollen Unbekannten du dich triffst?“ „Bald“, versicherte sie ihrer Freundin zuversichtlich. „Er ist in solchen Dingen etwas zurückhaltend“. „Kenne ich ihn denn?“ Sora zuckte mit den Schultern. „Vielleicht, vielleicht auch nicht“. „Mach‘ doch nicht so ein Geheimnis daraus“, motzte sie und zog die Unterlippe vor. „Was ist, wenn er ein verrückter Stalker ist und ich eine Vermisstenanzeige aufgeben muss?“ Sie blickte Sora todernst an, doch diese konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. „Keine Sorge, er ist kein irrer Stalker“. „Das sagen sie am Anfang alle und dann werden sie nackt und mausetot im Wald aufgefunden“, meinte sie dramatisch und hob ihren Arm nach oben. „Ich glaube, du hast zu viele Horrorfilme gesehen und außerdem werde ich ihn dir demnächst vorstellen, versprochen“. Mimi stöhnte leicht und senkte den Kopf. „Du hättest es mir noch nicht mal erzählt, wenn ich es letzte Woche nicht per Zufall selbst herausbekommen hätte“. Schon vor den Ferien war Mimi aufgefallen, dass Sora sich etwas verändert hatte. In ihrer Freizeit trug sie vermehrt Kleider, schminkte sich etwas auffälliger als sonst und trug Parfüm. Klare Anzeichen dafür, dass ein Kerl dahinter steckte. Mimi wusste nur nicht wer. Bei ihrem letzten gemeinsamen Mädelsabend hatte sie ihr einfach die Pistole auf die Brust gesetzt und nachgefragt. Doch viel bekam sie auf der Rothaarigen nicht heraus. Anfangs hatte sie sogar versucht sich raus zu reden. Doch Mimi war nicht der Typ, der einfach so locker ließ. Nach und nach erzählte Sora, nein schwärmte sogar schon, von ihrem geheimen Flirt. Doch den Namen verriet sie nicht. Und das machte Mimi wahnsinnig. Schon seit ein paar Wochen lief sie mit diesem überaus glücklichen Grinsen herum, aber ihrer besten Freundin, wollte sie nicht erzählen, wer sie so glücklich machte. Eine wahrhaftige Unverschämtheit. Jedenfalls empfand das Mimi so. „Nur etwas Geduld, aber jetzt sei bitte still. Die anderen scheinen noch nichts mitbekommen zu haben“, flüsterte sie ihr zu. Der Rest von ihnen stand bereits im Foyer und starrte zu den Listen, die ihnen sagten, wer mit wem in eine Klasse kam. Eine große Menschentraube hatte sich gebildet, während sich Sora und Mimi zu den anderen gesellten. „Oh man, das geht ja ab wie beim Schlussverkauf“, kommentierte Tai die Situation und verschränkte die Arme vor der Brust. „Also, ich überlasse gerne den anderen den Vortritt“, meinte nun auch Matt, der die Situation ebenfalls skeptisch betrachtete. „Hallo Jungs“, begrüße Sora sie und gesellte sich mit Mimi zu ihnen. „Wo sind denn Kari und die anderen?“, fragte Mimi und suchte die Menschenmassen nach ihnen ab. Tai verrollte nur die Augen und blickte zu Matt. „Sie ist mit TK schon vorgegangen“, antwortete dieser und grinste dabei. „Er soll ja die Finger von ihr lassen“, murrte Tai grimmig. Mimi kicherte leise. „Wow, dein Beschützerinstinkt ist wohl enorm angestiegen“. „So ein Quatsch. Aber er ist der Bruder von dem da!“, er zeigte spielerisch auf Matt, der prompt seine Hand wegschnipste. „Was? Ich will nicht das er sie verletzt, außerdem hat er, was Frauen angeht ja ein super Vorbild gehabt“. Das stimmte wohl. Matt war alles andere als ein Unschuldslamm, auch wenn er mit seinen blonden Haaren danach aussah. Er hatte schon viele Frauen gehabt, meist nur für eine Nacht. Er lebte das typische Rockstar-Image. Besonders nachdem seine Band immer bekannter wurde, wurden ihm auch die Herzen praktisch vor die Füße geworfen. Nachdem Mimi wieder in Japan war, hatte er es auch bei ihr versucht. Mit ihr intensiv geflirtet, ihr Komplimente gemacht. Und auch wenn sie schon zugeben musste, dass sie Matt äußerst attraktiv fand, biss trotzdem er auf Granit. Sie war eben nicht so leicht herumzukriegen. Schon gar nicht jetzt. Doch Mimi verstand Tais Sorge wirklich nicht. TK und Kari waren seit Kindertagen, die besten Freunde. Seit ungefähr zwei Monaten waren die beiden ein Paar, was besonders Taichi nicht zu schmecken schien. Mimi bekam viele Momentaufnahmen mit, da sie und Kari im gleichen Tanzverein waren und sich über die unterschiedlichsten Probleme unterhielten. Mittlerweile war auch Tai eines ihrer Probleme geworden. „Aber wo ist denn der Rest?“, wollte Sora wissen, die sich bis jetzt eher zurückgehalten hatte. „Ich sehe weder Izzy, noch Davis und die anderen“. „Izzy hat sich getraut zur Liste zugehen und seitdem ist er verschwunden“, informierte Matt sie knapp. „Yolei ist mit ihren Klassenkammeraden mitgegangen, genauso wie Cody“. „Und Davis? Bespannt er Kari und TK beim Knutschen?“, fragte Mimi lachend. Tai warf ihr einen bösen Blick zu und verzog die Augen zu Schlitzen. „Treib´s nicht so weit Tachikawa! Ich weiß wo dein Spint steht“. „Und weiter? Willst du mir etwa Rasierschaum reinspritzen?“ „Nein, aber ich schätze, dass du sowieso irgendwelche Krabbeltiere vorziehst“. Er lächelte schief, als sie angewidert das Gesicht verzog und sich wieder zu Matt wandte. „Davis ist beim Direktor“, meinte der Blonde gelassen. „Was? Warum das denn?“, fragten beide Mädchen gleichzeitig. „Er hat mit ein paar Jungs Fußball gespielt und dabei das Fenster des Chemieraums zerschossen“, antwortete Tai für Matt. „Das wird wohl zum jährlichen Ritual“, erwiderte Mimi und dachte an ihren ersten Schultag im letzten Jahr zurück. Damals war es eine Außenlaterne gewesen. „Er ist nicht sonderlich treffsicher“. „Kein Wunder, dass ihr meistens auch verliert“, murrte Mimi zu Sora, die sofort zu Lachen anfing. „Haha…sehr witzig“, knurrte Tai angesäuert. Matt klopfte seinem besten Freund auf die Schultern, konnte sich aber ein leises Glucksen nicht verkneifen. Ihre Fußballmannschaft war wirklich alles andere als gut. Trotzdem besuchten sie fast jedes Spiel von ihnen, obwohl sie schon vorher wussten, wie es ausging. Meistens verloren sie haushoch, auch wenn Taichi als Kapitän immer alles versuchte, um das Beste daraus zu machen. Doch meist klappte es nicht. „Wie wäre es wenn wir mal Izzy suchen?“, schlug Sora vor und deutete zu den Listen. Nur wiederwillig stimmten die Jungs zu und setzten sich in Bewegung. Auch Mimi war gespannt, in welche Klasse sie kommen würde, besonders aber mit wem. Sie hoffte, dass Izzy ihr weiterhin erhalten blieb, auch wenn er vielleicht schon der Menschentraube zum Opfer gefallen war. _ „Man Tai, jetzt zieh‘ doch nicht so ein Gesicht“, meinte Matt und versuchte ihn etwas aufzuheitern. Auch Mimi schaute etwas mitleidig zu den beiden Jungs, die vor knapp zwei Stunden erfahren hatten, dass sie wohl ihr Abschlussjahr nicht gemeinsam in einer Klasse verbringen konnten. Mittlerweile hatten sie Mittagspause und saßen gemeinsam beim Essen. Die Jüngeren hatten sich, bis auf Davis, von ihnen abgeseilt. Mimi saß zwischen dem Igelkopf und Izzy, die beide eine Portion Reis verschlangen. „Was ist denn mit Tai los?“, fragte Davis mit vollem Mund und schmatzte laut. „Er wurde von Sora und Matt getrennt“, antwortete Izzy und schaute zu den beiden besten Freunden. Sora, die neben Tai und gegenüber von Davis saß, zuckte nur hilflos mit den Achseln. „Ach Tai, das ist doch kein Weltuntergang. Wir sehen uns in den Pausen und auch noch ganz oft Privat“, versuchte die Rothaarige die Situation zu retten. Matt nickte bestärkt und stimmte mit ein. „Sie hat Recht. Am Freitag kommt ihr alle auf mein Konzert und danach gehen wir so richtig feiern“. „Muss das sein?“, flüsterte Izzy Mimi zu und kassierte von ihr einen vielsagenden Blick. Natürlich wusste sie, dass er kein Partyhengst war, aber trotzdem wollte sie nicht, dass er sein ganzes Sozialleben vor seinem Laptop verbrachte. So würde der gute Izzy wohl nie eine Frau finden. „Du kommst mit“, sagte sie bestimmt. „Das wird sicher lustig. Tanzen, Cocktails trinken, sich mit echten Menschen unterhalten“. Sie unterbrach daraufhin ihre Aufzählung und sah ihn fordernd an. „Aber…“. „Kein aber, du kommst mit! Du musst mal deine Knochen bewegen!“ „Aber, ich kann…“. „Spar dir dein ABER! Du hast mir schon letztens versprochen mitzukommen und bist dann doch lieber zu Hause geblieben“, meinte Mimi empört. „Mimi, wenn er doch nicht will…“, begann Sora, wurde dann jedoch prompt von der forschen Brünetten unterbrochen. „Ach was, er braucht ein paar neue soziale Kontakte“. „Ich habe genug soziale…“. „Du kommst einfach mit, dass ist jetzt beschlossene Sache“, bestimmte sie und rümpfte die Nase. Taichi verrollte nur genervt die Augen, während Matt auf den Holztisch, an dem sie saßen, klopfte. „Die Königin hat gesprochen“. „Wohl eher die Sklaventreiberin“, warf Tai ein. „Wie bitte? Sklaventreiberin? Ich?“ „Du hast mich schon richtig gehört. Ist ja schlimm, wie du jedem deine Meinung aufzwängen willst“. Mimi hielt kurz inne und überlegte, was sie daraufhin sagen sollte. Ein bisschen hatte er ja schon Recht, aber sie deswegen als Sklaventreiberin zu bezeichnen, ging dann doch etwas zu weit. „Tai…“, hörte sie Sora mahnend seinen Namen sagen, doch wenn ein gewisser Taichi Yagami schlechte Laune hatte, konnte selbst seine beste Freundin nichts daran ändern. Das hatte Mimi schon oft genug bemerkt, besonders weil sie seit einem guten Jahr, Nachhilfe von ihm bekam. Wenn sie zusammen lernten, war er meist genervt. „Hey, steht eigentlich Samstag noch?“, fragte Sora plötzlich an Tai und Matt gewandt. „Samstag?“ Matt kratzte sich am Hinterkopf und schien zu überlegen, was sie meinte. „Ach du meinst den Film!“ Sora nickte bestätigend. „So ein Mist, ich kann nicht mitkommen, wir haben die Bandprobe verlegt“, fiel Matt plötzlich ein und fuhr sich durch die Haare. Sie blickte ihn ein wenig enttäuscht an, wandte sich dann aber jedoch schnell wieder an Tai. „Wie sieht´s bei dir aus?“ „Also ich habe Zeit“, antwortete er knapp und legte sein typisches Tai-Grinsen auf. Mimi hatte derweil ihr Kinn auf ihrer Hand abgestützt und beobachtete Tais Reaktion. Einen Moment lang, sah sie dieses Funkeln in seinen Augen. Einen Moment lang, dachte sie an Soras geheimen Flirt und daran, ob es Tai sein könnte. Für einen Moment setzte ihr Herz aus und ihr Puls beschleunigte sich. Sie presste ihre Lippen aufeinander und versuchte ihren Gedanken beiseite zu schieben, was ihr leider nicht gut gelang. Tai als Soras Freund? Das konnte sie sich nicht vorstellen. Genaugenommen wollte sie es sich nicht vorstellen, auch wenn sie schon mitbekommen hatte, wie er sie manchmal ansah. Sie hatte sich eigentlich nie etwas dabei gedacht, da Sora, Matt und Tai meist als Dreiergespann auftauchten. Seit sie wieder hier war, unternahm sie ebenfalls viel mit ihnen. Aber sie hatte nicht so eine enge Beziehung zu den Jungs, wie Sora es hatte. Manchmal wünschte sie sich, das es anders wäre. „Sag mal guckst du in die andere Woche?“ Mimi schreckte kurz auf und sah wie Davis sie die ganze Zeit beobachtete hatte. „Was?“ „Du wirkst so geistesabwesend“, meinte der Igelkopf zu ihr. „Ist alles in Ordnung?“ „Ja klar“, antwortete sie leicht verunsichert und wandte sich wieder zu Izzy, der immer noch am Essen war. Sie biss sich auf die Unterlippe und kaute leicht darauf herum. Na toll, jetzt hatte ausgerechnet Davis etwas bemerkt. Er hinterfragte einfach alles. Manchmal fragte sich Mimi, ob Davis nur bei ihnen saß, um ihnen Löcher in den Bauch zu fragen oder dem Anblick von Takeru und Hikari zu entgehen. Sie wusste es nicht. Sie wusste nur, dass er bis in die Fußspitzen in Kari verliebt war und unter der Beziehung sehr litt. Und er hatte kaum jemanden zu reden, da sich sein bester Freund auf einer anderen Schule befand. Mimi hatte einmal ein Gespräch mit ihm geführt. Kurz nachdem Kari und TK zusammengekommen waren. Er war richtig verzweifelt und sie hätte sogar schwören können, ein paar Tränen in seinen Augen glitzern gesehen zu haben. Er tat ihr im Moment unheimlich leid, auch wenn sie sich für Kari sehr freute. Manchmal hatte Mimi auch das Gefühl, dass er sich nirgends so richtig dazugehörig fühlte. Vielleicht stellte er deswegen so viel Mist an. Wegen der Fensterscheibe musste er an seinem ersten Schultag schon nachsitzen. Mimi könnte sich sicherlich etwas Besseres vorstellen. Doch auch sie fühlte sich mehr als nur seltsam. Der Traum von heute Morgen spukte immer noch in ihren Gedankengängen. Es war nicht das erste Mal, dass sie so etwas träumte. Viel mehr erschreckte es sie, wer in diesem Traum mit ihr zusammen vorkam. Natürlich fand sie ihn sehr attraktiv, auch wenn sie es ihm nie sagen würde. Sie war auch sicher nicht die einzige, die es tat, aber dennoch beunruhigte sie ihr Traum sehr. Sie wollte sich nicht unfreiwillig verlieben, schon gar nicht in ihn. Auch wenn sie wusste, dass bereits zu spät war. Kapitel 2: Von Nachhilfelehrern und Mädchengesprächen ----------------------------------------------------- „Ich habe jetzt schon keine Lust mehr“, beschwerte sich der brünette Wuschelkopf und gähnte herzlich. Mimi verdrehte nur die Augen und konzentrierte sich auf ihr Mittagessen, dass ihr nicht sonderlich gut schmeckte. Irgendwie fehlte mal wieder das Salz. „Mensch Tai, heute ist erst der zweite Schultag und du beschwerst dich schon“, murrte Sora vorwurfsvoll und schützte ihren Kopf auf ihrer Handfläche ab. „Ohne euch ist es voll langweilig“, nörgelte er und fuhr mit den Finger durch seine Mähne. „Ich sitze neben Katsu! Der summt die ganze Zeit im Unterricht so eine nervige Melodie vor sich hin und macht mich damit wahnsinnig“. „Das wird schon Tai. Irgendwann gewöhnst du dich schon daran“, meinte Matt und klopfte ihm unsanft auf die Schultern. „Du hast wirklich leicht reden. Du kannst neben Sora sitzen“, knurrte er und verengte die Augen. „Du sitzt doch auch gerade neben Sora“, stellte Mimi nüchtern fest und fixierte ihn mit ihrem Blick. Er stellte sich wirklich an, wie der letzte Mensch. Unglaublich wie lange er sich über so eine Lappalie aufregen konnte. „Hat dich jemand um deine Meinung gefragt?“, schnaubte er abfällig. „Ich mein‘ ja nur“, sagte die Brünette und sah unsicher zu Izzy, der nur mit den Schultern zuckte. Davis war heute nicht da. Diesmal hatte er sich doch dazu entschieden, bei den anderen zu essen. Ein wenig wunderte es Mimi schon, da er vor den Ferien regelrecht an ihnen geklebt hatte. Vielleicht arrangierte er sich mit der Situation oder er heckte wieder irgendeinen Mist aus. Mimi tendierte eher zu Variante zwei. Sie wanderte mit ihrem Blick weiter zu Sora, die es geschafft hatte, Tai in ein Gespräch zu verwickeln, auch wenn sich seine Miesepeter-Stimmung immer noch durch die kleine Runde zog. „Und werdet ihr wieder zusammen lernen? Das mit der Nachhilfe scheint doch gut geklappt zu haben“, meinte Sora plötzlich und erntete von Tai einen vielsagenden Blick. „Tse…ihr scheint es ja geholfen zu haben, aber mir? Ich glaube, ich bekomme schon graue Haare deswegen“, entgegnete Tai frustriert und schenkte ihr einen abfälligen Blick. „Was soll das denn bitte heißen? Ich bin eine vorbildliche Nachhilfeschülerin“, erwiderte Mimi empört und runzelte die Stirn. Was fiel ihm nur ein? Wie konnte er nur so etwas sagen? „Du bist eine vorbildliche Nervensäge“, konterte Tai grinsend, wissend, dass sie wohl nur explodieren konnte. Doch Mimi hatte die Schnauze voll, sich von ihm ärgern zu lassen. Lieber suchte sie sich einen anderen Nachhilfelehrer. Statt etwas zu erwidern, streckte sie ihm nur die Zunge heraus und wirkte wie ein kleines Kind, dem die Beleidigungen ausgegangen waren. „Wirklich sehr erwachsen“, murmelte er. „Ich bin viel erwachsener als du“. „In deinen Träumen vielleicht“. „Okay, ich werde jetzt einfach mal das Thema wechseln“, mischte sich Sora ein, die die feindseligen Blicke der beiden aufgefasst hatte. „Habt ihr euch denn schon für irgendwelche außerschulischen Aktivitäten eingetragen?“ Alle schauten zu Sora, so als hätte sie die unverständlichste Frage der Welt gestellt. Eigentlich konnte sie sich auch wirklich denken, was jeder von ihnen machen wollte. „Fußball“, antwortete Tai. „Computerclub“, entgegnete Izzy. Matt zuckte nur mit den Schultern. Mimi wusste, das er viel mit seiner Band zu tun hatte und demnach schon kaum Zeit für die Schule hatte. An außerschulische Aktivitäten erst gar nicht zu denken, außer man würde das Abschleppen der Mädchen als solche bezeichnen. Sora hatte sich wieder im Tennisverein eingetragen und berichtete, dass sie sogar für ein Turnier nach Osaka fahren würden. Mimi hörte jedoch nur halbherzig zu. Die Worte von Tai hatten sie schon getroffen, auch wenn sie es nicht zugeben wollte. War sie wirklich so nervig? Ihr kam es gar nicht so vor... Sie hatte ihren Kopf auf ihren Handflächen abgelegt und schüttelte ihr Haar. Erst jetzt fiel ihr auf, dass die anderen sie anstarrten. „Was ist denn?“, fragte sie verwirrt und erinnerte sich nicht mehr daran, dass sie es gerade von außerschulischen Aktivitäten hatten. „Man Mimi hörst du nicht zu?“ Sora sah sie etwas beleidigt an, während Tai sich einen kleinen Seitenhieb mal wieder nicht verkneifen konnte. „Wahrscheinlich war sie mit ihren Gedanken wieder in ihrer rosa Barbiewelt und überlegt sich schon, was sie zum Konzert am Freitag anziehen könnte“. Eigentlich hatte Tai seine Worte an Matt gerichtet, der auch verdächtig grinste, doch Mimi hatte ihn ebenfalls gehört. Sie biss sich auf die Unterlippe und kaute etwas darauf herum. Manchmal würde sie ihm wirklich gerne ins Gesicht springen. „Und was machst du? Bist du wieder im Tanzverein?“, riss Sora sie aus ihren Gedanken. „Ehm ja“, antwortete sie, wirkte aber geistesabwesend. Sie wartete regelrecht darauf, dass Tai wieder etwas sagte, doch diesmal hielt er den Mund und lächelte sie unschuldig an. In ihrem Magen hingegen bildete sie jedoch ein Knäul, dass sie am liebsten wie eine Katze auswürgen wollte. Es schlug ihr auf ihren Appetit, der auf einmal nicht mehr vorhanden war. Ja, sie war verliebt. Verliebt in einen Trottel, der eine eindeutige Meinung von ihr hatte. Leider schien es keine Gute zu sein. Es fehlte nur noch, dass er sie mit „Barbie“ ansprach. Merkte er denn rein gar nichts? War er so blind? Oder wollte er es einfach nicht sehen? Ihre Mundwinkel hingen nach unten und sie stocherte lustlos in ihrem Essen herum. Er hatte mal wieder Sora mit seinem Blick fixiert und unterhielt sich angeregt mit ihr, während die anderen sich ihrem Essen widmeten. Er wirkte so ausgeglichen, wenn er mit ihr sprach. So unfassbar glücklich. Mimi hatte schon länger bemerkt, wie er sie anschaute und ihr schöne Augen machte. Doch sie wollte es nicht wahrhaben, genauso wie ihre eigenen Gefühle. Schon länger fühlte sie sich in seiner Gegenwart unwohl. Ihr Magen spielte verrückt, wenn er mal durch Zufall ihre Hand berührte und auch ihre Finger begannen leicht zu zittern. Ihr Herz pochte immer schneller und ihr Mund wurde staubtrocken, wenn sich ihre Gesichter näher kamen. Doch für ihn war es einfach nur Nachhilfe, die er mehr widerwillig absolvierte. Manchmal hatte sie das Gefühl, dass er es nur machte, weil Sora ihn darum gebeten hatte. Vielleicht war es an der Zeit, die schmerzliche Wahrheit zu akzeptieren. Selbst wenn, sie sich noch nicht mal selbst, ihre Gefühle so richtig eingestanden hatte. Doch es wurde immer deutlicher. Ihre Träume zeigten ihr die Wahrheit. Dass, was sie im tiefsten Inneren wollte, aber nie bekommen würde. Sie sah zu Tai, biss sich leicht auf die Lippe und wusste, dass er ihren begehrenswerten Blick wohl nie erwidern würde. _ Der Rest des Schultages verlief eher ruhig. Heute hatten sie das erste Mal Mathe und Mimi merkte schon von Beginn an, dass sie dieses Jahr wieder einige Schwierigkeiten bekommen würde. Herr Kuura ging mit ihnen die Mathethemen durch und nach einem Fragezeichen folgte auch schon das Nächste. Wenn Tai sich nicht doch noch erbarmen würde, müsste sie sich wohl oder übel einen anderen Nachhilfelehrer suchen. Alleine würde sie es nicht schaffen. Und an Chemie wollte sie erst gar nicht denken. „Ich glaube mir raucht der Kopf“, gab Mimi von sich, nachdem Herr Kuura die Stunde beendet hatte. „Was jetzt schon? Wir sind doch nur die Themen durchgegangen“, meinte Izzy verwirrt und packte seine Tasche. „Ja ich weiß, aber alleine schaff‘ ich das sicher nicht“, murmelte sie mitleidig und packte ebenfalls zusammen. Zum Glück war der heutige Schultag vorbei. Mimi war mit Sora verabredet, die mit ihr zusammen shoppen gehen wollte. Und vielleicht war ein wenig Ablenkung genau das Richtige, was sie im Moment brauchte. Kein Mathe. Keine Schule. Kein dummer Nachhilfelehrer. Gemeinsam mit Izzy lief sie aus dem Schulgebäude und sah, dass Sora, Tai und Matt bereits auf sie warteten. Mimi hoffte inständig, dass ihre beste Freundin Matt und Tai zu ihrem Mädelstag nicht eingeladen hatte. Leider war das schon öfter vorgekommen. Ein wenig genervt blieb sie in dem kleinen Kreis stehen und schnaubte kaum merklich. „Was ist denn los?“, fragte Sora besorgt. „Ach nichts“, erwiderte sie sofort, doch Sora blieb hartnäckig. „Komm schon, ich sehe doch, das du was hast“. „Vielleicht ist ihr ja ein Nagel abgebrochen“, meinte Tai belustig und kassierte von Sora einen Stoß in die Rippen. „Aua, war doch nur ein Witz“. Er grinste schief. Etwas, was Mimi immer total süß fand. Doch daran durfte sie nicht denken. Sie musste sich zusammen reißen. „Wir hatten gerade Mathe und die Themen für dieses Jahr sind wirklich ganz schön hart“, meinte Izzy plötzlich. Mimi sah böse zu ihm und runzelte die Stirn. Wieso konnte er nicht die Klappe halten? Er war doch sonst immer sehr zurückhaltend. Aber heute war wohl Gegenteiltag. „Man Tai, spring‘ jetzt gefälligst über deinen Schatten. Sie hat dir doch auch bei Englisch geholfen“, untermalte Sora und setzte einen forderten Blick auf. „Ach das eine Mal“, murrte Tai abwinkend und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Doch Soras Blick wurde nur noch intensiver, was Taichi allmählich zu beängstigen schien. „Ist ja schon gut. Ich geb‘ mich geschlagen“, lenkte er ein. Matt grinste nur. „Wann hast du denn Zeit?“, fragte er an Mimi gewandt. Er bemühte sich, nicht vollkommen lustlos und genervt zu wirken. Jedenfalls konnte man es aus seiner Stimme heraushören. Etwas perplex stammelte sie eine Antwort. „Ehm jaa, also…Dienstags klappt es ganz gut. Davor habe ich ja auch immer Mathe“. „Okay“, murrte er missmutig. „Dienstag passt schon irgendwie“. Warum musste er nur immer so genervt klingen? Und warum willigte er ein, obwohl er überhaupt keine Lust hatte? Es lag sicher an Sora. „Gut dann hätten wir das jetzt endlich geklärt“, meinte diese fröhlich und zog Mimi näher. Sie lächelte leicht und warf ihr einen dankenden Blick zu. Sora konnte ja schließlich nichts für Tais Verhalten ihr gegenüber. Auch wenn sie sich immer noch fragte, ob vielleicht sogar er ihr ominöser „Freund“ war. Ein Teil von ihr, hoffte es nicht. Ein anderer Teil wusste, dass wenn es so wäre, sie es sowieso nicht ändern könnte. Sie musste wohl wieder zu ihrem Pokerface zurückkehren. Gemeinheiten inklusive. Sie durfte nicht auffallen. Besonders nicht, solange sie nicht wusste, wer der Junge war, der Sora so glücklich machte. Ihrer besten Freundin wollte sie nicht im Weg stehen. _ „Puh, ich bin wirklich geschafft“, sagte Mimi theatralisch und ließ sich auf den Stuhl fallen. Sora saß ihr direkt gegenüber und sah ebenso geschafft aus wie sie. Shoppen konnte wirklich anstrengend sein. Besonders mit Mimi, die in fast jedes Geschäft stolzierte, um ein Teil anzuprobieren. Gekauft hatten sie eigentlich kaum etwas. Sora hatte sich ein neues Top gekauft, das äußerst verspielt war und gar nicht zu ihrem übrigen Stil passte. Mimi war sich daher sicher, dass sie es für das nächste Date mit ihrem geheimen Freund gekauft haben musste. Es machte sie einfach wahnsinnig, nicht zu wissen wer es war. Doch von Sora würde sie es auch so schnell nicht erfahren. Es ärgerte sie ein bisschen, dass sie so verschlossen war. Irgendwie gehörte doch das Getratschte über Jungs dazu, aber es machte einfach keinen Spaß, wenn man sich darunter kein Gesicht vorstellen konnte. „Und ziehst du die Schuhe, die du heute gekauft hast, am Freitag an?“ „Mhm weiß noch nicht. Eigentlich habe ich mir noch keine Gedanken gemacht, was ich anziehen will“, erklärte sie und ging in Gedanken ihren Kleiderschrank durch. „Dir fällt sicher was ein“, lachte Sora herzlich. Kurze Zeit später kam ein Kellner, der ihre Bestellungen aufnahm. Sora genehmigte sich einen Pfefferminztee, während sich Mimi für eine kalte Cola entschied. „Und weißt du schon, was du so am Wochenende machst?“, fragte die Rothaarige und nippte an ihrem Tee. Sie verzog leicht das Gesicht und stellte den Tee sofort wieder hin. Sie hatte sich wohl verbrannt. „Naja am Freitag komme ich definitiv mit aufs Konzert und Samstag…ähm ja noch keine Ahnung“. Sora nickte nur leicht. „Willst du vielleicht mit uns ins Kino kommen? Matt ist ja abgesprungen“. „Ins Kino? Mit dir und Tai?“ Sie nickte. Mimi zog die Augenbraun nach oben und musterte sie seltsam. Eigentlich hatte sie schon Lust auf Kino, aber sie war sich nicht sicher, ob Tai auch Lust auf sie hatte. Wahrscheinlich war er weniger begeistert, wenn sie mitkommen würde. „Ach nee…du lass mal. Ihr wollt sicher unter euch sein“, brabbelte sie vor sich hin, ohne darüber nachzudenken. „Was? Wie meinst du das denn?“ „Ehm naja“, druckste sie herum und fuhr sich nervös durch ihre langen braunen Haare. „Ach ich weiß ja auch nicht. Ich glaube Tai mag mich nicht besonders“, log sie, obwohl sie es wirklich manchmal dachte. „Ach Mimi, das stimmt doch gar nicht. Du weißt doch wie er ist“. „Ja schon, aber er war richtig genervt, nur weil er mir Nachhilfe geben soll“, murmelte sie mit einem frustrierten Unterton in der Stimme. „Nimm‘ das nicht so ernst“, sagte sie und lächelte aufmunternd. „Er ist nur traurig, weil wir das letzte Jahr nicht zusammen in einer Klasse sind“. „Das ist noch lange kein Grund, die Wut an mir auszulassen“, protestierte sie. „Ich weiß“, lenkte die Rothaarige ein. „Wenn du willst, rede ich am Samstag mal mit ihm“. „Nein, schon gut. Ich bin sicher nur zu empfindlich“, meinte sie traurig und trank an ihrer Cola. Sora sah sie mitleidig an, so als wollte sie Mimi jeden Augenblick in eine Umarmung ziehen. Doch Mimi wollte ihr Mitleid nicht. Sie wollte am liebsten ihre Gefühle für immer verbannen und Tai einfach wieder nur als Freund sehen. Doch das ging nicht mehr. Schon oft hatte sie sich gefragt, warum sie sich in ihn verliebt hatte. Im letzten Jahr gerieten sie immer aneinander. Besonders während ihren Nachhilfestunden. Meist diskutierten sie über Kleinigkeiten, die aufgebauscht wurden. Mimi erinnerte sich an einen Streit, der sie umdenken ließ. „Man, ich verstehe wirklich nicht, warum du das nicht kapieren willst? Das ist eine dumme Formel, mehr nicht“, blaffte er sie an und versuchte ihr die Ableitungsregeln näher zu bringen. Doch Mimi verstand nur Bahnhof und war den Tränen nah, nachdem er sie so angeschrien hatte. „Ich kann´s eben nicht“, schrie sie zurück und eine Träne bahnte sich ihren Weg. Tai sah sie erschrocken an und grummelte etwas Unverständliches vor sich hin. Er stand von seinem Zimmerboden auf und ging zu seinem Bett. Er kramte nach etwas, setzte sich jedoch ein paar Sekunden später wieder neben sie. Plötzlich hielt er ihr ein Taschentuch vor sie Nase, schaute zur Seite und murmelte eine leise Entschuldigung vor sich hin. Mimi berührte seine Hand, um das Taschentuch zu nehmen. Ein leichter elektrisierender Schlag durchströmte ihren ganzen Körper, als sie seine Haut berührte. Sie berührten sich nicht lange, nur wenige Sekunden. Mimi fuhr mit dem Taschentuch über ihre Augenpartie und schnäuzte kurz hinein. Dann sah sie wieder zu Tai, der seinen Blick immer noch von ihr abgewandt hatte. „Ich hätte nicht so laut werden dürfen. Tut mir Leid“, wiederholte er sich und schaute kurz zu ihr. „Schon okay. In Mathe habe ich wirklich eine lange Leitung“, gab sie zu und erinnerte sich daran, als ihr Vater versuchte, ihr bei ihren Aufgaben zu helfen. Er hatte nach einer Stunde aufgegeben, während Tai schon mehrere Wochen seiner Zeit für sie opferte. „Danke, dass du mir hilfst“, sagte sie plötzlich und knautschte das Taschentuch in ihrer Hand zusammen. Ein Danke kam wirklich nur selten über ihre Lippen. Tai lächelte leicht und sah sich die Aufgabe nochmals an. „Wir kriegen das schon irgendwie hin, aber bitte hör‘ auf zu heulen. Sowas sehe ich gar nicht gerne“. Er grinste und auch Mimi konnte sich ein leichtes Lächeln nicht verkneifen. Danach widmeten sie sich wieder der Matheaufgabe. „Du kannst es dir ja nochmal überlegen“, entgegnete Sora und umfasste mit beiden Händen die Teetasse. „Mir was überlegen?“ Mimi runzelte die Stirn und sah sie fragend an. „Na, das mit dem Kino“, antwortete sie und kicherte. Sie presste die Lippen aufeinander und druckste etwas herum. Sie war wohl wieder zu sehr in ihre Gedanken vertieft gewesen, sodass so langsam auch ihr Kurzzeitgedächtnis darunter litt. „Aso, ja mal sehen“, meinte Mimi unsicher und schaute zu Boden. Sie hasste es Liebeskummer zu haben und nicht mit ihrer Freundin darüber sprechen zu können. Doch im Moment stand sie zu sehr in der Luft. Sie konnte ja leider nicht in Köpfe gucken. Sie wusste weder, wer der ominöse Freund war, noch was Tai von Sora wollte, auch wenn seine Blicke einiges verrieten. Doch warum, waren ihr die Blicke nicht schon vorher ausgefallen? Vielleicht, weil sie sich zuvor nicht für ihn interessierte. Jedenfalls nicht so sehr, dass sie ihn fast ständig unauffällig beobachtete. Sie kam sich schon fast vor, wie ein Stalker. Zum Glück hatte er noch nichts bemerkt. Genaugenommen hatte noch niemand etwas bemerkt. Nur ihr wurde immer bewusster, wie stark ihre Gefühle bereits waren. Auch wenn sie sich geschworen hatte, über der Sache drüber zu stehen, wusste sie, dass sie es nicht mehr lange konnte. Sie war verliebt. Und Gefühlte bahnten sich meistens ihren eigenen Weg. Kapitel 3: Wochenendaktivitäten ------------------------------- „Ach komm, überleg‘ es dir doch nochmal“, redete sie zum gefühlten hundertsten Mal auf ihn ein. Ihr Gegenüber gab nur einen genervten Laut von sich und verdrehte die Augen. „Wie oft soll ich es denn noch sagen? Konzerte, Party machen und das alles, das ist einfach nicht mein Ding“, erklärte er knapp. „Izzy, gib‘ dir doch mal einen Ruck! Du vereinsamt noch vor deinem Laptop. Morgen könnte auch, der letzte Tag deines Lebens sein. Und was dann?“, meinte sie dramatisch und gestikulierte wild mit ihren Händen. „Mimi“, grummelte er nur und auch sie merkte allmählich, dass sie damit nicht weiterkam. „Du hast es versprochen“, jammerte sie und zog die Unterlippe vor und sah damit aus wie ein schmollendes Kind. „Das ist doch…“. „Red‘ dich ja nicht raus! Du hast es versprochen und musst demnach auch mitkommen“, beschloss sie eisern und merkte erst gar nicht, wie der Rest von ihnen, an ihrem Stammplatz ankam. „Ich bin aber nicht der Ausgehtyp“, murmelte er fast schon und richtete den Blick zu den anderen. Mimi folgte seinem Blick und entdeckte ebenfalls Sora, Matt und Tai hinter sich. „Über was diskutiert ihr denn?“, fragte Sora interessiert und musterte beide lächelnd. „Izzy ist einfach nur eine Spaßbremse“, motzte die Brünette und ließ sich auf der Bank, gegenüber von Sora nieder. „Das bin ich nicht“, protestierte der Rotschopf und setzte sich ebenfalls. „Dann kommst du heute Abend mit“, forderte sie schrill. „Willst du ihn wieder zum Feiern zwingen?“, warf Tai plötzlich ein und zog skeptisch die Augenbraue in die Höhe. „Lass ihn doch einfach mal in Ruhe“. „Tai hat Recht“, pflichtete Sora bei, „wenn Izzy sich doch dort nicht wohlfühlt“. Izzy nickte nur. Mimi hingegen glaubte an eine Verschwörung. Nur Matt hielt sich bedeckt und aß lautlos seinen Apfel. „Dann halt nicht“, meinte sie enttäuscht und stützte ihren Kopf auf ihren Handflächen ab. Gelangweilt und etwas eingeschnappt schaute sie in die kleine Runde. Sora saß mal wieder zwischen Matt und Tai, während sie und Izzy auf der anderen Bankseite saßen. Davis hatte fast die gesamte Woche bei den anderen verbracht, die ein paar Tische weiter weg saßen und sich über irgendetwas zu amüsieren schienen. Mimi sah kurz zu ihnen rüber und fragte sich, warum sie sich alle so voneinander distanziert hatten. Als sie neu auf die Schule gekommen war, machten sie irgendwie mehr zusammen. Zu Joe und Ken hatte sie eigentlich fast gar keinen Kontakt. Abgesehen vom ersten August. Es stimmte sie unfassbar traurig, dass sie nicht mehr alle etwas gemeinsam unternahmen. Und jetzt weigerte sich Izzy auch noch, heute Abend mitzukommen. Mimi schnaubte leise und wandte ihren Blick wieder zu den anderen. Ihr fiel schnell auf, dass Sora sie argwöhnisch musterte. Wahrscheinlich merkte sie, dass die Brünette eingeschnappt war. „Und hast du es dir wegen dem Kino überlegt?“, fragte sie plötzlich, um die Stimmung wieder aufzulockern. Bevor sie antworten konnte, kam ihr Tai in die Quere. „Wie Kino? Sie kommt doch nicht mit, oder?“ Ungläubig schaute er zu Sora und versetzte Mimi einen tiefen Stich in ihr Herz. Sie presste die Lippen aufeinander und nahm die Arme vom Tisch. Ihre Hände umfassten den Stoff ihres Rockes und zerknautschten ihn leicht. Wieso klang sein Ton immer so herablassend, wenn er über sie sprach? Was hatte sie nur an sich, was er anscheinend nicht leiden konnte? Sie schaute zu ihren beiden Freunden, die in eine Diskussion verfallen waren. Natürlich verteidigte Sora sie. Schließlich war sie ihre beste Freundin. „Wir haben doch sowieso drei Karten bestellt und Matt hat eben keine Zeit“, argumentierte sie und sah Tai herausfordernd an. „Aber…“, setzte er an, doch schüttelte leicht seinen Kopf. Er fixierte Mimi kurz, wandte seinen Blick allerdings schnell wieder zu Sora. Er schnaubte leise und ließ die Schultern hängen. „Wenn’s unbedingt sein muss“, knurrte er und konzentrierte sich, wie Matt, wieder auf sein Essen. Sora lächelte nur verschmitzt und nickte Mimi aufmunternd zu. Diese hatte nur ein schwaches Lächeln für sie übrig. Am liebsten wollte sie aufstehen und sich in eine dunkele Ecke verziehen. Wieso fiel es ihr in letzter Zeit nur so schwer, sich gegen ihn durchzusetzen? Die alte Mimi hätte ihm eine feurige Beleidigung an den Kopf geknallt, doch irgendwie war ihr daran die Lust vergangen. Eigentlich wollte sie ihm zeigen, wie gern sie ihn hatte. Doch die Angst vor Ablehnung war nach wie vor größer gewesen. _ Sie wollte gerade die Klasse verlassen, als ihr jemand auf die Schulter tippte. Mimi drehte sich schwungvoll herum, sodass ihre Haare leicht nach hinten fielen. Vor ihr stand auf einmal Izzy, der sie mit einem unsicheren Blick anschaute. „Ich hoffe, du bist nicht böse auf mich“, begann er verunsichert und krampfte seine Finger um seine Tasche. „Du warst beim Mittagessen so still gewesen“. Mimi zog ihre Mundwinkel leicht nach oben und setzte ein kurzes Lächeln auf. „Keine Sorge, ich bin dir nicht böse. Aber ich hätte mich wirklich sehr darüber gefreut, wenn du mitgekommen wärst“, erwiderte sie und sah ihn aufmunternd an. Er konnte ja nicht wissen, dass ihr Stimmungstief etwas mit Tai und der Kinosache zu tun hatte. Wahrscheinlich würde sie nach der Aktion, sowieso nicht mehr mitgehen. Doch das wollte sie Sora erst heute Abend sagen. „Ach auf der einen Seite würde ich ja schon gerne mitkommen, aber irgendwie fühle ich mich bei sowas immer vollkommen verloren“, gab er zu und zuckte mit den Achseln. Mimi wurde hellhörig. „So ein Quatsch. Ich würde an dir kleben, wie Kaugummi“, gab sie ihm mit vollem Elan zu verstehen, so als hätte sie ihn soeben wiedergefunden. „Ich weiß nicht so recht“, meinte er zurückhaltend und verfestigte seinen Klammergriff. „Wie wär´s denn, wenn du einfach auf’s Konzert mitkommst? Danach können wir auch nach Hause gehen“. Ihre Augen begannen zu funkeln und sahen ihn erwartungsvoll an. Natürlich wollte sie danach lieber tanzen gehen, aber sie würde sich auch sehr über Izzys Gesellschaft freuen. Besonders bei der momentanen Situation. Irgendwie wollte sie während des Konzerts, nicht mit Sora und Tai alleine sein. Izzys Anwesenheit käme ihr gerade recht. „Na gut, ich komme mit“, lenkte er, nach einigen Minuten des Zögerns, ein. Mimi grinste über das ganze Gesicht und zog ihn in eine plötzliche, sehr stürmische Umarmung, sodass er leicht rot um die Nase wurde. Doch Mimi bekam dies nur am Rande mit. „Du wirst es sicher nicht bereuen“, versicherte sie ihm, als sie ihn wieder losgelassen hatte. „Das wird der beste Abend deines Lebens“. _ „Du bist ja so fröhlich“, stellte Kari verwundert fest und Mimi unterbrach kurz ihre Aufwärmübungen. „Bin ich sonst etwa ein Trauerkloß?“, stellte sie die Gegenfrage und musterte sie skeptisch. Kari lachte nur verlegen und begann ebenfalls mit dem Stretchen ihrer Beine. „So habe ich das nicht gemeint“, erklärte sie, „aber seit wir eine andere Trainerin haben, habe ich das Gefühl, dass du nicht mehr so gerne hier bist“. „Sie hat es auch auf mich abgesehen“, zischte sie und verdrehte die Augen. Als sie mit dem Tanzen angefangen hatte, war Frau Nakamora ihre Tanzlehrerin gewesen. Bei ihr hatte sie auch immer Japanisch. Jedoch war sie vor kurzem in den Mutterschutz gegangen, da sie ein Baby erwartete, das mittlerweile bereits auf der Welt sein musste. Ihre Vertretung war einfach der absolute Horror. Mimi hatte sich eigentlich nur für den Tanzverein entschieden, um sich weiterhin fit zu halten und mit Kari in den Pausen die typischen Mädchengespräche führen zu können. Doch der Spaß an der eigentliche Sache blieb zurzeit auf der Strecke. Frau Kurama war eine Hexe. Jedenfalls war das, dass erste Wort, was Mimi zu ihr einfiel. Sie achtete fast schon penible auf die kleinsten Fehler und legte großen Wert auf perfekte Synchronität. Auf Mimi hatte sie sich eingeschossen, da sie manchmal beim Tanzen mit den Gedanken woanders war, und nicht immer ganz den Takt traf. Tanzen und Musik entspannte sie eben und ließ sie besser nachdenken. Eine fatale Kombination, wenn man nur Probleme im Kopf hatte. „Wie läuft es eigentlich mit Takeru?“, fragte sie beiläufig und dehnte ihr linkes Bein, indem sie es anzog. Kari lief etwas rötlich um die Nase an und lächelte nur verlegen. Sie biss sich leicht auf die Unterlippe und schenkte Mimi einen vielsagenden Blick. „Es läuft gut“, antwortete sie fröhlich und fuhr sich mit dem Finger eine Stränge aus dem Gesicht. „Am Wochenende gehen wir Rollschuhlaufen“. „Wie romantisch. Da kann man sicher auch gut rumknutschen ohne, dass der große Bruder nervt“, lachte sie und stellte sich wieder auf beide Beine. Sie schüttelte sich leicht und wandte sich Kari zu. „Er kommt immer noch nicht so gut damit klar“, gestand sie sich ein und schüttelte den Kopf. „Vielleicht gewöhnt er sich ja noch daran“, meinte Mimi locker. „Glaub‘ nicht. Es wird wohl eher schlimmer werden“, entgegnete die Jüngere und schnaubte leise. Mimi schmunzelte leicht. Sie konnte sich Tai wirklich gut als Anstandswauwau vorstellen. Er war eben um seine kleine Schwester besorgt. Wäre sie sicher auch, wenn sie eine Schwester hätte. „Er meint es sicher nur gut“. „Ein wenig zu gut“, grummelte die junge Yagami. „Er wollte mit mir letztens tatsächlich ‚das Gespräch‘ führen“. „Das Gespräch?“, wiederholte Mimi und runzelte die Stirn. „Meinst du etwa?“ Kari nickte nur. „Nicht dein ernst. So lange seid ihr doch noch gar nicht zusammen“, stellte sie entgeistert fest. „Wie kommt er nur darauf?“ „Er denkt wohl, ich wäre er“, sagte sie verärgert und verschränkte die Arme vor der Brust. Sie spielte eindeutig auf sein erstes Mal an, das er im zarten Alter von 15 Jahren hinter sich gebracht hatte. Auf einer Party. Mit nicht gerade wenig Alkohol. Sora hatte es ihr einmal ganz beiläufig erzählt, so als wäre es etwas vollkommen Belangloses gewesen. Mimi traute sich daher nicht weiter nachzufragen, auch wenn sie sich damals schon sehr für detailreiche Geschichten interessiert hatte. „Wann hattest du denn…naja du weiß schon?“, fragte sie plötzlich. „Ich?“ Mimi sah sie an, so als hätte sie sie etwas vollkommen Unverständliches gefragt. Sie wollte nicht zugeben, dass sie eigentlich alles andere als ein Spätzünder war. Kurz vor ihrem fünfzehnten Geburtstag war es passiert. Mit ihrem damaligen Freund Jason, der sich danach, als widerliches Arschloch entpuppte. Mimi druckste immer noch herum während Kari ihr, erwartungsvolle Blicke schenkte und ganz gespannt auf ihre Antwort wartete. „Also, naja…ich…ich“, stammelte sie und schaute sich kurz um, bevor sie weitersprechen wollte. Es sollte ja nicht gleich jeder mitbekommen, was die beiden Mädchen miteinander sprachen. Doch soweit sollte es erst gar nicht kommen. Mimi setzte erneut an und kräuselte die Lippen, als eine miesgelaunte Frau Kurama die Halle betrat. „So Ladys, genug gequatscht“, sagte sie in einem ruppigen Ton und fixierte jeden einzelnen mit ihrem totbringenden Blick. Und auch, wenn Mimi nicht sonderlich viel Lust hatte, war sie froh unterbrochen geworden zu sein. Sie wollte nicht darüber reden. Am liebsten wollte sie es vergessen. _ Der Raum war stickig und viele Menschen standen eng gepresst aneinander, während sie versuchten die Texte der Band lauthals mit zu grölen. Mimi stand etwas weiter abseits und hatte sich gemeinsam mit Izzy in eine etwas ruhigere Ecke verzogen. Die meisten Songs kannte sie bereits und sie hatte auch nicht sonderlich viel Lust sich bei die hysterischen Mädchen zu stellen, die Matt wie verrückt anhimmelten. „Es ist ganz schön laut hier“, meinte Izzy und riss sich zusammen, nicht gleich zu schreien. Doch nur so konnte man gegen die enorme Lautstärke, die in der kleinen Halle herrschte, ankommen. „Du gewöhnst dich sicher noch daran“, erwiderte sie grinsend, als ihr einfiel, dass das Konzert, Izzys Erstes war. „Na wenn du das sagst, muss es wohl stimmen“, meinte er sarkastisch und richtete seinen Blick wieder zur Bühne. „Matt geht ja ganz schön ab“. Mimi folgte seinem Blick und sah Matt, der wild seine kurzen Haare schüttelte und ins Mirko grölte. „Das ist normal. Er sagt ja immer, er sei verliebt in die Musik“, antwortete sie schon leicht gelangweilt, da sie wusste, dass es nur eine Masche war, mit der er schon viele leichtgläubige Mädchen ins Bett gelockt hatte. Er war eben ein Aufreißer und würde wohl immer einer bleiben. „Wo sind eigentlich Tai und Sora?“, fragte Izzy plötzlich und riss sie aus ihren Gedanken. Stimmt, die beiden wollten eigentlich nur etwas zu trinken holen und waren immer noch nicht zurückgekehrt. „Ehm…keine Ahnung“, murmelte sie, sodass Izzy sie nicht verstand. Doch allein diese eine Frage reichte schon, um sie komplett in eine andere Welt abdriften zu lassen. Sie stellte sich wieder ihren bösen Gedanken, die ihr Herz zum schlugen brachten. Fast schon ein wenig panisch, suchte sie die Halle nach den beiden ab, obwohl sie eigentlich nur Köpfe erkannte. Von den beiden fehlte jegliche Spur. Etwas, was Mimi gar nicht behagte, obwohl es sich genaugenommen um ihre beste Freundin handelte. Einer Person, der sie eigentlich blind vertrauen konnte. Doch nicht in diesem Punkt. Mimi war sich unsicher. Und diese Unsicherheit verwandelte sie allmählich in dieses giftgrüne Monster, dass sie nicht sein wollte. Sie wollte nicht auf Sora eifersüchtig sein. Doch sie merkte, wie gut sich die beiden verstanden, fast schon blind. Meist wusste der jeweils andere schon, was ihr Gegenüber sagen wollte, bevor es ausgesprochen wurde. Es machte sie krank. Sie wünschte sich manchmal, sie könnte Soras Platz einnehmen, jedenfalls für einen Tag. „Da kommen sie ja“, unterbrach Izzy ihre verwirrenden Gedankengänge und sie schreckte leicht zusammen. Sie sah in die Richtung, in die Izzy gedeutet hatte und erkannte Sora und Tai, die beide jeweils zwei Getränke trugen. Tai machte ein äußerst genervtes Gesicht, das immer noch anhielt, als er bei den anderen ankam. „Die sind doch alle irre“, kommentierte er und verrollte die Augen. „Ach Tai, sieh‘ doch nicht alles so eng“, antwortete Sora und reichte ein Bier an Izzy weiter. Sie hatte sich einen Cocktail genehmigt, während Tai sich ebenfalls ein Bier geholt hatte. „Hier“, meinte er nur und streckte Mimi das Glas hin. Etwas verlegen nahm sie es an und ihre Finger kribbelten leicht, als sich ihre Hände kurz berührten. Er hatte sogar ihren Lieblingscocktail geholt, einen Tequila Sunrise. Doch Mimi war sich nicht sicher, ob vielleicht Sora für sie bestellt hatte und nur Tai zum Tragen abkommandiert wurde. Ihr erst glückliches Gesicht verschwand allmählich und wich einem unsicheren, fast schon ein wenig Traurigem. Diese Stimmungsschwankungen waren wirklich nicht mehr zum Aushalten. Mimi war verwirrt, wegen ihrer eigenen Verwirrtheit. Sie hasste es. Mehr als sie jemals zugeben würde. Die Brünette nippte an ihrem Glas, hielt jedoch kurz inne und starrte hinein. Sie leckte sich kurz über die Lippen und schmeckte den fruchtigen Geschmack und den Hauch von Alkohol. „Schmeckt er dir nicht? Oder hab ich den Falschen besorgt?“ Mimi sah zu Tai, der auf einmal direkt neben ihr stand und sie skeptisch musterte. Normalerweise trank sie ihren Tequila Sunrise ziemlich schnell aus, da sie sich nie beherrschen konnte. Tai wusste das. Seine braunen Augen, die in dem Dämmerlicht fast schwarz wirkten, fixierten sie. Nur sie. Sora unterhielt sich gerade mit Izzy und war demnach abgelenkt. Endlich hatte sie ein wenig Zeit mit ihm zu reden. „Nein, es ist alles gut“, versicherte sie ihm lächelnd und blickte kurz zu ihrem Getränk. „Woher wusstest du überhaupt, was ich gerne trinke?“ Tai schnaubte nur und grinste schief. „Wir waren schon so oft zusammen weg und du hast fast immer das Gleiche getrunken“. „Stimmt“, murmelte sie verlegen und nippte an ihrem Glas. „Und ich glaube ich wäre ein ziemlich schlechter Freund, wenn ich mir nicht die Lieblingsgetränke meiner engsten Freunde merken könnte“, ergänzte er und stupste sie leicht an. Wieder legte er dieses typische Tai-Grinsen auf, das bei ihr jedes Mal weiche Knie verursachte. Engste Freunde. Er bezeichnete sie als eine seiner engsten Freunde. Sie wusste natürlich, dass sie Worten nicht immer solch eine große Bedeutung geben sollte, doch es war das erste Mal, dass Tai sie als engste Freundin bezeichnete. Fast schon eine Art Weltpremiere. Und auch wenn sie sich keine falschen Hoffnungen machen wollte, freute sie sich über seine Worte. Mimi konnte auch ihr leichtes Lächeln auf den Lippen nicht mehr verbergen. Schnell trank sie ihren Tequila Sunrise aus und versuchte sich etwas mehr auf die Musik zu konzentrieren. _ Der Club, den sie hinterher besuchten, lag keine zehn Minuten von der Halle entfernt. Es war nicht ganz so stickig, doch ein leichter Rauchgeruch zog sich durch den Raum. Dennoch fühlte sich jeder wohl. Sogar Izzy, der nach einigen Überredungsversuchen seitens Mimi, doch mitgekommen war. Sie tanzten viel, auch wenn der Rotschopf meistens nur verhalten mitwippte. Mimi hingegen war nach kurzer Zeit so außer Puste, dass sie sich erst einmal etwas zutrinken holen musste. Sie quetschte sich durch die Massen und kam an der Bar an, die bereits gut besucht war. Die Brünette stellte sich an, drang auch relativ schnell zum Barkeeper vor und bestellte sich einen Cocktail. Zufrieden steuerte zurück und achtete für einen Moment mehr auf die Glasdeko, als auf ihre Umgebung. Sie spürte nur einen Widerstand und merkte wie sich der halbe Inhalt ihres Glases auf ihr und teilweise auch auf dem Boden entleerte. Ihr schöner Rock, dachte sie zu allererst und motzte ihr Gegenüber an, ohne hochzuschauen. „Sag mal kannst du nicht aufpassen?“, blaffte sie schrill und wandte ihren Blick von ihrem Rock, direkt in das Gesicht eines Mädchens, dass sie schief angrinste. „Du hast doch nach unten geguckt. Ich kann doch nichts dafür, dass du keine Wegsteuer hast“, meinte sie leicht überheblich und reckte ihr Kinn. Sie hatte braune Haare, die ein ganzes Stück länger waren als Mimis. In ihren braunen Augen, ein herausfordernder Blick, der Mimi irgendwie einschüchterte. Wer wusste schon, mit wem sie sich da gerade anlegte? Sie befanden sich in einer Spelunke mit komischen Gestalten inklusive. „Was ist? Fällt dir etwa nichts mehr ein?“, fragte sie immer noch grinsend. Mimi schnaubte nur. „Du kannst wirklich froh sein, dass meine Bluse nichts abbekommen hat!“, knurrte sie und erinnerte sich dran, dass ihr Vater sie ihr aus London mitgebracht hatte, als er auf einer Geschäftsreise war. „Wow, ganz schön eingebildet. Bist wohl die Prinzessin auf der Erbse“, lachte sie spöttisch, drehte aber ihren Kopf zur Seite. Plötzlich wank ihr ein Typ zu, der ihren Namen rief. „Noriko kommst du jetzt? Ich will langsam wirklich mal los!“, sagte er etwas ruppig. Mimi hob den Kopf an und versuchte den Kerl zu erkennen, der das Mädchen gerufen hatte, doch sie stand zu weit entfernt, um ansatzweise ein Gesicht erblicken zu können. Alles was sie sah, war nur ein Kerl mit hellbraunen Haaren. „Ja ich komme“, rief sie zurück und ging triumphierend an Mimi vorbei. Sie rempelte sie nochmal etwas unsanft an, sodass ihr Glas nochmals überschwappte. Mimi verdrehte nur die Augen und hatte das Bedürfnis, den Club auf der Stelle zu verlassen, doch das konnte sie Izzy nicht antun. Besonders nicht, nachdem sie ihn quasi gezwungen hatte mitzukommen. Das Mädchen schaute sie nochmal kurz über die Schulter hinweg an und ging danach zu dem Jungen, der sie gerufen hatte. Immer noch etwas wütend über diese unfreundliche Begegnung, ging Mimi auch zu den anderen zurück. Jedoch stellte sie fest, dass zwei Personen fehlten. „Wo sind Matt und Sora?“, fragte sie an Tai gewandt, der sicher wusste, wo beide steckten. „Matt ist eine Rauchen und Sora wollte auf’s Klo“, informierte er sie kurz und beäugte sie seltsam. „Sag mal hast du deinen Cocktail über dich gekippt oder konntest du es nicht mehr einhalten?“ Mimi folgte seinen Blick und stellte fest, dass ihr Rock immer noch nass war. Sie lief leicht rot an und schüttelte vehement den Kopf. „Ich bin in jemanden reingelaufen“, verkündete sie kleinlaut und fuhr sich mit ihrer Hand über die nasse Stelle. „Dann bin ich ja beruhigt. Für Inkontinenz wäre es wirklich noch zu früh“, erwiderte er und lachte. Mimi sah nur peinlich berührt zur Seite und spielte mit den Finger an dem Strohhalm ihres halbleeren Cocktails. Beim nächsten Mal sollte sie wohl doch besser die Augen aufbehalten und in keine bescheuerten Tussen laufen, die sie fast grundlos anmotzten. Sie war jedoch froh, dass sie solche Personen, nicht ein zweites Mal wiedersehen musste. Kapitel 4: Das fünfte Rad am Wagen ---------------------------------- Als sie aufwachte, war es bereits nach elf. Sie richtete sich langsam auf und erkannte schnell, dass sie sich nicht in ihrem Zimmer befand. Mimi drehte sich zur Seite und erkannte, dass sie alleine war. Stimmt, sie hatte ja bei Sora übernachtet, die sie doch noch dazu breitschlagen konnte, später mit ins Kino zu gehen. An der Heizung hing noch ihr Rock, der gestern Abend eine unschöne Begegnung mit Tequila hatte. Mimi ärgerte sich noch immer über die Unfreundlichkeit des Mädchens, dass sie im Club ausversehen angerempelt hatte. Wahrscheinlich hatte sie sich wieder über das übliche Zeug Gedanken gemacht, als das Missgeschick passierte. Mimi wusste es schon gar nicht mehr, doch eigentlich kreisten ihre Gedanken den lieben langen Tag um Tai. Auch, dass sie ihn später sehen würde, freute sie auf der einen Seite. Doch sie wusste auch, dass er nur widerwillig zugestimmt hatte. Sora hatte ihn genaugenommen dazu genötigt gehabt. Sora? Wo war sie eigentlich? Im Bett lag sie nicht mehr. Vielleicht war sie bereits in der Küche und bereitete ihnen ein super leckeres Frühstück zu. Mimi vernahm plötzlich ein Grummeln. Sie hielt sich den Bauch, der nach Nahrung verlangte. Die Brünette lächelte leicht und stand auf. Auf leisen Sohlen tapste sie in die Küche und fand dort wirklich Sora vor, die sie fröhlich begrüßte. „Na, hast du ausgeschlafen?“, fragte sie und grinste. „Ehm schätze schon“, antwortete sie und musterte Sora skeptisch. „Wieso hast du denn so gute Laune? War dein geheimer Freund etwa hier?“ Mimi setzte sich an den Tisch und sah sie dringlich an. „Er ist genaugenommen noch nicht mein Freund“, japste sie und holte eine Tüte mit frischen Brötchen hervor. „Aber ja, wir haben uns kurz gesehen. Ich war beim Bäcker, genau wie er“. Verträumt setzte sie sich ihr gegenüber. Ihre Augen strahlten förmlich, als sie die Brötchen einzeln hervor holte und in einen kleinen Korb, der auf dem Tisch stand, legte. Mimi runzelte die Stirn und hatte ihr Kinn auf ihren beiden Handflächen abgelegt. Sie freute sich ja für Sora, aber irgendwie störte sie etwas. Auf der einen Seite wollten sie diesen ominösen Typen endlich mal kennen lernen. Anderseits war sie auch ganz schön neidisch auf sie, auch wenn sie dies nie zugeben würde. Warum hatte Sora auf einmal so viel Glück, während sie ihrer wohlmöglich einseitigen Liebe zu Tai nachschmachtete? Normalerweise war es doch sonst immer umgekehrt gewesen. Doch das Schicksal hatte es wohl auf sie abgesehen. „Wann fängt eigentlich der Film an?“, fragte sie plötzlich und riss Sora aus ihrem Liebestaumel. „Ehm…also…naja, um drei treffen wir uns mit Tai am Kino. Wir haben also noch genügend Zeit“, meinte sie zögerlich und wich ihren Blicken aus. Verwundert zog Mimi ihre Augenbraue nach oben und kräuselte die Lippen. „Ist alles in Ordnung?“ „Ja,ja“, antwortete Sora schnell, sodass Mimi wusste, dass sie log. Ein fürchterlicher Schmerz machte ich in ihrer Brust breit. Doch sie traute sich nicht, sie zu fragen. Lieber nahm sie ein Brötchen, schnitt es in der Mitte durch und belegte es mit Wurst und Käse, um es sich fast ganz in den Mund zu schieben. Schwerfällig kaute sie darauf herum und schluckte größere Bissen herunter, als sie eigentlich sollte. Ein Schweregefühl machte sich in ihrer Magengegend breit und erschwerte ihr das Essen zunehmend. Eigentlich war sie doch nicht auf den Mund gefallen, doch bei diesem Thema wurde sie plötzlich ganz stumm. So als hätte ihr jemand die Zunge abgeschnitten. Ihre Angst vor der Wahrheit war einfach zu groß, auch wenn sie wusste, dass sie kaum etwas daran ändern konnte. Doch manchmal blieb sie lieber unwissend, statt etwas zu erfahren, was ihr wohlmöglich das Herz brach. _ Es war kurz vor drei, als die beiden Mädchen am Kino ankamen. Tai stand lässig an die Wand gelehnt und bewegte sich kurz, als er Sora und Mimi auf sich zu kommen sah. Er trug ein hellblaues Hemd und eine schwarze Jeans, in die er seine Hände vergraben hatte. Auch Sora hatte sich eher leger gekleidet, während Mimi einen mit Spitze verzierten Rock trug. „Hallo Tai“, begrüßte Sora ihn und umarmte ihn herzlich. Auch Mimi umarmte ihn kurz zur Begrüßung. Ihr Herz schlug ein wenig schneller, als ihr sein Parfüm in die Nase stieg. Dann war der Moment auch schon vorbei. Etwas enttäuscht blickte sie zu Boden, versuchte sich aber nichts weiter anmerken zu lassen. „Und seid ihr bereit für Final Destination 3?“, fragte er grinsend und richtete seinen Blick auf Mimi. „Was guckst du mich denn so komisch an?“, erwiderte diese empört und rümpfte die Nase. „Naja, der Film soll ganz schön blutig sein“, meinte er hämisch grinsend. „Nicht das du deswegen Alpträume bekommst“. „Ich halte das schon aus“, konterte sie selbstsicher, fragte sich aber gleichzeitig, ob er sie loswerden wollte. Ihre Gedankengänge wurden jedoch von Sora unterbrochen, die darauf bestand die Karten zu holen. „Was wollt ihr essen?“, fragte Tai an die Mädchen gewandt, als Sora die Karten in ihre Tasche packte. Sie standen vor der Theke und die riesige Auswahl war erschlagend groß. Gesalzenes Popcorn. Süßes Popcorn. Nachos mit verschiedenen Soßen. Gummitiere. Eis. Slushies. „Ähm, ich glaube ich nehme nur normales Popcorn“, meinte Sora und begutachtete immer noch die Vielfalt, vor der sie standen. Tai nickte nur und wandte den Blick zu Mimi, die immer noch die Tafel mit den Angeboten und Preisen begutachtete. „Und was willst du?“ Sie sah ihn ein wenig hilflos an, da sie wirklich nicht wusste, was sie nehmen wollte. Alles war so kalorienreich. Aber sie konnte ja schlecht sagen, dass sie nichts wollte. „Ich nehme `ne kleine Tüte Popcorn“, sagte sie schließlich. „Wow mit dir ist man ja ganz schön sparsam unterwegs“, meinte er grinsend und bestellte. Erst wollte Mimi ihr Portmonee zücken und Tai das Geld reichen, als er plötzlich abwinkte und meinte, dass er sich Popcorn schon noch leisten könnte. „Das macht er immer so“, kam es von Sora. „Er läd‘ mich immer ein, ob ich will oder nicht!“ Mimi nickte nur beiläufig. Tai kam mit zwei verschieden großen Popcorntüten zurück und reichte sie jeweils an Sora und Mimi weiter. Für sich hatte er Nachos besorgt. „Ich bin halt ein Gentleman“, meinte Tai keck und ein Lachen zog sich über sein Gesicht. „Aber du brauchst nicht immer alles für mich zu bezahlen. Das ist wirklich nicht notwendig“, antwortete Sora streng. „Ich habe ja schließlich einen Job. Du bezahlst alles von deinem Taschengeld“. „Und weiter? Du brauchst doch das Geld für’s Studium und ich finde es überhaupt nicht schlimm meine beste Freundin einzuladen“, grummelte er und fischte sich einen Nachos aus dem Plastikgefäß. Er dippte ihn kurz in die rote Soße und biss ein Stück ab. „Aber, ach Mensch Tai“, entgegnete Sora, obwohl ihr anscheinend die Argumente so langsam ausgingen. Sie lächelte leicht und Tai sah sie triumphierend an. Keiner der beiden bemerkte, dass sich Mimi etwas außen vor fühlte. Sie blickte zur Anzeigentafel und sah, dass ihr Kino nun frei war. „Wir können rein“, mischte sie sich ein und erinnerte die beiden an ihre Anwesenheit. Sie hätte sich doch wirklich denken können, dass sie hier nur das fünfte Rad am Wagen sein würde. Doch jetzt hieß es nur, Augen zu und durch. _ Mimi zuckte zusammen, als plötzlich das Gewicht den Kopf des Sportlers zerdrückte. Blut spritzte durch die Gegend und Mimi krallte sich an der Lehne ihres Stuhls fest. Dachte sie zu mindestens. „Man Mimi, das ist nur ein Film“, kam es von Tai, der sie böse anstarrte. Geschockt sah sie ihn an und merkte auf einmal, dass sie ihre Hand nicht auf der Lehne liegen hatte, sondern auf seinem Arm. Ruckartig ließ sie ihn los und sah peinlich berührt in die andere Richtung. Das war mal wieder eine Glanzleistung gewesen, schoss ihr durch den Kopf. Da hatte sie wegen eines dämlichen Films Angst bekommen. Wie ein kleines Kind. Und dann krallte sie sich ausgerechnet noch an Tais Arm. Wieso musste er auch zwischen ihnen sitzen? Konnte Sora ihren hübschen Po nicht früher auf einen der Sitze fallen lassen? Sie hätte sicher nichts dagegen gehabt, wenn sie sich in ihren Arm gekrallt hätte. Die Rothaarige war ohnehin nichts anderes von ihr gewohnt gewesen. „Entschuldigung“, nuschelte sie Tai zu, der wieder zur Leinwand starrte und ihre kleine „Attacke“ anscheinend bereits vergessen hatte. Sie sah nur, wie sich sein Kopf kurz in der Dunkelheit bewegte, dann war er wieder gerade nach vorne gerichtet. Sie schielte kurz zur Seite und beobachtete ihn eine Zeitlang unauffällig. Mimi konnte nicht viel erkennen, doch sie sah, wie er ab und zu, kurz zu ihr schaute. Einmal hatte er sich sogar zu ihr hinüber gelehnt und amüsierte sich über eine Szene des Filmes. Sie hörte Sora kurz Kichern und fragte sich, was nur so witzig war. Erst wurden zwei Mädchen unter der Sonnenbank praktisch gegrillt, während einer danach regelrecht aufgespießt wurde. Humor konnte wohl doch sehr verschieden sein. Wahrscheinlich hatten beide Bezug zur schwarzen Seite, bei der Mimi einfach nicht mitreden konnte. Sie sackte ihren Sitz hinab, als Tai sich wieder zu Sora rüber gebeugt hatte und ihr etwas ins Ohr flüsterte. Mimi biss sich auf die Unterlippe und wollte am liebsten den Saal auf der Stelle verlassen. Sie fühlte sich wie Luft. Unsichtbar, aber trotzdem da. Ob sie es bemerken würden, wenn sie sich einfach aus dem Saal schleichen würde? Sie wandte den Kopf zur Seite und erkannte, dass der Saal voll war. Würde sie aufstehen, würde sie sicherlich auffallen, wie Gulliver bei den Liliputanern. Daher entschied sie sich doch sitzen zu bleiben und ihre aufkommende Eifersucht weitestgehend zu unterdrücken. Warum hatte sie nur auf eine kleine Tüte Popcorn bestanden? Im Moment wäre ihr der süße Geschmack des fluffigen Zeugs wirklich lieber, als die Bitterkeit, die sie im Moment empfand. Sie hasste es. Sie musste wieder normal werden. So konnte es doch nicht weitergehen. Daher konzentrierte sie sich lieber auf den Film und versuchte sich bei den Schockmomenten einigermaßen zusammenzureißen. Manche Szenen waren wirklich lächerlich. Auch wenn sie so viel Wahrheit beinhalteten. Eine kleine Berührung konnte alles verändern und ins Chaos stürzen. Ein müdes Lächeln zog sich über ihre Lippen. Alles, aber auch wirklich alles, erinnerte sie an ihre beschissene Situation mit Tai, die eigentlich nur für sie so richtig blöd war. Irgendwie musste sie sich ablenken. Mit anderen Jungs ausgehen. Shoppen gehen oder hoffen, dass ihr Herz sich mit Eiscreme bestechen ließ. Im Moment wollte sie eigentlich nur diesen Kinobesuch überleben, auch wenn ihr das ständige Gekicher und Geflüster allmählich auf die Nerven ging. Dafür hätte sie wirklich nicht mitkommen müssen. Doch Sora hatte sie förmlich dazu genötigt gehabt. Die Brünette schnaubte leise, stützte ihren Ellenbogen auf der Lehne ab und stierte genervt auf die Leinwand. Ihren Kopf hatte sie leicht auf ihrer Handfläche abgelegt. Sie blickte kurz zu Tai und Sora, die sich anscheinend wieder beruhigt hatten. Mimi hingehen lehnte sich immer weiter zur anderen Seite, so als würde sie nicht zu den beiden gehören. Schwungvoll schüttelte sie ihre Haare. Ein genervtes Stöhnen kam von ihrem rechten Sitznachbarn, der prompt ihre wilde Mähne ins Gesicht bekommen hatte. Sie wich leicht zurück und verharrte in dieser Position bis zum Ende des Filmes. _ „Und wie fandet ihr den Film?“, fragte Sora gut gelaunt als sie aus dem Kinosaal kamen. Mimi versuchte ihre schlechte Stimmung zu verbergen, indem sie ein schiefes Grinsen auflegte. „Naja, er war in Ordnung und gar nicht so schlimm wie ich dachte“, meinte sie und versuchte locker zu klingen. Tai zog jedoch skeptisch die Augenbraue in die Höhe. „Nicht so schlimm? Du hast mir in den Arm gekrallt!“, erwiderte er empört und zeigte die leichten Kratzspuren, die sie hinterlassen hatte. „Tut mir leid, ich dachte dein Arm wäre meine Stuhllehne“, antwortete sie unwirsch und verrollte die Augen. „Stuhllehne?“, wiederholte er und grinste. Danach gab er einen undefinierbaren Laut von sich, ließ es dann aber auf sich beruhen. „Wollen wir vielleicht noch etwas Essen gehen? Ich könnte noch eine Kleinigkeit vertragen“, entgegnete Sora auf einmal und sah die beiden erwartungsvoll an. Auch das noch, schoss Mimi plötzlich durch den Kopf. Sie brauchte eine Ausrede, schnell! „Klar, mein Magen hängt mir schon in den Kniekehlen“, kam es von Tai. „Wie untypisch“, murmelte Mimi und warf die Haare zurück. Sie fixierte Tai mit einem herausfordernden Blick. Doch er erwiderte ihn noch nicht mal. „Und was ist mit dir?“ Mit ihr? Was war mit ihr? Ausrede…wo warst du nur? „Ähm…ich gehe später noch mit meinen Eltern was essen“, log sie und wich Soras dringlichen Blicken aus. Wieso sah sie sie nur so komisch an? Wollte sie etwa mit Tai nicht alleine sein? „Schade“, murmelte die Rothaarige enttäuscht, während Tai die Arme locker hinter dem Kopf verschränkt hatte. „Wie wär´s mit Pizza? Die nächste Pizzeria ist keine fünf Minuten von hier“, fragte Tai gelassen. „Ehm ja klar, da können wir ruhig hingehen“, antwortete Sora und wirkte leicht verunsichert. Mimi fragte sich wirklich, was mit ihr los war. So langsam hatte sie das Gefühl, dass sie sie nur gefragt hatte, weil sie nicht alleine etwas mit Taichi unternehmen wollte. „Okay, dann wünsche ich euch noch viel Spaß“, sagte die Brünette und erinnerte an ihre Anwesenheit, die sie heute schon mehr als einmal vergessen hatten. „Sicher, dass du nicht doch mitkommen willst? Du kannst auch nur was Trinken“, versuchte Sora sie umzustimmen. „Ihr kommt auch sicher ohne mich klar“, meinte sie und zwang sich zu einem Lächeln. „Bis dann“. Sie umarmte Sora kurz, während sie Tai nur flüchtig verabschiedete. Seine Nähe konnte sie beim besten Willen nicht ertragen. Anscheinend war es schon fürchterlich genug, dass sie ihn am Arm berührt hatte. Sie drehte sich weg und ließ Sora und Tai ein wenig verdattert zurück. Mit schnellen Schritten verließ sie das Kino und bog in der nächsten Straßenabzweigung rechts ab. Der Wind blies durch ihre Haare und eine Träne lief ihr plötzlich die Wange hinunter, die sie sachte mit ihrem Handrücken auffing und wegwischte. _ „Bin wieder da“, rief sie durch den Flur und schloss die Tür hinter sich. Sie schlüpfte aus den Schuhen und tapste in die Küche, die leer war. Ihre Mutter war wahrscheinlich noch beim Einkaufen. Sie entschied sich in dem Arbeitszimmer ihres Vaters nach zu schauen. Normalerweise müsste er schon zu Hause sein. Mimi schritt langsam zum Arbeitszimmer und wollte gerade die Tür öffnen, als sie die Stimme ihres Vaters vernahm. „Ich möchte nicht, dass du hier nochmal anrufst“, wisperte er verärgert ins Telefon. „Ich möchte, dass du uns endgültig in Ruhe lässt“. Mimi rümpfte die Nase und zog die Stirn in Falten. Mit wem unterhielt sich ihr Vater? „Lass es einfach. Ich will damit nichts zu tun haben“, knurrte er in den Hörer und legte auf. Mimi schritt von der Tür zurück und fragte sich, ob sie einfach reingehen sollte. Das Gespräch war sicher nicht für ihre Ohren bestimmt gewesen, aber ihr Vater hatte nie irgendwelche Geheimnisse vor ihr gehabt. Schwungvoll öffnete sie die Tür und verkündete wieder zu Hause zu sein. Ihr Vater saß bereits an seinem Schreibtisch und fuhr sich durch die kurzen Haare. Als sie den Raum betrat, schrak er kurz zusammen. „Oh hallo Mimi“, begrüßte er sie leise und lehnte sich gegen seinen Schreibtischstuhl. „Du bist ja schon zurück. Wie war der Film?“ „Ganz okay“, antwortete sie, „mit wem hast du denn telefoniert?“ Die Neugier stand ihr ins Gesicht geschrieben. Doch ihr Vater winkte schnell ab und setzte sich wieder gerade hin. „War nur ein Kollege. Wir haben unterschiedliche Meinungen zu einem Projekt. Nichts worüber du dir Gedanken machen musst“. Ein Projekt? Das hörte sich aber wirklich nicht danach an. „Wo ist Mama? Immer noch beim Einkaufen?“ Er nickte nur kurz und stand auf. „Wenn sie wiederkommt, können wir ja alle zusammen etwas Essen gehen, wenn du willst“. Mimi überlegte kurz und dachte automatisch daran, dass sie ein Essen mit ihren Eltern als Ausrede benutzt hatte. „Klar warum nicht“, antwortete sie freudig. „Wie wäre es wenn wir ins Otaku gehen? Da waren wir schon Ewigkeiten nicht mehr gewesen“, schlug ihr Vater grinsend vor. Mimis Augen fingen zu Glänzen. Es war ihr Lieblingsrestaurant und ihr Vater hatte Recht. Sie waren schon Ewigkeiten nicht mehr da gewesen. „Ohja!“, freute sie sich und drückte ihrem Vater einen kurzen Kuss auf die Wange. Das Gespräch von vorhin, war in den Hintergrund gerückt. Viel mehr freute sie sich auf das Essen, das ihren Frust und Kummer beiseite schob und beides für einen Moment vergessen ließ. Kapitel 5: Nachhilfestunden und Zukunftsaussichten -------------------------------------------------- Der Wochenanfang kam schneller als Mimi eigentlich lieb war. Es war bereits Dienstag. Ganz hibbelig saß sie in der Mathestunde und hatte Schwierigkeiten sich auf den Stoff zu konzentrieren. Sie war einfach zu nervös, obwohl es eigentlich gar keinen Grund dazu gab. Schließlich war es nicht das erste Mal, dass sie bei ihm Nachhilfe genommen hatte. Okay, es war das erste Mal im neuen Schuljahr. Normalerweise freute sie sich, ein wenig Zeit nur mit ihm allein zu verbringen, doch seit Samstag fühlte sie sich komisch. Sora hatte ihr erzählt, dass Tai und sie noch Pizza essen waren, aber irgendwie hatte die Brünette das Gefühl, dass ihre beste Freundin ihr etwas verheimlichte. Etwas essenziell Wichtiges. Sie wusste nur nicht was. Gelangweilt hatte sie ihren Kopf auf ihre linken Handfläche abgestützt und begann zu träumen. Seit sie wieder hier war, hatte sich einiges verändert. Mimi fühlte, dass sich alle nicht mehr so nahe standen, wie früher. Wie vor Amerika. Der Umzug damals hatte einiges verändert, dass wusste Mimi. Zu vielen hatte sie den Kontakt verloren, besonders zu den Jüngeren. Auch zu Sora hatte sie eine Zeitlang so gut wie gar keinen Kontakt gehabt. Sie spielte in der Schulmannschaft Tennis, hatte viele Turniere und natürlich auch ein Sozialleben, zu dem Mimi nur noch teilweise dazugehörte. Erst als sie vor ungefähr einem Jahr zurückkam, integrierte sie sich langsam wieder in die Gruppe, die deutlich kleiner geworden war, als früher. Ihr Blick wanderte kurz zu Izzy, der wissbegierig wie immer, zur Tafel stierte. Mimi war froh mit ihm in einer Klasse zu sein, obwohl sie privat fast nichts zusammen unternahmen. Er war im Computerclub und hatte auch außerhalb ihrer kleinen Gruppe einige Freunde gefunden, die mit Mimis überdrehten Art einfach nicht zurechtkamen. Sie wusste auch, dass er einer der einzigen war, der noch regelmäßigen Kontakt zu Joe hatte. Sein Studium hatte er bereits begonnen und von Izzy wusste sie, dass es zurzeit ziemlich rund lief. Er hatte sogar seinen Führerschein vor kurzem bestanden. Sie wandte ihren Blick wieder von ihm ab und sah ebenfalls zur Tafel, an der Herr Kuura irgendetwas mit Erwartungswert und Wahrscheinlichkeiten erklärte. Mimi verstand wieder mal nur Bahnhof und schaltete automatisch ab. Ihren Gedanken kreisten immer noch um ihre Freunde und die Veränderungen, die sie nicht wirklich akzeptieren wollte. Die Jüngeren sah sie kaum noch. Abgesehen von Kari und Yolei. Mit Kari war sie zusammen im Tanzverein, doch seit sie mit Takeru zusammen gekommen war, hatte ihre Freundin natürlich auch weniger Zeit für sie. Das Gleiche galt für Yolei, die sich bei drei verschiedenen außerschulischen Aktivitäten angemeldet hatte und so verrückt war, sie auch noch durchzuziehen. Takeru und Davis waren beide eigentlich immer die Anhängsel gewesen. Der Blondschopf war genau genommen immer da, wo Kari war, genauso wie Davis, der sich anscheinend wirklich mit der Beziehung der beiden zu arrangieren schien. Vielleicht hatte er auch wieder vermehrt Kontakt zu Ken, der leider auf eine andere Schule ging und den Mimi fast eine halbe Ewigkeit nicht mehr gesehen hatte. Und dann gab es auch noch die siamesischen Zwillinge, besser bekannt unter den Namen Matt und Tai. Beide machten wirklich alles zusammen. Tai besuchte fast jedes Konzert von Matt und sah ihm beim Aufreißen sämtlicher unschuldiger Fans zu, während er jedes Fußballspiel von ihm sah, obwohl er genau wusste, dass sie verlieren würden. Und auch Sora klebte wie Kaugummi an den beiden, so als würde sie ohne sie nicht länger überleben. Vielleicht sollte Mimi sie doch siamesische Drillinge nennen, obwohl auch Sora viel mit ihr alleine unternahm. Und jetzt gab es sogar einen ominösen Freund, der sich zwischen das Trio quetschte. Mimi fragte sich wirklich, wie Matt und Tai darauf reagieren würden, Sora plötzlich mit einem weiteren Jungen teilen zu müssen. Obwohl sich Mimi noch nicht mal sicher war, ob nicht einer der beiden Jungs ihr „Freund“ war. Sora hatte genau genommen die große Auswahl gehabt. Zwei beste Freunde, die wirklich alles für sie taten – da konnte schon das ein oder andere Mädchen schwach werden. Sie schüttelte sich leicht und biss sich auf die Unterlippe. Bitte lass es nicht Tai sein, schoss ihr plötzlich durch den Kopf. Sie verstärkte den Druck auf ihre Unterlippe und dachte automatisch an Samstag. Sie war Luft für die beiden gewesen und Mimi hasste es unsichtbar zu sein. Sie wollte bemerkt werden. Vor allem wollte sie von Tai bemerkt werden. Plötzlich merkte sie, wie ihr jemand am Arm ruckelte. Sie erschrak kurz und sah auf einmal in Izzys Gesicht, der sie dringlich anstarrte. „Was ist denn?“, flüsterte sie. „Herr Kuura hat dir eine Frage gestellt. Hast du das nicht mitbekommen?“ Sie sah erschrocken zu ihrem Lehrer, der bereits die Arme vor der Brust verschränkt hatte. „Tut mir leid“, wisperte sie, „wie lautete die Frage nochmal?“ „Also wirklich. Fräulein Tachikawa, Sie sollten besser aufpassen, als vor sich hinzuträumen!“, ermahnte er sie streng und ein allgemeines Kichern zog sich durch den Klassenraum. Mimis Gesicht wurde augenblicklich heiß und sie hatte die Befürchtung einer Tomate gar nicht mal so unähnlich zu sehen. Sie brachte nochmals eine leise Entschuldigung hervor, saß aber recht angespannt auf ihrem Stuhl, bis Herr Kuura den Blick von ihr wandte und die Frage in die allgemeine Runde stellte. Mimi kniff leicht die Augen zusammen und blickte wieder zu Izzy, der sie sorgenvoll musterte. „Geht es dir gut? Du siehst so komisch aus“, flüsterte er ihr zu. Mimi verrollte daraufhin nur die Augen. So eine unüberlegte Aussage konnte auch nur von Izzy kommen. Sie konnte doch nichts dafür, dass ihr die Peinlichkeit immer gleich ins Gesicht schoss. „Es ist alles in Ordnung. Ich war nur in Gedanken“, grummelte sie und versuchte sich die letzten zwanzig Minuten nur auf den Unterricht zu konzentrieren. _ „Hast du heute überhaupt aufgepasst? Ich habe nämlich das Gefühl, dass ich mit einer Wand rede“, knurrte er verärgert und verschränkte die Arme vor der Brust. „I-Ich hab wohl nicht richtig zugehört“, stammelte sie unwirsch und wich seinen dringlichen Blicken aus. Er schnaubte nur und lockerte seine Beine, die anscheinend eingeschlafen waren. „Toll und ich hab´s jetzt auszubaden“, nuschelte er gereizt und schürte Mimis Verzweiflung. Sie saßen schon über eine Stunde auf seinem Fußboden und versuchten die Aufgaben über Wahrscheinlichkeiten und Erwartungswert zu lösen, doch heute war wirklich der Wurm drinnen. „Ich verstehe nicht, warum du nicht aufpassen kannst! Du weißt doch, dass du Probleme in Mathe hast“, warf er ihr an den Kopf und sah sie missbilligend an. „Mit dir hat man wirklich nur Ärger“. „Mit mir?“, entgegnete Mimi schnippisch. „Wer läuft denn einem bescheuerten Ball hinterher und schießt auf Fensterscheiben?“ „Oh mein Gott, das war nur einmal passiert. Davis ist darin um einiges geschickter als ich“, antwortete er lässig und grinste sie schief an. „Ich versteh‘ es nur nicht. Wenn ich doch weiß, dass ich es nicht kann, höre ich doch wenigstens zu“. „Ich hatte halt andere Dinge im Kopf“, verteidigte sie sich und war gerade im Begriff ihre Sachen zusammen zu packen und zu gehen. „Ach und was? Überlegst du dir welche Farbe deine Nägel als nächstes haben sollen?“, fragte er spöttisch und sah auf ihre Finger. Ihr pinker Nagellack war etwas abgesplittert und sie zog automatisch die Finger ein, sodass er sie nicht mehr sehen konnte. „Du bist so ein Idiot!“, giftete sie und packte ihren Kram zusammen. „Wer gibt dir denn Nachhilfe?“ „Nur weil du vielleicht in Mathe was kannst, heißt das noch lange nicht, dass du kein Idiot bist“, murrte sie angesäuert und verstaute ihre Sachen in ihrer Tasche. Sie hätte doch gleich wissen müssen, dass es heute ausarten würde. Wieso war auch ausgerechnet keiner bei ihm zuhause? Wieso hatte seine Mutter gesagt, dass sie noch einkaufen gehen wollte? Und warum konnte Kari mit TK nicht einen Tag in ihrem Zimmer verbringen und für fünf Sekunden ihren hormongesteuerten Triebe vergessen? Sie wusste ja, dass Kari meistens die Zeit bei Takeru verbrachte, weil Tai regelrecht zum Anstandswauwau mutiert war. Mimi konnte sich vorstellen, dass es unangenehm war, wenn der ältere Bruder beim Knutschen dazwischen funkte. „Ich geh‘ jetzt lieber. Deine schlechte Laune ist wirklich kaum zu ertragen!“. „Das gebe ich gern an dich zurück! Hast du deine Tage oder warum bist du so ätzend?“ Er hatte sich ebenfalls hingestellt. Seine Arme waren immer noch vor der Brust verschränkt und in seinen Augen lag ein herausfordernder Blick. „Boah Taichi!“, zischte sie empört. „Was denn? Du bist schlecht gelaunt und wirklich unausstehlich!“ „Ach ja? Das Gleiche kann ich an dich zurückgeben! Hast wohl deine weibliche Seite entdeckt, oder was?“, antwortete sie gereizt und piekte ihm mit dem Zeigefinger gegen die Brust. Sie sah ihm dringlich in die Augen und bemerkte plötzlich einen Umschwung. Er wirkte traurig. „Du verstehst sowas nicht“, gab er von sich und ließ sich geräuschvoll auf sein Bett fallen. Mimi sah ihn daraufhin nur verwirrt an, ließ ihre Tasche auf den Boden sinken und setzte sich neben ihn. Er hatte den Arm vor sein Gesicht gezogen und sah sie nur kurz an, als sie sich auf seinem Bett niederließ. „Was verstehe ich nicht?“ Erwartungsvoll schaute sie auf ihn herab. Er stöhnte nur, schaute sie aber wieder an und setzte sich auf. „Irgendwie habe ich mir mein Abschlussjahr anders vorgestellt“. Mimi zog die Augenbraue nach oben. „Und wie? Ich mein‘ ich kann ja verstehen, dass du es blöd findest, nicht mit Sora und Matt in einer Klasse zu sein, aber du tust ja fast so, als würdest du sie nie wiedersehen“, untermalte Mimi anschaulich und gestikulierte leicht mit ihren Händen. Ein müdes Lächeln zog sich über seine Lippen. „Vielleicht passiert ja genau das.“ „Hä? Wie meinst du das jetzt?“ Sie runzelte die Stirn und sah ihn verwirrt an, bis er zu erzählen begann. „Ich habe absolut keine Ahnung, was ich nach der Schule machen will. Sora und Matt hingegen schon.“ „Aber du hast doch noch ein bisschen…“. „Ja ich weiß“, unterbrach er sie sanft. „Aber trotzdem ändert es alles. Die unbeschwerte Zeit ist endgültig vorbei. Matt wird versuchen mit seiner Band international berühmt zu werden und Sora wird sicherlich irgendwann mal als Designerin in Paris oder Mailand landen, da bin ich mir ziemlich sicher“. Mimi hielt kurz inne. Sie kannte die Träume ihrer besten Freundin. Sehr gut sogar. Genau genommen verstand sie Tais Angst sehr gut. Sora hatte schon oft darüber gesprochen, irgendwann ein Praktikum im Ausland zu machen. Sich von anderen Ländern inspirieren zu lassen, hatte sie es genannt. Doch Mimi hatte diese Tatsache immer verdrängt, da bis dahin noch so viel Zeit war. Allerdings befand sich ihre beste Freundin schon im Abschlussjahr. Was danach kam, wusste schließlich keiner. Vielleicht bewarb sie sich ja auch auf einer internationalen Modeschule. Mimi konnte sich das gut vorstellen, so wie sie für ihren Traum arbeitete. „Aber noch ist es nicht soweit. Vielleicht läuft es ja auch ganz anderes und ihr besucht euch gegenseitig in den tollsten Städten der Welt“, versuchte sie ihm optimistisch zu erläutern. Doch sein Blick sagte alles. „Wie war es denn bei dir gewesen?“, stellte er die Gegenfrage. „Bei mir? Wie meinst du das denn?“ „Naja als du in Amerika gelebt hast, haben wir doch eigentlich alle den Kontakt zu dir verloren“, meinte er nur. „Ähm ja, aber…naja“, stotterte sie. „w-wir hatten ja auch nicht die engste Beziehung zueinander. Bei Sora und Matt ist das sicher anders und außerdem denk‘ doch mal an die schönen Dinge im Leben. Du hast doch schließlich auch bald Geburtstag“, erinnerte Mimi ihn, doch er sah sie so an, als hätte er es vergessen gehabt. „Oh, stimmt ja“. Er grinste und fuhr sich durch seine wilde Mähne. „Vielleicht sollte ich wirklich etwas positiver denken. Auch, wenn mir manchmal meine nervige Nachhilfeschülerin ganz schön auf den Zeiger geht“, lachte er und stupste sie leicht an. Auch sie musste lächeln und sah etwas unsicher zur Seite. „Du bist echt blöd, weißt du das?“ „Ach so blöd bin ich gar nicht, ansonsten wärst du wohl kaum hier“. Sie lachte gestellt und boxte ihm gegen den Arm. „Aua, wie kannst du nur deinen Nachhilfelehrer verprügeln?“, fragte er gespielt empört. „Ach, das hast du verdient“, meinte sie und strich ihren Rock glatt. „Charmant wie immer“. Er grinste und stand auf. Danach setzte er sich wieder auf seinen Fußboden und schaute sich die Aufgabe, an der sie gehangen hatten, nochmal an. Auch Mimi ließ sich wieder auf dem Boden nieder und betrachtete sie missmutig. Wahrscheinlich hatte er seine Motivation wieder gefunden, doch ihr schwirrte immer noch der Kopf, bei dem Gedanken an die Horroraufgabe. „So, ich glaube ich weiß jetzt, wie wir das hinkriegen“. „Ach echt?“ „Ja, außer du willst immer noch nach Hause gehen“. Mimi schüttelte nur den Kopf und lächelte schwach. Auch, wenn sie sich gegenseitig auf die Nerven gingen, half ihr Tai sehr, mehr als ihm bewusst war. Nur er hatte es bisher geschafft, ihr den Stoff anschaulich zu vermitteln und dafür war sie unendlich dankbar – auch wenn sie es nicht immer zeigte. Sie sah ihn an und hörte ihm nur zu. Ihr Blick war auf seine Lippen gerichtet, die sich leicht öffneten und wieder schlossen. Ein paar Mal grinste er und zeigte seine strahlend weißen Zähne. Ihr Blick verfing sich kurz im seinem und auch, wenn sie gerne mit ihm noch über andere Dinge gesprochen hätte, konzentrierten sie sich auf Mathe. Sie saßen dicht nebeneinander, während Tai anschaulich alles erklärte. Mimi lächelte nur süß, bis sich ein anderer Gedanke in ihrem Kopf ausbreitete. Sein baldiger Geburtstag schoss ihr erneut ins Gedächtnis und sie wusste, dass sie ihm unbedingt etwas Besonderes schenken wollte. Kapitel 6: Die Überraschungsparty --------------------------------- Auf was hatte sie sich nur eingelassen? War sie vollkommen wahnsinnig geworden? Das würde niemals klappen. Sie verzog das Gesicht und lief einmal um die Theke herum. Wie sollte sie das Ding nur herausbekommen, ohne das ein Stück abbrach? Wenn etwas abbrechen würde, wäre es nicht mehr rund und ihre Bemühungen umsonst. Sie schnaubte leicht und blies sich eine störende Haarsträhne aus dem Gesicht. Plötzlich kam ihre Mutter in die Küche, die erschrocken nach Luft schnappte. „Mimi wie sieht´s denn hier aus? Was hast du nur gemacht?“, fragte sie entsetzt und begutachtete das Schlachtfeld. „Ich habe gebacken, siehst du doch“, grummelte sie und zeigte auf den Kuchen, der sich noch in der Form befand. „Ich mach’s schon wieder sauber, keine Sorge“. Skeptisch beobachtete ihre Mutter sie und zog eine Augenbraue nach oben. „Einen Kuchen? Und für was hast du das ganze Zeug geholt?“ Sie deutete auf das Marzipan und die verschiedenfarbigen Kerzen, die ebenfalls auf der Theke lagen. „Ehm ich mache einen Geburtstagskuchen. Das Marzipan brauche ich, um es wie einen Fußball aussehen zu lassen“, kommentierte sie nur beiläufig und fixierte wieder die Backform. „Du willst einen Fußballkuchen machen? Wie kommst du denn auf die Idee?“ „Ä-Ähm naja, also“, stammelte sie und wurde automatisch rot um die Nase. Sie lächelte leicht, als sie sich an Taichis Worte zurückerinnerte. Sie hatten sich bereits montags zum Lernen getroffen, da er am nächsten Tag Geburtstag hatte. Er wollte nur mit seiner Familie feiern und es erst am Samstag mit seinen Freunden so richtig krachen lassen. Mimi hatte immer noch keine Idee, was sie ihm schenken sollte. Es sollte doch etwas ganz Besonders sein. Etwas, das von Herzen kam. Doch ihr fiel beim besten Willen nichts ein. Als sie schon beim zusammenräumen ihrer Sachen war, hielt sie kurz inne. „Du sag‘ mal, was wünschst du dir eigentlich zum Geburtstag?“ Tai warf den Kopf zurück und runzelte die Stirn. „Keine Ahnung, vielleicht eine Mutter, die besser kochen kann?“, sagte er grinsend und kassierte von Mimi einen Schlag gegen seinen Arm. „Sei nicht so gemein“, tadelte sie ihn, „und mal im Ernst, was wünschst du dir?“ Er sah sie an und setzte einen ratlosen Blick auf. Er schien wirklich keine Ahnung zu haben. Doch plötzlich fing er an zu Grinsen. „Ich hätte vielleicht eine Idee“, meinte er und sah sie dringlich an. „Eine Idee?“, wiederholte sie und musterte ihn skeptisch. Sein Grinsen wurde breiter, während Mimi ratlos überlegte, was er nur meinen könnte. „Erinnerst du dich an Soras Geburtstag?“, fragte er auf einmal und zauberte Mimi weitere Fragezeichen ins Gesicht. Was hatte Soras Geburtstag nur damit zu tun? „Ja, wieso?“ Wollte er etwa Sora als Geschenk haben? Mimi schüttelte sich bei diesem unsinnigen Gedanken. Sie blickte zu Tai, der immer noch grinste und sie herausfordernd anschaute. „Du hast doch ihren Geburtstagkuchen gebacken, richtig?“ „Richtig“, antwortete sie zögerlich, „und weiter?“ „Du kannst mir ja auch einen machen! Am besten einen Fußballkuchen“, lachte er und stand auf. „Einen Fußballkuchen?“ Er nickte nur und sie fragte sich wirklich, ob er dachte, dass sie so gut backte. Klar, Soras Kuchen war wirklich sehr beliebt gewesen, aber einen Fußballkuchen? Wie sollte sie das nur machen? „Kannst es dir ja überlegen“, meinte er nur. Auch sie stand auf, schulterte ihre Tasche und wurde von Tai zur Tür gebracht. Sie verabschiedeten sich kurz voneinander und Mimi überlegte fieberhaft, ob sie es nicht wagen sollte. Tai wäre sicher davon angetan. Und es wäre ein Geschenk, das von Herzen kam. Sie brauchte nur noch ein Rezept. „Also, Tai hat Geburtstag und sich einen Fußballkuchen gewünscht“, erläuterte Mimi, nachdem sie ihre Sprache wiedererlangt hatte. „Ach stimmt. Er feiert heute seinen 18. Geburtstag, oder?“ „Ja und wenn ich den Kuchen nicht heil aus der Form bekomme, bin ich wirklich aufgeschmissen“, jammerte sie und sah hilfesuchend zu ihrer Mutter. „Du hast sie doch hoffentlich gut eingefettet, oder?“. „Ja natürlich. Mama, ich backe doch nicht zum ersten Mal“, gab sie empört von sich und stemmte die Hände in die Hüfte. Ihre Mutter ging an ihr vorbei und fühlte vorsichtig an der Form. „Wenn du ihn noch ein bisschen abkühlen lässt, müsste er ohne Probleme rausgehen. Also mach dir keine Gedanken“. Sie lächelte leicht und Mimi hoffte nur, dass sie Recht behalten würde. Wenn es nicht klappte, hätte sie kein Geschenk für ihn und die Blöße wollte sie sich wirklich nicht geben. „Du gibst dir aber ganz schön viel Mühe, findest du nicht?“, fragte sie und lächelte wissend. „Ich gebe mir bei all meinen Freunden Mühe“, entgegnete sie, wich aber ihren Blicken gekonnt aus. Satoe Tachikawa kicherte leise und setzte sich an den Küchentisch. „Naja, süß ist er ja schon“, murmelte sie. „Mama“, zischte Mimi verärgert und packte den weißen Marzipan aus. „Wir sind nur Freunde“. „Schätzchen, ich bin deine Mutter! Ich weiß genau, wann du lügst“, sagte sie gelassen und widmete sich einer Modezeitschrift. Mimi verdrehte nur die Augen. Ihre Eltern waren einfach nur peinlich. Besonders ihre Mutter, die ihr immer Ratschläge geben wollte. Sie erinnerte sich noch gut daran, als ihr Freund Jason, sie für eine andere verlassen hatte. Genau genommen wollte er sie nur flachlegen, was er letztlich auch geschafft hatte. Mimi hatte eine Woche geweint, kaum etwas gegessen und sich quasi in ihrem Zimmer verschanzt. Ihre Mutter kam öfters mit solchen Sprüchen wie „Andere Mütter haben auch schöne Söhne“ und „Jeder findet schon das passende Deckelchen“. Sie wusste damals zwar, dass sie ihr nur helfen wollte, aber solche Sprüche waren eher deprimierend, statt hilfreich. Und jetzt versuchte sie sich schon wieder in ihr Liebesleben einzumischen. „Hattet ihr beide denn schon ein Date?“, fragt sie plötzlich und Mimi ließ entsetzt das Marzipan sinken. „Nein hatten wir nicht. Wir sind nur Freunde, Mama!“ „Mhm, aber du hättest sicher nichts dagegen, wenn mehr daraus werden würde“, schlussfolgerte sie spitzfindig und sah von ihrer Zeitschrift hoch. „Mama“, knurrte sie und wandte ihr den Rücken zu. „Das ist alles nicht so einfach“. „Ach was, du musst dich nur etwas trauen! Wir leben doch nicht in den Fünfzigern!“ Mimi schüttelte nur den Kopf. Konnte sie es nicht einmal auf sich beruhen lassen? Sie wäre schon einen Schritt auf Tai zugegangen, wenn sie sicher wäre, dass er dasselbe empfand wie sie. Doch sie war sich eben nicht sicher. Vielleicht konnte sie ja mit ihrem Geschenk sein Herz erwärmen und eine eindeutige Reaktion von ihm erhalten. Doch zu allererst, musste sie den Kuchen heil aus seiner Form herausbekommen. _ „Tai wird sich sicher riesig freuen“, meinte Sora, die Mimi vor wenigen Minuten von zu Hause abgeholt hatte. Verlegen schaute sie zur Seite und betrachtete die Transportbox, die sie in ihren Händen hielt. „Ich hoffe es“, meinte sie nur und dachte an die Arbeit, die sie vor wenigen Stunden noch hatte. Den Kuchen hatte sie heil aus der Form bekommen und auch den weißen Marzipan hatte sie geschickt über den Kuchen gelegt. Nur beim Ausschneiden und Aufkleben der Fünfecke aus dem schwarzen Marzipan, hatte sie einige Probleme gehabt. Zuerst hatte sie es nur mit Wasser versucht, doch leider wollten die schwarzen Fünfecke beim besten Willen nicht halten. Am Schluss hatte sie einfach etwas Schokolade erwärmt und diese als eine Art Kleber verwendet. Und Mimi war mehr als zufrieden mit dem Ergebnis. Der Kuchen bestand aus einem ganz normalen Mürbeteig, den sie mit Schokostücken verfeinert hatte. Versteckt wurde der Kuchen unter der weiß-schwarzen Marzipanschicht. Selbst Sora war überrascht gewesen, als sie den Kuchen sah. Er war ihr wirklich gut gelungen. Sie hoffte nur, dass es Tai genauso sah. „Und was schenkst du ihm?“, fragte sie plötzlich. Sora hatte regelrecht ein Geheimnis daraus gemacht, als sie vor einer Woche fragte, um sich vielleicht ein paar Geschenketipps von ihr zu holen. Sora grinste und hakte sich sachte bei ihr unter. „Matt und ich haben zusammengelegt und ihm zwei Karten für ein Fußballspiel von seiner Lieblingsmannschaft besorgt. Plus T-Shirt“, sagte sie und strahlte über das ganze Gesicht. „Wow, das war sicher teuer“, antwortete Mimi und starrte auf ihren Kuchen. Sie hatte sich zwar viel Mühe gegeben, aber an Soras und Matts Geschenk würde sie wohl nicht herankommen. Sie hatte ja schließlich nur etwas gebacken. Im Nachhinein hatte er gar nichts von seinem Geschenk. „Ach das ging schon. Matt und ich hatten es schon länger geplant und er verdient bei seinen Auftritten ja auch ganz gut“, sagte sie lässig. „Er wird sicher ausflippen und euch um den Hals fallen“, sagte Mimi leicht lächelnd und klammerte sich an der Transportbox fest. „Über dein Geschenk wird er sich sicher auch freuen“. „Ja vielleicht“, entgegnete Mimi nicht gerade überzeugt. „Wer von euch begleitet ihn denn zum Spiel?“ „Mhm keine Ahnung. Das kann er entscheiden. Vielleicht hat er bis dahin auch eine Freundin, die er mitschleppen kann“, lachte Sora und Mimi biss sich instinktiv auf die Zunge. Eine Freundin. Hoffentlich nicht. Erst jetzt kam ihr in den Sinn, dass er generell bei den Mädchen sehr beliebt war, aber keinerlei Anstalten machte, sich eine Freundin zu suchen. Oder hatte er bereits unzählige Dates, von denen sie einfach nichts mitbekommen hatte? Tai war in solchen Dingen eher zurückhaltend und nicht so offenherzig wie Matt, der fast jedes Wochenende ein neues Mädchen abschleppte. Obwohl. In letzter Zeit hatte sich einiges verändert. Matt ging nicht mehr seinem Triebverhalten nach, jedenfalls nicht offensichtlich. Doch Mimi erinnerte sich dunkel daran, dass er schon seit mehreren Wochen, mit keinem Mädchen mehr nach Hause gegangen war. Meist blieb er so lange wie der Rest und ging dann ebenfalls nach Hause. Komisch. Warum war es ihr nicht eher aufgefallen? Sie sah zu Sora, die zufrieden vor sich hinlächelte und eine fröhliche Melodie summte. Was war nur los? War Amor schon wieder unterwegs gewesen? Anscheinend hatte er nur für sie keine Liebespfeile übrig. Mimi hatte das Gefühl, dass sich alle Menschen in ihrer Umgebung verliebten, obwohl der Valentinstag schon längst vorbei war. Nur sie hatte das Pech, einer wohl einseitigen Liebe hinterher zu trauern. Ihr Herz zog sich augenblicklich zusammen und auch das Atmen fiel ihr schwerer. Wieso konnte es für sie nicht auch einmal einfach laufen? Wie konnte es sein, dass ihre beste Freundin nur so ein Glück hatte und sie mit solch einem Pech gesegnet war? So langsam verging ihr wirklich die Lust am Feiern. _ Sie lächelte müde und nippte an ihrem Getränk, das schon fast leer war. Mimi blickte sich um und erkannte ein paar bekannte Gesichter, die sich vor ihr tummelten. Sora und Matt hatten extra eine kleine Halle gemietet, um den Geburtstag ihres besten Freundes zu feiern. Tai dachte eigentlich, das nur die üblichen Verdächtigen kommen würden. Doch seine beiden besten Freunde hatten die komplette alte Clique dazu gebracht herzukommen. Auch einige aus dem Fußballverein waren anwesend, sowie auch einige seiner Klassenkammeraden. Matt wollte mit Tai in zehn Minuten hier sein. Sora hingegen lief wie ein aufgestacheltes Reh durch die Lokation und unterrichtete alle, dass er bald da sein würde und sie sich auf Position begeben sollten. Mimi musste bei ihrem Anblick leicht grinsen. Die Perfektionistin hatte die Überhand übernommen und strebte einen fehlerlosen Ablauf an. Die Überraschung sollte gelingen und Tai praktisch aus den Fußballschuhen hauen. „Er wird gleich da sein, also keiner sagt einen Mucks, wenn ich das Licht ausmache, klar?“ Immer wenn sie in ihrem Element war, wirkte sie wie ein Befehlshaber der Marine oder des Militärs, doch das wollte Mimi lieber für sich behalten. Sie trank den letzten Schluck aus und steuerte auf den Getränketisch zu, um sich nachzufüllen. Dort angekommen, fand sie einen missmutigen Davis vor, der gedankenverloren zur anderen Seite des Raumes stierte. „Davis? Ist alles in Ordnung?“ Sie folgte seinem Blick und entdeckte Kari und TK, die in der Ecke miteinander rumknutschten. Mimi stellte ihren Becher hin und berührte Davis leicht an der Schulter, sodass er etwas zusammenzuckte. „Du solltest dir das besser nicht länger ansehen“. „Ich weiß“, grummelte er und wandte den Blick von ihnen ab. „Aber es ist alles so unfair. Wieso nimmt sie ihn und nicht mich?“ Die Verzweiflung war aus seiner Stimme herauszuhören. Zwar verbrachte er die Pausen wieder mit ihnen, aber Mimi war Davis‘ Blick nicht entgangen. Er quälte sich. Weil Kari ihn nicht haben wollte, sondern TK. „Es tut mir leid Davis. Gefühle kann man eben nicht steuern“, meinte sie und fuhr ihm behutsam das Schulterblatt. Er tat ihr unheimlich leid, besonders weil sie sich in seine Lage gut hineinversetzen konnte. Zwar hatte Tai keine Freundin, aber die Ungewissheit und die Angst vor Ablehnung fraßen sie regelrecht auf. „Du kannst ja nichts dafür“, murmelte er auf einmal und senkte den Blick. „Es soll eben nicht sein“. Kaum merklich fuhr er sich über die Augenpartie und schniefte leise. Dann sah er ihr wieder in die Augen und lächelte leicht. „Dein Kuchen sieht übrigens super aus! Ich hoffe, ich werde auch ein Stückchen abbekommen“. „Da werden wir sicher was machen können“, antwortete Mimi grinsend und legte den Arm um seine Schulter. „Und jetzt mach‘ dich nicht länger fertig. Hab Spaß und hau mal so richtig auf den Putz“. Danach ließ sie ihn wieder los und Davis nickte leicht. „Ich denke, ich werde mal Ken suchen gehen“, kam es von ihm und er stürzte sich in die Massen. Mimi blickte ihm kurz hinterher, bis Sora plötzlich einen schrillen Ton von sich gab. „Er kommt! Alle auf Position“, rief sie durch die Runde und schaltete augenblicklich das Licht aus. Und auf einmal war es dunkel. Mimi konnte noch nicht mal ihre eigene Hand vor Augen erkennen. Alles was sie wahrnahm, war leises Getuschel und einige Pscht-Laute, die sicher von Sora kamen. Plötzlich wurde die Tür geöffnet. „Man Matt, wo zur Hölle schleppst du mich hin?“, murrte Tai verständnislos. „Schon seit ‘ner Stunde bin ich mit dir unterwegs, ohne ein Ziel in Aussieht“. „Mach mal halblang, wir sind ja schon da“, antwortete Matt und schob ihn in den Raum. Kaum hatte er einen Fuß hineingesetzt, schaltete Sora das Licht wieder an und jeder im Raum rief ihm „Überraschung“ entgegen. Mimi blinzelte ein paar Mal, bis sich ihre Augen ans Licht gewöhnt hatten. Etwas weiter weg, stand ein schiefgrinsender und sprachloser Taichi, der von Sora in eine feste Umarmung gezogen wurde. „Nochmal alles Gute zu deinem Geburtstag“, beglückwünschte sie ihn und ließ ihn einen kurzen Moment später wieder los. „Alles Gute“, meinte auch Matt und zog ihn ebenfalls in eine Umarmung. „So langsam wirst du wirklich alt“. „Haha, du Scherzkeks“, antwortete er, nachdem er seine Sprache wiedererlangt hatte. Mimi stand immer noch am Getränketisch und sah wie immer mehr Leute auf ihn zugesteuert kamen, um ihm zu gratulieren. Doch Mimi stand dort, wie festgefroren. Ihre Beine wollten sich einfach nicht bewegen. Besonders als er ein Mädchen herzlich begrüßte, dass sie nicht kannte. Doch bevor, sie sich darüber Gedanken machen konnte, war Sora plötzlich neben ihr aufgetaucht. „Ich glaube, es wird Zeit den Kuchen zu holen. Hast du die Kerzen schon draufgemacht?“ „Ehm ja habe ich. Wir müssen sie nur noch anstecken“, antwortete sie langsam und beobachtete immer noch Tai mit seinen Gästen. Das Mädchen klebte immer noch an seiner Seite. Wer zur Hölle war das nur? „Dann los! Tai wird sich sicher riesig darüber freuen“, entgegnete sie strahlend und zog Mimi einfach mit sich. _ „Wollen wir sie zusammen nehmen, oder willst du es ihm alleine überreichen?“ „Zusammen“, sagte sie schnell und Soras verwirrter Blick durchbohrte förmlich. Gerade als die Rothaarige Anstalten machte, etwas zu sagen, erwiderte Mimi ihre geradezu logische Begründung. „Der Kuchen ist ganz schön schwer und ich kann es wirklich nicht verantworten, dass er mir runterfällt“, log sie unverblümt. „Aber du hast ihn doch auch alleine hier her getragen“, konterte sie fix. „Und weiter? Es sind ja schließlich jetzt auch Kerzen drauf“. „Mimi, ich glaube nicht, dass Kerzen ‘ne halbe Tonne wiegen“, meinte ihre beste Freundin skeptisch. „Ist doch egal, lass uns einfach den Kuchen zu ihm bringen. Zusammen“, betonte sie, doch Sora konnte sich ein keckes Grinsen nicht verkneifen. Wahrscheinlich konnte sie sich denken, warum sie sich so zierte. Mimi wusste nur, dass sie wohl ohne Sora mit knallrotem Kopf und stotternd vor ihm stehen würde. Eigentlich war sie ganz und gar nicht schüchtern, aber sie hatte Angst, dass ihm die Idee mit der Torte doch nicht gefallen könnte. Besonders nachdem sie von Matt und Soras Geschenk wusste. Schwerfällig bewegte sie sich vorwärts und betrachtete die achtzehn Kerzen, die sie einfach wahllos draufgesteckt hatte. Sora lächelte noch immer und jeder der ihnen entgegenkam, schmunzelte ebenfalls. „Das hast du wirklich super gemacht“, meinte Kari und zwinkerte ihr zu. Mimi zog ihre Mundwinkel nach oben, doch sie sah nicht sonderlich glücklich aus. Viel mehr sah es danach aus, als hätte sie Schmerzen. Kurz bevor sie bei Tai angekommen waren, merkte sie wie ihr Herz immer schneller gegen ihre Brust pochte. Auch ihre Finger waren leicht feucht und sie hatte schon Angst, dass ihr das große Tablett aus den Händen gleiten könnte. „Hey Tai“, rief Sora plötzlich und unterbrach ein Gespräch, dass er gerade mit Izzy begonnen hatte. „Es ist Zeit die Kerzen auszupusten“. Er drehte sich herum und beide sahen in das überraschte Gesicht des Brünetten. „Ihr seid wirklich für einige Überraschungen gut“, meinte er und beäugte den Kuchen genau. Er runzelte die Stirn und verengte die Augen ein wenig. Danach blickte er zwischen dem Kuchen und Mimi hin und her, sodass diese leicht rot wurde. Er grinste nur und blies die Kerzen aus. „Vergiss‘ nicht dir etwas zu wünschen“, erinnerte Sora ihn, bevor er auch die letzte Kerze ausgeblasen hatte. „Keine Sorge, dass vergesse ich doch nicht, aber ich glaube wir sollten dieses Pachtexemplar mal anschneiden. Ich bekomme langsam wirklich Hunger“, erwiderte er und nahm den beiden Mädchen den Kuchen ab. Er stellte ihn auf einen der Tische, während Matt schon ein Messer bereithielt. Die Teller befanden sich auf dem gleichen Tisch wie die Getränke und die ersten schnappten sich bereits einen. Auch Davis, der Mimi kurz anlächelte. Hinter ihm stand Ken, der ebenfalls mit einem Teller bewaffnet war. Beide schienen sich gut zu unterhalten und die Misere rund um Kari und Takeru, schien für den Moment wie weggeblasen. „Wollen wir uns auch ein Stückchen holen?“, fragte Sora und sah zum Kuchen. „Ehm, ich weiß ja wie er schmeckt, deswegen lasse ich den anderen erstmal den Vortritt“, murmelte die Brünette. Sora nickte nur und hatte sich wenige Momente später zu Tai und Matt durchgeschlängelt. Matt hatte ihr bereits ein Stückchen gesichert und reichte es ihr in die Hand. Mimi hingegen blieb etwas weiter abseits stehen und sah, wie sich die Meute über ihren Kuchen hermachte. Wahrscheinlich langte er noch nicht mal für alle. Und insgeheim bereute sie es ein wenig, Taichi nicht ein dauerhaftes Geschenk besorgt zu haben oder etwas mit dem er länger Spaß hatte. Sie biss sich leicht auf die Unterlippe und sah missmutig zu den anderen. Tai sah richtig glücklich aus. Er stand neben seinen beiden besten Freunden, riss sicher Witze und schaufelte haufenweise Kuchen in sich hinein, ohne darüber nachzudenken, dass er von ihr war. Ein schmerzliches Gefühl machte sich in ihr breit. Auch wenn sie schon über ein Jahr wieder hier war, merkte sie allmählich, wie außen vor sie sich fühlte. Sie würde wohl nie eine so innige Freundschaft zu den anderen aufbauen können, auch, wenn sie es sich noch so sehr wünschte. _ Gelangweilt saß sie an einem der Tische und hielt ihren Becher mit Wodka O in ihrer Hand. Die meisten ihrer Freunde tummelten sich auf der Tanzfläche und folgten nur dem Beat der Musik. Nur Davis, Ken und Yolei saßen am Rand und unterhielten sich angeregt. Cody tanzte zusammen mit TK und Kari, die sich mal nicht die Zunge in den Hals steckten. Selbst Izzy und Joe hatten zwei Mädchen zum Tanzen gefunden. Mimi schnaubte und ließ ihren Kopf hängen. Ihre beste Freundin hatte sie aus den Augen verloren und auch Matt konnte sie nirgends finden. Alle hatten sie im Stich gelassen. Auch Tai tanzte mit dem Mädchen, das ihn vorhin so überschwänglich umarmt hatte. Er sah ein wenig lustlos aus, doch trotzdem befanden sie sich schon eine Viertelstunde gemeinsam auf der Tanzfläche. Mimi wandte den Blick von ihm und trank ihren Wodka in einem Zug aus. Sie überlegte sich schon den nächsten Becher zu holen, als ihr plötzlich jemand in die Seite zwickte. „Hey lass gefälligst deine Finger bei dir“, pampte sie die Person an, ohne sie anzuschauen. Schwungvoll drehte sie den Kopf mit samt ihrer Haarpracht in die Richtung des „Zwickers“. Überrascht sah sie in ein Paar braune Augen, die sie herausfordernd anstarrten. „Tai? Warst du nicht gerade auf der Tanzfläche?“ Er nickte nur und setzte sich lässig auf den Stuhl neben ihr. „Ja war ich. Aber dann habe ich dich so alleine hier sitzen gesehen und mir gedacht, dass ich dich ein bisschen mit meiner Anwesenheit erheitern sollte“. „Oh wie gütig von dir“, meinte sie sarkastisch und betrachtete ihren leeren Becher. „Ja so bin ich eben“, lachte er und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. „Wieso tanzt du nicht mit? Sonst bist du doch immer eine der Ersten, die die Tanzfläche unsicher macht“. „Ach ich dachte einfach, dass rumsitzen und deine komischen Fußballfreunde zu beobachten, die vollkommen betrunken sind, auch ganz witzig sein könnte“. In diesem Moment drehten sich beide zu zwei Mannschaftsmitgliedern von Tai, die sich mit der Tischdeko selbst zu dekorieren begannen. „Ach das sind nur Shuu und Benjiro. Das machen die immer so“, winkte er ab und schaute wieder zu Mimi. Diese nickte nur und sah zu dem Rest, der sich auf der Tanzfläche vergnügte. Doch Tai zwickte sie wieder. „Man, was soll das denn?“, fragte sie leicht gereizt und hielt sich die Seite, in die er hineingezwickt hatte. „Ich rede mit dir und du drehst dich weg“, sagte er gespielt empört. „Außerdem wollte ich mich noch bedanken“. „Bedanken? Für was?“, wollte sie wissen und sah ihn irritiert an. „Für den Kuchen? Bist du etwa leicht vergesslich?“ „Äh…nein. Also ehm…woher wusstest du, dass er von mir war? Ich habe doch gar nichts gesagt“. „Naja, es war eigentlich schon sehr offensichtlich, da ich nur zu dir gesagt habe, dass ich gerne einen Fußballkuchen hätte.“ Er grinste. Mimi sah nur verlegen zur Seite. „Ach, sowas habe ich doch gern gemacht“, meinte sie nur und merkte, dass ihre Wangen ganz heiß wurden. Er war etwas näher an sie heran gerückt und sie roch den Duft seines Aftershaves, dass in ihrer Nase kitzelte. „Trotzdem Danke! Ich habe mich wirklich sehr darüber gefreut“, ließ er sie wissen und beide sahen sich einen Augenblick schweigsam an. Ihre Gesichter waren sich sehr nah gekommen und auch sein Blick war äußerst intensiv, sodass sich ihre Nackenhärchen vor aller Anspannung aufstellten. Sie schluckte kurz, konnte aber nicht die Trockenheit in ihrem Mund besiegen. Sie biss sich leicht auf die Unterlippe und wandte den Kopf leicht zur Seite. Plötzlich schüttelte er leicht den Kopf und wich zurück. Enttäuscht blickte sie ihn an, doch er hatte nichts Besseres zu tun, als ins nächste Fettnäpfchen zu treten. „Sag mal, hast du eigentlich Sora gesehen? Sie ist schon ziemlich lange verschwunden und eigentlich wollte ich mich so langsam um meine Geschenke kümmern“, scherzte er und brachte sie kurz zum Lächeln. Doch eigentlich war ihr nicht zum Lächeln zu Mute. Was zur Hölle war gerade passiert? Wieso kamen sich ihre Gesichter so nah und wieso machte er ausgerechnet dann einen Rückzieher? Sie kaute auf ihrer Unterlippe herum und sah kurz zu Taichi, der den Raum nach Sora abzusuchen schien. „Weißt du was“, sagte sie plötzlich und stand auf, „ich werde sie einfach mal suchen gehen. Ich als ihre beste Freundin, werde sicher schon finden“. _ Sie hatte eindeutig eine zu große Klappe. Und dann bezeichnete sie vor Tai Sora als ihre beste Freundin, obwohl sie irgendwie das Gefühl hatte, dass die Rothaarige und Tai eine viel engere Beziehung zueinander hatten. Was war nur los mit ihr? Warum sagte sie nur so einen Mist und wo zur Hölle war Sora? Ach, sie verfluchte sich innerlich dafür, sie suchen gegangen zu sein. Sie hätte eher Tai zum Tanzen auffordern sollen. Warum war sie nur so ein verdammter Feigling? Jetzt lief sie wie eine Irre durch die Lokation und hielt nach ihrer rothaarigen Freundin Ausschau, die sich besser verstecken konnte, als ein Chamäleon. Sie hatte fast überall gesucht. Auf der Toilette, draußen vor der Tür, in der Halle selbst. Nichts! Es blieb nur noch der Hinterhof, den Mimi gerade ansteuerte. Sie kam an der Tür an und sah dass draußen Licht brannte. Ein eindeutiges Indiz dafür, dass sich draußen jemand aufhielt. Sie nahm die Türklinke in die Hand und drückte sie hinunter. Schwungvoll riss sie die Tür auf und blickte nach draußen, bevor ihr Herz augenblicklich stoppte und sie erstarrte. „Sora?“, quietschte sie schrill und ihre Freundin wandte sich ruckartig von ihrem Gegenüber ab. Ihre Lippen waren leicht geschwollenen und glitzerten im Mondlicht. „Was geht denn hier ab?“, fragte sie fassungslos und starrte den jungen Mann an, der Sora im Arm hielt. „Mimi, was machst du dir hier?“ „Tai hat dich gesucht. Er wollte seine Geschenke auspacken“, antwortete sie tonlos und starrte die beiden nieder. „Könnt ihr mir mal erklären, was das hier soll?“ Sie zeigte schwungvoll auf sie, bewegte sich jedoch keinen Meter von der Tür weg. „Man Mimi, ich wollte es dir sagen, aber w-wir haben noch nicht den richtigen Moment gefunden“, redete sich Sora raus und schaute demonstrativ zu Boden. „Schon klar und was ist mit dir? Hat es dir die Sprache verschlagen, Yamato?“ „Naja, w-wir…es war alles nicht geplant gewesen. Es ist einfach so passiert“, erläuterte er und hielt Sora immer noch im Arm. Mimis Kopf hingegen rauchte. Ihre beste Freundin war mit einem Aufreißer zusammen, der bestimmt nur seinen Spaß haben wollte und sie danach abschießen würde. So wie es ihr Ex-Freund bei ihr auch getan hatte. Wütend und enttäuscht, lief sie wieder rein und knallte die Tür geräuschvoll hinter sich zu. Sie wollte gerade wieder zu den anderen gehen, als sie plötzlich jemand am Arm packte und zurückzog. Kapitel 7: Unstimmigkeiten -------------------------- „Sora, was soll das?“, quietschte sie, als ihre rothaarige Freundin sie in die Nähe der Besenkammer zog. „Ich wollte nochmal mit dir reden. In Ruhe!“ Mimi zog die Augenbraue nach oben und verschränkte die Arme vor der Brust. „Na, dann schieß mal los. Ich bin wirklich gespannt“, meinte sie, konnte sich aber einen sarkastischen Unterton in der Stimme nicht verkneifen. „I-Ich wollte es dir sagen, wirklich“, versicherte sie ihr, „doch es ist alles etwas kompliziert“. „Kompliziert?“, wiederholte sie und fixierte sie mit ihrem Blick. Sora senkte den Kopf und verschränkte die Finger ineinander. „Naja, wir haben Tai noch nichts davon gesagt...und ähm also...“, stammelte sie und zog den Satz in die Länge. „Wir sind noch nicht richtig zusammen!“ Mimi klappte leicht die Kinnlade nach unten und starrte sie fassungslos an. „Wie bitte? Was soll das denn jetzt heißen?“ „Er wollte es noch nicht offiziell machen, wegen seiner Band und seinen Fans. Er hat Angst, dass sie auf die Nachricht komisch reagieren könnten“, erläuterte sie und knabberte an ihrer Unterlippe. „Was? Das ist doch Unsinn! Er hält dich nur hin!“, schimpfte Mimi, erstarrte aber kurz danach. Sie musterte Sora seltsam und zog sie näher an sich heran. „Du hast aber noch nicht mit ihm geschlafen, oder?“ „NEIN!“, antwortete sie empört und lief rot an. „Naja, sobald du ihn ranlässt, wird er sicher verschwunden sein“, murmelte sie leicht schnippisch und ließ sie wieder los. „Das glaube ich nicht! Er hat schon mehr als einmal die Gelegenheit gehabt und es noch nicht mal versucht. Außerdem ist es wirklich ernst zwischen uns!“ „Wow, dass dachten die hundert Mädchen, die er vorher hatte, bestimmt auch“, antwortete sie überheblich und reckte sich ihr Kinn. „Mimi, es ist wirklich anders als du...“ „Und wann hattet ihr vor es Tai zu sagen?“, unterbrach die Brünette sie schrill. „Für ihn wird doch die neue Situation mehr als seltsam sein.“ „Ich wollte es ihm an dem Samstag sagen, wo wir ins Kino gegangen sind. Ursprünglich mit Matt, aber er..." „Er hatte keine Zeit! Sag mal, merkst du es nicht? Das stinkt doch Meilenweit gegen den Wind!“, raunzte sie und stemmte die Hände in die Hüpfte. „Er verarscht dich!“ „Das stimmt doch gar nicht!“, verteidigte sich Sora und sah sie mit einem weinerlichen Blick an. Sie war förmlich den Tränen nah, besonders weil Mimi sie so anblaffte. Doch die Brünette dachte gar nicht daran aufzuhören. Irgendjemand musste doch ihr Gewissen ersetzen, jetzt, wo sie sich komplett blind vor Liebe ins Verderben stürzte. „Erinnerst du dich denn gar nicht mehr daran, dass er mich auch mal in die Kiste bekommen wollte? Kurz vor den Sommerferien. Letztes Jahr? Klingelt‘s?“ Sora sah nur beschämt zu Boden und biss sich verkrampft auf die Unterlippe, während sich Mimi noch genau an den besagten Abend erinnerte. Er war damals schon etwas angetrunken gewesen und hatte zuvor ein Konzert gehabt. Den ganzen Abend hatte er ihr an der Backe geklebt und ihr Komplimente gemacht, die sie normalerweise auch gerne hörte. Doch sie war zu sehr auf eine andere Person fixiert gewesen, die sie an diesem Abend verzaubert hatte. Ungewollt selbstverständlich. Sie hatten zusammen getanzt und sie erinnerte sich noch ganz genau an seinen Duft, seine Bewegungen und sein Lachen, das sie einfach nur magisch fand. Es war das erste Mal, dass sie Tai in einem anderen Licht wahrnahm und sich gewünscht hätte, einmal von ihm geküsst zu werden. Doch dieser Wunsch wurde ihr bis heute nicht erfüllt. Und jetzt stand sie direkt vor ihrer besten Freundin, die ihr unmissverständlich klar machen wollte, dass Matt sich geändert hatte. „Er meint es wirklich ernst! Und ich wollte dir und Tai auch samstags die Wahrheit sagen, aber du warst schon mit deinen Eltern zum Essen verabredet gewesen.“ „Willst du mir jetzt die Schuld daran geben?“, fragte sie empört. „Du hättest ihm doch ruhig die Wahrheit sagen können. Dafür brauchst du mich doch nicht!“ „Ich weiß“, murmelte sie mit gesenktem Kopf, „aber ich habe absolut keine Ahnung, wie er reagieren wird. Und als ich ihm ganz alleine gegenübersaß, habe ich mich nicht mehr getraut.“ Mimi verdrehte die Augen. Sie hatte sie also damals nur mitgenommen, weil sie jemanden brauchte, der ihr den Rücken stärkte. Das hatte sie ja toll eingefädelt gehabt. „Ja, begeistert wird er sicher nicht sein. Er wird sich sicher wie das fünfte Rad am Wagen vorkommen, aber du musst es ihm sagen! So kann es doch nicht weitergehen“, erwiderte sie und stellte sich Sora und Matt als Paar vor. Wie sie gemeinsam über den Schulhof liefen und Tai wie ein Hanswurst hinter den beiden hinterhersprintete. Keine schöne Vorstellung. Doch Liebe war anscheinend unberechenbar und machte noch nicht mal vor den besten Freunden halt. Zumal Mimi auch das Gefühl hatte, dass Tai mehr für Sora empfand, als er eigentlich zugeben wollte. Noch immer hoffte sie, dass sie es sich einbilden würde. Dass, es eine Halluzination oder nur ihre eigene Überempfindlichkeit war. Aber wenn Sora mit Matt zusammen wäre, würde Tai ihr sicher früher oder später abschwören müssen. Und vielleicht würde sie es so schaffen sein Herz langfristig gesehen zu erobern. Sie schmunzelte leicht und freute sich ungemein über diesen Gedanken. In gewisser Hinsicht war sie immer schon ein kleiner Egoist gewesen. Sie presste die Lippen aufeinander und sah zu ihrer niedergeschlagenen Freundin. „Hör mal, ich kann nicht beurteilen ob Matt sich geändert hat oder nicht, aber ich werde sicherlich ein Auge auf ihn werfen. Und sobald er was Dummes macht, bis du die Erste, die es erfährt.“ Sie griff nach ihrer Hand und sah sie aufmunternd an. „Aber du solltest Tai die Wahrheit sagen. Er hat ein Recht zu erfahren, was sich zwischen seinen besten Freunden anbahnt.“ Sora lächelte müde und nickte nur. „Du hast recht, aber lass uns jetzt erst mal die Party hinter uns bringen“, meinte sie beruhigend. Mimi nickte und beide Mädchen gingen wieder zu den anderen zurück. _ „Na, dann mal her mit den Geschenken“, meinte Tai grinsend und sah herausfordernd in die kleine Runde, die sich vor ihm gebildet hatte. Kari fing an und reichte ihm ein wunderschön, verpacktes Paket. „Das ist von Takeru und mir“, meinte sie lächeln und warf einen verstohlenen Blick zu ihrem Freund. „Verschenkt ihr jetzt auch schon im Doppelpack? Ist ja echt nervig“, meinte er entrüstete, grinste aber, nachdem Kari ihm einen unsanften Klaps gegen den Arm gab. Er riss das Papier auf, wie ein freudiges kleines Kind und warf es achtlos auf den Boden. Zum Vorschein kam ein kleines braunes Buch, dass mit goldenen Elementen verziert war. „Ich hoffe es gefällt dir. TK hat dir verschiedene Sprüche reingeschrieben und ich habe die Bilder ausgesucht und bearbeitet“, erklärte sie, während er gedankenverloren darin herumblätterte. „Wow, danke Kari“, sagte er plötzlich und zog seine Schwester in eine herzliche Umarmung. Als er sie wieder losließ, fixierte er Takeru mit einem kurzen Blick und wandte sich danach wieder zu seiner Schwester. „Hey willst du ihm nicht ‚Danke‘ sagen?“, fragte diese empört. „Ach, ich glaube es ist schon Dank genug, dass er sich mit dir verabreden darf“, witzelte er und klopfte seinem Gegenüber auf die Schultern. Takeru grinste gestellt und verrollte nur die Augen. „Du bist echt unmöglich, Tai“, zischte seine Schwester. „So bin ich nun mal“, lachte er, als schon das nächste Geschenk an ihn weitergereicht wurde. Mimi hatte sich nach hinten verzogen und beobachtete das ganze Prozedere aus sicherer Entfernung. Ihr Geschenk wurde schon vor über zwei Stunden aufgefuttert. Und auch, wenn sich Tai über den Kuchen gefreut hatte, war es ihr unangenehm, nicht noch ein kleines Präsent für ihn besorgt zu haben. Selbst das Mädchen, das vorhin so eng mit ihm getanzt hatte, hatte ein kleines Geschenk für ihn. Mimi hatte erfahren, dass es sich um eine Klassenkameradin handelte, die sie auch schon oft bei seinen Spielen gesehen hatte. Der Name war ihr allerdings entfallen. Zum Schluss waren Matt und Sora an der Reihe, die schon ganz hibbelig wurden. Ihr Geschenk würde ihn sicher umhauen, genauso wie die Tatsache, dass sie ein „Fast-Paar“ waren. Mimi war gespannt, wann Sora Tai die Wahrheit sagen wollte. Vielleicht morgen beim Aufräumen oder demnächst in der Schule. Mimi malte sich schon aus, wie er reagieren könnte… Wahrscheinlich wäre er die erste Zeit sehr deprimiert. Doch Mimi hatte beschlossen, einfach für ihn da zu sein und somit sich langsam in sein Herz zu schleichen. Sie war regelrecht verbissen. Sie wollte unbedingt sein Herz gewinnen, auch wenn sie insgeheim wusste, dass es wohl nicht so einfach ging. Mimi blickte zu den anderen und sah, dass Matt ihm gerade den Umschlag überreicht hatte. Sora gab ihm ein etwas größeres Päckchen, indem sehr wahrscheinlich das T-Shirt eingepackt war. Natürlich öffnete er das Geschenk, das ihm Sora gegeben hatte, zuerst. Seine Augen wurden größer, als er das T-Shirt aus dem Papier pfriemelte. „Wow ist das etwa...?“ „Ja, ist es. Von deiner Lieblingsmannschaft“, meinte Matt grinsend, während Tai sich das Shirt an seinen Körper hielt. „Jetzt mach‘ schon das Nächste auf! Die beiden Geschenke hängen zusammen“. Tai legte kurz das T-Shirt beiseite und öffnete vorsichtig das Päckchen, dass Matt ihm überreicht hatte – so als würde er wissen, dass es sich um etwas mit wertvollen Inhalt handelte. Plötzlich zog er scharf die Luft ein und sah ungläubig zu seinen besten Freunden. „Das ist doch nicht euer Ernst?!“, sagte er vollkommen perplex und stierte darauf. „Ihr habt mir zwei Karten für ein Spiel meiner Lieblingsmannschaft besorgt? Ihr seid doch verrückt“. Er grinste bis über beide Ohren und zog beide in eine herzliche Umarmung. „Das ist wirklich das beste Geschenk aller Zeiten“, hörte Mimi ihn sagen und blickte enttäuscht zu Boden. Ihre Mühen waren wohl doch umsonst gewesen. _ Kurz vor zwei war nur noch der harte Kern übrig geblieben, der sich auch allmählich auf den Nachhauseweg machen wollte. Nur noch Takeru, Kari, Matt, Sora, Tai und Izzy waren da. Und natürlich sie selbst. Mimi hatte bereits ziemlich viel getrunken und ihr stand die Müdigkeit ins Gesicht geschrieben. Sie gähnte herzlich und hielt sich die Hand vor den Mund. Ihr Kopf fühlte sich benebelt an, doch auch den anderen schien es nicht anders zu gehen. Sora hatte sich gegen Tai gelehnt und ihr waren schon mehrmals die Augen zugefallen, während Tai zufrieden lächelte und dafür sorgte, dass sie nicht umkippte. Matt war im Hinterhof und rauchte. Izzy nippte an seinem letzten Bier und Kari schmiegte sich an Takeru, der fast schon zu schlafen schien. Mimi saß auf einem der Tische und baumelte mit den Beinen hin und her. Sie wollte unbedingt ins Bett. Doch keiner machte irgendwelche Anstalten aufzustehen. Wieder und wieder blickte sie durch die übersichtliche Runde und ein müdes Lächeln zog sich über ihre Lippen. Als sie zu Tai und Sora sah, schüttelte sie unbemerkt den Kopf. Wieso lehnte sie sich bei Tai an, obwohl klar war, dass sie Matt liebte? Hätte Mimi beide heute nicht erwischt, hätte sie auch sicher nichts gemerkt. Das verliebte Paar sah man ihnen wirklich nicht an. Obwohl Mimi insgeheim wusste, wie glücklich er sie machte. Immer wenn sich Sora mit Matt verabredet hatte, erzählte sie mit einem Strahlen von ihrem Date. Natürlich wusste Mimi damals nicht, dass es sich um Matt handelte. Komisch war wirklich, dass beide sich sehr gut zusammenreißen konnten, wenn sie mit ihnen unterwegs waren. Keine zufälligen Berührungen oder zärtlichen Blicke. Nichts. Sie wirkten wie stinknormale Freunde. Jedenfalls augenscheinlich. Vielleicht hatte Mimi auch nicht genau hingeschaut. Vielleicht hatte sie die klaren Zeichen einfach übersehen. Plötzlich kam Matt zurück und räusperte sich kurz. „Ich glaube wir sollten langsam nach Hause gehen. Mein Bruder scheint schon eingeschlafen zu sein“, lachte er und deutete auf den anderen Blondschopf. Hikari fuhr ihm mit der Hand liebevoll über die Wange und langsam schien er wieder in die Realität zurückzufinden. Er gab einen kurzen Laut von sich und kniff die Augen zusammen. „Warum guckt ihr mich denn alle so komisch an?“ Er gähnte. „Du bist eingeschlafen“, informierte Kari ihn grinsend, während er sich durch die blonde Mähne fuhr. „Wirklich? Hab ich etwa gesabbert?“ „Nein und selbst wenn…bei dir würde alles süß aussehen“, kicherte Kari und kuschelte sich noch ein bisschen an ihn heran. Tai machte ein angewidertes Gesicht, während Mimi sehnsüchtig die Beziehung der beiden beobachtete. Beide waren so süß zusammen. Sie war richtig neidisch, auch wenn sie Hikari ihr Glück natürlich gönnte. Sie kaute auf ihrer Unterlippe herum, als Tai plötzlich aufstand und das Wort ergriff. „Ich glaube wir sollten nach Hause gehen“, meinte er nur und sah in die Runde. „Bin dafür. Mir fallen schon die Augen zu“, stimmte Sora mit ein und rieb sich über die Augenpartie. „Gut dann werden wir uns jetzt mal auf den Weg machen“, sagte Matt bestimmend und zog sich als Erster seine Jacke an. Mimi sprang vom Tisch und schlüpfte ebenfalls in ihre. Sie schnappte sich noch ihre Transportbox und ging mit den anderen nach draußen. Eine kühle Brise kam ihr entgegen und der Nebel in ihrem Kopf schien sich zu verschlimmern. Sie hielt sich kurz an der Hauswand fest und sah zum Himmel, der mit Sternen bedeckt war. „Geht´s dir gut?“, fragte Izzy sie plötzlich und berührte zaghaft ihren Arm. „Ja klar, mir ist nur etwas schwindelig“, antwortete sie. Genau genommen ging es ihr gar nicht gut. Ihre Knie waren weich wie Wackelpudding und sie hatten einen komischen Geschmack im Mund, der ohnehin schon sehr trocken war. „Ich bring dich noch nach Hause“, bot Izzy ihr an und sah aufmunternd zu ihr. „Danke, das ist nett.“ „Dann bringe ich Sora nach Hause!“, bestimmte Tai grinsend und bot ihr seinen Arm zum Festhalten an. „Ach Tai, ich finde schon noch nach Hause, außerdem kannst du doch Kari nicht alleine gehen lassen“, meinte sie und schüttelte den Kopf. „Ich kann sie nach Hause bringen!“, meldete sich Matt nun zu Wort. „TK muss ja auch noch irgendwie zu Mama kommen, also wäre das kein Problem danach auch noch Sora bei ihrer Mutter abzuliefern“. Er grinste und kassierte von Sora einen eindeutigen Blick. „Was heißt hier abliefern? Ich bin doch kein Paket“, murrte sie, lächelte aber im nächsten Augenblick wieder. Tai zog die Mundwinkel nach oben und kräuselte leicht die Lippen. „Gut dann wäre das ja geklärt“, erwiderte er, wirkte auf Mimi jedoch sehr enttäuscht. Diese Erkenntnis schlug ihr wiederrum auf den Magen, der sich anfühlte, als hätte sie Backsteine gegessen. „Na dann gehen wir mal los“, sagte Izzy und sah zu Mimi, die immer noch an der Wand gelehnt stand. „Ja okay“, murmelte diese und bewegte sich langsam. „Ach und wenn ihr noch Hilfe braucht, könnt ihr mir morgen ja ‘ne SMS schreiben“, ergänzte der Rotschopf, während Mimi sich halbherzig von allen verabschiedete. Sie war bei Tai angekommen und zog ihn in eine eher flüchtige Umarmung, als er sie plötzlich fest an sich drückte. Mimi spürte seinen warmen Atem neben ihrem Ohr. „Vielen Dank für den Kuchen. Ich glaube, so ein tolles Geschenk habe ich noch nie von jemandem bekommen“, hauchte er und eine leichte Gänsehaut überkam sie. Dann hatte er sie wieder losgelassen. Perplex sah sie ihn an. Tai grinste nur schief. „Komm gut nach Hause.“ „Ja, du auch“, flüsterte sie und ging mit Izzy los, auch wenn ihre Gedanken noch um seine Worte kreisten. Kapitel 8: Ein langweiliger Sonntag ----------------------------------- Müde und vollkommen ausgelaugt erwachte sie in ihrem Bett. Ihre Beine hatte sie um die Decke gewickelt und ihr Kopf lag schräg auf ihrem Kissen. Ein leises Stöhnen zog sich durch den Raum, als sie sich langsam erhob, sich dann aber wieder auf ihr Bett sinken ließ. Sie hielt sich den Kopf, der brummte. Was hatte sie gestern nur alles getrunken? Sie erinnerte sich kaum noch daran, wie sie nach Hause gekommen war. Alles war im Nebel verschwunden. Mimi blinzelte leicht und legte sie schwerfällig auf den Rücken. Ihre Beine hatte sie aus der Decke befreit und sie ans Bettende getreten. Sie sah kurz an sich hinunter und stellte fest, dass sie noch ihren Klamotten von gestern anhatte. Noch nicht mal die Kraft zum Umziehen hatte sie gehabt. Sie fuhr sich mit ihrer Handfläche über ihr Gesicht. Abgeschminkt hatte sie sich auch nicht. Ihre Wimpern fühlten sich verklebt an und irgendwie hatte Mimi nicht sonderlich viel Lust, ihr Spiegelbild zu sehen. Vielleicht sollte sie sich lieber noch einmal umlegen und warten bis ihr Kater von selbst verschwunden war. Doch gerade als sie sich zur Seite drehen wollte, vernahm sie ein leises Klopfen, dass sich in ihrem Kopf wie lautes Hämmern anhörte. „Was?“, knurrte sie und hielt sich die Ohren zu. Kurz darauf trat ihre Mutter in den Raum und musterte sie. Ihr Blick blieb selbstverständlich an ihren nicht gewechselten Klamotten hängen. „Ach Mimi, was hast du gestern Abend nur getrieben?“ Sie schüttelte den Kopf und ging zum Fenster. Ohne Vorwarnung zog sie die Rollos nach oben und Mimi sah direkt ins Sonnenlicht, dass sie blendete und ihren Kater zu verschlimmern schien. „Mach‘ die wieder zu“, blaffte sie und zog sich das Kissen vors Gesicht. „Schatz, heute ist so ein schöner Tag und ich kann wirklich nicht zulassen, dass du ihn verschläfst“, erwiderte sie und setzte sich auf die Bettkante. „Außerdem will dein Vater heute Mittag essen gehen.“ „Und weiter?“, murrte sie und richtete den Blick kurz zu ihrer Mutter, bevor sie sich wieder vor den Sonnenstrahlen versteckte. „Geht doch alleine. Ich brauche meinen Schönheitsschlaf“. „Du brauchst eine erfrischende Dusche“, meinte Satoe und roch an ihr. „Hast du gestern in Wodka gebadet? Das riecht ja fürchterlich.“ „Nein, Mama“, grummelte sie und presste ihr Gesicht fester ins Kissen. „Wie kam denn dein Geschenk an? Hat sich dein Herzblatt gefreut?“ Sie konnte förmlich das Grinsen aus ihrer Stimme heraushören. Herzblatt? War das ihr Ernst? Merkte sie nicht, dass sie noch nicht mal richtig anwesend war? „Er ist nicht mein Herzblatt“, zischte sie und erhob sich leicht. „Ja, wenn er dich so sehen würde…Mimi ich hoffe, du hast gestern Abend noch anders ausgesehen“, antwortete sie entrüstet und begutachtete ihre Tochter genau. „Danke für dieses umwerfende Kompliment! Tut mir leid, dass ich nach dem Schlafen, nicht wie aus dem Ei gepellt, aussehe.“ „Ach Mimi, so meinte ich das doch gar nicht“. Sie schüttelte den Kopf und stand auf. „Ich hoffe trotzdem, dass du Spaß hattest. Und jetzt mach dich fertig, wir fahren in eineinhalb Stunden in die Stadt.“ „In eineinhalb Stunden? Wie viel Uhr ist es überhaupt?“, fragte sie empört, da ihre innere Uhr ihr einredete, dass es noch früh am Morgen sein müsste. Sie starrte auf ihren Wecker und schluckte kurz. 11:02 Uhr. Hatte sie etwa so lange geschlafen? Warum fühlte sie sich dann trotzdem noch so, als wäre sie von einem Bus überrollt worden? Sonst ging es ihr, nach so viel Schlaf, immer um einiges besser. Doch heute war wohl die Ausnahme. Ihre Mutter hatte die Arme vor der Brust verschränkt, eine Augenbraue hochgezogen und sah sie auffordernd an. Sie erwiderte ihren Blick kurz, verdrehte aber nur die Augen. „Ist ja schon gut. Ich steh‘ ja schon auf“, meinte sie grimmig und setzte sich auf ihre Bettkante. Mimi fuhr sich durch die langen braunen Haare und entdeckte prompt einige Knoten, die ihr das Durchfahren mit den Fingern erschwerte. Sie brauchte dringend eine warme Dusche und viel Conditioner. _ Immer noch müde und ausgelaugt stand sie vor dem Spiegel. Ihren Augen waren noch leicht verquollen und ein schwacher schwarzer Schatten umrandete sie. Angewidert von der Person im Spiegel verzog Mimi das Gesicht. Sie konnte sich gar nicht mehr daran erinnern, wann sie das letzte Mal so schrecklich aussah. Sie wandte sich ab und schlüpfte in ihre Klamotten. Dann kämmte sie ihr langes hellbraunes Haar, das durch den Conditioner, ganz weich geworden war. Ihre Haare gingen ihr im nassen Zustand bereits bis über die Brust. Sie beobachtete sich wieder im Spiegel und sah, dass ihre normale Gesichtsfarbe allmählich zurückkehre und den leicht grünlichen Ton verdrängte. Sie schnappte sich ihren Föhn und stellte ihn auf die mittlere Stufe. Die warme Luft traf sie von oben und trocknete langsam ihre leicht wellende Haarpracht. Sie brauchte immer recht lange, bis ihre Haare ganz getrocknet waren. Gedankenverloren bürstete sie sie durch und dachte auf einmal an Taichis Worte, die sie die halbe Nacht beschäftigt hatten. Vielleicht sah sie deswegen so unausgeschlafen und fertig aus. Doch was sollte sie machen? Seine Worte hatten sie schon sehr gefreut. Ob er sie auch wirklich ernst meinte? „Vielen Dank für den Kuchen. Ich glaube, so ein tolles Geschenk habe ich noch nie von jemandem bekommen.“ Von niemandem, hatte er gesagt, obwohl er die Karten und das T-Shirt von seiner Lieblingsmannschaft bekommen hatte. Obwohl er sagte, dass es das beste Geschenk aller Zeiten war. Abgesehen von ihrem Kuchen? War es etwa ein besonderes Geschenk für ihn? Nein, das konnte nicht sein. Aber dann war da auch noch der Moment, in dem sie ganz dicht beieinander saßen und er ihr tief in die Augen schaute. Wollte er sie küssen? Warum hatte er nur den Kopf geschüttelt? Hatte sie etwas falsch gemacht? Es waren eindeutig zu viele ungeklärte Fragen übrig geblieben. Eigentlich hatte sie gehofft, durch ihr Geschenk mehr Antworten zu erhalten. Doch genau das Gegenteil war der Fall. Es hatte alles komplizierter gemacht und ihr gezeigt, dass sie wohl wirklich selbst die Initiative ergreifen musste. Doch was sollte sie machen? Ihn küssen, wenn er ihr das nächste Mal zu nah kam? Was, wenn es kein nächstes Mal gab? Und was, wenn er sie geschockt beiseite stoßen würde? Noch mehr Fragen schossen ihr plötzlich durch den Kopf. Sie sah sich einen Moment intensiv im Spiegel an und sah, dass sich ihre Spitzen bereits leicht lockten. Ein müdes Lächeln zog sich über ihr Gesicht. Sie war nicht viel weiter als gestern. Viel mehr hatte sie das Gefühl, dass die neuen Erkenntnisse sie deutlich zurückgeworfen hatten. _ „Und was hat er gesagt?“, fragte ihre Mutter neugierig und ging neben ihrer Tochter her. Ihr Vater lief ein paar Meter vor ihnen und steuerte auf das Restaurant, indem sie essen wollten, zu. „Wer hat was gesagt?“, fragte Mimi verwirrt. „Na dein Herzblatt“. Sie sah sie erwartungsvoll an, während Mimi leicht rot um die Nase wurde. „Wie oft soll ich dir noch sagen, dass er nicht mein Herzblatt ist!“, knurrte sie und wisch ihren Blicken gekonnt aus. „Aber wie soll ich ihn denn sonst nennen?“, fragte sie leicht verzweifelt, während Mimi einen Schritt schneller ging. „Wie wäre es, wenn du ihn einfach bei seinem Namen nennst?“ Satoe schnaubte nur und hielt ihrer Tochter die Tür des Restaurants auf. „Ach Mimi, das ist doch viel zu offensichtlich. Aber wie lief es denn jetzt? Hat ihm der Kuchen geschmeckt?“ „Ja, Mama“, antwortete sie zähneknirschend. „Und habt ihr jetzt bald mal ein Date?“ „Mama“, zischte sie und sah kurz zu ihrem Vater, der sich gerade an den Kellner gewandt hatte, um sich ihren Tisch zeigen zu lassen. „Was denn?“ Mit einem unschuldigen Blick starrte sie ihre Tochter an und Mimi konnte ihr nicht länger böse sein. Sie wusste ja, wie neugierig ihre Mutter war. Jedenfalls in solchen Situationen. „Es ist kompliziert“, sprach sie endlich aus und sah wie ihr Vater ihnen zuwinkte und auf den freien Tisch deutete, den ihm der Kellner gezeigt hatte. „Was heißt denn hier kompliziert? Du magst ihn doch, oder?“ „Können wir bitte später darüber reden? Papa muss nicht alles mitbekommen“, bat sie und sah ihre Mutter flehend an. Sie wollte nicht, dass auch ihr Vater noch Fragen stellte. „Oh, verstehe“, meinte sie lächelnd und zwinkerte ihr wissend zu. Mimi verrollte nur die Augen und setzte sich auf ihren Platz. _ Gelangweilt saß sie über ihrem Nachtisch und löffelte ein bisschen von ihrer Mousse au chocolat. Nebenbei hörte sie dem Gespräch ihrer Eltern zu, die sich überlegten, wo sie in den Sommerferien wieder Urlaub machen wollten. Mimi war schon letztes Jahr nicht mehr mitgefahren, sondern hatte vierzehn Tage bei Sora übernachtet. Zwar liebte sie reisen und neue Länder kennen zu lernen, doch mit ihren Eltern wollte sie schon lange nicht mehr den Urlaub verbringen. Sie beobachtete ihre Eltern, dann wieder ihre Mousse au chocolat. Wie viel Kolorieren sie wohl zu sich nahm? Sie leckte sich die Lippen und schmeckte den süßen Geschmack der Schokolade. Normalerweise aß sie sowas nicht, doch heute schrie ihr Körper förmlich nach ungesundem Zeug. Deswegen wollte sie sich auch nicht länger Gedanken darum machen. Mimi wollte sich gerade wieder voll und ganz ihrem Nachtisch widmen, als ihr Vater plötzlich in ihre Richtung sah und erstarrte. Sie sah ihn kurz an, wandte den Kopf hinter und folgte seinem Blick. Gerade hatten eine Frau und ein junges Mädchen, das Restaurant betreten. Sie sahen noch nicht mal in ihre Richtung, aber Mimi war sich sicher das Mädchen schon irgendwo mal gesehen zu haben. „Ist das etwa Ayame?“, fragte ihre Mutter verunsichert und riss sie aus ihren Gedanken. Sie drehte sich abrupt herum und runzelte die Stirn. „Wer?“ „Ach so ein Quatsch. Du musst dich irren“, meinte Keisuke abweisend und wandte den Blick von der Frau. „Und warum hast du sie gerade so komisch angeguckt?“, fragte Mimi und drehte wieder den Kopf hinter. Beide waren aus ihrem Sichtfeld verschwunden. Wahrscheinlich hatte ein Kellner sie zu ihren Plätzen geführt. „Ich habe niemanden komisch angeguckt! Ihr seht wohl beide Gespenster“, behauptete er und wurde zunehmend unruhiger. Ein Kellner ging gerade an ihrem Tisch vorbei und Keisuke kramte sein Portmonee heraus. „Ich würde dann gerne zahlen.“ „Ich bin aber noch nicht fertig“, protestierte Mimi und schaute zu ihrer halbvollen Schale mit Mousse au chocolat. „Sie können es uns doch sicher einpacken, oder?“, fragte ihr Vater leicht gereizt, während der Kellner nur verhalten nickte und ohne ein weiteres Wort zu verlieren ihre Mousse au chocolat abräumte. „Warum bist du denn so komisch?“, fragte Satoe verwundert und beäugte das angestrengte Gesicht ihres Mannes. „Ich bin überhaupt nicht komisch!“, wehrte er sich und rieb sich die Schläfen. „Doch bist du! Und ich bin mir ziemlich sicher, dass es Ayame war“, konterte sie und sah verwirrt drein. „Ich dachte, sie ist umgezogen!“ „Das ist sie nicht! Da bin ich mir sicher.“ „Wer ist denn Ayame?“, warf Mimi erneut ein und musterte ihre Eltern seltsam. Von diesem Namen hatte sie noch nie etwas gehört. „Sie war…“, begann ihre Mutter, wurde aber schroff von ihrem Vater unterbrochen. „Satoe, das Thema hatten wir wirklich zu genüge. Sie ist es nicht und ich möchte jetzt wirklich gehen.“, er fasste sich an den Kopf und zog die Stirn schmerzvoll zusammen. „Ich bekomme Migräne.“ Satoe sah ihn kurz an und schüttelte leicht den Kopf. „Du hast sicher Recht. Ich habe es mir wohl nur eingebildet.“ Mimi runzelte die Stirn und sah ihre Eltern skeptisch an. Was war denn jetzt schon wieder los? Warum waren beide auf einmal so komisch? War ihr Leben zu einem nervigen Frage-Antwort-Rätsel mutiert? _ Nach dem Essen hatte Mimi die meiste Zeit in ihrem Zimmer verbracht und ein paar Liebesschnulzen auf ihrem Laptop geschaut. Sie hatte nicht mitbekommen, dass sich unten im Wohnzimmer ein Sturm zusammenbraute. Vom Hunger in die Küche getrieben, blieb sie vor der Wohnzimmertür stehen, da sie deutlich die Stimmen ihrer Eltern wahrnahm. Sie waren viel lauter als sonst und schon wieder fiel besagter Name, zudem niemand ihr eine Auskunft geben wollte. Langsam und leise schritt sie zur Tür und lauschte. „Aber ich bin mir sicher, dass ich sie gesehen habe“, hörte sie ihre Mutter sagen. „Fängst du schon wieder damit an? Ich dachte wir hätten es geklärt.“ Mimi öffnete die Tür einen Spalt und sah ihren Vater auf der Couch sitzen, während ihre Mutter nachdenklich durch den Raum wanderte. „Ja, aber je länger ich darüber nachdenke, desto sicherer bin ich, dass sie es war“. „Und weiter? Willst du sie demnächst zum Kaffee einladen und in Erinnerungen schwelgen?“, fragte er leicht spöttisch und fuhr sich mit der Hand über sein Genick. „Nein, aber wir standen uns mal so nah…“ „Schatz ich weiß, dass es für dich nicht einfach ist, aber muss ich dich wirklich an die Sache von damals erinnern?“, unterbrach er sie und lehnte sich vor. „An all die Streitigkeiten, die wir wegen ihr hatten? An all den Ärger?“ „Natürlich habe ich das nicht vergessen, aber…“, sie brach abrupt ihren Satz ab und blieb direkt vor ihrem Mann stehen. Sie atmete tief ein und fuhr sich mit beiden Händen über ihr Gesicht. „Aber ich kann doch nicht einfach so tun, als würde ich sie nicht kennen.“ „Du kennst sie doch auch nicht mehr. Du hast sie achtzehn Jahre nicht gesehen und Menschen verändern sich.“ „Aber sie war doch mal meine beste Freundin“, antwortete sie und klang sehr betrübt. Ihre beste Freundin? Mimi standen die Fragezeichen ins Gesicht geschrieben. Wenn diese Frau mal die beste Freundin ihrer Mutter war, warum hatte sie sie nie erwähnt? Bis vor ein paar Stunden, kannte sie noch nicht mal den Namen der Frau, die ihrer Mutter angeblich mal so nah stand. Mimi war verwirrt. Anscheinend war mal etwas vorgefallen, das beide entzweit hatte und sie achtzehn Jahre davon abhielt miteinander zu reden. Nur was? Automatisch dachte Mimi an Sora, die sowas ähnliches wie ihre beste Freundin war. Der, der sie fast alles erzählte. Und die sie manchmal auch ohne Worte verstand, nur weil sie ihre Mimik genau deuten konnte. Mimi konnte sich nicht vorstellen, so lange mit einem Menschen, den man mochte, nicht mehr zu reden. Sie schritt ein paar Schritte zurück und betrachtete ihren Pudding, den sie sich aus der Küche geholt hatte. Sie hatte wirklich vergessen, dass sie eigentlich Hunger hatte. Sie sah wieder zur Tür, dann wisch sie sie weitere Schritte zurück. Eigentlich ging es sie ja nichts an. Warum sollte sie sich für Dinge interessieren, die bereits vor achtzehn Jahre stattgefunden hatten? Sie hatte weiß Gott, viel wichtigere und komplizierte Probleme. Mit Altlasten brauchte sie sich wirklich nicht mehr zu beschäftigen. Kapitel 9: Unvorhersehbare Peinlichkeiten ----------------------------------------- Der Wochenanfang kam schneller als Mimi eigentlich lieb war. Zwar hatte sie nicht beim Aufräumen geholfen, aber trotzdem war sie erledigt. Vielleicht hätte an Tais Geburtstag nicht so viel trinken sollen. Und auch ihr Sonntag war mehr als nur seltsam gewesen, auch wenn sie das Gespräch ihrer Eltern zu verdrängen versuchte. Schließlich ging es sie ja wirklich nichts an. Wenn da nicht ihre Neugierde wäre… Gelangweilt wie immer, saß sie neben Izzy im Englischunterricht und hoffte, dass die Stunde bald vorbei sein würde. Den Nachmittag verbrachte sie wie immer mit Sora, die sie später vom Tennis Training abholen wollte. Zuvor hatten sie geplant, alle gemeinsam Mittagessen zu gehen. Mimi wollte allerdings, so schnell wie möglich, mit Sora ein Gespräch unter vier Augen führen. Die Sache mit Matt, hatte sie noch das restliche Wochenende beschäftigt und sie hoffte auch, dass beide es Tai bald sagen wollten. Ihn im Unklaren zu lassen, wäre wirklich nicht fair. Sie war gespannt, wie er darauf reagieren würde. Wäre er geschockt? Würde er ausflippen? Oder würde er sich sogar für den beiden freuen? Mimi wippte ungeduldig mit dem Fuß auf und ab und starrte kurz zur Tafel. Dann wieder zum Fenster. Sie konnte es gar nicht erwarten, Sora ein wenig auf den Zahn zu fühlen. _ Die Erlösung kam früher als gedacht. Mimi war richtig euphorisch gewesen, als es endlich zu Mittagspause klingelte. Sie ließ achtlos ihre Sachen liegen und wartete auf Izzy, der bereits die Bücher für die nächste Stunde auspackte. „Man Izzy, beeil‘ dich doch“, forderte Mimi schrill und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich hab‘ Hunger.“ „Hetz‘ doch nicht immer so“, grummelte er und legte die Bücher auf den Tisch. „Und du brauchst auch nicht immer auf mich zu warten. Ich find‘ den Weg schon alleine.“ Mimi verdrehte nur die Augen und setzte sich in Bewegung, als Izzy auf sie zugesteuert kam. Sie gingen den Gang entlang und sahen wie einige Schüler an ihnen vorbeiliefen und die Treppe hinunter eilten. „Gibt´s da irgendwas umsonst?“, fragte Mimi und zog die Augenbraue nach oben. „Heute gibt es Reisbällchen“, informierte Izzy sie. „Und weiter? Die sind doch gar nicht so gut“, meinte Mimi nur. „Aber sie sind besser, als die anderen Gerichte in der Cafeteria“, lachte er und ging ebenfalls einen Schritt schneller. Mimi schüttelte nur den Kopf. Sie würde sich wahrscheinlich eh nur einen Salat holen. Auf die fetttriefende Soße und das gebratene Fleisch, hatte sie heute wirklich keine Lust. Besonders nicht, nachdem sie sonntags schon so viel Kalorien zu sich genommen hatte. Sie wollte ja nicht fett werden. „Und hast du am Sonntag noch beim Aufräumen geholfen?“, fragte sie plötzlich. „Ehm, nein. Tai hat mir ‘ne SMS geschrieben, dass er keine Hilfe mehr braucht. Anscheinend waren neben Sora und Matt, noch seine Eltern, Kari und Takeru da“, erklärte er schulterzuckend. Mimi nickte nur. Nachdem sie ihr Essen geholt hatten, gingen sie zu den anderen, die bereits an ihrem Stammplatz saßen und über etwas angeregt zu diskutieren schienen. „Hallo“, begrüßte Mimi sie fröhlich und setzte sich Sora gegenüber. Alle drei grüßten sie knapp, kamen aber schnell zu ihrem eigentlich Thema zurück. „Also, ich wäre für Party“, meinte Tai und sah Matt auffordernd an. „Und ich wäre für chillen“, entgegnete Matt hartnäckig. „Am Samstag habe ich wieder ein Konzert.“ „Na und? Du feierst doch öfter mehrere Tage hintereinander“, sagte der Brünette verständnislos. „Vielleicht habe ich aber am Freitag keine Lust feiern zu gehen, du Partytier.“ „Ach, willst du dir keine aufreißen? Ist ja was ganz neues“, antwortete Tai sarkastisch, während Mimi Sora fragend beäugte. „Sie wollen nur klären, was sie am Wochenende machen wollen“, warf sie ein und winkte ab. Währenddessen diskutierten die beiden Freunde höflich miteinander weiter. „Vielleicht willst du dir ja eine aufreißen“, schlussfolgerte der Blonde grinsend. „Klar, wer hat den immer Druck auf dem Schlauch?“, stichelte Tai und Sora verschluckte sich prompt an ihrem Getränk. Während die Rothaarige hustete, schüttelte Mimi nur den Kopf. Jungs und ihre Gespräche, dass konnte man sich auf die Dauer wirklich nur bedingt anhören. „Man erstick‘ ja nicht“, meinte Tai zu seiner besten Freundin und klopfte ihr sanft auf den Rücken. Sora beruhigte sich ein wenig, doch ihr Kopf war knallrot. Mimi musterte sie und sah, wie sie einen unauffälligen Blick zu Matt warf, jedoch schnell wieder wegsah. Die Brünette zog die Augenbrauen zusammen und ihr Gehirn begann zu rattern. Druck? Schlauch? Sora? Matt? Ohje. Ihre Augen weiteten sich und starrten Sora an. Hatte sie etwa? Nein. Nicht ihre Sora! Sie schüttelte sich leicht, konnte aber nicht den Blick von ihr wenden. Dunkel erinnerte sie sich an Tais Geburtstag und auch daran, dass Matt Sora nach Hause bringen wollte. Um Himmelswillen, hatten die beiden sich etwa ihren animalischen Trieben hingegeben? Ihr Blick fixierte kurz Matt, der sich immer noch mit Taichi unterhielt. Zuzutrauen wäre es ihm. Schließlich hatte er schon zick Mädchen gehabt. Aber Sora? Sie war doch die Unschuld in Person. Mimi schaute sie wieder an, doch sie wich ihren Blicken aus. Es war eindeutig. Es musste etwas passiert sein. _ Sie konnte es gar nicht abwarten, sie vom Training abzuholen. Schon ganz hibbelig stand Mimi am Tor und wartete auf Sora, die noch schnell duschen gehen wollte. Nach fünfzehn Minuten kam sie endlich wieder. Ihre roten Haare waren noch feucht und sie lächelte verhalten, als sie bei Mimi ankam. „Und wo wollen wir hingehen?“, fragte sie interessiert. „Wie wäre es, wenn wir in das neue Café gehen? Da soll es voll modern sein und leckere Kuchen geben“, antwortete sie strahlend und wirbelte herum. Sora nickte nur und schulterte ihre Sporttasche. Sie gingen los und erreichten das Café zehn Minuten später. Beide setzten sich in eine ruhige Ecke, da das Café bereits gut besucht war. Sora schnaufte kurz und reckte sich. Das Training schien heute wohl besonders anstrengend gewesen zu sein. Mimi dachte automatisch an ihre Tanzlehrerin, die sie am Freitag wiedersehen musste. Allmählich hatte sie immer weniger Spaß am Tanzen, aber sie brauchte Bewegung. Sonst hatte sie ein viel zu schlechtes Gewissen. „Weißt du schon, was du trinken willst?“, fragte Sora und zückte die Karte. Mimi schüttelte nur den Kopf und sah ebenfalls nach. Über die Karte hinweg beobachtete sie Sora, die zufrieden lächelte und seelenruhig die Karte durchblätterte. Sie musste sie einfach fragen. Sonst würde sie noch vor lauter Anspannung platzen. „Du sag mal…“, begann sie und ließ die Karte sinken, „ist zwischen dir und Matt noch irgendwas am Samstag vorgefallen?“ Sora runzelte die Stirn und legte die Karte ebenfalls auf den Tisch. „Hä? Wie kommst du den jetzt darauf?“ „Naja, nach Tais Kommentar, wärst du beinahe erstickt und da habe ich mir gedacht, dass du vielleicht Besuch vom Schlauchmonster hattest“, sagte sie locker und merkte gar nicht, wie bescheuert sich dieser Satz anhörte. „Schlauchmonster?“, wiederholte Sora verwirrt, lief jedoch plötzlich rot an. „M-Mimi, was denkst du dir nur?“ „Keine Ahnung. Was soll ich denn denken?“, fragte sie und sah sie empört an. „Du gehst mit einem Playboy aus, der sich gerne durch die Gegend vögelt.“ Ein paar Leute drehten sich zu ihnen um. „Nicht so laut!“, zischte Sora und wurde noch roter. „Ja habt ihr denn was gemacht, oder nicht?“ Plötzlich unterbrach der Kellner ihr Gespräch und wollte ihre Bestellung aufnehmen. „Können sie gleich nochmal kommen? Wir befinden uns gerade in einer Art Krisensitzung“, meinte Mimi und der Kellner nickte nur verwirrt. Als er am nächsten Tisch war, setzten sie ihr Gespräch fort. „Also? Willst du mir etwas beichten?“ „Nein! Wir haben nichts gemacht…naja, so gut wie nichts“, meinte die Rothaarige und wandte den Blick von ihr. „So gut wie nichts? Was heißt das?“, fragte Mimi empört und stellte sich die schlimmsten Szenarien vor. Sie wollte es eigentlich nicht zugeben, aber Matt erinnerte sie unweigerlich an ihren Ex Jason, der ihr so wehgetan hatte. Mimi war einfach besorgt um sie. Ihr sollte es nicht so ergehen, wie es ihr einst ergangen war. „Er war danach noch bei mir…“, gab Sora kleinlaut zu. „Oh mein Gott“, nuschelte Mimi und hielt sich die Hand vor den Mund. Hatte ihre Freundin, ihre Jungfräulichkeit etwa einem Depp geschenkt? „Wir haben rumgeknutscht“, eröffnete sie ihr und Mimi schnaufte vor Erleichterung. „Ein Glück, ich dachte schon ihr hättet, wer weiß was getrieben.“ Sie lächelte leicht, während Sora den Kopf senkte und etwas Unverständliches vor sich hin nuschelte. Mimis Lächeln schwand und sie wurde von Hysterie überrollt. „Ach du scheiße, was habt ihr gemacht?“ „Wir sind uns etwas näher gekommen“, gab Sora zu und presste die Lippen fest aufeinander. Mimi klappte der Mund auf und sie ergriff Soras Hand. „Erzähl mir alles!“ „Naja, wir haben…“ „Kann ich den jungen Damen nun etwas zu trinken bringen?“ wollte der Kellner höflich wissen. Sora sah nur kurz zu Mimi und beide bestellten sich zwei Cappuccino. Er notierte sich die Bestellung und ging. Mimi sah ihm kurz nach, wandte aber den Blick wieder zu Sora und drückte ihre Hand leicht. „Okay, was habt ihr gemacht?“ „Naja, wir haben uns geküsst. Es war richtig schön“, meinte Sora verträumt. „Und weiter? Da kommt doch sicher noch mehr.“ Sora wurde etwas unsicher und blickte sich um, so als wolle sie nicht, dass jeder es mitbekam. „Ehm ja…wir haben, ah wie soll ich das sagen?“ Ihr Gesicht glich immer mehr einer Tomate und sie begann leicht zu stottern. „W-Wir haben uns berührt.“ „Berührt? Oh mein Gott, wart ihr etwa nackt?“, stellte sie die Gegenfrage und sah ihre Freundin entsetzt an. Das hatte sie Sora wirklich nicht zugetraut. „Nicht so berührt“, entkräftete sie. „Wir haben gekuschelt und okay, er hatte die Hand ein paar Mal auf meiner Brust.“ „Wow, du wirst noch zu einem richtigen Luder“, sagte Mimi sarkastisch, „und sonst ist nichts passiert? Ist er noch nicht mal mit der Hand unter die Klamotten gegangen oder wollte dich aus deiner Jeans pellen?“ Mimi ließ die Hand ihrer Freundin wieder los und kniff die Augen zusammen. So handzahm konnte sie sich Matt nicht vorstellen. Da war noch mehr, Sora wollte es nur nicht sagen. „Ehm also, ja…er hatte ein k-kleines Problem.“ „Ein kleines Problem?“ „Naja er, er fand das Ganze sehr schön und das hat man auch gemerkt“, meinte sie geheimnisvoll, während Mimi nur Bahnhof verstand. „Hä, was meinst du...?“ „Tut mir leid“, unterbrach sie der Kellner plötzlich und sah zu den beiden. „Unsere eine Maschine ist kaputt. Kann ich ihnen etwas anderes bringen? Vielleicht einen Chai Latte?“ Latte... Mimi verschränkte die Arme vor der Brust und dachte nach. Auf einmal fiel der Groschen und ihre Augen weiteten sich. „Ach du heilige Scheiße! Er hatte einen Ständer!“, quietschte sie laut und die anderen Gäste sahen sich nach ihnen um. Sora erschrak augenblicklich und schien jeden Muskel ihres Körpers anzuspannen. Mimi bemerkte recht schnell, dass sämtliche Blicke auf sie gerichtet waren und wurde ebenfalls rot. „Mimi“, knurrte Sora bedrohlich und senkte beschämt den Kopf. Der Kellner starrte beide perplex an. Wahrscheinlich wartete er darauf, eine neue Bestellung aufnehmen zu können. Doch Sora war bereits aufgesprungen. Ihr Kopf war knallrot und fast ein wenig panisch griff sie nach ihrer Tasche. „Dir erzähle ich auch nichts mehr“, giftete sie angesäuert und verließ auf dem schnellsten Weg den Laden. Mimi blieb allein zurück und starrte ihr eine Zeitlang nach. Da war ihre große Klappe mal wieder schneller, als ihr Verstand gewesen. Auf einmal vernahm sie ein Räuspern und bemerkte, dass der Kellner immer noch neben ihr stand. „Wollen sie vielleicht einen Chai Latte?“, fragte er und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Mimi verrollte nur die Augen und kaute, von ihrem schlechten Gewissen getrieben, auf ihrer Unterlippe herum. „Nein danke, ich verzichte“, antwortete sie schnippisch, schnappte sich ihre Tasche und stürmte ebenfalls nach draußen. Kapitel 10: Ein Stückchen Wahrheit ---------------------------------- Ihr schlechtes Gewissen stand ihr praktisch ins Gesicht geschrieben, trotzdem hatte Sora die Woche kaum mit ihr geredet gehabt. Sie war sauer. So richtig. Mimi spürte ihre abweisende Haltung ihr gegenüber und schämte sich solche intimen Details in einem öffentlichen Café rumgebrüllt zu haben. Doch unter Schock passierten manchmal solche Dinge. Vielleicht hätte Sora ihr es wirklich nicht erzählen sollen. Genervt und miesgelaunt saß Mimi am Tisch. Ihren Kopf hatte sie auf ihrer Handfläche abgelegt und hörte halbherzig dem Gespräch ihrer Mutter und Großmutter zu. Ihre Großeltern besuchten sie immer während der Golden Week. Es war eine Art Tradition, die durch Amerika unterbrochen wurde. Doch auch schon letztes Jahr waren sie da gewesen und freuten sich sehr über ihre Rückkehr ins gute alte Japan. „Und Mimi, wie läuft es in der Schule? Hast du noch Probleme in Mathe?“, fragte ihre Oma interessiert. Ihr Großvater war mit ihrem Vater ins Wohnzimmer verschwunden und wahrscheinlich leerten sie wie immer die Hausbar. „Ehm, naja es geht. Ich habe einen Nachhilfelehrer“, sagte sie und bewegte den Kopf leicht. „Einen richtig Süßen sogar“, warf ihre Mutter ein, die hinter der Küchentheke stand und sich um das Mittagessen kümmerte. „Mama“, zischte Mimi wütend und warf ihrer Mutter einen bösen Blick zu, den sie zu ignorieren schien. „Was denn? Ich sage nur die Wahrheit!“ Ihre Großmutter lächelte verhalten und richtete den Blick auf ihre Enkelin. „Also wenn er wirklich so süß ist, solltest du ihn dir schnappen“, meinte sie zwinkernd. „Fängst du jetzt auch schon damit an?“, stöhnte Mimi genervt und hielt sich ihre Stirn. Ihre Familie war einfach unglaublich. Konnte sich denn niemand um seine eigenen Probleme kümmern? Mimi sah wieder zu ihrer Mutter, die vor sich hin summte und in einem großen Topf herumrührte. Plötzlich fiel Mimi wieder das Gespräch zwischen ihren Eltern ein, dass sie zufällig belauscht hatte. Sie hatte sich nicht getraut ihre Mutter zu fragen, warum sie zu ihrer besten Freundin keinen Kontakt mehr hatte. Schließlich passierte all das vor ihrer Geburt. Aber dennoch war sie neugierig und wollte wissen, weshalb die beiden sich so verkracht hatten. Und außerdem fragte ihre Mutter sie auch ständig aus. Die Sache mit Tai schien sie wohl auch nicht loszulassen. Sollte sie einfach nach der Geschichte mit Ayame fragen? Vielleicht sollte sie auch einfach ihrer Großmutter ein wenig auf den Zahn fühlen, wenn ihre Mutter den Tisch deckte? Mimi blickte kurz zwischen den beiden hin und her. Ihre Mutter würde ihr sicher nicht so leicht etwas erzählen, das war einfach nicht ihre Art. Besonders weil ihr Vater anscheinend von der Geschichte nichts mehr hören wollte. Also blieb Mimis Blick bei ihrer Großmutter hängen, die sie liebevoll anlächelte. Variante zwei hatte ihr sowieso besser gefallen. _ Ihre Mutter holte die Teller hervor und Mimi wusste, dass sie den Tisch im Wohnzimmer decken wollte. Sie verschwand kurz, kam daraufhin aber schnell wieder, um das Besteck zu holen. Danach war Mimis Chance gekommen. Sie musste sich beeilen. Viel Zeit hatte sie nicht. Sie wandte sich zu ihrer Oma und beäugte sie kritisch. Ob sie ihr die Wahrheit sagen würde? Ein Versuch war es allemal wert. „Du, Oma?“ „Ja, was gibt es denn?“, fragte sie und wandte den Blick von ihrem Rätsel, das sie gerade lösen wollte. „Kennst du eine Ayame? Mama und Papa haben letztens über sie gesprochen.“ Ihre Großmutter senkte den Kopf und presste die Lippen aufeinander, sodass sie einen schmalen Strich ergaben. „Hat dir Satoe nie etwas von ihr erzählt?“, stellte sie die Gegenfrage, die Mimi verneinte. „Nein, nie. Und jetzt scheint mir auch niemand etwas sagen zu wollen“, meinte sie gekränkt und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich weiß nur, dass beide besten Freundinnen waren und jetzt halt irgendwie nicht mehr.“ „Ja, das stimmt wohl“, bejahte sie und schwelgte in Erinnerungen. „Die beiden waren wirklich unzertrennlich. Aber das war kein Wunder, so lange wie die beiden sich schon kannten.“ Mimi spitzte die Ohren. „Wie lange kannten sie sich denn?“ Ihre Großmutter lachte. „Schon seit ihrer Geburt. Ayame war fast wie eine zweite Tochter für mich.“ Seit ihrer Geburt? Mimi sah ihre Großmutter perplex an. So lange kannten sie sich schon? Und niemand hatte ihr je von ihr erzählt? Das stank doch zehn Meilen gegen den Wind. „Und was ist passiert? Haben die beiden sich gestritten?“ Mit großen Augen beobachtete sie die Reaktion ihrer Großmutter, die plötzlich traurig wirkte. Anscheinend steckte mehr dahinter, als sich Mimi vorstellen konnte. „Sie haben beide mit ihrem Studium angefangen. Direkt nach der Oberschule. An der Universität hat deine Mutter auch deinen Vater kennengelernt und auch Ayame hat sich verliebt“, erzählte sie die Kurzfassung. Mimi erinnerte sich dunkel daran, dass ihre Mutter ihr mal erzählte, dass sie BWL studiert hatte. Doch dann heirateten ihre Eltern und sie bekam Mimi. Von da an, bestand ihr Lebensinhalt darin, allen Tätigkeiten einer guten Hausfrau und Mutter nachzukommen. Mimi wusste noch nicht mal, ob ihre Mutter ihr Studium je beendet hatte. „Und was ist dann passiert?“, fragte die Brünette und sah gespannt zu ihrer Großmutter. „Ayame wurde schwanger, kurz bevor sie ihren Abschluss als Juristen machen konnte. Deine Mutter konnte ihren damaligen Freund gar nicht leiden, aber sie haben wegen des Babys geheiratet und sind danach weggezogen“, erklärte sie schulterzuckend. „Deine Mutter sollte eigentlich Patentante werden, aber irgendwas war vorgefallen. Und auch Ayames Eltern hatten danach kaum noch Kontakt zu ihr gehabt.“ „Weißt du auch, was da vorgefallen ist?“, fragte Mimi interessiert und rückte näher an ihre Großmutter heran. Doch sie schüttelte nur den Kopf. „Tut mir leid, mein Schatz. Aber deine Mutter meinte nur, dass sie sich auseinander gelebt hätten“, antwortete sie stirnrunzelnd. „Geglaubt habe ich es ihr jedoch nie. Dafür standen sie sich einfach zu nahe. Aber es gab auch mal ein…“ „Mama? Mimi? Kommt ihr ins Wohnzimmer? Der Tisch ist fertig gedeckt“, rief Satoe Tachikawa, so als hätte sie geahnt, dass ihre Mutter, Mimi etwas erzählen wollte, was für ihre Ohren nicht bestimmt war. Mimi gab einen genervten Laut von sich und sah hoffnungsvoll zu ihrer Großmutter, die nur leicht den Kopf schüttelte. „Ach, ich sollte dich mit den alten Kamellen wirklich nicht langweilen“, meinte sie nur und stand auf. Na toll, schoss ihr durch den Kopf, jetzt hatte sie zwar einige Informationen mehr, aber brauchbar konnte man sie wirklich nicht nennen. Missmutig stand sie ebenfalls auf und ging gemeinsam mit ihrer Großmutter ins Wohnzimmer. _ Nachdem ihre Großeltern gegen Abend wieder gefahren waren, lag Mimi auf ihrem Bett und starrte zur Decke. Ihr Handy lag direkt neben ihr. Sie hatte schon mehrmals Soras Nummer gewählt, doch nie auf den grünen Hörer gedrückt. Sie hatte Angst, dass sie immer noch sauer auf sie war. Aber sie wollte sich wieder mit ihr vertragen. Die Geschichte über ihre Mutter und ihre beste Freundin, hatte sie regelrecht wachgerüttelt. Sie musste etwas tun. Sie musste sich bei Sora entschuldigen, auch wenn es ihr schwer fiel. Mimi schnaubte kurz und drückte ihren Hinterkopf noch ein bisschen mehr in ihr Kissen. Dann nahm sie ihr Handy und wählte erneut ihre Nummer. Diesmal drückte sie auf den grünen Hörer und wartete darauf, dass sich Soras Stimme meldete. Nach mehrfachem Tuten meldete sich Sora und klang sehr überrascht. „Mimi? Mit dir habe ich wirklich nicht gerechnet.“ „Hallo Sora“, murmelte sie in den Hörer und sie merkte das Sora einen erleichterten Ton von sich gab. Wahrscheinlich hatte sie schon auf ihren Anruf gewartet oder wollte sich ebenfalls bei ihr melden. „Ich wollte mich bei dir entschuldigen“, meinte sie zähneknirschend. „Ich hätte das im Café nicht sagen sollen.“ „Du hättest nicht schreien sollen“, korrigierte Sora sie. „Aber ich bin dir nicht mehr böse.“ „Echt nicht? Warum hast du das nicht eher gesagt? Die letzte Woche hast du kaum mit mir gesprochen und mein schlechtes Gewissen erst, ach Mensch Sora“, klagte sie empört und hörte Sora am anderen Ende kichern. „Ach Mimi, ich war sauer. Ganz schön sogar, aber ich kenn‘ dich mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass du es nicht böse meinst.“ „Ja, trotzdem, tut es mir leid und in dem Café können wir uns wohl nicht mehr blicken lassen“, sagte sie enttäuscht. „Ach, das macht nichts. Ich habe gehört, dass die sowieso viel zu teuer sind“, entkräftete Sora lachend. „Wie war die Golden Week bei dir so?“ „Meine Großeltern waren da. Sie sind vor ‘ner Stunde nach Hause gefahren. Und bei dir? Hast du dich wieder mit Matt getroffen?“ Stille herrschte am anderen Ende. „Also ja“, schlussfolgerte Mimi grinsend. „Und wann macht ihr es endlich offiziell?“ „Wenn wir mit Tai geredet haben“, antwortete sie knapp und klang komisch. „Oh, okay und wann habt ihr vor mit ihm zu reden?“, wollte sie wissen und drehte mit dem Finger eine Haarsträhne ein. „Wenn es nach mir ginge, sofort. Aber Matt hat Angst, dass er sauer sein könnte. Wir haben es schon recht lange verheimlicht.“ „Ich würde es ihm sagen“, bestärkte Mimi sie. „Er ist euer bester Freund und sollte wohl von den aufkommenden Veränderungen als erster in Kenntnis gesetzt werden“. „Ich weiß“, murmelte Sora, fast kaum hörbar. „Ich werde es ihm demnächst sagen und ich weiß auch schon die perfekte Gelegenheit.“ „Ach ja und welche?“ Mimi drehte ihre Haarsträhne nochmals um ihren eigenen Finger und betrachtete sie kurz. Vielleicht sollte sie sich wirklich mal die Spitzen nachscheiden lassen. Sie waren doch sehr kaputt, wie ihr gerade auffiel. „Matt hatte doch am vierten Geburtstag und er wollte ihn am nächsten Freitag nachfeiern. In der Karaoke Bar. Vielleicht ergibt sich da ja eine Gelegenheit“, erzählte sie fast schon ein wenig euphorisch. „Ja vielleicht.“ Mimi hoffte, dass sich das „vielleicht“ in ein „auf jeden Fall“ umwandelte. Tai musste einfach erkennen, dass Sora sich in Matt verliebt hatte. Nur so hatte sie eine Chance, ihm möglicherweise näher zu kommen. Wenn sie Glück hatte, verliebte er sich ja wirklich noch in sie. Sie musste einfach für ihn da sein. Mimi lächelte leicht. Sie spürte doch, dass irgendeine Anziehung zwischen ihnen war, er hatte es nur nicht bemerkt, da er zu sehr auf Sora fixiert war. Sie musste ihm einfach die Augen öffnen. Am besten bald. Diese unglückliche Liebe machte Mimi wirklich fertig. Das ihr Plan, aber viele Lücken aufwies, ignorierte sie schlichtweg. Sie wusste noch nicht mal, ob er wirklich in Sora verliebt war, sie vermutete es nur. Und selbst wenn Tai in sie verliebt war, würde er sich sicher nicht so schnell umverlieben, auch wenn Mimi noch so viel für ihn da sein würde. Vielleicht würde dieses Geständnis auch alles ins Bodenlose reißen und bereits bestehende Freundschaften für immer zerstören. Doch Mimi war vollkommen blind und sah nur das, was sie sehen wollte. Kapitel 11: Karaoke für Anfänger -------------------------------- „Und kommst du heute auch Abend mit?“, fragte Kari interessiert und trank einen kräftigen Schluck ihres Wassers. Mimi hatte sich neben sie gesetzt und fuhr sich mit ihrem Arm über ihre schweißnasse Stirn. Heute fand Mimi das Tanztraining besonders anstrengend und Frau Kuramas Laune war unerträglich. Sie war froh, dass sie fünfzehn Minuten Pause hatten. „Ja klar, du auch?“ Kari nickte und lächelte leicht vor sich hin. „Später übernachte ich bei TK. Tai war ganz und gar nicht begeistert, aber ich konnte Mama auf meine Seite ziehen.“ „Ach echt? Bleib‘ aber ja anständig“, meinte sie lachend und trank ebenfalls etwas. Kari winkte jedoch gleich ab. „Soweit sind wird noch nicht. Wir haben schon mal darüber geredet und beschlossen noch zu warten.“ „Gute Entscheidung“, stimmte Mimi zu und reckte ihren Nacken. „Kommen Davis und die anderen auch mit? Ich habe sie irgendwie schon ‘ne halbe Ewigkeit nicht mehr gesehen.“ Mimi konnte sich genau genommen gar nicht mehr daran erinnern, wann sie alle zusammen zu Mittag gegessen hatten. Davis hatte sie auch schon länger nicht mehr gesehen, geschweige denn mit ihm gesprochen. Das letzte Mal war an Tais Geburtstag gewesen. „Naja, es ist etwas kompliziert geworden“, erklärte Kari und fischte sich eine störende Strähne aus ihrem Gesicht und legte sie hinter ihr Ohr. „Ach echt? Hab ich gar nicht mitbekommen.“ „Ja, so wie es aussieht bändeln Yolei und Ken miteinander an. Und am Freitag haben sie ein Date.“ „Wirklich?“, quietschte Mimi und grinste. „Das ist doch toll.“ Doch Karis Blick verriet ihr etwas anderes. Sie wirkte geknickt, so als würde sie etwas belasten. „Was ist los? Stimmt was nicht?“, fragte Mimi besorgt und tätschelte ihr die Hand. Mit einem mitleidigen Blick sah sie zu ihr und presste die Lippen aufeinander. „Es ist wegen Davis.“ „Wegen Davis?“ Verwundert hob sie die Augenbraue und rückte etwas näher an sie heran. „Er ist unglücklich, weil er es nicht erträgt, dass TK und ich ein Paar sind. Und jetzt auch noch die Sache mit Ken und Yolei.“ Sie fasste sich an die Stirn und ihr schlechtes Gewissen überzog ihre Mimik. Sie war angespannt und kaute leicht auf ihrer Unterlippe herum. „Aber du kannst doch nichts dafür“, entgegnete Mimi und legte den Kopf schief. Manchmal verstand sie Kari wirklich nicht. Sie machte sich wirklich um alles und jeden Sorgen. Obwohl. Wahrscheinlich konnte sich Mimi in Davis Situation am besten hineinfühlen. Unglücklich verliebt zu sein, war wirklich scheiße. Und eigentlich war es von Kari recht nobel, sich Gedanken um seine Gefühle zu machen. Nicht jeder dachte so wie sie. „Ich weiß, aber er tut mir so leid. Und zu Matts Geburtstag kommt er erst gar nicht. Er hat sich generell von uns distanziert und hängt seit Neustem nur mit seinen Fußballfreunden rum“, erzählte sie leicht empört und wurde mit jedem Wort ein wenig lauter. „Vielleicht braucht er den Abstand, um es zu akzeptieren“, platzte plötzlich aus Mimi heraus. „Aber ich habe wirklich das Gefühl, dass wir ihn als Freund verlieren. TK meint nur, dass ich es nicht so eng sehen sollte“, jammerte sie und schüttelte nur verständnislos den Kopf. „Kari mach dir wirklich nicht so viele Gedanken. Davis will dich sicher nicht als Freundin verlieren, aber er ist nun mal in dich verliebt und natürlich tut es ihm weh, dass du dich für TK entschieden hast“, führte sie ihr behutsam vor Augen. „Aber er wäre wirklich dumm, dich als Freundin gehen zu lassen und das wird er auch sicher nicht tun.“ „Meinst du?“, fragte sie zweifelnd. Mimi nickte nur bestärkend und fuhr ihr über ihren Arm. „Er braucht einfach noch ein wenig Zeit. Das wird alles schon wieder, glaub mir. Freundschaft hält viel aus.“ Aber es gab wohl auch immer eine Grenze. Automatisch dachte sie an ihre Mutter und fragte sich, was passieren musste, um eine Freundschaft aufzugeben und zu sagen, man hätte sich auseinander gelebt. Sicherlich eine Menge. Doch diese Menge lag wohl außerhalb ihres Vorstellungsbereichs. Bei Kari und Davis hatte sie keine Zweifel, dass sie sich eines Tages wieder annähernd würden. Davis mochte sie viel zu sehr, um sie für immer gehen zu lassen. Außerdem besuchten sie auch danach noch mindestens drei Jahre lang dieselbe Oberschule. „Okay, du hast sicher Recht“, antwortete Kari und lächelte verhalten, als plötzlich Frau Kurama vor ihre Schüler trat und genervt die Hände in die Hüpfte stemmte. „So ihr Labbertaschen, es geht weiter! Zack, zack! Wir haben nicht ewig Zeit“, rief sie durch die beschauliche Runde. Ein leises Stöhnen zog sich durch, doch niemand sagte etwas. Wieder stellten sich alle auf ihre Position und warteten darauf, dass die Musik ertönte. _ Nach dem Training war Mimi sofort nach Hause gegangen, um sich fertig zu machen. Sie duschte lieber zu Hause in Ruhe und überlegte schon, was sie anziehen wollte. Mit nassen Haaren und im Bademantel bekleidet stand sie vor ihrem Kleiderschrank und summte eine fröhliche Melodie vor sich hin. Sie holte eines ihrer Lieblingskleider hervor. Es war pink, hatte einen dezenten Ausschnitt und betonte hervorragend ihre Kurven. „Das ist perfekt“, murmelte sie und warf es auf ihr Bett. Danach widmete sie sich ihren Schuhen. Nach langem hin und her, entschied sie sich für schlichte schwarze Ballarinas, die zu ihrer schwarzen Kunstlederjacke passten. Schnell schlürfte sie in ihre Klamotten, verabschiedete sich von ihren Eltern und machte sie auf den Weg zu Sora. Sie brauchte keine fünfzehn Minuten und schon stand sie vor ihrer Tür. Sie klingelte einmal und wartete darauf, dass sie ihr aufmachte. Mimi hielt in der einen Hand die Tüte mit Matts Geschenk. Bei ihm hatte sie sich nicht so viel Mühe gegeben. Sie hatte ihm einfach ein Buch über die Geschichte der Musik besorgt, ohne darüber nach zu denken, ob es ihm überhaupt gefallen würde. Auf einmal öffnete sich die Tür und Sora strahlte sie an. „Hallo Mimi, komm‘ rein“, begrüßte die Rothaarige sie und trat vorbei. Mimi zog ihre Schuhe aus und folgte ihr in die Küche. Auf dem Sofa saßen bereits Izzy und Joe, die sich angeregt zu unterhalten schienen. Mimi begrüßte sie flüchtig und konzentrierte sich danach wieder auf Sora. Ihre Mutter war heute Abend arbeiten und Sora hatte beschlossen, den Rest zum Vorglühen zu sich einzuladen. „Und was hast du alles besorgt?“, fragte Mimi neugierig und sah zu Sora, die gerade dabei war den Kuchen anzuschneiden. „Nur den Kuchen. Meinte Mutter konnte ich leider nicht überzeugen, uns etwas Prickelndes zu besorgen“, meinte Sora zähneknirschend. Mimi schnaubte leise und stellte Matts Geschenk auf den Thesen. Hätte sie das gewusst, hätte sie etwas aus der Hausbar ihrer Eltern mitgenommen. Bemerkt hätten sie es sicher nicht. „Schade das Yolei nicht kommt. Ihre Eltern haben wenigstens immer den Sekt spendiert“, meinte Mimi und verfluchte sie insgeheim dafür, ausgerechnet heute ein Date mit Ken zu haben. „Ach das macht doch nichts. In der Karaoke Bar achtet doch niemand auf unseren Ausweis. Wir essen hier einfach Kuchen und gehen dann später zur Bar“, erwiderte Sora und trug den Kuchen zum Tisch. Mimi nickte nur und gesellte sich zu Joe und Izzy auf die Couch. Die drei unterhielten sich über Banalitäten, während Sora wie ein aufgescheuchtes Huhn durch die Wohnung eilte und die restlichen Gläser und Bestecke auf den Tisch legte. Mimi unterhielt sich angeregt mit Joe, der ihr gerade von seinem Medizinstudium erzählte, als es plötzlich wieder klingelte. Izzy war aufgestanden und ging zur Tür. Sora war kurzzeitig in ihr Zimmer verschwunden und kam mit einem kleinen Päckchen zurück, dass sehr wahrscheinlich Matts Geschenk war. „Hat es gerade geklingelt?“, fragte sie und Mimi nickte nur. Sora ging in den Flur und verschwand kurz. Kurz danach traten TK und Kari händchenhaltend in den Raum und begrüßten Mimi und Joe freundlich. Matt, Tai, Izzy und Sora folgten einige Minuten später. „Hallo Leute und seid ihr bereit für Party?“, fragte Tai in die kleine Runde und hielt zwei Flaschen Wodka hoch. „Wo hast du die denn her?“, fragte Mimi stirnrunzelnd. „Die hat er Papa aus seinem Zimmer geklaut“, flüsterte Kari ihr zu. „Wenn er das rausbekommt, wird er stinksauer.“ „Ach was“, winkte Tai ab. „Wir sind nur einmal jung und Papa trinkt das sowieso nicht.“ „Und wie sollen wir das trinken. Pur trink‘ ich das Zeug bestimmt nicht“, nörgelte Mimi und schüttelte den Kopf. „Stell‘ dich mal nicht so an“, meinte Tai augenverdrehend. „Wir haben auch noch Orangensaft und Energietrink für die Zimperlichen alias Mimi besorgt.“ „Ich bin überhaupt nicht zimperlich“, verteidigte sich die Brünette und verschränkte die Arme vor der Brust. „Schon klar, du Prinzessin auf der Erbse“, lachte Tai und grinste zu Matt, der seinen Spruch nur mit einem Kopfschütteln quittierte. „Also ich als Ältester kann wirklich nicht befürworten, dass sich alle hemmungslos besaufen. Wir sind alle noch nicht volljährig und TK und Kari sind erst vierzehn“, erinnerte Joe sie alarmierend. „Keine Sorge, für die Jüngsten haben wir noch Mix-Bier besorgt. Beziehungsweise hat es mein Vater gesponsert“, erklärte Matt abwinkend und holte die kleine Kiste, die er im Flur angestellt hatte. „Gut dann kann die Party ja jetzt steigen“, brüllte Tai durch die Wohnung und öffnete eine der Wodkaflaschen. _ „Oh, ein Buch über die Geschichte der Musik, danke Mimi“, sagte Matt, als er ihr Geschenk geöffnet hatte. „Gern geschehen“, antwortete Mimi und lächelte leicht. Nach dem Kuchen essen, hatten sie beschlossen, Matt die Geschenke zu überreichen. Von Sora hatte er ein kleines Büchlein bekommen, indem er neue Songs festhalten konnte. Beide schenkten sich danach einen flüchtigen Blick und ein kurzes Lächeln, dass selbst Mimi aufgefallen war. Vielleicht schafften sie es ja heute Tai endlich die Neuigkeiten zu unterbreiten. Er saß direkt neben Izzy und trank einen Wodka Energie. Auch der Rotschopf hatte schon ein bisschen was getrunken und so allmählich merkte man ihm an, dass er nicht mehr ganz nüchtern war. „So, los das nächste“, japste er hibbelig und ein leichter Rotschimmer hatte sich auf seine Wangen gelegt. Das Nächste war von Tai. Das Päckchen war recht klein, aber als Matt es öffnete klappte ihm leicht der Mund auf. „Ein Plektrum?“ „Ja, du hast doch gesagt, dass du deins verloren hast und ich weiß ja, dass du deine Stücke auf der alten Nudel komponierst.“ Mit alter Nudel meinte Tai, Matts Akustikgitarre. Auf der Bühne spielte er meist mit einer elektrischen, aber zum Komponieren verwendete er immer noch das alte Ding. „Da ist auch noch was eingraviert“, meinte Tai auf einmal und deutete auf einen zarten Schriftzug, den Mimi erkennen konnte, da sie neben Matt saß. „For my best friend“, las er laut vor und grinste. „Wow, Tai das ist selbst für dich ein wenig schwul“. Der Rest begann zu lachen. „Sehr witzig Ishida. Sei doch froh, dass ich so an dich denke“, antwortete er ernst, doch lachte einen Moment später ebenfalls. Die anderen Geschenke waren relativ unspektakulär, jedenfalls war das Mimis Meinung. Von Joe hatte er ein ebenfalls ein Buch geschenkt bekommen mit dem Titel „Wie schaffe ich eine erfolgreiche Abschlussprüfung?“ Izzys Geschenk war auch eher praktisch veranlagt und deutete darauf hin, dass er sich mit Joe abgesprochen hatte. Er schenkte ihm ein Computerspiel, dass besonders gut zum Lernen für Mathe, Japanisch und Englisch eignet war. TK und Kari hatten ihm eine riesige Collage gebastelt, die ihn hauptsächlich auf der Bühne zeigten. Es war auch ein Bild von ihm, Tai und Sora dabei, dass sie auf dem letzten Frühlingsball zeigte. Sora hatte eine schöne Hochsteckfrisur und trug ein schlichtes blaues Kleid. Sie lächelte und man sah ihre stahlendweißen Zähne, während Matt und Tai eine lustige Grimasse zogen. Mimi war damals noch in Amerika gewesen und hatte nur aus Soras Erzählungen gehört, wie lustig dieser Abend für alle war. Sie biss sich leicht auf die Unterlippe. Das Gefühl etwas verpasst zu haben, machte sich in ihr breit. Dieses Jahr hatten Sora, Matt und Tai sogar ihren Abschlussball vor sich. Die Zeit verging wirklich im Eiltempo und Mimi wünschte sich wirklich manchmal, dass die Zeit einfach stehen bleiben würde. In einem Jahr wäre sie in der Abschlussklasse und müsste sich entscheiden, was sie machen wollte. Noch hatte sie überhaupt keine Ahnung. Und auch die Tatsache, dass sich die Gruppe wohlmöglich noch mehr splitten könnte, machte ihr Sorgen. Sie blickte zu den unzertrennlichen drei, die sich gemeinsam die Collage anschauten. Auch sie würden sicher ein Studium beginnen und dann nur noch so viel Zeit haben wie Joe, den man nur noch an Geburtstagen und am ersten August sah. Und das schmeckte der Brünetten ganz und gar nicht. Doch sie wollte sich nicht die Laune verderben lassen. Sie liebte die Karaoke Bar und wollte heute Abend so richtig auf den Putz hauen. _ Sie waren schon über eine Stunde hier, doch niemand traute sich auf die Tanzfläche geschweige denn etwas zu singen. Schon seit zwanzig Minuten spielte der DJ einige bekannte Popsongs, aber die meisten tummelten sich an der Bar oder saßen teilnahmslos auf den gepolsterten Bänken. Mimi hatte die Arme vor der Brust verschränkt und sah in die Runde. Während Tai sich mit Sora und Matt unterhielt, kuschelten sich TK und Kari aneinander und säuselten sich ellenlange Liebesschwüre zu. Joe machte auf sie einen gelangweilten Eindruck, während Izzy auf einmal ganz still geworden war. Wahrscheinlich hatte er zu viel getrunken. Tai hatte ihn regelrecht zum Trinken animiert, obwohl er wusste, dass der Rotschopf nichts vertrug. Sie hatte sogar kurz das Gefühl, dass er sich jeden Augenblick übergeben musste. Mit dem Trinken hatte sie sich heute ausnahmsweise zurückgenommen. Den Kater, den sie nach Tais Geburtstag hatte, hatte ihr gereicht. Aber dennoch wollte sie sich nicht langweilen, daher beschloss sie einfach den Anfang zu machen. „Hey, wollen wir nicht ‘ne Runde Karaoke singen?“, fragte Mimi in die Runde und hörte von Tai nur ein lautes Stöhnen. „Das kannst du gerne alleine machen“, meinte der Brünette und verdrehte die Augen. „Aber alleine macht es keinen Spaß!“ „Tut mir leid, aber nicht jeder ist so ein Goldkehlchen wie du und „Mister-ich-habe-ja-so-eine-tolle-Band-und-mir-liegen-die-Mädchen-zu-Füßen“, erwiderte er genervt und sah provozierend zu Matt. Dieser gab ihm nur einen Klaps auf den Hinterkopf und sah zu Mimi. „Wenn du willst können wir gerne zusammen was singen“, schlug er vor. Mimi sah ihn zuerst etwas komisch an, richtete ihren Blick zu Sora, die nur bestätigend nickte. „Gut, ist sicher besser, als hier dumm rumzusitzen“, willigte sie ein und warf Tai einen vielsagenden Blick zu, den er jedoch ignorierte. Wieder hatte er sich voll und ganz auf Sora fixiert, die dicht neben ihm saß. Für Mimi definitiv zu dicht. Sie ging mit Matt auf die Bühne und nahm sich ein Mikro, während Matt den Song raussuchte. Sie beobachte jeden aus ihrer Gruppe genau. Sie stand etwas erhöht, deswegen war dies auch kein Problem. Joe diskutierte mit Izzy, der aufgesprungen war, um Mimi und Matt anzufeuern. Er hatte definitiv einen im Tee. TK und Kari sahen gespannt zur Bühne und er hatte den Arm um sie gelegt. Tai saß immer noch neben Sora und sie lehnte ihren Kopf an seiner Schulter. Mimis Augen weiteten sich, doch sie hatte keine Zeit sich darüber aufzuregen, da Matt neben sie getreten war und die Musik bereits ertönte. „Welches Lied hast du ausgesucht?“, fragte Mimi verwirrt, da ihr der Song nichts zu sagen schien. „Don’t stop believin‘. Den Song müsstest du doch kennen“, mutmaßte er und legte den Kopf schräg. Bevor sie etwas darauf erwidern konnte, begann er zu singen. Just a small town girl Livin' in a lonely world She took the midnight train goin' anywhere Mimi beobachtete ihn kurz und sah ein leichtes Lächeln, das sich über sein Gesicht zog. Auf der Bühne wirkte er auch immer so befreit und locker, sodass sich Mimi immer schon fragte, wie es sich wohl anfühlte, vor so vielen Menschen zu spielen. Sie hatte auch schon vor ein paar Leuten gesungen, aber noch nie vor so vielen. Matt richtete den Blick auf sie und nickte kurz, um ihr zu signalisieren, dass ihr Einsatz kam. Just a city boy Born and raised in south Detroit He took the midnight train goin' anywhere Sie sah wieder zu den anderen und sang die Strophe, doch sie war nicht ganz bei der Sache und vergaß sogar ein Wort. Ihr Blick fixierte Sora, die immer noch ihren Kopf auf Tais Schultern ruhen hatte. Wieso machte sie das nur? Und warum zur Hölle machte es Matt so gar nichts aus? Ihr Blick wanderte kurz zu ihm, doch er machte keinerlei Anstalten es zu unterbinden wollen. Ihm schien es förmlich am Arsch vorbeizugehen. Doch ihr Kopf lag auf den Schultern seines besten Freundes! Dem, dem sie eigentlich heute die Wahrheit über ihre Liebschaft sagen wollten. Hatte sie irgendetwas verpasst? War Sora auch betrunken? Don't stop believin' Hold on to that feelin' Streetlights people Don't stop! Nach drei Minuten war der Song schon vorbei und die Gäste applaudierten. Matt grinste nur und legte das Mikro wieder zurück, während Mimi einen Moment ihren Gedanken nachhing. Erst als Matt bereits die Bühne verlassen wollte, kam sie wieder zu sich. „Willst du noch einen Song singen, oder kommst du mit? Ich gebe euch allen ‘ne Runde aus“, bestimmte Matt lachend. Er schob die Hände in die Hosentasche und fixierte sie kurz mit seinem Blick. Mimi nickte nur, legte das Mikro beiseite und folgte ihm. _ Sie nippte beiläufig an ihrem Getränk und man merkte, dass von vielen die Reserven bereits am Ende waren. Izzy hatte seit einer knappen halben Stunde nichts mehr gesprochen und hielt sich auffällig die Hand vor den Mund. „Vielleicht sollte ich ihn nach Hause bringen, nicht dass er sich noch übergibt“, schlug Joe vor und berührte leicht seine Schulter, doch er blieb vollkommen steif. „Wir würden dann auch gehen“, meinte Kari und sah zu TK, der mal wieder gähnte. Mimi wusste, dass er parallel zum ihrem Training immer Basketball hatte. Kein Wunder das er müde war, Mimi fühlte sich auch ganz schön erschlagen und ließ sich von seiner Gähnerei prompt anstecken. „Ihr wollte doch nur alleine sein“, grummelte Tai und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Er musterte Kari mit angezogener Augenbraue. „Ich kann immer noch nicht fassen, dass Mama dir erlaubt hat, bei ihm zu übernachten.“ „Tja, Mama vertraut mir eben“, knurrte sie bissig zurück. „Du hast sie um regelrecht den Finger gewickelt“, stänkerte er und verzog das Gesicht. Sein Blick wandte sich zu TK. „Und du! Lass bloß die Finger bei dir.“ Takeru schüttelte nur den Kopf und fasste sich an die Stirn. Auch Mimi konnte nicht fassen, dass er damit schon wieder anfing. Kari war doch kein Kind mehr. „Vielleicht ist es wirklich Zeit zu gehen. Izzy sieht immer schlechter aus“, lenkte Sora ein und sah besorgt zu Izzy, der sich nach vorne gebeugt hatte. „Alter kotz‘ ja nicht hier hin! Nicht das wir noch Hausverbot bekommen“, warnte Tai ihn alarmierend. Der Rotschopf nickte nur gequält und auch der Rest beschloss nach Hause zu gehen. Zwei Geburtstage in so kurzer Zeit konnten wirklich anstrengend werden. Die kleine Gruppe machte sich startklar. Joe half Izzy noch in seine Jacke, dann gingen sie gemeinsam nach draußen. „Ich denke, ich werde ihn dann nach Hause bringen. Meine Eltern lassen mich sicher nochmal in meinem alten Zimmer schlafen“, meinte Joe zuversichtlich. Er hatte eigentlich ein Studentenzimmer auf dem Campus, doch seine Eltern wohnten im gleichen Wohnblock wie Izzys. Außerdem war Joe sowieso die Zuverlässigkeit in Person – das wusste jeder. „Dann macht es mal gut“, verabschiedete sich Joe und hatte den angetrunkenen Izzy bei sich untergehakt und schleifte ihn in Richtung Heimat. „Wir gehen dann auch mal“, warf Takeru ein und schnappte sich Karis Hand. Beide verschränkten die Finger ineinander und Kari lächelte unschuldig zu Tai, der fast vor dem Explodieren stand. Er konnte es wohl nicht ertragen, dass seine Schwester allmählich erwachsen wurde. Beide verabschiedeten sich, bevor Vulkan Tai ausbrechen konnte. Danach waren sie nur noch zu viert. Mimi musste in eine komplett andere Richtung, als die drei und fragte sich, ob sie alleine gehen musste. Im Dunkel hatte sie schon ein wenig Angst, aber das wollte sie natürlich nicht zugeben. „Okay gehen wir los?“, fragte Tai an Sora gewandt, die leicht nickte. Sie hatte einen kurzen Blickaustausch mit Matt, der wiederrum verstohlen grinste. „Gut, ich bringe dann noch Mimi nach Hause. Kann ich meine Geschenke morgen Mittag bei dir abholen kommen?“ „Klar, kein Problem“, antwortete Sora und sah ihn wissend an. Mimi runzelte nur verwirrt die Stirn. Matt sollte sie nach Hause bringen? In welchem Paralleluniversum war sie nun schon wieder gelandet? Erst legte Sora ihren Kopf auf Tais Schulter und dann soll Matt sie nach Hause begleiten? Andersrum wäre es ihr wirklich lieber gewesen. _ „Sag mal war das abgesprochen?“, fragte Mimi und richtete den Blick zu Matt, der teilnahmslos neben ihr herlief. Seine Hände hatte er in seine Jackentasche vergraben, seine Augen hatte er stur gerade ausgerichtet. „Sora wollte es Tai alleine sagen und ich wollte nochmal mit dir in Ruhe reden“, eröffnete er ihr, ohne sie anzusehen. „Mit mir reden?“, fragte sie verblüfft. „Wieso das?“ „Naja, du warst wegen mir und Sora nicht sonderlich begeistert gewesen“, erinnerte er sie und wandte den Kopf zu ihr. „Ja, das stimmt auch“, gab Mimi schulterzuckend zu. „Ich mein‘ warum habt ihr es nicht gleich offiziell gemacht? Sora hat ein riesen Geheimnis daraus gemacht.“ Matt schnaufte kurz und senkte seinen Blick. Manchmal wünschte sich Mimi wirklich, sie könnte in Köpfe hineingucken. Bei ihm hatte sie wirklich keinen Schimmer, was er manchmal dachte. Nur Tai setzte dem Ganzen eine Krone auf. Bei ihm blickte sie gar nicht mehr durch. „Hat dir Sora mal erzählt, dass sie auf einem meiner Konzerte dumm angemacht wurde?“ „Ehm, nein?“ Mimi sah ihn erschrocken an. „Einige Fans hatten sie schon vor ein paar Monaten für meine Freundin gehalten. Und das was sie gesagt haben, war nicht sonderlich nett. Sora hat sogar geweint“, erzählte er verbissen. „Geweint?“, wiederholte sie geschockt, „warum hat sie es mir nie erzählt?“ „Tai weiß auch nichts davon“, ergänzte er. „Aber ich möchte wirklich nicht wissen, wie meine Fans darauf reagieren, wenn sie erfahren, dass wir doch mehr als nur Freunde sind. Manche sind wirklich bekloppt.“ Er fuhr sich durch die kurzen blonden Haare und lächelte schwach. „Vielleicht hättest du mit deinen zahlreichen Groupies nicht schlafen dürfen“, antwortete Mimi leicht schnippisch und warf ihre Haare zurück. „Manche machen sich eben Hoffnungen.“ „So viele waren es gar nicht und außerdem bin ich auch nur ein Mann“, erwiderte er und kassierte prompt einen bösen Blick. „Was ‘n jetzt?“ „Sicher, dass jemand wie du, treu sein kann? Ich meine bei all den Versuchungen und Sora ist ja auch nicht auf jedem Konzert dabei“, hinterfragte sie skeptisch. „Ich liebe sie“, kam wie aus der Pistole geschossen. Er blieb stehen und sah sie dringlich an. „Ich weiß, dass ich viele Fehler gemacht habe, aber ich würde sie niemals, betrügen.“ Seine Augen waren starr auf sie gerichtet und zeigten ihr, dass er es ernst meinte. „Okay“, brachte Mimi leise hervor und sie setzten ihren Weg fort. Eigentlich hatte sie vorgehabt, ihn zu fragen, was Tai über ihre Beziehung denken würde, aber sie kamen viel schneller an ihrem Haus an, als ihr lieb war. Und irgendwie fand Mimi das Gespräch mit ihm schon ein wenig schräg. Noch komischer fand sie, dass Sora ihr einige Sachen verschwiegen hatte, obwohl sie eigentlich immer offen über alles redeten. Sie konnte nicht glauben, dass sie ihr so etwas Wichtiges verschwiegen hatte. „Alles klar, ich wünsche dir dann eine gute Nacht“, meinte Matt, während sie ihre Schlüssel hervorkramte. „Ehm ja, dir auch“, erwiderte sie verwirrt und sah, dass er sich bereits in Bewegung gesetzt hatte. Anscheinend war er nicht besonders erpicht auf ihre Anwesenheit gewesen. Ihre Beziehung war schon von Anfang sehr seltsam, was erwartete sie also? Eine Umarmung? Einen netteren Gute Nacht Gruß? Doch er drehte sich nochmal zu ihr herum und kräuselte leicht die Lippen. Er fasste sich wieder durch sein Haar und sah damit so unschuldig aus, so als könne er wirklich ein Wässerchen trüben. Mimi wusste, dass genau das Gegenteil der Fall war. „Sora ist mir wirklich wichtig und ich wollte, dass du das weißt“, sagte er und ein warmes Lächeln umspielte seine Lippen. Mimi verdrehte nur die Augen. „Schon klar Casanova. Ihr habt meinen Segen, aber wehe du bricht ihr das Herz! Ich weiß, wo du wohnst Ishida“, drohte sie ihm spielerisch und lachte dabei. „Ich hab’s kapiert“, lachte er ebenfalls und wünschte ihr eine gute Nacht. Mimi sah ihm noch kurz nach, bevor sie zur Tür ging und diese leise aufschloss. Sie schlich sich in ihr Zimmer und ließ sich auf ihr großes Bett fallen. Auch, wenn das Gespräch mit Matt komisch war, wusste sie nun, dass Sora ihm sehr wichtig war. Natürlich würde sie weiterhin ein Auge auf ihn haben, aber vorerst war sie beruhigt. Heute Nacht würde sie sicher gut schlafen können. Bitte Nachwort beachten! Kapitel 12: Bekannte Gesichter ------------------------------ Da sollte ein Mensch ihre Mutter mal verstehen. Es war Samstag und sie hatte nichts Besseres zu tun, als Mimi in die Neustadt zu schleppen. Shoppen wollte sie gehen, da eine große Kaufhauskette Ausverkauf hatte. Ihr Vater hatte sich hervorragend davor gedrückt, indem er sagte, doch eine Präsentation für die Arbeit vorbereiten zu müssen. Also blieb nur noch Mimi übrig, die eigentlich so gar keine Lust dazu hatte. Natürlich liebte sie shoppen, aber musste man dafür extra in die Neustadt fahren? Sie war nicht davon überzeugt. Auch, dass Sora nicht auf ihre SMS geantwortet hatte, machte sie irgendwie stutzig. Normalerweise antwortete sie sofort, doch diesmal wartete sie schon geschlagene zwei Stunden auf eine Antwort von ihr. Selbstverständlich wollte Mimi wissen, wie das Gespräch mit Taichi gelaufen war. Doch nachdem Sora sich einfach nicht bei ihr meldete, rechnete Mimi schon mit dem Schlimmsten. Am liebsten wäre sie heute Morgen gleich bei ihr vorbeigegangen, aber ihre Mutter kam auf die bescheuerte Idee in die Neustadt zu fahren. Wer wusste schon, wann die beiden nach Hause kommen würden? Und sonntags wollte sie Sora wirklich nicht belästigen. Vielleicht hatte sie ja noch die Gelegenheit bei ihr später anzurufen. Bis Montag wollte sie definitiv nicht warten. „Und Mimi, was möchtest du dir kaufen? Ein neues Sommerkleid, dass man auch gut zu einem Date anziehen könnte?“, meinte sie verträumt und ging neben ihr her, während Mimi lustlos den Kleiderständer durchforstete. Sie drehte sich um und verzog grimmig das Gesicht. „Man Mama hör‘ doch endlich auf damit! Bisher hat sich noch nichts ergeben.“ „Ach Mimi, du solltest wirklich mal die Initiative ergreifen, sonst schnappt dir noch jemand deinen Süßen weg“, sagte sie empört und ging zu einem anderen Kleiderständer. „Das ist alles nicht so einfach und vielleicht solltest du endlich aufhören dich in meine Angelegenheiten einzumischen“, antwortete sie schnippisch und drehte eingeschnappt den Kopf weg. Ihre Mutter hatte eindeutig zu wenige Hobbys. Vielleicht brauchte sie auch einfach einen Job, der sie mal auf andere Gedanken brachte. Das hier, war langsam nicht mehr zum Aushalten. „Aber ich meine es doch nur gut! Und nicht jeder ist so wie Jason.“ Mimi zuckte bei seinem Namen zusammen. Sie wusste, dass es ein Fehler war, ihrer Mutter alles über Jason zu erzählen. Aber damals war sie einfach nur so wütend gewesen, dass sie jemanden zum Reden brauchte. Auch wenn es ihre Mutter war. „Können wir bitte über was anderes reden?“, zischte sie und senkte den Kopf. In der Liebe hatte sie wirklich nur Pech gehabt. Erst verliebte sie sich in einen Idioten, der nur das eine von ihr wollte und dann in Tai, der so undurchsichtig wie eine Backsteinmauer war. „Ach Mimi, ich versuche dir doch nur zu helfen“, jammerte ihre Mutter verzweifelt und fuhr sich durch ihr Gesicht. Mimi ignorierte sie. Plötzlich hörte sie ein undefinierbares Geräusch, dass nur von ihrer Mutter kommen könnte. Sie drehte sich zu ihr und sah, dass sie sie verschwörerisch angrinste. „Was ist denn jetzt los?“, fragte sie und hielt sich die Stirn. Ihre Mutter zog ein Kleid aus dem Ständer und hielt es vor sich. „Na wie findest du es?“ Mimi musterte das Stück Stoff und zog skeptisch die Augenbraue nach oben. Es war dunkelblau und erinnerte sie eher an ein Sekretärinnenoutfit, statt an ein legeres Sommerkleid. „Sowas zieh‘ ich doch nicht zu einem Date an“, sagte sie empört. „Nachher fragt er mich noch, ob ich ihm einen Kaffee bringen kann.“ Satoe schüttelte auffällig den Kopf. „Ach, das soll doch nicht für dich sein, sondern für mich. Dein Vater und ich haben doch bald wieder Hochzeitstag“, erzählte sie verträumt und stellte sich wahrscheinlich schon in dem Kleid vor. Mimi hingegen verrollte nur die Augen. Ging das Übel schon wieder los. Ihre Eltern feierten jeden ihrer Hochzeitstage, egal ob er nun etwas besonders war, oder nicht. Letztes Jahr waren sie schick essen gegangen und überließen Mimi ihrem eigenen Schicksal. Damals wohnten sie noch keine drei Monate in ihrem neuen Haus. Und Mimi war generell eher ungern alle zu Hause. Dieses Jahr wollten sie sie sogar über das Wochenende alleine lassen, da ihr Vater ein Wellnesshotel gebucht hatte. „Und was hältst du davon? Kaufen oder nicht kaufen?“ „Das musst du wissen“, erwiderte sie genervt. „Ach komm schon Mimi. Ich brauch‘ deinen fachmännischen Rat. Von Frau zu Frau.“ Erwartungsvoll starrte ihre Mutter sie an und Mimi ließ schnaufend die Schultern hängen. „Ich würde ‘ne andere Farbe nehmen. Blau lässt sich zu blass wirken. Wie wäre es mit rot?“, schlug die Brünette vor und deutete auf das Rote. „Rot?“, Satoe nickte eifrig. „Du hast Recht! Rot passt viel besser zu meinem Temperament.“ Temperament? War das ihr ernst? Würde sie ihre Klamotten nach ihrem Temperament wählen müssen, wäre alles rosa flauschig. Rot war zu aggressiv und diese Charaktereigenschaft fehlte bei ihrer Mutter vollkommen. Sie war immer lieb und nett. Manchmal vielleicht etwas zu neugierig, aber irgendwie war das jeder aus ihrer Familie. Mimi schmunzelte leicht, als sich ihre Mutter und das rote Kleid tänzerisch auf und ab bewegten. Okay, vielleicht war ihre Familie auch leicht verrückt, aber das machte ja bekanntlich die Besten aus. _ Nachdem sie einige Boutiquen und Geschäfte abgeklappert hatten, wollte ihre Mutter unbedingt noch in einen nahegelegenen Supermarkt, um ein paar Lebensmittel zu besorgen. Missmutig und mit einem langgezogenen Gesicht stiefelte Mimi hinterher. Sie wollte einfach nur noch nach Hause. Sie hatte wirklich genug Zeit mit ihrer Mutter verbracht, irgendwo war auch mal eine Grenze. „Was willst du denn noch alles kaufen?“, fragte Mimi bissig, als ihre Mutter seelenruhig durch den Laden spazierte. Mimi trug die Taschen und ihre Arme wurden allmählich ganz schwer. „Ich habe deinem Vater versprochen heute Abend gefüllte Reisbällchen mit Tintenfisch zu machen. Ich brauche noch Reis und Tintenfisch“, antwortete sie gelassen. „Na lecker und was esse ich?“ „Du kannst auch mal das Gleiche essen wie wir. Immer dieses gedünstete Gemüse, ist auf Dauer sicher auch nicht gut.“ „Aber ich will ein wenig abnehmen! Amerika hat mich voll fett werden lassen“, protestierte sie und sah an sich hinunter. Satoe drehte sich zu ihr herum und schüttelte den Kopf. „Wir sind schon über ein Jahr wieder in Japan und außerdem bist du wunderhübsch! Wer redet dir so einen Schwachsinn ein?“ Meist sie selbst. Im Gegensatz zu Sora, die überaus sportlich und demensprechend dünn war, sah sie aus wie ein Wal. Okay, vielleicht übertrieb‘ sie ein bisschen, aber auch sie hatte gemerkt, dass sie ihren Hüpfspeck nicht so einfach loswurde. Und da sie nicht die Sportlichste war, musste sie eben etwas an ihrer Ernährung drehen, auch wenn sie sich nicht immer daran hielt. Mimi wirkte sicher auf viele sehr selbstbewusst, doch in Wahrheit kämpfte sie mit Selbstzweifeln, die durch ihre unglückliche Liebe zu Tai noch verstärkt wurden. Natürlich fragte sie sich, warum er nicht auf sie ansprang. Fand er sie etwa unattraktiv? Hässlich? Zu Prinzessinnenhaft? Wer wusste das schon. Wahrscheinlich konnte nur er ihr diese Frage beantworten. Auf einmal blieb ihre Mutter abrupt stehen und Mimi konnte gerade noch verhindern, nicht in sie hinein zu brettern. „Man Mama, wo bist du nur mit deinen Gedanken?“, fragte sie empört und fing den verwirrten Blick von ihr auf. Sie folgte ihm und blickte plötzlich in das Gesicht einer fremden Frau, die die beiden ebenfalls erschrocken anstarrte. Mimi runzelte die Stirn und sah zwischen den beiden hin und her. Was hatte das auf einmal zu bedeuten? Ihre Mutter regte sich wieder und stammelte fast schon etwas unverständlich einen Namen. „A-Ayame?“ Mimis Augen weiteten sich und starrten zu der Frau, die sich wie in einer Art Schockstarre befand. War das die ehemals beste Freundin ihrer Mutter? Sie hatte sich Ayame komplett anderes vorgestellt. Die Frau, die vor ihr stand, hatte braune Haar, die sie zu einem Zoff zusammengebunden hatte. Ihre Kleidung war nicht mehr die neuste und sah sehr abgenutzt aus. Ein roter Fleck zierte ihr cremefarbenes Shirt. Es sah aus wie Marmelade. Geschminkt war sie nicht, was Mimi ihre dunklen Augenränder und generell müden Augen verrieten. Das sollte Ayame sein? „Hey Mama, ich habe keine hellen Bohnen gefunden, deswegen habe ich…“ Ein Mädchen kam auf sie zugesteuert und blieb direkt neben ihr stehen. Sie hielt eine Dose Bohnen in den Händen. „I-Ich habe Dunkele besorgt“, stammelte sie und fuhr sich auffällig durch ihr Gesicht. Mimi beobachtete sie genau, da sie ihr irgendwie bekannt vorkam, sie konnte nur nicht sagen, wo sie sie schon mal gesehen hatte. Das Mädchen senkte den Kopf und sah in eine komplett andere Richtung, so als wolle sie nicht, dass Mimi ihr in die Augen schauen konnte. Ihre Mutter sah Ayame immer noch sprachlos an, während Ayame selbst nervös auf Mimi wirkte. Mimi sah jeden einzelnen an. Niemand reagierte auf ihre fragenden Blicke – noch nicht mal ihre Mutter. „Mama, was ist hier los?“, flüsterte sie ihr zu, doch Satoe zuckte nur kurz zusammen. Allmählich schien sie wieder zu sich zu finden. „Mit dir habe ich hier wirklich nicht gerechnet. Ich dachte du lebst in Nagoya“, sagte sie fassungslos, obwohl sie schon vor ein paar Wochen den Verdacht gehegt hatte. „Da haben wir auch gelebt, aber…“, begann sie langsam und wisch den Blicken ihrer ehemaligen Freundin aus. Mimi beobachtete sie fragwürdig. „Wir sind vor ein paar Jahren hier her gezogen“, antwortete das Mädchen, dass Mimi nur als ihre Tochter einordnen konnte. Jedenfalls erinnerte sie sich daran, dass ihre Oma ihr etwas von einem Baby erzählt hatte. „Warum hast du nie was erzählt? Du warst auf einmal wie vom Erdboden verschluckt. Deine Eltern konnten mir nur sagen, dass du nach Nagoya gezogen bist.“ Der Ton ihrer Mutter klang vorwurfsvoll und verletzt zugleich. Wahrscheinlich hatte ihr das Ganze mit Ayame mehr ausgemacht, als Mimi eigentlich wusste. Genau genommen hatte sie nur den Bruchteil einer Ahnung, was zwischen den beiden vorgefallen war. Sie schluckte, als sich eine drohende Stille ausbreitete. Kurze Blicke wurden untereinander ausgetauscht. Das Mädchen, dessen Namen sie noch immer nicht kannte, sah dringlich zu Ayame. Ihr Blick war fordernd und signalisierte, dass ihre Mutter etwas sagen sollte. Doch Ayame senkte den Kopf und biss sich sichtbar auf die Unterlippe. Unruhig wippte sie mit ihrem Bein und blinzelte Richtung Ausgang. Ihre Tochter hielt sie leicht am Arm fest und wandte ihren Blick hilfesuchend zu Mimi, die ihr das erste Mal in die Augen schauen konnte. Das Gesicht hatte sie schon mal gesehen. Nur wo? Sie war überfragt. Doch sie wusste, dass sie etwas tun musste. Sowas konnte man doch nicht im Raum stehen lassen. Wenn Ayame ihre Freundin wäre, wollte sie auch wissen, was aus ihr geworden war. So richtig glücklich sah sie nicht aus. Von den zerfledderten Klamotten ganz zu schweigen. Hier stimmte etwas nicht. Und Mimi wollte wissen, was hier gespielt wurde. Daher musste sie sich einfach etwas überlegen. Ganz schnell. Nicht das sie wieder verschwinden würde. „Wollen wir vielleicht irgendwo etwas trinken gehen?“ Bitte Empfehlung im Nachwort beachten! Kapitel 13: Mütter und Töchter ------------------------------ Sie hatte nicht erwartet, dass sie zusagen würden. Noch weniger hatte sie erwartet, dass sie tatsächlich in einem kleinen Café saßen, auch wenn sie noch nicht sonderlich viele Worte miteinander gewechselt hatten. Sie saß dem Mädchen gegenüber, dessen Name Noriko war. Ihr Gesicht kam ihr immer noch sehr bekannt vor, doch Mimi konnte es einfach nicht zuordnen. So sehr sie sich auch anstrengte, es wollte einfach nicht „Klick“ machen. Ihre Mutter saß schweigend Ayame gegenüber, die mehr damit beschäftigt war Löcher in die Luft zu starren, statt ihren Kaffee zu trinken. „Wie lange wollen wir eigentlich noch hier sitzen und schweigen? So langsam nervt es“, kommentierte Noriko missmutig und verschränkte angesäuert die Arme vor der Brust. Sollte Mimi auch etwas sagen? Oder sollte sie besser die Reaktion ihrer Mutter abwarten, die Noriko erschrocken anstarrte? Sie blickte kurz zu Noriko, die provokant die Augenbraue in die Höhe zog. Etwas an ihr schüchterte sie gewaltig ein. War es ihr Blick, der unerschrocken, fast schon abgeklärt auf sie wirkte? Ihre ganze Haltung wirkte auf sie sehr selbstsicher, außer für den kurzen Moment im Supermarkt, als sie ihren Blicken versuchte auszuweichen. Etwas stimmte hier nicht. „Seit wann lebt ihr wieder in Tokio?“, stieg ihre Mutter plötzlich ein und sah zu Ayame. „Seit ich dreizehn bin“, antwortete Noriko für ihre Mutter und erhaschte kurz wieder die Aufmerksamkeit von Satoe. „Schon so lange? Was hat den Minoru dazu gesagt? Er wollte doch unbedingt nach Nagoya ziehen“, erinnerte sich Satoe dunkel und verzog ein wenig das Gesicht. „Naja wir…wir hatten Differenzen“, klärte Ayame auf. „Das heißt im Klartext?“ Satoe tippte ungeduldig mit dem Finger auf der Tisch. Mimi beobachtete ihre Mutter aus dem Augenwinkel heraus und fragte sich, warum sie auf einmal so wütend wurde. Was war nur zwischen ihnen vorgefallen? „Er hat mich verlassen“, gestand Ayame zögerlich und senkte den Kopf. Sie krampfte die Finger um ihre Tasse und biss sich auf die Unterlippe. „Uns“, korrigierte Noriko bissig. „Er hat uns verlassen! Dieses blöde Arschloch.“ Sie wurde mit jedem Wort leiser, doch Mimi verstand sie. Sie hatte ihren eigenen Vater als Arschloch bezeichnet. Ihren Vater. Sowas konnte man doch nicht sagen. „Red‘ nicht so über deinen Vater“, ermahnte Ayame sie. Doch die Brünette schüttelte nur den Kopf und stand plötzlich auf. „Er ist nicht mein Vater!“, brüllte sie und jeder in dem Café blickte sie an. Mimi inklusive, die nicht verstand von was sie sprach. Sie krampfte auffällig die Hände zusammen und ihr rechtes Auge zuckte vor Zorn. „Er ist für mich gestorben.“ „Noriko setz‘ dich bitte“, forderte ihre Mutter sie auf und versuchte sie zum hinsetzten zu bewegen. „Nein! Ich bin das Thema wirklich satt! Und du brauchst sowas nicht jedem aufzutischen“, blaffte sie und starrte zu Mimi, die sie perplex anschaute. „So eine Prinzessin, wie sie hat sicherlich nicht solche Probleme“. Das waren ihre letzten Worte, bevor sie zu den Toiletten stürmte. Prinzessin? Das hatte sie doch schon mal gehört. In dem gleichen herablassenden Tonfall. „Wow, ganz schön eingebildet. Bist wohl die Prinzessin auf der Erbse.“ Auf einmal fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Sie war das Mädchen, das sie im Club angerempelt hatte. Sie war die unfreundliche Person, die sie eigentlich nicht mehr sehen wollte. _ Sie betrat die Damentoilette und hörte ein leises Schluchzen. Mimi war ihr nachgegangen, nachdem Ayame und ihre Mutter wieder im Sumpf des Schweigens abgetaucht waren. Außerdem hatte sie das Bedürfnis mit Noriko zu reden, auch wenn ihre erste Begegnung alles andere als sagenhaft schön war. Mimi musste auch nicht lange suchen. Die Brünette stand am Spiegel und wusch sich mit dem Handrücken über ihre Augenpartie. Sie sah kurz hoch und entdeckte Mimi. „Was willst du hier?“, fragte sie und klang verheult. „Keine Ahnung“, antwortete Mimi gelassen. „Vielleicht wollte ich dir wieder mein Getränk überkippen?“ Sie drehte sich herum und lächelte leicht. „Du hast also den Wink mit dem Zaunpfahl bemerkt. Hätte ich dir nicht zugetraut.“ Mimi stemmte beleidigt die Hände in die Hüfte. „Was soll das denn bitte heißen? Ich bin dir extra nachgegangen und bekomme von dir so eine Antwort? Bist du auf den Kopf gefallen?“ Noriko kicherte. „Du hast wohl deine Schlagfertigkeit wiedergefunden, obwohl das schon ein wenig schwach war. Da hatte ich im Kindergarten schon bessere Sprüche drauf“, erwiderte sie hochnäsig und wandte sich wieder ihrem Spiegelbild zu. „Ich glaube, du bist wohl nie aus dem Kindergarten rausgegangen“, stichelte sie und ging einen Schritt auf sie zu. „Wieso bist du eigentlich so ätzend drauf? Ist es wegen deinem Vater?“ Ihre Stimme war sanfter als vorher, so als wollte sie ihr signalisieren, mit ihr reden zu können. Noriko sah sie von der Seite an und ließ die Schultern hängen. „Ich will mit dem Mann wirklich nichts mehr zu tun haben.“ „Wieso? Hat er deine Mutter etwa betrogen?“, schoss ihr plötzlich durch den Kopf und Mimi stellte sich vor, was sie machen würde, wenn ihr Vater ihre Mutter betrogen hätte. Sie wäre sicher auf der Seite ihrer Mutter. Doch trotzdem blieb ein Vater immer ein Vater. „Nein, so war das nicht. Es ist viel komplizierter als das“, erzählte sie geistesabwesend und richtete den Blick zur Seite. Mimi sah, dass ihr eine einzelne Träne über die Wange lief. „Willst du darüber reden?“ „Klar“, meinte sie sarkastisch und wandte den Blick wieder zu ihr. „Ich erzähle immer Wildfremden von meinen Problemen.“ „Aber unsere Mütter waren mal befreundet, also verbindet uns das auch irgendwie“, erwiderte Mimi überzeugt. „In wie fern? Nur weil wir ihre Töchter sind? Wow, warum willst du nicht gleich meine neue beste Freundin sein?“, fragte sie herablassend und Mimi ärgerte sich sehr über ihren Tonfall. Sie wollte doch nur helfen. „Du bist wohl heute mit dem falschen Fuß aufgestanden“, grummelte sie und verdrehte die Augen. „Vielleicht“, antwortete sie recht gleichgültig und betrachtete sich in Spiegel. Sie fuhr sich durch die langen Haare und strich sich ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht. Mimi beobachtete sie dabei und war richtig neidisch auf ihre langen Haare. Sie waren mindestens fünf Zentimeter länger als ihre Eigenen und sahen so richtig schön voll und kräftig aus. Ihre hingegen brauchten dringend eine Kur oder einen Spitzenschnitt. „Wir sollten wohl wieder zurückgehen. Das hier wird allmählich zu seltsam.“ „Zu seltsam?“, wiederholte Mimi verwirrt, aber schon rauschte Noriko an ihr vorbei. Sie folgte ihr wortlos. Draußen standen bereits ihre Mütter und sahen sich mit einem bedrohlichen Blick an. Mimi blieb erst stehen, als Noriko abrupt stoppte und zu den beiden Frauen sah. Irgendetwas war in ihrer Abwesenheit passiert. Eine dieser gewissen Spannungen lag in der Luft. Sie war explosiv und man konnte förmlich das Ticken einer hochzugehenden Zeitbombe hören. Mimis Mutter sah sie an und wollte ihr mit ihrem Blick signalisieren, dass sie sofort herkommen sollte. Doch die Brünette hatte nur die Arme vor der Brust verschränkt und bewegte sich keinen Meter. „Ich glaube, du solltest besser zu ihr gehen“, flüsterte Noriko ihr zu und berührte ihre Hand. Mimi merkte, dass sie versuchte ihr etwas zuzustecken und deshalb öffnete sie sie leicht. Etwas raues berührte ihre Handfläche, als sie sie wieder schloss. Mimi schenkte ihr kurz einen verwirrten Blick, ging aber dann zu ihrer Mutter, die sie augenblicklich aus dem Café zog. Die junge Japanerin kam kaum hinterher und hatte enorme Probleme mit ihrer Mutter Schritt zu halten, die fast schon panisch davon lief. „Was ist denn los?“, fragte sie und riss sich aus ihrem Griff los. „Was ist passiert?“ „Nichts“, beteuerte sie, doch Mimi glaubte ihr nicht. Ihre Augen waren gläsern und ihre Mimik war steif. Ihre ganze Haltung signalisierte Mimi, dass sie nur noch weg wollte. Hinterfragen war keine Option. Sie wusste, dass ihre Mutter mit ihr nie über Probleme reden würde. Vielleicht wusste sie deswegen nichts von Ayame und ihrer Tochter. Sie kannte ihre Vergangenheit nicht und sollte sich besser auch nicht einmischen. Mimi presste die Lippen aufeinander und setzte sich langsam wieder in Bewegung. Sie öffnete ihre Hand, in der sich ein kleiner zusammengefalteter Zettel befand. Sie verlangsamte ihre Schritte und hinkte ihre Mutter ein paar Meter hinterher, als sie ihn öffnete. Es war eine Handynummer. _ Mimi lag auf ihrem Bett und starrte zur Decke. Wieso musste dieser Tag nur so komisch enden? Ihre Mutter verhielt sich, seit sie nach Hause gekommen waren, sehr distanziert. Sie hatte ihren Vater noch nicht mal begrüßt, sondern schloss sich augenblicklich im Bad ein. Mimi hörte nur wie sie das Wasser in die Badewanne einlaufen ließ und auch leises Schluchzen. Etwas war vorgefallen. Mal wieder. Und Mimi hatte nichts mitbekommen. Mittlerweile war ihre Mutter aus dem Bad gekommen. Sie war über eine Stunde drinnen und ihre Haut glich einer schrumpeligen Walnuss. Doch ihr schien es egal zu sein. Sie ging ohne Umschweife in ihr Zimmer und war seither nicht mehr rausgekommen. Mimi schnaubte nur laut vor sich hin und schnappte sich ihr Handy. Sie wählte eine Nummer und hielt es sich an Ohr. Es tutete zweimal, als sie plötzlich wieder weggedrückt wurde. Sie runzelte die Stirn und sah auf das Display. „Anruf beendet“, murmelte sie verwirrt und schmiss ihr Telefon neben sich auf die Matratze. Das war schon das dritte Mal. Sora hatte sie bisher noch nie weggedrückt, warum tat sie es jetzt? War sie etwa mit Matt unterwegs und wollte mit ihm alleine sein? Möglich, aber sie probierte es schon den halben Nachmittag. Immer wartete sie knapp zwei Stunden, bis sie erneut anrief. Sie hatte bereits unzählige SMS geschrieben, doch auf keine hatte sie eine Antwort erhalten. Selbst auf dem Festnetz hatte sie es bereits probiert, doch dort ging niemand ran. Aus irgendeinem Grund ignorierte Sora ihre Anrufe. Sie hatte seit dem Abend in der Karaoke-Bar nichts mehr von ihr gehört. Wie das Gespräch mit Tai wohl gelaufen war? Sie schüttelte sich kurz. Nein, sie wollte nicht schon wieder an ihn denken. Mimi drehte sich zur Seite und sah auf ihrem Nachtisch den Zettel liegen, den ihr Noriko gegeben hatte. War es etwa ihre Handynummer? Sie hatte gar nicht gemerkt, dass sie sie ihr aufgeschrieben hatte. Und warum hatte sie ihr die Nummer überhaupt gegeben? Sie wollte mit ihr doch gar nicht reden, das hatte sie klipp und klar gesagt. Mimi presste die Lippen aufeinander und griff nach dem Zettel. Sie setzte sich auf und schnappte sich ihr Handy. Hey, ist bei dir alles in Ordnung? Oder verhält sich deine Mutter auch so komisch? Mimi tippte die SMS und drückte ohne groß darüber nachzudenken auf senden. Vielleicht antwortete sie ihr ja gar nicht. So wie Sora, die wohl alles was mit Mimi zu tun hatte, ignorierte. Die Brünette müsste lügen, wenn sie sagte, dass es ihr nichts ausmachte. Sie ärgerte sich sehr über Soras komisches Verhalten und wollte natürlich wissen, was hinter ihrem Rücken vorgefallen war. Plötzlich vibrierte ihr Handy. Hätte nicht damit gerechnet, dass du dich meldest. Meine Mutter heult in ihrem Zimmer und deine? Ihre Mutter weinte? Was zur Hölle…warum war sie nur auf die Toilette gegangen? Sie wusste zwar nicht, ob ihre im Moment auch weinte, aber als sie im Bad war, hatte sie deutlich ein Schluchzen vernommen. Komisch, dass ihr Vater sie noch nicht gefragt hatte, was mit ihrer Mutter los war? Er arbeitete wohl immer noch an seiner Präsentation. Was ist nur passiert? Hast du vielleicht eine Idee? Meine Mutter ist seit wir wieder hier sind so komisch. Mit meinem Vater hat sie auch noch nicht geredet. Mimi sah verzweifelt auf ihr Handy, als sie die Nachricht abgeschickt hatte. Sie hoffte, dass ihr Noriko weiterhelfen könnte. Obwohl. Die Beziehung zu ihrer Mutter schien angespannt zu sein. Aber vielleicht hatte sie ja auch etwas mitbekommen, oder ihre Mutter war gesprächiger in solchen Dingen. Nicht jeder, war so eingestellt wie Mimis Mutter, die sie von allem schlechten und bösen fernhalten wollte. Ihr Handy vibrierte erneut. Hast du die nächste Woche Zeit? Mimi runzelte die Stirn. Sie wollte sich mit ihr treffen? Damit hatte sie wirklich nicht gerechnet. Sie überlegte, wann sie etwas mehr Zeit hatte. Morgen war Sonntag. Familientag, wie ihre Mutter es immer so schön nannte. Mimi verdrehte unbewusst die Augen, doch sie wusste, dass ihre Mutter sie sonntags immer nur ungern weggehen ließ. Gerade weil die Dinge etwas angespannt waren, wollte Mimi lieber zu Hause bleiben und die Situation beobachten. Montags wollte sie Sora ein wenig auf den Zahn fühlen. In der Schule konnte sie ihr nicht den ganzen Tag aus dem Weg gehen. Dienstags hatte sie Nachhilfe bei Tai. Mittwoch. Da hatte sie zwar bis 16 Uhr Schule, aber sonst noch nichts geplant gehabt. Mimi kaute auf ihrer Unterlippe und tippte schnell eine Antwort zurück. Wie wäre es Mittwoch um fünf? Im Einkaufszentrum, in Stadtmitte? Mimi legte ihr Handy beiseite und wartete. Sie fragte sich wirklich, was bei diesem Treffen rauskommen sollte. Noriko hatte sie heute blöd angemacht, nur weil sie eigentlich nett sein wollte und ihr ihre Hilfe anbot. Mimi war sich auch nicht sicher, ob sie die Wahrheit wissen wollte. Es war eine Sache, die vor Jahren passiert war. Menschen entwickelten sich eben auseinander. Aber trotzdem wollte sie wissen, was dazu geführt hatte. Sie sah auf ihr Handy und stellte fest, dass sie wieder eine neue Nachricht hatte. Okay. Okay? Mehr nicht? Noch nicht mal einen Gruß oder irgendeine andere Reaktion wie „Ich freue mich?“ Mimi schüttelte nur den Kopf. Manchmal zweifelte sie wirklich an der sozialen Kompetenz ihrer Mitmenschen. Noriko hatte wohl keine. Jedenfalls war das Mimis Auffassung. Dennoch war sie sehr gespannt auf Mittwoch und die neuen Erkenntnisse, die er wohlmöglich bringen würde. Kapitel 14: Unsicherheiten -------------------------- Ihre Woche hatte sehr komisch angefangen. Eigentlich war ihr ganzes Wochenende schräg gewesen. Erst konnte sie Sora nicht erreichen, dann schleppte ihre Mutter sie in die Neustadt, wo sie auch bekannte Gesichter trafen. Doch seit dem Treffen war ihre Mutter komisch. Mit ihrem Vater hatte sie auch kaum ein Wort gewechselt. Mehrfach hörte sie leises diskutieren und das Schlagen einer Tür. Am Sonntagmorgen fand sie ihren Vater auf der Couch vor. Mimi traute sich nicht nachzufragen, aber ihr Sonntag war still – ungewöhnlich still, so als würde eine große Naturkatastrophe auf sie zu kommen und einfach achtlos überrollen. Heute Morgen war ihr Vater bereits früh aus dem Haus gegangen. Ihre Mutter hatte ihr wie gewohnt Frühstück gemacht, unterhielt sich jedoch nicht mit ihr. Mehrfach versuchte sie das Wort zu ergreifen, doch alle Versuche scheiterten. Sie wollte nicht darüber reden. Mimi hoffte wirklich von Noriko mehr Informationen zu erfahren. Fieberhaft wartete sie auf Antworten, die ihr niemand geben wollte. Und dann war da auch noch Sora, die sie heute Morgen nicht am Schultor vorfand und auch sonst spurlos verschwunden schien. Noch nicht mal in der Pause war sie auffindbar, doch niemand störte sich sonderlich daran. Sie saß auf der gleichen Bank wie immer, direkt neben Izzy und suchte mit den Augen den Schulhof nach Sora ab. Sie war spurlos verschwunden. Was war nur passiert? War das Gespräch mit Tai etwa so in die Hose gegangen? Mimi schnaubte leicht und stützte mit ihrem Arm ihren Kopf, der auf ihrer Handfläche ruhte. Aus dem Augenwinkel heraus, sah sie Tai und Matt auf sie zukommen. Sie schnellte mit ihrem Kopf hoch. Die beiden hatten gerade Platz genommen, als Mimi sie mit einer Frage bombardierte, die ihr auf der Zunge brannte. „Sagt mal, habt ihr Sora gesehen?“ Sie sah abwechselnd zu Tai und Matt, die in aller Seelenruhe ihr Essen auspackten. Tai zuckte kurz bei Soras Namen zusammen, doch Mimi entschied sich dafür, dem keine große Beachtung zu schenken. „Ich glaube, sie isst heute mit ein paar Mädels vom Tennisverein. Jedenfalls hat sie das vorhin zu mir gesagt“, eröffnete Matt ihr knapp und packte sein Pausenbrot aus der Box. Mimi musterte ihn auffällig, doch er zeigte keinerlei Reaktion. Tai hingegen wich ihren fragenden Blicken aus, so als würde er wissen, warum Sora heute lieber bei den anderen aß. Was war nur nach Matts Geburtstagsfeier vorgefallen? Warum waren alle plötzlich so komisch? Lag irgendetwas in der Luft? Tai schien wohl immer noch nicht zu wissen, dass Sora und Matt ein Paar waren… Missmutig blickte sie ihr Gegenüber an, der lustlos an seinem Sandwich knabberte. Er wirkte so, als hätte er nicht sonderlich viel Hunger. Wirklich untypisch für ihn. Länger als nötig, starrte sie ihn nieder und erweckte somit seine Aufmerksamkeit. Er zog die Augenbrauen zusammen und legte das Sandwich in die Brotbox. „Warum starrst du mich so an? Hab‘ ich was im Gesicht hängen?“, fragte Taichi genervt und funkelte sie an. Mimi wurde augenblicklich rot und schüttelte nur sachte den Kopf. Warum raubte er ihr immer gleich die Sprache? Sie kam sich in letzter Zeit so dumm und naiv vor, wenn sie sich mit ihm unterhielt. Wo war nur ihre Schlagfertigkeit geblieben? Sie war wohl der Liebe zum Opfer gefallen. „Dein Gesicht sieht auch heute extrem dämlich aus“, mischte sich nun auch Yamato ein. „Ist was passiert?“ Tai schreckte zusammen. „Nein, was soll passiert sein?“ „Du wirkst ein bisschen neben der Spur“, meinte sein bester Freund und sah ihn besorgt an. „Mit mir ist alles in Ordnung“, versicherte Tai ihm unwirsch und aß unbeirrt weiter, bis er seinen Blick wieder zu Mimi wandte. Er kaute auf seinem Brot, so als wäre es Kaugummi und schluckte es schwerfällig hinunter. „Was ist?“, fragte sie pampig und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ach, ich habe nur an Morgen gedacht“, antwortete er schulterzuckend. „Ich armer Kerl rackere mich jeden Dienstag für dich ab und du musst noch nicht mal was dafür bezahlen“, sagte er und schnaubte laut. „Wow, mein Held“, antwortete sie sarkastisch und streckte ihm die Zunge raus. „Zu deiner Erinnerung, du hast nie auf Geld bestanden.“ „Vielleicht besteht er ja auf andere Dinge“, stichelte Matt grinsend und Mimi warf ihm einen vielsagenden Blick zu, während Tai ihm einen offensichtlichen Stoß in die Rippen gab. „Was denn? Man weiß ja nie, was sich während der Nachhilfestunde alles entwickelt“, lachte er und winkte ab. Er konnte ja nicht ahnen, dass sich bei Mimi wirklich etwas entwickelt hatte. Störende Gefühle, die sie manchmal einfach gerne loswerden wollte. Tai fuhr sich durch seine wilde Mähne und schüttelte bei den wilden Spekulationen seines besten Freundes immer wieder den Kopf. Izzy schien alles auch eher mit Humor zu nehmen und stieg fröhlich mit ein. „Die beiden wären wirklich ein seltsames Paar“, grinste er und sah herausfordernd zu Tai, der plötzlich ganz still geworden war. „Das stimmt. Vollkommen gegensätzlich, aber witzig wäre es schon“, erwiderte Yamato. „Schön, dass ihr auf unsere Kosten Spaß habt. Aber ich steh‘ nicht so auf Brünette“, sagte er locker und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Mimi, die das ganze bis vor kurzem noch sehr amüsant gefunden hatte, sah plötzlich traurig drein. „Du bist aber auch kein Traumprinz“, wetterte sie gekränkt. „Aber ich seh‘ unfassbar gut aus“, tönte er überheblich. „Soll ich dir vielleicht meine Bauchmuskeln zeigen?“ „Lieber nicht, deine Fettschürze will ich sicherlich nicht sehen“, grummelte sie und reckte ihren Hals. „Fettschürze? Geht's noch, das sind alles Muskeln!“ „Wie ein altes Ehepaar“, lachte Matt und klopfte Tai auf die Schulter. Tai warf ihm nur einen bösen Blick zu, während sich Mimi bedeckt hielt. Bei diesem Verein konnte man ja nur etwas Falsches sagen. _ Hibbelig wartete sie am Tor und hoffte Sora noch abfangen zu können. Neben ihr stand Izzy, der gelangweilt Löcher in die Luft starrte. „Auf wen warten wir nochmal? Ich müsste eigentlich noch lernen“, gab er mürrisch zu und warf Mimi einen genervten Blick zu. Ihre Lehrerin hatte sie fünfzehn Minuten früher entlassen, aber Mimi wollte unbedingt mit Sora sprechen. Ihr komisches Verhalten musste doch eine Ursache haben. Und Mimi wollte ihr unbedingt auf den Zahn fühlen. In ihr machte sich das Gefühl breit, dass auch Taichi etwas damit zu tun hatte. Sein Verhalten war nicht weniger komisch, es war sogar mehr als nur verdächtig. Etwas, was Mimi so gar nicht gefiel. „Da hinten kommen die anderen“, informierte Izzy sie und deutete in deren Richtung. Hoffnungsvoll drehte sie sich herum und entdeckte nur Tai, Matt, Kari und Davis. „Wo ist Sora?“, fragte sie, als die vier bei ihnen angekommen waren. „Sie ist heute arbeiten und musste schnell weg“, beantwortete Matt ihre Frage. Doch auch er selbst, wirkte verunsichert und schien ihre Aussage genauso wenig zu glauben, wie Mimi. „Montags? Sie arbeitet doch nur dienstags bis donnerstags“, rief sie empört und schüttelte den Kopf. Hier stimmte etwas nicht. Matt zuckte nur mit den Schultern, während Tai ihren Blicken mal wieder auswich und sich zurückhielt. Mimi schüttelte nur den Kopf. Konnte niemand ihrer Freunde mal Klartext reden? Obwohl, sie war sich noch nicht mal sicher, ob sie die Wahrheit überhaupt wissen wollte. Missmutig setzte sie sich in Bewegung. Izzy hatte Tai in ein Gespräch verwickelt, das ihn offensichtlich langweilte. Ein paar Mal sah sie ihn gähnen. Davis und Kari liefen vor den vieren und schienen sich normal zu unterhalten, auch wenn Mimi immer noch die sehnsüchtigen Blicke von Davis mitbekam. Er war hoffnungslos verliebt, genauso wie sie. Doch Kari hatte sich für jemand anderen entschieden und ließ ihn mit einem gebrochenen Herzen zurück. Mimi hatte Angst, dass es ihr ebenfalls so ergehen würde. Sie warf Taichi einen flüchtigen Blick zu. Sein Gesicht war ausdruckslos und augenscheinlich verfolgte er das Gespräch mit Izzy nur halbherzig. Er schien seinen Gedanken nachzuhängen. Plötzlich spürte Mimi eine Hand an ihrem Oberarm, die sie sachte etwas zurückzog. „Was zum…Matt?“ Sie funkelte ihn böse an, doch sein Blick verriet ihr, dass er etwas Ernstes mit ihr zu besprechen hatte. Beide verlangsamten ihre Schritte und hinterließen eine größere Kluft zwischen ihnen und den anderen. „Was ist los?“, fragte sie mit gerunzelter Stirn und passte sich seinem Gehtempo an. „Es geht um Sora“, eröffnete er ihr, „ich war am Samstag bei ihr gewesen und seither verhält sie sich komisch.“ „Wie komisch?“ Mimi wirkte alarmiert. Sie spitzte die Ohren und ihr Blick war voll und ganz auf Matt gerichtet. „Naja, als ich am Samstag da war, war sie richtig abweisend zu mir. Ich bin schnell wieder gegangen, weil ihre Mutter zu Hause war, aber per SMS konnte sich sie später gar nicht mehr erreichen.“ Sie nickte nur. All das kam ihr sehr bekannt vor. Sora schien irgendetwas zu verbergen. „Und wie war es heute in der Schule gewesen? Ihr sitzt doch nebeneinander“, stellte sie die Gegenfrage und wartete gespannt auf seine Antwort. Matt zuckte allerdings nur mit den Achseln und sah sie unwissend an. „Heute ging’s. Wir haben uns normal unterhalten. Sie wollte nur nicht mit uns Mittagessen“, erklärte er ihr knapp. Mimi nickte wieder und versuchte das Gesagte irgendwie in Verbindung miteinander zu bringen, doch ihre fehlten noch zu viele Puzzleteile, um es richtig zusammensetzten zu können. „Hat sie zu dir irgendwas gesagt?“, fragte er auf einmal und wirkte sehr besorgt. Mimi schüttelte nur den Kopf und erkannte schon von weitem die Straße, in die sie abbiegen musste. „Nein, ich konnte sie auch das ganze Wochenende nicht erreichen, aber da war…“, sie stockte. Sie erinnerte sich wieder an diesen komischen Samstag. Noriko und ihre Mutter, die anscheinend alles auf den Kopf gestellt hatten. „Aber da war?“, wiederholte Matt und fixierte sie mit seinen kühlen blauen Augen. „Ach, nicht so wichtig“, redete sich Mimi heraus und steuerte mit schnellen Schritten auf die Abzweigung zu. Matt blieb verdattert zurück. Doch Mimi hatte nicht sonderlich viel Lust mit ihm über ihre nicht nennenswerten Probleme zu sprechen. Vielleicht war auch alles ganz harmlos. Schnell verabschiedete sie sich von dem Rest und steuerte geschwind auf das Haus zu, das sie vor über einem Jahr bezogen hatten. Man konnte es schon von weitem erkennen. Es hatte rote Dachziegeln, war zweistöckig und sah von außen bereits sehr einladend aus. Mimi war froh in dieser Gegend zu leben. Sie war sehr idyllisch und es fuhr nicht so viel Verkehr durch, wie bei ihrer alten Wohnung, die sie damals hatten. Eigentlich konnte sie sich wirklich glücklich schätzen. Doch dieses Gefühl hielt nicht lange an. Sie schloss die Tür auf und stand mitten im Hausflur, als sie eine laute Diskussion ihrer Eltern mitbekam. Normalerweise stritten sie nie so laut. Sachte schloss sie die Tür hinter sich und zog leise die Schuhe aus. Auf Zehenspitzen schlich sie sich in die Küche, von wo sie die lauten Stimmen hörte. Sie drückte ihr Ohr gegen die Tür und lauschte. „Ich habe überhaupt keine Ahnung, warum du dich so darüber aufregst, Satoe“, brüllte ihr Vater, sodass sie kurz zusammenzuckte. Brüllen war sie von ihm nicht gewöhnt gewesen. Eigentlich war er die Ruhe in Person. „Warum ich mich aufrege? Das habe ich dir doch schon zick Mal erklärt! Und ich glaube nicht, dass sie das grundlos erzählt hat“, pfefferte ihre Mutter in der gleichen Lautstärke zurück. Wer hatte was erzählt? Sie verstand nur Bahnhof. „Und du glaubst ihr? Einem Kind, das damals noch nicht mal geboren war? Sag‘ mal tickst du noch richtig?“, warf er ihr an den Kopf und Mimi hörte das Klirren des Geschirrs. „Es langt mir allmählich! Ich lasse mir doch nicht irgendwelche Sachen unterstellen“, knurrte er und riss die Küchentür auf. Mimi schreckte zusammen, als ihr wutentbrannter Vater in den Flur trat und sie zuerst gar nicht bemerkte. „Ich werde frische Luft schnappen gehen“, ließ er ihre Mutter wissen, blickte kurz zu Mimi und erstarrte. „Mimi?“, fragte er mit ruhiger Stimme, doch in ihren Augen hatten sich bereits Tränen gesammelt. Sie mochte es nicht, wenn sich ihre Eltern stritten. Sie hatte immer das Gefühl, dass sie für eine Seite Partei ergreifen müsste. Doch im Moment war sie nur überfordert. Ohne etwas zu ihm zu sagen, lief sie die Treppe hoch und verschloss ihre Zimmertür. Langsam rutschte sie sie hinunter und vernahm nur noch, wie ihr Vater geräuschvoll die Haustüre zuschlug. Mit dem Handrücken fuhr sie sich immer wieder über ihre Augenpartie, doch die Tränen wollten nicht aufhören. Was war nur passiert? Kapitel 15: Fragen über Fragen ------------------------------ Ihr Vater kam gestern nicht mehr zurück. Wahrscheinlich hatte er sich ein Hotelzimmer genommen, da er sich mit ihrer Mutter nicht auseinander setzen wollte. Heute früh kam er kurz nach Hause, duschte und ging wieder. Mimi hatte es nur im Halbschlaf mitbekommen. Am Abend zuvor hatte sie ihre Mutter mehrfach um Antworten gebeten. Antworten, die sie ihr nicht geben wollte. Immer wieder wich sie ihren Fragen aus, die ihr auf der Zunge brannten. Mimi verstand sie nicht mehr. Vor kurzem war sie noch so glücklich gewesen und freute sich auf ihren Hochzeitstag, aber all das war in Vergessenheit geraten. Zurück blieb eine verwirrte Mimi, die sich nur schlecht auf den Unterricht und ihre Freunde konzentrieren konnte. Wie üblich saßen sie wieder beim Mittagessen und redeten über belanglose Dinge. Heute war sogar Sora dabei, die wieder auf ihrem Stammplatz zwischen Matt und Tai saß. Jedoch wirkte sie äußerst angespannt und fühlte sich deutlich unwohl. Mimi hatte auch versucht mit ihr zu reden, doch Sora war nicht besser als ihre Mutter. Wenn sie fragte, was passiert war, antwortete sie, dass nichts gewesen sei. Es war alles in Ordnung, jedenfalls laut Sora. „Und habe ich gestern irgendwas verpasst?“, fragte ihre rothaarige Freundin, um die Stimmung etwas aufzulockern. Izzy und Matt sahen sich kurz an und tauschten auffällige Blicke untereinander aus. „Naja wir haben uns gestern über seltsame Paare unterhalten und sind irgendwann bei Tai und Mimi gelandet“, klärte Izzy sie grinsend auf. Soras Mundwinkel verzogen sich automatisch nach unten und sie schüttelte unwirsch den Kopf. „Wie seltsame Paare?“, fragte sie nach und senkte ihre Gabel. Fing dieses Thema schon wieder an. Genervt verrollte Mimi die Augen und richtete einen bösen Blick zu Matt, der überheblich grinste. Am liebsten würde sie ihm gegen sein Schienbein treten. „Naja, Izzy und ich haben uns vorgestellt, wie Tai und Mimi als Paar wären. Ist wirklich eine lustige Vorstellung“, meinte er und lachte kurz. „Aha“, antwortete Sora und wirkte verwirrt. „Ihr kommt wirklich auf seltsame Themen.“ Seltsame Themen? So seltsam fand sie es gar nicht. Doch sie stand mit ihrer Meinung wohl alleine da. „Also wir können gerne über etwas anderes reden“, mischte sich Taichi genervt ein. „Über so ein Kuppelzeug reden wirklich nur Waschweiber.“ „Ach Tai, nimm‘ doch nicht alles so ernst, ist doch nur Spaß“, meinte Matt locker. Ja, Spaß auf ihre Kosten. „Lasst uns einfach über etwas anderes reden“, beschloss Sora und warf einen flüchtigen Blick zu Tai, bevor sie ihren Kopf wieder abwandte und leicht rot wurde. Mimi beobachtete ihre Reaktion genau. Sie biss sich auf die Unterlippe und registrierte, wie Tai ihr einen seltsamen Blick zu warf. Wie gerne würde sie manchmal in seinen Kopf schauen, doch das ließen die Gesetze der Natur leider nicht zu. Er fixierte sie immer noch, blickte dann aber zu Sora, die auffällig auf einem Salatblatt herumkaute. Mimi zog die Augenbrauen zusammen und versuchte seine Reaktion zu deuten, was ihr jedoch nicht gelang. Es blieb wohl das größte Geheimnis der Menschheitsgeschichte. Männer. Warum mussten sie nur so kompliziert sein? _ Es klingelte und das Ende der Pause wurde eingeläutet. Langsam machten sich die Freunde auf den Weg zum Schulgebäude, doch Mimi nutzte die Gelegenheit, um Sora beiseite zu ziehen und sie auf ihr komisches Verhalten endlich anzusprechen. „Was ist los mit dir?“, fragte sie besorgt, als beide in einer Ecke standen. Sora wirkte verunsichert und blickte zu Boden. Sie presste die Lippen fest aufeinander und sagte nichts. Mimi berührte leicht ihren Arm, doch dadurch schreckte sie nur kurz zusammen. „Ist irgendwas zwischen dir und Matt vorgefallen?“ Sora schüttelte nur den Kopf und sah ihr das erste Mal in die Augen. „Es ist alles okay, ich weiß gar nicht, was du von mir willst“, sagte sie etwas barsch, klang jedoch nicht sonderlich überzeugend. „Ich kenne dich mittlerweile lang genug, um zu merken, dass mit dir etwas nicht stimmt“, meinte Mimi behutsam und legte die Hand auf ihre Schulter. „Was ist los?“ „Nichts“, murmelte sie und schüttelte den Kopf. „Du siehst Gespenster.“ „Ach wirklich? Und warum konnte ich dich das ganze Wochenende nicht erreichen?“, wollte sie wissen und ließ sie wieder los. Wütend verschränkte sie die Arme vor der Brust. Wieso konnte sie es ihr nicht sagen? Warum zierte sie sich so? Und wenn sie ehrlich war, hätte sie Sora am Wochenende mehr als einmal als ihre Freundin gebraucht. Doch sie glänzte mit Abwesenheit. „Ich hatte halt viel zu tun“, erklärte sie sich und verdrehte die Augen. „Ich bin schließlich im Abschlussjahrgang und kann mir schlechte Noten überhaupt nicht leisten.“ „Du lügst doch. Du hattest noch nie irgendwelche Probleme in der Schule und selbst Matt findet, dass du dich komisch verhältst“, rieb sie ihr prompt unter die Nase, obwohl sie diesbezüglich eigentlich gar nichts sagen wollte. Soras Augen weiteten sich auf einmal. „Matt? Was hat er denn zu dir gesagt?“, wollte sie wissen und sah sie dringlich an. Mimi schnaubte nur. „Dass du dich ihm gegenüber ziemlich komisch verhalten hast.“ „Mehr nicht?“ Sora legte den Kopf schräg und musterte ihre Freundin auffällig. Mimi nickte nur beiläufig und sah kurz auf die Uhr an ihrem Handgelenk. Sie musste sich wirklich beeilen, wenn sie noch pünktlich zu Mathe wollte. „Mehr nicht, aber trotzdem. Du verhältst dich seltsam und ich als deine Freundin, will dir doch nur helfen! Also rede mit mir“, forderte sie Sora auf. Doch Sora biss sich nur auf die Unterlippe und schüttelte leicht den Kopf. „Es geht nicht, tut mir leid.“ „Was geht nicht? Man Sora!“, jammerte sie verzweifelt, doch sie konnte ihre Freundin nicht davon überzeugen mit der Wahrheit herauszudrücken. Missmutig stiefelte sie zurück ins Schulgebäude und verzog ihr Gesicht. Bei diesem Mädchen biss man wirklich auf Granit. Mimi musste wohl wieder Detektiv spielen, um die Wahrheit herauszufinden. _ „Ich will heute definitiv keine Zahlen, Buchstaben, Teilmengen oder sonstigen Mist sehen“, grummelte Tai und stützte sich nach hinten ab. Mimi schwirrte ebenfalls der Kopf. Heute hatte sie mal wieder absolut nichts verstanden. So sehr sie sich auch anstrengte, Mathe wollte einfach nicht in ihrem Kopf bleiben. Zum Glück hatte sie Tai, der ihr alles nochmal in Ruhe erklärte. Wenigstens hatte sie nun einen kleinen Überblick über das Thema erlangen können. „Ich bin fix und fertig“, steuerte Mimi bei und packte ihren Kram zusammen. „Frag mich mal“, schnaubte Tai und fuhr sich mit einer Hand dramatisch über die Stirn. Mimi grinste bei dieser Geste leicht und senkte den Kopf. Auch wenn er manchmal ein Idiot war, war er ein unglaublich süßer Idiot. Und auch, wenn sie es nicht so sehr zeigte, half er ihr ganz schön aus der Patsche. Ohne ihn, wäre sie mehr als einmal aufgeschmissen gewesen. „Was machst du eigentlich am Wochenende?“, fragte er plötzlich und musterte sie interessiert. Sie? Wochenende? Was? „E-Ehm…naja also, nichts. Nichts besonders“, stammelte sie zurecht und ihre Wangen wurden plötzlich sehr heiß. Hoffentlich bekam er es nicht mit. Doch sein Grinsen verriet ihr, dass er ihre Verlegenheit durchaus mitbekommen hatte. „Okay. Jetzt hast du was vor“, bestimmte er einfach ohne sein Grinsen zu beenden. Sie hatte das Gefühl, dass sie innerlich kochte. Wieder stammelte sie unvollständige Wörter zusammen, bis Tai sie letztlich erlöste und sagte, was er geplant hatte. „Ich habe am Samstag ein Fußballspiel. Danach gehen wir noch irgendwo essen und vielleicht noch etwas trinken“, klärte er sie auf und Enttäuschung spiegelte sich in ihrem Gesicht wieder. Das hieß natürlich, dass die anderen auch wieder dabei sein würden. Doch Zeit zu zweit hatten sie wohl nur in der Nachhilfe. Romantisch? Nein, sicherlich nicht. Er würde sie wohl in hundert Jahren nicht nach einem Date beten, selbst wenn sie ihm noch so schöne Augen machte. Auch seine Aussage, dass er auf Brünette nicht stand, hing immer noch in ihrem Hinterkopf fest und breitete sich aus. „Wer kommt denn alles mit?“, fragte sie zögerlich und machte nebenbei ihre Tasche zu. Tai überlegte kurz und zählte einige Namen auf, die sie nicht sofort zuordnen konnte. Wahrscheinlich waren es Leute aus seinem Fußballverein. „Sora und Izzy wollten noch mitkommen. Matt hat leider keine Zeit“, erzählte er weiter und zuckte beiläufig mit den Schultern. „Oh okay. Naja, da hast du ja ‘ne Menge Leute, die dich begleiten würden“, stellte sie nüchtern fest und stand auf. Tai tat es ihr gleich und versperrte ihr damit automatisch den Weg. „Aber ich würde mich wirklich freuen, wenn du auch kommen würdest“, stellte er klar und in seinem Blick erkannte Mimi etwas, was sie nicht richtig deuten konnte. Es wirkte ernst, aber gleichzeitig liebevoll. Und es verursachte bei ihr, wie immer weiche Knie. Mimi leckte sich mit der Zungenspitze kurz über ihre trockenen Lippen. „Ich überlegte es mir, okay?“ Tai nickte nur und begleitete sie zur Haustür. Er lehnte sich locker gegen die Wand und beobachtete sie dabei, wie sie in ihre Schuhe schlüpfte. „Okay, dann bis morgen“, verabschiedete sie sich kurz von ihm und drückte ihn kurz an sich. Als sie ihn wieder losließ, grinste er schelmisch und öffnete die Tür. „Wie gesagt, ich würde mich wirklich freuen, wenn du kommen würdest“, wiederholte er nachdrücklich und Mimi lächelte leicht. „Alles klar, ich überleg‘s mir“, sagte sie und schritt nach draußen. „Bis morgen“, rief er ihr noch zu, bevor sie sich auf den Heimweg machte. Kapitel 16: Rekonstruktion des Wesentlichen ------------------------------------------- Sie saß in der Straßenbahn und fuhr Richtung Stadtmitte. Ihre Gedanken kreisten jedoch um die vergangenen Tage, die bei ihr deutliche Spuren hinterließen. Ihre Eltern verhielten sich merkwürdig und sprachen zurzeit sehr wenig miteinander. Die ewigen Diskussionen hatten zwar aufgehört, aber Mimi war sich sicher, dass ihr Vater immer noch nachts auf die Couch auswanderte. Mit Sora hatte sie nicht mehr gesprochen. Sie hatte das Gefühl, dass sie ihr aus dem Weg ging. Wahrscheinlich weil sie wusste, dass ihre ständigen Fragen nicht aufhören würden. Und dann war da auch noch Tai, der sie regelrecht dazu überredet hatte, am Samstag zum Fußballspiel zu kommen. Sie war mittlerweile doch eingeknickt und hatte sich von seinen schokobraunen Augen, in denen sie sich immer verlor, überzeugen lassen. Standhaftigkeit war noch nie ihre Stärke gewesen. Und jetzt saß sie hier. In der Straßenbahn. Auf dem Weg zu dem Treffpunkt, den sie mit Noriko ausgemacht hatte. Mimi war gespannt, mit welchen Informationen, sie sie heute bereichern würde. Sie hoffte inständig, dass sie ihr weiterhelfen würden. Sie hasste es in der Luft zu stehen und Angst vor Veränderungen haben zu müssen. Sie fühlte sich hilflos. So als würde ihr jemand die Luft zum Atmen nehmen. So als würde sie lautstark schreien und keinen einzigen Ton hervorbringen. Es war wie verhext. Noriko musste ihr helfen. Auch wenn sie ein bisschen Angst vor der Wahrheit hatte. Was wäre, wenn sie ihr etwas erzählte, was sie nicht hören wollte? Ein Geheimnis, mit dem sie nicht zurechtkam? Eigentlich hätte ihr das Ganze auch egal sein können, aber seitdem die Spannung innerhalb ihrer Familie so angestiegen war, musste sie es einfach wissen. Vielleicht schaffte sie es ja zwischen ihren Eltern wieder zu vermitteln. Sie waren jahrelang ein glückliches Paar gewesen. Küssten sich bei jeder Gelegenheit und schmusten miteinander. Ja, Mimi würde ihre Beziehung als „perfekt“ und harmonisch beschreiben. Doch es gab etwas, das Mimi nicht wusste. Und alle Stränge liefen bei Ayame zusammen. Sie war der Schlüssel. Mimi musste ihn nur noch ins Schloss stecken. _ Zehn Minuten später kam sie am Treffpunkt an. Menschenmassen liefen durch die Fußgängerzone und steuerten wahllos auf sie zu. Von Noriko…keine Spur. Vielleicht kam sie auch gar nicht. Lockte sie nur in einen Hinterhalt, um ihr später eine knappte SMS zu schreiben, sie verarscht zu haben. Mimi stand missmutig vor dem Einkaufszentrum und verschränkte die Arme vor der Brust. Immer wieder tippte sie mit dem Fuß auf den Boden und starrte verzweifelt in die Menge. Nichts zu sehen. Sie kam wohl nicht. Mimi sah auf die Uhr und stellte nüchtern fest, dass sie noch keine zehn Minuten wartete. Sie war wohl einfach zu ungeduldig, deswegen entschied sie sich dazu, noch ein wenig zu warten. Zum Glück war es angenehm warm heute. Mimi blieb einfach an Ort und Stelle stehen und sah in den hellblauen Himmel, der keine einzige Wolke aufzeigte. Es war klar und die Sonne schien. Ein laues Lüftchen blies und brachte ihre Haare etwas durcheinander. Mimi versuchte ihre Haarsträhnen zu ordnen, als sie plötzlich jemand von der Seite antippte. Erschrocken drehte sie sich zur Seite und erkannte ein bekanntes Gesicht vor sich. „Man, du hast mich erschreckt“, grummelte sie und hielt sich die Hand vor die Brust. „Sorry, ich konnte doch nicht ahnen, dass du so schreckhaft bist“, meinte sie nur und stemmte die Hände in die Hüfte. Mimi musterte sie genau. Ihre Schuluniform war in dem gleichen schlichten Blau gehalten wie ihre. Allerdings hatte sie rote Akzente und eine rote Krawatte bildete den Mittelpunkt des Kleidungstücks. Das Pony ihrer langen braunen Haare hatte sie mit einer roten Spange zurückgesteckt. „Und was machen wir jetzt? Wollen wir uns irgendwo hinsetzen?“, fragte Mimi und sah sie gespannt an. Noriko zuckte nur mit den Achseln und schaute sie teilnahmslos an. „Mir egal, nur das was ich dir erzähle, ist nicht ganz ohne“, bereitete sie sie ohne Umschweife darauf vor. „Okay“, sagte Mimi langsam und zog eine Augenbraue in die Höhe. „Wollen wir vielleicht in das Café da hinten gehen? Da kann man sich draußen hinsetzen.“ „Klar, was auch immer“, antwortete sie und klang vollkommen gleichgültig. Mimi nervte ihr Tonfall ungemein. Sie hatte ihr doch die Handynummer in die Hand gedrückt, warum konnte sie nicht wenigstens ein bisschen mehr Interesse zeigen? Sie setzen sich einander gegenüber und bestellten jeweils eine Cola und einen Orangensaft. Erst als die Kellnerin ihnen die Getränke gebracht hatte, unterbrach Noriko die beißende Stille, die sich über sie gelegt hatte. „So, jetzt sind wir hier. Was willst du wissen?“ Alles. „Naja, was zwischen unseren Müttern vorgefallen ist! Meine verhält sich seit unserer Begegnung richtig seltsam und redet mit meinem Vater kaum noch ein Wort“, erklärte sie verzweifelt und nippte an ihrer Cola. „Da hat sie wohl den Wink mit dem Zaunpfahl verstanden gehabt“, murmelte sie hörbar und fuhr sich mit der Hand über ihr Kinn. Sie wandte den Blick von Mimi und kramte in ihrer Tasche. Heraus holte sie einen grünen Ordner, der viele verschiedene Zettel und Papiere beinhaltete. „W-Was ist das alles?“, fragte sie verwirrt, als Noriko den Ordner fein säuberlich auf den Tisch legte und den Inhalt ausbreitete. „Mit 13 hatte ich Leukämie. Eine seltene Form, aber das spielt wohl keine große Rolle. Ich war auf jeden Fall sehr krank“, begann sie und durchforstete die Dokumente. Anscheinend wusste sie genau, wo sie was finden konnte. „Okay“, brachte Mimi hervor und sah sie skeptisch an. Warum erzählte sie ihr nur sowas? Was hatte das Ganze mit ihr zu tun? Sie bemerkte ihre fragenden Blicke und fuhr unbeirrt fort. „Ich bin damals ins Krankenhaus gekommen und brauchte dringend eine Bluttransfusion. Mein Blutbild war wohl alles andere als gut.“ Sie lachte leise, fing sich aber schnell wieder. „Meine Eltern waren natürlich gleich Feuer und Flamme, Blut zu spenden, um mir das Leben zu retten“, erklärte sie und biss sich auf die Lippe. „Doch leider kam weder meine Mutter, noch mein Vater als Spender in Frage.“ Mimi runzelte die Stirn und verkrampfte ihre Finger ineinander. Ein ungutes Gefühl machte sich in ihr breit. Was wollte sie ihr damit nur sagen? „Warum erzählst du mir sowas?“, wollte Mimi verständnislos wissen. Noriko schüttelte nur mit dem Kopf. „Du raffst es wohl nicht! Mein Vater kann nicht mein Vater sein.“ „Und was hat das mit mir zu tun? Versteh‘ ich wirklich nicht“, meinte sie barsch und verdrehte die Augen. „Du scheinst wohl überhaupt nichts zu wissen“, stellte sie nüchtern fest und schlug den Ordner zu. Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Welche Blutgruppe hast du?“ „Welche Blutgruppe?“, wiederholte sie und schien die Frage nicht zu verstehen. „A, warum?“ „Und welche Blutgruppe hat dein Vater?“ Mimi klappte der Mund leicht auf und sie schüttelte unwirsch den Kopf. „Was spielt das für eine Rolle? Er hat auch A, wie ich“, stellte sie klar und sah ihr Gegenüber dringlich an. Sie wusste es nur, weil sie in Amerika einmal mit ihrem Vater beim Blutspenden war. Doch warum wollte sie ausgerechnet das von ihr wissen? „Meine Eltern haben beide Blutgruppe 0. Ich habe die gleiche Blutgruppe wie du!“, ergänzte sie und hoffte anscheinend, dass es bei Mimi ‚Klick‘ machen würde. Doch sie rutschte nur unruhig auf ihrem Stuhl hin und her, bis sie eine Position gefunden hatte, in der sie sich einigermaßen wohlfühlte. „Ja, was heißt das denn jetzt? Warum hatten unsere Mütter Streit?“, wollte sie wissen. Der Groschen war wohl immer noch nicht gefallen. „Du bist echt schwer von Begriff“, meinte sie herablassend und musterte sie aus dem Augenwinkel heraus. „Meine Mutter hatte eine Affäre und dreimal darfst du raten mit wem.“ Mimis Augen weiteten sich und sie spürte ein deutliches Stechen in der Brustgegend, sodass sie automatisch die Schleife ihres Oberteils etwas löste. Sie bekam nur noch schwer Luft und ihre Atmung verlangsamte sich ungemein. Wusste sie, was sie da behauptete? Welchen Schaden sie damit anrichten könnte? „Was redest du da? Spinnst du?“ Mimi wurde lauter als gewohnt und funkelte ihr Gegenüber böse an. Kein Wunder das ihre Mutter so sauer war. Noriko spielte ein gefährliches Spiel. Und sie war sich den Konsequenzen vollkommen bewusst gewesen. „Ich sagte nur die Wahrheit. Meine Mutter hat es mir erzählt, nachdem mein Vater uns verlassen hatte“, erklärte sie weiter. „Du bist doch krank“, knurrte Mimi und sprang auf. „Du willst bestimmt nur Aufmerksamkeit! Nur weil dich dein Vater verlassen hat, stiftest du in meiner Familie so eine Unruhe?“ Mimi nahm ihre Tasche und kramte ihr Portmonee hervor. „Tut mir leid, auf so ‘ne kranke Scheiße habe ich keinen Bock“, erwiderte sie wütend und legte das Geld nehmen ihre halbleere Cola. „Es ist aber keine kranke Scheiße. Es ist die Wahrheit. Frag‘ doch deine Mutter oder nein, frag‘ am besten gleich deinen…“, sie stoppte kurz und sah sie herausfordern an. „Unseren Vater.“ Mimi gab einen undefinierbaren Laut von sich und drehte den Kopf zu Seite. „Du kannst mich mal“, zischte sie spitz ohne sie nochmal anzusehen. Danach lief sie zurück zur Straßenbahn. Kapitel 17: Ein seltsames Paar ------------------------------ Der Schiedsrichter pfiff das Spiel an und das wilde Getümmel begann. Tai passte den Ball zu Davis, der Richtung Tor stürmte. Mimi saß auf der Tribüne mit den anderen und verfolgte nur halbherzig das Spiel. Eigentlich war sie nur hier, weil Tai sie regelrecht dazu überredet hatte. Neben ihr saß Sora, die sich die Woche ihr gegenüber wieder relativ normal verhielt. Jedenfalls schien es so. Mimi musterte sie von der Seite und sah mit welcher Begeisterung sie das Spiel verfolgte. Früher hatte sie mit Tai zusammen in einer Mannschaft gespielt, doch seit sie im Tennisverein war, war Fußball für sie nebensächlich geworden. Ihr Blick wanderte und fixierte Izzy, der neben Sora saß und sich sicher ebenfalls fragte, was er hier sollte. Gelangweilt hatte er den Kopf auf seinen Handflächen abgestützt und stierte Richtung Spielfeld. Auch Mimi wirkte äußerst lustlos, da sie auch nach mehrfachem erklären von Sora, die Spielregeln immer noch nicht verstand. Abseits. Fünfmeterraum. Strafraum. Wer hatte nur so viele Begriffe für so ein dämliches Spiel erfunden? Da rannten zweiundzwanzig Kerle einem dämlichen Ball hinterher und versuchten sich ihn gegenseitig wieder abzunehmen. Wo war da nur der Sinn? „Man, das war doch Abseits“, fluchte eine Person neben ihr und deutete auf das Geschehen. Mimi schüttelte nur den Kopf. Wie konnte man sich darüber nur aufregen? Sie blickte wieder zu Izzy, der vor sich hindöste, aber von Yoleis greller Stimme jedes Mal aufs Neue aus seiner Erholungsphase gerissen wurde. Mimi beobachtete sie genau. Sie war mit Ken hier, der seinen besten Freund heute unbedingt beim Spiel unterstützten wollte. Ihr entging jedoch nicht, dass beide unauffällige Blicke untereinander tauschten und sich verliebt anlächelten. Von Kari wusste sie, dass beide schon öfters miteinander ausgegangen waren und wahrscheinlich nicht mehr viel fehlte, bis sie sich offiziell als Paar outeten. Sie schnaubte kurz und blickte zu Tai, der sich auffällig durch die Haare fuhr und einige Teamkammeraden dirigierte. Er würde wohl in hundert Jahren nicht merken, dass sie ihn mochte. Mehr als sie jemals zugeben würde. Vielleicht war sie in diesem Punkt einfach zu stur. Sie wollte sich nicht die Blöße geben, da sie Angst hatte, dass er sie zurückweisen könnte. Doch würde sie nichts machen, würde erst recht gar nichts passieren. Sie würde in dieser nervigen Situation ewig feststecken, wenn sie nicht endlich mal mehr Initiative zeigen würde. Doch was sollte sie nur tun? Ihm um den Hals fallen? Das war sicher keine gute Idee, aber etwas anderes fiel ihr beim besten Willen nicht ein. Sie hatte ihm einen Kuchen gebacken, für den sie wirklich mehrere Stunden gebraucht hatte, doch gemerkt hatte er rein gar nichts. Das einfachste war wirklich, ihm ihre Gefühle zu beichten, auch wenn sie Gefahr lief, zurückgewiesen zu werden. Plötzlich bemerkte sie, wie ihr Handy in ihrer Hosentasche vibrierte. Sie holte des hervor und stöhnte leise, als sie erkannte, wer ihr eine Nachricht geschickt hatte. Ich würde gerne nochmal mit dir reden. In Ruhe. – Noriko Mimi schüttelte nur den Kopf und löschte die Nachricht sofort wieder. Danach verstaute sie ihr Handy wieder in ihrer Hosentasche und blickte mürrisch zum Fußballfeld. Sie presste die Lippen aufeinander und fragte sich, wann sie endlich locker lassen würde. Ihr Gespräch war knapp drei Tage her und so sehr sie es auch versuchte zu verdrängen, klappte es einfach nicht. Besonders weil sie ihr seither unzählige SMS geschrieben hatte. Wahrscheinlich war sie doch eine irre Stalkerin, die einfach neidisch auf sie und ihre Familie war. Doch wer war so krank und dachte sich so eine Geschichte aus? Mimi konnte sich keinen Reim darauf bilden. Deswegen hatte sie ihr auch nicht zurückgeschrieben. Sie ignorierte ihre Nachrichten, drückte meist sofort auf löschen und versuchte ihre störenden Gedanken zu verdrängen. Schon öfter hatte sie daran gedacht mit ihren Eltern darüber zu sprechen, doch die Stimmung zu Hause war nach wie vor sehr angespannt. Mimi wollte nicht noch Öl ins Feuer kippen und wohlmöglich eine Explosion verursachen. Sie redete sich einfach ein, dass es nie im Leben stimmen konnte, auch wenn sie sich nicht sicher war. Genau genommen wollte sie es nicht glauben. Ihr Vater. Ein Fremdgeher, der zusätzlich noch eine uneheliche Tochter hatte? Das passte nicht zusammen. Sie biss sich auf die Unterlippe und realisierte, dass sie eigentlich ganz froh war, etwas Ablenkung zu haben. Später wollten sie noch zusammen Pizza essen und ein paar Cocktails trinken gehen. Doch Mimi hatte im Moment das Bedürfnis härtere Sachen zu konsumieren. Sie wollte sich einfach nur so richtig die Kante geben. _ Auch wenn sie diesmal nicht schlecht gespielt hatten, hatten sie knapp verloren. Doch die Laune war gut und ausgelassen. Einige aus der Fußballmannschaft waren mit ihnen noch in die Pizzeria gegangen und hatten sich auch angeschlossen, danach die Cocktailbar, die Tai herausgesucht hatte, ebenfalls zu besuchen. Mimi kannte noch nicht mal all ihre Namen, doch das war ihr egal. Sie waren bereits seit einer Stunde in der Cocktailbar und Mimi hatte für ihre Verhältnisse definitiv zu viel getrunken. Sie wusste nur noch, dass es mit einem Wodka Energie angefangen hatte. Doch nach und nach hatte sie den Überblick verloren, besonders weil die Jungs aus Tais Fußballverein, ihr einen Drink nach dem anderen ausgaben. „Willst du nicht mal ein bisschen langsam machen?“, fragte Sora und sah sie besorgniserregend an. Mimi, die sich bis eben noch mit wer weiß wem unterhalten hatte, seufzte laut und drehte sich zu ihrer Freundin. „Ach komm schon Sora, es ist Wochenende!“, nörgelte sie und kicherte auffällig. „Sag mal, ist sie etwa voll?“, hörte sie Izzy fragen, der nach seinem Alkoholabsturz lieber langsam machen wollte. „Scheint so“, kam es von Sora und Mimi bekam aus dem Augenwinkel heraus mit, wie sie demonstrativ den Kopf über ihr Verhalten schüttelte. Mimi verdrehte nur die Augen und widmete sich wieder ihrem Getränk, das fast leer war. Sora war manchmal wirklich eine Spaßbremse. Doch Mimi dachte nicht daran aufzuhören, jetzt kam sie erst recht in Fahrt. Ihre Stimmung hob sich allmählich und sie hatte wirklich Spaß, auch wenn sie eigentlich kaum mit ihren Freunden etwas zu tun hatte. Sora motzte und zog die Stimmung nach unten, während sich Izzy mit Ken, Yolei und Davis locker unterhielt. Tai war vor einer Weile an die Bar verschwunden, während sich Mimi angeregt mit Toya, einem aus der Fußballmannschaft unterhielt. Er war sogar recht süß, wenn sie ehrlich war. Doch er war eben nicht Tai. „Und du warst wirklich in Amerika? Wie ist es da so?“, fragte er interessiert und musterte sie gespannt. „Aufregend, aber ich habe Japan schon sehr vermisst“, gab sie zu und trank den letzten Schluck ihres Getränks aus. „Besonders meine Freunde.“ Toya nickte nur und wanderte mit seinem Blick über ihren Körper. Auch wenn sie schon bereits sehr betrunken war, bekam sie durchaus seine lüsternen Blicke mit, die an ihrem Hintern hängen blieben und zu ihrer Brust hochwanderten. Er rückte näher an sie heran und Mimi spürte seinen warmen Atem auf ihrer Haut. „Hier ist es ziemlich laut, wollen wir vielleicht irgendwo hingehen, wo es leiser ist?“ Ein Grinsen zierte seine Lippen und Mimi merkte plötzlich seine Hand auf ihrem Oberschenkel. Ihr wurde augenblicklich heiß. Doch so verzweifelt war sie wirklich nicht, auch wenn der Alkohol ihr Gehirn ganz schön vernebelte. „Ehm“, stammelte sie und sah ihm kurz in die Augen. Danach fixierte sie ihr Glas und nahm es rasch in ihre Hand. „Ich denke, ich werde mir noch etwas zu trinken holen“, meinte sie schnell und sprang auf. Toya sah ihr mit einem verwirrten Blick hinterher, doch Mimi beachtete ihn nicht weiter. Zielstrebig steuerte sie auf die Bar zu, die vor Menschen nur so überquoll. Mimi versuchte sich nach vorne zu drücken, doch sie kam nicht durch. Frustriert blieb sie am Rand stehen und tippte ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden, der leicht klebte. Sie schwang ihr langes Haar im Takt der Musik, die spielte und bemerkte gar nicht, dass sich auf einmal jemand neben sie gesellte. „Das kannst du vergessen. Ich versuche schon seit ‘ner viertel Stunde etwas zu trinken zu bekommen“, murrte eine sehr bekannte Stimme und Mimi fuhr kurz zusammen. „Man Tai, musst du mich so erschrecken“, maulte sie und sah ihn empört an. „Sorry, war nicht meine Absicht“. Er grinste. Mimi lächelte ebenfalls und starrte wieder zur Bar und den unzähligen Köpfen, die sie leicht verschwommen wahrnahm. Einen kurzen Moment standen sie nebeneinander und schwiegen, bis Tai erneut das Wort ergriff. „Hey, da hinten lichtet sich was“, sagte er und deutete mit ihm Kinn in die Richtung. Er griff nach ihrem Handgelenk und zog sie einfach mit sich. „Vielleicht bemerken sie uns ja, wenn du dabei bist. Ein hübsches Mädchen ignorieren sie sicher nicht“, erwiderte er lachend und Mimi wurde leicht rot um die Nase. Hübsches Mädchen? Meinte er sie damit? Vielleicht sollte sie wirklich aufhören, seine Worte so ernst zu nehmen. Er mochte sie, aber galt sein Lächeln auch wirklich ihr? Er hatte sie an die Hand genommen, doch nicht um zu signalisieren, dass sie zusammengehörten. Es war alles rein platonisch. Sie waren nur gute Freunde, auch wenn sie sich mehr erhoffte. Jetzt brauchte sie wirklich dringend etwas zu trinken. _ Sie saß ihm gegenüber. Die Musik dröhnte dumpf und in ihrem Kopf bildete sich dichter Nebel. Vor kurzem hatten sie einen Platz direkt an der Bar ergattert. Tai hatte sie eingeladen und sie merkte bereits, dass sie mehr als nur beschwipst war. Sie kicherte unaufhörlich und suchte unweigerlich Körperkontakt zu ihm, indem sie ganz unabsichtlich seinen Arm berührte oder sich nah zu ihm hin beugte. So nah waren sie sich das letzte Mal an seinem Geburtstag gewesen. Das erste Mal seit langem schenkte er ihr seine volle Aufmerksamkeit, obwohl Sora nur ein paar Meter hinter ihnen saß. Mimi drehte sich kurz zu ihr hin und bemerkte, wie ihre beste Freundin beide stirnrunzelnd musterte, aber von Izzy wieder relativ schnell in ein Gespräch verwickelt wurde. Tais Fußballkollegen schienen bereits gegangen zu sein, da Mimi keinen mehr von ihnen an ihrem Tisch sitzen sah. Auch Yolei, Ken und Davis waren verschwunden. Doch das interessierte Mimi nicht wirklich. Sie drehte sich wieder herum und sah zu Tai, der frech grinsend bereits den nächsten Shot bestellt hatte. „Was ist es diesmal?“, fragte sie leicht lallend und sah zu dem kleinen Glas, das eine rote Flüssigkeit beinhaltete. „Keine Ahnung, der Barkeeper meinte, es sei eine Überraschung“, antwortete er nur und hob das Glas. Mimi lächelte nur verhalten und hob es ebenfalls. „Auf uns“, sagte Taichi und stieß mit ihr an. Danach schluckte sie das Teufelszeug einfach hinunter. Es brannte leicht in ihrer Kehle und schmeckte etwas nach Erdbeeren. Sie verzog das Gesicht und stellte das Shotglas wieder auf die Theke. „Man, das war echt übel“, jammerte sie und merkte immer noch den beißenden Geschmack auf ihrer Zunge. „Ach komm, stell‘ dich nicht so an Prinzessin“, erwiderte Tai und kam ihr wieder näher. Er sah kurz zu den anderen, grinste und fixierte sie wieder mit seinem Blick. „Du siehst heute wirklich toll aus“, meinte er plötzlich. Mimi sah automatisch an sich herunter und lief etwas rot um die Nase an. Sie trug eine schwarze enge Jeans und ein geblümtes Top, dass etwas Ausschnitt zeigte. Dazu trug sie eine filigrane Silberkette mit einem Stern als Anhänger. Weniger war manchmal wirklich mehr. „D-Danke“, stotterte sie und biss sich verlegen auf die Unterlippe. Er hatte ihr ein Kompliment gemacht. Ihr! Sie lächelte leicht und konnte nicht mehr verbergen, dass sie seine Worte sehr freuten. Auch er schien ihre Reaktion richtig interpretiert zu haben, da er noch näher an sie herangerutscht war und seine Hand ihren Oberschenkel sanft entlang fuhr. Sein Grinsen wurde breiter und Mimi spürte auf einmal sein Atmen an ihrem linken Ohr. Ihr Herz beschleunigte das Tempo und sie bekam eine leichte Gänsehaut. „Ich mag dich wirklich gern“, hauchte er ihr zu und ihre Nackenhärchen stellten sich auf. Sie sah ihm kurz in die Augen, wandte jedoch ihr Gesicht von ihm, da sie merkte wie heiß ihr auf einmal wurde. Ihre Gefühle spielten verrückt. Sie hatten den unglaublichen Drang ihn küssen zu wollen, besonders wenn sie weiter in seine schokobraunen Augen schaute, in denen sie sich allmählich immer mehr verlor. Auf einmal spürte sie seine Hand an ihrem Gesicht, die sie dazu veranlasste ihn wieder anzusehen. Für einen Moment sahen sich beide wortlos an. Ihr stockte der Atem und sie hatte Angst vor Anspannung regelrecht zu ersticken. Ihre Lippen begannen zu beben und ihr Herz wollte ihr am liebsten aus der Brust springen. Noch immer merkte sie seine andere Hand an ihrem Oberschenkel. Wohlige Schauer breiteten sich aus und sie spürte ein deutliches Kribbeln, dass sie wahnsinnig werden ließ. Dann legte er seine Lippen auf ihre und Mimi drohte den Verstand zu verlieren. Was machte er nur? Er küsste sie. Einfach so. Etwas, was sie sich nie getraut hätte. Glückgefühle machten sich in ihr breit und sie schlang ihre Arme um seinen Nacken. Er intensivierte daraufhin den Kuss und drückte sie noch näher an sich. Sie spürte wie sich seine Zunge vortastete und über ihre Lippen leckte. Sie öffnete den Mund und ließ ihn gewähren. Das Kribbeln wurde immer schlimmer, besonders nachdem ihre Zungen aufeinander trafen und wild miteinander kämpften. Sie blinzelte ein wenig, als sie erkannte, dass er seine Augen immer noch geöffnet hatte. Er huschte schnell hin und her, als er etwas von ihr abließ und sie bedachter küsste. Sanft berührten sich ihre Lippen, als er sich auch voll und ganz ihren Küssen hingab und die Augen schloss. Er legte seine Hand in ihren Nacken und zog sie noch dichter heran, während er mit der anderen Hand hoch zu ihrer Taille wanderte. Sie atmete immer schwerfälliger und keuchte kurz zwischen den einzelnen Küssen, die immer intensiver zu werden schienen. Damit hatte sie wirklich nicht gerechnet. Vielleicht wollte das Universum irgendetwas bei ihr gut machen und ihr zeigen, dass Liebe wohl auch in einer stickigen, klebrigen Bar entstehen konnte. Sie fühlte sich wie auf Wolken. Für sie hätte dieser Moment ruhig ewig dauern können. Doch plötzlich spürte sie wie jemand sie ruppig zurückriss und den Kuss mit ihm einfach beendete. Es war Sora, die Tai böse anfunkelte. „Was soll das denn?“, fragte sie und hielt Mimis Arm immer noch festumklammert. „Du nutzt doch jetzt nicht im Ernst Mimis betrunkenen Zustand für deine Zwecke aus! Ich fass‘ es nicht.“ „Ich weiß gar nicht was du meinst“, meinte er unschuldig und zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Du weißt genau was ich meine“, unterstellte Sora ihm und versuchte ihn mit ihrem Blick praktisch zu töten. Mimi verstand unterdessen nur Bahnhof und legte den Kopf schief. Wütend presste sie die Lippen aufeinander und verfluchte Sora innerlich dafür, sie gestört zu haben. „Wir gehen jetzt nach Hause“, bestimmte sie und zog Mimi vom Barhocker. Sie strauchelte leicht und schlug mit ihrem Arm wild umher, bis sie wieder zum Stehen kam. „Aber ich will noch nicht gehen“, nuschelte sie und riss sich los. „Doch wir gehen jetzt! Mit ihm lasse ich dich keine fünf Minuten mehr alleine!“, grummelte sie wütend und sah Tai mit einem vielsagenden Blick an. Tai schüttelte nur den Kopf und ein breites Grinsen zeichnete sich auf seinen Lippen ab. „Ich weiß gar nicht was du hast? Wir haben doch nur geknutscht“, stellte er fest und sah zu Mimi, die das „nur“ mehr verletzte, als sie zugeben wollte. Nur geknutscht? Hatte er nicht zuvor gesagt, dass er sie mochte? „Du bist wirklich ein Idiot! Warum knutschst du mit ihr und siehst mich dabei an?“, fragte sie patzig und Mimis Augen weiteten sich. Er hatte Sora angesehen, als er sie geküsst hatte? Aber er hatte doch auch seine Augen geschlossen, oder hatte sie es sich nur eingebildet? „Ach man Sora, ich habe wirklich keine Lust darüber zu diskutieren! Du gehst mir doch aus dem Weg und ich glaube nicht, dass du das Recht dazu hast, mir zu sagen, wen ich küssen darf und wen nicht“, unterstellte er ihr und wandte sich von ihr ab. „Tai…“, murrte sie bedrohlich, doch er reagierte nicht. Mimi fühlte sich auf einmal zwischen den Stühlen gefangen und wollte am liebsten nur noch verschwinden. In was war sie nun schon wieder reingeraten? Auf einmal sprang Tai von dem Hocker auf und trat an Sora heran. „Vielleicht solltest du dir lieber mal Gedanken machen, warum dich das hier so gestört hat“, raunte er und ging an ihr vorbei, während er Mimi einen seltsamen Blick schenkte, den sie nicht deuten konnte. Sora klappte der Mund auf, als sie wieder nach Mimis Arm griff und sie festhielt. Mimi spürte, wie sich ihre Fingernägel schmerzhaft in ihre Haut bohrten. Doch Mimi hatte ihre ganze Aufmerksamkeit auf Tai gerichtet, der in Richtung Toiletten verschwand. Ein letztes Mal drehte er sich zu ihnen um, sodass sich ihre Blicke unweigerlich trafen, als er den Kopf schüttelnd senkte und die Tür der Herrentoilette aufdrückte. „Wir gehen jetzt!“, beschloss Sora ohne weiteres. Mimi nickte nur beiläufig und folgte ihr verwirrt zum Ausgang. _ Schweigsam gingen die beiden Mädchen nebeneinander her. Seit sie die Bar verlassen hatten, redeten beide kein Wort miteinander. Mimi verfluchte sich insgeheim dafür, heute bei Sora zu übernachten. Doch eigentlich machte sie das immer, wenn sie am Wochenende weggingen. Sie musste dringend mit ihr reden, das Schweigen machte sie wahnsinnig. Urplötzlich hatte sie auch das Gefühl wieder recht nüchtern zu sein. Dennoch schlug ihr die Sache mit Tai gewaltig auf den Magen. Er küsste sie und schaute dabei Sora an? Wer machte nur sowas? Und wie sieht es vermutet hatte, schien etwas zwischen den beiden vorgefallen zu sein. Sie wusste nur noch nicht was. Mimi schluckte ihre Bedenken und Ängste alle auf einmal hinunter und kräuselte die Lippen. Zuerst hatte sie Angst, dass sie keinen Ton herausbekommen würde, doch dann hörte sie ihre eigene Stimme und erschrak sich leicht. „Was ist zwischen dir und Tai vorgefallen?“, platzte aus ihr hervor. Eigentlich wollte sie die ganze Sache anders anfangen, doch irgendwie war sie eine Person, die gleich mit der Tür ins Haus fiel. Sora schnaubte nur und vergrub ihre Hände tief in ihrer Jackentasche, bevor sie antwortete. „Zu viel“, murmelte sie und wirkte traurig. Mimi berührte leicht ihren Arm und blieb stehen. „Was ist passiert?“ Sie merkte wie sich ihr Herz schmerzhaft zusammen zog, denn Soras Blick verriet ihr mehr, als sie eigentlich wissen wollte. Hatte sie sich etwa in ihn verliebt? Doch was war mit Matt? Sie waren doch schon so gut wie ein Paar. „Er hat mich geküsst“, hauchte so kaum hörbar, aber laut genug, dass Mimi alles verstehen konnte. In ihr zerbrach in diesem Moment etwas. Hatte er sie etwa nur ausgenutzt, um Sora eifersüchtig zu machen? „Wann?“, fragte sie mit zitternder Stimme und rang mit ihrer Fassung. Sie durfte auf gar keinem Fall weinen, ansonsten würde Sora sie sofort durchschauen. Sie biss die Zähne fest aufeinander und lauschte ihrer Geschichte. „Als wir Matts Geburtstag gefeiert haben, hat er mich doch später nach Hause gebracht und als wir vor meiner Haustür standen, ist es passiert“, sie schnaubte und fuhr sich durch die roten Haare. „Er hat mich einfach geküsst und ihn habe ihn nicht aufgehalten.“ Schmerzlich verzog sie ihr Gesicht und wiederholte immer wieder, dass sie ein schlechter Mensch sei und sowas Matt doch nicht antun könnte. Doch Mimi hörte all dem nur halbherzig zu. Sie war enttäuscht und verletzt. Er hatte sie nicht geküsst, weil er sie mochte. Es war alles reine Berechnung gewesen und sie war natürlich darauf hereingefallen. Nur weil sie in ihn verliebt war. Doch jetzt wusste sie, dass er jemand anderen wollte. Und dieser jemand war tatsächlich ihre beste Freundin. All ihre schlimmsten Befürchtungen hatten sich bestätigt. Sie war in jemanden verliebt, der sie nicht haben wollte. Ihre Oberlippe begann zu zittern und Tränen stiegen ihr in die Augen. So hatte sie sich diesen Abend sicher nicht vorgestellt gehabt. Kapitel 18: Nüchterne Tatsachen ------------------------------- Schwerfällig drehte sie sich herum, als sie plötzlich einen pochenden Schmerz vernahm. Sie stöhnte leise und blieb auf dem Rücken liegen. Mimi blinzelte kurz und öffnete langsam die Augen. Sie lag auf dem Boden und musste kurz nachdenken, wo sie sich überhaupt befand. Sie wandte ihren Blick nach rechts und bemerkte Sora, die immer noch seelenruhig in ihrem Bett zu schlafen schien. Sie schenkte ihr ein müdes Lächeln und blieb immer noch auf dem Rücken liegen. Viel hatten sie gestern nicht mehr miteinander gesprochen. Mimi hatte viel mehr gehofft, dass alles ein bescheuerter Alptraum war und das wenn sie aufwachen würde, sie in ihrem Bett lag und von allem nichts wusste. Doch nun hatte sich die komplette Sachlage geändert. Tai hatte Sora geküsst. Ihre schlimmste Befürchtung hatte sich bewahrheitet und auch Sora schien das Ganze mehr, als nur verwirrt zu haben, auch wenn die beiden Mädchen noch nicht groß darüber gesprochen hatten. Und dann war noch dieser Kuss, der ihm rein gar nichts bedeutet hatte und ihr Herz fast zum Stillstand brachte. Noch nie in ihrem Leben hatte so etwas Intensives, Lebendiges gefühlt wie in diesem Moment. Es war magisch, aber es war auch ein Trugschluss. Sie wusste nun, dass er nicht das gleiche empfand. Er hatte sie ausgenutzt, um Sora eifersüchtig zu machen, was ihm, nach ihrer fragwürdigen Reaktion, wohl auch gelungen war. Die ganze Schwärmerei für Matt, war anscheinend nicht so ernst gewesen. Ansonsten hätte doch ein dämlicher Kuss nicht plötzlich alles ändern können? Mimi biss sich schmerzvoll auf die Unterlippe und kämpfte mit ihren Tränen. Als sie nach Hause gekommen waren, hatte Mimi einen Kloß im Hals, der sich so dick wie einer von Soras Tennisbällen anfühlte. Am liebsten wollte sie schreien und sich weinend in eine Ecke verziehen. Sie fühlte sich nicht nur ausgenutzt. Bevor er sie geküsst hatte, sagte er doch noch zu ihr, dass er sie mochte. Doch Worte waren nur Worte. Er hatte sie nicht ernst gemeint. Eine einzelne Träne bannte sich ihren Weg hinunter. Schnell wusch sie sich mit dem Handrücken über ihre Wange und versuchte sich zu beruhigen. Vor Sora wollte sie definitiv nicht weinen, da sie sicher fragen würde, was mit ihr los war. Niemand wusste von ihren geheimen Gefühlen zu Tai und jetzt hatte sie auch keinen Grund mehr zu ihnen zu stehen. Sie musste sie einfach vergessen. Nach vorne sehen. Akzeptieren, dass sie nicht Sora war. Wieder liefen ihr einige Tränen die Wangen hinunter und sie schluchzte leise. Fast schon wiederwillig biss sie ihre Zähne zusammen und ein erstickender Ton kam über ihre Lippen. Sie fuhr sich über ihre Augenpartie und beschloss, einfach später weiter zu weinen. Sora sollte davon lieber nichts mitbekommen. _ Nach einem kargen Frühstück räumten beide das Geschirr in die Spüle. Sora war selbst erst vor einer halben Stunde aufgewacht und sah dementsprechend verschlafen aus. Mimi hingegen hatte es tatsächlich geschafft sich zusammenzureißen und beschloss auch so schnell wie möglich von hier zu verschwinden. Eigentlich war sie gerne bei Sora. Am Wochenende arbeitete ihre Mutter meist und sie nutzten die Zeit für Mädelstage, indem sie wirklich über Gott und die Welt quatschten. Doch heute wollte einfach kein Gespräch zu Stande kommen. Mimi war die Situation mehr als unangenehm und auch Sora wirkte auf sie sehr geistesabwesend und unruhig. Natürlich wollte sie auch wissen, wie es in ihrem Inneren vorging, doch im Moment wollte sie einfach nur nach Hause, sich unter der Bettdecke verkriechen und weinen. Sie schnaubte leise und ärgerte sich ein wenig über ihre ach so tollen Tagesziele, die sie sich selbst gesteckt hatte. Es war wirklich armselig, sich wegen einem Typen so fertig zu machen. Genau genommen sollte sie keine Gedanken mehr an ihn verschwenden, doch er vernebelte ihr den Kopf, genauso wie es der Alkohol gestern Abend getan hatte. Ihr wurde immer noch schlecht, wenn sie daran zurückdachte. Es wurde wirklich Zeit, das Weite zu suchen. Doch auf einmal vernahm sie ein leises Wimmern neben sich. Sora hielt sich die Hand vor ihr Gesicht, doch Mimi konnte genau erkennen, dass ihr einige Tränen die Wangen hinunterliefen. Ihre Augen weiteten sich, sie sah unruhig hin und her und wusste nicht was sie machten sollte. „Sora?“, sprach Mimi sie behutsam an und berührte leicht ihre Schulter. Sora schrak kurz zusammen und sah verheult zu Mimi, die versuchte ihr ein aufmunterndes Lächeln zu schenken. Doch wahrscheinlich sah sie nicht weniger gequält aus als sie. Sora stützte sich an der Theke ab und wischte sich mit ihrem Arm die aufkommenden Tränen weg. „Entschuldige, ich…“, begann sie zögerlich. „Ich bin einfach überfordert.“ Sie ging zum Tisch und setzte sich. „Überfordert?“, wiederholte Mimi mit angezogener Augenbraue. Langsam ging sie auf den Küchentisch zu und sah wie sich Sora auffällig durch die roten Haare fuhr. „Ich bin ein schlechter Mensch“, murmelte sie und brach erneut in Tränen aus. Mimi ließ sich ihr gegenüber nieder und blickte sie hilflos an. Was sollte sie nur sagen? „Ach Sora, d-du kannst doch nichts dafür. Tai hätte dich nicht einfach so küssen dürfen“, erwiderte sie und merkte einen stechenden Schmerz in der Brustgegend. Jetzt musste sie wohl doch darüber reden, auch wenn es ihr das Herz brach. „Ich habe ihn nicht aufgehalten“, gestand Sora sich ein und schaute dringlich zu Mimi. „Ich…ich…weiß auch nicht was ich noch denken, geschweige denn fühlen soll.“ Mimi legte den Kopf schief und sah sie mitleidig an. Sollte sie ihr die Wahrheit sagen? Ihr sagen, dass sie wohl genauso litt wie sie? Wenn nicht sogar mehr. Schließlich war Sora doch eigentlich in Matt verliebt. Doch Mimi konnte natürlich verstehen, dass sie Angst hatte, Tai als ihren besten Freund zu verlieren. „Vielleicht redest du nochmal mit ihm, schließlich sind Matt und du…“, doch weiter kam sie nicht, da Sora ihr schluchzend ins Wort fiel. „Ich weiß gar nicht, was wir überhaupt sind. Es ist alles so kompliziert und jetzt ist es sogar noch komplizierter“, stöhnte sie und raufte sich die Haare. „Mimi, ich habe den Kuss erwidert! Was ist nur los mit mir?“ Entgeistert starrte Mimi sie nieder. Was hatte sie da gerade gesagt? „D-Du hast den Kuss erwidert?“, wiederholte sie und klang verzweifelter als sie eigentlich wollte, doch Sora schien in ihrem Selbstmitleid rein gar nichts mitzubekommen. „Ja, ich weiß auch nicht warum. Es fühlte sich in diesem Moment so richtig an.“ „Aber du und Matt…“, begann sie verzweifelt und gestikulierte zusätzlich mit ihren Händen. „Ich weiß, aber…“, sie stoppte kurz und senkte den Kopf. „Vielleicht ist das ja ein Zeichen und außerdem habe ich dir noch nicht alles erzählt.“ Reuevoll sah die Rothaarige ihre Freundin an, die verwirrt drein blickte. „Und was?“, fragte sie leicht schnippisch und runzelte die Stirn. Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was Sora ihr noch zu sagen hatte. Ihre Gedanken überschlugen sich auf einmal und schienen sich mit ihrem Kater anlegen zu wollen. Ein dumpfes Gefühl machte sich in ihrer Magengegend breit. Hatte sie Tai etwa mehr als nur geküsst? Sie schluckte bitter und presste die Lippen fest aufeinander. Nein, das konnte sie sich bei Sora nicht vorstellen. Gespannt sah sie ihr Gegenüber an und wartete darauf, dass sie zu erzählen begann. Sora holte tief Luft und Mimi hatte das Gefühl augenblicklich vor Anspannung zu explodieren. Warum ließ sie sie nur so lange zappeln? Konnte sie nicht einfach klipp und klar sagen, was los war? Doch dann platzte aus ihr eine Bombe hervor, mit der sie nicht gerechnet hatte. _ „Matt und ich waren schon mal zusammen“, eröffnete sie und verkrampfte ihre Finger ineinander. Mimi klappte die Kinnlade nach unten und sie gab einen undefinierbaren Laut von sich. „Wie bitte? Wann?“ Ihre Augen waren geweitet und starrten eine verunsicherte Sora förmlich nieder. Sie druckste herum und zog an ihren Fingern, sodass sie leise knackten. Mimi hasste dieses Geräusch. „Wir waren damals erst vierzehn. Er war mit seiner Band noch nicht so bekannt und ich war damals ziemlich in ihn verknallt gewesen“, erzählte sie weiter und lächelte dabei. „Es war an Weihnachten. Ich habe ihm extra ein Geschenk vorbeigebracht, aber habe mich nicht getraut reinzugehen. Bis ich Tai getroffen habe.“ Ihr Lächeln verschwand und wich einem traurigen Blick. Mimis Verwirrung schien jedoch kontinuierlich weiter zu waschen. Was hatte Tai jetzt auf einmal damit zu tun? „E-Er hat mir Mut gemacht und mich regelrecht zu ihm in den Probenraum reingeschubst“, Soras Lippen begannen zu zittern und Mimi bekam mit, wie sie sich kurz über ihr Gesicht fuhr. „Und dann?“, fragte sie stirnrunzelnd und verschärfte ihren Blick. „Matt und ich sind zusammen gekommen.“ „Aber, dann verstehe ich immer noch nicht warum Tai dich geküsst hat. Er hat euch ja damals regelrecht miteinander verkuppelt“, sagte sie verzweifelt und fuhr sich mit der Hand über ihren Nackenbereich, der tierisch schmerzte. Verrenkt schien sie sich auch noch zu haben. Schöner Mist, dachte sie, konzentrierte sich aber wieder schnell auf Sora, die wie ein Häufchen Elend auf ihrem Stuhl hinuntergerutscht war. „Ich glaube, er hat mich damals einfach gehen lassen. Er hat meine Gefühle über seine gestellt. Aber gebracht hat es eigentlich nichts.“ „Wie meinst du das? Wie lange waren Matt und du denn zusammen?“, wollte sie wissen und beugte sich neugierig nach vorne. „Circa einen Monat. Er hat damals mit mir Schluss gemacht, weil er sich noch nicht bereit für eine Beziehung gefühlt hat“, antwortete sie mit schmerzverzehrtem Gesicht, so als würde sie die gleiche Situation wieder durchleben. „Nicht dein Ernst? Und warum bist du jetzt wieder auf ihn reingefallen? Er war doch voll das Flittchen!“ „Ich weiß es nicht. I-Ich kam wohl nie so richtig über ihn hinweg. E-Er war meine erste Liebe und die vergisst man nicht so schnell“, erwiderte sie schwach und einige Tränen liefen ihr über die Wangen. Erste Liebe? Hmpf. Mimi wollte ihre erste „Liebe“ am liebsten vergessen und ihn sonst wohin wünschen. Doch das behielt sie lieber für sich, da Sora bereits unaufhörlich weinte und plötzlich das Thema auf Tai lenkte. „Tai war in dieser Zeit wirklich sehr für mich da. Er hatte sogar Matt die Meinung gegeigt und ich durfte mich an seiner Schulter ausheulen, obwohl ich genau von seinen Gefühlen wusste. Ich bin so ein schlechter Mensch“, wiederholte sie sich und stemmte die Ellenbogen auf den Tisch. Sie fuhr sich mit beiden Handflächen über ihre Augen, weinte jedoch weiter. Mimi blieb stumm. Sie wusste nicht mehr, was sie sagen sollte. Tai schien ja schon eine halbe Ewigkeit in Sora verliebt gewesen zu sein. Und sie dachte wirklich, dass sie bei ihm eine Chance haben könnte. Ihre Hoffnungen wurden auf einen Schlag zerschmettert. Natürlich hatten sie im letzten Jahr auch einige gemeinsame Momente gehabt, doch diese waren gespickt von Streitereien und Beleidigungen, die Mimi einfach unter dem Begriff Neckereien abgestempelt hatte. Vielleicht hatte sie sich deswegen so viele Hoffnungen gemacht. Man sagte doch immer: „Was sich liebt, das neckt sich.“ Doch hier war es nicht der Fall. Zwar war sie in ihn verliebt, doch er hatte nur Augen für Sora, die in Matt verliebt war, aber jetzt völlig verunsichert wurde. Mimi kam sich vor, wie in einem alten Shakespeare Drama, indem sie sich einfach nicht befinden wollte. Doch das Leben ließ einem wohl keine Wahl. Man konnte sich nicht aussuchen, in wen man sich verliebte. Man konnte nur versuchen, über diesen tiefsitzenden Schmerz hinwegzukommen. _ Nachdenklich machte sie sich auf den Nachhauseweg. Sora war immer noch außer sich, doch Mimi war nicht in der Lage sie zu beruhigen. Sie selbst befand sich in einem einzigen Ungleichgewicht, das ihre Gefühle vollkommen außer Kontrolle brachte. Geweint hatte sie nicht mehr. Das wollte sie sich für zu Hause aufheben. Früher hatte sie wirklich, egal wo sie auch war, geweint – ihren Gefühlen freien Lauf gelassen. Doch in den USA hatte sie sich diese Angewohnheit schnellsten abgewöhnt. Dort konnte man nicht immer das sagen und zeigen, was man empfand, ohne gleich als seltsam abgestempelt zu werden. Deswegen passte sie sich an. Verlor vielleicht sogar ein Stücken von sich selbst. Ihre Aufrichtigkeit, die sie so sehr an sich mochte, war nicht mehr ihre herausragende Eigenschaft, die sie besonders machte. Sie hatte sich verändert und das verloren, was ihr einst so wichtig war. Mit schwerfälligen Füßen, bog sie in die Straße ein, in der sie wohnte. Sie wollte sich am liebsten gleich auf ihr Zimmer verziehen. Niemanden sehen oder hören. Mimi fragte sich sowieso, wie sie Tai am Montag begegnen sollte. Sollte sie den Kuss zwischen ihnen einfach ignorieren, da er eh bedeutungslos war? Sollte sie mit ihm darüber reden und Gefahr laufen, dass er von ihren Gefühlen Wind bekam? Sie raufte sich die Haare und fragte sich, warum ausgerechnet sie in dieses Schlamassel geraten war. Warum hatte Tai sich keine andere gesucht? Warum musste es sie sein? Und warum zur Hölle hatte ihr Sora nie etwas von der vorherigen Beziehung zu Matt erzählt und wie sollte das Ganze weitergehen? Würde sie sich etwa nun für Tai entscheiden? Ihre Reaktion sprach dafür, sonst hätte ihr das Geknutsche zwischen ihnen wohl kaum etwas ausgemacht. Immer landete sie in so einem Drama. Eine höhere Macht wollte sie wohl unbedingt leiden sehen, dachte sie als sie die Tür aufschloss und sich die Schuhe im Flur auszog. „Ich bin wieder da“, rief die durch den kleinen Flur und ließ ihre Tasche auf den Boden knallen. Keine Reaktion. Langsam schritt sie in den Wohnbereich und sah von weitem eine zersprungene Vase auf dem Fußboden liegen. Sie runzelte die Stirn und sah sich nach ihren Eltern um, von denen jegliche Spur fehlte. „Mama? Papa? Wo seid ihr denn?“ Es war ungewöhnlich. Normalerweise waren beide um diese Uhrzeit bereits wach und kümmerten sich um die alltäglichsten Dinge. Langsam ging die Richtung Arbeitszimmer und öffnete die Tür behutsam. Es war keiner da und auch der Papierkram, den ihr Vater meist am Wochenende bearbeitete war weg. Mimi wurde von Panik ergriffen und lief die Treppen hoch und suchte die obere Etage nach ihren Eltern ab. Wurden sie etwa gekidnappt? War ein Einbrecher im Haus gewesen? Würde sie im Schlafzimmer ihre verstümmelten Leichen finden? Okay, sie sah definitiv zu viele Horrorfilme. Auf einmal hörte sie ein leises Wimmern, dass aus dem Zimmer ihrer Eltern zu kommen schien. Mimi hielt den Atem an und steuerte auf den Raum zu. Zaghaft öffnete sie die Tür und blieb erschrocken im Türrahmen stehen. Vor ihr bot sich ein Schlachtfeld. Die Klamotten lagen im Zimmer verteilt, die Schränke waren aufgerissen und vor ihr auf dem Bett lag ihre Mutter. Sie wandte ihr den Rücken zu und trug ein weißes Kleid, das hinten nicht mehr ganz zuging. Mimi schritt langsam an ihr Bett heran, traute sich aber etwas zu sagen. Als sie näher heran trat, erkannte sie das Kleid, dass sie schon auf vielen Fotos gesehen hatte. Es war ihr Hochzeitskleid, das sie als kleines Mädchen immer bewundert hatte. Ihre Mutter schluchzte laut und wandte den Blick auf einmal zu ihr. Ihr Make up war verlaufen und schwarze Ränder zierten ihre Augen. Auch die Spuren ihrer Tränen waren ganz klar sichtbar. „Mama? Was ist passiert?“, fragte sie und setzte sich auf die Bettkante. Satoe fuhr sich über die Augenpartie und verwischte ihr Make up noch mehr. „Wo ist Papa?“ Der Ausdruck in ihren Augen veränderte sich und Satoes Augen füllten sich mit Tränen. „Der ist weg“, antwortete sie nur. „Warum? Was ist passiert?“, fragte Mimi und merkte eine Schweregefühl in ihrer Magengegend. Ihr wurde auf einmal richtig schlecht. Ihr Magen fühlte sich so an, als hätte er sich zusammengezogen und sich einmal um sich selbst gedreht. „Er hat gelogen“, murmelte sie. „Alles war eine Lüge.“ Mimi biss sich auf die Unterlippe und spürte wie ihre Augen zu brennen begannen. Was sollte das nur heißen? Wo war ihr Vater nur? „Was ist passiert?“, brachte sie gerade noch hervor, als ihre Stimme abbrach, ihre Lippen zu beben begannen und ein schmerzlicher Laut sich von ihren Lippen löste. „Wo ist Papa hin?“ „Er ist weg!“, sagte sie ausdrucklos. „Ich habe ihn gestern rausgeworfen!“ Kapitel 19: Reise in die Vergangenheit -------------------------------------- „Du hast was?“, fragte sie entsetzt und sprang vom Bett auf. „Warum?“ Satoe setzte sich auf und musterte ihre Tochter eindringlich. „Er hat mich…nein uns belogen und betrogen. Das weiß ich jetzt“, meinte sie schwach und ließ sich wieder auf ihr Kissen sinken. „Und woher?“, entgegnete Mimi aufgebracht und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich glaube, das weiß du wohl am besten“, murmelte sie nur. Mimi schluckte und presste die Lippen aufeinander. Noriko. Sie musste es von ihr wissen. Aber wann sollte sie es ihr gesagt haben? Ihre Adresse kannte sie doch gar nicht. Außer sie hätte sie im Telefonbuch nachgeschlagen. „Sie war gestern hier.“ „Wer? Noriko?“ Ihre Mutter sagte nichts, sondern gab nur einen qualvollen Laut von sich und drückte ihren Kopf in ihr Kissen. Mimi sah sie verzweifelt an und rang mit ihrer Fassung. Wie konnte sie ihrer Mutter nur so einen Mist erzählen? „Du glaubst ihr doch nicht, oder Mama?“ Sie setzte sich wieder und fuhr ihr mit der Hand behutsam über den Rücken. Ihre Mutter wandte den Kopf wieder zu ihr und sah sie mit einem ausdrucksleeren Gesicht an. Keinerlei Emotionen spiegeln sich wieder. „Ob ich ihr glaube?“, wiederholte sie und lachte leise. Mimi blickte sie verwirrt an. War sie etwa verrückt geworden? „Ich habe es wohl immer gewusst und wollte es nur nicht wahrhaben“, sagte sie auf einmal und einige Tränen liefen ihr die Wangen hinunter. „W-Was? Papa hatte doch keine Affäre und sicher keine zweite Tochter“, protestierte sie und wollte wieder aufstehen, als ihre Mutter sie an ihrem Arm festhielt. Sie setzte sich auf. Das Kleid hatte einige Flecken abbekommen und auch ihre Fingerspitzen waren von dem Kajal schwarz eingefärbt. Satoe fuhr ihr über die Wange, wodurch Mimi leicht zusammen zuckte. „Ich sollte dir wohl die ganze Geschichte erzählen“, meinte sie und in Mimis Augen bildeten sich die ersten Tränen. Eigentlich war ihr schon seit gestern zum Weinen zu Mute gewesen. Nur ihre Traurigkeit hatte ursprünglich einen anderen Grund. Jetzt fühlte sie sich einfach nur leer und spürte einen dumpfen Schmerz, der sich in ihrem ganzen Körper innerlich ausbreitete. Ihr Vater hatte sie belogen. Tai hatte sie ausgenutzt. Ihre Mutter war ein Wrack, dass ihr nun die Wahrheit sagen wollte. Doch was war schon „die Wahrheit“? Legten wir sie uns nicht meistens so zurecht, wie wir sie gerade brauchten? Was war denn überhaupt wahr und was nicht? Was konnte man noch glauben, wenn die Realität einfach so unglaubwürdig, fast schon unrealistisch, war. Eine Träne löste sich und kullerte ihr die Wange hinunter. Ihre Mutter wusch sie mit ihrem Daumen beiseite. Die beiden Frauen sahen sich eine Zeitlang schweigsam an, bevor Satoe leise schnaufte und zu reden begann. „Wir kannten uns wirklich eine halbe Ewigkeit“, schmunzelte sie und schien in Erinnerungen zu schwelgen. „Sie war meine beste Freundin und wir hatten einfach alles zusammen gemacht. Wir waren in die gleiche Klasse gegangen und später sogar zusammen zur Uni“, erzählte sie weiter und lächelte schwach. Mimi sah sie ausdrucklos an und hoffte, dass sie ihr noch etwas erzählte, was sie noch nicht wusste. So viel hatte sie aus ihrer Oma auch schon rausbekommen. „Und was ist passiert? Freundschaften enden doch nicht urplötzlich“, sagte sie und klang leicht hysterisch dabei. Sie wollte endlich die Wahrheit wissen. Die ganze Wahrheit. Und nicht nur Häppchenweise. Sie wollte alles wissen. „Es war wohl mehr passiert, als ich zum damaligen Zeitpunkt wusste. Vielleicht wollte ich es auch einfach nicht sehen und habe es ignoriert“, gestand sie sich ein und senkte den Kopf. Für Mimi sprach ihre Mutter in Rätseln. „Sag doch einfach, was passiert ist!“, forderte sie und zitterte dabei leicht. „Papa ist weg und ich will nur wissen, was zwischen euch so Schlimmes vorgefallen ist.“ Geschockt sah Satoe sie an. Ihre Augen waren weit aufgerissen und ihr Mund war leicht offen. Mimis Augen waren Tränengefüllt und im Moment wünschte sie sich einfach nur eins: Klarheit. „Okay“, sie atmete laut aus. „Ich erzähle dir die Geschichte von Anfang an.“ Mimi nickte nur und fuhr sich mit dem Handrücken über ihre Augenpartie. „Alles begann in unserem letzten Studienjahr…“ _ „Und wo hast du ihn kennengelernt?“, fragte sie neugierig und musterte ihre beste Freundin, die etwas rot um die Nase anlief. „In der Bibliothek, ich habe ihn praktisch umgerannt“, gab sie zu und lächelte leicht. „Praktisch? Oh Gott, wo warst du nur wieder mit deinen Gedanken“, lachte Satoe und schüttelte den Kopf, sodass ihre Haare leicht mitschwangen. „Naja, nicht jeder lernt seinen Freund ganz Klischeehaft in ‘ner Vorlesung kennen“, meinte sie empört und stemmte die Hände in die Hüfte. Sie grinste und biss sich leicht auf die Unterlippe. Danach ergriff sie den Arm ihrer besten Freundin und sah sie aufgeregt an. „Das Beste habe ich dir noch gar nicht erzählt“, begann sie und bohrte sich mit den Nägeln in ihren Arm, sodass Satoe einen leichten Druck verspürte. „Er ist Halbjapaner. Seine Mutter kommt aus England.“ „Na und? Keisukes Eltern kommen aus Kyoto“, antwortete sie sarkastisch und erntete einen vielsagenden Blick von Ayame, die zusätzlich noch die Augen verdrehte. „Du und dein Keisuke! Schlimm, dass ihr immer noch so schrecklich verliebt seid. Ich habe eigentlich gehofft, dass das mit der Zeit nachlässt.“ „Du bist doch nur neidisch“, murrte sie und streckte ihr die Zunge heraus, bevor sie ihr den Arm über ihre Schultern legte. „Aber ich freue mich wirklich für dich! Endlich haben wir mal zeitgleich einen Freund. Und du musst ihn mir unbedingt demnächst mal vorstellen.“ Die Bestimmtheit war aus ihrer Stimme herauszuhören. Sie wollte den neuen Freund ihrer besten Freundin unbedingt kennenlernen. Sie war schon seit knapp drei Jahren mit Keisuke zusammen, während Ayame nur kurze Beziehungen hatte. Doch dieses Mal schien es wirklich ernst zu sein. Ihren neuen Freund Minoru sollte sie bald kennenlernen. Beide hatten sich in den letzten Wochen fast jeden Tag verabredet, sodass Satoe manchmal ganz schön eifersüchtig wurde. Normalerweise waren sie eine Einheit, die nichts erschüttern konnte. Selbst als sie mit Keisuke zusammen gekommen war, schaufelte sie immer wieder Zeit für ihre beste Freundin frei. Doch Ayame war verliebt. So richtig. Und nur das schien im Moment für sie zu zählen. Auch Satoe war sehr gespannt, wie Minoru so drauf war. Immerhin zauberte er ihr dieses Lächeln auf ihr Gesicht. Daher war sie ihr auch nicht böse. Liebe ging manchmal eben seltsame Wege. Doch solange sie glücklich war, war Satoe es ebenso. _ „Und dann? Was hat das alles mit Papa zu tun?“, fragte Mimi aufgewühlt und fuhr sich durch ihre Haare, die wild in alle Ecken abstanden. „Alles hat damit angefangen, als ich Minoru besser kennenlernen durfte.“ Satoe senkte den Kopf und fuhr sich auffällig durchs Gesicht. „Er war gar nicht so, wie ich ihn mir vorgestellt habe. Manchmal wirkte er sehr arrogant und herablassend. Ich habe wirklich nicht verstanden, was sie an ihm fand.“ „Also mochtest du ihn nicht“, warf Mimi in den Raum. Satoe nickte nur. „Anscheinend war er bei ihr immer anders. Doch er schien etwas gegen mich, beziehungsweise eher gegen deinen Vater zu haben“, erklärte sie und krallte ihre Finger in den weißen Stoff ihres Kleides, bevor ihr wieder die Tränen in die Augen stiegen. „Vielleicht wusste er es oder hat es mindestens geahnt.“ Es. Mimis Blut gefror. Es konnte so vieles bedeuten, aber sie wusste, was es bedeutete. Auch wenn sie es nicht wahrhaben wollte. „Hast du denn gar nichts geahnt? Und warum kam es überhaupt dazu? Sie war doch deine beste Freundin gewesen“, stellte Mimi aufgebracht fest und sah ihre Mutter mit einem quälenden Blick an, sodass sie nur noch mehr weinte. „I-Ich wollte es nicht wahrhaben.“ Sie fuhr sich mit dem Handrücken über ihre Augenpartie und schluchzte leise. „Außerdem glaube ich, dass sie auch in deinen Vater verliebt war und Minoru nur als Lückenbüßer benutzt hat.“ „Wie kommst du darauf?“ „Sie hat ihn immer so angesehen. Mit diesem begehrenswerten Blick. Aber ich wusste, dass sie mir zu Liebe die Finger von ihm lassen würde. Doch ich habe mich wohl getäuscht“, wimmerte sie und knautschte den Stoff zusammen. Begehrenswerten Blick. Wie oft hatte sie Tai so angesehen? Und kein einziges Mal hatte er es bemerkt. Er wollte Sora. Nur sie allein. Und ihm waren alle Mittel recht, um sie zu bekommen, auch wenn er ihr damit sehr wehgetan hatte. Doch sie wusste im Moment nicht, was sich schlimmer anfühlte. Die Tatsache, dass Tai sie nicht wollte oder das ihr Vater sie all die Jahre belogen hatte? Am liebsten wollte sie schreien, etwas kaputtmachen, randalieren, ihrer Wut und ihrem Schmerz Ausdruck verleihen. Nur halbherzig hörte sie ihrer Mutter zu, die ihre Geschichte weitererzählte. Zu groß waren der Schmerz, der Hass und die Enttäuschung, die sie empfand. Ihr Herz zog sich jedes Mal mehr zusammen und sie hatte das Gefühl, dass ihr die Luft zum Atmen geraubt wurde. Wie konnte ihr nur so etwas passieren? Was hatte sie nur falsch gemacht? Warum? Warum sie? Hätte es nicht einen anderen Menschen treffen können? _ „Ich verstehe wirklich nicht, warum du ihn nicht magst.“ Wütend stand sie vor ihrer Freundin und eine Zornesfalte bildete sich ganz klar auf ihrer Stirn. Schon seit einer guten Stunde diskutierten sie über ein und dasselbe Thema. Die Atmosphäre in dem kleinen Studentenzimmer war angespannt. Es fehlte nicht mehr viel, bis einer von beiden die Nerven verlor. „Ich mag ihn halt nicht. Er behandelt mich eben komisch und Keisuke hat er letztens wirklich dumm angemacht. Wegen nichts und wieder nichts“, verteidigte sie sich und legte das Magazin, dass sie durchblätterte, beiseite. Bei dem Namen ihres Freundes schreckte Ayame kurz zusammen und scheute es sie nur anzusehen. „Das bildest du dir nur ein“, nuschelte sie und wandte den Kopf zur Seite. „Er mag euch. Er braucht nur etwas Zeit um warm zu werden.“ „Wie lange braucht er denn? Wir kennen ihn schon ein halbes Jahr! Ist sein Herz etwa ein Eisblock?“ Ayame legte den Kopf schief und stöhnte genervt. „Nein, aber du weiß doch, das seine Eltern…“ „Was Besseres sind?“, beendete sie ihren Satz und verschränkte die Arme vor der Brust. „Anders sind“, korrigierte Ayame sie. Sie wusste ja, dass die Eltern ihres Freundes alles andere als einfach waren. Seine Mutter war anstrengend und man konnte ihr seltenes etwas recht machen. Auch mit Ayame war sie noch nicht warm geworden. Wahrscheinlich hatte er das Herz aus Eis von ihr. Satoe konnte nicht verstehen, warum Ayame nicht sehen wollte, dass sie einfach nicht zusammen passten. Ihre beste Freundin brauchte beim besten Willen keinen Eisklotz an ihrer Seite. Sie brauchte jemanden, der ihr ein wärmendes Lächeln schenkte, wenn es ihr schlecht ging. Jemand, der sie auffing, wenn sie am Boden lag. Genaugenommen brauchte sie einfach eine männliche Version von Satoe, die Jahrelang als Motivator und Aufstehmännchen von ihrer Freundin fungierte. Doch auch sie hatte mittlerweile ein eigenes Leben. Und ihr Leben wollte sie mit Keisuke teilen. Und seit gestern waren sie diesem gemeinsamen Leben ein Stückchen näher gekommen. Satoe spielte nervös an ihrem Ringfinger und ertastete den Ring, den er ihr gestern angesteckt hatte. Ja, er hatte sie gefragt. Die Frage, die jede junge Frau einmal in ihrem Leben gestellt bekommen möchte. „Willst du mich heiraten?“ Ayame hatte sie noch nichts davon erzählt. Sie war wegen ihres Freundes so in Rage, dass Satoe sich nicht traute ihr die frohe Botschaft mitzuteilen. Doch warum konnte sie die Wahrheit nicht erkennen? Schon seit Wochen beschwerte sie sich über ihn, seine Art und alles was sie sonst noch so störte. Dann erzählte sie im gleichen Atemzug wie sehr sie ihn liebte. Es war wie eine Achterbahnfahrt. Rauf und wieder runter. Immer so weiter. Bis es irgendwann nicht mehr weiterging und man zum Aussteigen gezwungen wurde. Ayame wollte diese Konsequenz jedoch nicht sehen. Sie wollte mit aller Gewalt an der Beziehung festhalten, auch wenn sie selbst bereits wusste, dass es nichts mehr brachte. „Was hast du da an der Hand?“, fragte sie auf einmal und deutete auf ihren Ringfinger. Satoe folgte ihrem Blick und hatten ihren Verlobungsring für einen Moment komplett vergessen, auch wenn sie die ganze Zeit daran herumgespielt hatte. Erschrocken sah sie zu Ayame, lächelte jedoch daraufhin leicht. „Er hat mir gestern einen Antrag macht“, platzte aus ihr heraus und sie biss sich leicht auf die Unterlippe, um nicht vor lauter Freude laut loszuschreien. Ayames Blick veränderte sich auf einmal. Ihre Augen waren geweitet und sie brachte für einen kurzen Moment keinen Ton zu Stande. Satoes Lächeln wich der Verwirrung. Mit krausgezogener Stirn betrachtete sie ihre Freundin, die aussah, als würde sie jeden Augenblick losweinen. „Was ist denn los? Freust du dich nicht?“ Sie gab einen Laut von sich und schüttelte sachte den Kopf. „W-Was? Natürlich freue ich mich für dich“, antwortete sie mit gebrochener Stimme und rang mit ihrer Fassung. Sie kniff die Augen zusammen und ihre Mundwinkel zuckten leicht. „Aber du siehst irgendwie so unglücklich aus“, stellte Satoe schockiert fest. „Was ist denn?“ „Gar nichts“, antwortete sie schnell. Zu schnell, für Satoes Geschmack. Ihre Stimme überschlug sich fast, als sie erzählte, dass sie noch etwas vor hatte und jetzt gehen müsste. Ihre Reaktion war für sie vollkommen unverständlich. Als beste Freundin freute man sich doch für einen, oder etwa nicht? _ „Ich hätte es ahnen müssen“, sagte sie auf einmal und eine einzelne Träne bahnte sich ihren Weg hinunter. Sie presste die Lippen aufeinander und sah zu Mimi, deren Blick starr auf sie gerichtet war. „S-Sie war unglücklich und Keisuke war immer so nett zu ihr.“ „Aber das ist noch lange kein Grund eine Affäre miteinander anzufangen“, protestierte Mimi schrill, stand auf und wanderte durch das Elternschlafzimmer. Immer wieder schüttelte sie den Kopf, der sich schwer wie Beton anfühlte. Sie brauchte dringend Erholung. Am besten eine heiße Dusche oder ein paar Stunden Schlaf, wobei sie sich nicht vorstellen konnte, nach dieser Sache überhaupt noch Schlaf zu finden. Mimi blieb stehen. Sie schniefte kurz und zog weniger ladylike die Nase hoch, da sie kein Tempo zur Verfügung hatte. Ihre Mutter sah sie an. Man konnte den Schmerz und die Verzweiflung aus ihren Augen lesen. Ihr Kajal war noch schlimmer verwischt als vorher und auch ihr Hochzeitskleid hatte einige Flecken abbekommen. „Ich glaube, ich weiß genau, wann das alles angefangen hat“, murmelte sie und lächelte gekünstelt. „Wir waren alle auf einer Party eingeladen. Ihr Freund hatte mal wieder keine Zeit, da er lieber für eine Klausur lernen wollte, statt mit ihr mitzugehen“, erzählte sie weiter. Sie schluckte kurz und schien sich an jenen Abend zurückzuerinnern. „Mir ging es den ganzen Tag schon nicht gut, aber trotzdem bin ich mitgegangen.“ Mimi stand verloren im Raum und blieb stocksteif an ihrem Platz stehen. Sie war wie gelähmt und hatte trotzdem das Gefühl, jeden Augenblick mit ihren Beinen weg zu knicken. Ihre Knie fühlten sich an wie Wackelpudding und ihr Magen schien sich einmal um die eigene Achse gedreht zu haben, wenn das überhaupt möglich war. „Ich bin früher gegangen, da ich ziemlich schlimme Kopfschmerzen hatte. Keisuke und Ayame waren noch auf der Party geblieben. Ich wollte ihnen ja auch nicht den Abend verderben, aber…“, ihre Stimme brach ab und ein lautes Schluchzen zog sich durch den Raum. Sie vergrub ihr Gesicht unter ihren Händen und weinte. Mimi schluckte nur und wusste nicht, was sie daraufhin sagen sollte. Deswegen wartete sie ab. Es dauerte einen Moment bis ihre Mutter ihre Stimme wiederfand. Doch auch Mimi wollte die Geschichte, die so wirr und abstrus klang, zu Ende hören. „Ich habe mir nichts dabei gedacht, die beiden alleine zu lassen. Ich habe ihnen vertraut, aber seither wurde alles seltsam“, wisperte sie und sah gedankenverloren aus dem Fenster. „Seltsam? Wie meinst du das?“ Satoe richtete den Blick wieder zu ihr. „Die Menschen können viel erzählen, wenn der Tag lang ist. Aber ich habe die ganzen Geschichten einfach nicht glauben wollen, besonders weil mir dein Vater immer wieder klar gemacht hat, wie sehr er mich liebt. Und dann kam dieser Antrag.“ Ihre Augen funkelten, doch eher vor Zorn. „Als Ayame dann kurze Zeit später verkündete, dass sie schwanger sei, habe ich es gar nicht wirklich in Verbindung mit deinem Vater gebracht, da sie immer noch mit Minoru zusammen war und ihn heirateten wollte. Sie sind kurz danach weggezogen, weil er einen Job in Nagoya bekommen hat und dann hat sich alles verlaufen.“ Mimi konnte nicht fassen, dass damals schon Gerüchte um eine mögliche Affäre rumgingen und ihre Mutter all diese Lüge geglaubt hatte. Doch im Nachhinein war es logisch. Wenn man jemanden liebte, versuchte man alle Fehler einfach auszublenden und nur das Gute in ihm zu sehen. Das Gleiche war ihr bei Jason passiert. Er wollte nur das eine von ihr und hatte es so geschickt angestellt, dass Mimi wirklich dachte, er würde sie lieben und nur mit ihr zusammen sein wollen. Doch nachdem es passiert war, gab er ihr relativ schnell den Laufpass und ließ sie im Regen stehen. Und jetzt stand sie direkt vor ihrer Mutter, die einem Häufchen Elend ähnelte. Auch sie wurde verarscht, nur das die Lüge ihres Vaters weitaus größere Wellen schlug. Noriko hatte sie nicht angelogen. Sie hatte die Wahrheit gesagt. Und Mimi musste nun mit den Konsequenzen leben. Kapitel 20: Nachwirkungen ------------------------- Ihr Kopf rauchte und sie hatte es gerade so geschafft ihre tiefen Augenringe abzudecken. Ihre Laune war im Keller. Und ausgerechnet heute war wieder Schule. Sie fühlte sich müde und ausgelaugt. Am liebsten wollte sie im Bett liegen bleiben. Aber Mimi wusste, dass sie es nicht konnte. Zu Hause würde ihr erst Recht die Decke auf den Kopf fallen. Sie hatte stundenlang damit verbracht, sich Gedanken über alles und jeden zu machen. Ihre Mutter hatte ihr ziemlich viel über ihre damalige Freundschaft zu Ayame und ihre Beziehung zu ihrem Vater erzählt. Dennoch fehlten so viele kleine Puzzleteile, die ihre Mutter ihr nicht liefern konnte. Sie fragte sich, wann ihr Vater wieder bei ihnen auftauchen würde und ob sie die Gelegenheit hätte mit ihm zu sprechen. Sie brauchte Antworten. Antworten auf unzählige Fragen, die ihr die ganze Nacht durch den Kopf gingen. Sie war wirklich froh, wenn dieser Tag endlich vorbei war und sie sich in ihr warmes Bett legen und weinen konnte. Doch die Schule hatte noch nicht mal angefangen. Mimi hatte gerade mal das Schulgelände betreten und suchte mit ihren Augen nach Sora, da sie sie an ihrem üblichen Platz nicht entdecken konnte. Sie wanderte über den Schulhof und ging Richtung Eingang, als sie auf einmal ihren Namen im schrillsten Ton der Welt vernahm. Sie wirbelte herum und erkannte, dass Yolei und Hikari auf sie zusteuerten. Sie hoffte wirklich, dass sie nicht zu verheult aussah. „Guten Morgen“, begrüßte sie ihre Freundinnen und zwang sich zum Lächeln, doch die beiden grinsten sie nur breit an und zogen sie in eine nahegelegene Ecke. „Was soll das denn?“, protestierte Mimi und sah die beiden fragend an. „Was das soll? Ich habe dir unzählige SMS geschrieben und du hast auf keine geantwortet“, sagte Yolei empört und Mimi runzelte die Stirn. Stimmt, nach dem ganzen Stress mit ihren Eltern und Tai, hatte sie ihr Handy einfach vergessen wieder einzuschalten. Heute Morgen hatte sie es einfach in ihre Tasche geworfen, ohne richtig draufzugucken. „Ich hatte es aus“, verteidigte sie sich nur. „Wie kannst du es nur ausmachen? Nachdem was passiert ist!“, nörgelte Yolei und packte sie am Arm und drückte ihn leicht. Mimi zog die Augenbrauen zusammen und hatte keinen blassen Schimmer, von was sie überhaupt sprach. Auch Karis Gegrinse ging ihr irgendwie auf den Wecker, auch wenn sie noch gar nichts gesagt hatte. „Was ist hier überhaupt los? Habt ihr den Verstand verloren?“, fragte sie patzig und riss sich von Yolei los und wollte gerade ins Schulgebäude gehen, als Yolei endlich mit der Sprache herausrückte. „Ich hab dich gesehen! Mit Tai!“ Ihr Grinsen wuchs ins Unermessliche und Mimi klappte leicht der Mund auf. Sie hatte Yolei doch gar nicht mehr in der Bar gesehen, woher konnte sie also wissen, was zwischen ihr und Tai vorgefallen war? „Aber du warst doch schon weg!“, stellte Mimi fest und verschränkte die Arme vor der Brust. Doch Yolei winkte sofort ab. „Ach Quatsch, ich war nur kurz mit Davis und Ken frische Luft schnappen und dann habe ich euch beide in Aktion gesehen“, quietschte sie freudig. „Yolei hat mich am nächsten Tag angerufen und ich war echt überrascht, aber ich freue mich natürlich sehr für euch“, ergänzte Kari und sah sie ebenfalls überglücklich an. Anscheinend würde sie sich darüber freuen, wenn sie Tais neue Freundin wäre. Doch das war sie nicht. „Ich glaube, ihr habt da was missverstanden“, klärte Mimi auf und unterbrach die Mutmaßungen, die Kari und Yolei anstellten. „Wir haben nur rumgemacht, mehr nicht.“ Kaum hatte sie diesen Satz ausgesprochen, machte sich ein unheimlicher Schmerz in ihrer Brustgegend breit. Natürlich wünschte sie sich, dass es anders wäre. Besonders jetzt. So allmählich verlor sie wirklich den Glauben an die Liebe. „Wie? Aber man macht doch nicht ohne Grund miteinander rum. TK und ich sind danach…“ „Wir waren betrunken“, unterbrach sie Kari schroff. „Das hatte rein gar nichts zu bedeuten.“ Ihre Stimme war etwas lauter als sonst und brachte ihre beiden Freundinnen endgültig zum Schweigen. Mimi sah zu Kari, doch sie senkte den Blick, so als kannte sie die Wahrheit. Vielleicht hatte sie Mimi schon seit langem durchschaut gehabt, auch wenn sie ihre Gefühle stets vertuschte. „Wir sollten reingehen, ansonsten kommen wir noch zu spät“, schlug Mimi vor. Yolei und Kari nickten nur verhalten und folgten ihr ins Schulgebäude. _ Sie quälte sich durch die Stunden und durch eine unfassbar lange Mittagspause, die noch nie so Wortkarg war, wie heute. Matt und Tai redeten über belanglose Dinge, während Sora und Izzy sich ihrem Essen widmeten. Mimi hatte absolut keinen Hunger. Vielleicht lag es an der Anwesenheit von Tai, der sie kaum beachtete, obwohl er sie am Samstag geküsst hatte. Sora schien er jedoch auch nicht viel Beachtung zu schenken. Diesmal saß sie nicht wie gewöhnlich zwischen Matt und Tai, sondern neben Izzy, der der ganzen Sache lieber schweigend gegenüber trat. Matt schien von all dem noch nichts zu wissen, was auch besser war. Mimi wollte nicht wissen, wie er reagierte, wenn er wüsste, dass Tai Sora geküsst hatte. Eigentlich war er nicht der Typ, der komplett ausflippte, aber bei dieser Sache, konnte sie seine Reaktion absolut nicht einschätzen. Sie hätte im Leben auch nicht daran gedacht, dass ihre liebenswürdige, herzensgute Mutter ihren Vater auf einmal rausschmiss, auch wenn es gerechtfertigt war. Trotzdem war sie nicht der Typ, der ausflippte, die Wohnung auseinander nahm und danach im Selbstmitleid badete. Das erste Mal seit langem, sah sie wieder auf ihr Handy und entdeckte tatsächlich unzählige SMS, die ihr Yolei geschrieben hatte. Doch nicht nur Yolei hatte ihr geschrieben. Eine Nummer, die sie schon seit Tagen nervte, tauchte immer wieder aufs Neue auf. Ich will mit dir reden! Du kannst mich nicht ewig ignorieren – Noriko Was habe ich da gerade gesehen? Du und Tai? Du musst mir alles erzählen – Yolei Sie drückte auf die nächsten SMS und sah, dass alle einen sehr ähnlichen Inhalt hatten. Yolei wollte wissen, was zwischen ihr und Tai lief, während Noriko um ein weiteres Gespräch bat, dass sie nicht bereit war einzugehen. Auch im Moment, wollte sie weder eine SMS von ihr lesen, noch ihr Gesicht sehen. Sie hatte alles kaputt gemacht. Ohne ersichtlichen Grund. Warum mischte sie sich aufgerechnet jetzt in ihr Leben ein? Warum hatte sie es nicht früher getan? Mimi konnte sich nicht vorstellen, dass sie urplötzlich das Verlangen spürte ihre jüngere Halbschwester kennen lernen zu wollen. Genau genommen war ihre erste Begegnung alles andere als freudig gewesen. Sie hatte sie angesehen, als würde sie sie verachten. Sie hassen, nur weil sie das Glück hatte ihren Vater zu haben. Einen Vater, der sie jahrelang belogen hatte. Mimi biss sich schmerzerfüllt auf die Unterlippe und betrachtete argwöhnisch den Eintopf, den sie sich geholt hatte. Jetzt hatte sie überhaupt keinen Hunger mehr. Es wäre wohl besser sich in eine Ecke zu verkriechen und nie wieder hervorzukommen. Plötzlich bemerkte sie, dass Sora sie besorgt musterte. Na toll, jetzt fiel ihre schlechte Laune sogar schon auf. Ihr Blick wurde immer dringlicher, je länger sie ihr Essen teilnahmslos stehen ließ und nicht anrührte. Sie musste es also essen. Ob sie nun wollte, oder nicht. Ihre Fassade durfte nicht bröckeln. Vielleicht schaffte sie es ja, alles wieder in Ordnung zu bringen. Doch im Moment sollte niemand merken, wie schlecht es ihr wirklich ging. Kapitel 21: Wiedersehensfreude ------------------------------ Der nächste Tag kam schneller als Mimi lieb war. Heute hatte sie wieder Nachhilfe, auf die sie wohl seit Samstag nicht mehr sonderlich viel Lust hatte. Wie sollte sie Tai nur gegenübertreten? Beide hatten nicht mehr viel miteinander gesprochen, seit sie sich geküsst hatten. Und heute war sie dazu gezwungen mit ihm zu reden, auch wenn es nur über Mathe war. Keiner konnte garantieren, dass es auch bei dem einen Thema blieb. Vielleicht hatte er sie schon längst durchschaut und hatte gemerkt, wie sehr sie den Kuss mit ihm genossen hatte. Doch daran wollte sie lieber nicht denken. Sie verabschiedete sich schnell von Izzy, der noch eine Sitzung seines Computerclubs leiten würde. Tai war bereits zu Hause und wartete auf sie. Er hatte eine Freistunde und ihr nur eine knappe SMS geschrieben, dass er bereits nach Hause gegangen war. Auch wenn sie wusste, dass sie seine Hilfe in Mathe brauchte, um nicht durchzufallen, hatte sie eigentlich gar keine Lust mit ihm alleine in seinem Zimmer zu sitzen und zu lernen. Es war ihr unangenehm. Sie wusste nicht was passieren würde, ob er darüber reden wollte, oder es einfach ignorierte. Besonders schlimm empfand sie die Tatsache, dass sie die ganze Zeit Recht hatte. Er war in Sora verliebt, die auf sie sehr geistesabwesend wirkte. Selbst Matt schien langsam bemerkt zu haben, dass etwas vorgefallen war. Sora hatte sich komplett von ihm distanziert und versuchte sich über ihre seltsamen Gefühle, die sie neuerdings bei Tai verspürte, klar zu werden. Sie hatte Mimi erzählt, dass sie diesen Abstand bräuchte, um sich zu ordnen. Natürlich hatte sie sie um Verschwiegenheit gebeten, die Mimi selbstverständlich einhielt, auch wenn es ihr schwer fiel. Mimi ging verhältnismäßig langsam die Treppen hinunter und bemerkte, dass die meisten Schüler sie freudig überholten und nach draußen stürmten. Sie hingegen wollte einfach nur Zeit schinden, um noch ein bisschen ihren Gedanken nachzugehen. Noriko hatte zum Glück aufgehört ihr ständig SMS zu schreiben und sie um ein weiteres Treffen zu beten. Wahrscheinlich hatte sie es aufgegeben, da Mimi sowieso nicht reagierte. Die Sache zwischen ihren Eltern war jedoch unverändert. Als Mimi gestern in der Schule war, hatte ihr Vater noch einige Sachen abgeholt und sich wieder mit ihrer Mutter gestritten. Sie wusste zwar nicht genau, über was die beiden gestritten hatten, doch ihre Mutter hatte wieder geweint und wie ein Häufchen Elend auf der Couch gesessen, als sie gegen Abend nach Hause gekommen war. Ihre Mutter war kaum ansprechbar und stierte nur teilnahmslos in die Ecke. Sie wirkte richtig apathisch, so als würde sie sie gar nicht mehr wahrnehmen. Mimi wusste nicht, wo das Ganze noch enden sollte. Würden sich ihre Eltern etwa scheiden lassen? Sie könnte es schon irgendwie verstehen, aber ihr inneres Kind hoffte auf eine Versöhnung. Schließlich war die Geschichte schon Jahre her, auch wenn es für sowas keine Verjährungsfristen gab. Sie hätte wohl genauso wie ihre Mutter reagiert, wenn nicht sogar schlimmer. Als Jason damals mit ihr Schluss machte, hatte sie ihn regelrecht aus dem Haus gejagt und ihm sämtliche Sachen beinahe gegen den Kopf geworfen. Hauptsächlich Schuhe. Echt blöd, dass sie ihn nicht ein einziges Mal getroffen hatte, doch werfen war noch nie ihre Stärke gewesen. Gedankenverloren schlenderte sie zum Haupttor und bemerkte erst gar nicht, dass jemand dort stand und wartete. Erst als sie ihren Namen vernahm, wirbelte sie herum und erstarrte. „Was willst du denn hier?“, fragte sie in einem herablassenden Ton und musterte ihr Gegenüber argwöhnisch. Sie gab wohl niemals auf. Da half es wohl auch nicht, ihre SMS zu ignorieren. „Ich will nochmal mit dir reden“, antwortete sie stur und blieb direkt vor ihr stehen. „Ich denke, dass bist du mir irgendwie schuldig.“ „Ich? Dir? Bist du irre!“, erwiderte sie empört und stemmte die Hände in die Hüfte. „Du tauchst doch einfach auf und machst meine Familie kaputt.“ Selbstverständlich wusste sie, dass das nicht stimmte. Noriko konnte am wenigsten etwas dafür. Sie war eine Leidtragende, genau wie sie. „Ich mache deine Familie kaputt? Ich glaube, dass DEIN Vater dafür ausschlaggebend war“, betonte sie und sah sie mit einem verletzenden Blick an, sodass Mimi prompt ein schlechtes Gewissen bekam. „Er ist auch dein Vater“, korrigierte sie Noriko kleinlaut und senkte den Kopf. „Schön, dass du das auch mal einsiehst!“, murrte sie nur. „Mimi, das einzige was ich will, ist dich ein bisschen näher kennen zu lernen.“ Sie machte eine kurze Pause und sah sie dringlich an. Mimi hob den Kopf und ihre Blicke trafen sich kurz. Erst jetzt stellte sie fest, dass sie exakt die gleiche Augenfarbe hatten. Auch ihre Nase war ihrer sehr ähnlich. „Bitte, nur ein Gespräch. Wenn du mich danach immer noch ätzend findest, werde ich dich nie wieder belästigen, versprochen“, versicherte sie ihr glaubwürdig. Ihr Blick wirkte nicht mehr so einschüchternd auf sie. Ein wenig Verzweiflung spielte sich in ihren Augen wieder, die Mimi signalisierte, dass Noriko das Gespräch mit ihr sehr wichtig war. Und auch wenn es ihr schwer fiel, ihr fehlten noch einigen Antworten, die wohl nur ihr Vater, Ayame oder vielleicht sogar Noriko beantworten konnten. Was hatte sie schon zu verlieren? Noriko hatte ihr ein klares Angebot gemacht, dass sie einfach nicht ablehnen konnte. Wenn sie Glück hatte, war sie sie am Ende wenigstens los. Eine Win-Win-Situation. Und so lange würde das Gespräch sicher nicht dauern. Tai würde es sicher verkraften, wenn sie ein paar Minuten später kommen würde. _ „So, und jetzt?“, fragte sie, als sie sich auf der Bank im Park niedergelassen hatte. Der heutige Tag war wirklich fabelhaft, um ein wenig raus zu gehen und den Kopf frei zu bekommen. Ein warmes Lüftchen wehte und die Sonne schien durch die Blätter des Baumes, unter dem sie es sich bequem gemacht hatten. Noriko strich sich eine Haarsträhne hinter ihr Ohr und sah Mimi an. Für einen Moment sagte sie gar nichts. Ihr Blick war intensiv, aber wirkte dennoch freundlich. Nicht so wie bei ihrer allerersten Begegnung. Mimi erinnerte sich noch genau, wie herablassend und böse sie sie anschaute, so als wolle sie ihr am liebsten ins Gesicht springen. Sie fragte sich, wie sie reagiert hätte, wenn sie das erste Mal wissend auf ihre Schwester getroffen hätte. Genau genommen war ihre Begegnung ja noch recht harmlos gewesen. Jedenfalls waren sie nur verbal aufeinander losgegangen. „Ich warte“, meinte Mimi ungeduldig, verschränkte die Arme vor der Brust und tippte unruhig mit dem Finger auf ihren Arm. „Sorry, ich weiß irgendwie nicht so richtig wie ich anfangen soll“, erwiderte sie und kratzte sich an ihrem Hinterkopf. „Vielleicht sollte ich mich erstmal dafür entschuldigen, dass ich einfach so bei dir aufgetaucht bin. Das war wohl nicht so gut“, räumte sie ein und legte ein unschuldiges Gesicht auf. „Nicht so gut? Meine Mutter hat meinen Vater rausgeworfen!“ „Okay. Damit habe ich jetzt nicht gerechnet“, gab sie kleinlaut zu und verzog das Gesicht zu einer Grimasse. „Ach nein? An welche Reaktion hast du denn sonst gedacht? Dass sie ihm lachend in die Arme fällt?“, fragte sie sarkastisch und schlug die Beine übereinander. Noriko sackte leicht die Bank hinunter und drückte sich gegen die Lehne. „Sie hat es doch gewusst, oder wenigstens geahnt! Sonst hätte sie meinen Wink mit dem Zaunpfahl sicher nicht verstanden“, entgegnete sie nur. Mimi schnaubte. „Sie wollte es wohl nicht glauben“, antwortete sie und schüttelte den Kopf. „Und ich habe von all dem rein gar nichts geahnt.“ „Ich weiß es auch erst, seit ich dreizehn bin.“ Mimi sah sie kurz an und erinnerte sich an die Krebsgeschichte, die sie ihr erzählt hatte. Sie hatte Leukämie. Irgendwie hatte sie das komplett verdrängt gehabt. „D-Dir geht es aber schon…naja du weißt schon…krank bist du nicht mehr, oder?“, stammelte sie sich zurecht, während Noriko belustig dem Gespräch folgte. „Keine Sorge, ich bin in meinem fünften Jahr“, meinte sie locker und grinste leicht. „In deinem fünften Jahr?“, wiederholte Mimi skeptisch und runzelte die Stirn. Sie hatte absolut keine Ahnung von was sie da sprach. „Wenn du fünf Jahre keinen Rückfall mehr hattest, giltst du als komplett geheilt“, erklärte Noriko ihr strahlend. „Und ja, das ist fast so wie ein zweiter Geburtstag.“ „Oh“, brachte sie gerade noch hervor und wandte sich von ihr ab. Sie schluckte hart und presste die Lippen aufeinander. Mimi hatte eigentlich noch nie mit kranken Menschen in ihrem Umfeld zu tun gehabt. Dementsprechend war sie von der neuen Thematik ein wenig überfordert gewesen. Was sollte man auch als Unbeteiligter sagen? Klang doch alles sehr seltsam, wenn man es nicht selbst durchgemacht hatte. Dennoch brannte ihr eine andere Frage auf der Zunge, die sie ihr unbedingt stellen wollte. „Und wie geht es deiner Mutter?“ Mimi erinnerte sich daran, wie sie Ayame das erste Mal gesehen hatte und vollkommen geschockt über ihr Aussehen war. Sonderlich gut, schien es ihnen sicher nicht zu gehen. „Sie kommt klar“, antwortete Noriko zurückhaltend. „Es ist nicht einfach, aber es funktioniert irgendwie.“ „Wie meinst du das denn?“, hakte Mimi nach. „Naja, viel Geld haben wir jetzt nicht, aber das wird sowieso überbewertet. Wir haben ja uns.“ Noriko lächelte sanft, doch Mimi war nicht zum Lächeln zu Mute. Sie steckte nun in haargenau der gleichen Situation. Wahrscheinlich würden ihre Mutter und sie auch nur knapp über die Runden kommen. Das Haus müssten sie sicher aufgeben und in eine kleinere Wohnung ziehen. Neue Klamotten könnte sie sich dann auch nicht mehr leisten. Ihr Leben würde den Bach runter gehen. „Was ist los?“ „Nichts“, antwortete sie und blickte starr auf den Boden. „Jetzt sag schon!“ „Nein…es ist alles…“ „Hasst du mich jetzt?“, fragte sie unverblümt. „Was? Warum fragst du sowas?“ Mimi blickte sie irritiert an und zog ihre Augenbrauen zusammen. „Naja, wenn ich du wäre, würde ich mich wahrscheinlich hassen. Ich habe mich eingemischt und jetzt ist alles chaotisch“, sagte sie und wurde mit jedem Wort leiser. Mimi fuhr sich durch die Haare, sodass sie ihr nicht mehr ins Gesicht fielen. Aus irgendeinem Grund konnte sie sie nicht hassen. Sie war genauso unschuldig an der Sache wie sie. Es wäre nicht fair, ihr mit Hass gegenüber zutreten. Im Moment hasste sie wirklich nur eine Person: Ihren Vater. Er hatte sie angelogen und ihr etwas sehr wichtiges verschwiegen, dass ihr Leben von heute auf morgen einfach veränderte. Selbst Norikos Mutter konnte sie nicht richtig hassen. Sie hatte alles verloren, was ihr lieb und heilig war. Und das spiegelte sich deutlich wieder. „Ich hasse dich nicht, aber ich bin ganz schön überfordert“, gestand sie sich ein. „Im Moment würde ich einfach nur gerne meinen Vater anschreien und fragen, warum er das getan hat.“ „Für manche Ereignisse gibt es keine Erklärung. Sie passieren einfach.“ „Ja wahrscheinlich. Und wir müssen uns jetzt irgendwie damit arrangieren, toll oder?“ Noriko nickte nur und blickte in die Ferne. Das Leben hatte wohl seine eigenen Regeln. Sie waren komplex, nicht rational und unergründlich. Als Mensch würde man sie wohl nie ganz verstehen. _ Sie hatten sich völlig verquatscht. Komischer Weise fiel es beiden irgendwann überhaupt nicht mehr schwer über sämtliche Dinge zu sprechen. Es war zwar alles recht oberflächlich, aber was sollte man auch in einem öffentlichen Park erwarten? Tiefsinnige Gespräche? Das war wohl noch zu früh. Sie lernten sich ja erst kennen und trotzdem hatte Mimi ein schlechtes Gewissen. War es in Ordnung sich jetzt schon mit ihr zu verabreden? Jetzt wo es ihrer Mutter noch so schlecht ging und ihr Vater gerade ausgezogen war? Doch wahrscheinlich gab es in diesem Punkt kein richtig oder falsch. Und das sie sich so gut unterhalten konnten, war doch ein Zeichen dafür, dass es richtig war sich mit ihr nochmal zu treffen. Die Zeit verging so unfassbar schnell, dass Mimi erst jetzt wieder auf ihr Handy schaute und plötzlich erstarrte. „Scheiße“, fluchte sie, als sie erkannte, dass es schon nach sechs war. Ihr Handy zeigte ihr, unzählige neue Nachrichten an, die nur von einer Person sein konnten. „Was ist los?“, fragte Noriko interessiert und beugte sich zu ihr rüber. „Hast du deinen Freund versetzt?“ „Was? Nein, wie kommst du darauf?“ „Naja, du hast von ein und derselben Person ziemlich viele Nachrichten bekommen“, meinte sie unbekümmert und schielte zu ihrem Handy. „Ach, das ist nur Tai gewesen“, sagte sie zähneknirschend und öffnete seine erste Nachricht. Wo bist du? Ich warte schon ‘ne halbe Stunde auf dich! – Tai Sie seufzte und blickte zu Noriko, die diabolisch grinste. „Und wer ist Tai? Dein Freund?“ Schön wär‘s. „Er ist mein Nachhilfelehrer“, antwortete sie monoton und öffnete die Nächste. Bist du sauer auf mich? Man, Mimi es tut mir leid. Ich weiß, ich habe Mist gebaut und hätte dich nicht einfach so küssen dürfen. Bitte lass‘ uns darüber reden. – Tai „Aha, ein Kuss“, flötete Noriko und Mimi hob den Kopf an. Sie saß dicht neben ihr und las ihre SMS mit. Sie bewegte sich auf sehr dünnem Eis. Gerade war sie wirklich dabei, sie zu mögen und jetzt rückte sie ihr schon auf die Pelle. Zwischenschritte gab es bei ihr wohl nicht viele. Entweder ganz oder gar nicht. Tolle Devise. „Hör bitte auf“, sagte Mimi ernst und packte ihr Handy weg. Ihm jetzt zu schreiben, würde eh nichts mehr bringen. Es war schon nach sechs und Nachhilfe hatte sich für heute sowieso erledigt. Außerdem wurde es langsam dunkel. „Wieso? Ist doch interessant!“ „Nein, ist es nicht.“ Tot traurig traf es wohl eher. Mimi ließ die Mundwinkel hängen und Noriko bemerkte sofort ihren traurigen Blick. „Hey, wenn du willst können wir uns am Freitag bei mir treffen. Ein bisschen Quatschen und so.“ Die Brünette legte den Kopf schief und musterte sie argwöhnisch. „Bei dir? Das ist sicher keine gute Idee.“ Das ging ihr zu schnell. Sie wollte noch nicht auf die Frau treffen, mit der ihr Vater mal eine Affäre hatte. „Ach, komm schon. Meine Mutter ist arbeiten und kommt nie vor ein nach Hause“, erklärte sie genauer. „Okay…aber wollen wir uns nicht erstmal an neutralen Orten verabreden?“ „Sowas sagt man nur zu Kerlen, wenn man nicht will, dass sie einen ins Bett kriegen“, entgegnete sie und schüttelte ihre langen Haare. Mimi sah sie mit geweiteten Augen an und realisierte erst langsam, was sie gesagt hatte. Was antwortete man auf sowas nur? Einfach nicken und lächeln war hier wohl fehl am Platz. Noriko sah sie herausfordernd an und legte ihren Arm lässig auf die Banklehne. Sie hatte sich ihr voll zugewandt und starrte sie förmlich nieder. „Also was ist? Kommst du oder, nicht?“ Kapitel 22: Das Frage-Antworten-Spiel ------------------------------------- Sie hatten gerade mit ihrer Pause begonnen, als sich Mimi und Kari draußen auf einer Bank niederließen. Bei schönem Wetter trainierten sie auch manchmal draußen und heute war wirklich ein wunderbarer Tag zum Tanzen. Es war nicht zu heiß und die Luft wehe angenehm durch ihre braunen Haare, die sie locker zu einem Zopf zusammengebunden hatte. Einige Strähnen hatten sich bereits gelöst, aber das störte Mimi nicht weiter. Kari saß direkt neben ihr und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Das Training war trotz des schönen Wetters unheimlich anstrengend. Frau Kurama war heute wieder besonders gut gelaunt und trieb die Gruppe an ihre Grenzen. Kari hatte schon ihre halbe Flasche leer getrunken, während Mimi sich die Menge bedacht einteilte. Wahrscheinlich würde sie in der zweiten Hälfte erst so richtig abgehen und sie würde sicher froh sein, noch ein bisschen Wasser übrig zu haben. Doch jetzt wollte sie erstmal eine viertel Stunde entspannen und über nichts nachdenken. Kari hatte allerdings andere Pläne. Mimi war bereits aufgefallen, dass sie sie fragwürdig musterte und ihren Blick kaum von ihr wandte. „Stimmt was nicht?“, fragte Mimi und lockerte ihre Schultern. Sie massierte sich den Nacken und reckte ihn, sodass er leicht knackte. Kari druckste etwas herum und rückte nur zaghaft mit der Sprach heraus. Anscheinend wusste sie nicht, wo sie anfangen sollte. „Kann ich dir mal eine Frage stellen?“ „Klar, warum nicht?“, stellte sie die Gegenfrage und zog ihre rechte Augenbraue in die Höhe. Kari fragte sie wirklich viele Dinge, wenn der Tag lang war. Meistens hatte es etwas mit Beziehung oder TK zu tun. Manchmal beschwerte sie sich auch einfach nur über Tais übertriebenen Beschützerinstinkt. Nicht ernstes. Daher rechnete Mimi auch eher mit so einer Frage. Nichtsahnend nahm sie einen großzügigen Schluck ihres Wassers und lauschte Karis Stimme. „Sag mal, kann es sein, dass du in meinen Bruder verliebt bist?“ Mimis Herz stoppte abrupt. Sie verschluckte sich automatisch und hustete auffällig, sodass sie ganz rot an lief. Sie schnappte nach Luft und sah zu Kari, die sie mitleidig ansah. „Wie kommst du nur auf so einen Mist?“, fragte sie gereizt und wischte sich über ihren Mund. Kari zuckte nur mit den Schultern und sah ihr nicht direkt in die Augen, als sie weitersprach. „Naja, als Yolei mir erzählt hat, dass ihr euch geküsst habt, war ich bei dir gar nicht so überrascht gewesen, wie bei ihm“, gestand sie sich ein und sah unschuldig zu Mimi. Ihre Augen waren geweitet und sie schüttelte nur den Kopf. „So ein Quatsch. Wir waren betrunken“, rechtfertigte sie sich und stand von der Bank auf. „Ist das deine Ausrede? Ich habe doch gesehen, wie du ihn manchmal ansiehst und blöd bin ich ganz sicher nicht“, stellte sie klar und schenkte ihr einen provokanten Blick. Na toll. Kari hatte sie also schon durchschaut. Was würde passieren, wenn sie mit Tai darüber reden würde? Das durfte auf gar keinem Fall passieren. Sie musste sich etwas einfallen lassen. „Das bildest du dir ein“, meinte sie monoton und klang alles andere als überzeugend. Sie wandte ihre den Rücken zu und biss sich auf die Unterlippe. „Und selbst wenn es so wäre, wäre es egal“, murmelte sie, doch Kari hatte sie genauestens verstanden. Sie war ebenfalls aufgestanden und berührte leicht ihren Arm. Mimi zuckte kurz zusammen und schaute Kari kurz in die Augen. „Wie meinst du das denn?“, fragte sie naiv und Mimi überlegte sich wirklich, ob sie ihr überhaupt die Wahrheit sagen sollte. Aber mit wem sollte sie überhaupt noch darüber sprechen? Sora fiel schon mal weg. Sie war nach wie vor die Verwirrtheit in Person. „Bitte vergiss‘ das einfach wieder. Es ist nicht mehr wichtig“, antwortete Mimi geknickt und setzte sich wieder. Kari drehte sich schwungvoll herum und ging vor ihr in die Hocke. „Und wieso nicht mehr? Ihr habt euch doch geküsst!“, untermauerte sie deutlich, in der Hoffnung Mimis Optimismus zu wecken. Mimi schnaubte nur und verdrehte die Augen. Es war ja schon süß, dass Kari sich so um sie kümmerte, aber es war hoffnungslos. Tai liebte Sora. Und nichts auf der Welt konnte das noch ändern. „Er hat mich nur geküsst, um jemand anderen eifersüchtig zu machen“, eröffnete sie ihr bitter und biss sich schmerzvoll auf ihre Unterlippe. Am liebsten wollte sie weinen, doch sie waren in der Schule und diese Blöße wollte sie sich wirklich nicht geben. Sie schluckte also den Schmerz hinunter und blickte in Karis verstörtes Gesicht. „Wie jemanden eifersüchtig machen? Ist er noch ganz dicht? Sowas ist doch gar nicht seine Art!“, regte sie sich auf, stand auf und stemmte die Hände in die Hüfte. „Bist du deswegen letztens nicht zur Nachhilfe gekommen?“ „Nein, das hatte…“ „Ey, ich fass‘ es nicht!“, unterbrach Kari sie und fuhr sich fahrig durch ihre Haare. „Und dann hat er sich bei mir noch darüber aufgeregt, dass du nicht gekommen bist. Ich glaube ich sollte wirklich mal mit ihm ein ernstes Wörtchen reden!“ „Was? Nein! Mir macht das wirklich nichts aus“, beteuerte sie, auch wenn es nicht der Wahrheit entsprach. „Aber er kann doch nicht…“ „Bitte Kari, es ist alles in Ordnung!“ „Aber du…“ „Mir geht es wirklich gut. Ich war wenn nur ein bisschen in ihn verknallt gewesen, mehr nicht! Aber das ist jetzt vorbei“, erläuterte sie felsenfest. Kari sah sie skeptisch an, hielt sich jedoch danach zurück. Sie hatte wohl gemerkt, dass Mimi nicht mehr darüber sprechen wollte. „Lass uns wieder zu den anderen gehen“, schlug Mimi vor und lächelte so überzeugend sie konnte. Sie wollte ihr beweisen, dass es ihr nichts ausmachte. Zum Glück hatte sie völlig vergessen zu fragen, wen er eifersüchtig machen wollte. Über die Sache mit Sora, Matt und der verkorksten Beziehung wollte sie noch weniger reden. Mimi musste einfach nach vorne schauen und ihre unglückliche Liebe endlich hinter sich lassen. _ Sie fragte sich, was sie hier überhaupt machte. Sogar ihre Mutter hatte sie angelogen und gesagt, sie würde sich mit Sora treffen. Und jetzt stand sie vor der Adresse, die sie ihr per SMS geschickt hatte. Sie wohnte in einem Mehrfamilienhaus und Mimi musste nicht lange suchen, bis sie ihre kleine Wohnung gefunden hatte. Sie betätigte die Klingel und wartete. Von drinnen hörte sie Geräusche und leises Fluchen, bis die Tür förmlich aufgerissen wurde. „Hallo“, begrüßte Noriko sie fröhlich und stand auf einem Bein. Sie hatte ihren rechten Fuß in der Hand und drückte mit einem schmerzverzerrten Gesicht darauf herum. „Alles in Ordnung?“ Mimi trat ein, während Noriko einbeinig zur Seite hampelte. „Ja klar, ich bin nur gestolpert und habe mir den Fuß etwas verknackst“, sagte sie locker. Sie drehte das Gelenk, das leicht knackte und stellte sich wieder auf beide Beine. „Entschuldige bitte die Unordnung. Wir sind wohl etwas chaotisch.“ Etwas chaotisch, war wirklich harmlos ausgedrückt. Mimis Augen weiteten sich, als sie einige Pizzakartons auf dem Couchtisch und einen Berg Wäsche auf dem Boden liegen sah. „Ach, ist doch alles gut“, log sie und schenkte Noriko ein aufmunterndes Lächeln. „Wir gehen am besten gleich in mein Zimmer! Ich habe etwas zu Essen bestellt“, erwiderte sie grinsend und zog Mimi an dem Chaos vorbei, direkt in ihr Zimmer. Wider Erwarten war ihr Zimmer sehr ordentlich. Die Wände waren weiß gestrichen und ein schlichter Holzboden mit einem großen grünen Teppich zierte ihr Zimmer. Generell war der Grünanteil in ihrem Zimmer sehr hoch und Mimi konnte sich schon denken, was ihre Lieblingsfarbe war. Auf dem Schreibtisch standen zwei Boxen mit chinesischem Essen. Eine Flasche alkoholfreien Sekt hatte sie direkt daneben platziert – mit zwei schönen Gläsern, auf denen Eulen abgebildet waren. Ihr Blick wanderte und blieb direkt vor einem kleinen Glaskasten stehen. Während Noriko sich die Flasche geschnappt hatte, nährte sich Mimi dem Kasten und musterte ihn argwöhnisch. Auf einmal schrie sie auf und klammerte ihre Handtasche fest an sich. Noriko zuckte kurz zusammen und blickte erschrocken zu ihr. „Was ist denn los?“ „DA!“, brüllte Mimi schrill und deutete auf den Glaskasten. Noriko stellte die Flasche wieder auf den Tisch und näherte sich ihr. „Das ist doch nur Gandhi! Meine Tarantel“, meinte sie locker und sah sie unbekümmert an. „D-Deine Tarantel?“, wiederholte Mimi unter Schock. „Warum hast du kein normales Haustier?“ „Hier sind größere Tiere nicht gestattet und so eine Tarantel kann auch süß sein. Soll ich sie mal rausnehmen?“, fragte sie euphorisch und grinste. „Bloß nicht!“, quietschte Mimi und hielt sich die Tasche vor ihr Gesicht. „Ansonsten springe ich freiwillig aus dem Fenster!“ „Ach stell dich nicht so an! Er ist wirklich niedlich, besonders wenn ich ihn über mein Gesicht krabbeln lasse.“ Mimi klappte augenblicklich der Mund auf. War sie im Irrenhaus gelandet? Wieso stand neben dem Schreibtisch eine beschissene Tarantel? Sie hatte es geahnt…es war ein großer Fehler sie ausgerechnet zu Hause zu besuchen. _ Geblieben war sie trotzdem. Allein schon, weil sie großen Hunger hatte und das Essen sie zum dableiben regelrecht überredete. Sie aßen gemeinsam, redeten aber nicht viel. Die Situation war nach wie vor komisch und auch sehr angespannt. Mimi hatte ihre Mutter angelogen, um überhaupt zu herkommen zu können. Sie fragte sich, wie sie wohl reagierte, wenn sie ihr die Wahrheit gesagt hätte. Und auch, wenn Mimi dachte, dass dieser Moment nicht noch schräger werden könnte, trat genau das Gegenteil ein. Mit gerunzelter Stirn lag sie auf dem Rücken. Unter ihr der grüne Teppich. Noriko lag ihr gegenüber, sodass ihre Köpfe fast nebeneinander lagen. „Und was soll das jetzt?“ „Lass dich doch einfach mal überraschen und entspann‘ dich!“ „Entspannen? Neben mir ist eine gottverdammte Tarantel“, meinte sie hysterisch und drehte den Kopf zum Glaskasten. Noriko lachte nur. „Ja, in einem gottverdammten Terrarium! Und jetzt atme einfach tief ein und wieder aus!“ Mimi legte ihren Kopf wieder gerade und legte ihre Hände auf ihren Bauch, der sich wirklich sehr voll anfühlte. Sie hatte Bedenken, je wieder aufstehen zu können. Dennoch wollte sie wissen, was diese bekloppte Aktion überhaupt sollte? Da lagen sie nun, auf dem Boden, Kopf an Kopf. Und das nur, weil Noriko ein blödes Spiel spielen wollte. Dafür waren sie wirklich schon zu alt und Mimi zweifelte allmählich an ihrem gesunden Menschenverstand, der wohl aussetzte, als sie sich auf den Boden gelegt hatte. „Was ist das denn jetzt für ein Spiel?“, fragte sie ungeduldig und wippte mit unruhig mit ihrem rechten Fuß, den sie über den Linken gelegt hatte. „Man nennt es das ‚Frage-Antworten-Spiel‘. Ist echt lustig, ich hab‘s mit meinen Freunden schon öfter gespielt“. „Und was macht man da, außer faul auf dem Rücken zu liegen?“ „Man stellt eine Frage, die der andere beantworten muss“, erklärte sie, „Ist ganz simple. So ‘ne Art Kennenlernspiel“. „Aha“, brachte sie nur hervor. „Und wir machen das weil?“ „Naja, wir kennen uns nicht sonderlich gut und wir müssen sechszehn Jahre aufholen. Das war irgendwie die einfachste Lösung.“ Sie kicherte, während Mimi einen genervten Laut von sich gab. Sie war also im Kindergarten gelandet. Es fehlte wirklich nur noch die Fingerfarbe und einen Erzieher, der ihre Bilder als verstörend und beängstigend einstufte, weil sie Strichmännchen mit Schlingen um den Hals malte. „So, dann fang mal an deine erste Frage zu stellen“, entgegnete Noriko begeistert. Mimi merkte förmlich, dass sie auf eine von ihr gestellte Frage wartete. Sie überlegte kurz und entschied sich vorerst bei diesem komischen Spiel mitzumachen. „Was ist deine Lieblingsfarbe?“, fragte sie, obwohl es eigentlich offensichtlich war. „Was ist das denn für eine blöde Frage? Grün, das sieht man doch.“ „Oh, tut mir leid, ich habe nicht gewusst, dass es auch blöde Fragen gibt“, antwortete Mimi etwas schnippisch und verschränkte die Arme vor der Brust. „Das war zu offensichtlich. Da hättest du eher sowas wie ‚Bist du noch Jungfrau‘ oder so ähnlich Fragen sollen. Etwas nicht Ersichtliches.“ Mimi grinste. „Und bist du´s noch?“ „Bin ich was?“ „Na, Jungfrau.“ „Ähm…naja, also bisher…“ „Also, ja“, antwortete Mimi für sie. „Okay, das war eine dumme Frage. Was ist dein Lieblingsessen?“, versuchte Noriko vom Thema abzulenken, doch Mimi wäre nicht Mimi, wenn sie nicht nachbohren würde. „Also ich finde das Thema ziemlich interessant“, meinte sie nur und grinste vor sich hin. „Hattest du denn schon mal einen Freund?“ „Ähm, naja…nein. Also es ist kompliziert“, stammelte sie sich zurecht. Mimi drehte den Kopf zu ihr und zog die Augenbrauen zusammen. „Kompliziert? Also gibt es da jemanden?“ „Indirekt, aber das wird nichts“, meinte sie ernst und hatte ihren Blick immer noch starr an die Decke gerichtet. „Und warum nicht?“ „Ähm…naja, also…mir fällt es schwer, Menschen an mich ran zu lassen. Das liegt an der Krankheit. Krebs verändert einen eben.“ Mimi stockte kurz der Atmen, bevor schon die nächste Frage regelrecht auf ihrer Zunge brannte. „Wie war das damals so? Also mit dem Krebs…hattest du große Schmerzen?“ „Hey, du bist nicht dran! Niemand darf mehrere Fragen hintereinander stellen.“ „Tut mir leid“, entschuldigte sich Mimi und stellte ihre Frage zurück. „Was läuft da zwischen deinem Nachhilfelehrer? Letztens warst du ja nicht sonderlich gesprächig gewesen.“ Mimi stöhnte laut und hielt sich die Hände vors Gesicht. Eigentlich hätte sie damit rechnen müssen. „Es läuft gar nichts. Wir haben uns zwar letztens geküsst, aber er ist in eine andere verknallt“, ratterte sie hinunter. Sie hoffte wirklich, dass das Noriko als Antwort langte. „Aber du magst ihn, richtig?“ „Man darf nicht mehrere Fragen hintereinander stellen“, erinnerte sie sie. „Das war eine rhetorische Frage und wenn du schon so reagierst, scheint er dir ja viel zu bedeuten.“ „Er bedeutet mir absolut gar nichts. Jedenfalls nicht mehr“, beteuerte sie unglaubwürdig. „Schon klar“, meinte sie lachend. „So jetzt bist du wieder dran.“ _ Sie wusste nicht, wie lang sie schon dort lagen und sich versuchten jeweils nur eine Frage zu stellen. Es war schon ein komisches Spiel, bei dem man jedoch viel erfahren konnte. Mimi hatte mittlerweile einiges über ihre Halbschwester herausgefunden. Sie liebe das Buch Alice im Wunderland, dass sie nach einigen Aussagen schon zisch Mal gelesen hatte und fast auswendig kannte. Ihr Lieblingsessen war gebratener Reis mit selbst gemachter Gemüsesoße. In der Schule gehörte sie zu den Einser-Schülern und spielte Klavier. Sie war vielseitig talentiert, sodass Mimi sich schon fast durchschnittlich und langweilig empfand, wenn sie von sich erzählte. Das einzige, was sie gut konnte, war singen. In der Schule hatte sie große Probleme mit Mathe und seit sie aus Amerika zurückgekommen war, hatte sie auch große Probleme zu ihren Gefühlen und Emotionen zu stehen. Auch die Tatsache mit ihren Eltern versuchte sie mehr zu verdrängen, statt zu verarbeiten. Dennoch kamen sie schnell auf das eigentliche Thema zurück. Die Fragen waren unwichtig geworden. Es entstand ein Gespräch, das nicht bedrückender hätte sein können. Es drehte sich vor allem um ihre Eltern und um die Krankheit, die Noriko so sehr geprägt hatte. Mimi hörte in diesem Moment aufmerksam zu, traute sich kaum, sie zu unterbrechen, da sie Angst hatte, sie aus dem Konzept zu bringen. Hin und wieder stellte sie eine Frage oder steuerte etwas zum Gesagten bei. Es war eine schwierige Situation. Das wussten beide. „Was weißt du eigentlich über die Affäre?“, fragte Mimi auf einmal und presste die Lippen augenblicklich aufeinander. „Affäre würde ich das Ganze jetzt nicht nennen“, schwächte Noriko sofort ab. „Was? Aber meine Mutter meinte, dass sie von vielen so komische Geschichten gehört hat“, ergänzte Mimi verwirrt. „Naja, die drei haben wirklich viel Zeit zusammen verbracht und waren ziemlich gut miteinander befreundet gewesen. Da kommen schnell irgendwelche Gerüchte zustande, aber es war nur eine einmalige Sache und meine Mutter macht sich bis heute deswegen große Vorwürfe.“ Verblüfft schielte Mimi kurz zu ihr und war doch sehr überrascht. Nach einer Affäre hörte sich das wirklich nicht an. Dennoch konnte sie nicht verstehen, wie die beste Freundin ihrer Mutter überhaupt so etwas tun konnte. „Aber warum hat sie das überhaupt gemacht? Sie kannten sich doch schon ewig und haben so viel miteinander erlebt.“ „Es gibt nicht immer für alles eine logische Erklärung, aber ich glaube, dass Alkohol eine große Rolle an diesem Abend gespielt hat“, sagte Noriko nur. Doch Mimi konnte sich nicht vorstellen, dass das der einzige Grund für die gemeinsame Nacht gewesen war. „Meine Mutter glaubt, dass deine in meinen Vater verliebt war“, warf sie ein und wartete auf ihre Antwort. Noriko sagte erst nichts. Es dauerte einen Moment, bis Mimi den Klang ihrer Stimme vernahm. „Das kann schon sein, aber das ist Vergangenheit. Und ihr Leben war alles andere als leicht gewesen. Sie hatte wirklich genug andere Probleme gehabt.“ „Deine Krankheit, oder?“ „Naja, nicht nur. Sie stand plötzlich vollkommen alleine da“, antwortete sie tonlos. „Die Zeit war eben nicht einfach.“ Mimi nickte nur, obwohl sie eigentlich wusste, dass Noriko es nicht sehen konnte. Ihr Leben war so seltsam geworden. Alles ergab plötzlich überhaupt keinen Sinn mehr. Sie hatte das Gefühl, dass ihr der Boden unter den Füßen einfach weggerissen wurde. „Das war sicher schrecklich“, platzte aus ihr hervor. „Ich mein, erst wirst du krank und dann erfährst du sowas. Das ist doch nicht fair!“ „Das Leben hat nichts mit Fairness zu tun. Es ist eben manchmal ein Arschloch, aber trotzdem kann ich froh sein. Ich lebe ja schließlich noch“, erwiderte Noriko sanft. In Mimis Augen sammelten sich Tränen. Während sie sich über Kleinkram aufregte, kämpften andere wahre Schlachten. Noriko war schwer krank gewesen und hatte genau genommen zwei Väter verloren. „Hast du seitdem eigentlich nochmal mit deinem…naja du weißt schon.“ Mimi wusste nicht, wie sie ihn nennen sollte. Er war nicht ihr biologischer Vater, aber trotzdem hatte er sie sie jahrelang aufgezogen und wie seine eigene Tochter behandelt. „Nein“, murmelte sie leise. „Ich habe weder mit ihm, noch mit meinen Großeltern gesprochen, obwohl ich sie wohl gar nicht mehr so nennen sollte.“ Sie schwieg und man hörte sie einen undefinierbaren Laut von sich geben. Mimi drehte ihren Kopf zu ihr, konnte ihr Gesicht aber nicht erkennen, weil sie sich weggedreht hatte. Für einen Moment dachte sie, dass sie weinen würde. „Mit meiner Oma habe ich mich immer gut verstanden. Ich war ihr kleiner Liebling, bis sie ‚es‘ herausgefunden hatte.“ Ihre Stimme klang fest, aber dennoch spürte man, wie sehr sie sich quälte. „Sie war so wütend geworden. Hat teilweise japanische Wörter mit Englischen vertauscht. Sie ist Engländerin, weißt du?“ Mimi erinnerte sich dunkel daran, dass ihr so etwas Ähnliches bereits erzählt wurde. „Ich weiß gar nicht mehr, was sie alles meiner Mutter an den Kopf geworfen hat, aber an eine Sache erinnere ich mich genau“, raunte sie und Mimi merkte, wie sie sich schnell über ihr Gesicht fuhr. „An was denn? Hat sie etwas zu dir gesagt?“ „Ja.“ „Und was?“ „Das meine Mutter verschwinden soll und ihr ‚bastard child‘ mitnehmen sollte.“ Mimi stockte der Atem. „Das hat sie nicht im ernst gesagt?“ „Doch, ich glaube zwar eher, dass sie Kuckuckskind sagen wollte, aber dann ist das dabei rausgekommen.“ Die Brünette drehte sich abrupt herum und lag nun auf dem Bauch. Ungläubig starrte sie zu Noriko, die tatsächlich einige Tränen verdrückt hatte. Die Spuren waren noch ganz klar auf ihrem Gesicht zu erkennen. Sie konnte es nicht fassen, dass eine Großmutter so etwas sagen konnte. Klar, im Rausch der Wut sagte man viele Dinge, doch das ging weit unter die Gürtellinie. „Hast du daraufhin etwas zu ihr gesagt?“ „Nein.“ „Ich glaube, ich hätte ihr eine reingehauen. Sowas geht gar nicht“, plusterte sie sich auf, obwohl sie sich denken konnte, dass sie wohl keine ältere Frau schlagen würde. „Ich habe immer gehofft, dass sie es nicht so meint. Dass sie mich weiter lieben würde, aber das war wohl nur eine Wunschvorstellung“, meinte sie kleinlaut, setzte sich hin und stand zügig auf. Mimi blieb noch einen Moment auf dem Boden liegen und betrachtete sie wortlos. Sie fuhr sich ein paarmal mit dem Arm über ihr Gesicht. Danach drehte sie sich wieder zu ihr und setzte ein Lächeln auf. „Wollen wir vielleicht über etwas anderes reden. Das hier ist ganz schön deprimierend.“ „Kann ich verstehen“, flüsterte sie und beobachtete Noriko dabei, wie sie sich im Schneidersitz vor sie setzte. Auch Mimi setzte sich hin und legte ihre Arme auf ihre aufgestellten Beine. „Was hat dich eigentlich dazu bewegt hierher zu kommen? Abgesehen davon, dass ich dich genervt habe“, wollte sie wissen und sah sie mit großen Augen an. Mimis Puls beschleunigte sich auf einmal. Sie dachte wieder an ihre Mutter und das, sie sie belogen hatte. Warum sie hier war, wusste sie gar nicht so genau. Sie wusste nur, dass sie Noriko nicht böse sein konnte, da sie beide wohl im gleichen Boot saßen. Ihre Eltern hatten den Mist gebaut. Keiner hatte sie gefragt, ob sie geboren werden wollten. Es passierte einfach. Ob sie nun wollten, oder nicht. Das einzige, was Mimi jetzt schon wusste war, dass sie Noriko besser kennen lernen wollte. Nicht nur, weil sie ihre Schwester war. Sie konnte dieses Gefühl, dass sie in ihrer Gegenwart verspürte nicht beschreiben. Am Anfang war es eine Art Ehrfurcht, die Mimi vor ihr regelrecht erstarren ließ. Als sie Noriko damals kennen lernte, hatte sie etwas Einschüchterndes an sich, aber auch gleichzeitig etwas Interessantes, dass sie unbedingt näher kennen lernen wollte. Und jetzt? Jetzt sah sie langsam den Menschen, der in ihrem Inneren wohnte und so viel Schmerz durchmachen musste, dass sie sich von ihrer Stärke am liebsten eine Scheibe anschneiden wollte. Es war nicht nur reine Verbundenheit, wegen ihrer beschissenen Situation. Nein, es war mehr. Mimi wusste nur noch nicht, was es war. Sie sah ihr direkt in die Augen. Spürte den Schmerz, der sie tief im Inneren traf und ihren Körper einnahm. Man konnte ihn nicht lokalisieren, da er überall war und sich wie ihr Blut durch ihren Körper pumpte. Es zerriss sie. Ihr Kopf fühlte sich automatisch so leer und schwer an, sodass sie sich am liebsten hinlegen wollte. Keiner der beiden sagte etwas, nur lautlose Tränen liefen über Norikos Gesicht und ließen alles um sie herum ausblenden. Es existierten nur sie…in einer Welt zwischen Schmerz und Wut. Es wirkte so hoffnungslos, aber dennoch waren sie nicht allein. Sie hatten einander, auch wenn sie sich erst so kurz kannten. Doch ganz plötzlich war dieser intime Moment, den sie vor kurzem noch miteinander teilen, vorbei. Ein lautes Klopfen riss sie aus ihrer Trance zurück in die Wirklichkeit. Noriko schnellte mit dem Kopf herum und stöhnte. „Was will der den hier?“, grummelte sie und stand auf. Verwirrt blickte Mimi ihr nach und sah wie sie zu ihrem Fenster ging. Erst jetzt erkannte sie eine Hand, die immer noch gegen die Scheibe hämmerte. „Was machst du hier?“, fragte Noriko und riss das Fenster auf. Die Hand hielt sich am Fensterrahmen fest und man hörte sie leise mit der Person diskutieren, bevor Mimi das Gesicht eines dunkelhaarigen Jungens erkannte, der sich schwungvoll durch das Fenster hievte. Er saß kurz auf dem Fensterbrett, kam ins Straucheln und landete vor Norikos Füßen. „Tolle Landung“, kommentierte sie und half ihm auf. „Häng‘ du doch mal zwischen Feuerleiter und Fenster“, giftete er und hielt sich den Kopf. „Du kannst auch wie ein normaler Mensch klingeln.“ „Das wäre viel zu langweilig“, meinte er augenverdrehend und entdeckte Mimi. „Oh. Hi.“ „Hallo“, begrüßte sie ihn und wirkte immer noch irritiert. „Ist sie das?“, hörte sie ihn zu Noriko flüstern. Sie sah ihn nur böse an und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ja, aber ich frage mich jetzt ernsthaft, was du hier willst. Du kommst wirklich zu einem sehr unpassenden Zeitpunkt.“ „Wieso?“, wollte er wissen und setzte eine unschuldige Miene auf und sah zu Mimi, die misstrauisch die Situation beobachtete. Wer war dieser Kerl? Und warum kletterte er durch ihr Schlafzimmerfenster? „Sag mal, hast du geheult?“, warf er auf einmal in den Raum und Noriko fuhr sich fast schon ein wenig panisch durch ihr Gesicht, um mögliche Spuren zu beseitigen. „Nein! Wie kommst du auf so einen Mist?!“ „Naja, deine Augen sind gerötet und…“ „Chiaki hör‘ auf zu philosophieren“, unterbrach sie ihn schroff und drehte sich von ihm weg. „Ach ja, ich bin übrigens Chiaki“, stellte er sich fast schon etwas peinlich berührt vor und reichte Mimi ganz formell die Hand. „Mimi. Nett dich kennen zu lernen“, erwiderte sie langsam und bedacht, während sie seine Hand vorsichtig schüttelte. Irgendwie war er schon seltsam und es störte sie auch, dass er „ihren Moment“ kaputt gemacht hatte. Auch Noriko schien alles andere als begeistert zu sein. Ungeduldig tippte sie mit dem Fuß auf den Boden und schielte ihn giftig von der Seite an. „Was willst du hier?“, knurrte sie. „Ehm, ja also…“ „Chiaki!“ Ihre Stimme klang bedrohlich, sodass der Angesprochene leicht zusammenzuckte und leise vor sich hin lachte. Er war wohl doch verrückt. „Ich habe nicht gedacht, dass sie noch hier ist“, flüsterte er, doch Mimi konnte ihn genau verstehen. Beleidigt verschränkte sie die Arme vor der Brust und gab einen angesäuerten Ton von sich. Was bildete sich dieser Typ überhaupt ein? Er war doch unangekündigt durch ihr Zimmerfenster gefallen! Sie hatte wie ein normaler Mensch an der Tür geklingelt. „Du kannst hier nicht immer auftauchen, wenn es dir gerade in den Kram passt“, tadelte Noriko ihn mit strengem Blick. „Ja ich weiß, aber ich wollte fragen, ob du morgen mitkommst und dein Handy war halt aus.“ „Und das ist ein Grund durch das Fenster in mein Zimmer einzusteigen?“ „Ich wollte auch fragen, wie es heute so gelaufen ist“, gab er kleinlaut zu und fixierte Mimi kurz mit seinem Blick. „Dir ist schon klar, dass ich dich hören kann?!“, erinnerte sie ihn schnippisch und stand auf. Vielleicht war es wirklich Zeit langsam zu gehen. „Tut mir leid, manchmal bin ich etwas ungehobelt“, sagte er lachend und verschränkte danach die Arme hinter seinem Kopf. „Und kommst du morgen mit?“, fragte er an Noriko gewandt. „Vielleicht will sie ja auch mitkommen.“ „Chiaki, ich habe doch gesagt, dass ihr…“, zischte sie durch die Zähne und sah aus, als würde sie am liebsten gleich explodieren. „Wohin wollt ihr morgen denn gehen?“, fragte Mimi auf einmal und unterbrach an anstehende Streitgespräch abrupt. „Ähm…naja…“, stotterte Noriko herum, als Chiaki plötzlich das Reden übernahm. „Wir wollen morgen eine Freundin besuchen. Ihr Vater hat einen Club Schrägstrich Cocktailbar in der Neustadt“, klärte er sie auf und grinste. „Interesse?“ Mimi sah die beiden an, so als hätte er etwas Unverständliches gefragt. Doch seine Frage war klar definiert. Allerdings wusste Mimi noch nicht, ob sie schon dazu bereit war, Norikos Freunde kennen zu lernen. Bestimmt wollte sie dann auch ihre Freunde kennenlernen, die von all dem noch gar nichts wussten. Mimi hatte auch nicht vorgehabt, es ihnen in der nächsten Zeit zu erzählen. Sie wollte es vorerst als eine Art Geheimnis betrachten. Zwischen ihr und Noriko. Doch anscheinend wussten ihre Freunde bereits Bescheid. Mimi hielt für einen Moment die Luft an und überlegte, was sie nun antworten sollte. War sie schon bereit dazu? _ Kurz nach Mitternacht kam sie zu Hause an und stellte fest, dass der Fernseher immer noch lief. Sie nährte sich leichtfüßig der Couch und sah, dass ihre Mutter eingeschlafen war. Obwohl ihre Augen bereits geschlossen waren, erkannte Mimi im Flimmerlicht des Fernsehers, dass sie weint haben musste. Neben ihr lagen zwei Tafeln Schokolade und eine Flasche Sekt, die zur Hälfte geleert wurde. Ihr schlechtes Gewissen wuchs ins Unermessliche. Sie hatte sie nicht nur angelogen, sondern traf sich ausgerechnet mit Noriko – der Grund, warum sie ihren Vater rausgeworfen hatte. Sie schluckte. Das Gefühl ihre Mutter zu hintergehen, drängte sich in den Vordergrund. Doch war es so verkehrt, einen Menschen besser kennen lernen zu wollen, der mit einem verwandt war? Sie hatte sich immer eine Schwester gewünscht. Schon als Kind, gab sie ihren Puppen immer Namen und stellte sich vor, wie es wäre eine Schwester zu haben. Jetzt hatte sie eine. Wenn auch unfreiwillig. Aber sie war nun mal da und Mimi wollte sie besser kennen lernen. Aus diesem Grund hatte sie für morgen zugesagt. Leise schnappte sie sich die Fernbedingung und schaltete den Fernseher aus. Danach nahm sie eine braune Wolldecke und deckte damit ihre Mutter zu. Sie fuhr ihr sanft durch ihre hellbraunen Haare und merkte, wie sie sich sachte bewegte. Schnell zog sie die Hand zurück, da sie sie wirklich nicht wecken wollte. Einen Moment blieb sie noch im Zimmer stehen, bevor sie behutsam die Treppe hinauf schritt, in ihr Zimmer tapste und sich auf ihr Bett fallen ließ. Kapitel 23: Chaotische Zusammenführung -------------------------------------- Das Leben bestand aus Chaos. Purem Chaos, das sich aus den unterschiedlichsten Situationen, Möglichkeiten, Hindernissen und Wegabzweigungen zusammensetzte. Jedenfalls dachte sie das. Oft. Schon wieder hatte sie irgendeine kleine Geschichte erzählt, um heute Abend weggehen zu können. Sie versank im Sumpf der Lügen. Von ihrer Aufrichtigkeit war wirklich nicht mehr viel übrig geblieben. Gestern hatte sie bereits erzählt, sie würde sich mit Sora treffen, um ein wenig ihre Probleme vergessen zu können. Ihre Mutter hatte ihr geglaubt. Sie brauchte ebenfalls Zeit für sich. Ihre eigene Therapie, die zurzeit aus Schokolade, Alkohol und gestern wohl auch aus Rauchen bestand. Das Päckchen hatte sie auf der Terrasse gefunden. Kurz nach dem Frühstück war ihre Mutter auf diese verschwunden und steckte sich eine Kippe an. Mehrfach zog sie genüsslich daran. Ihre Augen waren leicht geschwollen und ihre Haare standen zu Berge. Die Verzweiflung stand ihr überhaupt nicht ins Gesicht geschrieben, schoss ihr sofort durch den Kopf als sie sie so sah, getrieben von purem Sarkasmus, der sich durch ihre Gedankengänge zog. Es war wirklich lächerlich. Wenn ihr Vater sie nur sehen könnte, was er ihr angetan hatte. Doch auch sie fühlte sich keinen Deut besser. Warum konnte sie ihr nicht sagen, dass sie sich mit ihrer Schwester traf? Hatte sie solche Angst vor ihrer Reaktion? War es nicht normal, einen Menschen besser kennen lernen zu wollen, der einem biologisch so nah stand? Wieso fühlte sich in letzter Zeit alles so falsch an? Glück? Das kannte sie nicht mehr. Und jetzt war auch Mimi ausgerechnet wieder auf dem Weg zu ihr. Norikos Mutter war wieder arbeiten und würde erst am frühen Morgen zurückkommen. Sie hatten sich zum Kochen bei ihr verabredet. Ihre Freunde wollten ebenfalls kommen. Danach besuchten sie einen Club, der sich in der Neustadt befand. Sie war schon sehr auf ihre Freunde gespannt. Chiaki hatte sie bereits kennengelernt, als er durch ihr Fenster gefallen war. Auch wenn sie ihn anfangs etwas seltsam fand, schien er einen netten Eindruck zu machen. Wie gestern stand sie wieder vor ihrer Tür und wartete bis Noriko ihr öffnete. „Hallo, da bist du ja endlich! Die anderen sind schon da“, begrüßte sie sie noch hibbeliger als gestern und zog sie förmlich hinein. Mimi zog schnell die Schuhe aus und folgte ihr wortlos in die Küche. Sie war ganz schön angespannt, auch wenn man es ihr äußerlich kaum ansah. Ihre Finger zitterten ein wenig, als den kleinen Raum betrat, der bereits gut gefüllt war. Chiaki, das einzige bekannte Gesicht, saß auf der Arbeitsplatte und begrüßte sie ebenfalls lauthals, sodass die anderen beiden Personen im Raum direkt auf sie aufmerksam wurden. „Hallo, ich bin Mimi“, stellte sie sich knapp vor und bemerkte wie sie von den beiden Jungs am Tisch auffällig gemustert wurde. Der Jüngere der beiden lächelte sie herzlich an und Mimi sah, dass er etwas kleines Schwarzes in der Hand hielt. Sie konnte allerdings nicht erkennen, was es war. Der Ältere nickte ihr nur desinteressiert zu und musterte sie aus dem Augenwinkel heraus. Mimi spürte deutlich seine Blicke auf ihrer Haut, sodass sie sich fast schon Dauerbeobachtet fühlte, als sie sich setzte. Der Jüngere hingehen schenkte ihr seine ganze Aufmerksamkeit. „Hey, ich bin Yasuo“, erklang seine glockenhelle Stimme. In seiner Hand hielt er immer noch den schwarzen Gegenstand, den er plötzlich auf sie richtete. Es war eine Handkamera. Das Blinken signalisierte ihr, dass er sie gerade aufnahm. „Ähm, nett dich kennen zu lernen?“, sagte sie, formulierte es jedoch mehr als Frage. „Was soll die Kamera?“ Mimi hielt augenblicklich das Objektiv zu, während Yasuo nur eine Schnute zog. „Er filmt gerne“, warf Noriko ein und grinste leicht. „Alles und jeden.“ „Interessant“, antwortete Mimi nur und sah zu ihnen. „Keine Sorge, man gewöhnt sich schon daran“, meinte der andere und verschränkte die Arme vor der Brust. Seine Stimme klang sehr dunkel und männlich. Ein bisschen erinnerte Mimi sie an Tais, doch ihn versuchte sie zurzeit gänzlichen aus ihren Gedanken zu verbannen. „Ich bin übrigens Masaru. Der kleine Kamerafreak ist mein kleiner Bruder“, meinte er kühl und klappte seine Kamera zu. „Hey, ich war noch nicht fertig“, protestierte er. „Doch bist du. Siehst du nicht, dass sie dich schon komisch anstarrt?“ Er zeigte mit seinem Kinn in Richtung Mimi, die sich am liebsten wünschte, woanders zu sein. Mit sowas hatte sie nun wirklich nicht gerechnet. Sie wusste jetzt schon, dass sie ihre Schwierigkeiten haben würde, sich mit den anderen auseinander zu setzen. Es war wie eine Eingebung. Der erste Eindruck, der ihr diesmal so gar nicht zusagte. _ Nach einer Stunde war das Eis immer noch nicht gebrochen. Sie unterhielt sich ein wenig mit Noriko, die allerdings hauptsächlich am Herd stand und auf das Essen aufpasste, dass sie gemeinsam zubereitet hatten. Chiaki klebte förmlich an Norikos Seite und plauderte locker mit ihr, während Mimi mit dem Eisblock und dem Kamerafreak an einem Tisch saß. Immer wenn sie ein Gespräch anfangen wollte, zog es sich wie Kaugummi. Masaru gab ihr nur knappe Antworten, während Yasuo ihr am liebsten seine ganze Lebensgeschichte erzählen wollte. Mittlerweile hatte sie herausgefunden, dass Chiaki, Masaru und Noriko die gleiche Klasse und das Schulorchester besuchten, dass auch Yasuo mit seiner Anwesenheit beglückte. Sie konnte kaum mitreden und hatte irgendwie auch das Gefühl, dass Masaru sie die ganze Zeit prüfend musterte. Mimi war richtig erleichtert, als Noriko sie darum bat, gemeinsam mit ihr den Tisch im Wohnzimmer zu decken. Sie stellte die Teller auf den Tisch, während Noriko das Besteck nebendran legte. „Du sag‘ mal, hab‘ ich was falsch gemacht?“ „Wieso?“, fragte Noriko überrascht und legte den letzten Löffel hin. Sie sah Mimi verwirrt an und hatte anscheinend keinen blassen Schimmer, von was sie überhaupt sprach. „Naja, ich habe nicht so das Gefühl, dass ich mit denen so richtig warm werde.“ „Ach das.“ Noriko winkte ab und legte in die Mitte des Tisches einen grauen Topfuntersetzer. Sie hatten Chili gekocht, das einer der Jungs gleich rausbringen wollte. „Die sind am Anfang immer so. Wenn wir später was trinken gehen, lockert sich die Stimmung schon auf“, versicherte Noriko ihr zuversichtlich. „Ich hoffe du hast Recht. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass mich dieser Masaru nicht so mag.“ „Masaru ist wie eine Zwiebel“, meinte sie nur und lachte leise. „Du musst einfach eine Schicht nach der anderen ablösen, um sein Innerstes zu finden.“ „Klingt ja nach viel Arbeit“, antwortete Mimi bedrückt. „Ach was, mit Wodka ist alles möglich“, witzelte sie und rief die Jungs zu Tisch. Chiaki hatte mit zwei Topflappen den hohen Topf in der Hand, während Masaru ihm die Küchentür aufhielt. Er stellte den Topf auf den Tisch und setzte sich, wie die anderen auf einen freien Platz. Mimi stand etwas teilnahmslos nebendran, besonders als sie feststellte, dass ausgerechnet nur noch neben Masaru ein Platz frei war. Sie starrte einige Augenblicke auf den Stuhl neben ihn und überlegte, ob sie sich wirklich neben den Eisblock setzen wollte. Er fing ihre Blicke auf und verzog das Gesicht. „Du kannst dich ruhig setzen. Ich beiße schon nicht“, murrte er und verdrehte dabei die Augen. Mimi lächelte gekünstelt und setzte sich einfach. Sie hoffte, dass Essen stillschweigend über sich ergehen lassen zu können. Doch sie hatte nicht mit Yasuos Neugierde gerechnet. „Und findest du es komisch jetzt ‘ne Schwester zu haben?“ „Wie bitte?“ Mimi ließ den Löffel Chili sinken. „Naja, kommt doch ziemlich überraschend oder? Hast du mit deinem Vater eigentlich noch mal geredet?“, bohrte er weiter und Mimi ließ den Löffel in ihren Teller sinken. „Nein?! Aber ich wüsste jetzt wirklich nicht, was dich das angeht“, erwiderte sie bissig, doch Yasuo schien ihre Reaktion nicht abzuschrecken. „Ich würde das echt seltsam finden. Also, wenn ich plötzlich noch einen Bruder hätte.“ Mimis Miene veränderte sich plötzlich. Sie wurde ganz starr und ihr Gesicht wurde blass. Natürlich fand sie es seltsam. Sie war sechszehn Jahre ein Einzelkind gewesen und kam mittelweile auch ganz gut damit zurecht. Und die Tatsache, dass ihr Vater sich seither nicht mehr bei ihr gemeldet hatte, belastete sie schon sehr. Sie presste die Lippen aufeinander und starrte zu Yasuo, ohne ihn richtig anzusehen. Alles fühlte sich plötzlich so unreal und komisch an. „Yasuo, es langt“, ertönte die Stimme von Masaru und riss Mimi wieder zurück in die Realität. Sie drehte den Kopf zum ihm und bemerkte seine ernste Miene. Auch Chiaki und Noriko waren ganz still geworden und hatten den Kopf gesenkt. „Aber ich will es doch nur wissen“, entgegnete er unbekümmert und zuckte nur verständnislos mit den Schultern. „Du solltest deine Nase besser nicht in Sachen stecken, die dich nichts angehen.“ „Das sagt gerade der Richtige“, murmelte er eingeschnappt und schaufelte sich einen extra vollen Löffel Chili in den Mund. Mimi sah zu Noriko, die ihr einen entschuldigenden Blick schenkte. Sie nickte nur kurz, wandte sich danach wieder ihrem Essen zu und genoss die Stille. _ Der Bass drang durch ihren Körper und brachte ihn zum pulsieren. Sie stand an der Bar und nippte an ihrem Getränk. Etwas niedergeschlagen sah sie Noriko und Chiaki beim Tanzen zu. Masaru hatte sie aus den Augen verloren. Es war genau das passiert, was sie befürchtet hatte. Die Gruppe hatte sie abgestoßen. Jedenfalls für den Moment. Noriko hatte sie ja schließlich gefragt, ob sie mit tanzen wollte. Doch sie brauchte ein paar Minuten für sich. Sie waren schon über eine Stunde hier. Zuvor hatten sie Masarus Bruder nach Hause gebracht, der sie auf dem ganzen Weg nervte, warum er nicht auch mit den Club durfte. Er war zwar erst fünfzehn, doch Mimi hatte das Gefühl, dass sein Alter nicht als ausschlagbarste Kriterium war. Yasuo war einfach eine Nervensäge, wie es im Buche stand. Er fragte tausend Sachen auf einmal und erwartet meist eine Antwort darauf. Und dann filmte er unaufhörlich mit, was Mimi innerhalb kürzester Zeit bereits auf die Palme brachte. Wahrscheinlich hatte Masaru deswegen seinen Bruder nach Hause gebracht. Vielleicht war er auch ein Draufgänger, der nur Reihenweise Mädels abschleppen wollte und seinen nervigen kleinen Bruder einfach nicht dabei haben wollte. Mimi versuchte ihn in den Massen zu entdecken. Doch das gedämpfte Licht und die hohe Anzahl Menschen machten es ihr unmöglich ihn zu finden. Sie schweifte mit den Augen wieder zu Noriko und Chiaki, die intensive Blicke miteinander tauschten. Mimi sah wie er seine Hände auf ihre Hüfte legte und sich zum Beat bewegte. Allmählich fragte sie sich wirklich, was zwischen den beiden lief. Sie spürte einige Spannungen, doch sie hatte sich noch nicht getraut nachzufragen. Einen Moment später bemerkte sie, dass Noriko seine Hände sanft von ihren Hüften schob und den Abstand zwischen ihnen vergrößerte. Mimi runzelte die Stirn und schüttelte nur den Kopf. Anscheinend war sie doch nicht an ihm interessiert, oder war er etwa der Junge, von dem sie letztens erzählt hatte? Komisch, laut ihren Aussagen schien sie ihn doch zu mögen, warum machte sie das nur? Angestrengt sah sie zu ihnen und merkte, dass Noriko auf sie zukam. „Hey, willst du jetzt vielleicht mittanzen?“, fragte sie laut, um gegen die hämmernde Musik anzukommen. „Gleich, ich trink‘ das noch aus“, meinte sie und hob ihr Glas. Noriko nickte und gesellte sich zu ihr. Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt und biss sich auf die Unterlippe. Ihr Blick wirkte angespannt und war nach vorne fixiert. Mimi folgte ihm und erkannte, dass Noriko Chiaki anstarrte, der gerade mit einem anderen Mädchen tanzte. „Stört es dich?“, wollte Mimi grinsend wissen. „Kein bisschen“, antwortete Noriko schnippisch und drehte den Kopf zu ihr. Sie fing ihr Grinsen auf und verdrehte nur die Augen. „Es ist kompliziert.“ Sie drehte sich zum Barkeeper und bestellte sich ein Wodka-O, während Mimi an ihrem Strohhalm genüsslich schlürfte. Jetzt würde es wohl doch noch interessant werden. Sie liebte es sich um Probleme zu kümmern, die nicht ihre eigenen waren. „Und das heißt? Stehst du auf ihn?“ „NEIN!“, brüllte sie und nahm ihren Wodka-O entgegen. „Also doch“, schlussfolgerte Mimi und sah sie triumphierend an. „So ist das nicht“, grummelte sie und sah in eine komplett andere Richtung. „Hast du vielleicht Masaru gesehen? Oder lebt er wieder seine Sexualität aus?“ Mimi zog die Augenbraue nach oben. Seine Sexualität? Er war wohl doch das, was man als männliche Schlampe bezeichnete. Hätte sie sich auch gleich denken können. Irgendwie erinnerte er sie an Matt. Und er war ja schließlich auch kein Unschuldslamm. Mimi sah wieder zu Noriko, die ihre Augen durch die Menge huschen ließ. Sie zuckte daraufhin nur kurz mit den Achseln und seufzte leise. „Also manchmal ist er wirklich unmöglich“, meinte sie kopfschüttelnd. Mimi stocherte hingegen mit ihrem Strohhalm in ihrem Glas herum und blickte lustlos in die Menschenmasse. _ Eigentlich hatte sich Mimi den Abend anders vorgestellt. Noriko war den Rest des Abends schlecht drauf gewesen, bis Chiaki sie erneut zum Tanzen aufforderte und sie wie eine heiße Kartoffel fallen ließ. Missmutig stand sie noch immer an der Bar, kam sich wie bestellt und nicht abgeholt vor. Von Masaru fehlte immer noch jegliche Spur. Auch die Freundin, die sie hier treffen wollten, war bisher noch nicht aufgetaucht. Sie fühlte sich deplatziert. Schon den ganzen Abend hatte sie das Gefühl nicht dazuzugehören. So als würde sie als Einzige gegen den Strom schwimmen. Da konnte sie doch nur verlieren. Ihr Blick wurde immer trauriger, je länger sie Noriko und Chiaki beobachtete. Wie sehr wünschte sie sich, mit Tai auch nochmal so eng tanzen zu dürfen? „Bist du hier festgewachsen?“, fragte sie eine tiefe Stimme und ließ sie zusammenfahren. Sie drehte den Kopf und erblickte einen gutgelaunten Masaru, der mit einem Bier direkt neben ihr stand. Mimi hatte ihn gar nicht bemerkt. „Nein?! Wie kommst du darauf?“, erwiderte sie ausweichend und zog angestrengt die Augenbrauen zusammen. „Naja seit wir hier sind, stehst du schon an der Bar“, stellte Masaru trocken fest und sah kurz zu Noriko und Chiaki. „Sag mal beobachtest du mich etwa?“, fragte Mimi skeptisch. Masaru grinste nur. „Möglich“. Er trank den letzten Schluck seines Bieres und stellte die leere Flasche auf der Theke ab. „Willst du nicht mal tanzen oder so?“ „Ich...ähm“, stammelte sie und drehte ihr leeres Glas in ihrer Hand. Normalerweise würde sie sich sofort auf die Tanzfläche stützen, aber es wimmelte von Paaren, die sich verliebt anlächelten und sich zeitgleich die Zunge in den Hals steckten. Dafür hatte sie wirklich keinen Nerv. „Stell doch jetzt mal das dämliche Glas ab.“ Masaru nahm es ihr aus der Hand und stellte es zu seiner leeren Bierflasche. „Na los! Gehen wir tanzen“, schlug er vor und hielt ihr seine Hand hin. Mimi zögerte einen Augenblick und starrte ihn hilflos an. Vor ein paar Stunden wollte er kaum mit ihr reden und jetzt wollte er mit ihr tanzen? Irgendwas war hier gewaltig faul. Deutlich spürte sie seine Blicke auf ihrer Haut, die sie dazu veranlassten, seine Hand zu ergreifen und sich auf die Tanzfläche mitziehen zu lassen. Die Menschenmassen drückten sie etwas näher zusammen, sodass Mimi vor seiner Nähe etwas Angst bekam. Das letzte Mal, als sie einem Jungen so nah war, ging es gewaltig in die Hose, auch wenn sie erst im Nachhinein erfuhr, was eigentlich für ein Spiel gespielt wurde. Mimi sah Masaru tief in seine grünen Augen und hier Herz begann leicht schneller zu schlagen. Der Beat durchströmte ihren Körper und sie begann sich langsam mit ihm zu bewegen. Er bewegte sich genau im Takt, was Mimi signalisierte, das er ein gutes Rhythmusgefühl haben musste. Die Arme ließ er locker neben seinem Körper baumeln und machte keinerlei Anstalten, sie näher an sich zu drücken. Vielleicht war es nur Taktik, vielleicht hatte er auch schon eine andere klar gemacht, und wollte diese nur ein wenig eifersüchtig machen. Sie sah sich gespannt um, erkannte jedoch kein Mädchen, das sich grün und blau zu ärgern schien. Mittlerweile hatte Masaru sie noch etwas näher an sich herangezogen und hatte seine eine Hand locker auf ihrer Hüfte platziert und bewegte sich mit ihr im Takt. „Sag mal bist du irgendwie schlecht gelaunt oder so?“, brüllte er schon fast, um gegen die Musik anzukommen. Mimi richtete ihren Blick wieder auf ihn und sah ihn etwas erschrocken an. „Nein! Wie kommst du denn darauf?“ „Naja dein Gesicht verrät schon einiges“, erklärte er grinsend und drehte sie plötzlich. Vollkommen überrascht sah sie ihn an, als sie vor ihm zum Stehen kam. „Also du warst auch nicht sonderlich gut gelaunt“, stellte sie nüchtern fest. „Du hast mich die ganze Zeit so komisch angeguckt und kaum mit mir geredet.“ Sie klang fast schon ein wenig beleidigt, was Masaru sehr zu amüsieren schien. „Sorry, war nicht so gemeint, aber irgendwie passt dein Aussehen nicht unbedingt zu deinem Charakter.“ Mimi blieb abrupt stehen. „Wie bitte?“, fragte Mimi empört und sah an sich hinunter. Sie trug ein knielanges pinkes enges Kleid. Dazu eine einfache filigrane Kette in Form des Unendlichkeitssymbols, die ihr Vater ihr ebenfalls mal geschenkt hatte. Auch ihre schwarzen Heels mit Absatz passten optisch perfekt zu dem restlichen Outfit. Masaru zog sie ein wenig zur Seite, damit sie die anderen auf der Tanzfläche nicht behinderten. Mimi hatte mittlerweile die Arme vor der Brust verschränkt und sah ihn argwöhnisch an, so als würde sie auf eine Erklärung von ihm warten, die nur wenige Momente später folgte. „Naja, guck dich mal an! Alles passt perfekt zusammen, so als wärst du wie aus dem Ei gepellt. Aber du wirkst irgendwie sehr unsicher auf mich, obwohl du es versuchst zu verstecken.“ „Im Ernst?“ „Nein, im Spaß“, erwiderte er lachend. „Als ich dich das erste Mal gesehen habe, dachte ich mir ‚Oh Gott, was ist das für eine eingebildete Zicke‘, aber du scheinst wohl anders zu sein, wie es auf den ersten Blick rüberkommt.“ „Das hast du gedacht, als du mich heute das erste Mal gesehen hast?“, hakte sie verunsichert nach. Sie hätte nicht gedacht, dass sie so rüberkommen würde. Dabei hatte sie doch eigentlich gar nichts Schlimmes gemacht. Dachte sie jedenfalls. Masaru lehnte sie lässig gegen den Stehtisch. Seine Augen blitzen auf, so als wollte er versuchen, ihr etwas mitzuteilen. Mimi runzelte die Stirn, um ihm zu signalisieren, dass sie nicht verstand, auf was er hinaus wollte. „Ich war mit Noriko damals in dem Club gewesen. Da wo ihr ineinander gelaufen seid. Hast sie wirklich ganz schön angezickt!“ „Du warst da?“, fragte sie verblüfft und erinnerte sich dunkel daran, dass sie einen Jungen gesehen hatte, der Norikos Namen damals gerufen hatte. Wenn sie sich an ihren damaligen Auftritt zurückerinnerte, konnte sie verstehen, warum er sie so komisch gemustert hatte. Sie glich wirklich einem typischen verwöhnten Einzelkind, das alles in den Po geschoben bekam. Mimi lächelte schwach, verzog danach allerdings das Gesicht. Was hatte sie sich damals nur dabei gedacht, eine für sie wild fremde Person so dumm anzumachen. Es war doch nur ein dämliches T-Shirt, das ihr eigentlich gar nicht so viel bedeutet hatte. „Hey, mach‘ dir keinen Kopf. Ist Vergangenheit“, ermutigte er sie und legte sanft seine Hand auf ihre Schulter. „Mach ich mir aber“, murrte sie und wich seinem Blick aus. „Dass ich so rüberkomme…hätte ich jetzt nicht gedacht.“ „Ach komm, wenn man dich näher kennen lernt, merkt man ja, dass der erste Eindruck nicht stimmt“, versuchte er die Situation zu retten. Doch wer wollte sie noch kennenlernen, wenn sie wie eine eingebildete Prinzessin rüberkam? Kein Wunder, dass Tai lieber Sora wollte, statt sie. „Wollen wir nochmal auf die Tanzfläche gehen?“ Masaru sah sie herausfordernd an, doch ihr war die Lust komplett vergangen. „Nein, ich glaube, ich will lieber noch was Trinken“, murmelte sie und wandte sich von ihm ab. Sie merkte nicht sofort, dass er ihr ohne weiteres gefolgt war. _ Missmutig blickte sie ihr Gegenüber an und hatte ihren Kopf auf ihrer Handfläche abgestützt. „Du kann ruhig wieder tanzen gehen, du brauchst dich nicht mit mir hier zu langweilen“, meinte sie und senkte ihren Blick. Beide hatten einen Platz an der Bar ergattert und sich jeweils ein Getränk bestellt, dass Mimi schon zur Hälfte ausgetrunken hatte. „Ich glaube, es wäre nicht so Gentleman-like dich hier alleine sitzen zu lassen“, antwortete er lachend und nippte an seinem Bier. „Wie großzügig von dir“, erwiderte sie tonlos und blickte zu Noriko und Chiaki, die engumschlungen miteinander tanzten. „Sag‘ mal, was läuft eigentlich zwischen denen? Ich versteh‘s nicht.“ Sie deutete kurz in Richtung Tanzfläche, fixierte sich dann aber wieder relativ schnell auf Masaru, der sie wissend ansah. „Naja, ich würde ja mal behaupten, dass beide voll verknallt ineinander sind.“ „Und warum sind sie dann nicht zusammen und machen so einen komischen Eiertanz?“, fragte sie leicht gereizt. Sowas konnte sie nicht verstehen. Wenn beide doch das gleiche füreinander empfanden, warum waren sie noch nicht zusammen? Immerhin schlich er sich ja schon nachts zu ihr ins Zimmer. „Ist alles nicht so einfach“, lenkte Masaru ein. „Sie lässt nicht gerne Leute so nah an sich ran.“ „Wegen ihrer Krankheit?“, mutmaßte Mimi und legte den Kopf leicht schräg. „Nicht nur“, antwortete Masaru gedankenverloren. Er nahm einen kräftigen Schluck seines Biers und stellte die Flasche geräuschvoll auf der Theke ab. „Die Sache mit ihrem Vater ist schon nicht ganz einfach.“ Mimi wurde hellhörig. „Ihr leiblicher Vater hat sie nie anerkannt und der Mann, der sie jahrelang aufgezogen hat, will sie nicht mehr sehen. Da hätte ich auch meine Probleme, obwohl mein Vater auch nicht viel besser ist“, warf er unbedacht ein. Erst nach und nach realisierte er seine Worte. Mimi schluckte und merkte, dass ihre Augen anfingen zu brennen. Tränen stiegen auf, doch bahnten sich noch nicht ihren Weg in Richtung Freiheit. Sie fuhr sich schnell über ihre Augenpartie und schniefte kurz. „Tut mir leid, das war unpassend“, räumte er ein und starrte sie an. „Nein, e-es war die Wahrheit.“ „Wie kommst du eigentlich damit klar?“, wollte er wissen und sah sie interessiert an. Mimi blickte in die andere Richtung und versuchte die erneut aufkommenden Tränen zu unterdrücken. Dieser Abend war deprimierender als sie eigentlich dachte. „Es geht“, sagte sie, nachdem sie ihre Stimme wiedergefunden hatte. Ihre Hände hatte sie auf ihren Schoss gelegt und verschränkte die Finger ineinander. „Einfach ist es nicht. Meine Mutter weint oft und ich würde gerne mit ihm reden, aber er meldet sich einfach nicht. Anderseits will ich ihn aber auch gar nicht sehen. Es ist komisch.“ „Was für ein Arsch“, platzte aus ihm hervor, sodass er sich augenblicklich den Mund zuhielt. Mimis Augen weiteten sich und Masaru säuselte eine leise Entschuldigung vor sich hin, als sie plötzlich ohne Vorwarnung zu Lachen begann. „Ist alles okay bei dir? Hat dir jemand was ins Glas gemischt?“ Skeptisch blickte er sie an. Mimi hielt wieder inne und sah ihm an, dass er sie wohl jetzt für völlig verrückt hielt. „Es ist alles in Ordnung. Das war der Anflug der Verzweiflung, die sich bei mir mit Lachen äußert“, klärte sie ihn auf und wirkte auf einmal sehr ernst. „Aber du hast recht. Er ist wirklich ein Arsch.“ Sie schwiegen einen Moment. Masaru drehte nervös seine Bierflasche in der Hand, während Mimi fieberhaft überlegte, wie sie ein seichteres Thema anschneiden könnte. Sie sprang augenblicklich auf und lächelte ihn an. „Vielleicht sollten wir doch besser tanzen gehen. Ich glaube, ich brauche einen körperlichen Ausgleich.“ „Klingt nach einer guten Idee“, erwiderte Masaru, stand auf und ging mit ihr zurück auf die Tanzfläche. _ Sie befand sich auf dem Nachhauseweg und lächelte leicht vor sich hin. Auch wenn ihr Leben im Moment ganz schön turbulent war, gab es diese kleinen Momente, in denen sie glücklich war. Vom weiten konnte sie bereits ihr Haus erkennen, weshalb sie ihr Tempo etwas verlangsamte. Sie wollte sich nicht mit der Situation, die zu Hause auf sie wartete, auseinander setzen. Viel lieber wollte sie die Zeit für einige Momente anhalten und das genießen, was sie heute erleben durfte. Zwar hatte sie mit den anderen einen holprigen Start gehabt, aber trotzdem war sie froh, dass sie alle etwas näher lernen durfte. Besonders mit Masaru hatte sie sich den Abend über gut verstanden. Besser als sie anfangs dachte. Nachdem sie zu Noriko und Chiaki dazu gestoßen waren, hatten sie nur gelacht und den Beat für sich sprechen lassen. Danach hatten sich alle vier an einen kleinen Tisch gesetzt und sich knapp zwei Stunden über sämtliche Themen unterhalten, die ihnen so einfielen. Norikos Freundin war leider nicht mehr gekommen. Eigentlich hatten sie vorgehabt, sie zu überraschen, doch im Club hatten sie erfahren, dass sie heute gar nicht zum Arbeiten eingeteilt war. Manchmal war es wirklich nicht so schlecht ein paar Dinge vorher abzuklären, auch wenn der Abend im Nachhinein echt schön und sehr ablenkend war. Es war genau das, was sie brauchte. Für ein paar Stunden aus diesem ganzen Irrsinn zu entfliehen, auch wenn Noriko und sie genaugenommen mittendrin waren. Mimi stoppte abrupt und blieb direkt vor ihrer Haustür stehen. Sie kramte aus ihrer Tasche den Schlüssel hervor und schloss dir Tür auf. Das beklemmende Gefühl in ihrer Brust machte sich wieder breit. Sie hoffte, dass ihre Mutter wieder schlief und sie sich direkt in ihr Zimmer schleichen konnte. Doch diesmal hatte sie die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Schon im Flur hörte sie ein leises Wimmern, dass immer lauter wurde, je näher sie dem Wohnzimmer kam. Auf Zehenspitzen schlich sie hinein und erblickte ihre Mutter. Sie blickte ganz gebannt auf den Fernseher, in der rechten Hand hielt sie eine Zigarette, die fast abgebrannt war. Ein leises Schluchzen zog sich durch den Raum. Mimis Blick haftete am Fernseher. Sie schluckte und ihr Mund klappte leicht auf. „Was guckst du denn da?“, fragte sie entsetzt und ihre Mutter schreckte zusammen. Vor lauter Schreck ließ sie die Zigarette fallen, die ein schwarzes Loch auf dem gelben Kissen hinterließ. „Scheiße“, fluchte sie laut und versuchte das zu retten, was nicht mehr zu retten war. Der schwarze Fleck blieb, egal wie oft sie versuchte mit ihrem Pulloverärmel und etwas Spucke darüber zu wischen. Mimi stierte noch immer auf das Bild, dass auf ihrem Fernseher angezeigt wurde. „Mach das aus!“, forderte sie ihre Mutter auf und wollte schon nach der Fernbedienung greifen, die ihre Mutter verzweifelt festhielt. „MAMA!“, knurrte sie bedrohlich und entriss sie ihr. „Ach Mimi, du verstehst das nicht.“ „Dann erklär’s mir! Wieso guckst du euer altes Hochzeitsvideo?“ „Weil ich ihn vermisse“, antwortete sie wahrheitsgemäß. „Ihn vermissen?“, wiederholte sie und wirkte wenig überzeugt. Wie konnte ihre Mutter ihren Vater nur vermissen? Er hatte doch so viel Mist gebaut und meldete sich überhaupt nicht mehr bei ihnen. „Ach Mama“, seufzte sie, ging um die Couch herum und setzte sich. „Er ist es überhaupt nicht wert, vermisst zu werden.“ Sie schniefte nur und ein paar Tränen liefen ihr die Wangen hinunter. „Ich weiß, aber e-es fällt mir schwer es nicht zu tun.“ Sie fuhr Mimi über ihr Gesicht und durch ihre Haare. Sie zwang sich zu einem Lächeln, dass Mimi noch mehr bedrückte, als ihre Tränen. Ihre Mutter war unglücklich. Kein Lächeln der Welt konnte diese Tatsache verbergen. Sie konnte ihr nicht die Wahrheit sagen. Das würde ihr das Herz brechen. „Wir sollten jetzt schlafen gehen“, schlug Mimi vor und sah kurz zur Uhr, die viertel vor zwei anzeigte. Ihre Mutter nickte nur und fuhr sich mit dem Handrücken über ihre Augen. „Du hast Recht. Es bringt nichts Trübsal zu blasen“, sagte sie und stand auf. „Ich bin wirklich froh, dass du so eine tolle Freundin wie Sora hast, die dich ein wenig ablenkt.“ Jetzt war es Mimi, die ihr ein aufgesetztes Lächeln schenkte. Sie wusste, dass sie mit Sora und den anderen nicht über ihre Probleme reden konnte. Das war eine Sache, die nur ihre Familie etwas anging. Und zu dieser Familie gehörte auch Noriko. Auch wenn sie es ihrer Mutter verschweigen musste. Bitte Nachwort beachten! Kapitel 24: Schlagwütige Veränderung ------------------------------------ Der Sonntag zog im Nu vorüber und schon stand Mimi bereits wieder am Schultor und wartete auf ihre beste Freundin. Heute Morgen war sie zeitig aus dem Bett gekommen, hatte sogar noch Zeit zu frühstücken und entspannt zur Schule zu gehen. Im Moment war sie froh, dass Haus so schnell wie möglich verlassen zu können. Ungeduldig wartete sie und trat mit ihrem rechten Fuß gegen einen kleinen Kieselstein, der ein paar Meter weiterrollte. Sora war sehr spät dran und auch von den anderen fehlte jegliche Spur. Dabei war sie doch recht pünktlich gewesen. Generell hatte sie das Wochenende über kaum etwas von ihr gehört. Genau genommen gar nichts. Es war schon seltsam, doch Mimi hatte keine Zeit mehr sich darüber Gedanken zu machen. Schwerfällig ging sie die Treppen zu ihrem Klassenzimmer hoch, trat die Tür hinein und setzte sich zielstrebig auf ihren Platz. Die Lehrerin war noch nicht da und es herrschte eine ungewöhnliche Unruhe im Klassensaal. Es wurde verhältnismäßig viel getuschelt und auch ein paar Namen fielen, die Mimi leider nicht verstand. Sie drehte sich kurz herum, wandte ihren Blick aber wieder schnell zum Lehrerpult. Plötzlich hörte Mimi wie die Tür aufgezogen wurde und sah auf einmal ihren rothaarigen Freund dort stehen. Er sah sehr abgehetzt aus und schnaufte leicht. Langsam bewegte er sich zu seinem Platz und ließ seine Tasche auf den Tisch sinken. „Du bist aber ganz schön außer Puste. Hast du verschlafen?“ Er schüttelte nur den Kopf und kramte seine Bücher hervor. „Ich wurde aufgehalten“, murrte er nur und setzte sich. „Hast du denn gar nichts mitbekommen?“ Mimi runzelte nur die Stirn. „Was soll ich mitbekommen haben?“ Izzy rutschte etwas näher, sah sich kurz um und senkte seinen Kopf, so als wolle er nicht, dass jemand etwas mitbekam. „Tai und Matt sind aneinander geraten.“ „Was? Aneinander geraten?“, wiederholte sie lauter als gewollt und erweckte somit die Aufmerksamkeit der beiden Mädchen, die hinter ihnen saßen. „Ich habe das auch mitbekommen“, meinte Katsumi und fuhr sich durch ihre langen schwarzen lockigen Haare. „Ihr seid doch mit den beiden befreundet, wisst ihr vielleicht mehr?“ „Ich weiß von gar nichts“, antwortete Mimi wahrheitsgemäß und verzog leicht das Gesicht. Anscheinend war sie doch nicht so pünktlich gewesen, wie sie anfangs dachte. Sowas hätte sie doch mitbekommen müssen. Irritiert drehte sie sich zu Izzy, der nur hilflos mit den Schultern zuckte. „Ich weiß auch nicht genau, was passiert ist. Bin durch Zufall am Sportplatz vorbei und da habe ich beide gesehen“, erklärte er mit großen Augen. „Sie haben sich gegenseitig beschimpft und Tai hatte sogar eine blutige Lippe.“ „Wirklich?“, fragte sie und riss die Augen unter Schock auf. „Ja, selbst Sora konnte die beiden nicht beruhigen“, erzählte er weiter. Sora? Sie war auch da? Das konnte ja nichts Gutes bedeuten. Mimi biss sich schmerzvoll auf die Unterlippe und hörte zu, was die beiden anderen Mädchen zu sagen hatten. „Ich wette mit dir, dass sie sich wegen ihr gestritten haben. So Dreiecksgeschichten sind immer gefährlich“, meinte die eine, deren Namen Mimi partout nicht einfallen wollte. „Dreiecksgeschichten?“, warf Izzy ein und zog die Augenbraue nach oben. „Ja, die drei hängen doch immer aufeinander. Sie ist das einzige Mädchen, ich bitte dich. Sowas geht immer in die Hose“, meinte Katsumi dramatisch und fixierte Mimi mit ihrem Blick. „Du bist doch mit Sora befreundet…hat sie dir nichts erzählt?“ Mimi schluckte und überlegte kurz, was sie antworten sollte. Natürlich wusste sie, dass Sora und Matt sowas ähnliches wie eine Beziehung hatten und Tai sie geküsst hatte, aber das konnte sie diesen Tatschweibern doch nicht sagen. „Nein, ich weiß von nichts“, log sie und versuchte überzeugend rüber zukommen. Doch die beiden Mädchen sahen sich nur gegenseitig an und grinsten leicht. „Für dich ist das doch auch ‘ne Scheiß-Situation oder?“ „Für mich?“, fragte sie überrascht und wusste anscheinend nicht, auf was die beiden hinauswollten. „Naja, wir haben gehört, dass du mit Tai rumgeknutscht hast“, antwortete Katsumi diabolisch grinsend. Mimi hatte das Gefühl, augenblicklich rot anzulaufen und schaute unsicher zu Izzy, der heute wohl das Schulterzucken übte. Es war wirklich nur eine Frage der Zeit, bis auch andere von der Knutscherei erfahren würden, schließlich gab es ja auch genug Zeugen. Hitze stieg in ihr auf und schien sich in ihren entsprechenden Gesichtsregionen zu verteilen. Ihre Wangen glühten und sie hatte das Gefühl augenblicklich an dem Kloß, der sich in ihrem Hals bildete, zu ersticken. „Ehm, also…nein, ich…ich“, stammelte sie und merkte wie ihre Blicke auf ihr lasteten. „Naja ich…“, begann sie erneut, wurde aber diesmal von dem erneuten Aufziehen der Tür unterbrochen. Sie schnellte mit ihrem Kopf herum und stellte mit Erleichterung fest, dass es ihre Lehrerin war. Sie sah nochmal kurz zu ihren beiden Mitschülerinnen, die sich enttäuscht auf ihre Plätze setzten. Mimi hingegen atmete erleichtert aus und versuchte sich einigermaßen auf den Unterricht zu konzentrieren, auch wenn es ihr schwer fiel. Sie musste unbedingt mit Sora sprechen. _ Nach der Stunde eilte sie aus dem Klassenraum, ohne ihr Umfeld richtig wahrzunehmen. Sie hörte zwar noch, dass Izzy ihr etwas Unvollständiges hinterherrief, aber das war ihr egal. Sie wollte mit Sora reden und sie direkt an ihrem Klassenraum abfangen. Deswegen beeilte sie sich auch so. Die ersten Schüler stürmten bereits aus der Klasse, als Mimi ankam. Sora war nicht dabei. Also beschloss sie am Fensterbrett auf sie zu warten. Doch nach und nach strömten immer mehr Gesichter an ihr vorbei, sodass sie sich fragte, ob Sora überhaupt noch rauskommen würde. Matt hatte sie auch noch nirgends gesehen. Schließlich entschloss sie sich dazu, einfach eine ihrer Mitschülerinnen, nach ihrem Verbleib zu fragen. Schwungvoll drehte sie sich herum und tippte einem Mädchen, dass sie vom Sehen kannte auf die Schulter. Sie gab nur ein leises „Mhm“ von sich und sah Mimi erwartungsvoll an. „Hey, ehm du sag mal, hast du Sora gesehen?“ „Ihr ging es nicht gut. Sie ist nach Hause gegangen“, erklärte sie und wollte sich gerade von ihr abwenden, als sie sie nach dem Verbleib von Matt ausquetschte. „Er ist beim Schulleiter. Anscheinend hat er sich mit Yagami geprügelt“, flüsterte sie ihr zu und nickte sachte dabei. „Oh“, brachte Mimi hervor und bekam gerade noch mit, wie sie sich von ihr entfernte. Was war nur passiert? Da hatte sie mal ein Wochenende nicht mit ihren Freunden verbracht und schon herrschte das größte Chaos. Sie schüttelte den Kopf und ging ebenfalls in die Pause. Auf dem Schulhof angekommen, suchte sie nach den anderen. Doch sie konnte niemanden entdecken. Selbst Izzy saß nicht an ihrem Stammplatz. Resigniert setzte sie sich auf eine Bank und packte ihr Pausenbrot aus, dass sie sich noch in ihre Jackentasche gestopft hatte. Sie nahm einen großzügigen Bissen, als auf einmal Kari in ihrem Sichtfeld auftauchte und mit Takeru wild zu diskutieren schien. Mimi kaute langsamer und legte den Kopf schräg. Kari fuchtelte mit den Armen, so als wolle sie Takeru von etwas Wichtigem überzeugen. Doch er winkte nur ab, schüttelte den Kopf und verschwand in eine andere Richtung. Kari blieb stehen und sah etwas verloren aus. Mimi schlucken den Bissen hinunter, packte ihr Brot wieder ein und stürmte auf sie zu. Zuerst bemerkte sie sie gar nicht, bis Mimi ihren Namen rief und sie den Kopf hob. „Ach Mimi, du bist es“, sagte sie erleichtert und zwang sich zu einem Lächeln. „Ja ich bin‘s und anscheinend habe ich gewaltig was verpasst“, murrte sie ohne Umschweife und verschränkte die Arme vor der Brust. „Weißt du was hier los ist? Sora ist nach Hause gegangen und Matt und Tai sind beim Schulleiter?“ „Ja, ist alles etwas blöd gelaufen“, gab Kari kleinlaut zu und starrte in die Richtung, in die Takeru verschwunden war. Mimi interpretierte ihren Blick und legte sachte die Hand auf ihre Schulter. „Habt ihr euch deswegen gestritten?“ Kari nickte nur und ein leises Schluchzen entwich ihrer Kehle. „Das ist alles die Schuld von Tai und Matt“, brachte sie hervor, bevor einzelne Tränen ihre Wange hinunter wanderten. Mimi legte behutsam den Arm um sie und suchte nach einem stillen Plätzchen, um etwas ungestörter reden zu können. Dort angekommen setzen sich beide auf eine Bank, die unter einem großen Kirchbaum zu finden war. Um sie herum war es Menschenleer. Mimi hatte ihre Hand ergriffen und drückte sie leicht. „Okay und jetzt erzählst du mir, was passiert ist“, erwiderte sie sanft und Karis Schluchzen ließ langsam nach. „Naja, alles hat am Wochenende angefangen. Takeru und ich haben uns bei mir getroffen. Wir wollten zusammen kochen und später ein paar DVDs gucken“, begann sie langsam. Sie krampfte die Finger ineinander und schielte zur Seite. „Tai war auch da, aber er war in seinem Zimmer geblieben. Unsere Eltern waren noch zu Besuch bei unseren Großeltern und kamen erst spät abends zurück.“ Mimi nickte nur knapp. Nervös kaute die Brünette auf ihrer Unterlippe herum und starrte ins Leere. „Gegen Nachmittag hatte jemand sturmgeklingelt und ich hatte halt die Tür geöffnet, ohne mir groß dabei etwas zu denken.“ „Und wer stand davor?“, fragte Mimi neugierig und beugte sich näher zu ihr hin. Sie schnaubte und verstärkte ihre Fingerspielerein. „Es war Matt. Er war so sauer und hatte gefragt, wo Tai war“, erzählte sie weiter und wurde ein wenig hysterisch. „Ich hatte ja nicht damit gerechnet, dass er auf ihn losgeht.“ „Er ist auf ihn losgegangen?“, wiederholte sie überrascht. „Ja, deswegen hat er auch eine aufgeplatzte Lippe“, sagte sie und deutete auf ihre eigenen, um ihr es besser zu veranschaulichen. Das Gleiche hatten auch ihre beiden Klassenkameradinnen erzählt. Nur Mimi dachte, dass Tai die blutige Lippe von heute Morgen hatte. Doch dem war nicht so. „Sora war auch noch später aufgetaucht“, meinte sie plötzlich und erhaschte damit Mimis volle Aufmerksamkeit. „Ach ja? Wann?“ „Kurz nachdem Matt aufgetaucht und auf Tai losgegangen war.“ Sie machte eine kurze Pause und atmete tief durch. „Es war einfach nur fürchterlich. Takeru hatte versucht ihn zu beruhigen und Matt von Tai runterzuziehen, aber dann hatte er ihm schon einen Kinnhaken verpasst gehabt.“ „Klingt ja nach einem nervenaufreibenden Wochenende“, murmelte Mimi und war eigentlich ganz froh es nicht mitbekommen zu haben. Sie hatte wirklich genug Probleme für zwei Personen. „Sora hatte sich die ganze Zeit entschuldigt und zu Matt gemeint, er solle sich beruhigen und das es nur ein Kuss war…“, Kari sah Mimi dringlich an, doch sie senkte den Kopf und scheute es ihr in die Augen zu sehen. Sie wusste genau, auf was sie hinaus wollte. Das Gespräch von Freitag hatte sie noch nicht vergessen. „Hat er dich geküsst, weil er Sora eifersüchtig machen wollte?“ Ihre Stimmung schlug augenblicklich um. Sie hatte das Bedürfnis sich unter der Bettdecke zu verkriechen und die nächsten hundert Jahre nicht mehr hervor zu kommen. Sie wollte sich damit wirklich nicht auseinandersetzen. Er wollte sie nicht, das tat schon mehr als genug weh. „Mimi?“, klang Karis besorgte Stimme in ihren Ohren. „Bist du in ihn verliebt?“ Sie presste fest die Lippen aufeinander und wollte schon mit dem Kopf schütteln, als ihre eigenen Tränen sie übermannten. Erschrocken fuhr sie sich durchs Gesicht, blickte kurz zu Kari und wandte den Kopf in die entgegengesetzte Richtung. Ihr Blick sagte alles. Sie hatte sie durchschaut. Etwas, das sie unbedingt vermeiden wollte. Doch was sollte sie jetzt tun? Sie weinte bereits und Kari schien es schon länger zu wissen. Sie musste sie überzeugen, dicht zu halten. Tai durfte von ihren Gefühlen nichts erfahren. Nicht jetzt. Nicht in Zukunft. „Du musst das für dich behalten“, sagte sie mit zitternder Stimme, ohne sie anzusehen. „Aber Mimi…“ „Versprich‘ es mir“, forderte sie dringlich und sah sie mit einem starren, bestimmenden Blick an. „Gibst du ihn wegen Sora auf?“, bohrte sie weiter und Mimi war nicht mehr in der Lage ihrem fragenden Gesicht Stand zu halten. Sie schüttelte nur den Kopf und vergrub ihr Gesicht in ihren Handflächen. Sie hatte wohl nicht verstanden, dass er sie nicht wollte. Alles war nur eine Masche gewesen, um Sora eifersüchtig zu machen. Mehr nicht. „Kari“, begann sie mit ruhiger Stimme, „er will mich nicht. Das muss ich akzeptieren!“ Ihr fiel es sichtlich schwer, darüber zu sprechen. Wer gab schon gerne zu, dass der Junge, in den man unsterblich verliebt war, einen nicht haben wollte? „Verstehe“, gab sie leise von sich. Mimi fuhr sich über ihre Augenpartie und setzte ein gespieltes Lächeln auf. „Keine Sorge, ich komme schon klar und jetzt erzähl‘ mal warum du und Takeru euch gestritten habt. Das ist wichtiger“, versicherte sie ihr, griff nach ihrer Hand und drückte sie kurz. Sie schenkte ihr einen verwirrten Blick, fing jedoch kurze Zeit später an zu erzählen. _ Auch der nächste Tag kam schneller, als Mimi eigentlich lieb war. Sora glänzte mit Abwesenheit und auch auf Anrufe oder SMS reagierte sie nicht. TK und Kari schienen sich wieder anzunähern, was Mimi in der Pause beobachten konnte. Es war klar, dass beide zwischen die Fronten geraten würden, wenn bei ihren Brüdern Spannungen herrschten. Takeru hatte mit Matt gesprochen, der natürlich nur seinen Teil der Geschichte wiedergeben konnte. Von Kari hatte sie gefahren, dass Sora selbst Matt reinen Wein eingeschenkt hatte. Daraufhin war er wütend zu Tai aufgebrochen und wollte ihn eigentlich zur Rede stellen, was ihm nicht sonderlich gut gelang. Die blutige Lippe war der beste Beweis dafür. Nachdem sich Takeru Matts Geschichte angehört hatte, stand er natürlich auf der Seite seines Bruders, auch wenn er ihm nur die halbe Wahrheit erzählt hatte. Schließlich wusste Tai nichts von den beiden, als er Sora geküsst hatte. Und nur wegen dem Weglassen so wichtiger Tatsachen, hatten sich letztlich auch TK und Kari in die Haare bekommen. Kari hatte versucht beide Seiten zu verstehen, während TK seinen Unmut gegenüber Tai gnadenlos ausließ. Für ihre Freundin war es keine leichte Situation, dass hatte Mimi gestern mehr als nur einmal bemerkt. Sie stand zwischen ihrem Freund und ihrem Bruder. Nur das sich Takeru wieder beruhigt hatte und sich für sein Verhalten entschuldigte. Bei Tai war genau das Gegenteil der Fall. Das merkte sie, als sie bei ihm saß und versuchte eine Matheaufgabe zu lösen. Insgeheim hatte sie schon gehofft, dass sie sich endlich aussprechen würden, auch wenn sie große Angst vor diesem Gespräch hatte. „Man, Mimi, du machst das voll falsch“, brummte er und zeigte wieder auf die Aufgabe. „Du musst einfach nur die Zahlen in die Formel einsetzen. Sag‘ mal, was ist nur los mit dir?“ Mimi presste die Lippen aufeinander und verkrampfte die Finger um ihren Stift. Sie warf den Kopf zur Seite und funkelte ihn böse an. „Keine Ahnung? Vielleicht komme ich einfach nicht damit klar, dass du dich wie ein Arschloch verhältst! Ich kann doch nichts für deine miese Laune“, protestierte sie und sah in sein wütendes Gesicht, dass anscheinend kurz vor dem Ausbruch stand. „Ich verhalte mich wie ein Arschloch?“, fragte er und war mit jedem Wort lauter geworden. „Ja, ich kann doch auch nichts dafür, dass Matt und Sora dir nichts gesagt haben“, schoss sie zurück und schürte unwissentlich seine Wut ins Unermessliche. Entgeistert sah er sie an. Seine Oberlippe bebte vor Zorn. „Du hast es gewusst? Und mir nichts gesagt?“ Mimi schluckte kurz und wandte den Blick von ihm. „Sora wollte es dir persönlich sagen“, murmelte sie und drückte unbewusst die Spitze ihres Stiftes fest auf das weiße Blatt Papier, sodass ein kleiner blauer Fleck Tinte entstand. „Wie bitte? Mir persönlich sagen? Und warum lässt sie dann zu, dass ich sie küsse?“ Ihre Atmung wurde unregelmäßiger. Sollte sie ihm sagen, dass Sora verunsichert war? Aber am Ende entschied sie sich doch für Matt und sie machte ihm dadurch falsche Hoffnungen. Außerdem wollte sie es nicht sagen, da dieser Satz schon mehr als genug wehgetan hatte. Sie drückte ihren Stift tiefer ins Papier und nuschelte etwas Unvollständiges vor sich hin, was Tai nicht verstand. „Kannst du das nochmal wiederholen?“, fragte er barsch. „Ich hab‘ keine Ahnung. Ich weiß nicht, was sie sich dabei gedacht hat.“ „Aber du bist doch sowas wie ihre beste Freundin. Irgendwas musst du doch wissen“, bohrte er weiter und war näher an sie herangerückt. Ihr wurde heiß. Sie konnte seine Nähe nicht mehr ertragen. Nicht mehr, seit sie definitiv wusste, dass er in Sora verliebt war. „Man Tai, ich will wirklich meine Hausaufgaben fertig kriegen“, murrte sie und entdeckte den kleinen blauen Fleck auf ihrem Blatt. Sie löste den Druck und legte den Stift beiseite. „Das kann doch jetzt mal fünf Minuten warten! Bitte sag‘ mir was du weißt. So kann es nicht weitergehen!“ Sein Ton war wieder lauter geworden. Er klang sogar schon richtig verzweifelt. Doch Mimi wollte sich damit nicht auseinandersetzen. Nicht jetzt. Nicht hier. „Tai, das geht mich wirklich nichts an“, sagte sie in einem Flüsterton und sah ihn verständnislos an. „Also weißt du wirklich was“, schlussfolgerte er. „Ich will doch einfach nur wissen, was jetzt Sache ist! Ich will sie nicht verlieren.“ Mimi haute sich ihre Fingernägel in den Arm. Ihr Herz zog sich schmerzvoll zusammen und sie senkte den Kopf. Sie merkte, dass ihr die Tränen kamen, doch sie wollte nicht vor ihm weinen. Tai hingegen fixierte sie mit einem dringlichen Blick. In seinem Kopf begann es zu rattern und er schien sie mit seinem Blick durchleuchten zu wollen. „Du bist immer noch wegen dem Kuss sauer, oder?“ Der Kuss. Der, der ihr so viel bedeutet hatte und ihm nur als Mittel zum Zweck diente. „Nein“, sagte sie verunsichert und schüttelte den Kopf. Doch er ließ sich nicht beirren und rutschte noch näher an sie heran. Sie spürte seinen unvergesslichen Duft in ihrer Nase kribbeln, merkte aber auch, dass sie es nicht länger aushielt hier neben ihm zu sitzen und so zu tun, als wäre nichts zwischen ihnen geschehen. Ruckartig drehte sie sich herum, schnappte sich ihren Block und ihren Stift. Sie kramte ihre Tasche hervor und stopfte alles achtlos hinein. „Hallo, was soll das denn jetzt?“, fragte er verwirrt, als sie aufsprang und zur Tür gehen wollte. „Ich glaube, wir sollten das hier beenden“, meinte sie tonlos und wirbelte zu ihm herum. „Ich kann dir da echt nicht weiterhelfen und du lässt deine ganze schlechte Laune an mir aus. Damit komme ich echt nicht klar. Das ist eine Sache zwischen dir, Sora und Matt.“ Ihre Stimme wurde immer schwächer und ein dicker Kloß bildete sich in ihrem Hals. Es war Zeit zu gehen. Er sollte nicht sehen, wie sehr er sie mit seiner Art verletzte. Doch er reagierte schnell. Zu schnell. Sie wollte gerade aus seiner Zimmertür verschwinden, als er sie am Arm packte und reuevoll anstarrte. „Tut mir leid“, nuschelte er knapp, sah ihr dabei aber nicht in die Augen. „Ich fürchte, ich bin im Moment nicht ich selbst. Ich habe so viel durcheinandergebracht und weiß nicht, wie ich das wieder hinbiegen soll. Diese ganze Sache mit Sora und Matt…und dann dieser Kuss, der alles noch mehr durcheinander gebracht hat. Ich bin einfach völlig verwirrt.“ Nicht er selbst? Er war unglücklich verliebt, da war man niemals man selbst. Davon konnte sie wirklich ein Lied singen. Aber musste er jetzt ernsthaft mit ihr über Sora und den Kuss sprechen, den beide nach Matts Geburtstag miteinander teilten? Warum musste sie immer als Mülleimer herhalten? Auch wenn sie merkte, dass es ihm leidtat, musste sie dringend verschwinden. So konnte sie nicht mehr weitermachen. „Mir tut es auch leid“, sagte sie etwas ruppig und konnte sich aus seinem Griff befreien. „Aber darauf habe ich echt keine Lust. Lieber suche ich mir einen anderen Nachhilfelehrer.“ Sie schüttelte den Kopf und stürmte aus seinem Zimmer. „Man, Mimi! Bleib hier! Bitte!“, rief er ihr noch hinterher, doch sie reagierte nicht mehr. Schnurstracks lief sie durch die Wohnung, hörte ihn hinter sich lautstark fluchen, was sie allerdings nicht mehr richtig verstand. In diesem Moment war sie echt froh gewesen, dass keiner außer ihnen zuhause war. Sie schlüpfte schnell in ihre Schuhe und verließ die Wohnung augenblicklich. Mit rasender Geschwindigkeit verschwand sie über die Treppen und wusch sich zwischenzeitlich einzelne Tränen aus dem Gesicht. Erst als sie außer Reichweite war, ließ sie sich an einer unbeobachteten Stelle nieder und gab sich ihren Gefühlen hemmungslos hin. Sie lehnte den Kopf gegen eine kühle Wand, ließ ihre Tasche auf den Boden sinken und wurde von einer plötzlichen Wut übermannt, sodass sie mit der Faust gegen das Mauerwerk schlug. Ein leichter Schmerz durchfuhr sie, aber ihr war alles egal. Weinend sank sie zu Boden, dachte an Tai, ihre Mutter und an Noriko. Es war alles so furchtbar schwierig geworden. Am liebsten wollte sie sich auf eine einsame Insel wünschen und für immer dort bleiben. Doch diese Lösung war unrealistisch. Ein Traum. Und ihre Träume blieben bisher unerfüllt. Kapitel 25: Frauengespräche --------------------------- Die Wochen vergingen und es war bereits Ende Juni. Viel hatte sich jedoch nicht getan. Sora arbeitete zurzeit viel und versuchte alles und jedem so gut es ging aus dem Weg zu gehen. Mimi hatte schon länger nichts mehr mit ihr unternommen und war sehr überrascht, dass sie am Wochenende zu Yoleis Übernachtungsparty kommen wollte. Party war hier wohl weit übertrieben. Eigentlich hatte sie nur Kari, Sora und sie eingeladen, um mal wieder etwas Zeit mit ihnen verbringen zu können. Es sollte ein entspannter Mädelsabend werden, der wohl auch einige Problematiken aus dem Weg räumen sollte. Das Hauptproblem war ganz klar die Beziehung zwischen Sora, Tai und Matt. Sie ging den Jungs meist aus dem Weg, während jeder die beiden versuchte, sie vom Gegenteil zu überzeugen. Tai war besonders hartnäckig, was Matts Hass gegenüber ihm noch mehr schürte. Schon seit Wochen hatten sie nicht mehr miteinander gesprochen. Die Pausen verbrachte jeder für sich. Mimi aß meistens mit Izzy zusammen, während die anderen sich allmählich aufteilten. Sora blieb bei ihren Tennisfreunden, während Tai die Zeit bei seinen Fußballkollegen totschlug. Matt war der Einzige, der manchmal mit ihnen aß, aber meistens war auch er eher mit anderen Leuten unterwegs, die irgendwas mit seiner Band zu tun hatten. Die Sachlage hatte sich komplett verändert. Und auch Mimi hatte Nägeln mit Köpfen gemacht und sich tatsächlich einen anderen Nachhilfelehrer gesucht. Seit der Auseinandersetzung mit Tai, ging sie ihm lieber aus dem Weg und auch er versuchte nicht wirklich Kontakt zu ihr aufzunehmen. Wahrscheinlich war es ihm ganz recht, ihr keine Nachhilfe mehr geben zu müssen. Zum Glück konnte sie Kari davon überzeugen, dass es sinnvoller war, die ganze „Liebesgeschichte“ für sich zu behalten. Schon öfter hatten sie sich darüber unterhalten gehabt. Ihre mitleidigen Blicke bohrten sich auf ihre Haut, sodass sie es wirklich nicht mehr ertrug, sich mit ihr darüber zu unterhalten. Und auch Zuhause waren die Probleme nicht besser geworden. Seit kurzem hatte Mimi das Gefühl, dass ihre Mutter ihr irgendetwas verheimlichte. Sie wusste nur nicht was. Und sie war auch wirklich gut darin, ihre Probleme vor der Außenwelt zu verstecken. Die ersten Nachbarn hatten bereits gefragt, wo sich ihr Vater befand, den sie schon eine halbe Ewigkeit nicht mehr gesehen hatte. Ihre Mutter setzte einfach ein perfektes Lächeln auf und log ihnen eiskalt ins Gesicht. „Er hat einen Auslandsauftrag, den er nicht ablehnen konnte“, sagte sie immer wieder aufs Neue und zeigte den Nachbarn die perfekte Fassade. Gut verputzt, ohne irgendwelche Risse. Doch lange konnte sie dieses Spiel nicht mehr spielen. Es würde irgendwann aufliegen, da ihr Vater nicht ewig im Ausland sein konnte. Sie fragte sich mittlerweile, ob er auch das Interesse an ihr verloren hatte. Er rief sie nicht an, kam nicht vorbei, sondern ignorierte sie einfach. So wie er es jahrelang bei Noriko getan hatte. Und auch, wenn sie sauer auf ihn war und ihm zum Teufel schicken wollte, vermisste sie ihn. Er war ihr Vater, der immer für sie da und jetzt wie vom Erdboden verschluckt war. Die einzige Konstante in ihrem Leben war zurzeit ihre Halbschwester, mit der sie sich regelmäßig traf. Natürlich alles hinter dem Rücken ihrer Mutter. Mittlerweile verstanden sie sich echt gut, entdecken viele Gemeinsamkeiten, wie zum Beispiel, dass beide die Brotrinde immer abschnitten, bevor sie in das Brot beißen konnten. Heute hatten sie sich wieder verabredet. Noriko half ihr viel bei ihren Mathehausaufgaben und auch sonst hatte sie immer ein offenes Ohr für sie. Ihre Freunde waren ein wichtiger Teil ihres Lebens geworden, obwohl Mimi sie anfangs etwas seltsam fand. Selbst mit Masarus Bruder hatte sie mittlerweile eine Basis gefunden, auch wenn ihr das ständige filmen immer noch auf den Senkel ging. „Und brauchst du wieder Hilfe bei Mathe?“, fragte sie und ließ sich auf der Parkbank nieder. Mimi setzte sich neben sie und schleckte an ihrem Vanilleeis, das sie sich vorhin geholt hatten. „Heute nicht. Habe mit Izzy schon alles erledigen können“, verkündete sie stolz. Noriko nickte anerkennend und leckte etwas geschmolzenes Eis von ihrer Hand. „Klingt doch toll, dann können wir heute umso mehr quatschen“, meinte sie und grinste. „Das machen wir doch sowieso“, stellte Mimi lachend fest und biss in ihre Waffel. „Oder wir machen wieder eine Jam-Session wie letzte Woche.“ „Ja, aber dann müssten wir wieder zur deiner Schule fahren und Glück haben die Jungs zu finden“, erinnerte Mimi sie und schwelgte in Erinnerungen. Letzte Woche holte Mimi Noriko nach der Orchesterprobe ab und besuchte zum ersten Mal ihre Schule. Sie hatte noch ihre Uniform an und wurde von manchen Schülerin komisch gemustert, so als wäre sie auf feindlichem Boden gelandet. Noriko war mit Chiaki und den beiden Brüdern noch im Musikraum, als Mimi ankam. Sie hörte von draußen schon fröhliches Gesumme und eine eingängige Melodie, die ihr gute Laune bereitete. Sie hörte einige Minuten stumm zu, bevor sie die Tür sachte öffnete. Sie wollte auf gar keinen Fall diese wunderbaren Klänge stören, doch Noriko winkte sie strahlend herbei und begrüßte sie herzlich. Sie hatte ihr erzählt, dass sie nach der Orchesterprobe meistens eine kleine Improvisationsnummer darboten, bevor sich ihre Wege wieder trennten. Mimi war ganz begeistert, welche zufälligen Melodien sie zustande brachten, sodass es trotzdem schön und abgerundet klang. Als sie eine zweite Jam-Session starteten, sang Mimi, ohne groß darüber nachzudenken, mit. Ein altes Kinderlied, das ihre Mutter ihr früher immer vorgesungen hatte. Es machte einfach unheimlich viel Spaß und ließ sie ihre Sorgen für den Moment vergessen. Alles war auf einmal so leicht und unbefangen wie nie. So als wäre sie wirklich wieder ein Kind, dass viele Sorgen, die die Erwachsenen hatten, gar nicht kannte. Ein wenig fühlte es sich an wie Magie, die alles besser machen und zum Guten wenden konnte. Genau das war Musik. Eine starke Macht, die jeden auf eine besondere Weise berührte und auch die schlimmsten Erkenntnisse ertragbarer machen konnte. Mimi lächelte wieder und blickte zu Noriko. Sie hatte ihr Eis bereits verschlungen und hatte einen leichten Schokomund, den sie sich mit Hilfe ihres Handspiegels wegzuwischen versuchte. „Vielleicht sollten wir es wirklich mal wiederholen“, meinte sie euphorisch. Noriko fuhr sich ein letztes Mal über ihren Mund und klappte den Spiegel zu. „Sag‘ ich doch! Und die Jungs kann man sicher leicht dazu überreden. Wir ködern sie einfach mit Essen.“ „Klingt vielversprechen“, erwiderte sie und sah in die Ferne. _ Ein paar Tage später war sie auf dem Weg zu Yolei. Es war bereits dunkel, als Mimi mit einer vollbepackten Tasche in die Richtung ihres Wohnblockes schlenderte. Sie freute sich ein paar unbeschwerte Stunden mit ihren Freundinnen verbringen zu können, doch etwas störte sie. Vielleicht war es die Reaktion ihrer Mutter, dir ihr signalisierte, dass sie erleichtert war, sie aus dem Haus zu wissen. Wahrscheinlich wollte sie sich wieder zum x-Mal das alte Hochzeitsvideo angucken und sich betrinken. Es wurde schon zu einem Art Ritual, das von Mal zu Mal einfach nur noch erbärmlicher wurde. Wie ein Häufchen Elend saß sich vor dem Fernseher und weinte bitterlich. Mimi konnte es langsam nicht mehr ertragen, ging meist schon direkt auf ihr Zimmer, wenn sie nach Hause kam. So konnte es definitiv nicht weitergehen. Und sie konnte ihre Mutter auch nicht ewig anlügen. Irgendwann würde rauskommen, dass sie sich auch mit ihrer Schwester traf. Es war wohl nur eine Frage der Zeit. Auch der Situation mit Sora konnte sie nicht länger aus dem Weg gehen. Vielleicht sollte sie ihr einfach die Wahrheit sagen. Ihr gestehen, dass sie sich in Tai verliebt hatte, aber genau wusste, dass er nur sie wollte. Doch sie wusste wirklich nicht, was es ändern würde, wenn Sora die Wahrheit wüsste. Möglicherweise würde sie sich von Tai fernhalten, um ihre Gefühle zu schonen. Vielleicht hatten Matt und sie eine Chance, denn Mimi war sich mittlerweile sicher, dass er es ernst mit ihr meinte. Er machte auf sie einen sehr geknickten Eindruck und auch das Gespräch, das sie einmal mit ihm führte, wollte ihr nicht aus dem Kopf gehen. Doch nur Sora hatte die Wahl. Zwei junge Männer waren in sie verliebt und nur sie konnte entscheiden, wer ihr Herz erobert hatte. Und Mimi war sich nicht mehr sicher, ob es wirklich Matt war. Nicht nachdem, was sie alles wusste. Über ihre Vergangenheit. Das der Kuss mit Tai, Sora mehr verwirrt hatte, als sie eigentlich zugab. Und die Tatsache, dass Tai wohl alles für sie tun würde, während Matts Band immer noch einen großen Teil in seinem Leben einnahm, gab ihr zu denken. Mimi blickte durch die Gegend und erkannte Yoleis Wohnblock bereits. Sie verlangsamte ihre Schritte und blieb plötzlich stehen. Wenn sie ehrlich war, hatte sie schon etwas Angst vor diesem harmlos klingenden Mädelsabend. Sie wusste, über was sie meistens sprachen und hatte die Befürchtung, dass Sora ihren schlimmsten Alptraum wahr werden ließ. Was sollte sie tun, wenn sie sagte, dass sie sich auch in Tai verliebt hätte? Würde sie in Tränen ausbrechen? Sehr wahrscheinlich. Würde sie Sora ihre geheimen Gefühle dann noch beichten? Eher nicht. Nicht, wenn sie wusste, dass auch sie Gefühle für ihn hatte. Und genau genommen war es schon mehr als genug, dass Kari die Wahrheit wusste. Wenn auch unfreiwillig. Mimi wollte nicht, dass noch mehr Leute sie mit diesen mitleidigen Blicken löcherten. _ Der Sektkorken knallte und etwas Flüssigkeit lief über den kleinen Holztisch, an dem sie Essen wollten. Yolei kicherte und schenkte großzügige Schlucke in die vier Sektgläser, die sie bereits auf dem Tisch standen. Auf der Küchentheke lagen alle Zutaten, die sie für ihre Lasagne verwenden wollten. „Auf uns, Mädels“, trällerte Yolei fröhlich und hob ihr Glas. Die anderen taten es ihr gleich und alle stießen heiter zusammen an. Selbst Mimi, die vorhin noch von Selbstzweifeln und panikmachenden Gedanken geprägt war. Sie musste einfach alles für den Moment vergessen. Wer war nochmal Tai? Heute wollte sie Spaß mit ihren Freundinnen haben. Leckere Lasagne essen, später noch Popcorn verschlingen und gemeinsamen eine olle Liebesschnulze gucken. So sah der perfekte Mädelsabend aus. Und selbst Sora schien gute Laune zu haben. Warum sollte sie es also kaputt machen? Der Abend war noch so jung und ihr Glas Sekt war definitiv zu schnell leer. Zielstrebig schnappte sie sich die Flasche und befüllte ihr Glas bis oben hin. „Man Mimi, mach‘ mal langsam“, lachte Yolei, als sie zum Trinken ansetzte. „Was denn? Ist doch erst mein zweites Glas“, sagte sie verständnislos und nippte kurz danach. „Pass lieber auf, wenn du zu viel trinkst, plauderst du noch all deine Geheimnisse aus“, meinte Yolei und drehte eine Haarsträhne um ihren Finger. Ihre Geheimnisse ausplaudern? Dazu brauchte es schon mehr als nur Sekt. Sie verdrehte die Augen und ging mit samt ihres Sektglases zur Kücheninsel. Kari und Yolei hatten schon die Zutaten kleingeschnitten. Sie mussten nur noch zusammen mit dem Hackfleisch scharf angebraten werden. „Vielleicht sollten wir langsam mal anfangen“, meinte Sora, die im Schneidersitz auf ihrem Stuhl saß und Mimi anlächelte, die vor kurzem noch die Zutaten skeptisch gemustert hatte. „Ohja! Ich habe schon so Hunger und Yolei macht immer eine voll leckere Soße dazu“, schwärmte Kari und legte den Arm um ihre beste Freundin, die gleich etwas verlegen zur Seite schielte. „Das Geheimnis ist Kochsahne und ein paar frische, entkernte Tomaten“, erklärte sie und zog Kari zu Mimi, die ihr Sektglas bereits geleert hatte und achtlos auf der Kücheninsel stehen ließ. Auch Sora kam hinzu, schnappte sich einen Topf und goss etwas Öl hinein. Sie warteten bis es warm genug war und gaben das Hackfleisch und später das Gemüse hinzu. Während Yolei am Herd stand, hatte sich der Rest in der Küche verteilt. Kari hatte sich wieder an den Tisch gesetzt und genehmigte sich ein weiteres Glas Sekt, während Sora an der Spüle stand und das bereits benutzte Geschirr abwusch. Mimi saß auf der Arbeitsplatte und dachte gar nicht daran nur einen Finger zu rühren. Sie war es nicht gewohnt im Haushalt zu helfen, doch Soras Blicke durchbohrten sie bereits, was sie dazu veranlasste sich ein Handtuch zu schnappen und abzutrocknen. Kari stieß wieder hinzu und stellte die gebrauchten Gegenstände wieder zurück in die Schränke. Sie war oft bei Yolei und kannte sich dementsprechend gut aus. Deswegen holte sie schon eine Porzellanform hervor, fettete diese mit etwas Butter ein und legte die erste Lasagneplatte hinein. Yolei gab noch den Rest der Zutaten hinzu und eine hellrote, sämige Soße entstand. Es durfte hervorragend und Mimi schenkte ihr an einen anerkennenden Blick. Zwar konnte sie ganz gut Backen, aber im Kochen war sie eine wahrhaftige Niete. Meistens bestellten sie eine Pizza, wenn sie sich bei Mimi trafen. Manchmal kochte auch ihre Mutter eines ihrer außergewöhnlichen Gerichte, das trotzdem den Geschmack von allen traf. In letzter Zeit kochte sie eher selten und Mimi kannte die Telefonnummer ihres Lieblingspizzaservices bereits auswendig. Es war das erste Mal seit langem, das sie wieder etwas Anständiges aß. _ „Oh, ich bin pappsatt“, meinte die Brünette und schnaubte zufrieden. „Es war wirklich unfassbar lecker“, meldete sich auch Sora zu Wort und tupfte mit der Serviette über ihren Mund. „Ich sagte doch, dass die Soße super ist“, erwiderte Kari überzeugt und nickte Yolei zu. Sie wurde leicht rot um die Nase und fuhr sich auffällig durch die Haare. „Das hat Ken letztens auch schon gemeint.“ Ihre Wangen verfärbten sich dunkelrot. Kari grinste wissend, während sich Sora und Mimi fragend anschauten. „Ken und du? Ich hab’s geahnt“, platzte aus Mimi hervor und ein Lächeln bildete sich auf ihren Lippen. Sie wusste, dass Yolei schon eine halbe Ewigkeit von ihm geschwärmt hatte und freute sich natürlich sehr für sie, auch wenn in ihrem eigenen Liebesleben eine einzige Flaute herrschte. „Seid ihr jetzt zusammen?“, fragte Sora neugierig und ihre Augen begannen zu Leuchten. Da sprach ganz klar die hoffnungslose Romantikerin aus ihr. Sie hatte schon immer ein Faible für Liebesgeschichten, auch wenn ihre eigenen immer im Chaos endeten. Genau genommen hatte Sora keine nennenswerte Beziehung gehabt, seit Mimi wieder hier war. Sie wusste zwar von ein paar Dates, aber daraus hatte sich nie etwas Ernsthaftes entwickelt. Sora hatte auf einmal die Augen zusammengezogen und begutachtete Mimi misstrauisch. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie ihre Freundin, die ganze Zeit beobachtet hatte. Schnell wandte sie ihren Blick zu Yolei, die ihnen in allen farbenfrohen Details erzählte, wie sie mit Ken zusammengekommen war. Mimi lächelte zwar, aber ihre aufkommende Eifersucht, konnte sie nicht unterdrücken. Sie freute sich zwar für sie, aber ihr Herz schmerzte sehr, wenn sie an die letzten Wochen zurückdachte. Wieder fixierte sie Sora mit einem vielsagenden Blick, doch richtete ihn schnell wieder ins Leere, um nicht aufzufallen. Am liebsten würde sie sie danach fragen. Sie wollte wissen, was sie fühlte. Eigentlich wollte sie nur wissen, ob sie auch Gefühle für Taichi hatte. Das würde alles verändert. Wirklich alles. In ihrer Verzweiflung bemerkte Mimi weder, dass sie auf ihrer Lippe herumkaute, noch das Yolei ihr eine Frage gestellt hatte. Kari stupste sie leicht an. Erneut spiegelte sich das Mitleid in ihren Augen wieder und Mimi wünschte sich, dass sie nie dahinter gekommen wäre, dass sie in ihren Bruder verliebt war. „Was ist denn?“, fragte Mimi leicht ruppig. „Naja, ich habe immer noch nicht so ganz gecheckt, was zwischen dir und Tai vorgefallen ist. Und das mit Matt war mir bis vor ein paar Stunden auch ganz neu“, meinte Yolei empört und sah zwischen Sora und Mimi hin und her. „Willst du jetzt wirklich ausgerechnet darüber reden?“, flüsterte Kari ihr hörbar zu. Yolei nickte nur und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ja will ich! Ich blicke überhaupt nicht mehr durch! Wer hatte denn jetzt was mit wem?“ Mimi fasste sich an die Stirn und murmelte etwas Unvollständiges vor sich hin, während sie immer weiter auf ihrem Stuhl hinunterrutschte. Sie wünschte sich ein schwarzes Loch herbei, dass sie augenblicklich aufsaugte und auf einem anderen Planten wieder ausspuckte. „Das ist vielleicht gerade etwas unangebracht“, hörte Mimi Kari sagen, doch auch Sora schien Redebedarf dringend nötig zu haben. „Das ist alles meine Schuld“, sagte sie mit schwacher Stimme und starrte vor sich hin. Mimi richtete den Kopf nach oben und sah ihre Freundin skeptisch an. Sora hatte sie Füße aus ihren Stuhl gestellt und lehnte ihre Beine gegen den Tisch. Mit den Händen fuhr sie sich durch ihr rotes Haar, während Yolei tausend Fragen auf einmal stellte. „Warum das denn? Was habe ich schon wieder verpasst? Man Kari, du erzählst mir auch nur Halbwahrheiten“, beschwerte sie sich tobend und trank ihr Glas Sekt in einem Zug aus. „Jetzt nochmal von Anfang an“, sagte sie in einem ruhigeren Ton und hielt ihr Glas mit zwei Fingern fest. „Warum soll es deine Schuld sein, Sora?“ Die Angesprochene versteckte ihr Gesicht in ihrer Armbeuge und scheute es die anderen nur anzugucken. Mimi hingehen hielt praktisch die Luft an und starrte sie nieder. Aus dem Augenwinkel heraus erkannte sie, dass Kari sie beobachtete, während Yolei immer noch diverse Fragen in den Raum warf, um Sora zum Reden zu bringen. Doch Sora atmete nur tief aus und hob ihren Kopf. „Ich glaube, ich habe mich in beide verliebt“, sagte sie gerade heraus und Mimi befürchtete jeden Augenblick zu ersticken. „Wie bitte? Wann ist das denn alles passiert? Kari, klär‘ mich mal auf“, wimmerte Yolei verzweifelt und raufte sich die Haare. Mimi war der Mund aufgeklappt und sie musterte Sora, so als hätte sie den Verstand verloren. „Wie du glaubst, dass du in beide verliebt bist?“, fragte Mimi entsetzt, während Kari Yolei die Zusammenhänge erklärte. „Ich weiß es doch auch nicht. Ich gehe beiden aus dem Weg und vermisste sie so sehr, dass ich es gar nicht in Worte fassen kann.“ „Aber dann bist du doch nicht gleich in beide verliebt“, erklärte Mimi fast schon hysterisch. „Ja ich weiß, aber der Kuss mit Tai…es ist alles so seltsam geworden. Ich weiß doch auch nicht, was das zu bedeuten hat!“ Mimis Mund wurde auf einmal ganz trocken, ihre Augen weiteten sich und ihr Herz schien stehen geblieben zu sein. „Das ist doch nicht dein Ernst?“, brachte sie noch hervor und erhaschte die Aufmerksamkeit von Kari, die sanft ihre Hand auf ihren Arm legte. Sie schielte kurz hinunter, ließ sich jedoch nicht aus dem Konzept bringen. „Man kann nicht in zwei Menschen gleichzeitig verliebt sein. Das funktioniert nicht!“ „Doch, Mimi ich…“, begann Sora zögerlich. „…als er dich geküsst hat, wurde ich wirklich verdammt wütend und traurig und so ging es mir auch damals mit Matt, wenn er immer seine Affären abgeschleppt hat.“ „So ein Unsinn! Was willst du den beiden denn sagen? ‚Hey Bock auf einen Dreier?‘ Klingt sicher total vielversprechend“, knurrte sie zurück und hinterließ mit ihrer Aussage pures Entsetzen. Sie drehte sich zu Kari und Yolei, deren Münder weit offen standen und auch Sora blickte sie verstört an. „Was denn? Man kann definitiv nicht zwei Menschen gleichzeitig lieben! Irgendwann muss man sich entscheiden.“ In diesem Moment fragte sie sich, ob ihr Vater damals eine ähnliche Entscheidung getroffen hatte. Schließlich hatte er ihrer Mutter einen Antrag gemacht und die Geschichte mit Ayame hinter sich gelassen, auch wenn es bereits zu spät war. „Ich habe doch schon gesagt, dass ich verwirrt bin und nicht genau weiß, wie es jetzt weiter gehen soll. Vielleicht sollte ich ihnen nicht länger aus dem Weg gehen und mich meinen Gefühlen stellen.“ „Dich deinen Gefühlen stellen? Wie willst du das machen? Jedem mal die Zunge in den Hals schieben?“, fragte Mimi schnippisch und warf die Haare nach hinten. „MIMI!“, rief Kari empört und hielt sich die Hand vor den Mund. „Was denn? Wegen dieser ganzen Situation hatten TK und du doch mega Stress, schon vergessen?“, erinnerte sie sie und richtete den Blick zu ihr. „Ihr hattet Stress?“, wollte Sora entsetzt wissen. „Warum weiß ich davon nichts?“, warf Yolei nebenbei ein und schüttelte nur den Kopf. Kari versuchte die Situation zu retten und machte Sora glaubhaft klar, dass sie nicht Schuld daran hatte, sondern es viel mehr um ihre Brüder ging, die sich immer noch nicht miteinander ausgesöhnt hatten. Mimi gab nur einen zischenden Laut von sich und verschränkte die Arme vor der Brust. „Und wie soll es weitergehen? Willst du beiden ewig Hoffnungen machen?“ „Nein, das will ich nicht, aber im Moment bin ich etwas überfordert“, rechtfertigte sich Sora und schien sich bereits zu wundern, warum Mimi so aggressiv reagierte. „Und eigentlich geht es dich doch am wenigsten was an!“ Mimi legte den Kopf schief. „Ist das dein Ernst? In der Nachhilfe werde ich von Tai regelrecht zugemüllt und Matt liebt dich wirklich, jedenfalls macht er zurzeit einen sehr unglücklichen Eindruck auf mich.“ Sie verdrehte die Augen und unterdrückte das Verlangen Sora durchschütteln zu wollen. „Außerdem läuft das mit dir und Matt schon länger. Wäre irgendwie ganz schön assi, ihn jetzt einfach abzuschießen“, ergänzte sie und trieb Sora die Tränen in die Augen. Ruckartig sprang sie auf. „Das weiß ich selbst, Mimi. Du brauchst nicht mein Gewissen zu spielen“, schrie sie und rannte in Richtung Bad. Das Knallen der Tür ließ die drei Zurückgebliebenen zusammenschrecken und Mimi überkam ihr schlechtes Gewissen. Was hatte sie sich nur dabei gedacht? _ Sie schloss die Tür auf, schlüpfte aus ihren Schuhen und ließ ihre Tasche laut auf den Boden knallen. Sachte sprang die Tür ins Schloss und Mimi schritt leise den Flur entlang. Im Wohnzimmer brannte noch Licht, was ihr signalisierte, dass ihre Mutter noch wach war. Kein Wunder, es war ja noch nicht mal elf Uhr. Sie hatte sicherlich nicht damit gerechnet, so früh wieder hier zu sein. Doch die Diskussion über Beziehungen und ob man in zwei Menschen gleichzeitig verliebt sein konnte, hatte Sora gereicht. Die Stimmung war im Keller, besonders als sie wieder aus dem Bad kam, panisch ihre Sachen schnappte und aus Yoleis Wohnung verschwand. Natürlich hatte Mimi kurz überlegt ihr einfach nachzulaufen und mit ihr zu reden, doch das hätte die Wahrheit vorausgesetzt. Und Mimi war noch nicht bereit, ihren Freunden die Wahrheit zu sagen. Besonders weil sie zuerst zu ihrer Mutter ehrlich sein musste. Sie verdiente es wohl am ehesten. Mimi ging ins Wohnzimmer, um ihrer Mutter Bescheid zu sagen, dass sie wieder zu Hause war, doch vor ihr bot sich mal wieder ein Bild, dass sich sofort in ihrem Kopf einbrannte. „Mama?“, fragte sie unsicher und ging auf sie zu. Sie saß auf dem Boden, diesmal ohne sich dieses bekloppte Hochzeitsvideo anzuschauen. Allerdings erstreckte sich vor ihr eine Zettelwirtschaft, die den halben Boden bedeckte. Einige Taschentücher waren ebenfalls zerknüllt dazwischen zu finden. Ihre Mutter drehte sich zur ihr und sah sie mit einem leeren Blick an. Ihre Augen waren gerötet. Ihre Lippe war leicht aufgesprungen. Ihre Haare hatte sie unordentlich hochgesteckt, sodass ein paar Strähnen vorne raus hingen und ihr Gesicht umspielten. „Was machst du denn schon wieder hier? Ich dachte du kommst morgen früh“, murmelte sie und fuhr sich über ihre Augenpartie. „Pläne ändern sich“, antwortete sie ausweichend und begutachtete die Zettelwirtschaft genauer. Sie legte den Kopf schief und bückte sich zu ihr hinunter. „Mama, sind das deine Bewerbungen?“ Mimi wusste, dass sie sich für verschiedene Jobs in größeren Wirtschaftsunternehmen beworben hatte. Bisher hatte sie sich keine Gedanken über das Einkommen ihrer Mutter und wie sie das Haus weiter finanzieren wollten gemacht. Sie dachte, dass ihr Vater wohl genügend Unterhalt zahlte, bis ihre Mutter auf eigenen Füßen stehen konnte. Sie hatte keine Ahnung, dass sie dermaßen daneben lag. Auch wenn sie nicht viel davon verstand, konnte sie gut rauslesen, dass es sich bei den meisten Briefen um Absagen handelte. Die meisten Unternehmen hatten ihr sogar ihre Unterlagen zurückgeschickt. Manche schrieben, dass sie zurzeit keine neuen Mitarbeiter suchten. „Die meinen alle, dass ich zu wenig Berufserfahrung habe oder bereits zu alt bin.“ Sie lächelte leicht, doch es verschwand im Nebel der Tränen. Zum Lachen war ihr nicht zu mute. Mimi merkte, dass ihre Mutter verzweifelt war. Manche Absagen erhielt sie schon vor einigen Tagen und all das hatte sie vor ihr verheimlicht. „Ach Mama, das wird schon irgendwie“, versuchte Mimi sie zu beruhigen und legte behutsam eine Hand auf ihre Schulter. Ihre Mutter ergriff ihre Hand, einige Tränen kullerten ihr die Wange hinunter, während sie sachte mit dem Kopf schüttelte. Mimi zog die Stirn kraus und verstand nicht, was ihre Mutter damit sagen wollte. Sonst war sie doch immer ein Optimist gewesen. „Wenn wir zusammenhalten klappt das schon, da bin ich mir sicher“, meinte sie zuversichtlich. Doch das Schluchzen ihrer Mutter wurde lauter und quälte sie zunehmend. Was sollte sie noch sagen? Sie konnte weder in die Zukunft sehen, noch versprechen, dass sie tatsächlich einen Job bekommen würde. Aber trotzdem sollte sie nicht die Flinte ins Korn werfen. „Mama, das wird alles wieder werden“, sagte sie ruhig und nahm sie in den Arm. Sie drückte sie fest an sich, während ihre Mutter nur zaghaft ihre Umarmung erwiderte. „Es wird alles wieder gut“, flüsterte sie in ihr Ohr. Plötzlich löste ihre Mutter die Umarmung und nahm ihr Gesicht zwischen die Hände. Es sprach so viel Schmerz aus ihrer Augen, sodass Mimis Blut beinahe gefror. Es machte ihr Angst, sie so verzweifelt zu sehen und irgendwie ließ es sie nicht los, dass noch etwas anderes dahinter steckte. Die Tränen quollen aus ihren Augenlidern und kämpften sich den Weg nach unten. Es dauerte einen Moment, bis sie ihre Sprache wiedergefunden hatte. Und ihre Worte waren so hart, wie eine Faust, die auf ihr Gesicht zusteuerte und sie gnadenlos traf. Es war etwas, mit dem sie nicht gerechnet hatte. Ihre Mutter sammelte sich, kräuselte die Lippen und sprach, dass aus, womit Mimi nicht gerechnet hatte. „Dein Vater hat unser gemeinsames Konto gesperrt.“ „Was?“, erschrocken weiteten sich ihre Augen. „Das kann er doch nicht machen!“ Die Empörung war deutlich aus ihrer Stimme herauszuhören. Doch das Gesicht ihrer Mutter sagte ihr, dass er es sehr wohl machen konnte. Sie waren am Boden angelangt. Die harte Realität hatte sie eingeholt und nun mussten sie mit dieser Tatsache leben. Kapitel 26: Einschneidende Ereignisse ------------------------------------- Sie war nervös. Ihre Hände schwitzen, als sie sich gegen die kühle Wand lehnte und wartete, dass er aus der großen Glastür kommen würde. Mimi hatte mit seiner Sekretärin telefoniert, weil er am Wochenende an einer Konferenz teilgenommen hatte. Von ihr wusste sie, dass ihr Vater um 16 Uhr Feierabend machte, deswegen hatte sie sich beeilt, um ihn abzupassen. Sie wollte mit ihm reden. Fragen, was er sich dabei dachte, einfach das gemeinsame Konto zu sperren und ihre Mutter und sie im Regen stehen zu lassen. Dachte er überhaupt noch nach? Wusste er, was er ihnen damit antat? Er konnte sich doch denken, dass sie ohne seine finanzielle Hilfe aufgeschmissen waren. In ihr brodelte es. Sie stand kurz vor der Explosion und hoffte wirklich, dass ihr Vater eine gute Erklärung parat hatte. Mimi hatte sie Arme vor der Brust verschränkt und blickte anstrengt zur Glastür, während sie ihren Gedanken freien Lauf ließ. Sie überlegte fieberhaft, was sie ihrem Vater alles sagen wollte. Er hatte sie so verletzt, sich nicht mehr bei ihr gemeldet, obwohl es ihr eigentlich recht war. Sie wollte ihn noch nicht mal jetzt wiedersehen, aber sie hatte keine andere Wahl. Irgendwie musste sie ihrer Mutter doch helfen, sie unterstützten, damit sie nicht untergingen. Mimi hatte sich natürlich auch gefragt, warum sie nicht einfach ihre Großeltern um Hilfe bat. Doch ihre Mutter schämte sich zu sehr, hatte Angst vor der Reaktion. Aber hauptsächlich wollte sie einfach den Schein wahren. Sie wollte nicht als Versagerin dastehen, die keinen Job bekam, weil sie zu alt und unerfahren war. Vielleicht hatte sie auch immer noch die Hoffnung, dass ihr Vater und sie es nochmal hinbekommen würden. Mimi fuhr sich mit der Zunge über ihre trockenen Lippen und benetzte sie mit Feuchtigkeit. Sie stellte fest, dass in ihrem Leben zurzeit so einiges schief lief. Auch die Sache mit Sora beschäftigte sie. Mimi spürte, dass sie sie sehr verletzt und einen großen Keil zwischen sie getrieben hatte. Dabei hatte sie einfach nur die Wahrheit gesagt. Etwas, was Sora nicht hören wollte. Gut, sie hätte ihre Worte gewählter ausdrücken können, aber merkte sie nicht, dass sie im Treibsand steckte? Zwei Menschen gleichzeitig zu lieben, war doch nur eine Ausrede, sich nicht entscheiden zu müssen. Sie hatte Angst vor den Konsequenzen, mehr nicht. Einen der beiden würde sie mit Sicherheit verlieren und Mimi wusste, wie wichtig ihr die Freundschaft zu Tai und Matt war. Es wäre wohl am einfachsten gewesen, sich von beiden fernzuhalten, doch die Hormone zeigten meist andere Wege auf und benebelten das Herz. Mimi lockerte ihre Haltung, schüttelte ihre Beine aus und fuhr sich durch die langen braunen Haare. Es hatte sich alles verändert. Selbst die Gefühle für Tai, die ihr keine Schmetterlinge mehr bereiteten. Wenn sie ihn sah und notgedrungen mit ihm sprechen musste, spürte sie eine Enge in ihrer Brustgegend, so als drücke jemand ihr Herz mit der Hand zusammen. Sie hatte das Bedürfnis zu Weinen, oder am liebsten wild um sich zu schlagen. Es war ein Schmerz, den sie schlecht beschreiben konnte, aber dennoch allgegenwärtig war. Voller Trauer und Wut, ein wenig so wie bei ihrem Vater, nur das die Wut deutlich überwog. Sie wollte sich am liebsten ihr Herz herausreißen und am nächsten spitzen Zaun aufspießen. Er hatte sie verletzt, ohne es richtig bemerkt zu haben. _ Vom langen Warten waren ihre Beine mittlerweile eingeschlafen. Sie fragte sich wirklich wie lange es noch dauerte, so langsam verging ihr wirklich die Lust. Sie starrte zur Tür und bemerkte, dass sie ersten Leute hinausstürmten. Mimi ging ein paar Schritte auf sie zu und suchte nach dem bekannten Gesicht ihres Vaters, entdeckte ihn jedoch nicht. Sie blieb an der Tür stehen und wartete. Ihre Beine fingen leicht an zu zittern, genauso wie ihre Hände, die sie ineinander krampfte. Ihr Gesicht war angespannt, ihre Augenbrauen leicht zusammengekniffen. Nervös wippte sie hin und her, bis ein Dreiergespann den langen Flur entlang lief. In der Mitte, ihr Vater, der sich angeregt mit einer Kollegin zu unterhalten schien. Er sah kurz auf und sein Blick versteinerte sich. Mimi schluckte all ihre Zweifel hinunter und versuchte ihre Unsicherheit zu überspielen, als ihr Vater sich von seinen Kollegen verabschiedete und überrascht auf die Tür zusteuerte. „Mimi? Was machst du denn hier?“ Er schielte über seine Brille und ging ein Stückchen weiter, sodass sie nicht mehr direkt an der Tür standen. „Ich will mit dir reden“, eröffnete sie ihm ernst, nahm ihre Tasche von den Schultern und kramte darin nach etwas. Ihr Vater begutachtete die ganze Situation schweigsam. Sein leichtes Lächeln, das seine Lippen zierte, verblasste, als Mimi einen Kontoauszug hervorholte und darauf hindeutete, dass er ihr Konto gesperrt hatte. „Erklärst du mir das bitte mal? Wie kannst du sowas machen?“, fragte sie aufgebracht und hielt ihm das Stückchen Papier vorwurfsvoll unter die Nase. Er nahm es in die Hand und runzelte die Stirn. „Hat dich deine Mutter etwa geschickt?“ Mimi schüttelte den Kopf. „Nein, sie weiß gar nicht, dass ich hier bin“, räumte sie ein. „Und was willst du jetzt von mir hören?“, erwiderte er verständnislos und drückte ihr den Kontoauszug wieder in die Hand. „Deine Mutter war nicht bereit auf meine Kompromisse einzugehen und ich habe auch Rechte.“ „Wovon sprichst du überhaupt? Und außerdem warst du doch derjenige, der Mist gebaut hat.“ „Mimi, das ist schon Jahre her und hat mir absolut nichts bedeutet. Ihr seid meine Familie“, sagte er nachdrücklich und berührte sie an ihrer Schulter. Doch Mimi war seine Nähe nicht Geheuer und riss sich ruppig aus seinem Griff. „Aber wenn du uns wirklich liebst, warum machst du denn sowas? Willst du, dass wir auf der Straße landen?“ Ihre Stimme überschlug sich fast vor Zorn. Sie spürte, dass ihr ganz heiß wurde. Ihre Augen brannten und Tränen stiegen auf. „Und du kannst nicht so tun, als wäre nichts passiert. Noriko ist deine Tochter und sie hätte dich gebraucht!“ „Mimi, du verstehst sowas noch nicht! Ich habe mir das Ganze auch anders vorgestellt. Ich dachte, deine Mutter beruhigt sich wieder, aber sie hat mir ausdrücklich gesagt, dass ich dich nicht mehr sehen darf und sowas geht nicht“, erklärte er ihr aufgebracht. Die Zornesader auf seiner Stirn kam zum Vorschein und Mimi wusste, dass er so richtig sauer war. „Verboten? Ich wollte dich nicht sehen!“, rechtfertigte sie sich und einige Tränen lösten sich. Sie brannten ihre Wangen hinunter und tropften lautlos zu Boden. „Ich habe eine Schwester, von der ich sicherlich nie etwas erfahren hätte, wenn es nach dir geht.“ „Mimi, bist du etwa nur hier, um mir Vorwürfe zu machen?“ „Nein…ich“ Sie zögerte ein wenig und überlegte kurz, was sie sagen sollte. „Dann sag‘ mir gefälligst, was du willst!“ „Du kannst uns das Geld nicht streichen! Wir sind darauf angewiesen!“, platzte aus ihr hervor, obwohl sie eigentlich etwas anderes sagen wollte. „Also bist du nur hier, um Geld einzufordern?“, fragte er und klang enttäuscht. Nein. Eigentlich wollte sie ihm die Meinung geigen. Ihm sagen, wie sie sich fühlte. Dass, er sie zu tiefst verletzt hatte. „Wir brauchen es, sonst landen wir auf der Straße. Wenigstens solange bis Mama einen Job gefunden hat.“ Ihre Stimme war brüchig, ihre Augen gläsern. Sie konnte den Gesichtsausdruck ihres Vaters nicht entziffern. Er spiegelte so viel wieder, aber nicht genug, um sagen zu können, was er fühlte. Er rückte sich die Brille zurecht und wandte den Kopf zur Seite. „Gut, wenn das so ist, werde ich dafür sorgen, dass es wieder freigeschaltet wird“, antwortete er monoton. Danach ging er an Mimi vorbei und würdigte sie keines Blickes. Er blieb kurz stehen und räusperte sich. „Ich werde demnächst in eine kleine Wohnung umziehen, daher überlegt euch, was ihr mit dem Haus macht. Ewig werde ich es nicht mitfinanzieren können.“ Danach ging er schnurstracks zu seinem Auto, ohne sich von ihr verabschiedet zu haben. Mimi kniff die Augen zusammen, während unzählige Tränen über ihr Gesicht quollen. Sie wollte doch gar nicht sein dummes Geld. Sie wollte ihre Familie zurück, doch jetzt erst merkte sie, wie weit sie von diesem Traum entfernt war. _ Sie puderte sich das Gesicht und betrachtete dabei ihr Spiegelbild. Mit zarten Bewegungen fuhr sie ihre Gesichtskonturen nach, legte den Pinsel beiseite und drehte ihre vorderen Haarsträhnen um ihren Finger, damit sie besser fielen. Sie hatte sich einen hohen Zopf gemacht und sah ein wenig so aus, wie ihr 10-Jähriges Selbst, nur das sie geschminkt und ihre Figur weiblicher geworden war. „Du siehst wirklich hübsch aus“, sagte Noriko und trat hinter sie. Sie legte ihre Hände auf ihre Schultern und drückte sich etwas an sie heran. „Ich freue mich ja so auf heute Abend“, sagte sie strahlend und stellte sich neben sie. „Endlich lernst du mal Etsuko kennen. Diesmal ist sie auch wirklich da, versprochen!“ Mimi lächelte nur verhalten und legte etwas Rouge auf. Wieder war sie das Wochenende bei ihr, um ein wenig Normalität in ihr Leben zu bringen. Sie wollten mit den Jungs tanzen gehen und diesmal sollte auch Norikos Freundin Etsuko anwesend sein. Mimi kannte sie bisher nur aus Erzählungen. Als sie sie das letzte Mal treffen sollte, war sie nicht da. Alles was sie wusste, war das auch sie einmal Krebs hatte und Noriko dadurch kennenlernte. „Ist alles okay bei dir?“, fragte Noriko nachdenklich und musterte sie besorgt. Mimi ließ den Pinsel sinken und schüttelte kaum merklich den Kopf. Bisher hatte sie noch niemanden von der Begegnung mit ihrem Vater erzählt. Selbst ihrer Mutter nicht, die sich schon gewundert hatte, warum ihr Konto wieder freigeschaltet wurde. Die Bank hatte ihr erzählt, dass es sich um ein Versehen handelte und sie hatte es ohne Umschweife geglaubt. Oder wenigstens akzeptiert. Wahrscheinlich hatte sie nur keine Lust sich mit ihrem Vater auseinander zusetzen. Doch vor Noriko fiel es ihr so schwer, ihre Fassade aufrecht zu erhalten. Auch wenn sie sich noch nicht so lange kannten, spürte sie, dass sie etwas verband. Sie hatte die Gabe in ihr Innerstes zu sehen und wusste demnach genau, wie sie sich fühlte. „Ich hatte vor ein paar Tagen mit unserem Vater geredet“, brachte sie schwerfällig über die Lippen. Noriko blickte sie überrascht an. „Wirklich? Was hat er gesagt?“ „Er hatte unser Konto gesperrt und ich hatte ihn darum gebeten, es rückgängig zu machen.“ „Was? Warum erzählst du mir sowas nicht?“, fragte sie empört und legte ihren Lipgloss, den sie auftragen wollte, beiseite. Mimi atmete hektisch ein. „Ich konnte es nicht. Meine Mutter war voll fertig, weil sie keinen Job findet und er hat das Konto auch nur vorrübergehend wieder aktiviert.“ „Aber er muss euch doch Unterhalt zahlen!“, warf Noriko entgeistert ein. „Ja schon, aber er ist nicht dazu verpflichtet das Haus weiter zu finanzieren. Er wohnt ja nicht mal mehr da“, untermalte Mimi verzweifelt und stützte sich auf Norikos Schminktisch ab. „Es läuft alles aus dem Ruder. Irgendwann landen wir sicher auf der Straße.“ „So ein Quatsch“, widersprach sie und legte den Arm um ihre Schulter. Eigentlich hatte Mimi erwartet wieder weinen zu müssen, aber die Tränen blieben aus. Vielleicht hatte sie sich leergeweint und musste warten, bis ihre Tränenreserven wieder gefüllt wurden. „Es wird sich schon eine Lösung finden. Ich kann mal Etsu fragen, ob ihr Vater noch jemanden sucht.“ Mimi schaute in ihr hoffnungsvolles Gesicht, konnte sich aber nicht vorstellen, dass ihre Mutter bereit war in einer Bar zu arbeiten. Und das Haus würden sie so oder so, auf Dauer gesehen verlieren. Als Barfrau, oder wie immer man es auch nennen sollte, verdiente man sicher kein Vermögen. Das wusste selbst Mimi. Doch dieser Abend sollte sich nicht um ihre Probleme drehen. Sie wollte Spaß haben und den anderen nicht die Stimmung ruinieren. _ Im Club angekommen hatten sie sich alle an die Bar verzogen. Yasuo war diesmal auch dabei und plapperte ohne Punkt und Komma, was Mimi irgendwie erheiterte. Er war ein lustiger wissbegieriger Junge, der gerne alles und jeden filmte. Nur mit Müde und Not konnte Masaru ihn dazu überreden seine heißgeliebte Kamera zu Hause zu lassen, jedenfalls hatte er das erzählt. Nach und nach trennten sich ihre Wege jedoch kurz. Noriko suchte nach Etsuko, während Masaru mal wieder in den Massen verschwand. Mimi blieb mit Chiaki und Yasuo alleine zurück. Aus Masaru wurde sie einfach nicht schlau. Heute wirkte er wieder äußerst distanziert, fast schon ein wenig geistesabwesend. „Stimmt was nicht?“, erklang die Stimme von Yasuo. Mimi hatte Masaru die ganze Zeit nachgeblickt und noch nicht einmal gemerkt, dass sie von den beiden merkwürdig gemustert wurde. „Ehm, ich hab‘ mich nur gefragt, wo Masaru immer hingeht“, erklärte sie auf und deutete in die Richtung, in die er verschwunden war. Chiaki lächelte wissend und hatte die Ellenbogen auf der Theke abgelegt. „Naja, immer wenn wir unterwegs sind, kann er sich mal so richtig ausleben, weißt du?“ „Ausleben?“, wiederholte sie und erinnerte sich daran, dass Noriko etwas Ähnliches erwähnt hatte. Aber Masaru, ein Aufreißer? Das passte nicht zusammen. Sie hatte mittlerweile von ihm einen ganz anderen Eindruck. Die Verwirrung stand ihr ins Gesicht geschrieben, besonders nachdem Chiakis Grinsen immer breiter wurde. Er starrte an ihr vorbei, huschte mit den Augen von A nach B. Yasuo trank an seiner Cola und schien ohne seine Kamera das Interesse am alltäglichen Leben verloren zu haben. Mimi runzelte die Stirn und kniff angestrengt die Augen zusammen, bevor sie sich herumdrehte. „Wo zum Teufel starrst du denn hin?“, fragte sie und blickte sich um. Sie merkte noch wie sich Chiaki näher zu ihr rüber lehnte. Sie spürte seinen warmen Atem auf ihrer Haut und könnte schwören, das Grinsen aus seiner Stimme herauszuhören, auch wenn das unmöglich war. „Guck mal genauer hin. Dann erkennst du es schon“, lachte er und deutete mit der Spitze seines Kinns in eine bestimmte Richtung. Sie folgte dem Wink und automatisch klappte ihr der Mund leicht auf. Sie blickte schnurstracks zu Chiaki, der wirklich wie ein Honigkuchenpferd grinste. „Aber…was?“ Chiaki klopfte ihr leicht auf die Schulter. „Tja was soll man da schon sagen. Er steht eben ganz schön aufs Blasen, allerdings meine ich damit in keine Trompete.“ Er lachte über seinen dämlichen Witz und wandte sich wieder Yasuo zu, der all dem keine Beachtung zu schenken schien. Mimi war immer noch geschockt, blickte mit geweiteten Augen zu Masaru, der gerade einem Typ, die Zunge in den Hals steckte. _ Sie hatte sich an einen der Tische gestellt und versuchte das eben Gesehene zu verarbeiten. Noriko war immer noch nicht da, während Chiaki mit Yasuo kurz auf die Toilette verschwand. Beide hatten eindeutig zu viel Cola und Bier getrunken, die auf ihre Blase drückten. Mimi hielt ihnen einen Platz frei, den sie vor kurzem erspäht hatte. Vollkommen in ihre Gedanken versunken, merkte sie gar nicht, dass sich jemand ihr nährte. „Ist dir nicht langweilig? Mich würde es voll nerven, die ganze Zeit alleine hier rum zu stehen“, ertönte die tiefe Stimme von Masaru. Mimi schreckte zusammen und merkte, dass er plötzlich neben ihr stand und auf sie herab sah. „Also, so langweilig ist es gar nicht. Man erfährt zwischenzeitlich interessante Wendungen“, erwiderte sie skeptisch blickend. Sie fragte sich, ob er den Wink verstand. Er lächelte nur. In seiner Hand hielt er ein volle Flasche Bier. „Ach, du hast es also mitbekommen.“ „Mehr oder weniger“, sagte sie und presste die Lippen aufeinander. Was sollte sie jetzt nur sagen? Bisher war sie mit solchen „Problematiken“ noch nicht konfrontiert geworden. Vielleicht sollte sie ihn einfach darauf ansprechen. Den direkten Weg gehen. Was sollte schon groß passieren? Mehr als nichts sagen, konnte er wirklich nicht. „Du stehst also auf Kerle?“, fragte sie unsicher und war fast schon ein wenig überrascht. Damit hatte sie nicht gerechnet. Er sah eher aus, wie der typische Womanizer. Er lächelte nur und drehte das Bier in seiner Hand. Er zog an der Seite des Etiketts, sodass es sich langsam löste. „Wie bist du denn darauf gekommen? War es meine feminine Aura oder die Tatsache, dass ich vor kurzem noch die Zunge von dem Kerl dahinten im Hals stecken hatte?“ Die Ironie war kaum aus seiner Stimmer herauszuhören. Feminine Aura? Er wollte sie wohl verarschen. Bei ihm hatte sie wirklich am aller wenigstens damit gerechnet. „Tja, ich glaube die Zunge war doch ganz schön eindeutig“, antwortete sie sarkastisch und musterte ihn auffällig. Seine Wangen waren etwas gerötet und ein leichtes Lächeln zierte seine Lippen. „Hättest du damit gerechnet?“ „Nein, so gar nicht“, erwiderte sie gelassen. Gedankenverloren spielte sie an dem Strohhalm ihres Getränkes, hatte allerdings ihre gesamte Aufmerksamkeit auf ihn gerichtet. Er wirkte auf einmal so locker und unbefangen, so als würden zwei verschiedene Menschen in ihm schlummern. Er hatte nichts mehr zu ihr gesagt, sondern starrte sie einfach nur an. Seine grünen Augen trafen ihre. Blicke wurden untereinander ausgetauscht, doch keiner verlor nur ein einziges Wort. Die Situation war seltsam, dennoch war Schweigen sicherlich nicht die richtige Option. Mimi war gerade im Begriff etwas zu sagen, als die Stimme von Noriko ertönte. Mimi schwang herum und sah ihre Schwester auf sie zukommen. Sie war nicht allein. Sie zog ein Mädchen mit pinken Haaren hinter sich her. Sie trug einen schwarzen Rock und eine weiße Bluse mit halben Armen. Aufgeregt blieb Noriko vor den beiden stehen. „So, da bin ich wieder und ich habe sogar Etsu gefunden“, verkündete sie stolz. Etsuko lächelte und schloss Mimi sofort in die Arme. Etwas überrascht, ließ sie die Umarmung über sich ergehen. Ihre Haare kitzelten ihr leicht in der Nase und dufteten nach Rauch und ein wenig nach Erdbeere. „Es ist so toll dich endlich mal kennen zu lernen“, säuselte sie und drückte Mimi noch fester an sich, sodass sie schon Angst bekam zu ersticken. „Noriko hat mir schon so viel von dir erzählt. Nur Gutes natürlich“, meinte sie herzlich und ließ sie bei dieser Gelegenheit los. „Nett dich kennen zu lernen“, erwiderte Mimi verunsichert. Mit so viel Herzlichkeit hatte sie wirklich nicht gerechnet. Sie schaute sich Etsuko von oben bis unten an. Ihre pinken Haare erinnerten sie an ihre erste Zeit in Amerika. Mit 13 kam sie auf die Idee sich den ganzen Kopf pink zu färben. Ihre Mutter hatte sie noch gewarnt, doch sie wollte nicht hören. Im Nachhinein bereute sie ihre Haarexperimente zu tiefst, besonders weil ihre Haare darunter sehr gelitten hatten. Mimi war froh, dass sie sie überhaupt nochmal so lang bekommen hatte. „Ich habe leider nicht so viel Zeit“, räumte Etsuko ein und holte ein Gerät hervor, das aussah wie ein elektronischer Terminkalender. „Die Band hat für heute abgesagt und jetzt muss ich kurzer Hand umdisponieren.“ „Welche Band hattet ihr denn gebucht?“, fragte Noriko neugierig und schielte kurz zu Mimi, die ihren Blick verwirrt auffing. Etsuko blickte sie kurz an, hämmerte jedoch gleichzeitig auf das Ding ein. „Die aus eurer Schule. Dieser Arsch von Hideaki hat einfach vor ‘ner Stunde abgesagt! Der sollte seine Band besser umbenennen. Ich hätte sogar schon einen Vorschlag für ihn“, grummelte sie und ihre Augen blitzten gefährlich. „Auf den kann man sich sowieso nicht verlassen“, pflichtete Masaru bei. „Er hat uns beim Orchester auch schon voll oft hängen gelassen. Er hält sich eben für was Besseres, weil sein Vater Musikproduzent ist“. „Wie heißt seine Band denn?“, wollte Mimi wissen. „Rhythm full of Shit“, platzte Etsuko hervor. Masaru schüttelte nur den Kopf und flüsterte ihr den richtigen Namen zu. „Sense of Rhythm?“, brüllte Mimi und hielt sich peinlich berührt die Hand vor den Mund. Jeder kannte diese Band, seitdem sie letztes Jahr einen Preis für die besten Newcomer gewonnen hatten. Mimi hatte sogar einige Lieder von ihnen und war eigentlich hellauf begeistert gewesen. Ihr gefielen die Lieder sogar manchmal besser, als die von den Teenage Wolves. Sie hätte nicht gedacht, dass der Frontmann auf Norikos Schule ging. „Und was willst du jetzt machen? Ne neue Band ordern?“ Etsuko schüttelte den Kopf und packte das Gerät beiseite. „Dafür ist es zu spät“, meinte sie an Noriko gewandt. „Ich werde einfach eine Playlist zusammenstellen und sie abspielen. Papa wollte Shuu überreden heute doch aufzulegen, deswegen soll ich mich um den Rest kümmern.“ Sie verdrehte die Augen, lächelte aber zuversichtlich. „Ich mache mich dann mal an die Arbeit. Wir sehen uns sicher nochmal“, verabschiedete sie sich herzlich, ging schnurstracks zur Bar und verschwand durch eine Seitentür. Noriko grinste und drehte sich wieder zu Mimi und Masaru. „So, und was wollen wir jetzt machen?“ „Ich wäre für tanzen“, schlug Mimi vor und sah, dass Chiaki und Yasuo sich bereits zu ihnen durchschlängelten. Sie sah kurz zu Masaru, der nur beiläufig mit den Schultern zuckte. Noriko hingegen schien von ihrer Idee begeistert zu sein. Kaum waren Chiaki und Yasuo wieder bei ihnen, steuerten sie auf die Tanzfläche zu. Der Abend war noch jung und es wurde Zeit, die Musik für sich sprechen zu lassen. _ Der Raum war stickig und erste Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn. Ihr war heiß, aber dennoch konnte sie nicht aufhören. Rhythmisch bewegte sie sich zum Beat und ließ sich treiben, wollte der Realität für einen kurzen Moment entfliehen. Sie tanzte mit Masaru, der sie einmal um die eigene Achse drehte. Sie kicherte, auch wenn es ihr leicht schwindelig wurde. Ihr Hals brauchte dringend eine Erfrischung. Lachend lehnte sie sich gegen Masaru, stellte sich auf die Zehenspitzen und rief ihm zu, dass sie sich etwas zu trinken holen wollte. Er nickte nur und ließ sie ziehen. Mimi tapste zur Theke und bestellte sich ein Wasser. Dankend nahm sie es wenige Minuten später entgegen und leerte es innerhalb weniger Sekunden. Das kühle Nass tat ihr Kehle unheimlich gut, sodass sie sich wieder richtig belebt fühlte und am liebsten gleich weitertanzen wollte. Sie steuerte zu Masaru und Yasuo, der eher herumhampelte statt tanzte. Doch plötzlich wurde sie aufgehalten. Sie spürte eine Hand auf ihrer Schulter und wirbelte herum. Fragend blickte sie in das Gesicht von Chiaki, dessen besorgter Blick sofort herausstach. „Hast du Noriko gesehen? Ich suche sie schon seit ‘ner halben Stunde!“ Mimi kratzte sich am Hinterkopf und dachte nach. Vor fünfundvierzig Minuten wollte sie zur Toilette gehen, aber so lang konnte doch wohl keine Schlange sein?! „Wo hast du denn gesucht?“, schrie sie förmlich, um gegen die Lautstärke anzukommen. „Ich war an der Bar, auf der Tanzfläche und sogar hinten am Sitzbereich“, zählte er hilflos auf. „Ich konnte sie nirgends finden.“ Komisch, vielleicht befand sie sich doch noch auf der Toilette. Mimi beugte sich näher zu ihm hin und sagte ihm, dass er weiterhin die Augen offen halten sollte und sie auf dem Damenklo nachsehen würde. Daher quetschte sie sich durch die Massen durch und merkte relativ schnell, dass sich vor dem Toilettenbereich eine lange Schlange gebildet hatte. „Was ist denn hier los?“, fragte sie an ein Mädchen gewandt, dass wütend mit dem Fuß aufstampfte. „Was hier los ist? Die eine Toilette ist vollgekotzt, ‘ne andere verstopft und eine wird blockiert“, nörgelte sie und verschränkte wütend die Arme vor der Brust. „Es kann doch nicht sein, dass nur eine scheiß Toilette funktionstüchtig ist.“ „Eine ist blockiert?“, wiederholte sie interessiert. Das Mädchen nickte nur. Mimi rief ihr ein knappes „Danke“ entgegen und quetschte sich weiter durch. Von vielen hörte sie wüste Beschimpfungen, dass sie sich hinten anstellen sollte, doch das war ihr egal. Sie war sich sicher, dass Noriko die Toilette besetzte. Vielleicht hatte sie zu tief ins Glas geschaut und übergab sich da drinnen. Mimi konnte deswegen ganz sicher keine Rücksicht auf die wütende Menge hinter sich nehmen. Selbstsicher stolzierte sie zu der versperrten Kabine und klopfte energisch dagegen. „Noriko, bist du da drinnen?“ Keine Antwort. Mimi klopfte wieder. „Ich bin’s Mimi. Mach‘ bitte auf!“ Doch nichts geschah. Misstrauisch musterte sie die Tür und überlegte kurz, ob sich vielleicht jemand anders dahinter verbarg. Sie bückte sich leicht, wollte sich aber nicht auf den Boden knien, da er leicht unter ihren Schuhen klebte. Relativ schnell erkannte sie jedoch ihre Schuhe und war sich sicher, dass es nur Noriko sein konnte. Wieder schlug sie mit der flachen Hand gegen die Tür. „Noriko, ich weiß, dass du es bist! Ich habe deine Schuhe erkannt!“ Sie presste ihr Ohr gegen die Tür, als sie auf einmal ein leises Wimmern vernahm. „Mach einfach die Tür auf“, sagte sie sanft, in der Hoffnung von ihr eine Rückmeldung zu erhalten. Doch nichts dergleichen geschah. „Boah, ich muss wirklich mal auf’s Klo! Sag‘ deiner Freundin das sie rauskommen soll!“, forderte sie jemand von hinten auf. Mimi drehte sich zu ihr und zuckte nur mit den Achseln. Noriko konnte sicher nicht aufstehen, oder übergab sich noch. Plötzlich kam ihr die Idee Etsuko nach dem Schlüssel zu fragen und drückte sich durch. „Hey wo willst du hin?“, blaffte ihr eine der Frauen nach. „Ich bin gleich wieder da“, versicherte Mimi der Menge und machte sich auf die Suche nach Etsuko. _ „Und sie hat sich in einer Toilette barrikadiert?“, fragte sie abermals und hielt die Schlüssel in ihrer Hand, die leise vor sich her klimperten. „Ja und sie reagiert nicht. Ich glaube, sie übergibt sich da drin“, schlussfolgerte Mimi und drückte sich an den Massen vorbei. Die Schlange schien nicht weniger zu werden. Vor ihnen standen wütende junge Frauen, die sich mehr als nur einmal über die Klosituation aufregten. „Wie die Hyänen“, kommentierte Etsuko augenverrollend und stand im Sanitärbereich. „Aus dem Weg, ich brauche Platz.“ Sie ging zielstrebig zu der versperrten Toilettenkabine, dicht gefolgt von Mimi, auf deren Stirn sich eine Sorgenfalte gebildet hatte. „Nori, hier ist Etsuko! Geht´s dir gut?“ Wieder keine Reaktion. Mimi stand mit verschränkten Armen neben ihr. „Sie gibt schon wieder keine Antwort! Los schließ auf!“ „Ja, Moment“, grummelte sie und entriegelte die Tür. Sie sah kurz zu Mimi, als sie in die Kabine eintrat und den Zugang versperrte. Sie blieb starr stehen, Mimi stellte sich auf die Zehenspitzen und versuchte etwas zu erkennen. Vergeblich. Weder Etsukos Gesicht, noch Noriko konnte sie erblicken. „Oh mein Gott“, hörte sie Etsuko sagen und wirkte sofort alarmiert. „Was ist denn passiert?“, wollte Mimi wissen und drückte sich näher an sie heran. Etsuko schlug die Hände vor dem Gesicht zusammen und ließ die Schlüssel fallen. „RUFT SOFORT EINEN KRANKENWAGEN!“, rief sie aufgebracht in die Masse und stürmte in die Kabine. Mimis Augen weiteten sich und auch sie folgte ihr daraufhin hinein. Doch die Kabine war zu eng, sodass sie an der Tür stehen blieb und das Szenario aus der Ferne beobachtete. Sie wollte eigentlich weiter gehen, doch ihre Füße waren wie festgewachsen. Ungläubig blickte sie zu Noriko, die sich tatsächlich in der Kabine befunden hatte. Sie saß neben dem Klo, wirkte auf sie kaum ansprechbar und hatte auf den Boden gekotzt. Auch auf ihrem Shirt waren Spuren des Erbrochenen zu finden und Mimi hielt sich augenblicklich die Hand vor den Mund. Angewidert drehte sie ihnen den Rücken zu und erkannte die entsetzten Blicke der anderen. „Ich habe eine Krankenwagen gerufen“, rief eine der Frauen hysterisch und hatte noch das Handy am Ohr. „Sie sagen, dass sie in zehn Minuten da sein werden!“ Mimi nickte nur beiläufig und fühlte sich selbst fast wie ohnmächtig. Sie drehte sich wieder zu Etsuko, die verzweifelt versuchte Noriko bei Bewusstsein zu halten. Kapitel 27: Zwischen Ehrlichkeit und Heuchelei ---------------------------------------------- „Was heißt das, dass wir nicht zu ihr können?“, fragte Chiaki aufgebracht und sah so aus als wollte er jeden Augenblick auf den Mann im weißen Kittel losgehen. „Wir sind ihre Freunde! Sie will bestimmt, dass jemand bei ihr ist.“ „Tut mir leid, aber zurzeit dürfen nur Verwandte zu ihr“, erklärte der Arzt genervt. „Warten Sie bitte auf die Ankunft von Frau Yamaguchis Mutter.“ Danach verschwand er den langen Flur entlang und hinterließ bei der kleinen Gruppe ein beängstigendes Schweigen, das sich durch den Wartebereich zog. „Was für ein Pisser“, sagte Chiaki nach einer Weile. Mimi hatte sich bereits hingesetzt und starrte ins Leere. Was war nur passiert? Ihr ging es vor wenigen Stunden noch so gut und dann sowas. Mimi bekam die Bilder nicht mehr aus ihrem Kopf. Sie hatten sich eingebrannt, genauso wie der beißende Geruch von Erbrochenem. „Ich verstehe nicht, warum sie uns nicht reinlassen“, knurrte Chiaki und lief im Kreis. „Hast du nicht gesagt, dass du ihre Schwester bist?“ Mimi zuckte zusammen. Er klang richtig aggressiv. Sie traute sich kaum den Mund aufzumachen. „Sie kann nichts dafür!“, beschwichtigte Masaru und legte plötzlich den Arm um sie. Mit großen Augen verfolgte sie seine liebgemeinte Geste, richtete aber den Kopf schnell wieder zu Chiaki, der vor Zorn ganz rot wurde. „Wir konnten doch nicht ahnen, dass sie auf einmal zusammen bringt“, ertönte auch die Stimme von Yasuo, der sich bisher eher zurückgehalten hatte. Für Mimi ging alles viel zu schnell. Vor wenigen Minuten stand sie noch in der versifften Toilette, als plötzlich zwei Sanitäter reingestürmt kamen und Norikos Vitalfunktionen untersuchten. Es wurde mit Fachbegriffen um sich geworfen und Etsuko redete, in einem scheinbar unbeobachteten Moment, mit einem der Sanitäter. Mimi hatte nicht verstanden, was gesagt wurde, aber sie konnte davon ausgehen, das Etsuko mehr wusste, als sie zugeben wollte. Sie war nicht mit ins Krankenhaus gefahren, versprach aber, sobald sich der Tumult im Club gelegt hatte, nachzukommen. Mimi war gemeinsam mit den Jungs in einem Taxi zum Krankenhaus gefahren. In ihrer Verzweiflung hatte sie sogar eine SMS an ihre Mutter getippt, sich jedoch dagegen entschieden sie abzuschicken. Eine zusätzliche Konfrontation wollte sie wirklich vermeiden, besonders nachdem sie erfahren hatte, dass auch Norikos Mutter auf dem Weg hierher war. Unter diesen Umständen wollte sie sie ganz sicher nicht näher kennen lernen, doch das Schicksal hatte andere Pläne mit ihr. Sie warteten schon über eine halbe Stunde, doch niemand durfte, oder wollte ihnen Auskunft geben. Norikos Mutter war immer noch nicht hier, da es dauerte bis sie auf dem Handy erreicht wurde. Sie kam direkt von der Arbeit. Daher mussten sie noch etwas warten, bis sie eintreffen würde. Währenddessen starb Chiaki vor Anspannung tausend Tode, während Masaru und Yasuo verhältnismäßig ruhig blieben. Chiaki wippte mit dem Bein auf und ab, was Mimi wahnsinnig machte, doch sie wollte nichts sagen, da er sich ja Sorgen um ihre Schwester machte. Sie hingegen konnte sich nicht bewegen, war wie schockgefroren und versuchte die Zusammenhänge zu sehen, wenn es überhaupt welche gab. Plötzlich hörte sie jedoch, wie jemand schrill nach ihr rief. Sie schreckte auf und blickte den Gang hinunter. Eine braunhaarige Frau lief schnurstracks zu Information und fragte lautstark nach ihr. Mimi musste nicht zweimal hinsehen, um zu erkennen, dass es sich um ihre Mutter handelte. Ihr stockte augenblicklich der Atem. Hektisch kramte sie ihr Handy hervor, um festzustellen, dass sie ausversehen die getippte SMS abgeschickt hatte. Sie sprang sofort auf und wollte sich gerade in Bewegung setzen, als ihre Mutter direkt in ihre Richtung blickte und erleichtert seufzte. Sie kam auf sie zugesteuert und hatte Tränen in den Augen. „Oh mein Gott Mimi, warum schreibst du mir so eine furchtbare SMS“, sagte sie und schlang die Arme um sie. „Ich dachte, dir wäre weiß Gott was passiert.“ „Bei mir ist alles in Ordnung“, murmelte sie kaum hörbar und legte die ebenfalls die Arme um sie. Langsam ließ sie Mimi wieder los, doch ihr Blick verriet ihr, dass etwas nicht stimmte. „Wer sind denn diese Leute? Ich dachte du warst heute bei Sora“, stellte sie fest und zog die Augenbrauen zusammen. Ertappt drehte Mimi den Kopf beiseite. Die Stunde der Wahrheit hatte geschlagen. Sie kam früher, als Mimi es erwartet hätte. „Mama, ich glaube ich muss…“, doch weiter kam sie nicht. Eine Frau in lässiger Kleidung stürmte auf die kleine Gruppe zu und Chiaki sprang sofort auf. „Wo ist sie? Wo ist meine Tochter?“, fragte die Frau, die ihre Haare unordentlich zusammen gesteckt hatte und Mimi und ihre Mutter erst gar nicht weiter beachtete. „Ayame?“ Irritiert blickend wandte sie den Kopf zu ihnen und erstarrte. Sie schluckte und krampfte ihre Finger um den Umhängegurt ihrer Tasche. „Satoe? Was machst du denn hier?“ _ „Das ist jetzt nicht dein Ernst, Mimi?!“ Wütend lief sie den Flur entlang und Mimi drückte ihren Rücken gegen die kühle Wand. Sie hatte ihr alles erzählt, während die anderen immer noch im Wartebereich darauf warteten, dass Ayame zurückkehrte. Sie war vor wenigen Minuten zu Norikos ins Zimmer verschwunden. Der Arzt wollte, so schnell es ihm möglich war, nachkommen. Ihre Mutter hatte sie jedoch von dem Rest getrennt und nahm sie ins Kreuzfeuer. „Was hätte ich denn machen sollen? Ich wollte sie eben kennen lernen“, verteidigte sie sich und ihre Mutter blieb direkt vor ihr stehen. Sie legte ihre Hände auf ihre Schultern und drückte sie sanft gegen die Wand. Ihre Gesichtszüge hatten sich etwas entspannt, obwohl sie immer noch sehr aufgebracht auf Mimi wirkte. „Warum hast du mir nichts gesagt? Warum musstest du mich anlügen?“ „I-Ich…“, stammelte sie und wich ihre Blicken aus, „ich habe gedacht, dass du es vielleicht nicht willst.“ Sie zögerte kurz, sah sie wieder an, konnte ihrem Blick aber nicht standhalten. „Ich wollte dir nicht wehtun“, flüsterte sie schuldig. „Aber Mimi, hier geht es nicht um mich“, antwortete sie und ließ ihre Tochter los. Sie ging ein paar Schritte und schlug die Hände über dem Mund zusammen. „Wie lange verheimlichst du mir das schon?“, wollte sie wissen. Wieder zögerte sie ein wenig, bis sie sich der Frage stellte. „So richtig erst seit Ende Mai“, gestand sie vor ihrer Mutter ein und schielte beschämt zur Seite. Sie wollte es ihr schon viel eher sagen, fand jedoch nie den richtigen Moment. Ihre Mutter fuhr sich über die Stirn und massierte sich die linke Schläfe. Sie schien nicht zu wissen, was sie mit dieser Information anfangen sollte, deswegen gab sie nur ein leises „Okay“ von sich und drehte Mimi den Rücken zu. Im gleichen Moment, tauchte plötzlich Ayame auf und steuerte direkt auf sie zu. Mimi hatte sie sofort bemerkt. Ihr Blick wirkte traurig, aber auch abgeklärt, so als hätte sie eine Ahnung gehabt, was sie da drinnen erwartete. Ein paar Meter vor ihnen, blieb sie stehen. „Sie würde gerne mit dir reden“, sagte sie nur und deutete auf die Tür. Mimi schaute zuerst zu ihr, dann aber zu ihrer Mutter, die sich ihr wieder zugewandt hatte. Sie nickte nur und fuhr sich durch die braunen Haare, die an den Seiten ein wenig abstanden. Unsicher setzte Mimi sich in Bewegung und folgte Ayame wortlos. „Ich werde im Auto auf dich warten“, hörte sie ihre Mutter rufen, bevor diese durch das Treppenhaus verschwand. Mimi ging an den Jungs vorbei, die sie sorgenvoll musterten. Besonders Chiaki schien mit den Nerven komplett am Ende zu sein. Er saß auf seinem Stuhl, leicht nach vorne gebeugt und fasste sich durch die dunklen Haare. Mimis Füße fühlten sich immer schwerer an, so als hätte ihr jemand Beton darüber gegossen. Ihr Herz pochte ihr bis zum Hals und sie wusste noch nicht mal wieso. Ayame begleitete sie nur bis zur Tür und signalisierte ihr, dass Noriko alleine mit ihr sprechen wollte. Schwerfällig drückte sie die Schlenke nach unten und trat in den Raum. Nur ein Bett stand darin, indem Noriko lag und sie zaghaft anlächelte. Sie sah etwas blass aus, mehr aber auch nicht. Mimi schloss die Tür hinter sich und trat vor ans Bett. Erst starrten sich beide für einen kurzen Moment schweigsam an, ehe Mimi das Wort ergriff. „Was ist hier los? Was machst du nur für Sachen?“ „Mein Timing war wirklich schlecht, oder?“ Ihre Stimme klang schwerfällig, so als hätte sie eine taube Zunge. Erst jetzt fiel Mimi auf, dass auch ihre Augen leicht gerötet waren. Hatte sie etwa geweint? Was war hier nur los? Warum machte sich das Gefühl in ihr breit, dass hier etwas nicht stimmte? „Was ist hier los? Ich versteh‘ überhaupt nichts mehr“, gestand sie sich ein und stützte sich am Gitter des Bettes ab. „Ich glaube, ich muss dir was sagen“, eröffnete sie ihr. Sie krallte ihre Finger in die Bettwäsche, löste dann jedoch ihre eine Hand, um sich die aufkommenden Tränen aus dem Gesicht zu wischen. Mimi merkte, dass es ihr auf einmal unfassbar heiß wurde und sich eine unerklärliche Anspannung in ihrem Körper breit machte. „Was ist los?“, fragte sie wieder, diesmal jedoch klarer und dringlicher. „I-Ich habe dich schon seit Ewigkeiten gesucht und jetzt wo ich dich gefunden habe, geht es mir schlechter“, sie lächelte gequält und fuhr sich mit dem Arm über ihre Augenpartie. „Das nennt man wohl Ironie des Schicksals oder?“ Mimi schüttelte nur den Kopf und legte ihre Stirn in Falten. „Was meinst du? Ich versteh‘ es nicht.“ Noriko senkte den Kopf und knibbelte an ihren Finger. In Mimi machte sich eine Ahnung breit, die eine unfassbare Wut in ihr hochkommen ließ. „JETZT SAG GEFÄLLIGST WAS LOS IST!“, brüllte sie und erschrak über ihre eigene Lautstärke. Noriko blickte sie an. Sie legte ihre Lippen fest aufeinander, sodass ein schmaler Strich entstand. „Mein Krebs ist wieder da!“ „Ich habe es geahnt“, sagte Mimi und ließ das Gitter los. „Wann wolltest du mir davon erzählen? Wenn dir alle Haare ausfallen?“ „Ich wollte es dir sagen, aber ich wusste nicht wie.“ „Wie wäre es mit ‚Mimi, der Krebs ist zurück‘. Ich fass‘ es nicht“, entgegnete sie zornig. „Du hättest es mir sagen müssen!“ „Ich weiß, aber…“ „Nichts aber! Deine Freunde wissen sicher alle Bescheid und ich bin die Dumme, die vorhin vollkommen überrumpelt im Klo stand und nicht wusste was mit dir los ist!“ „Nein, so ist das…“ „Weißt du wie schrecklich ich mich gefühlt habe?“, fragte sie und funkelte sie böse an. „Du lagst da und jeder hat gefragt, was passiert ist! Ich war so überrascht, dass ich nicht wusste wo vorne und hinten ist.“ „Mimi, du verstehst das nicht“, warf sie bedrückt ein. „Ich verstehe es nicht? Dann erklär‘s mir doch!“, erwiderte sie erbost und fuchtelte wild mit den Armen umher. „Es ist nicht so einfach, ich…“ „Man, Noriko jetzt sag einfach…“ „Ich werde sterben!“ Ruckartig blieb Mimi stehen und sah sie entgeistert an. Ihr Mund war leicht geöffnet, doch sie brachte kein Wort über die Lippen. Völlig überfordert stand sie ihr gegenüber, als Noriko ihr erklärte, was mit ihr passiert war. Sie erzählte irgendwas von Leukämie, Metastasen in der Lunge und Leber, Bestrahlungen und das all das nicht half. Doch Mimi bekam nur die Hälfte von dem Gesagten mit. Sie schielte zur Seite, merkte wie sich eine einzelne Träne löste und sich das Gefühl, betrogen geworden zu sein, in ihr ausbreitete. „Wie kannst du mir nur so etwas antun?“ Sie hob den Kopf. Tränen schossen ihre Wangen hinunter. Ihre Tränenreserven waren anscheinend wieder gefüllt und entleerten sich augenblicklich. „Ich habe mir das doch nicht ausgesucht!“, wiedersprach sie. „Das einzige was ich wollte, war dich näher kennen zu lernen.“ Sie seufzte und weinte ebenfalls. Ihre Lippen zitterten und ihre Finger krallten sich erneut in die Bettdecke. „Ich wusste nicht, wie viel Zeit mir noch bleibt!“ Mimi schüttelte nur ungläubig den Kopf, sodass ihr Zopf leicht mitschwang. „Wie kannst du mir sowas antun“, wiederholte sie und fixierte sie mit einem schmerzerfüllten Blick. Viele Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Wut sammelte sich in ihr und suchte ein Ventil, um sich Luft zu machen. Unter Tränen stand sie vor ihr und sagte das, was sie eigentlich nicht sagen wollte. „Du hast meine Familie kaputt gemacht! Wegen dir habe ich meinen Vater verloren! Du bist wirklich das Letzte!“ Ihre Worte hallten den dem kleinen Zimmer. Noriko blickte sie entsetzt an, als sie plötzlich einen quälenden Laut von sich gab und ihren Kopf auf ihre Handflächen legte. Mimi verzog ihr Gesicht schmerzlich und zitterte leicht, bevor sie sich schwerfällig in Bewegung setzte und aus dem Zimmer stürmte. Kapitel 28: Leidensgenossen --------------------------- Ihr Leben war einfach ein schlechter Witz. Sie konnte nicht verstehen, warum so viel Scheiße passierte und wieso ausgerechnet ihr. Das erste Mal seit langem fühlte sie sich so richtig allein gelassen. Ihre Mutter war immer noch etwas sauer auf sie, hatte jedoch aber auch Mitleid für Ayames und Norikos Situation entwickelt, während es Mimi regelrecht zum Explodieren brachte. Schon seit knapp zwei Wochen hatte sie mit ihr kein einziges Wort gewechselt, auch wenn sie immer wieder versuchte zu ihr Kontakt aufzunehmen. Sie verweigerte sich. Komplett. Mimi hatte niemanden mehr, dem sie vertrauen konnte. Zu Sora hatte sie in letzter Zeit kaum Kontakt gehabt. Sie wartete wohl immer noch auf eine Entschuldigung von ihr, die sie nicht bereit war zu liefern. Ihre Worte waren zwar hart, aber im Nachhinein war es die Wahrheit gewesen. Sie bereute es deswegen auch nicht. Bei Noriko sah die Sache schon anders aus. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, bereute diesen einen Satz, den sie zu ihr sagte, zu tiefst. Noriko war nicht diejenige, die ihre Familie kaputt gemacht hatte. Das war sie schon länger, ihr Vater konnte es eben nur gut vertuschen. Mimi ließ sich mit ausgebreiteten Armen auf ihr Bett fallen und starrte an die Decke. Es war Samstagabend, circa eine Woche vor ihrem siebzehnten Geburtstag, den sie dieses Jahr wohl ganz alleine feiern würde. Sie hatte alles verloren, was ihr einmal lieb und heilig war. Ihren Vater. Ihre beste Freundin. Möglicherweise auch bald ihre Existenz, wenn ihr Vater wieder auf die Idee kam, das Konto zu sperren. Aber sie hatte auch sich selbst verloren, allerdings schon vor Ewigkeiten. Sie war nicht mehr die Mimi, die allen schätzten und für ihre Ehrlichkeit liebten. Sie hatte sich verändert, sich angepasst. Wäre nur ein Fünkchen ihres Selbst übrig geblieben, hätte sie solche Probleme sicher nicht. Sie hätte Sora die Wahrheit über ihre Gefühle für Tai gebeichtet, ihm vielleicht sogar ein Liebesgeständnis gemacht, auch wenn sie wusste, dass es aussichtslos war. Sie hätte ihrem Vater sofort die Meinung gegeigt, ihn wahrscheinlich sogar selbst vor die Tür gesetzt und auch ihre Mutter nicht so lange belogen. Sie hätte alles daran gesetzt, sie ihrer alten Freundin näher zu bringen. Vielleicht sogar eine Aussprache zu erzwingen. Mimi glaubte nämlich immer noch, dass hinter all dem viel mehr steckte. Doch wie sollte sie das nur herausfinden? Noriko hatte sie mehr verletzt, als sie eigentlich wollte, auch wenn sie selbst mit der Situation nur schlecht zurechtkam. Was sollte sie machen, wenn sie wieder Kontakt zueinander hätten? Sie könnte die Tatsache nicht verdrängen, dass sie bald sterben würde. Dabei wirkte sie so gesund und munter auf sie. Aber Noriko schien eben eine genauso gute Schauspielerin zu sein, wie sie. Im Verstellen war sie mittlerweile so gut, dass sie manchmal ihre Lügen selbst glaubte. So konnte es dennoch nicht weitergehen. Sie musste sich über einige Dinge klar werden. Dazu brauchte sie unbedingt einen freien Kopf. Ruckartig schnellte sie nach oben und saß für einen Moment regungslos auf ihrer Matratze. Sie betrachtete die Bilder auf ihrer Kommode, die sie an bessere Zeiten erinnerten. Ein Foto zeigte sogar all ihre Freunde, wie sie gemeinsam den ersten August feierten. Mimi schüttelte sich leicht und stand auf. Sie musste hier weg. Hastig kramte sie ihre Sachen beisammen, schlüpfte in ihre Schuhe und eilte aus ihrem Zimmer. _ Gedankenverloren und desorientiert lief sie durch die Straßen Tokios. Es war bereits dunkel geworden und die Straßenlaternen leuchteten ihr den Weg entlang. In den Kneipen und Bars war einiges los, doch alleine irgendwo hinzugehen, war nicht Mimis Ding. Lieber lief sie noch Stunden durch die Straßen und ließ sich von der kühlen Brise erfrischen. Sie vergrub ihre Hände in ihrer Jackentasche und ging weiter, ohne die Menschen um sich herum wahrzunehmen. Manchmal blieb sie an einem beleuchteten Schaufenster stehen und begutachtete die Klamotten, die sie sich sicherlich nicht mehr leisten konnte. Frustriert ging sie weiter, stoppte aber am Fenster eines kleinen Cafés, indem sie ein bekanntes Gesicht sitzen sah. Sie legte den Kopf schief und wartete bis er sein Gesicht leicht anhob. Vor ihm dampfte eine heiße Tasse und Mimi bekam riesige Lust auf einen schönen warmen Tee. Ob er wohl etwas dagegen hatte, wenn sie sich einfach zu ihm setzte? Sein Gesicht sah nicht sonderlich glücklich aus und Mimi fragte sich, welche Laus ihm wohl über die Leber gelaufen war. Vielleicht wollte er ja sogar darüber reden und lenkte sie von ihrem eigenen Mist ein wenig ab. Nach kurzem Überlegen entschloss sie sich einfach hineinzugehen. Der Laden war nicht sonderlich gut besucht. Neben ihm war nur noch ein weiterer Gast da und versteckte sein Gesicht hinter einer ausgebreiteten Zeitung. Mimi steuerte direkt auf seinen Tisch zu und räusperte sich kurz, als sie dicht neben ihm stand. „Hey“, gab sie von sich und blickte in sein trauriges und gleichzeitig überraschtes Gesicht. „Mimi? Was machst du denn hier?“, fragte er und musterte sie skeptisch. „Ich war unterwegs und hab dich hier sitzen sehen. Kann ich?“, sie deutete auf den Stuhl gegenüber. Er nickte nur und nippte an seinem Kaffee, der immer noch vor sich hin dampfte. „Sowas nennt man wirklich Zufall“, sagte Matt grinsend, doch sein Lächeln verblasste schnell wieder und wich einem ernsten Gesichtsausdruck. Mimi beobachtete ihn ein bisschen, bevor die Kellnerin kam und ihre Bestellung aufnahm. „Was machst du denn an einem Samstagabend alleine hier? Hast du kein Konzert?“ „Nein, erst nächste Woche wieder“, antwortete kurz angebunden und fuhr mit dem Daumen über den Henkel seiner Tasse. Die Kellnerin tauchte wieder auf und brachte Mimi ihre Tasse Pfefferminztee. Dankend nahm sie ihn entgegen und öffnete sofort den Keks, der immer dabei lag. Sie knabberte unauffällig daran, während Matt nur leise seufzte. „Okay, was ist los mit dir?“ Besorgt blickte sie ihn an, während er in seinen halbleeren Kaffee starrte. Er rieb immer auffälliger am Henkel und seufzte erneut. „Es geht um Sora.“ Dass hätte sich Mimi bereits denken können. Er schien wirklich verliebt in sie zu sein und dann machte sie plötzlich sowas. Mimi konnte ihre Freundin nicht verstehen. Natürlich konnte ein Kuss alles verändern, aber mit Matt war sie so gut wie zusammen. Kein Wunder, dass er so niedergeschlagen war. „Hast du endlich mit ihr gesprochen?“, erkundigte sich Mimi interessiert und trank einen Schluck an ihrem Tee, der noch viel zu heiß war. Sie verzog kurz das Gesicht und stellte die Tasse wieder auf den kleinen Teller. Ihr Gaumen tat ein wenig weh, doch das vergaß sie recht schnell wieder. Angespannt sah sie zu Matt, der sich vor der Antwort zu drücken schien. „Ich habe keine Lust auf solche Spielchen“, sagte er nach einer gewissen Zeit. Er blickte kurz zu Mimi, dann wieder in eine andere Richtung. „Ich habe ihr gesagt, dass sie mit Tai zusammen sein kann!“ Mimis Augen weiteten sich. Unter dem Tisch krampfte sie die Hände zusammen und überlegte für den Moment, ob sie ihn richtig verstanden hatte. „WAS? Wieso? Du liebst sie doch!“ „Ja, genau deswegen“, er trank seine Tasse leer. „Ich lasse sie frei!“ Geräuschvoll stellte er sie auf den Tisch und signalisierte der Kellnerin, dass er zahlen wollte. „Dein Tee geht auf mich.“ Er zwinkerte und zückte seinen Geldbeutel. Mimi wurde von Panik ergriffen. Er wollte gehen, ohne ihr die genauen Hintergründe zu erzählen? Das durfte sie nicht zulassen. Sie blies in ihren Tee, bevor sie ihre Lippen ansetzte und versuchte ihn in einem Zug runterzubekommen. Die Minze erfrischte ihren Hals, auch wenn die Wärme sehr unangenehm war und ihren Gaumen erneut reizte. „Du hättest ihn jetzt nicht in einem Zug trinken müssen“, meinte Matt lachend und bezahlte. Er stand auf und zog sich seine Jacke an. Mimi sprang ebenfalls auf und stieß sich ihr Knie. Sie biss die Zähne aufeinander und gab einen leisen schmerzlichen Laut von sich, bevor sie sich zusammenries, da sie von Matt argwöhnisch beobachtet wurde. „Wo gehst du jetzt hin?“, fragte sie neugierig und zog sich ihre Jacke ebenfalls über. Matt packte eine Schachtel Zigaretten aus und zog ein Feuerzeug aus seiner Hosentasche. „Ich geh jetzt erstmal eine rauchen. Willst du etwa mitkommen?“ Mimi überlegte nicht lange und stimmte mit einem sehr deutlichen Nicken zu. Matt zog die Augenbraue nach oben, lächelte aber nur statt zu antworten. Gemeinsam verließen sie das Café und stürzten sich in die Nacht. _ Sie hatten sich an einem Brunnen niedergelassen, als Matt Mimi eine Zigarette reichte und sie sie zögerlich annahm. Sie hatte zwar schon einmal geraucht, aber das war schon eine gefühlte Ewigkeit her. Trotzdem nahm sie die Zigarette zwischen Zeige-und Mittelfinger und ließ sie sich von ihm anstecken, bevor er sich seine eigene anzündete. Er zog kurz daran und blies den Rauch wieder aus. Mimi musterte die Zigarette eine Weile, bis sie ebenfalls einen kräftigen Zug nahm und sofort zu Husten anfing. „Sie sind sehr stark“, informierte Matt sie grinsend und zog wieder genüsslich an seiner. „Danke für den Tipp“, grummelte sie und entschloss sich dazu lieber ein wenig zu paffen. Sie war es nicht gewöhnt und abhängig wollte sie wirklich nicht werden. „So, was willst du jetzt wissen?“, fragte er und Mimi fühlte sich durchschaut. „Naja, ich will natürlich wissen, wie es dir jetzt geht!“, erwiderte sie wie selbstverständlich. Matt runzelte die Stirn und starrte in den Nachthimmel. Während Mimi sich an den Brunnen gesetzt hatte, blieb er stehen. Seine Zigarette verglühte langsam, als er immer mal wieder gierig daran zog. „Tai ist ein viel besserer Freund für sie, als ich es je sein werde.“ „Wie kommst du denn darauf?“ Entsetzt blickte sie ihn an. „Naja, ich bin in einer Band und alles andere als Bodenständig. Sora braucht jemanden Unkomplizierten und keine männliche Drama Queen, die sie wegen der Karriere ständig nervt. Sie und ich hatten schon mehr als eine Chance, aber es soll wohl nicht sein, weil wir beide unsere Träume leben wollen und nicht bereit sind, etwas aufzugeben, was uns auszeichnet “, erklärte er bedrückt. „Aber, du und sie…“ „Ich weiß, dass es dir genauso wenig passt wie mir, aber wir sind eben die Verlierer in dieser Sache.“ „Was?“, fragte sie irritiert und verbrannte sich beinahe an der runtergebrannten Zigarette, die sie augenblicklich zu Boden fallen ließ und austrat. Matt hatte seine bereits zu Ende geraucht und steckte sich schon die Nächste zwischen die Zähne. „Ich glaube, du weißt genau, was ich meine“, antwortete er monoton. Mimi senkte den Kopf und sagte nichts. „Wie lang bist du denn schon in ihn verliebt?“ Sie sah wieder zu ihm und wusste nicht, ob sie mit ihm darüber reden wollte oder nicht. Doch als sie ihn ansah, merkte sie, wie verletzt er in Wirklichkeit war. Er hatte Sora aufgegeben, weil er sich nicht gut genug für sie hielt, während Mimi immer noch weiter gehofft hatte. Sie lebte in einer Luftblase, die soeben geplatzt war. „Schon länger“, gestand sie ihm kleinlaut. „Warum hast du es ihm nie gesagt?“, bohrte er weiter. „Warum gibst du einfach auf?“, stellte sie die Gegenfrage. „Nach dem Schulabschluss werde ich von hier abhauen! Von daher wäre es eh nicht lange zwischen uns gut gegangen“, eröffnete er ihr ohne Umschweife und ließ etwas Asche auf den Boden fallen. „Du wirst was?“ „Ich habe ein Angebot bekommen, erst vor kurzem! Wenn alles klappt werden wir nach dem Abschluss in den USA auf Tour gehen. Nur als Vorband, aber immerhin“, meinte er, ohne überheblich zu klingen. „Wow. Das ist wirklich toll“, brachte Mimi nur hervor und konnte sich denken, warum er die Beziehung zu Sora einfach so aufgab. „Weiß es noch jemand außer mir?“ Er schüttelte den Kopf. „Bitte behalte es vorerst für dich, okay?“ „Okay“, murmelte sie und schwieg für den Moment. Immer wieder schenkte sie ihm flüchtige Blicke und konnte sich das erste Mal so richtig in ihn hineinversetzen. Er gab seine Liebe zu Sora auf, um seinen Traum zu leben. Mimi hatte nicht einen Traum, der sich lohnen würde, ihre Liebe für Tai komplett aufzugeben. Irgendwie bewunderte sie ihn dafür, dass er seinen Traum verfolgte, doch gleichzeitig wusste sie auch, dass sie Tai nun endgültig verloren hatte. Ihr Herz zog sich zusammen und der Schmerz machte sich in ihr breit. Er kletterte ihre Kehle nach oben und versuchte zu entweichen. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, die sie mit den Fingern versuchte zurückzuhalten. Ein Laut löste sich von ihren Lippen, sodass Matts Aufmerksamkeit auf sie gerichtete war. „Heulst du jetzt?“ Mimi legte die Lippen aufeinander und schüttelte mit dem Kopf, obwohl sie ahnen musste, dass sie es nicht mehr lange zurückhalten konnte. Sie kämpfte mit sich selbst, wich Matts Blicken aus und hoffte nicht gleich in Tränen auszubrechen. Plötzlich merkte sie, dass sich Matt direkt vor sie gekniet hatte. Er strich ihr sanft über ihr Knie und blickte sie mit einem ebenfalls gleichwertig qualvollen Blick an, der auch in ihren Augen zu sehen war. Auch wenn er Sora losließ, hieß das noch lange nicht, dass es nicht wehtat. Für einen Moment schien die Zeit stehen zu bleiben. Nur die beiden und ihr Schmerz existieren noch auf dieser Welt. Jedenfalls für den Moment, der sich innerhalb weniger Sekunden verflüchtigte. Matt stand auf und deutete in die dahinterliegende Richtung. „Wollen wir vielleicht noch etwas trinken gehen? Da hinten ist eine Bar, die echt super Cocktails macht.“ Mimi lächelte verlegen und sah in die Richtung, in die er gezeigt hatte. Sie stand auf und hakte sich bei ihm unter. „Alles klar, worauf warten wir?“ _ In der Bar angekommen, hatten sie sich in einer Ecke niedergelassen und genehmigten sich tatsächlich einen der Cocktails. Doch aus einem wurden recht schnell zwei. Aus zwei, drei und so weiter. „Und weißt du was die größte Scheiße ist?“, fragte er leicht angeheitert. „Nein, was?“ „Wegen ihr hätte ich beinahe mit dem Rauchen aufgehört.“ Er saß dicht neben ihr und hatte das Gesicht zu ihr gewandt, damit sie ihn besser verstand. Mimi hatte mitbekommen, dass Matt eine Zeitlang weniger geraucht hatte. Von Sora wusste sie, dass sie Raucher eigentlich gar nicht mochte. Und Matt hätte sein Laster sogar für sie aufgegeben. Mimi fand das sehr romantisch. „Das ist ja so süß von dir“, lachte sie und spielte an seinem Hemdkragen. „Sora wäre wirklich bescheuert dich gehen zu lassen.“ Sie sah ihm kurz in die Augen und bemerkte, wie nah sie sich gekommen waren. „Tai ist auch nicht besser“, erwiderte er. „Er hat mich sogar geküsst“, erzählte sie ihm, obwohl sie eigentlich gar nicht darüber reden wollte. „Nur um Sora eifersüchtig zu machen! Ich mein‘ jetzt mal ehrlich, was hat sie was ich nicht habe?“ Matt grinste und wollte gerade ansetzten etwas zu sagen, als Mimi ihm den Zeigefinger auf die Lippen legte. „Sag‘ lieber nichts. Du bist zu parteiisch“, unterstellte sie ihm vorsätzlich. „Tse, vielleicht hätte ich ja auch etwas Nettes über dich gesagt“, mutmaßte er und breitete die Arme hinter ihr aus. „Ach ja? Und was?“ Gespannt sah sie ihn an, hatte jedoch allmählich Schwierigkeiten ihren Kopf aufrecht zu halten. Alles fühlte sich an wie im Nebel und sie entschied sich dazu, in nächster Zeit keinen Tequila Sunrise zu trinken. Danach fühlte sie sich einfach nur komisch. Ihr Blick war immer noch auf Matt gerichtet, der sie von oben bis unten abcheckte und sich kurz mit der Zunge über seine Lippen fuhr, bevor er zu reden begann. „Naja, über deine Figur kann man wirklich nicht meckern, auch wenn du manchmal echt zickig bist.“ „Ich bin überhaupt nicht zickig“, widersprach sie und schlug ihm gegen die Brust. „Oh doch, aber du kannst auch manchmal nett sein“, räumte er ein und ein schiefes Grinsen legte sich über seine Lippen. „Ich bin immer nett“, stellte Mimi klar und verschränkte beleidigt die Arme vor der Brust. Ihr Shirt rutschte leicht ihre Schulter hinunter, doch sie bemerkte es erst als Matt versuchte, es wieder an Ort und Stelle zu bringen. „Was machst du da?“, fragte sie empört und zog sich selbst wieder richtig an. „Hör‘ auf mich auszuziehen!“ „Das mache ich doch gar nicht“, erwiderte er fassungslos. „Ach nein und was war das gerade eben?“ „Ich wollte dir nur den Ärmel wieder hochziehen“, verteidigte er sich grinsend und nährte sich ihr gefährlich. Sein Aftershave stieg ihr in die Nase und roch unfassbar gut, so als wollte man ihn am liebsten anknabbern. Er legte seine Hand auf ihren Oberschenkel und fuhr sanft darüber. Ein Kribbeln machte sich in ihr bereit. Sie spürte seinen Atem an ihrem Ohr und eine zarte Gänsehaut überkam sie. „Ich hätte natürlich nichts dagegen, dich auszuziehen“, raunte er in ihr Ohr und ihre Nackenhärchen stellten sich auf. Mimi schluckte und spürte seine rauen Lippen plötzlich an ihrem Hals. Er küsste ihn hinab und wanderte mit seiner Hand immer höher, stoppte aber kurz vor ihren Brüsten. Sie sog scharf Luft ein und atmete unkontrolliert. Lust machte sich in ihr breit, besonders nachdem sie wieder in seine blauen Augen schaute und feststellte, dass es ihm genauso ging. Für den Moment schauten sie sich einfach nur an, als Mimi den ersten Schritt machte und ihre Lippen auf seine legte. _ Er drückte sie auf sein Bett. Ihre Schuhe hatte sie auf dem Weg dorthin verloren. Sie erinnerte sich noch daran, dass er ihr erzählt hatte, dass sein Vater eine Nachtschicht einlegen würde und er die Wohnung für sich hatte. Er lag auf ihr und küsste ihren Hals entlang. Mimi merkte seine Erregung gegen ihre Mitte drücken und das Kribbeln von vorhin verschlimmerte sich - raubte ihr den Verstand. Sie dachte kurz an Tai und das sie ihm wohl nie so nah sein würde. Sie war eben nicht Sora, das Mädchen, das er haben wollte. Matt fuhr mit seiner linken Hand ihren Brustkorb entlang und streichelte sanft über ihre Brust. Seine Bewegungen waren flüssig und entlockten ihr ein leises Stöhnen, als er sie zu massieren begann. Es war so falsch, was die beiden taten, fühlte sich aber unbeschreiblich belebend an. Mimi verfiel in eine Art Rausch, als er seine Hüpfe sachte bewegte. Sie konnte sich nicht mehr zurückhalten und bewegte sich dagegen. Sie fühlte, dass seine Erregung wuchs und dass sie ihre Klamotten mehr störend empfand. Er erreichte mit seinen Küssen ihre Lippen und saugte leicht an ihnen. Mimi, die ihre Hände auf seinem Rücken ruhen ließ, wanderte mit einer Hand hoch zu seinem Nacken und ihr Kuss wurde intensiver. Er biss ihr leicht auf Lippe, sodass sie ihren Mund öffnete und er sich mit seiner Zunge langsam vortastete. Sie spürte seine Zunge in ihrer Mundhöhle und stupste ihn mit ihrer leicht an. Mit seiner anderen Hand umfasste er ihr Gesicht, während er mit er Linken immer noch ihre Brust durchknetete. Sie stöhnte in den Kuss hinein, als er plötzlich von ihr abließ und sich aufsetzte. Mimi lag wie ausgeliefert vor ihm und beobachte ihn dabei, wie er sich das Hemd aufknöpfte und es auf den Boden fallen ließ. Sie stützte sich auf ihren Unterarmen ab und kam ihm etwas entgegen, sodass beide eine eher sitzende Position einnahmen. Mimi attackierte seinen Mund aufs Neue, leckte mit ihrer Zunge über seine Lippen, bevor sie wieder aufeinander trafen und sich einem wilden Gefecht hingaben. Matt fuhr mit beiden Händen unter ihr Shirt und ergriff es am Saum. Ihre Münder trennten sich kurz voneinander, damit er es ihr über ihren Kopf ziehen konnte. Achtlos landete es auf dem Boden. Er beugte sich zu ihr vor, küsste ihr Schlüsselbein, während sie ihre Finger in seinen Haaren vergrub. Seine Hände hatten den Weg zu ihrer Taille gefunden und wanderten weiter nach oben, während er die Mitte des Brustkorbes mit Küssen versah. Er erreichte den Verschluss ihres BHs und öffnete ihn geschickt, so wie es bestimmt bei all den anderen Mädchen zuvor gemacht hatte. Doch diesen Gedanken schob Mimi beiseite, als er mit seinen Fingern den Trägern nachfuhr und sich dem Stück Stoff entledigte. Matt sah sie kurz an und drückte sie wieder zurück aufs Bett. Danach küsste er wieder ihren Hals, bis er bei ihrer rechten Brust angekommen war. Er leckte kurz über ihre Brustwarze, verwöhnte sie mit kreisenden Bewegungen und biss spielerisch hinein. Die Erregung in ihr wuchs. Sie krallte sich in seinen blonden Schopf, während er ihre Brustwarze immer noch liebkoste und ihre andere Brust sanft und rhythmisch massierte. Er ließ nach einer gewissen Zeit von ihrer Brust ab und wanderte weiter nach unten. Er küsste ihren flachen Bauch entlang, versenkte seine Zunge in ihrem Bauchnabel und verteilte kleine Küsse vor ihren Hosenbund. Es machte sie wahnsinnig, sodass sie sich begierig ihm entgegenreckte und regelrecht darauf wartete, sich endlich der Hose entledigen zu können. Er hörte nicht auf, sie an den Rand des Wahnsinns zu treiben, spielte immer wieder an ihrem Knopf, bevor er ihn schließlich öffnete. Matt zog ihr die Jeans nach unten, streifte sie ab und warf sie zu dem Rest. Er drückte ihre einen Kuss auf die Innenseite ihres Oberschenkels und wanderte wieder weiter nach oben. Sie war halb nackt, während er immer noch seine Hose am Körper hatte. Doch sie brachte kein Wort hervor, als sie ihn plötzlich an ihrer Unterhose bemerkte. Ihr wurde heiß und kalt zugleich, als er sie mit den Fingern sachte nach unten zog. Das Spiel begann von vorne, nur das sie mittlerweile splitternackt vor ihm lag, bereit ihn endlich in sich zu spüren. Er küsste wieder ihren Bauch hinab, stoppte jedoch immer wieder kurz davor und reizte sie ins Unermessliche. Sie biss sich auf die Unterlippe und gab einen frustrierten Laut von sich, als er sich wieder auf ihre Lippen stürzte. Sie küssten sich leidenschaftlich, als sie auf einmal seine Hand spürte, die ihre Schenkel auseinanderdrückte. Sie unterbrach den Kuss, stöhnte genießerisch auf, als er mit dem Finger in sie eindrang. Sie bewegte sich ihm entgegen, merkte, dass er ihre Lust mithilfe seines Daumens immer weiter steigerte. Sie konnte sich nicht mehr beherrschen, wollte ihn fühlen, all den Mist Rund um Tai und Sora für den Moment vergessen. Sich der puren Leidenschaft hingeben. Mimi drückte ihn sanft von sich, sodass er sie erst irritiert musterte, aber schnell verstand, was sie eigentlich von ihm wollte. Er zog sich zurück und legte sich auf den Rücken. Sie spielte an seinem Hosenbund, ließ ihn jedoch nicht so lange leiden, wie er sie. Mit einer geschickten Bewegung öffnete sie sie und zog sie mit samt der Unterhose hinunter. Matt atmete unregelmäßige, signalisierte ihr kurz zu warten und kramte aus seinem Nachtisch ein Kondom hervor. Sie küsste ihn kurz auf die Lippen, fuhr mit dem Finger über seine Bauchmuskeln und wartete begierig darauf, bis er es sich überstreifte. Ein letztes Mal küsste ihn, bevor sie sich rittlings über ihn setzte und sich langsam hinabsenkte. Mimi presste die Lippen aufeinander und unterdrückte ihr Stöhnen, als sie sich mit ihm vereinte. Für einen kurzen Moment hielten sie still, doch dann senkte sie ihr Becken und entlockte ihm einen tiefen Seufzer. Sie spürte seine Hände an ihrer Hüfte und bewegte sich anfangs recht sachte hin und her. Sie liebte es mit dem Tempo zu spielen, sich mal langsamer, mal schneller zu bewegen. Sie beugte sich vor zu ihm und presste die Lippen auf seine. Ihre Haare klebten an ihrem Körper. Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn. Sie beschleunigte das Tempo, stöhnte wieder und wieder. Ab und zu hörte sie sein Bett unter sich knarren. Er wanderte mit seinen Händen wieder zu ihren Brüsten und verwöhnte sie mit der Zunge, als sich ihre Münder wieder voneinander gelöst hatten. Die andere Hand glitt weiter nach unten. Sie schloss die Augen, erinnerte sich an all das was sie in letzter Zeit erleben musste. Erinnerte sich daran, wie Tai sie küsste, sich seine Zunge leicht vortastete, stellte sich vor, wie er sie so berührte und… Sie seufzte genießerisch auf, als sie der Orgasmus förmlich überrollte. Mimi merkte noch, wie Matt seine Hand zurückzog und sich beide langsamer bewegten. Damit hatte sie nicht gerechnet. Ihr war noch ganz heiß, ihre Wangen glühten förmlich. Ein wohliges Gefühl von Befriedigung machte sich in ihr breit und ließ sie immer noch nach Luft ringen. Sie atmete tief ein, stieg von ihm hinunter und ließ sich auf den Rücken fallen. Ihr Herz pochte noch immer gegen ihre Brust und wollte sich auch nicht so schnell wieder beruhigen. Sie sah kurz zu Matt, dem es ähnlich erging wie ihr. Er schluckte und sah nachdenklich an die Decke. Zu gern hätte sie gewusst, was er in diesem Moment gedacht hatte. Ihr ganzer Körper kribbelte noch. Es fühlte sich so an, als würde eine ganze Ameisenfamilie über ihre Haut wandern. Sie wandte den Blick von ihm und drehte ihm den Rücken zu. Das schöne Gefühl und der kurze, wenn auch intensive Moment der Verbundenheit, ließen allmählich nach. Zurück blieb die Gewissheit einen großen Fehler begangen zu haben. Mimi wusste, dass er sie nicht in den Arm nehmen würde, oder fragte wie es ihr ging. Es war nur Sex. Sex, der ihnen helfen sollte, sowohl Sora als auch Tai für den Moment zu vergessen. Doch kaum war er zu Ende, wurde sie von ihrem Gewissen eingeholt. Kapitel 29: Der Morgen danach ----------------------------- Sie wachte auf und schreckte sofort hoch. Sie hielt sich die dünne Decke vor die Brust und wandte den Kopf zur anderen Bettseite. Mimi stellte fest, dass sie leer war und von Matt jegliche Spur fehlte. Zur Sicherheit schaute sie nochmal unter die Bettdecke nach und stellte mit erschrecken fest, dass die letzte Nacht wirklich passiert und nicht einer ihrer wilden Träume war. Sie atmete unregelmäßig, erinnerte sich bruchstückhaft daran zurück, was in diesem Bett geschehen war. Automatisch lief sie rot an und wünschte sich, früher wach geworden zu sein, um noch verschwinden zu können. Jetzt war sie gezwungen mit ihm zu reden. Jetzt wo sie wusste, wie er nackt aussah. Mimi schüttelte den Kopf und verdrängte das Gesehene aus ihrem Kopf. Nie im Leben hätte sie damit gerechnet mit Matt im Bett zu landen. Doch sie war so wütend und verletzt gewesen, dass ihr in jenem Moment alles egal war. Sie wollte etwas anderes spüren. Den Schmerz ihres gebrochenen Herzens vergessen, auch wenn sie sich denken konnte, dass er wieder zurückkam. Tai zu vergessen war nicht so leicht, wie sich erhofft hatte, besonders weil sie ihn fast jeden Tag sah. Wahrscheinlich würde er jetzt die Gelegenheit nutzen und mit Sora zusammen kommen. Matt hatte ihnen seinen Segen geben, nur weil er sich für die schlechtere Wahl hielt. Er hatte sie frei gelassen, damit sie glücklich werden konnte. Und was machte sie? Sie hielt noch immer an einer Illusion fest, die nach gestern ganz sicher nie zustande kommen würde. Sie würde Tai nie so spüren, wie sie Matt gestern gespürt hatte. Niemals im Leben würde er sie so anfassen, wie es Matt gestern getan hatte. Sie hatte nur diesen einen Kuss, den er nicht ernst gemeint hatte, ihr aber dennoch viel bedeutete. Doch sie musste sich vor Augen führen, dass das alles war. Mehr bekam sie nicht. Vielleicht ein aufmunterndes Lächeln, dass jedoch nicht so gemeint war, wie sie es sich wünschte. Seine Berührungen hatten nichts zu bedeuten. Es war nur freundschaftlich, auch wenn das sogar schon zu viel gesagt war. Sie sahen sich kaum noch, seit sie die Nachhilfe beendet hatten. Mimi ging ihm meistens aus dem Weg, da es zu wehtat. Und nun hatte sie ihn ganz verloren, ohne ihn je richtig für sich gewonnen zu haben. Wenn sie ehrlich war, hatte sie nie eine Chance bei ihm. Sie war nicht Sora. Sie war nicht seine Traumfrau. Sie war einfach nur Mimi, die sich eingebildet hatte, sein Herz doch noch für sich zu gewinnen. Ein plötzliches Klopfen riss sie aus ihren Gedanken und ließ ihre Hände vor der Brust zusammenkrampfen. Matt schreckte seinen Kopf zur Tür hinein und lächelte sie verlegen an. Er trat in sein Zimmer und hatte eine dampfende Tasse in seiner Hand. „Hey“, murmelte er leise und stellte die Tasse auf seinem Nachttisch ab. Mimi hatte bisher kein Wort über die Lippen gebracht und musterte ihn nur argwöhnisch. „Was ist? Hat es dir die Sprache verschlagen?“, fragte er locker und ließ sich auf seinen Schreibtischstuhl fallen. Das Grinsen war ihm förmlich ins Gesicht geklebt, obwohl Mimi nicht genau wusste warum. War es Unsicherheit, die er versuchte zu überspielen? Oder sah sie nackt etwa so seltsam aus? „Wo sind meine Sachen?“, fragte sie und suchte mit den Augen den Boden nach ihnen ab, fand sie jedoch nicht. „Sie sind auf dem Kleiderständer“, antwortete er und deutete hinter sie. Mimi wandte den Kopf herum und entdeckte sie tatsächlich. Wieder richtete sie den Kopf zu Matt, der sie immer noch anstarrte. „Warum guckst du mich so komisch an?“ „Naja, ich habe vielleicht gedacht, dass wir über gestern Nacht reden sollten“, erwiderte er monoton und Mimi wollte am liebsten im Boden versinken. Sie hatte es bereits geahnt, aber nach wie vor gehofft, dass sie diesem Gespräch irgendwie entgehen konnte. Doch sein dringlicher Blick bohrte sich auf ihre Haut und signalisierte ihr, dass sie wohl nicht drum herum kam. Sie stöhnte leise und senkte den Kopf. „Gut, aber ich würde mich gerne erst umziehen“, gestand sie und knallte ihre Nägel die Bettdecke. Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Warum musste es ausgerechnet Matt sein? Hätte sie sich nicht jemand aussuchen können, den sie nicht kannte? Sie sah zu ihm und bemerkte, dass er keinerlei Anstalten machte sich zu rühren. Mimi zog fragend die Augenbraue nach oben. „Worauf wartest du eigentlich? Auf besseres Wetter?“ Matt lachte kurz, stand jedoch zügig auf. „Also gestern hast du dich nicht so geziert“, kommentierte er und schlang die Arme hinter den Kopf. „Gestern war gestern und heute ist heute“, antwortete sie schnippisch und verdrehte genervt die Augen. Die Situation war schon peinlich genug, warum konnte er nicht einfach gehen? „Ist ja schon gut, obwohl ‘ne zweite Runde sicherlich nicht schlecht wäre“, raunte er und sah sie lüstern an. Mimis Wangen verfärbten sich rot und ihre Atmung beschleunigte sich. „Verzieh‘ dich!“, rief sie schrill und warf das Kissen nach ihm. „War doch nur ein Witz.“ Matt grinse nur schief, verschwand jedoch endlich aus dem Zimmer. Mimi wartete einen Moment, bis sie sich endlich aus dem Bett quälte und fast schon von Panik ergriffen nach ihrer Wäsche kramte. Sie zog sich schnell an, schaute kurz in den Wandspiegel, der sich in Matts Zimmer befand und wünschte sich, besser nicht reingesehen zu haben. Sie sah wirklich fürchterlich aus. Ihre Haare standen zu Berge, ihre Augen waren noch geschwollen. Sie sah aus wie ein zerrupftes Huhn. Kein Wunder, dass er unaufhörlich Grinsen musste. Mimi schüttelte den Kopf und steuerte auf die Tür zu. Gerade als sie die Hand auf die Schlenke legen wollte, hielt sie für einen kurzen Moment inne. Was sollte sie ihm jetzt nur sagen? „Tolle Nacht, aber bitte lass uns nie wieder darüber reden?“ Sie war sich nicht so sicher, ob Matt so einfach die Klappe halten würde. Früher hatte er mit seinen Eroberungen regelrecht angegeben. Doch die Situation hatte sich verändert. Er war in Sora verliebt und wollte sie wohl auch nur für einen Moment vergessen. Genau wie sie. Nur das er bei Sora wenigstens eine Chance hatte. Ohne weiter darüber nachzudenken öffnete sie die Tür und stand in dem kleinen Wohnraum. Matt saß am Frühstückstisch und hatte den Blick auf sie gerichtet. „Toll, du bist angezogen“, sagte er lachend. „Willst du vielleicht was essen?“ „Eigentlich will ich nur noch nach Hause“, eröffnete sie ihm fast flüsternd und ging ein paar Schritte auf ihn zu. „Du willst also nicht in Ruhe nochmal darüber reden?“, hakte er nach und runzelte die Stirn. „Matt, da gibt es nichts zu reden.“ Sie biss sich auf die Unterlippe und fuhr mit ihren Zähnen leicht darüber. „Es wäre besser, wenn wir es vergessen!“ „Naja, eigentlich wollte ich nur wissen, ob alles cool zwischen uns beiden ist? Gestern war wirklich ein Scheißtag und du weißt, dass…“ Er zögerte und wandte den Blick von ihr. Doch Mimi wusste genau, was er zu sagen hatte. „Es nichts zu bedeuten hatte. Schon klar! Geht mir genauso.“ Sie wurde immer leiser, bis ihre Stimme abbrach. Sie starrte ins Leere und hoffte, bald von hier verschwinden zu können. Es war ihr unangenehm, mit ihm darüber zu reden. Immer wieder flimmerten Sequenzen von gestern Abend vor ihrem inneren Auge. Sie erinnerte sich daran, wie sie lustvoll aufstöhnte, als seine magischen Hände sie berührten und in eine Art Rausch versetzten. Sie schüttelte leicht den Kopf und versuchte die Erinnerung daran aus ihrem Gedächtnis zu verbannen. Doch wie sollte das funktionieren, wenn Matt direkt vor ihr saß? „Ich werde jetzt besser gehen!“, sagte sie auf einmal und suchte ihre Schuhe. „Hast du meine…?“ „Sie stehen im Hausflur“, meinte er und deutete in besagte Richtung. „Also werden wir einfach so tun, als wäre nichts passiert?“ „Das wäre das Beste“, erwiderte sie, scheute sich aber ihn anzusehen. „Okay, hast wohl Recht.“ Mehr sagte er nicht. Den Rest ließen sie einfach im Raum stehen, so als wäre wirklich nichts passiert. Nach einer Weile bewegte sich Mimi in Richtung Flur. Lautlos zog sie ihre Schuhe an und ging zur Tür. Sie wusste nicht, ob sie sich noch von ihm verabschieden sollte. Nach langem Überlegen, entschied sie sich jedoch dagegen. Kurz drehte sie sich nochmal zu ihm. Er saß immer noch teilnahmslos auf dem Küchenstuhl und starrte Löcher in die Luft. Ihre Anwesenheit schien er nicht mehr wahrzunehmen. Normalerweise ging sie ihren Problemen nur ungern aus dem Weg, doch sie konnte nicht darüber reden. Deswegen öffnete sie lautlos die Tür und ging. _ Als sie zu Hause angekommen war, verschwand sie schnurstracks in ihr Zimmer und barrikadierte sich. Ihre Mutter hatte zwar gefragt, wo sie war, doch sie gab ihr nur eine unwirsche Antwort. Sie sagte, sie habe die Nacht bei einer Freundin verbracht. Ihr war eigentlich relativ egal, ob sie ihr glaubte oder nicht. Sie wollte einfach nur alleine sein, in ihrem Bett liegen und alles um sich herum ausblenden. Sie hatte nicht erwartet, dass sie bereits eine Stunde später erneut gestört werden würde. Es klopfte und genervt warf sie die Decke zurück. „Was ist? Ich will jetzt nicht mit dir reden!“, blaffte sie ruppig und wollte sich wieder unter die Decke verziehen, als die Stimme ihrer Mutter ertönte. „Mimi, du hast Besuch und der junge Mann ist wirklich ganz schön hartnäckig gewesen!“, informierte sie sie und Mimi konnte sich schon denken, wen sie vor der Tür entdecken würde. Widerwillig sprang sie auf und stürmte aus ihrem Zimmer. Wieso verstand er nicht, dass sie im Moment nicht darüber reden wollte? Konnte nicht erst mal etwas Gras über die ganze Sache wachsen? Warum wollte er diese Aussprache unbedingt von ihr erzwingen? Sonst waren ihm seine Bettflittchen doch auch egal gewesen. Sie steuerte schon auf den Flur zu und überlegte bereits, was sie zu Matt sagen sollte, damit er sie in Ruhe ließ. Vor ihrer Mutter wollte sie sicher nicht über ihre Bettgeschichten sprechen. Er sollte sich am besten verziehen und sie in nächster Zeit gar nicht mehr ansprechen. „Was willst du…?“, sie stoppte abrupt als sie in ein bekanntes Gesicht sah. Ihre Augen weiteten sich. Vor ihr stand nicht Matt. „Was machst du denn hier?“, fragte sie verunsichert und beäugte ihn kritisch. Ihre Mutter hatte sie an die Tür begleitet, sicher weil sie mit dem Gesicht nichts anfangen konnte, obwohl sie ihn kurz gesehen haben musste. „Ich wollte mit dir reden und ich hab dir auch etwas mitgebracht“, antwortete er und trat ein paar Schritte auf sie zu. In seiner Hand hielt er einen Brief, der nur von einer Person sein konnte. „Mimi, habe ich irgendetwas verpasst?“, wollte ihre Mutter wissen und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ehm naja…“, sie druckste herum, sah immer wieder zwischen ihrer Mutter und ihm hin und her. Was sollte sie nur sagen? „Ich bin Masaru. Masaru Hirata“, stellte er sich vor und reichte ihr die Hand. Argwöhnisch ergriff ihre Mutter sie und zog die rechte Augenbraue schräg nach oben. „Geht ihr zusammen in eine Klasse?“ „Oh nein. Wir kennen uns über Freunde!“, erwiderte er und ließ ihre Hand los. „Über welche Freunde?“, hakte sie nach und sah zu Mimi, die panisch dazwischen schritt. Sie wollte nicht schon wieder über Noriko und darüber, dass sie sie angelogen hatte diskutieren. „Ach, das ist doch unwichtig“, beschwichtigte sie und griff nach Masarus Handgelenk. „Komm wir gehen in mein Zimmer. Dann können wir reden!“ In ihrem Zimmer angekommen knallte sie die Tür hinter sich zu und schloss vorsichtshalber ab. „Wow, was wird das denn? Willst du über mich herfallen?“, fragte er scherzhalber und setzte sich auf ihr Bett. Mimi verdrehte nur die Augen. „Was willst du hier? Hat Noriko dich geschickt?“ „Irgendwie schon“, meinte er knapp und sah sie auffordernd an. Mimi zuckte nur beiläufig mit den Schultern, da sie keine Ahnung hatte, auf was er hinaus wollte. „Sie ist wirklich fertig!“ „Ach, echt? Dann frag‘ mich mal!“, antwortete sie gereizt, verschränkte die Arme vor der Brust und wich seinen Blicken aus. „Ich weiß, dass das sicher ein Schock für dich war, aber…“ „Du wusstest es“, unterbrach sie ihn. „Ihr habt es sicher alle gewusst und mich für blöd verkauft!“ „Wir haben dich nicht…“ „Ach nein? Warum hat sie mir nichts gesagt?“, stellte sie die Gegenfrage und fixierte ihn mit ihrem Augen. „Ich kam mir so blöd vor, als die Sanitäter ins Klo gestürmt sind und ich von nichts eine Ahnung hatte. Sie hätte sterben können! Und ich…“ Sie stoppte abrupt und rang mit ihrer Fassung. Tränen brannten in ihre Augen und sie rieb sich mit der Hand über ihr Gesicht. „Sie wollte es dir erzählen, aber sie hatte Angst, dass du sie danach anders behandeln wirst!“, erklärte Masaru mit ruhiger Stimme. Mimi schüttelte nur den Kopf. „Anders behandeln? Sie wird sterben! Das ändert alles!“ Die Hysterie war aus ihrer Stimme herauszuhören. Masaru legte den Kopf schief und beobachtete sie stumm. Sie schniefte kurz, fuhr sich immer wieder über ihr Gesicht, als sie plötzlich seine Arme spürte, die sich um ihren Körper schlangen. „Es ist okay, du darfst ruhig wütend und all das sein!“ Seine Stimme tönte in ihren Ohren und sie merkte, wie er sie leicht an sich drückte. Sie hatte ihr Gesicht an seine Schulter gepresst und weinte. All das hatte sie verdrängt. Ihre Gefühle. Die Tatsache, dass ihre Schwester, die sie vor kurzem erst kennen lernen durfte, sterben würde. Sie fühlte sich so hilflos und auch allein. Mit niemanden konnte sie so richtig darüber sprechen. Ihre Mutter war nach wie vor empfindlich auf dieses Thema zu sprechen. Und ihre Freunde? Sie wussten von nichts. Plötzlich löste Masaru die Umarmung und sah sie an. Er hielt sie leicht an den Schultern fest und ein leichtes Lächeln zierte seine Lippen. „Du solltest den hier lesen!“, sagte er und holte den Brief hervor, den er mitgebracht hatte. „Und was steht da drin?“ „Die Wahrheit!“ „Die Wahrheit?“, murmelte sie fragend und nahm den Umschlag entgegen. Sie musterte ihn genau. Es stand mit feinsäuberlicher Schrift ihr Name drauf. Auf der Rückseite befand sich sogar ein Absender. Mimi schluckte kurz, als sie las, was da stand. Absender: Wonderland. „Sie scheint dieses Buch wirklich zu lieben, oder?“, meinte sie mit kratziger Stimme. „Immerhin hat sie es schon gefühlt tausend Mal gelesen. Alice ist eben ihre persönliche Heldin!“ „Ich weiß, dass hat sie mir erzählt!“, murmelte sie fast schon geistesabwesend. Sie erinnerte sich an einige Gespräche, die sie über das Buch „Alice im Wunderland“ geführt hatten. Noriko sprach immer mit solch einer Begeisterung davon, tauchte regelrecht in die Welt von Alice ab, die ihr die nötige Kraft gab, alles zu schaffen, was sie sich als junges Mädchen vorgenommen hatte. Sie kämpfte sich zurück in ihr Leben, wollte sich ihr einiges Wunderland erschaffen. Doch jetzt war alles anders. Sie würde es nicht schaffen. Wer wusste schon, wie lange sie noch leben würde. „Ach ja, bevor ich es vergesse“, meldete sich Masaru zu Wort. Er kramte einen kleinen Zettel hervor und drückte ihn ihr ebenfalls in die Hand. Verwundert blickte sie darauf und stellte fest, dass es sich um eine Telefonnummer handelte. „Was ist das?“ „Die Nummer von Etsukos Vater. Er hat einen Job für deine Mutter!“, eröffnete er ihr grinsend. Mimi klappte leicht der Mund auf und sie schaute ihn unsicher an. „Was? Einen Job?“ „Noriko hat mit ihm anscheinend gesprochen und ihm die Sachlage erklärt. Und er braucht wohl jemand für die Buchhaltung und so.“ Ungläubig schüttelte sie den Kopf, sah zu Masaru und wieder auf den Zettel. Sie konnte nicht fassen, was gerade passiert war. _ Masaru war vor knapp zehn Minuten gegangen, als es erneut klopfte. „Herein“, murmelte sie und lag ausgestreckt auf ihrem Bett. In ihren Händen hielt sie den Brief und sah sich immer noch den Umschlag an. Gelesen hatte sie ihn noch nicht. Mimi hörte wie die Tür langsam aufging. Sie hob den Kopf an und erkannte, dass ihre Mutter mitten im Raum stand. „Der junge Mann war wirklich nett. Werden wir ihn jetzt öfters bei uns zu Besuch haben?“, tastete sie sich zaghaft vor und ließ sich am Fußende ihres Bettes nieder. Mimi setzte sich auf und ließ den Brief auf ihren Schoss sinken. „Schon möglich, aber es ist nicht so wie du denkst!“ „Was denkst du denn, was ich denke?“ Sie zog die Augenbraue nach oben und runzelte die Stirn. Mimi kicherte und winke ab. „Ist nicht so wichtig. Er ist jedenfalls nur ein Freund!“ „Er ist ein Freund von Noriko, oder?“ „Woher weißt du das?“ Mimi zog ihre Stirn kraus. Hatte sie sich etwa wieder an ihn erinnert? „Ich habe gelauscht!“, gab sie kleinlaut zu und ihre Wangen bekamen einen leichten rosa Schimmer. „Das hast du auch immer in den USA gemacht, wenn ich neue Freunde mitgebracht habe“, meinte Mimi augenverrollend, konnte aber ihrer Mutter nicht böse sein. Sie war eben neugierig. Trotzdem sollte sie lernen ihre Privatsphäre zu respektieren, so konnte es auf Dauer sicher nicht weitergehen. „Ich mache mir eben Sorgen um dich. Und in letzter Zeit warst du nicht besonders ehrlich zu mir gewesen“, rief sie ihr in Erinnerung. „Ich weiß“, gestand sie sich ein und senkte beschämt den Kopf. „Es tut mir leid, aber ich wollte sie einfach kennen lernen und jetzt…jetzt ist alles nur noch komplizierter geworden.“ Ihre Mutter legte sanft die Hand auf ihren Oberschenkel und musterte sie nachdenklich. „Ist der Brief von ihr?“, fragte sie und richtete ihren Blick auf ihren Schoss. Mimi nickte nur sachte und drehte ihn in ihrer Hand. „Und warum ist er noch zu? Willst du nicht wissen, was sie schreibt?“ „Doch, aber“, begann sie unsicher und zog die Augenbrauen zusammen. „I-Ich hab‘ Angst!“ „Vor was?“ „Vor dem Inhalt.“ Mimi sah ihrer Mutter direkt in die Augen, die eine unfassbare Wärme ausstrahlten. Sie lächelte und fuhr ihr über den Oberschenkel. „Aber du willst doch sicher wissen, was sie dir schreibt, also mach‘ ihn auf!“ „Mama…“, murmelte sie. „Es ist okay“, sagte sie nur und nickte zusätzlich. Danach stand sie auf und wollte sie alleine lassen, als Mimi plötzlich der Zettel einfiel, den Masaru ihr gegeben hatte. „Warte kurz!“, rief sie, streckte sich zu ihrem Nachtisch und holte den Zettel hervor. Sie krabbelte auf den Knien vor zum Fuße ihres Bettes und hielt ihn ihrer Mutter hin. Sie nahm ihn an und blickte argwöhnisch auf das kleine Stück Papier. „Was ist das?“ „Eine Telefonnummer“, antwortete sie nur. „Mimi…das weiß ich selbst, aber was soll ich…“ „Es ist ein Job. In einer Bar. Sie suchen eine Buchhalterin, oder so ähnlich“, unterbrach sie sie vorsichtig. „Ein Job?“, wiederholte sie irritiert und blickte wieder auf die Nummer. Mimi zog die Mundwinkel nach oben und signalisierte ihr durch leichtes Nicken, dass es stimmte. Ihrer Mutter klappte leicht der Mund auf. „Aber? Was? Wie kommst du…?“ „Noriko kennt jemanden und hat für dich nachgefragt.“ Mimi presste die Lippen aufeinander und beobachtete gespannt die Reaktion ihrer Mutter. Sie war sprachlos, hielt sich die Hand vor den Mund und Tränen bildeten sich in ihre Augen. „Und ich kann da einfach anrufen?“ „Ja, na los! Schnapp dir das Telefon und ruf an!“, forderte Mimi sie lachend auf. Ihre Mutter grinste nur und fuhr sich mit dem Arm über ihr Gesicht. Dankend sah sie sie an, obwohl sie eigentlich gar nichts damit zu tun hatte. Schnell verschwand sie wieder aus ihrem Zimmer, schloss die Tür jedoch nicht ganz, was Mimi wunderte. Einen Moment später schaute sie wieder zur Tür hinein. „Du solltest den Brief lesen“, meinte sie, bevor sie die Tür hinter sich schloss. Mimi saß immer noch auf ihrem Bett, nahm den Brief wieder in die Hand und musterte ihn einen Augenblick. Sie legte den Kopf schief, entschied sich jedoch dafür, ihn zu öffnen. Etwas ungeschickt riss sie ihn an der Seite auf. Sie holte den Brief hervor, faltete ihn auseinander und begann zu lesen. Kapitel 30: Dear Sister ----------------------- „Liebe Mimi,“ Das waren die ersten Worte, die sie las und schon kam sie ins Stocken. Das Papier fühlte sich rau an, doch sie konnte erkennen, dass an manchen Stellen die Tinte verschmiert war. Auch ein großer Fleck war zu sehen, der jedoch trocken getupft wurde. Sie hatte geweint, als sie ihn geschrieben hatte. Es waren deutliche Spuren, die sich nicht leugnen ließen. Mimi hatte ihr so schlimme Sachen an den Kopf geworfen, sodass ihr schlechtes Gewissen und ihre Schuldgefühle augenblicklich wuchsen. Wie konnte sie nur sagen, dass Noriko ihre Familie kaputt gemacht hatte? Dass sie wegen ihr ihren Vater verloren hatte? Sie war schon längst kaputt, jedoch wusste sie es noch nicht. Mimi hatte in einer Scheinwelt gelebt, in der sie, als Papas Prinzesschen verwöhnt wurde, während Noriko und ihre Mutter die Hölle durchgemacht hatten. Sie krampfte die Hände leicht zusammen und zerknautschte das Papier an den Seiten. In ihren Augen hatten sich Tränen gebildet. Dennoch entschied sie sich dazu weiterzulesen. ...ich habe diesen Brief unzählige Male begonnen, das Papier immer wieder zerknüllt, zu Boden geworfen und wieder von neuem angefangen. Ich wusste nicht, wie ich, das was ich dir sagen wollte, in die richtigen Worte verpacken sollte. Es hörte sich alles so unwirklich und traurig an, dass ich es einfach vergessen wollte, wenn ich mit dir zusammen war. Jedenfalls für den Moment. Ich hatte nie vor, dich anzulügen, doch die Wahrheit kam mir nie über die Lippen, weil ich sie selbst nicht akzeptieren wollte. Ich hatte dich doch gerade erst gefunden und wollte dich nicht verlieren. Aber ich habe gemerkt, dass ich dir damit viel mehr weggetan habe, als ich wollte. Ich habe dich belogen, um mich selbst zu schützen. Das war egoistisch, aber ich wollte dich damit nicht verletzen. Es tut mir leid. „Es tut mir leid“, murmelte sie und eine einzelne Träne löste sich und rollte ihre linke Wange hinunter. Sie fuhr sich mit der flachen Hand über ihr Gesicht und unterdrückte ein leises Schluchzen. Viele Dinge strömten ihr durch den Kopf und ließen sie wieder an die gestrige Nacht denken. Sie hatte es nicht nur getan, weil sie verletzt war und sich einsam fühlte. Auch sie wollte vergessen. Der Tatsache entfliehen, dass sie einen Menschen verlieren würde, den sie in kurzer Zeit so lieb gewonnen hatte. Es war schon seltsam, wie viele Gemeinsamkeiten sie hatten, obwohl sie nicht miteinander aufgewachsen waren. Mimi hasste die Rinde von Brot, genauso wie Noriko. Beide banden ihre Haare zu einem unordentlichen Dutt zusammen, wenn sie gemeinsam kochten. Und auch der Geruch von angebrannter Milch, ließ beiden die Nackenhaare zu Berge stehen und ein Gefühl von Ekel überkommen. Mimi fasste sich durch die Haare, kratzte mit ihren Schneidezähnen über ihre Unterlippe und fixierte den Brief erneut. In ihr machte sich ein Gefühl breit, dass sie nur schwer beschreiben konnte. Es fühlte sich so an, als hätte ihr jemand einen spitzen Gegenstand in die Brust gejagt und versuchte diesen immer tiefer hineinzubohren. Es war kein Schmerz, den sie einfach so rauslassen konnte. Er saß tief in ihrem Inneren und fraß sich in ihr Herz, wie ein Parasit. Ich werde dir versuchen, alles zu erklären. Von Anfang an. Bestimmt hast du gedacht, dass unsere Begegnung damals in dem Club, purer Zufall war. Doch dem war nicht so. Schon damals mit dreizehn, habe ich versucht dich zu finden und fand dich auch. Jedenfalls dein Mixi-Profil, das mir sagte, dass du in den USA lebst. Seither hatte ich dich immer mal wieder beobachtet, einige Bilder von dir durchgeschaut und mir öfters überlegt, ob ich dich nicht einfach einschreiben sollte. Einmal hatte ich sogar etwas getippt, doch ich hatte nicht den Mut es abzuschicken. Und wenn ich ehrlich war, hatte ich zu diesem Zeitpunkt genug eigene Probleme. Nach meiner Chemo wurden unsere finanziellen Probleme immer deutlicher und es fiel mir sehr schwer, anfangs wieder Anschluss in der Schule zu finden. Ich war mehrere Monate die Außenseiterin in unserer Klasse, da sich niemand mit dem Glatzenmädchen anfreunden wollte. In dieser Zeit war Etsuko immer an meiner Seite und hörte mir zu. Sie war auch die Einzige, die von Anfang an von dir wusste. Später freundete ich mich mit Chiaki und Masaru an, die ich im Orchester kennen lernte. Und auch die Zeit verging dadurch viel schneller, sodass ich mehr durch Zufall herausfand, dass du wieder mit deinen Eltern nach Japan gezogen warst. Doch ich hatte eigentlich gar keinen Grund dich anzusprechen. In manchen Situationen war ich ziemlich wütend. Du hattest das Leben, das ich immer haben wollte. Und wahrscheinlich war ich damals, bei unserer ersten Begegnung, auch so ruppig zu dir. Allerdings kam der Moment, der plötzlich alles veränderte. Schon mehrere Wochen, wenn nicht sogar Monate, fühlte ich mich immer unwohler. Ich habe es versucht, mir nicht anmerken zu lassen, doch meiner Mutter konnte ich immer sehr schlecht etwas vormachen, weshalb wir ins Krankenhaus gingen und der Arzt feststellte, dass meine Leukämie wieder da war und sich bereits Metastasen gebildet hatten. Der Arzt redete ohne Punkt und Komma, während ich nur die Hälfte verstand. Meine Mutter hatte geweint, aber ich realisierte erst Tage später, was mit mir passiert war. Mein Körper hatte sich gegen mich gewandt und würde irgendwann vom Krebs zerfressen werden. Und niemand konnte mir sagen, wie viel Zeit ich noch hatte. Mimi starrte fassungslos auf das Blatt Papier. Alles klang sehr abgeklärt und gefasst geschrieben, doch sie erkannte, dass es nicht so war. Immer wieder stolperte sie über kleine nasse Stellen, die die Tinte etwas verwischten und über die mit der Hand kurz drüber gefahren wurde. Noriko war es nicht leicht gefallen, darüber zu schreiben. Mimi fragte sich, was sie in dem Moment alles gefühlt haben musste? Ihr fiel es sicher schwer, über ihre Vergangenheit zu schreiben, Dinge aufzudecken, die bis vor kurzem noch ihr verborgen waren. Ich hatte es eigentlich nur Etsuko erzählt, da sie als einzige verstand, was ich durchmachte. Uns verband die Tatsache, dass wir beide dem Tod bereits gegenüberstanden. Sie war auch diejenige, die mich daran erinnerte, dass ich mit dreizehn alles versucht hatte, um meine Schwester zu finden. Ich hatte einen Grund dich diesmal anzusprechen, mit dir zu reden, dich ein einziges Mal zu sehen. Deswegen nahm ich all meinen Mut zusammen und rief bei euch an. Die Nummer hatte ich im Telefonbuch gefunden. Doch ich hatte das Glück gleich an unseren Vater zu geraten, der mir klar machte, dass ich dich ganz sicher nicht zu Gesicht bekommen würde. Er meinte, ich sollte euch in Ruhe lassen, doch das konnte ich nicht. Ich hatte mir in den Kopf gesetzt, dich kennen zu lernen. Durch Mixi erfuhr ich, dass du oft die Konzerte der Teenage Wolves besuchst und ich war auf gut Glück einfach mal hingegangen. Masaru war damals mit mir gegangen, da er herausgefunden hatte, was mit mir los war. Ich war bei meiner wöchentlichen Bestrahlung, als ich ihn im Krankenhaus traf. Er wollte einen aus dem Orchester besuchen, der sich das Bein gebrochen hatte, als er über seinen Gitarrenkoffer gestolpert war. Die anderen haben bis zu meinem Zusammenbruch nichts gewusst. Selbst Chiaki nicht, auch wenn ich ihm gerne die Wahrheit gesagt hätte. Jedenfalls waren Masaru und ich euch unauffällig gefolgt und ebenfalls in dem Club gelandet. Masaru hatte mich regelrecht dazu genötigt, mit dir zu sprechen und mir einen Stoß in die richtige Richtung gegeben. An den Rest kannst du dich sicher selbst noch gut erinnern. Und ob sie sich an diesen Abend erinnern konnte. Sie hatte gehofft, diese unhöfliche Person nie wieder zusehen, auch wenn sie ziemlich schnell spürte, dass diese Begegnung alles andere als bedeutungslos war. Doch sie wollte es nicht wahrhaben, da sich ihre Gedanken immer um Tai und seine nichtvorhandenen Gefühle kreisten. Ihre Welt bestand aus Problemen, die genau genommen keine waren. Erst jetzt, wo alles auseinander brach, schien sie zu realisieren, dass Liebeskummer wirklich eines ihrer geringsten Probleme war. Wahrscheinlich wäre sie mit der Zeit darüber hinweg gekommen, hätte sich in einen anderen netten Jungen verliebt und wäre glücklich geworden. Doch das hier, war nicht damit zu vergleichen. Diese Kluft, die ihr Vater hinterlassen hatte, konnte so schnell keiner mehr füllen. Er hatte sie belogen und ihr all die Jahre ihre Schwester vorenthalten. Ihre Schwester, die sie in absehbarer Zeit verlieren würde. Und diese Lücke konnte niemand einnehmen. Sie hatte nur eine Schwester, auch wenn sie sie erst so kurz kannte. Ich weiß, dass ich viel falsch gemacht habe. Doch nachdem wir uns das zweite Mal, diesmal zufällig, getroffen hatten, konnte ich mich kaum beherrschen. Deine Mutter hat sofort gewusst, auf was ich hinaus wollte. In dem Moment war mir auch egal gewesen, was ich anrichte. Ich wollte dich näher kennen lernen und den Hass, den ich auf unseren Vater hatte, freien Lauf lassen. Aber natürlich wollte ich nicht, dass es so endet. Ich weiß, dass du unglücklich bist und die neue Situation euch eine Menge Probleme eingehandelt hat. Und ich kann dir gar nicht sagen, wie leid es mir tut. Ich wollte deine Familie nicht kaputt machen, sondern ich wollte einfach dazugehören. Dich einmal meine Schwester nennen und gemeinsam mit dir diese besonderen Geschwister-Momente erleben. Natürlich ist mir klar, dass das nicht mehr bei mir liegt. Du hast die Wahl, mir zu verzeihen, oder es nicht zu tun. Mit diesem Brief wollte ich dir einerseits sagen, dass du mir in kurzer Zeit unheimlich ans Herz gewachsen bist, sodass mich meine eigenen Gefühle manchmal schon erschrecken und auch überwältigen. So eine Verbundenheit zu einem Menschen habe ich noch nie empfunden. Und dafür danke ich dir. Du wirst im Umschlag des Briefes noch eine Kleinigkeit finden und es ist deine Entscheidung es anzunehmen. Mein größter Traum war es einmal auf die Spitze des Fujis zu schaffen. Ich habe schon länger daraufhin gespart und wollte gemeinsam mit Chiaki und Masaru mir diesen Traum erfüllen. Du weiß, dass es gesundheitlich im Moment nicht gut um mich steht, weshalb ich es wohl auch nie schaffen werde. Doch das Ticket ist bereits bezahlt und liegt in dem Umschlag des Briefes bei. Ich weiß, dass du Millionen Gründe hast, nein zu sagen, aber bitte überleg‘ es dir. Gibt mir diese eine Chance und ich werde dir versprechen, dich nie wieder zu belügen, oder zu enttäuschen. Wenn du das Ticket annimmst, werde ich wissen, dass wir beide nochmal eine Chance auf einen Neuanfang haben werden, auch wenn es schwer und alles andere als unkompliziert sein wird. Ich bin bereit, diesen Weg zu gehen und hoffe, dich an meiner Seite wissen zu dürfen. In Liebe, deine Schwester Noriko _ Mimi war während des Lesens der Mund aufgeklappt. Ihre Miene war starr und immer noch blickte sie auf die letzten Zeilen des Briefes. Sie ließ ihn sinken und schnappte sich den Umschlag. Sie fasste mit der Hand hinein und ertastete tatsächlich etwas. Argwöhnisch zog sie den Fund hervor und stellte mit Erschrecken fest, dass sie es ernst meinte. Sie hielt wirklich in Ticket, mit dem sie auf den Fuji wandern konnte, in ihren Händen. Mimi legte ihre Hand vor den Mund und schien ganz in ihren Gedanken versunken zu sein, als sie plötzlich das Datum sah. Es war das Wochenende ihres Geburtstages, den sie fast vergessen hätte. Ob Noriko wusste, dass sie bald Geburtstag hatte? Doch viel mehr drängte sich die Frage auf, ob sie schon bereit war, ihr gegenüber zu treten. Natürlich war es nicht leicht, sich damit auseinanderzusetzen, aber sie wusste auch, dass sie nicht bereit war, Noriko endgültig aufzugeben. So zu tun, als würde sie nicht existieren, als wäre alles nur ein böser Traum gewesen. Doch auf den Fuji klettern? Sie? Mimi war sich nicht sicher, ob sie das schaffen würde. Wahrscheinlich würde ihr Körper auf der Hälfte des Weges schlapp machen und sie könnte dann sehen, wie sie wieder runter kam. Nein, sowas war einfach nicht ihr Ding. Wenn sie jedoch nicht gehen würde, ging Noriko sicher davon aus, dass sie sie nie wieder sehen wollte. Und das durfte sie nicht zulassen. Sie wollte nochmal in Ruhe mit ihr reden, alles aus der Welt schaffen und beten, dass man ihr doch irgendwie helfen konnte. Dass sie nicht sterben musste. Wunder geschahen doch immer wieder, warum nicht auch hier? Mimi war sich sicher, dass sie das auch ohne Besteigung des Fujis hinbekam. Sie musste nur irgendwie über ihren eigenen Schatten springen, auch wenn es ihr schwer fiel. Kapitel 31: Einmal zum Gipfel des Fujis hin und zurück – Teil 1 --------------------------------------------------------------- Zu was hatte sie sich da nur breitschlagen lassen? Mimi drückte ihren Rücken gegen die Lehne ihres Sitzes und sank ihn etwas hinab. Sie betrachtete ihre Schuhe, die ihre Füße ziemlich groß aussehen ließen. Sie schnaubte nur, wandte ihren Blick zum Fenster und betrachtete die schöne Landschaft, die sie umgab. Sie war schon ziemlich früh aufgestanden und fühlte sich wie durch die Mangel gedreht. Genau genommen konnte sie die Nacht nur sehr schwer einschlafen, hatte sich ständig hin und her gewälzt und auf die Uhr geguckt, die ihr anzeigte, dass sie bald wieder aufstehen musste. Und das gerade an einem Samstagmorgen. Mittlerweile war es bereits Nachmittag, doch die Vorbereitungen hatten so lange gedauert, dass Mimi schon Sorgen hatte, nicht rechtzeitig am Treffpunkt anzukommen. Ihre Mutter hatte sie sogar bestärkt, diese kleine Reise zu unternehmen. Sie war sogar richtig euphorisch und kaufte mit ihr viele Kleinigkeiten zu Essen ein, so als hätte sie Angst, dass sie jeden Moment verhungern könnte. Mimi schwang den Kopf zu ihrem übervollen Rucksack und fragte sich, wie sie das Ganze nur überleben sollte. Wahrscheinlich würde sie unter dem Gewicht zusammenbrechen. Doch ihre Mutter hatte sie regelrecht dazu überredet gehabt hinzugehen. Vielleicht lag es daran, dass sie den Job bei Etsukos Vater bekommen hatte und wieder etwas optimistischer in die Zukunft blickte. Doch anscheinend schien sie auch zu wollen, dass Mimi die Sache mit Noriko wieder hinbekam. Ihre Mutter wusste, dass Noriko Mimi viel bedeutete, auch wenn sie das Kind war, das aus der Affäre ihres Mannes entstanden war. Etwas missmutig blickte sie starr nach vorne und erkannte schon das Schild der fünften Station, als plötzlich jemand neben ihr auftauchte und ihr etwas ins Gesicht hielt. „Und bist du schon aufgeregt? Ich glaube, ich muss gleich nochmal dringend auf die Toilette. Gibt es hier eigentlich genügend? Wir sind schon ziemlich viele“, brabbelte Yasuo wild darauf los und hatte wieder mal seine Kamera gezückt und auf Mimi gerichtet, die genervt seufzte. „Setz‘ dich wieder hin“, knurrte Masaru und zog ihn zurück auf seinen Platz. Mimi fasste sich an die Stirn und schüttelte leicht den Kopf. Angeblich hatte Chiaki keine Zeit heute mit ihnen mitzukommen. Deswegen hatte Masaru seinen kleinen Bruder mitgeschleppt, der wieder seine tiefgründige Beziehung zu seiner Kamera zelebrierte. Seit sie in den Bus eingestiegen waren, hatte Yasuo unaufhörlich versucht ein Gespräch mit ihr anzufangen und wollte nicht aufhören, diese dämliche Handkamera auf sie zu richten. Auch wenn er ein lieber Kerl war, waren Mimis Nerven zum Zerreißen gespannt. Sie hatte Angst vor der Herausforderung, besonders weil sie alles andere als sportlich war. Hinzukam, dass manche Wanderer sogar nach der Hälfte des Weges abbrechen mussten, da sie die Höhenkrankheit überkam. Sie hatte außerdem keinerlei Ahnung, was sie wirklich erwartete. Gewandert war sie als Kind und das eher selten. Doch sie hatte sich dazu durchgerungen, Norikos Wunsch zu erfüllen, selbst wenn Masaru sie später runter schleifen müsste. Der Bus packte gerade ein, als schon die ersten nach ihren Sachen fingerten und sich ihre Jacken anzogen. Trotz der Hitze trug Mimi eine lange Hose und hatte eine windabweisende Jacke dabei, die sie sich um die Hüften binden wollte. Des Weiteren hatte sie ausreichend Wasser und sogar eine Taschenlampe mitgenommen. Der Bus kam zum Stehen und Masaru, der bis vor kurzem noch ihr gegenüber an seinem Fensterplatz saß, war bereits aufgestanden und schubste Yasuo etwas unsanft in den Gang, sodass er leicht ins Straucheln kam. „Jetzt hetz‘ mal nicht so“, giftete er und schenkte ihm einen angesäuerten Blick. Auch Mimi hatte sich bereits hingestellt, schnappte sich ihre Jacke und band sich diese um ihre Hüfte. Danach reihte sie sich, mit samt ihres Rucksackes, in die Reihe ein und schritt langsam aus dem Bus. Eine kühle Brise kam ihr entgegen und ließ sie leicht frösteln. Masaru stand bereits draußen und zog ein eher lustloses Gesicht. „Wo ist Yasuo?“, fragte Mimi als sie auf ihn zukam. Masaru verdrehte nur die Augen und schielte zu den Toiletten. „Ich habe ihm gesagt, dass er besser nicht so viel trinken soll, aber er wollte nicht auf mich hören.“ „Ach, das macht doch nichts“, winkte Mimi ab und schaute auf ihre Armbanduhr. „Die Tour beginnt erst in einer halben Stunde.“ „Na wenn das so ist“, meinte er grinsend und warf ihr seine Tasche zu, die sie überrascht auffing. „Dann kann ich mir ja noch eine längere Hose anziehen. Meine Mutter meinte, dass es sehr kalt werden könnte.“ Er kramte aus seiner Tasche eine längere Hose hervor, die er schnell gegen seine Shorts eintauschen wollte. _ Mimi wurde am Fuße der fünften Station geparkt und setzte sich mit dem Gepäck auf eine der freien Bänke. Rings um sie herum bildete sich eine immer größere Menschentraube, die sich angeregt über den bevorstehenden Aufstieg unterhielt. Mimi hingegen spürte, dass sie nicht sonderlich viel Lust hatte, sich körperlich zu betätigen. Schnell verlor sie sich in ihren Gedanken und ließ die letzte Woche vor den Schulferien noch einmal Revue passieren. Es ging alles recht schnell. Die letzte Woche hatte sie hauptsächlich den Ausflug organisiert. Sogar das Tanztraining hatte sie dafür geschwänzt, um sich nicht zu sehr zu verausgaben. Mimi hatte auch vollkommen vergessen, dass die jährlichen Sportausflüge der verschiedenen Schulmannschaften vor der Tür standen. Als sie montags zur Schule kam, standen mehrere Busse bereit, die die Mitglieder zu ihrem Veranstaltungsort bringen sollten. Mit Sora hatte sie sich immer noch nicht ausgesprochen. Sie hatte sie nur kurz gesehen, als sie in den Bus einstieg. Sie hatte ihr noch nicht mal zugenickt, sondern schien regelrecht durch sie hindurch zu stehen. Von Kari erfuhr sie später auch, dass sowohl Tai und Davis, als auch TK mit ihren Mannschaften an dem großen Turnier in Osaka teilnahmen. Etwas, dass Mimi sehr beunruhigte, da Tai und Sora die Möglichkeit hatten, Zeit alleine miteinander zu verbringen. Von Matt wusste sie ja schließlich, das er ihr seinen Segen gab, auch wenn es ihn sehr verletzte. Matt hatte sie nur kurz gesehen, lieber ging sie ihm nach dieser einen Nacht aus dem Weg und versuchte zu vergessen, was zwischen ihnen vorgefallen war. Die Pausen hatte sie sowieso meist mit Kari, Yolei und Izzy verbracht, während er bei seinen Bandmitgliedern abhing und ihnen ebenfalls nicht sonderlich viel Beachtung schenkte. Vielleicht war es auch besser so. Wenn jeder seine eigenen Wege ging und sich nicht länger im Weg stand. Ihre Freundschaft hatte sich schon längst verändert, das war kein Geheimnis mehr. Während sich Yolei und Ken, als auch TK und Kari fanden und ineinander verliebten, distanzierte sich der Rest voneinander. Davis hatte immer noch daran zu knabbern, dass Kari und TK ein Paar waren, schien sich jedoch allmählich damit zu arrangieren. Zu Cody hatten wenn nur die Jüngeren noch regelmäßigen Kontakt. Er hatte viele neue Freunde gefunden und verbrachte die Pausen schon lange nicht mehr bei ihnen. Das Gleiche galt für Joe, der wirklich nur sehr selten zu Treffen kam. Meist nur an Geburtstagen und dem ersten August, der auch wieder bald vor der Tür stand. Das Dreiergespann hatte sich komplett voneinander distanziert und redete wenn nur noch das Nötigste miteinander. Besonders die Situation zwischen Matt und Tai war nach wie vor angespannt, auch wenn Matt jede Entscheidung, die Sora in Zukunft treffen würde, akzeptieren wollte. Er hatte sowieso vor, nach seinem Schulabschluss in die weite Welt zu ziehen und Musik zu machen. Wahrscheinlich würden sie von ihm nur noch etwas aus den Nachrichten hören. Und auch Mimis Beziehung zu Sora hatte gelitten, auch wenn sie ihr nie die Wahrheit über ihre Gefühle zu Taichi sagte. Es hatte sich erledigt. Seit sie die Nachhilfe beendet hatte, sahen sie sich nur noch flüchtig. Die einzigen Personen, die sie regelmäßig sah, waren Izzy und Kari, aber auch nur weil die Schule sie miteinander verband. Izzy sah sie jeden Tag in der Klasse, während Kari und sie jeden Freitag gemeinsam den Tanzverein aufmischten. Doch es hatte sich einiges verändert. Alte Freundschaften gingen zu Bruch, während andere neu erblühten. _ Kurze Zeit später waren sie schon mittendrin. Hintereinander gingen sie einen schmalen Weg entlang, bis er ein bisschen breiter wurde, sodass Mimi neben Masaru laufen konnte. Yasuo ging vor ihnen und hatte seine Kamera gezückt, um alles bis ins kleinste Detail zu dokumentieren. „Und das sind Mimi und mein Bruder“, er schwenkte die Kamera wieder zu sich und grinste in die Linse. „So sieht Motivation aus.“ „Wird ihm nicht irgendwann langweilig?“, erkundigte sich Mimi stirnrunzelnd und setzte stumpfsinnig einen Fuß vor den anderen. „Er liebt die Kamera und irgendwie ersetzt es ihm auch die mangelnde Anzahl von Freunden. Jedenfalls ein bisschen“, erklärte Masaru schnaufend. Mimi hingegen wurde hellhörig. „Hat er nicht viele?“ „Er hängt zu oft bei uns ab, aber in seiner Klasse gilt er oft auch als Freak!“ „Wieso das denn? Er ist doch ein liebes Kerlchen.“ „Das schon, aber er ist sehr schüchtern und beschäftigt sich lieber mit dem dusseligen Ding, statt sich mit richtigen Menschen zu unterhalten“, eröffnete er ihr und Mimi kicherte leise. Irgendwie erinnerte sie diese Eigenschaft sehr an Izzy. Er versteckte sich auch gerne hinter seinem Computer, statt das Leben und die Menschen besser kennen zu lernen. Anscheinend hatten beide in diesem Bereich ein großes Defizit, dass Mimi ausbügeln musste. Sie konnte doch nicht zulassen, dass jemand vereinsamte, obwohl Yasuo alles andere als unglücklich aussah. „Seit wann filmt er denn schon?“, fragte sie interessiert. „Seit wann?“, wiederholte Masaru und kratzte sich leicht am Hinterkopf und dachte offensichtlich nach. „Ich glaube, seit unsere Großmutter gestorben ist…obwohl eigentlich hat er schon viel früher damit angefangen“, knirschte er nachdenklich. Mimi hörte ihm aufmerksam zu und achtete gar nicht mehr darauf, wie viel sie schon gelaufen war. Bald würden sie die sechste Station schon erreichen. „Also unsere Großmutter hatte Demenz und ich glaube, er hat mit dem filmen angefangen, als sie plötzlich alles durcheinander gebracht hat. Manchmal hat sie unsere Namen miteinander verwechselt, oder wusste gar nicht mehr, wer wir sind.“ „Oh, das tut mir leid“, antwortete Mimi mitleidig und schenkte ihm einen traurigen Blick, den er jedoch nicht zu erwidern schien. „Du kannst doch nichts dafür“, erwiderte er lachend und klopfte ihr auf die Schulter. Danach blickte er wieder zu Yasuo, der die Landschaft, die ihn umgab, zu beschreiben begann. „Ich bin mir sicher, dass er es für sie gemacht hat. Als Kinder waren wir oft bei ihr, weil unsere Eltern sehr beschäftigt waren, weißt du?“ „Verstehe“, murmelte Mimi und musterte ihn unbemerkt. Er sah so nachdenklich aus und wirkte ein wenig angeschlagen. „Stimmt was nicht?“, hakte sie nach und Masaru drehte sich ertappt zu ihr. „Ach, es ist alles okay“, versicherte er ihr und schenkte ihr ein überzeugendes Lächeln, dass Mimi jedoch trotzdem misstrauisch begutachtete. Doch sie konnte es ihm nicht verübeln. Sie erzählte den wenigstens Menschen, was wirklich in ihr vorging. Versteckte alles hinter der perfekten Fassade, die niemals bröckelnd durfte. „Boah, guckt euch mal die Aussicht an!“, brüllte Yasuo, der die sechste Station als erster erreichte. Mit ausgestreckten Armen stellte er sich dicht an den Rand und wurde prompt von einem der Security-Beamten zurecht gewiesen. Er zuckte leicht zusammen, als die dunkle Stimme des Mannes ertönte und ihn warnte sich nicht zu nah am Rand aufzuhalten, da man von dort leicht abrutschen konnte. Yasuo entschuldigte sich höflich und ging schleichend zu Mimi und Masaru, die sich ein Grinsen nicht verkneifen konnte. „Du hast gehört, was der Security-Mensch gesagt hat. Geh‘ ja nicht zu dicht an den Rand“, imitierte Masaru ihn und wirkte todernst. „Tut mir leid“, murrte Yasuo und verschränkte beleidigt die Arme vor der Brust. „Ach, komm‘ jetzt zieh‘ nicht so ein Gesicht“, ergänzte er lächelnd und fuhr ihm durch die braune Mähne. „Vielleicht essen wir jetzt mal ‘ne Kleinigkeit, bevor wir uns auf den Weg zur nächsten Station machen.“ „Aber solange sind wir doch noch gar nicht unterwegs“, widersprach Mimi und schaute auf die Uhr. Es waren noch nicht mal dreißig Minuten und schon wollte er eine Pause machen? Das kam gar nicht in Frage. „Lasst uns doch einfach was Trinken und die größere Rast auf später verschieben“, schlug Mimi vor und war von ihrem eigenen Elan sehr überrascht gewesen. Masaru zuckte nur gleichgültig mit den Schultern. „Wie du willst, aber sag‘ nicht, dass ich dich nicht gewarnt habe.“ _ „Wann zur Hölle sind wir da? Meine Füße tun weh!“, beschwerte sie sich lautstark und machte Anstalten sich hinzusetzen, als Masaru sie einfach an die Hand nahm und weiter nach oben zog. „Ich brauch‘ mal eine Pause“, protestierte sie und riss sich los. Wütend stemmte sie die Arme in die Hüften. Wie ein beleidigtes Kind, sah sie zu Masaru, der ihr nur einen belustigten Blick schenkte. „Du wolltest doch keine Pause machen“, stellte er fest und reckte seinen Hals. Yasuo war einfach weitergangen und hatte gar nicht mitbekommen, dass beide stehen geblieben waren und einigen Wanderern den Weg versperrten. „Du hast gewusst, dass es noch Ewigkeiten dauert!“, unterstellte sie ihm theatralisch und machte eine ausdrucksstarke Handbewegung, um ihre Empörung besser zu untermalen. „Naja, ich habe mir mal den Plan angeguckt und von Station sechs bis sieben geht man nun mal meist über eine Stunde“, erklärte er sie auf und wirkte ein wenig überheblich. Mimi gab ein zischendes Geräusch von sich und holte wieder etwas auf. „Du hättest mich ruhig vorwarnen können. Wie lang ist es denn noch?“ Die Wut in ihrem Gesicht war der Verzweiflung gewichen und mit ihren großen braunen Augen sah sie vorwurfsvoll zu Masaru, der seinen Plan aus der Tasche kramte. „Wenn du weniger meckerst, sind wir in zehn Minuten an Station sieben“, sagte er und sah sie herausfordernd an. Mimi ignorierte jedoch seinen Blick und ging motzend an ihm vorbei. In ihren Schuhen hatte sich eine Hitze gebildet, die kaum auszuhalten war. Wie sehr wünschte sie sich ein kaltes, erfrischendes Fußbad…doch sie wusste, dass sie so schnell keins bekommen würde. Sie war in der Hölle gelandet, befand sich auf einem dämlichen Berg, oder wohl eher Vulkan, der tausende Leute magisch anzog. Die meisten wollten einfach nur den wundervollen Sonnenaufgang betrachten, während andere eine Art Glaubensreise unternahmen. Mimi hatte andere Ziele. Sie machte das nicht, weil sie es wollte. Sie machte es für eine Person, die ihr sehr am Herzen lag. Sie wollte ihr zeigen, dass sie auch verzeihen konnte. Dennoch war es reihe Tortur für sie. Noch nie im Leben, hatte sie sich so sehr ihr Bett herbei gewünscht wie in diesem Moment. Dabei hatten sie noch nicht mal die Hälfte geschafft. „Jetzt zieh doch nicht so ein Gesicht! Guck‘ da oben ist schon die Station“, meinte Masaru aufmunternd und legte den Arm um sie. Sie wiederrum kniff die Augen zusammen und schenkte ihm einen feindseligen Blick, so als wollte sie versuchen ihn damit zu töten. Daraufhin ließ er sie wieder los und schaute hoch zu seinem Bruder, der bereits oben war und den beiden freudestrahlend zu winkte. „Nur noch wenige Meter, dann hast du es geschafft, Mimi“, sagte sie zu sich selbst, in der Hoffnung sich etwas motivieren zu können. Schwerfällig setzte sie einen Fuß vor den anderen, verlor jedoch kurz vor dem Ziel Masaru aus den Augen, da er schneller war als sie. Oben angekommen ließ sie sich einfach auf den Boden fallen und atmete schwer. Ihre Lungen brannten wie Feuer, sodass sie schnell ihren Rucksack vom Rücken nahm und nach ihrer Wasserflasche griff. Gierig trank sie an ihrem Wasser und spürte wie es ihre trockene Kehle hinunterfloss und sie von innen heraus erfrischte. Danach legte sie sich einfach auf den Rücken und atmete ein paarmal tief ein und wieder aus. Sie drehte den Kopf zur Seite und erkannte, dass der Himmel bereits rotgefärbt war und die Sonne allmählich unterzugehen schien. Ein paar Wolken flogen lautlos über sie hinweg und ein leichter Windstoß überkam sie und brachte ihre Haare etwas durcheinander, die jedoch wegen des Schweißes, an ihrer Stirn kleben blieben. Mimi setzte sich wieder auf und fuhr sich mit dem Handrücken darüber. Wieder öffnete sie ihren Rucksack und holte ein Haargummi hervor, um sich die störenden Fransen aus dem Gesicht zu binden. Sie nahm ihre Haare in die Hand und knuddelte sie zu einem unordentlichen Dutt zusammen. Einige Strähnen fielen ihr vorne leicht ins Gesicht, doch das störte sie nicht. Lieber wollte sie sich auf die Suche nach Masaru und Yasuo machen, die sie im Getümmel verloren hatte. Zum Glück musste sie nicht lange suchen, da sie sie direkt vor den Toiletten fand. Eine lange Schlange hatte sich gebildet und Mimi überlegte, ob sie nicht lieber auch nochmal gehen sollte, bevor sie sich wieder auf den Weg machten. Wahrscheinlich dauerte es noch ein bisschen bis sie die achte Station erreichten. Dort wollten sie auch ihre kurze Nacht verbringen und eine Kleinigkeit essen. „Da bist du ja wieder“, begrüßte Masaru sie breitgrinsend, während Yasuo eher mitleidig in die Wäsche guckte. „Was ist denn mit dir los?“, fragte Mimi besorgt. „Ich muss pullern!“, gestand er fast schon ein wenig wehleidig, während Masaru demonstrativ seine halbvolle Flasche Wasser in seiner Hand schüttelte. Er kniff die Beine fest zusammen und sein Gesicht wurde ein wenig rot, während Masaru ihn freudig weiterquälte. Mimi verdrehte die Augen und hielt sein Handgelenk plötzlich fest. „Hör auf damit!“, zischte sie giftig. „Was denn? Er ist doch selbst schuld, wenn er so viel trinkt!“, entgegnete er belustig. Seufzend ließ sie ihn los und wanderte mit ihrer flachen Hand zu ihrer Stirn. Sie war wohl mit zu groß gewordenen Kindergartenkindern unterwegs. Yasuo stürmte plötzlich los, als sich die Tür der Männertoilette öffnete. Er rannte beinahe den Wanderer über den Haufen, der tobend seiner Unmut Luft machte. „Yasuo wie er leibt und lebt“, kommentierte Masaru mit verschränken Armen, während Mimi lustlos die lange Schlange der Damentoilette betrachtete. _ Nach einigen Schimpftiraden seitens Mimi und etlicher Beruhigungsversuche von Masaru, hatten sie gegen neun Uhr endlich Station acht erreicht, um sich etwas länger auszuruhen. Zuvor hatten sie nur eine kurze Pause von einer halben Stunde eingelegt, die Mimi fast gänzlich damit verbracht hatte, vor der Damentoilette Schlange zu stehen. Danach wanderten sie ohne größere Pausen weiter, auch wenn Mimi langsam das Gefühl in ihren Füßen verloren hatte. Manchmal dachte sie, dass sie eher Betonklötze, als ihre schicken Wanderschuhe, an den Füßen haften hatte. Der Aufstieg fiel ihr immer schwerer, sodass Masaru sie öfters mitziehen musste. Nie im Leben hätte sie erwartet, dass sie so außer Puste geriet. Und der Horrortrip war noch lange nicht zu Ende. Bis zwei Uhr hatten sie Zeit sich etwas in einer der Hütten auszuruhen, gegebenenfalls etwas Schlaf nachzuholen, was Mimi sicher nicht gelingen würde. In der kleinen Holzhütte war es proppenvoll. Eine Schulter küsste die Nächste, was zwar interessant sein konnte, wenn man jemand kennen lernen wollte, aber nicht wenn man hundemüde war und vielleicht sogar auf dem Schoß einer wildfremden Person einschlief. Yasuo schien das Ganze eher locker zu sehen. Während des kargen Abendessens, das nur aus einer lauwarmen Nudelsuppe bestand, freundete er sich mit einem älteren Ehepaar an und erklärte ihnen mit Freuden von dem Ausflug, den er mit ihnen unternehmen durfte. Mimi schmunzelte leicht, als sie ihn beim Reden belauschte. Er erzählte immer so farbenfroh und lebendig, so als würde seine Fantasie ihm eine ganz andere Welt dort draußen zeigen. Mimi hatte nie die verschiedenen Farben, die der Abendhimmel bot, so intensiv wahrgenommen, wie es Yasuo tat. Eine Stunde hatte er den Sonnenuntergang gefilmt und dokumentiert, wie sich das helle blau, immer mehr in einen rötlichen Orangeton verwandelte, bis die dunkel schwarze Nacht, die nur von den Sternen erhellt wurde, einsetzte. Für Mimi war es nichts besonders, da jeden Abend das Gleiche passierte. Doch Yasuo war so euphorisch, dass er seine Mitmenschen mit seiner Art einfach nur mitriss. Sie konnte gar nicht nachvollziehen, dass er so wenige Freunde hatte. Er sah die Welt wie sie war, mit all ihren schönen Farben, aber auch ihren Schatten. Etwas, was Mimi gerne ignorierte. Früher war ihre Welt heil und rosarot. Sie würde sogar so weit gehen, sie als perfekt zu beschreiben. Doch nichts war perfekt. Alles lag in einem empfindlichen Gleichgewicht und konnte jeden Moment zerbrechen, wenn man nicht richtig aufpasste. Es war wie mit der teuren Vase, die ihre Mutter aus Wut einst auf den Boden geworfen hatte. Natürlich hätte man sie kleben können, doch die Risse würden nach wie vor bleiben und ihr Leben nachhaltig beeinflussen. Es gab kein Zurück mehr. Was passiert war, konnte man nicht mehr ändern, man konnte nur das Beste daraus machen. _ Kurz vor halb zwölf steuerte sie nach draußen, als ihr der kühle Wind ihr ins Gesicht blies. Es war rabenschwarz und nur ein paar Sterne waren zu sehen. Eigentlich musste sie nur kurz aufs Klo, aber als sie zur Hütte zurücksteuerte, sah sie Masaru gedankenverloren auf einer der Bänke sitzen. Schmunzelnd ging sie auf ihn zu und ließ sich direkt neben ihm nieder. Doch er war so in seinen Gedanken versunken, dass er sie gar nicht bemerkte. „Guck nicht so ernst, das gibt Falten!“, meinte sie lachend. Masaru schreckte kurz zusammen und lockerte seinen angespannten Gesichtsausdruck. „Wie lange sitzt du denn schon hier?“ „Bin gerade erst gekommen“, antwortete sie leise und richtete ihr Gesicht wieder zum Himmel. „Unglaublich oder?“ „Ja“, murmelte Masaru und Mimi sah aus dem Augenwinkel heraus, dass er ihrem Blick gefolgt war. Einige Minuten betrachteten sie schweigsam den weiten Himmel, der sich vor ihnen erstreckte. Er war ehrfürchtig und wirkte unendlich auf sie, so als würde Raum und Zeit kaum noch existieren. Als wären sie in einer Zwischenwelt gefangen, die ihnen sagte, dass das Leben nur aus einem einzigen Moment bestand. Ein Moment, der kam und sie einfach übermannte. „Warum sitzt du hier so alleine rum?“, fragte sie interessiert, schwenkte den Kopf in seine Richtung und stellte ihre Füße auf die Bank. Sie hatte ihre Beine nah an ihren Körper gepresst und legte ihr Kinn seitlich auf ihre Knie. Masaru hatte sich nicht bewegt. Locker saß er auf der Bank und starrte in die Ferne. „Ich wollte nachdenken. Über mich. Das Leben. Und das nur eine Kleinigkeit alles verändern kann“, erwiderte er schwach und seufzte gequält. Mimi wurde hellhörig und hob den Kopf etwas an. „Was meinst du damit?“ „Früher dachte ich immer, dass es falsch ist, jemanden zu lieben, den ich gar nicht lieben durfte“, sagte er auf einmal. Sein Blick wurde ganz starr und fixierte Mimi kein einziges Mal. „Doch warum soll es falsch sein? Ich meine, jeder hat doch das Recht zu lieben und zu leben, wie man will oder?“ Seine Stimme klang brüchig und Mimi wusste nicht genau, was sie erwidern sollte. Er schien über seine Homosexualität zu sprechen, von der Mimi seit einiger Zeit wusste. Sie hatte es an jenem Abend herausgefunden, als Noriko zusammengebrochen war. Mit ihm darüber gesprochen hatte sie nicht wirklich. Es war an ihr vorbei gegangen, weil andere Dinge in diesem Moment wichtiger waren. Doch wenn sie Masaru ansah und merkte wie sehr er sich damit quälte, wusste sie, dass sie viel früher mit ihm darüber hätte sprechen sollen. So richtig. Nicht zwischen Tür und Angel. „Natürlich darfst du lieben, wen du willst!“, bestärkte sie ihn. „Wer sagt denn, dass du es nicht darfst?“ Masaru legte die Lippen aufeinander und sah zu Mimi. In seinen Augen erkannte sie so viel Schmerz, dass sie das Bedürfnis überkam, ihn in die Arme zu nehmen. Doch sie war sich nicht sicher, ob er es überhaupt wollte, deswegen ließ sie es vorerst. „Mein Vater ist Politiker und im Stadtrat tätig. Er hat gesagt, dass ich es nicht wagen sollte, einen Jungen mit nach Hause zu bringen. Lieber sollte ich dafür sorgen, dass ich wieder normal werde“, erklärte er mit heiserer Stimme und legte seinen Kopf schief. Mimis Augen weiteten sich augenblicklich und ihr Atem stockte abrupt. „Was? Das hat er gesagt?“ Masaru nickte nur betroffen und vergrub sein Gesicht in einem Schal, den er um den Hals trug. Auch Mimi kuschelte sich in ihre Jacke und rieb ihre Hände aneinander, damit sie nicht zu sehr froren. Ein kalter Wind wehte und nahm ihr die Müdigkeit, die sie vor wenigen Augenblicken noch empfunden hatte. „Du darfst nicht auf ihn hören! Er ist zwar dein Vater, aber es ist dein Leben! Du musst damit glücklich werden“, sagte sie und klang sehr bemüht, die Situation in irgendeiner Form zu retten. Masaru lächelte nur und leichte Grübchen bildeten auf seinen Wangen. Er fuhr sich durch die Haare und kniff die Augen kurz zusammen. „Weißt du wer das auch schon zu mir gesagt hat?“ Mimi zuckte nur mit den Schultern. Sein Lächeln verblaste langsam und zurückkehrte eine eher ernstere Miene. Dennoch umhüllte ihn plötzlich eine Wärme, die auch in seiner Stimme hörbar war. „Deine Schwester. Sie hat genau die gleichen Worte zu mir gesagt! Sie war auch die Erste, die gecheckt hat, dass ich nicht auf Mädchen stehe!“ Verwundert sah sie ihn an und richtete ihre Position. So langsam tat ihr Hintern schon weh. „Echt? Seit wann, weißt du es denn schon?“ „Ungefähr seit der Mittelstufe. Ich habe mich in einen aus dem Orchester verknallt und Noriko hatte genau gewusst, wie sie meine Blicke zu deuten hatte. Sie wusste es sogar eher als Chiaki und wir sind schon seit dem Kindergarten befreundet.“ Seit dem Kindergarten. Ein seltsames Gefühl übermannte sie. Ihr schlechtes Gewissen wuchs, ihr Herz pochte plötzlich wie wild und ihr Blick wurde ganz gläsern. Das Gespräch, das sie geführt hatten, rückte auf einmal in den Hintergrund. Sie drückte ihre Beine dicht an ihren Körper, während Bilder der vergangenen Wochen, vereinzelt und wild durcheinander, durch ihren Kopf jagten. Sie schloss die Augen und versuchte sie zu ordnen. Das Chaos zu sortieren, aus ihrem Leben zu verbannen. Doch sie wusste, dass es nicht ging. Sie hatte Mist gebaut. In vielerlei Hinsicht, aber das, was sie am meisten bereute war die Nacht mit Matt und die Tatsache, dass sie ihre Freundin genau genommen hintergangen hatte. Ein leises Wimmern überkam ihre Lippen, sodass Masaru seine Erzählungen rund um seinen ersten Schwarm abrupt abbrach und sie sorgenvoll musterte. Sie spürte seine Hand auf ihren Schultern und merkte seine Körperwärme direkt neben ihr. Er war dicht neben sie gerutscht und legte sein Arm um ihre Schultern. Mimi drückte ihre Zunge gegen die Innenseite ihrer Lippen und fuhr darüber. Sanft fühlte sie ihre Zähne darauf drückten und einen leichten Schmerz, der sich sachte ausbreitete. „Was ist los? Ist es wegen Noriko?“, hakte her behutsam nach, da er sich sicher vorstellen konnte, dass sie die gesamte Situation belastete. Doch Mimi schüttelte ruckartig den Kopf und drückte ihn gegen ihre Knie. „Ich habe Mist gebaut“, gestand sie sich ein und ärgerte sich darüber, ausgerechnet in Matts Armen schwach geworden zu sein. Sie blinzelte leicht und richtete den Kopf zur Seite. Masaru sah sie fragend an und hatte den Kopf ebenfalls leicht zur Seite geneigt. „Ach wirklich? Dann erzähl‘ doch mal“, meinte er gelassen und ein warmen Lächeln umspielte seine Lippen. Mimi hingegen wusste nicht, ob sie sich ihm öffnen und ihn an ihren Geheimnissen teilhaben lassen wollte. So gut kannten sie sich doch gar nicht. Doch die Wortkotze hatte sich in ihrem Mund angesammelt und wartete darauf endlich über Lippe brechen zu können. Auch sie brauchte jemandem zum Reden. Also fing sie an zu erzählen. Kapitel 32: Einmal zum Gipfel des Fujis hin und zurück – Teil 2 --------------------------------------------------------------- Sie erzählte ihm alles. Selbst die Kleinigkeiten, die sie ursprünglich aussparen wollte. Doch die Wortkotze bahnte sich ihren eigenen Weg, so als wäre es notwendig gewesen diese unausgesprochenen Dinge einmal loszuwerden. Mimi erzählte von ihrer unglücklichen Liebe zu Tai, die für immer unerwidert bleiben würde, da er Sora, ihre beste Freundin, liebte. Mimi beschrieb dieses Gefühl, dass sie immer spürte, wenn sie mit ihm zusammen war. Dieses unaufhörliche Magenkribbeln und pochende Herz, das sie in seiner Gegenwart hatte. Aber sie sprach auch dass aus, was sie zwar immer bemerkt hatte, aber nie wahrhaben wollte. Das giftige grüne Monster, das sich ihr manchmal zeigte, wenn sie sich mal wieder heimlich mit Sora verglich und voller Neid anerkennen musste, dass sie so viele Eigenschaften hatte, die Mimi nicht besaß. Dass, sie sich gewünscht hatte, sie würde sich für Yamato entscheiden und so Tai in ihre Arme treiben, auch wenn sie schon bemerkt hatte, dass alles viel zu einfach klang. Sie ließ das Gespräch zwischen ihr und Matt noch einmal Revue passieren. Erklärte ihrem Gegenüber nachdrücklich, dass sie das Geschehene zu tiefst bereute, auch wenn Masaru noch nicht wusste, was hinter der Sache steckte. Doch Mimi redete sich in Rage. Vollkommen außer sich gestikulierte sie wild, schüttelte bei ihren Erzählungen gelegentlich den Kopf, bevor sie wieder einen Punkt fixierte und ihn traurig anblickte. Sie wollte nicht verstehen, warum Matt Sora einfach so aufgegeben hatte und die Bahn für Tai räumte. Lieber wollte sie an ihrer Wunschvorstellung festhalten und in ihrer Traumwelt weiterleben, als die Realität zu akzeptieren. Doch die Taten, die sie aus der Not heraus begangen hatte, verfolgten sie. Sie untermauerte mehrfach, dass sie ganz sicher nicht mit Matt schlafen wollte, es jedoch in diesem Moment, wie die Luft zum Atmen, gebraucht hatte. Die Sache mit Noriko und das aus Tai und Sora wohlmöglich doch ein Paar werden könnte, waren zu viel für sie. Sie gab sich daher dem Moment der Leidenschaft hin, um alles andere zu vergessen, auch wenn es ihr mehr Probleme einhandelte, als sie eigentlich wollte. Mit Matt hatte sie seither nicht mehr gesprochen. Sie konnte ihm noch nicht mal mehr in die Augen sehen, ohne an die gemeinsame Nacht zu denken. Ihr schlechtes Gewissen vermischte sich mit Scham, der sich in ihre Gedankengänge gefressen hatte. Matt wusste genau, wie sie nackt aussah, wie sie reagierte, wenn er sie an bestimmten Stellen berührte und sie konnte nicht sagen, das ihr dieser Gedanke sonderlich gut gefiel. Etwas außer Puste gekommen, beendete sie den letzten Satz und sah in Masarus ausdruckloses Gesicht. Bestimmt fühlte er sich von den Informationen erschlagen und überlegte angestrengt, was er als Nächstes sagen sollte. Gespannt sah Mimi ihn an und wippte leicht mit ihrem Fuß. Vielleicht hatte er sogar einen schlauen Rat für sie, auch wenn sie nicht wirklich daran glaubte. Mimi fragte sich, ob Beziehungen zwischen Männern auch so kompliziert abliefen, oder ob es einfach daran lag, dass es bei Mann und Frau immer diese Reibungspunkte geben würde. „Also…ja, das waren viele Informationen auf einmal, aber…“, stammelte er, sah sie kurz an, wurde rot und wandte den Blick wieder von ihr. „Aber was?“, hakte Mimi nach und beugte sich zu ihm rüber. „Naja, es ist schon eine blöde Situation, aber die Sache mit dem Sex würde ich jetzt nicht so dramatisch sehen“, erläuterte er unsicher. „Nicht so dramatisch sehen?“, wiederholte sie und runzelte die Stirn. Es war wohl doch ein Fehler, ihn um seine Meinung zu fragen. Von Frauen hatte er absolut keine Ahnung. „Jetzt hör mir mal zu“, setzte er wieder ein und hielt sie an ihren beiden Schultern fest. „Das Leben ist wie ein undefinierbares Wesen, gebürtig in der Hölle und ohne Herz. Aber so ist das nun mal. Natürlich wäre es sicher besser gewesen, nicht mit dem Ex-halb-irgendwas-Freund deiner besten Freundin zu schlafen, aber es ist passiert. Daran kannst du nichts mehr ändern.“ Er versah seine überaus emotionsgeladene Rede mit verzerrten Gesichtern, die Mimi zuvor noch nie bei jemandem gesehen hatte. Sein rechtes Auge war leicht zusammen gekniffen und sein Mund hing schräg nach links unten. Seine rechte Augenbraue zuckte leicht, je nachdem wie er ein Wort betonte, seine Stimme senkte oder hob. So etwas Witziges hatte sie schon Ewigkeiten nicht mehr gesehen und musste sich zurückhalten nicht gleich laut los zu prusten. Sie verzog leicht das Gesicht und gab einen undefinierbaren Laut von sich, als sie sich die Hand vor den Mund hielt und laut los lachte. „Was‘n jetzt los?“, fragte er verständnislos und war anscheinend komplett verwirrt. Mimi hingegen rang nach Luft, als sie ihre Lachtränen mit dem Zeigefinger aus dem Augenwinkel entfernte. Er hätte sich im Spiegel sehen müssen. So ein Gesicht war einfach einmalig. Doch Masaru verschränkte nur verärgert die Arme vor der Brust und musterte sie zu tiefst beleidigt. „Ich weiß gar nicht, was auf einmal so witzig sein soll? Hast du den Verstand verloren, oder geht dir bei der Höhe allmählich der Sauerstoff aus?“ „So ein Quatsch“, erwiderte sie augenverdrehend und gab ihm einen leichten Klaps gegen den Arm. „Du hättest dein Gesicht sehen sollen…es war einfach fabelhaft.“ „Mein Gesicht?“, hakte er nach und tastete sich automatisch ab. Mimi kicherte wieder, was Masaru um den Verstand zu bringen schien. „Was ist denn mit meinem Gesicht? Hab ich Sonnenbrand? Schält sich meine Haut? Sehe ich aus wie ein Inder?“ Mimi fasste sich lachend an die Stirn, während sie sich mit der anderen Hand den Bauch hielt. Vor lauter Lachen tat er schon weh und Masaru schaffte es immer wieder einen drauf zu setzen. Nachdem sie sich beruhigt hatte und Masaru versicherte, dass er noch genauso aussah, wie heute Morgen, kehrte für den Moment Ruhe ein. Ein seichtes Lüftchen wehte und verstrubbelte ihre Haare. Eine zarte Gänsehaut zog sich über ihr Gesicht, sodass sie ein wenig mehr in ihrem Schal versank und die Arme um ihren Körper drückte. Sie hatten vollkommen die Zeit vergessen, da sie über alles und jeden geplaudert hatten. Masaru hatte seinen Jackenärmel zurückgeschoben und auf seine Armbanduhr sehen zu können. Ein sanftes Lächeln überkam ihn und er sah wissend zu Mimi. „Ich glaube, wir sollten uns auch noch ein bisschen ausruhen. Wir haben schon nach zwölf.“ Mimi nickte nur verständlich und fischte sich ein paar Strähnen aus dem Gesicht. Sie wollte gerade aufstehen, als Masaru sachte ihr Handgelenk packte und sie wieder auf die Bank zog. „Was soll das denn?“, fragte Mimi empört und sah ihn mit ihren großen braunen Augen an. Er grinste und wiederholte, dass es nach zwölf war. Danach ließ er ihr Handgelenk wieder los, während Mimi überlegte, auf was er bloß hinaus wollte. „Und weiter? Mir ist wirklich kalt und bei so ‘ner Uhrzeit kann ich nicht mehr denken“, gab sie sich geschlagen, wandte jedoch den Blick keinesfalls von ihm. Er stöhnte nur und hielt sich die Hand an den Kopf. „Also wenn du nicht weißt, was heute ist, dann weiß ich auch nicht mehr.“ Sie runzelte die Stirn und war nun gänzlich verwirrt. Er hatte den Arm auf die Banklehne legt und sah sie herausfordernd an. Doch ihr wollte beim besten Willen nicht einfallen, was er von ihr wollte. So wichtig konnte es nicht sein, sonst würde es ihr doch gleich einfallen. „Man, du bist echt der erste Mensch, den ich kennen lerne, der seinen eigenen Geburtstag vergisst“, klärte er sie kopfschüttelnd auf. „Mein Geburtstag?“, murmelte sie verdutzt und kramte ihr Handy aus der Hosentasche hervor. Tatsächlich. Es war der 23. Juli. Ihr Geburtstag. „Aber woher wusstest du…?“ „Noriko hat mich zisch mal daran erinnert. Sie wäre sicher ganz schön sauer geworden, wenn ich es vergessen hätte und ich bin auch nur eine halbe Stunde zu spät. Aber daran gebe ich dir die Schuld“, antwortete er keck. „Du Spinner“, sagte sie nur und stand auf. „Na komm, lass uns rein gehen!“ Sie hielt ihm die Hand hin, die er sofort ergriff. Er stand ihr gegenüber, als er sie plötzlich in eine Umarmung zog. Überrascht erwiderte Mimi sie und legte die Arme um ihn. „Happy Birthday Mimi“, gratulierte er ihr fast flüsternd und drückte sie für einen kurzen Moment an sich. Auch wenn es nur eine kleine und sehr kurze Geste war, wusste Mimi sie zu schätzen. Es war seine Art ihr zu sagen, dass alles irgendwie funktionieren würde. Egal, was auch noch passierte. _ Um zwei Uhr ging es tatsächlich weiter. Ihr Gruppenführer riss sie aus der Entspannungsphase und Yasuo aus seinen Träumen. Ein allgemeines Grummeln war zu hören, doch nach und nach setzte sich jeder in Bewegung. In circa eineinhalb Stunden würden sie die Spitze des Fujis erreichen. Mimi war gespannt auf den Sonnenaufgang und lief euphorisch voran. „Jetzt bewegt euch mal“, kommandierte sie Masaru und Yasuo, die immer noch nicht ganz wach schienen. „Hast du ihr irgendwas gegeben? Ist ja schlimm wie motiviert sie ist“, murmelte Yasuo hörbar und bekam von Mimi einen bösen Blick zugeworfen. „Das habe ich gehört“, giftete sie, ließ sich allerdings nicht die Laune verderben. Nach dem Gespräch mit Masaru fühlte sie sich befreit, so als wäre ein Zentner Last von ihrer Brust abgefallen. Außerdem hatte sie Geburtstag, auch wenn es für sie eher nebensächlich war. Sie wollte Norikos Herzenswunsch erfüllen und einmal die Spitze des Fujis erreichen. All die Strapazen, die sie bisher erlebt hatte, dass ihre Füße vom Laufen schon ganz taub geworden waren, hatte sie vergessen. Sie hatte sich ein Ziel gesteckt, dass sie unbedingt erreichen wollte. Nicht für sich, aber für jemanden, der ihr viel bedeutete. Gut, sie wollte auch beweisen, dass sie so etwas Anstrengendes schaffen konnte. Dass sie keine Mimose oder ein verzogenes Prinzesschen war, für das sie alle immer hielten. Vielleicht wollte sie es sich auch nur selbst beweisen. Zielstrebig setzte sie einen Fuß vor den anderen, wusch sich den aufkommenden Schweiß von der Stirn und strich sich störende Haarsträhnen aus dem Gesicht. Ihre Haare hatte sie zu einem hohen Zopf gebunden, der munter mitwippte, wenn sie sich bewegte. Es war immer noch stockfinster und sie war froh an eine Taschenlampe gedacht zu haben. Viele trugen eine Helmlampe auf dem Kopf und waren auch sonst perfekt vorbereitet gewesen. Mimi hatte schon mehrfach gedacht, dass sie zu viel Zeug dabei hatte, musste aber feststellen, dass auch ihre Wasserrationen sich schnell zu Ende neigten. Daher musste sie sich zwei neue Flaschen in den überteuerten Hütten besorgen und ärgerte sich darüber, fast 780 Yen dafür ausgegeben zu haben. Doch verdursten wollte sie ganz sicher nicht, auch wenn sie dem Geld hinterher trauerte. Sie verlangsamte plötzlich ihre Schritte, damit Masaru sie einholen konnte. Seine Motivation war flöten gegangen, besonders weil er in der Hütte keine Ruhe fand. Yasuo hingegen strotzte vor Energie und berichtete fröhlich, dass er Noriko den Sonnenaufgang aufzeichnen wollte. Seine Kamera hing um seinen Hals und schwang leicht mit seinen Bewegungen mit. Mimi lächelte nur milde. Seine Euphorie sprang regelrecht auf sie über, auch wenn sie anfangs von dem Ausflug wenig begeistert war. Mittelweile verstand sie jedoch, warum sich so viele auf den Weg begaben. Es zeigte ihr so viele wundervolle Dinge, die sie zuvor noch nicht mal wahrgenommen hatte. _ Um kurz nach halb vier hatten sie es geschafft. Sie waren tatsächlich am Gipfel angekommen. Der Wind peitschte ihnen ins Gesicht und vor ihnen erstreckte sich eine Hügellandschaft, die sie beim dämmenden Licht nur spärlich erkennen konnten. Es dauerte noch über eine Stunde, bis sich die Sonne zeigen würde. Einige Wanderer ließen sich daher auf dem braunen Gestein nieder und packten Energieriegel und Wasser aus. Auch Mimi hatte sich mit den Jungs an eine gute Stelle verzogen und wartete darauf, dass etwas passierte. Sie unterhielten sich locker miteinander, bis sich der dunkele Himmel allmählich erhellte. „Boah, ich glaube es geht gleich los!“, rief Yasuo nervös und setzte sich leicht auf. Die Kamera hatte er bereits gezückt und richtete sie in die Ferne. Die schwarze Nacht verabschiedete sich nach und nach. Der Himmel färbte sich in ein zartes dunkelblau und langsam erkannte man ein Meer aus Wolken, das sich vor ihnen erstreckte. „Ich geh mal näher ran!“, informierte Yasuo sie, sprang auf und lief weiter nach vorne. Mimi und Masaru saßen direkt nebeneinander und starrten in die Unendlichkeit. Sie hatte ihre Beine an ihren Körper gepresst und ihren Kopf auf den Knien abgelegt, während er locker und ausgestreckt neben ihr saß. Die ersten Sonnenstrahlen kitzelten auf ihrer Haut und vermischten sich mit dem inzwischen hellblauen Himmel und färben ihn am Horizont zart orangerot. Mimi atmete tief ein und merkte, dass sich ihre Brust auf- und absenkte. Schon lange hatte sie sich nicht mehr so befreit gefühlt. Der Moment in dem sich die Sonne und der Himmel sanft küssten, fühlte sich magisch an, selbst wenn man nicht an Magie glaubte. Masaru seufzte leise neben ihr und wandte den Kopf in ihre Richtung. „Kennst du die Geschichte von dem Mann, den drei Bündeln und der Brücke?“, fragte er plötzlich und erhaschte Mimis Aufmerksamkeit. Sie runzelte die Stirn und verneinte seine Frage nur. Masaru lächelte sanft und seine Haare glitzerten fast ein wenig golden im Licht der Sonne. „Ein Mann hatte drei Bündel und jedes Bündel wog fünf Kilo“, begann er nachdenklich. „Der Mann wog genau 90 Kilo. Die Brücke würde aber nur 100 Kilo tragen. Wie ist der Mann mit allen Bündeln über die Brücke gekommen?“ Überrascht musterte sie ihn und kniff die Augen kurz zusammen. Sie überlegte kurz und fuhr sich dabei demonstrativ mit dem Daumen und dem Zeigefinger über ihr Kinn, bis sie zu dem Entschluss kam, dass sie es nicht wusste. Sie zuckte mit den Achseln und sah fragend zu Masaru. „Keine Ahnung…sag’s mir!“ Erwahrungsvoll hatte sie den Kopf zu ihm gedreht, der immer noch auf ihren Knien ruhte. Masaru blickte gedankenverloren zum Sonnenaufgang. „Die Brücke ist das Leben. In den Bündeln sind deine Gefühle. Deine Liebe. Deine Freude. Dein Schmerz. Dein Verlust“, erklärte er, ohne seinen Blick vom Sonnenaufgang zu lösen. „Jeder überquert eine Brücke, mit einer größeren Last, als er tragen kann. Also muss man jonglieren.“ Er grinste verhalten. „Früher fand ich diese Geschichte wirklich bescheuert, aber jetzt macht sie Sinn.“ „Ach wirklich?“, hakte Mimi nach, die die Geschichte immer noch ein wenig fragwürdig fand. „Ja“, antwortete er sachte. „Das Leben kann manchmal so scheiße sein, dass du dich ständig fragst, warum ausgerechnet du sowas verdient hast.“ Er stöhnte leise und zog seine Beine an, um sein Gesicht in seine Oberschenkel zu drücken. „Aber eigentlich, geht es jedem so. Das Leben verläuft nie gradlinig und jeder bekommt früher oder später Steine in den Weg gelegt, die er trotzdem meistern muss. Und natürlich ist die Last meist größer, aber nicht zu groß, um unter ihr zusammen zu brechen. Nicht, wenn man jongliert!“ „Aber was, wenn man nicht jonglieren kann?“, fragte Mimi mutlos und wurde auf einmal traurig. Sie konnte sich nicht vorstellen, was er mit dem Jonglieren meinte. Doch Masaru ließ sich nicht aus dem Konzept bringen, zog die rechte Augenbraue nach oben und ein schiefes Lächeln legte sich auf seine Lippen. „Dann musst du es eben lernen!“ Mimi blies die Wangen auf und bewegte ihre zusammengekniffenen Lippen von links nach rechts. Er hatte gut reden…wusste er denn nicht wie schwer das war? „Das klingt aber verdammt schwer“, erklang ihre Stimme fast flüsternd. „Wenn’s zu einfach wäre, wäre es wirklich langweilig, oder?“ Mimi hielt für den Moment inne. Natürlich wäre es langweilig, aber trotzdem klang alles nach harter Arbeit, die sicher nicht jeder bereit war zu absolvieren. Doch das wollte sie ihm lieber nicht sagen. Sie spürte, dass er für den Moment mit sich im Reinen war und auch wenn sie die Geschichte mit dem Mann und den drei Bündeln nicht verstand, wollte sie den Augenblick genießen. Die Sonne auf ihrer Haut spüren, sich von ihrer Wärme ummanteln lassen. Vielleicht würde sie es eines Tages verstehen. Jetzt wollte sie einfach nur den Moment mit allen Facetten und seiner Schönheit einfangen, um sich auch noch nach Jahren an ihn zurückerinnern zu können. Es gab nur sie, den Gipfel des Fujis und die Sonnenstrahlen, die ihre Haut sanft berührten. _ Der Abstieg dauerte seltsamer Weise nicht so lange, auch wenn sie knapp dreieinhalb Stunden unterwegs waren. An Station sieben machten sie eine etwas länge Pause, bevor sie sich weiter auf den Weg machten. Mimi merkte langsam, dass ihre eignen Müdigkeit ihr sehr zu schaffen machte und sie sich am liebsten in das nächstbeste Bett fallen lassen würde. Kurz bevor sie die fünfte Station erreichten und danach wieder mit dem Bus in die Stadt zurückfahren wollten, informierte Masaru sie, dass sie in einem kleinen Lokal noch eine Kleinigkeit essen wollten und mit einem späteren Bus zurückfahren wollten. Etwas überrascht über den spontanen Einfall, blieb sie kurz verwundert stehen, folgte dann aber den beiden Jungs zu einer großen Hütte, in der sie essen wollten. Viele Eindrücke, die sie in den letzten Stunden gesammelt hatte, durchströmten sie und ließen sie leicht schmunzeln. Noriko hätte es sicher gefallen. Diese Freiheit und Belebtheit, die man in seiner Brust spürte war einmalig und ein Erlebnis, dass Mimi wohl niemals vergessen würde. Langsam schlenderte sie Richtung Parkplatz und fuhr sich gerade mit dem Handrücken über ihre schweißnasse Stirn, als sie plötzlich erstarrte und die Hand sinken ließ. Ihr Herz klopfte schneller und ihre Lippen begannen zu zittern. Sie wollte etwas sagen, doch sie war sprachlos. Wieder und wieder sah sie zu Masaru, der wissend grinste und die Arme vor der Brust verschränkt hatte. Mimi stand immer noch stocksteif am selben Platz und musterte ihre Gegenüber mit offenem Mund. Damit hatte sie wirklich nicht gerechnet. Tränen bildeten sich in ihren Augen und rannen ihre Wangen lautlos hinunter. „Hey“, murmelte sie leise vor sich hin und Mimi unterdrückte ein leises Schluchzen. Masaru stand direkt neben ihr, legte plötzlich einen Arm um sie und drückte sie nach vorne. „Na los, geh schon“, sagte er zu ihr und Mimi stolperte ihr entgegen. „Was machst du denn hier?“, fragte sie leicht entgeistert, da sie mit ihr am allerwenigsten gerechnet hatte. Sie legte nur den Kopf zur Seite und lächelte milde. „Ich wollte dich sehen. Du hast doch schließlich Geburtstag“, sagte sie schwach und Mimi erkannte das ihre Knie leicht zitterten. Schweigsam standen sie sich für einen Moment gegenüber. Chiaki und Etsuko standen direkt neben ihr. Sie sah so zerbrechlich aus, wie eine Porzellanpuppe hinter einer gläsernen Vitrine. „Es tut mir leid“, stammelte sie und die Tränen quollen über ihre Wangen. Mimi schüttelte nur den Kopf und legte die Lippen fest aufeinander. Ihr tat es leid. So unendlich leid. Sie hatte ihr so viele verletzende Dinge an den Kopf geworfen und sie entschuldigte sich bei ihr. Das war nicht richtig. Sie war diejenige, die sich entschuldigen musste. „Ich…“, setzte sie an, brach aber wieder ab, da ihre eigenen Tränen sie wieder überkamen. Masaru stellte sich wortlos neben sie und führte Mimi direkt zu ihr. Beide Mädchen standen sich ganz nah gegenüber und ließen ihren Gefühlen freien Lauf. „Es ist okay“, flüsterte Masaru und ließ sie los. Mimi gab einen quälenden Laut von sich, als sie sich plötzlich und unerwartet in Norikos Arme sinken ließ. Sie hielten sich fest umklammert und spürten die Nähe des jeweils anderen. „Bitte verzeih mir!“, brachte sie hervor, als sie sich gegen ihre Schulter drückte und qualvoll schluchzte. Doch Mimi schüttelte vehement den Kopf und drückte sie sachte von sich. Sie fuhr ihr über ihr Gesicht und entfernte eine Haarsträhne, die an ihren Wangen kleben geblieben war. „Ich habe dir schon längst verziehen“, eröffnete sie mit schwerer Stimme und fuhr sich mit dem Handrücken über ihre nasse Augenpartie. „Kannst du mir nochmal verzeihen?“ Sie nickte überschwänglich und presste ihr Gesicht gegen ihre Schulter. Ihre Armen umschlangen Mimis zierlichen Körper und signalisierten ihr, dass alle bösen Worte bereits vergessen waren. _ Sie hatten nicht die große Gelegenheit über alles zu sprechen, aber ihre Blicke sagten bereits einiges. Keiner der beiden wollte den Streit länger aufrechterhalten und die Zeit, die ihnen noch blieb, gemeinsam nutzen. Nach einem kurzen Geburtstagsfrühstück hatte Etsuko Mimi und den Rest in dem Kleinbus ihres Vaters nach Hause gefahren. Mimi war hundemüde und war, nachdem ihre Mutter ihr zum Geburtstag gratuliert und sie ihr kleines Geschenk ausgepackt hatte, sofort ins Bett gekrochen. Sie wusste, dass ihre finanzielle Situation nach wie vor angespannt war und erwartete daher nicht viel. Sie hatte ein kleines Rezeptbuch bekommen. Es war nicht viel, aber ihre Mutter hatte ihr Talent zum Backen schon lange bemerkt. Von ihr erfuhr sie auch, dass ihr Vater angerufen hatte, um ihr zum Geburtstag zu gratulieren. Im Nachhinein war sie froh nicht zu Hause gewesen zu sein. Mit ihm wollte sie nicht reden. Jedenfalls nicht zurzeit. Und auch wenn sie sich vorgenommen hatte, nicht vor morgen früh aufzustehen, wurde ihre ruhige Schlafphase jäh unterbrochen, als ihre Mutter in ihr Zimmer kam und ihr verkündete Besuch zu haben. Schlaftrunken taumelte sie in Schlapperklamotten zur Tür und war überrascht ausgerechnet sie davor zu finden. Ein wenig verwirrt ließ Mimi sie ins Haus und beide verschwanden wortlos in ihr Zimmer. Erst als sie ihre Tür hinter sich schloss, musterte sie ihr Gegenüber kritisch. „Was machst du denn hier? Ich dachte, du wärst noch sauer auf mich.“ „Das war ich auch“, gab sie zu und ließ sich auf ihrem Bett nieder. „Aber trotzdem habe ich deinen Geburtstag nicht vergessen und wollte dir eine Kleinigkeit vorbei bringen.“ Erst jetzt bemerkte sie die himmelblaue Tüte, die sie die ganze Zeit schon mit sich schleppte. „Oh, okay“, murmelte sie ein wenig ratlos und ließ sich auf ihrem Schreibtischstuhl nieder. Sie hatte nicht viel Lust mit ihr zu reden, auch wenn sie die ganze Sache gerne aus dem Weg räumen würde. Doch sie war so unfassbar müde, dass sie drohte jeden Augenblick vom Stuhl zu kippen. „Ich habe es leider nicht früher geschafft, aber ich hoffe trotzdem, dass du dich freust“, meinte sie etwas starr und reichte ihr die Tüte weiter. Dankend nahm Mimi sie an und sah hinein. Die Süßigkeiten fielen ihr sofort ins Auge, als sie darin kramte. Doch dann holte sie etwas Pinkes hervor, dass ihr die Sprache verschlug. Ihre Finger glitten über die weiche Wolle und sie suchte automatisch nach dem Zettel mit den Waschhinweisen, den sie nirgends fand. „Ist der selbstgemacht?“, fragte sie verblüfft und musterte ihre beste Freundin überrascht. Sora nickte leicht und ein Lächeln zog sich über ihre Lippen. „Ich weiß, es ist noch etwas zu früh für Schals, aber im Winter wird er dir sicher gute Dienste leisten.“ Mimi ließ den Schal auf ihren Schoss sinken und sah Sora gerührt an. Sie hatte noch nie ein selbstgemachtes Geschenk bekommen. Ihre Eltern hatten ihr früher immer die tollsten und teuersten Kleider aus irgendwelchen Designerläden gekauft. Selbst von ihrer Oma hatte sie noch nie etwas Selbstgestricktes bekommen. „Bist du mir noch böse?“, fragte sie zaghaft und zupfte unbeholfen an ihrem neuen Schal. Sie hoffte, dass Sora ihr verziehen hatte. Sie brauchte ihre Freundin, besonders jetzt. „Deine Worte waren ganz schön hart gewesen“, räumte sie direkt ein. „Aber du hattest Recht! Ich habe mich so egoistisch verhalten, weil ich mich einfach nicht entscheiden konnte und nur auf mich geachtet habe.“ Ihr Blick wirkte traurig, ihr Kopf war leicht zu Seite geneigt, so als wollte sie Mimi nicht direkt in die Augen sehen. „Und was hast du jetzt vor zu tun?“, tastete sie sich behutsam vor, auch wenn sie ihre Antwort fürchtete. Von Matt hatte sie ja bereits erfahren, dass er sie für Tai freigegeben hatte. Es lag also nur an ihr. „In Osaka hatte ich kurz Gelegenheit mit Tai zu reden. Mit Matt habe ich schon vor dem Turnier gesprochen“, begann sie ohne Umschweife. Mimi hatte schon wieder vergessen, dass Tais Fußballmannschaft ebenfalls an dem Turnier in Osaka teilgenommen hatte, genau wie die Basketballmannschaft von TK. Erwartungsvoll starrte sie ihre Freundin an und zerknautschte den pinken Schal mit ihren Fingern. Die Wolle war unfassbar weich und überhaupt nicht kratzig, sodass Mimi ihre Finger noch fester hineinbohrte. „Ich möchte beide nicht als Freunde verlieren und deswegen habe ich mich dazu entschieden, keinen der beiden zu wählen. Egal welche Entscheidung ich auch treffen würde, ich würde jemanden, der mir unglaublich wichtig, ist verlieren und das will ich nicht“, gestand sie und verschränkte ihre Finger ineinander. Nervös pulte sie an ihrer Nagelhaut und fuhr mit den Zähnen immer wieder über ihre Unterlippe. Mimi runzelte die Stirn. Irgendwas störte sie. Nicht, dass sie ihr nicht glaubte, aber dennoch hatte sie dieses mulmige Gefühl, dass sie ihr nicht die Wahrheit sagte. Von Matt wusste sie ja, dass er sie abserviert hatte, damit sie und Tai eine Chance haben könnten, doch das konnte sie ihr nicht sagen, ohne den One Night Stand vor ihr zuzugeben. Matt hatte nie sonderlich viel Kontakt zu ihr gehabt. Meist sah sie ihn nur, wenn sie mit Sora unterwegs war. Es wäre schon komisch, wenn sie plötzlich erzählte, dass sie alleine mit ihm etwas unternommen hatte. Nach einem kurzen Moment des Schweigens, ergriff Sora erneut das Wort. „Ich war eine unfassbar miese beste Freundin, weil mir alles über den Kopf gewachsen ist. Das mit Tai und Matt, dann die ganzen Prüfungen und Zeichnungen für meine dämliche Mappe für die Modeschule. Ach Mimi, es tut mir leid. Ich wollte nicht, dass du da so mit reingezogen wirst. Denkst du, dass du mir nochmal verzeihen kannst?“, fragte sie missmutig und blickte Mimi traurig an. Mimi hingegen lächelte aufmunternd und stand auf. „So etwas kann unsere Freundschaft doch nicht erschüttern. Es ist einfach alles blöd gelaufen. Lass es uns abhaken und nach vorne schauen. Die Vergangenheit lässt sich nicht ändern, nur unsere Zukunft“, schlug sie versöhnlich vor und ignorierte ihre wieder aufkommende Müdigkeit. „Na los, lass uns in die Küche gehen und noch ein bisschen Kuchen verdrücken. Du hast sicher viel zu erzählen! Osaka war sicher super!“ Sora nickte milde und beide Mädchen verschwanden in die Küche. Es wurde Zeit die Vergangenheit ruhen zu lassen und mit voller Eifer in die Zukunft zu blicken. Auch wenn es für Mimi viele Veränderungen bedeutete. Kapitel 33: Musikalische Synthese --------------------------------- Zusammengekauert saß sie auf dem harten Plastikstuhl und betrachtete die Türen, die sich vor ihr befanden. Ein leises Piepen war zu hören, dass Mimi immer unruhiger werden ließ. Sie schaute zur großen Uhr und stellte fest, dass erst fünf Minuten vergangen waren. Nervös wippte sie mit ihrem Fuß und stützte sich mit ihren Ellenbogen auf ihren Oberschenkeln ab. Sie kaute an ihrem Daumennagel und ihr ganzer Körper schien unter Storm zu stehen. Sie hasse Krankenhäuser. Ein bedrückendes Gefühl machte sich in ihr breit, wenn sie zu den drei Türen, mit Zahlen von fünf bis sieben, sah. Ihr Blick wanderte zu Masaru, der direkt neben ihr saß und seelenruhig eine Zeitschrift durchblätterte. Sein Bruder Yasuo hatte keinen Platz mehr bekommen und saß daher auf dem Boden, den Rücken an die kalte Heizung gepresst. Chiaki saß zu Mimis Rechten. Ein riesiges Instrument ragte hervor und lehnte sachte an der Wand an. Sie hatten Orchesterprobe, auch wenn Ferien waren. Für Noriko war es jedoch die Letzte überhaupt. In zwei Wochen würde sie ihre Chemo anfangen und hätte nicht mehr die Kraft zur Schule zu gehen. Heute hatte sie ihre letzte Bestrahlung, zu der sie alle begleitet hatten. Chiaki und Masaru mussten sogar zwangsweise ihre Instrumente mitnehmen, da es ihre eigenen waren und man sie nicht in der Schule lassen durfte. Mimi rutschte ihren Stuhl hinab und schnaufte herzhaft. Alles zog an einem rasenden Tempo an ihr vorbei. Erst vor kurzem hatte sie noch Geburtstag gehabt und schon saß sie hier. Rings um sie herum, kranke und gebrechliche Menschen, die wahrscheinlich dem Tod direkt in die Augen blicken mussten. Unter ihnen, Noriko, ihre Halbschwester, mit der sie sich erst vor kurzem wieder vertragen hatte. Auch mit Sora hatte sie sich ausgesprochen und einen schönen Nachmittag verbracht, auch wenn sie ihr immer noch nicht die Wahrheit über ihre familiäre Situation beichten konnte. Selbst als sie an ihrem Geburtstag fragte, wo ihr Vater war, griff Mimi lieber nach einer raffinierten Ausrede, statt zur Wahrheit zu stehen. Und Sora hatte ihr einfach geglaubt, ohne irgendwelche Rückfragen zu stellen. Anscheinend fand sie es normal, wenn Väter am Geburtstag ihrer Kinder arbeiten mussten. Vielleicht lag es daran, dass ihr eigener Vater selten an ihrem Geburtstag zu Hause war. Auch ihre anderen Freunde hatten sich bei ihr gemeldet und ihr herzlich gratuliert gehabt. Selbst Tai, dem sie zurzeit lieber aus dem Weg ging. Und auch, wenn sie merkte, dass so viele Menschen an ihrem Geburtstag an sie dachten, fühlte sie sich allein. Spürte, dass sie sich selbst verloren hatte, um den Schein zu wahren. Keiner kannte die Wahrheit, abgesehen von ihrer Mutter und den Personen, die hier saßen. Auch sie würden Noriko irgendwann verlieren und sie schmerzlich vermissen, da sie schon seit Jahren Freunde waren. Mimi wollte und konnte sich dieses Gefühl kaum ausmalen. Es würde sie unerwartet treffen und von innen heraus allmählich zerreißen. Mit Tod kam sie nie sonderlich gut klar. Als sie ein Kind war, starb die Mutter ihres Vaters und sie hatte sich geweigert an der rituellen Beerdigungszeremonie teilzunehmen, da sie Angst vor der unschönen Seite des Lebens hatte. Der Tatsache, dass jedem das gleiche Schicksal ereilte und früher oder später nichts als Staub von einem übrig blieb. Sie wollte sich nicht vorstellen, dass ihre Halbschwester, die gerade mal siebzehn war, in naher Zukunft ebenfalls in einen solchen Loch verrotten würde. Sie biss sich instinktiv auf die Zunge. Sowas sollte sie nicht denken. Nein, sowas durfte sie nicht denken. Plötzlich hörte sie einen dumpfen Schlag. Erschrocken drehte sie ihren Kopf und versuchte das Geräusch zu lokalisieren, als es wieder erklang. Auch Masaru wandte sich dem Geräusch zu und verzog sein Gesicht zu einer verärgerten Miene. „Yasuo, hör auf damit“, tadelte er seinen jüngeren Bruder streng. „Aber mir ist so langweilig“, protestierte er vehement und das Geräusch ertönte wieder. Mimi beugte sich neugierig nach vorne, erkannte aber nicht, was Yasuo machte. Wieder und wieder erklang das dumpfe Geräusch, dass Mimi allmählich immer bekannter vorkam. Die Töne hatten sich miteinander verbunden und ergaben ein Lied, dass sie durchaus kannte. „Jetzt hör auf damit“, erwiderte Masaru noch genervter als vorher und die Töne verstummten abrupt. Chiaki beugte sich über Mimi hinweg, während sie sich nachdenklich gegen den Stuhl presste. Woher kannte sie nur diese Melodie? „Was hat er denn gemacht?“, fragte Chiaki an Masaru gewandt. „Der Trottel schlägt die ganze Zeit gegen die verdammte Heiz…“, er brach ab, als Yasuo wieder dagegen schlug, so als wollte er ihn bewusst provozieren. „Sag mal bist du noch ganz dicht?“, fluchte er lautstark, sodass schon einige Patienten zu ihnen sahen. „Du nervst die Leute damit!“ „Also mich haben sie noch nicht böse angeguckt“, verteidigte er sich sofort und machte weiter. Während Masaru einen halben Tobsuchtsanfall zelebrierte, legte Mimi nachdenklich den Kopf zur Seite. Auf einmal fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. „Yasuo, ich werde dir gleich die Hand abhacken, wenn du nicht damit aufhörst!“, drohte er und versuchte seine Hand zu ergreifen, was sich als schwierig herausstellte, da er sich unter die Sitze geschafft hatte und fröhlich im Takt weiterklopfte. „I got my ticket for the long way 'round, two bottle 'a whiskey for the way “, sang Mimi und vertraute ganz auf ihr Gefühl. Sie kannte diesen Song gut. Er war schon sehr alt, doch ihre damalige Cheerleader-Mannschaft der Junior High School hat ihn neu interpretiert und bei einem Schulfest aufgeführt. Sogar den Text hatten sie etwas umgedichtet, damit er besser passte. Mimi erinnerte sich noch gut an die unbeschwerte Zeit ihres Lebens und auch an die schönen Momente, die sie in den USA erleben durfte. Masaru und Chiaki starrten sie an, als sie unbeirrt weitersang. Yasuo hatte von der Heizung abgelassen und klatschte nun den Takt mit den Händen nach. „Was geht denn jetzt ab?“, fragte Masaru mit geöffnetem Mund. „Das ist das eine Lied, das wir heute gespielt haben“, stellte Chiaki überrascht fest. „When I’m gone von A.P. Carter.“ „Und dazu gibt es auch einen Songtext?“, fragte Masaru entgeistert und blickte zu Mimi, die aufgesprungen war und wie selbstverständlich neben Yasuo stand und sang. When I'm gone You're gonna miss me when I'm gone Sie schüttelte ihre Mähne wild und bemerkte die neugierigen Blicke auf ihrer Haut, die ihr allerdings wenig auszumachen schienen. „Komm wir machen mit“, stimmte Chiaki begeistert ein und war gerade im Begriff sich seinen Bass zu schnappen, als Masaru dagegen feuerte. „Spinnst du, ich mache mich doch nicht zum Deppen!“ Masaru hatte die Arme vor der Brust verschränkt, während Mimi die Liebe zur Musik regelrecht gepackt hatte. Sie wusste selbst nicht, was gerade in sie gefahren war. Vielleicht war es die Musik, die sie einst so sehr liebte. Chiaki hatte nur den Kopf geschüttelt und war ebenfalls von seinem Platz aufgesprungen und hatte seinen Bass hervorgeholt. Ohne Bogen begann er zu spielen, indem er die Saiten zupfte. You're gonna miss me by my hair You're gonna miss me everywhere, oh You're gonna miss me when I'm gone Mimi breitete die Arme aus und hielt Masaru ihre Hand entgegen. Wie mechanisch bewegte er seinen Kopf von der einen zur anderen Seite. „Ach komm schon!“, hörte sie Chiaki rufen, während auch die Zuhörer bereits Masaru anstachelten mitzumachen. Mimi blickte in die glücklichen Gesichter der Patienten und merkte, dass sie ihnen hiermit eine Freude bereiten. Möglicherweise nahmen sie ihnen auch ein wenig die Angst, die bis vor kurzem noch in ihren Gesichtern zu sehen war. Mimi sang noch immer als sie kurz zu Yasuo sah, der verschwörerisch zu seinem Bruder grinste. Beide gingen einen Schritt auf ihn zu und packten ihn an beiden Ärmel, um ihn auf seine Füße zu stellen. Er zog sie Augenbraunen zusammen und gab einen genervten Laut von sich, als Yasuo ihm die Gitarre in die Hand drückte. Augendrehend, aber auch grinsend gesellte er sich zu ihnen und stimmte bei der nächstbesten Gelegenheit mit ein. Zu viert performten sie zusammen, so als hätten sie in ihrem Leben nichts anders getan. Einige Patienten, die den Song ebenfalls kannten, versuchten im Takt mit zu klatschen. Yasuo hatte sich wieder auf einen der Stühle gesetzt und trommelte auf der glatten Fläche mit flacher Hand. Ab und zu klatschte er beherzt die beiden Handflächen zusammen, bis Mimi den letzten Ton anstimmte und in die Menge schmetterte. Sie hatte die Augen geschlossen und genoss diesen Moment in vollen Zügen. Ihr Puls raste und ihre Kehle war etwas trocken. Erst als sie ein Klatschen hinter sich vernahm öffnete sie die Augen und drehte sich herum. Sie blickte die gleichen braunen Augen wie die Ihrigen. Nun applaudierte auch der Rest, der sich vor Jubelrufen fast überschlug. „Wow, da habe ich wohl einiges verpasst“, meinte Noriko überrascht und hatte ihre Jeansjacke in ihre Armbeuge gelegt. Sachte fuhr sie über den rauen Stoff und lächelte vor sich hin. Keiner von ihnen hatte mitbekommen, wie lange sie bereits dort stand und ihnen zuhörte. „Das war einfach fantastisch. Ich wusste ja, dass du singen kannst, aber das hier…“, sie ging auf Mimi zu und legte ihre Hände auf ihre Schultern, „das ist einfach unglaublich.“ Mimi sah in ihr begeistertes Gesicht und schmunzelte leicht. Ein einfaches Lied hatte eine unsagbare Wirkung gezeigt und Menschen, die vorher geistesabwesend und verängstigt wirkten, glücklich gemacht. „Ich kann es kaum glauben, ihr solltest wirklich öfters Musik zusammen machen“, schlug Noriko euphorisch vor und rüttelte leicht an ihren Schultern. Mimi wandte sich um und zuckte nur mit den Achseln. Yasuo nickte eifrig, Chiaki fuhr sich verlegen mit der Hand über den Hinterkopf und Masaru gab einen undefinierbaren Laut von sich. „War ja klar, dass sowas kommt.“ Noriko kicherte nur, während Mimi immer noch überlegte, ob sie es wirklich ernst meinte. Denn auch sie fand diese Idee gut. Sie vermisste die Musik und die Singerei ungemein, auch wenn sie sich nicht vorstellen konnte in einer Band zu spielen. Doch so spontane Musikeinlagen könnten sicher witzig werden. Kapitel 34: Alte Wunden, neue Heilungsmethoden ---------------------------------------------- Gelangweilt saß sie auf einer der vielen Decken, die sie ausgebreitet hatten. Sie hielt einen vollen Becher mit Cola in ihrer Hand und beobachtete gedankenverloren ihre Freunde, die sich auf der Wiese tummelten. Die Sonne schien angenehm und ein laues Lüftchen blies ihr durch die Haare. Trotz des schönen Tages war die Stimmung sehr angespannt, auch wenn die Jüngeren versuchten, die unbeschwerte Zeit aufleben zu lassen. Yolei und Kari hatten ein kleines Grillfest im Park organisiert, um den ersten August, den Anfang ihrer jahrelangen Freundschaft, zu feiern. Doch Mimi merkte, dass sie sich alle auseinander gelebt hatten. Ihr fiel es zwar nicht schwer mit Joe oder Cody ein Gespräch zu führen, auch wenn sie beide eher selten sah. Doch ihr Gespräch blieb oberflächlich. Man redete über die banalsten Dinge wie Schule oder Uni, traute sich allerdings nicht tiefer einzutauchen. Deswegen hatte sich Mimi auf die Decke zurückgezogen und beobachtete den Rest stillschweigend. Während sich Sora immer noch mit Joe unterhielt, hatte sich Tai einen Ball geschnappt und spielte mit Ken und Davis Fußball. Izzy stand mit Cody am Grill und diskutierte, was sie wohl zuerst auflegen sollten, während Kari und Yolei herzlich über diese Diskussion kicherten. TK kam gerade hinzu und drückte seiner Freundin einen sanften Kuss auf die Stirn und legte einen Arm um sie. Missmutig beobachtete Mimi die Situation, richtete aber den Blick schnell wieder zum Fußballspiel. Matt wollte später nachkommen, obwohl sich Mimi nicht sicher war, ob er überhaupt noch kommen würde. Sie wäre eigentlich froh, ihn nicht zu sehen, da ihr jede Begegnung mit ihm, nach ihrem One Night Stand, umso peinlicher war. Doch sie konnte die Katastrophe nicht aufhalten, wenn sie ohnehin schon im Gange war. Es war nur die Ruhe vor dem Sturm. Zwischen Tai und Sora herrschten immer noch Spannungen, auch wenn Sora behauptete mit ihm geredet zu haben. Ihr fielen diese unzähligen heimlichen Blicke auf, die er zu ihr rüber warf. Zwar hatten sie miteinander geredet, doch Tai schien die Hoffnung noch nicht aufgegeben zu haben. Wenn er hartnäckig genug blieb, würde er sie vielleicht sogar rumkriegen, auch wenn Mimi nicht daran denken wollte. In einem unbemerkten Moment ließ sich Davis plötzlich neben ihr nieder und kippte einen Becher Wasser auf einmal hinunter. „Warum sitzt du hier so alleine rum?“, fragte er interessiert und musterte sie. Er war noch völlig außer Atem und stützte sich sachte nach hinten. Seinen Blick hatte er immer noch auf Mimi gerichtet, die sich allmählich von ihm gestört fühlte. Eigentlich hatte sie gar keine Lust zum Reden, doch Davis war einer der hartnäckigen Sorte. „Ich genieße nur die Sonne“, antwortete sie knapp und versuchte möglichst gelassen zu wirken. Im gleichen Moment zog sich Taichi jedoch sein T-Shirt über den Kopf und ließ es auf den Boden fallen. Mimis Augen weiteten sich und sie beobachtete ihn begierig. Einige Schweißperlen rannen über seinen sonnengebräunten Körper, während sich seine Muskeln beim Laufen leicht wölbten. Mimi atmete tief ein und versuchte den Blick von ihm zu wenden, was ihr allerdings nicht sonderlich gut gelang. Ihre Wangen wurde allmählich heiß. „Sag‘ mal geht´s dir gut?“, hakte Davis nach und legte den Kopf schief. „Du bist auf einmal so rot.“ Mimi schreckte zusammen und richtete den Blick zu einem neugierigen Davis, der sie bereits angrinste. „J-Ja alles bestens“, stammelte sie und nahm einen großen Schluck ihrer Cola, um ihren Hals zu befeuchten. Ihren Blick hatte sie von Taichi abgewandt und konzentrierte sich schwerfällig auf Davis, der seinen eigenen Gedanken nachzuhängen schien. Er hatte den Blick zu Kari und TK gerichtet, die gerade miteinander schmusten und verliebte Küsse miteinander austauschten. Schnell wandte Mimi den Kopf zu ihm und studierte seine Reaktion, die anders ausfiel, als sie erwartet hatte. Ein Lächeln schlich sich auf seine Lippen und er schüttelte leicht den Kopf, bevor er sich ein weiteres Glas Wasser nachschenkte. Mimi überlegte kurz, ob sie etwas zu ihm sagen sollte, doch sie hatte Angst die falschen Worte zu verwenden, als er plötzlich von selbst loslegte. „Die Liebe kann schon ein Arschloch sein“, meinte er abgeklärt und nippte an seinem Wasser. Mimi sagte daraufhin nichts, sondern begutachtete ihn nur fragend. „So langsam gewöhne ich mich an den Gedanken, dass sie ihn gewählt hat und nicht mich.“ „Ach wirklich?“, hakte sie überrascht nach. Davis sah ihr direkt in die Augen und lächelte matt. „Gefühle kann man eben nicht erzwingen und solang sie glücklich ist…“ „Wow, ganz ungewohnte Worte von dir, Davis“, stellte sie fest und legte ihre Hände in ihren Schoss. „Vielleicht werde ich allmählich erwachsen“, antwortete er keck und reckte sich den Hals. Sein Lächeln verschwand jedoch von seinen Lippen. Zurück blieb ein äußerst nachdenkliches Gesicht. „Ich werde sicher auch irgendwann die Richtige finden.“ Sein Tonfall klang überraschend optimistisch, auch wenn ein Hauch Sentimentalität herauszuhören war. Natürlich war es nicht einfach seine erste Liebe ziehen zu lassen, aber vielleicht war es das Beste, was er machen konnte. Sich von den Altlasten befreien, um nach vorne schauen zu können. Doch Mimi war noch nicht soweit. Wieder schenkte sie Tai einen sehnsüchtigen Blick, den er scheinbar nicht erwiderte. Traurig senkte sie den Kopf und schielte zu Davis, der in seinem Leben einmal Recht behalten würde. Gefühle konnte man nicht erzwingen. Manchmal war es besser die Vergangenheit ruhen zu lassen. _ Die Sonne ging relativ schnell unter, als sie alle beisammen am Lagerfeuer saßen und in Erinnerungen schwelgten. Wider Erwarten hatte Mimi doch noch viel Spaß gehabt, auch wenn Tais halbnackter Anblick sie ganz schön ablenkte. Mittlerweile hatte er wieder ein T-Shirt an und riss dämliche Witze. Sein typisches Tai-Grinsen legte sich über seine Lippen, während Mimi nur verhalten lächelte. Matt war immer noch nicht aufgetaucht, hatte nur TK eine SMS geschrieben, dass seine Bandprobe länger dauern würde. Mimi rechnete schon gar nicht mehr damit, dass er kam. Vielleicht tat es zu weh, vielleicht wollte er ihr genauso aus dem Weg gehen, wie sie es in letzter Zeit getan hatte. Sie wusste es nicht und wollte auch nicht an besagten Abend zurückdenken. Er hatte sie in einem schwachen Moment erwischt. Beide waren verletzt und spendeten dem jeweils anderen Trost für einen Abend. Auch wenn es nicht sonderlich viel half. Mimi war wieder in der harten Realität angekommen. Das Leben verlief nun mal nicht nach Wunsch, dass musste sie einsehen. Eine Weile später hatten sich alle wieder etwas verteilt. Die zweite Generation hatte sich ums Feuer gesetzt und grillte Marshmallows auf Stöcken, die sie zuvor gesammelt hatten. Joe und Izzy philosophierten über die Sternbilder, die sich ihnen zeigten, während Mimi etwas verloren zwischen allen stand. Mit den Augen begab sie sich auf die Suche nach Sora, die zur Toilette wollte, aber noch nicht zurückgekehrt war. Auch von Tai fehlte jegliche Spur. Misstrauisch machte sich Mimi mit ihrem Wodka-O auf die Suche nach den beiden. Sie war sich sicher Tai bei Sora zu finden. Tatsächlich, behielt sie mit ihrer Vermutung Recht. In der Nähe der Sanitäranlangen standen beide und schienen angeregt zu diskutieren. Mimi schlich sich etwas näher heran und versteckte sich hinter einem großen Baum, um das Gespräch belauschen zu können. Es war nicht richtig, was sie hier tat. Schließlich ging es sie nichts an, aber ihre Neugierde war größer gewesen. Sprachen sie gerade über ihre Beziehung? Würde Tai einsehen, dass Sora sich nicht zwischen den beiden entscheiden konnte, ohne jemanden gewaltig zu verletzten? Würde er Einsicht zeigen, oder stur auf seine Meinung bestehen, so wie er es sonst immer tat? Fragen über Fragen. Und Mimi brauchte die Antworten. _ Gespannt stand sie hinter dem Baum und drückte ihren Körper gegen den rauen Stamm. Mit den Fingern fuhr sie über die Rinde und spitzte die Ohren. Tai und Sora standen etwas weiter weg, doch Mimi verstand jedes Wort. Er hatte diesen dringlichen Blick in den Augen und musterte sie damit, während Sora den Abstand zwischen ihnen einhielt. „Was soll ich denn deiner Meinung nach machen? Ich kann nicht einfach so weitermachen und so tun, als wäre nie was passiert“, erklärte er ihr mit Nachdruck und fixierte sie mit einem festen Augenaufschlag. „Tai, wir haben doch schon darüber geredet“, versuchte sie ihm zu erklären und fuhr sich mit den Fingern nervös durch die roten Haare. „Ich weiß“, kam es von Tai, der bedrückt zu Boden sah. „Aber ich weiß nicht, was ich machen soll. Im Moment steht einfach nur alles Kopf.“ Schwere machte sich in Mimis Brust breit. Er wollte sie wohl nicht kampflos aufgeben. Sie wusste, was das bedeutete. „Tai, ich weiß, dass…“ „Irgendwie müssen wir doch eine Lösung finden. Matt redet mit mir kein einziges Wort mehr, Mimi ignoriert mich auch und das mit uns…?“ „Du bist mein bester Freund und ich…“ „Sora, du bist einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben. Ich möchte, dass irgendwie hinbekommen.“ Mimi schluckte. Wütend und traurig zu gleich, drückte sie ihren Kopf gegen die Rinde des Baumes. Ihr Magen überschlug sich augenblicklich, während sich ihr Herz schmerzvoll zusammenzog. Auch das Atmen schien ihr schwer zu fallen. Eine Art Schnappatmung kam zu Stande und plötzliche Nässe rann ihr über die Wangen. Erschrocken fuhr sie sich darüber und bemerkte jetzt erst, dass sie weinte. Ein leises Schluchzen überkam ihre Lippen und sie hielt sich, aus Angst gehört zu werden, den Mund zu. Überdrückte den Schmerz und hoffte, dass Sora ihm eine eindeutige Antwort gab. „Tai, ich…“, setzte sie an, sah ihm jedoch tief in seine Augen, als er plötzlich näher an sie herantrat. Er umfasste ihr Gesicht mit seinen Händen. Für einen kurzen Moment hielt er inne. Mimi hielt den Atem an. Sie wollte nicht sehen, wie er sie vor ihren Augen küsste, doch ihr Blick war, wie festgefroren, auf beide gerichtet. Ihr Herz schrie förmlich, dass sie verschwinden sollte, da es drohte zu zerbrechen, während sich ihr Kopf komplett quer stellte. Er wollte ihr zeigen, dass sie hier nichts mehr zu erwarten hatte. Nicht jetzt und auch nicht in Zukunft. „Es tut mir leid, aber ich brauche die Gewissheit. Ich muss wissen, was dieses ganze Chaos zu bedeuten hat. So kann es nicht weitergehen“, ertönte seine Stimme eindringlich. Eine Spur Verzweiflung war deutlich herauszuhören. „Tai, ich habe dir doch erklärt, dass…“ Doch weiter kam sie nicht. Tai hatte einfach die Lippen auf ihre gelegt. Fassungslos und immer noch wie versteinert, stand Mimi neben dem Baum. Sora machte überhaupt keine Anstalten ihn von sich wegzudrücken. Sie ließ es einfach geschehen. Mimi schüttelte den Kopf und drehte sich weg. Sie ballte die Hände zu Fäusten und wollte am liebsten ihrer Wut und Trauer freien Lauf lassen, doch sie entschied sich dagegen. Wie in Trance trocknete sie sich mit ihrem Handrücken die Tränen und lief zielstrebig zu den anderen zurück. „Hey Mimi, wo warst du denn? Matt ist gerade gekommen“, begrüßte Kari sie lächelnd, während Mimi die Augen verdrehte. Der hatte ihr gerade noch gefehlt. Ohne Kari zu antworten, schnappte sie sich ihre Tasche und kramte ein Taschentuch hervor. Argwöhnisch musterte Hikari sie, als sie kräftig hineinschnäuzte. „Ist alles okay bei dir?“, fragte sie fürsorglich und berührte sachte ihren Arm. Mimi nickte eifrig und versuchte angestrengt vor Kari nicht zu weinen. Sie war bisher die einzige, die sie durchschaut hatte. Und das sollte auch so bleiben. „Mir geht es nicht so gut. Ich denke, ich werde jetzt nach Hause gehen“, eröffnete sie ihr mit dünner Stimme und zwang sich zum Lächeln. „Oh, okay“, brachte Kari noch hervor, während Mimi die Taschentücher in ihre Tasche fallen ließ. Ohne Umschweife verabschiedete sie sich distanziert von dem Rest und wartete erst gar nicht auf Soras und Tais Rückkehr. Mit schnellen Schritten entfernte sie sich von der kleinen Gruppe, ohne sich ein einziges Mal herum zu drehen. Vollkommen durch den Wind, lief sie in eine komplett andere Richtung. Ihre Füße trugen sie schwerfällig und nur recht langsam erkannte sie, wo sie gelandet war. Mühselig ging sie die Treppen eines Mehrfamilienhauses hoch. Ihre Tränen hatte sie bisher zurückhalten können. Sie fühlte sich wie betäubt. Doch ihr innerlicher Schmerz verlangte gespürt zu werden. Ein leises Wimmern brach über ihre Lippen und bevor sie an ihrer Tür angekommen war, standen ihr wieder die Tränen in den Augen. Sie drückte auf die Klingel, als ein paar auf den Betonboden tropften. Es dauerte nur wenige Sekunden, als ihr die Tür geöffnet wurde. Eine verwirrtdreinblickende Noriko ließ sie hinein. „Was willst du denn hier? Wolltest du dich heute nicht mit ein paar Freunden treffen?“ Mimi verzog das Gesicht, als plötzlich alle Dämme brachen, sie in ihre Arme sank und herzzerreißend losschluchzte. _ „Und er hat sie wirklich geküsst?“, fragte sie und reichte ihr eine Tasse dampfenden Tee. Mimi verzog angewidert das Gesicht, als sie zu dem Terrarium blickte. An diese Tarantel konnte und wollte sie sich einfach nicht gewöhnen. „Ja, hat er“, antwortete sie geistesabwesend und sah, dass die Tarantel provokant an der Scheibe klebte. Noriko folgte ihrem Blick und wandte sich um. „Jetzt hör‘ auf den armen Gandhi so böse anzugucken! Er kann doch auch nichts dafür!“ „Warum hast du eigentlich keinen Hamster?“, hakte sie nach und zog ihre Stirn in Falten. Den, hätte sie wenigstens streicheln können. Zwar hatte Noriko schon öfters angeboten, Gandhi aus seinem Terrarium zu holen, aber Mimi war das Vieh hinter dem Glas deutlich lieber. Auch wenn sie selbst diesen Anblick widerwärtig fand. Spinnen waren einfach nicht ihr Ding. „Jetzt erzähl doch mal genau, was passiert ist“, forderte Noriko sie auf und musterte unverhohlen. Immer diese Neugierde. Noch ein eindeutiges Indiz dafür, dass nur sie miteinander verwandt sein konnten. „Er ist in meine beste Freundin verliebt und hat sie sogar geküsst! Zweimal um genau zu sein.“ „Vor deinen Augen?“, fragte sie empört und blies die Wangen auf. Mimi haute sich ihre Schneidezähne in ihre Unterlippe. Sie bekam dieses Bild einfach nicht mehr aus ihrem Kopf. Als sie bei Noriko angekommen war, brauchte sie eine halbe Stunde, bis sie sich wieder beruhigt hatte. Vollkommen hysterisch erzählte sie ihr von ihren kleinen-Mädchen-Problemen, obwohl sie genau wusste, wie es um sie stand. Sie fühlte sich so schäbig, ausgerechnet sie damit zu belasten, doch sie hatte sonst niemanden, an den sie sich wenden konnte. Auch wenn das nicht ganz der Wahrheit entsprach. Sie wollte sich an niemanden anderen wenden. Ihre beste Freundin befand sich selbst in einem riesigen Gefühlschaos, dass durch sie nur noch verschlimmert werden würde. Und Kari? Sie mochte sie wirklich gern, aber sie stand Tai viel zu nah. Nicht das sie ihr nicht traute, aber Mimi wollte nicht, dass sie schlecht über ihn dachte. Eigentlich konnte er nichts dafür. Er verletzte sie ja nicht absichtlich. Sie war diejenige, die zu feige war zu ihren wahren Gefühlen zu stehen. „Ich habe beide beobachtet“, gab sie kleinlaut zu. „Oh Mimi“, seufzte Noriko resigniert, „warum tust du dir sowas an?“ „Ich weiß es nicht“, antwortete Mimi bedrückt und schlürfte an ihrem Tee. „Vielleicht hatte ich gehofft, dass es mein Herz auch endlich kapiert.“ Besorgt sah Noriko sie an, als sie auf einmal, wie von ihrer komischen Tarantel gestochen, aufsprang. „Ich glaube, ich habe eine Idee“, erwiderte sie geheimnisvoll und ging zu ihrem Bett. Sie kramte ein wenig und setzte sich mit einem Grinsen wieder auf ihren Platz am Boden. In ihrer Hand hielt sie einen Block und einen Stift. Ohne etwas zu erwidern, hielt sie Mimi beides vor die Nase. Verwirrt nahm sie die Sachen entgegen und musterte sie argwöhnisch. „Und was soll ich damit?“ „Lass deinem Schmerz freien Lauf“, sagte sie nur und verschränkte wissend die Arme vor der Brust. Mimi schüttelte nur leicht den Kopf und wusste nicht, was sie damit anfangen sollte. Sollte sie etwa das Papier wütend zerknüllen und zuvor ein paar tausend Mal ‚Ich hasse dich, Tai‘ draufschreiben? Wie sollte ihr sowas helfen? Irgendwie verstand sie den Zusammenhang nicht, was auch Noriko schnell merkte. „Man, du schreibst deine Gefühle, dein Schmerz und deine Wut einfach auf einen Zettel. Lässt sie mal so richtig raus. Hast du das etwa noch nie gemacht?“, erkundigte sie sich verwundert. „Nein, eigentlich nicht“, antwortete sie eher fragend und begutachtete das Blatt Papier streng. Dort sollte sie ihre Gefühle rauslassen? Indem sie einen Text schrieb? „Komm schon, lass es raus! Du kannst auch dabei schreien oder weinen, wenn du willst“, bestärkte Noriko sie gelassen. Mimi lächelte nur vage. Gedankenverloren schraubte sie die Kappe vom Stift und ließ ihr Herz für sich sprechen. Kapitel 35: Hoffnungslose Aussichten ------------------------------------ „Ist es überhaupt legal, dass wir hier sind? Es sind ja schließlich noch Ferien“, versuchte sie ihr ins Gewissen zu reden. Bei ihnen war das Betreten des Schulgebäudes außerhalb der Unterrichtszeiten streng untersagt, doch Noriko hatte sich in den Kopf gesetzt, ihrer Schule einen Besuch abzustatten. „Mimi mach‘ dir nicht ins Hemd! Ich bin Mitglied des Orchesters und habe somit Klaviernutzungsrechte“, tönte sie groß und zog die Tür zum Musikraum auf. Ohne Umschweife ging sie hinein, während Mimi sich besorgt umschaute. Ihr war gar nicht wohl bei dieser Sache. „Kommst du jetzt, oder bist du an der Tür festgewachsen“, lachte sie und hob den Deckel des Flügels an. Schwungvoll ließ sie sich davor nieder und sah herausfordernd zur Tür. Mimi schnaubte nur und ging wortlos zu ihr. „Wenn wir Ärger bekommen bist du schuld“, sagte sie ernst, schloss die Tür und setzte sich neben Noriko. „Wir bekommen schon keinen Ärger“, versicherte sie zuversichtlich und klimperte auf ein paar Tasten herum. Ein Ton löste sich und erfüllte den Raum mit einer klangvollen Melodie. Immer noch verunsichert, zog Mimi den Block, den sie mitgenommen hatte, aus ihrer Tasche. „Ich kann immer noch nicht fassen, dass du ein Lied daraus komponieren willst“, meinte sie kopfschüttelnd und reichte den Text an sie weiter. „Das ist nur, weil du es dir noch nicht vorstellen kannst! Ein bisschen mehr Fantasie bitte.“ „Aber ich kann gar kein Instrument spielen“, verteidigte sie sich und verschränkte beleidigt die Arme vor der Brust. „Musst du doch auch gar nicht. Dafür bin ich ja hier“, erwiderte sie freudig und legte den Text in den Notenhalter des Klaviers. Angestrengt kritzelte sie mit einem Stift über das Geschriebene, während Mimi sie einfach nur beobachtete. Sie konnte zwar singen, aber mit Instrumenten kannte sie sich einfach nicht aus. Ihre Stimme war ihr Instrument. „Hast du denn schon eine Idee?“, fragte sie interessiert und beugte sich gespannt zu ihr rüber. Ein paar Strähnen fielen ihr über die Schulter, als Noriko eifrig nickte. „Natürlich, sonst säßen wir doch nicht hier“, antwortete sie selbstsicher. „Ich hatte schon so eine Idee, aber mal sehen wie es mit den anderen Instrumenten wirken wird. Erstmal brauchen wir ein paar Noten.“ „Was denn für andere Instrumente?“, hakte Mimi irritiert nach. Noriko grinste nur breit und sah sie geheimnisvoll an. Danach konzentrierte sie sich wieder voll und ganz auf den Text und die Noten, die sie hinzufügte. „Naja, ich habe gestern noch mit Etsu geschrieben und gefragt, ob sie vielleicht demnächst eine Band suchen“, erzählte sie munter und ließ die Finger über die Tasten huschen. Erschrocken blickte Mimi sie an, während ihr Mund fassungslos aufklappte. „Du hast was? Warum? Nur weil die Jungs und ich einmal einen Song zusammen gesungen haben?“ „Wir haben schon öfters zusammen gesungen“, korrigierte sie sie und widmete sich mehr der Melodie statt Mimi. Diese blickte sie nur entgeistert an. „Aber wir haben doch überhaupt keine Songs, geschweige denn genügend Erfahrung, um in einem Club zu spielen.“ „Ist ja erst in ungefähr einem Monat!“, beteuerte sie locker. Mimi griff ohne Umschweife ihr Handgelenk und unterbrach ihr Spiel. Genervt sah Noriko sie an und verdrehte die Augen. „Ach komm schon Mimi, das wird sicher toll! Und ich habe auch noch ein paar Texte, die man verwenden kann“, meinte sie so, als wäre es ein Kinderspiel. „Du kannst das doch nicht einfach so beschließen…du…du bist unmöglich!“, platzte aus ihr hervor. Sicher wussten die Jungs noch nicht mal etwas von ihrem Glück. Das sah ihr irgendwie ähnlich. Solche überstützten Aktionen konnten nur von ihr kommen. „Ihr hättet euch sehen sollen“, sagte sie auf einmal und ein Leuchten entstand in ihren Augen. „Ihr wart so wundervoll und habt so unfassbar gut miteinander harmoniert! Das ist ein Geschenk! Sowas darf man ganz sicher nicht wegwerfen.“ „Aber…“ „Versucht es doch erstmal“, schnitt sie ihr das Wort ab. „Ihr habt noch Ferien und genügend Zeit, außer du willst deinem komischen Typen weiter hinterherlaufen.“ „Er ist kein komischer Typ“, protestierte sie und fühlte sich sogar schon ein wenig angegriffen. Tai hatte sich sicher nicht ausgesucht, sich in Sora zu verlieben. Genauso wenig wie sie sich ausgesucht hatte, in ihn zu verlieben. „Was willst du denn deiner Meinung nach machen? Hoffen, dass er sich noch in dich verliebt?“, riss Noriko sie aus ihren Gedanken. Für einen kurzen Moment hielt sie inne. Eigentlich hatte sie immer gehofft, dass er noch erkannte, dass sie die Richtige für ihn war, auch wenn sie wohl eher einem Hirngespinst hinterherjagte. Sie wusste selbst, dass es nicht so einfach ging. „Ich weiß es nicht“, antwortete sie wahrheitsgemäß. Noriko zog eine Augenbraue nach oben, richtete ihren Blick aber recht schnell auf den selbstgeschriebenen Text von Mimi. „Verschmähte Liebe ist wie ein sinkendes Schiff. Entweder du steigst in ein Rettungsboot und rettest somit deinen Arsch, oder du gehst gnadenlos unter.“ Ihre Stimme hallte noch durch den Raum, als Mimi entsetzt die Augen weitete. Mit so einer Aussage hatte sie nicht gerechnet. „M-Meinst du ich sollte ihn einfach ziehen lassen und mir einen anderen Kerl suchen?“, entgegnete sie sprachlos. Noriko zuckte nur mit den Schultern. „Keine Ahnung, ich kenn‘ ihn ja nicht. Ist er es denn wert, dass man für ihn kämpft?“, stellte sie die Gegenfrage. Ihr stockte der Atem. Vor wenigen Monaten hätte sie diese Frage mit „Ja“ beantwortet. Doch sowohl sie, als auch Noriko wussten, was zwischen ihr und ihm vorgefallen war. Er hatte sie zwar geküsst, aber nur um Sora eifersüchtig zu machen. Auf eine Entschuldigung wartete sie bis heute noch. „Das kann ich im Moment nicht beantworten“, erwiderte sie deprimiert und ließ den Kopf hängen. Noriko bemerkte ihr Stimmungstief sofort und lenkte schnell ein anderes Thema ein. „Früher wollte ich unbedingt mal in einem großen Orchester spielen und nebenbei als Klavierlehrerin arbeiten“, erzählte sie mit einem Lächeln. Doch ihr Lächeln verschwand echt schnell wieder und machte einer traurigen Miene Platz. Mimi schaute hoch und musterte sie sorgenvoll. Keiner konnte sagen, wie viel Zeit sie noch hatte. Wie lange ihre Organe das ganze Prozedere noch mitmachen würden. Sie stand in der Luft. Das einzige, was sie wusste, war das ihre Träume wohl niemals in Erfüllung gingen. Klavierlehrerin. Das war selbst für Mimi neu, auch wenn sie sich schon viel erzählt hatten. „Es tut mir leid“, flüsterte sie rau. Ihre Zunge fühlte sich schwer an. Jedes Wort klang in ihren Gedankengängen falsch. Wie sollte man nur jemanden aufheitern, den ein solches Schicksal erwartete? „Ist schon gut. Du kannst ja nichts dafür“, antwortete sie matt. Noriko presste die Lippen aufeinander und richtete ihren Kopf kurz zur Seite. Schnell wusch sie sich mit dem Handrücken über ihr Gesicht und setzte ein leichtes Lächeln auf. „Vielleicht sollten wir einfach weiter machen“, schlug sie vor und legte ihre Finger auf die Tasten des Klaviers. _ Zwei Stunden hatten sie in der Schule verbracht und fleißig komponiert. Sie waren ein ganzes Stück weitergekommen, auch wenn die Stimmung zwischenzeitlich kurz gekippt war. Beide wussten mittlerweile, wie sie sich wieder erheitern konnten. Sie hatten während des Komponierens viel gelacht und Unsinn gemacht, sodass Mimi ihre Probleme für den Moment vergaß. Immer noch kichernd machten sie sich allmählich auf den Nachhauseweg. Zuvor wollten sie noch eine Kleinigkeit essen gehen. Noriko erzählte begeistert von einem kleinen Bistro, hier in der Nähe, indem sie schon öfters essen war. „Du wirst es lieben. Selbst die Salate sind unfassbar lecker und gar nicht mal so teuer“, berichtete sie munter, als jemand Norikos Namen rief. Beide Mädchen wirbelten herum und sahen wie ein Junge auf sie zu geschlendert kam. Er hatte schwarze kurze Haare und sein eines Ohr war gepierct. Grinsend blieb er vor ihnen stehen und musterte sie eindringlich, während Noriko abfällig schnaubte. Sie drehte sich zu Mimi, weitete die Augen und signalisierte ihr, dass sie von seiner Anwesenheit alles andere als begeistert war. Irritiert blickte Mimi zu ihm. Das Gesicht kam ihr bekannt vor, doch sie konnte nicht zuordnen, wem es letztlich gehörte. „Ist ja eine Überraschung, dass ich ausgerechnet dich hier treffe“, begrüßte er sie halbherzig. „Du hast ja sogar jemanden mitgebracht.“ Sein Blick streifte Mimi beiläufig und ein fragwürdiges Lächeln legte sich auf seine Lippen. „Ich bin Hideaki, aber du kennst mich sicher schon längst“, sagte er überheblich und reckte sein Kinn. Mimi zog die Stirn in Falten. „Ich gehe nicht auf eure Schule, woher soll ich dich denn bitte schön kennen?“, antwortete sie leicht schnippisch und konnte nachvollziehen, dass Noriko nicht sonderlich gerne mit ihm reden wollte. „Ernsthaft? Lebst du etwa hinterm Mond“, fragte er abfällig und fuhr sich durch die Haare. Noriko zog sie näher zu sich und klammerte sich mit den Händen an ihren Oberarm fest. „Er ist der Frontmann von Sense of Rhythm“, flüsterte sie ihr zu. „Er?“, wiederholte Mimi überrascht und starrte sie an. Mimi hatte die Band noch nie live gesehen, sondern kannte nur die eine oder andere EP von ihnen. Sie mochte die Songs, da sie sehr tiefsinnig waren, aber sie hätte nicht damit gerechnet, dass der Frontmann so ein eingebildetes Arschloch war. Selbstgefällig lächelte er sie an. „Wir sind im Moment wirklich gut im Geschäft“, tönte er hochmütig. „Schön für dich, Hideaki. Aber es ist doch ganz schön unprofessionell einen Auftritt kurz vorher abzusagen, oder?“ Norikos Blick bohrte sich ihm entgegen, doch er winkte unbeeindruckt ab. „Das ist eben bei einem Rockstar so! Das Leben ist wie eine Tüte Gummibärchen. Man weiß nie welche Geschmackssorge man als Nächstes erhält.“ „Hä? Aber du bist doch nicht blin…ach vergiss es einfach! Was machst du hier?“, fragte Noriko unwirsch. „Ich treffe mich gleich mit den Jungs. Wir wollten in der Aula proben“, erklärte er knapp. „Ihr könnt gerne mitkommen. Wir können ein paar Cheerleader gebrauchen.“ Wieder grinste er schief, während Noriko seinen Blick missbilligend erwiderte. „Träum weiter! Wir wollten eh gerade gehen“, widersprach sie ihm schlagfertig und zog Mimi näher an sich heran. Über diesen Kerl konnte sie nur den Kopf schütteln. So ein Ego war doch nicht auszuhalten. Selbst wenn Mimi ihn erst fünf Minuten kannte. Gerade als sie sich in Bewegung setzen wollten, räusperte sich Hideaki kurz. „Hey Noriko, i-ich habe davon gehört. T-Tut mir echt leid“, waren seine Worte, die Mimi mehr trafen als sie zugab. Sie studierte Norikos Reaktion genau, konnte sie allerdings nicht deuten. Ein seltsamer Ausdruck hatte sich auf ihr Gesicht gelegt. Ihre Augen wirkten gläsern. Ihr Kopf war ein wenig gesenkt, doch sie richtete ihn auf und zog ihre Mundwinkel nach oben. „Ja, mir auch.“ _ Eine unangenehme Stille hatte sich auf dem Weg zum Bistro über sie gelegt. Mimi traute sich nicht, ein Wort mit ihr zu wechseln, aus Angst etwas Falsches zu sagen. Die Begegnung mit Hideaki ging ihr einfach nicht aus dem Kopf, da sie gleichzeitig seltsam, aber auch zu tiefst traurig war. Es hatte sich also bereits herumgesprochen, was mit Noriko los war, oder eher was auf sie zukam. Angestrengt musterte sie sie aus dem Augenwinkel heraus. Sie seufzte und richtete ihren Blick auf Mimi. „Du kannst ruhig mit mir reden, ich werde schon nicht in Tränen ausbrechen“, sagte sie nur und ließ die Schultern hängen. „Ich…“, setzte Mimi an, brach jedoch sofort ab und versank in ihren Gedanken. Was sollte sie nur sagen? „Bitte behandele mich nicht auch noch anders. Nicht du. Das ertrage ich nicht“, erwiderte sie mit schwer Zunge. Mimi wurde hellhörig. „Hä? Wer behandelt dich den so?“ „Naja, Hideaki ist eigentlich nie so nett und ja…Chiaki ist dauerbesorgt, genauso wie meine Mutter.“ Mimi presste die Lippen aufeinander. Für Ayame würde die Sache nicht leicht werden. Sie verlor ihr einziges Kind. Ihr Mann hatte sie verlassen und ihre finanzielle Situation war ein kraus. Mimi hatte schon öfters mitbekommen, wie sehr sie sich abrackerte, um Krankenhausrechnungen und teure Medikamente, die die Krankenkasse nicht übernahm, zu finanzieren. Sie war kaum zu Hause, weshalb Mimi sie noch nicht oft in ihrem Leben gesehen hatte. Mit ihrer Mutter hatte sie jedoch in letzter Zeit vermehrt Gespräche über Ayame, Noriko und auch ihren Vater geführt. Auch wenn sie die Reaktionen ihrer Mutter nicht so richtig einordnen konnte, hatte sie das Gefühl, dass sie Mitleid mit ihnen hatte. „Denkst du, unsere Mütter würden nochmal miteinander reden?“, fragte Mimi unverblümt. „Irgendwie hoffe ich das“, antwortete Noriko bedrückt und blieb stehen. Auch Mimi hielt in ihrer Bewegung inne und wandte sich ihr zu. „Meine Mutter braucht jemanden, wenn ich nicht mehr da bin“, sagte sie ohne mit der Wimper zu zucken. Mimi erschrak sich ein wenig über ihre Offenheit, doch sie wusste, wie sie es meinte. Menschen konnten nicht alleine leben, da sie vereinsamen konnten. Ayame war vor Jahren die beste Freundin ihrer Mutter gewesen, doch Mimi konnte ihr nicht versichern, dass es wieder genauso werden würde. Dafür war zu viel passiert. „Vielleicht schaffen wir es ja, sie noch zu versöhnen“, kam es von Mimi, auch wenn sie es selbst unrealistisch fand. Aber irgendwie musste es doch machbar sein. „Das wäre wirklich schön“, meinte Noriko lächelnd und setzte sich wieder in Bewegung. Ein paar Minuten später kamen sie am Bistro an. Die Stimmung war ausgelassener, als sie sich an einem Tisch niederließen und die Karte studierten. „Weißt du schon, was du essen willst? Ich glaube, ich nehme wirklich den Salat“, informierte Noriko sie freudig und klappte die Karte, ohne groß zu überlegen, wieder zu. Sie legte ihre Arme auf den Tisch und wartete bis Mimi ebenfalls etwas gewählt hatte. Sie hatte sich für ein belegtes Baguette entschieden. Beide Mädchen waren jedoch so in ihr Gespräch vertieft, dass sie die Ankunft des Kellners erst gar nicht mitbekamen. „Was kann ich euch bringen?“, ertönte seine tiefe Stimme. Mimi löste den Blick von Noriko und wollte gerade bestellen, als sich ihr Gesicht versteinerte. „Matt?“, fragte sie überrascht, als sie ihn vor sich stehen sah. „Oh hey Mimi“, kam es von ihm beiläufig, so als wäre sie irgendwer. Ein wenig eingeschnappt über seine Reaktion, bestellten sie, während er alles brav mitschrieb und schnell wieder vom Tisch verschwand. Noriko beugte sich grinsend zu ihr rüber. „Wer ist das denn? Der ist ja verdammt süß“, grinste sie und sah ihm hinterher. Mimi fuhr sich mit der flachen Hand über ihre Stirn und schnaubte kurz. „Das ist Matt“, antwortete sie und riss die Augen auf, so als wollte sie ihr durch Gedankenübertragung mitteilen wollen, dass er derjenige war, mit dem sie letztens Sex hatte. Sie hatte Noriko zwar von ihrem One Night Stand erzählt, aber sie bezweifelte, dass sie Matt als ihren kurzzeitigen Liebhaber identifizierte. Sie hatte schließlich keine Namen genannt, sondern nur, dass es einer ihrer Freunde war. „Was guckst du denn so blöd?“, wollte sie wissen und zog skeptisch die Augenbrauen zusammen. „Das war Matt, ein Freund von mir“, murrte sie ihr zu und betonte das Wort „Freund“ zusätzlich. Noriko verzog verwirrt das Gesicht und schien zu überlegen, als plötzlich der Groschen fiel und sie die Augen weitete. Ihr Mund klappte auf und sie stierte zu Matt, der gerade einen anderen Tisch bediente. „Er ist der Kerl mit dem du…“, sie schnalzte mehrmals mit der Zunge und lief ein wenig rot um die Nase an, während Mimi ihren Stuhl hinabsackte. „Ja“, murmelte sie und zog es in die Länge, während sie die Hände vor dem Gesicht zusammenschlug. „So wirklich geredet haben wir nicht darüber“, gestand sie sich zähneknirschend ein und sank weiter hinab. „Also, heiß ist er schon“, meinte Noriko, als sie wieder zu ihm blickte. „Wusstest du nicht, dass er hier arbeitet?“ Mimi schüttelte nur geistesabwesend den Kopf und richtete sich schnell wieder auf, als sie Matt mit den Getränken auf sie zukommen sah. „Hier, bitte schön“, sagte er und stellte eine Cola und ein Wasser bei ihnen ab. Noriko musterte ihn genau und kam aus dem Grinsen nicht mehr raus, während Mimi am liebsten immer noch im Boden versinken wollte. Kaum sah sie ihn wieder, hatte sie das Bild des nackten Matts vor ihrem inneren Auge. Ihre Wangen wurden ganz heiß, wenn sie an diese eine Nacht zurückdachte, die besser nicht hätte passieren dürfen. Kurz darauf verschwand er wieder. „Er sieht wirklich unheimlich gut aus“, stellte Noriko fest und griff nach ihrem Wasser. „Ich weiß“, antwortete Mimi augenverdrehend und krallte ihre Fingernägel in die Tischdecke. Dieser Tag hätte wohl kaum besser laufen können. Kapitel 36: Reden ist Silber, Schweigen ist Gold ------------------------------------------------ Since you been gone My life has moved along quite nicely actually Die Worte klangen hart, egal wie sie sie auch betonte. Der Bass hämmerte in ihrem Bauch und sie sah zu den Jungs, die beide neben ihr standen und sich auf ihre Instrumente konzentrierten. Mimi konzentrierte sich nur auf den Text, ließ sich von dessen Inhalt führen und brachte das zum Ausdruck, was sie empfand, wenn sie darüber sang. Wut. Hass. Unverständnis. Sie hatte diesen Song zwar nicht geschrieben, aber sie spürte mit jeder Faser ihres Körpers, was der Songschreiber empfand. Oder besser die Songschreiberin. Noriko hatte ihn geschrieben, kurz nachdem ihr Vater sie verlassen hatte. Mit Vater meinte sie nicht ihren gemeinsamen, sondern den Mann, der sie jahrelang als sein eigenes Kind aufgezogen hatte und sich nie wieder bei ihr meldete. Mimi hatte nur erfahren, dass er mit seiner Mutter zurück nach England gegangen war, als sein eigner Vater an einem Herzinfarkt gestorben war. Noriko hatte durch diesen Song versucht, ihren Schmerz und ihr Leid zu verarbeiten, da sie als 13-Jährige nicht verstehen konnte, warum ihr Vater nicht mehr ihr Vater sein wollte. Eine tiefe unsichtbare Narbe hatte sich gebildet, die in ihrem Text ihren Ausdruck und ihre Sichtbarkeit fand. Zwischen Verrat, Verwirrung und Bedenken gefangen, hatte Noriko im Schreiben von Songs ihre Sicherheit zurückerlangt. Sie wollte ihm sagen, dass sie ihn nicht brauchte um glücklich zu sein, auch wenn ein bitterer Beigeschmack blieb. Mimi bewunderte sie dafür, da es nicht einfach war, seine Gefühle für sich sprechen zu lassen. Ihr war es unsagbar schwer gefallen ihre Enttäuschung in die richtigen Worte zu verpacken, ohne dass es sich komplett bescheuert anhörte. Sie wollte sich nicht offenbaren und anderen Menschen, die sie kaum kannte, einen Einblick in ihre Gefühlswelt bescheren, aber sie fühlte sich danach besser. Gut, die Probleme waren nach wie vor da, lösten sich nach ein paar Zeilen sicher nicht in Luft auf, aber sie hatte sich damit auseinander gesetzt. Schrieb auf, was sie beschäftigte, störte oder verletzte. In den letzten Wochen waren viele Eindrücke auf sie hinabgeprasselt. Es war Freitag, das letzte Wochenende bevor die Schule wieder anfing. In den Wochen davor hatten sie viel geprobt, da Noriko die Jungs davon überzeugen konnte, ihre musikalische Ader auch außerhalb der Schule auszuleben. Sie hatte ein Funkeln in den Augen, das man gar nicht so recht beschreiben konnte. So als durchströmte die pure Energie ihre Adern, die sie für ihre Chemo brauchte, da sie sie doch sehr mitnahm, auch wenn man es ihr nicht gleich ansah. Noch immer hatte sie diese langen braunen Haare, die jedoch dünner geworden waren und langsam ausfielen. Manchmal konnte sie sich mehrere Haarsträhnen auf einmal von ihrem Kopf ziehen, doch sie versuchte die Haltung zu wahren. Sich so zugeben, als würde es ihr nichts ausmachen, obwohl genau das Gegenteil der Fall war. Die Musik gab ihr irgendwie die nötige Kraft, die sie brauchte. Deswegen hatte sich wohl auch keiner getraut etwas dagegen zu sagen. Jeder wollte ihr eine kleine Freude bereiten, auch wenn die ersten Proben ein Graus waren. Weder Masaru, noch Chiaki hatten die passenden elektronischen Instrumente, die sie als rockige Band benötigten. Über Etsukos Vater mieteten sie sich welche, da er ihnen auch angeboten hatte vormittags im Club zu Proben. Anfangs fiel es Mimi unsagbar schwer lange Töne zu halten, da es ihre Stimme zu sehr anstrengte. Viel zu schnell kam sie bei manchen Songs außer Puste und auch die Jungs hatten Probleme sich von ihren Standardinstrumenten auf die elektronische Variante umzugewöhnen. Am leichtesten fiel es Yasuo, den sie als Schlagzeuger mit ins Boot geholt hatten. Mittlerweile kannten sie die Songs in und auswendig, hatten tagtäglich daran gearbeitet, viel Zeit und Mühe investiert, damit man sie endlich auch vor Publikum vorführen konnte. Etsuko hatte sie oft mit der Kamera gefilmt, damit sie sich im Nachhinein noch einmal beobachten und eventuelle Fehler verbessern konnten. „Wow, das war wirklich verdammt gut“, meinte Noriko, als das Lied zu Ende war. Auch Etsuko applaudierte und wischte beiläufig über den Thesen. „Wenn ihr in zwei Wochen auch so gut seid, werden sie euch zu Füßen liegen“, meinte sie bestätigend und nickte eifrig. „Habt ihr jetzt endlich mal einen Namen gefunden?“ Mimi seufzte resigniert und befestigte das Mikrofon in der passenden Halterung. Bisher waren sie noch zu keinem einheitlichen Ergebnis gekommen. Masaru und Chiaki entledigten sich ihren Instrumenten, während Yasuo etwa übermütig von der Bühne sprang, aber heil auf seinen Füßen landete. Er stürmte zu Noriko, die ihm bereits eine Flasche Wasser in die Hand drückte. „Bisher sind wir uns noch uneinig“, erklärte Masaru, als auch er zu den drei aufschloss. Mimi und Chiaki ließen sich auf den Stühlen nieder, während sich Masaru auf einem der Tische bequem machte. Etsuko zog fragend die Augenbraue in die Höhe. „Und wie soll ich euch ankündigen? Soll ich euch ‚die Namenslosen‘ nennen?“ Ihre Stimme triefte vor Sarkasmus, doch Mimi hatte sich noch nie über Bandnamen und so einen Kram Gedanken gemacht. Nie im Leben hatte sie erwartet, dass sie mal in einer Band singen würde, auch wenn ihr das Singen schon immer Spaß machte. „Habt ihr denn noch keine Auswahl getroffen?“, hakte Etsuko skeptisch nach. „Nicht wirklich, die meisten Namen klingen so bescheuert, wenn man sie auf Japanisch sagt“, murrte Masaru und öffnete sich eine Flasche. „Ich wäre ja für einen Englischen, aber das wollte Chiaki nicht“, erwiderte Mimi und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich habe nur gesagt, dass ich einen japanischen Namen bevorzuge. Von mir aus kann es auch ein Englischer sein. Hauptsache wir haben überhaupt einen. Als namenslose Band will ich nicht in die Geschichte eingehen“, erklärte er schulterzuckend, doch unterbreitete mal wieder keinen Vorschlag. Mimi verrollte nur die Augen und bekam am Rande mit, wie sich Noriko und Yasuo vielversprechend angrinsten. „Also wir hätten da vielleicht einen“, begann Noriko geheimnisvoll. Yasuo legte sein Unschuldsgesicht auf und lächelte verhalten. Mimi, Masaru und Chiaki richteten ihre volle Aufmerksamkeit auf die beiden. Auch Etsuko schien interessiert mitzuhören, während sie den Boden fegte. „Wir beide haben uns letztens über unsere Gemeinsamkeiten unterhalten und haben festgestellt, dass wir alle irgendwie ungewollt sind und Eigenschaften besitzen, mit denen andere nicht so gut klarkommen.“ Fragend runzelte Mimi die Stirn und sah zu Masaru, die ihren Blick ebenso verwirrt erwiderte. Sie wandte den Kopf zu Chiaki, dessen Gesichtsausdruck sich verfinstert hatte. „Wie wäre es mit ‚The Unwanted‘? Klingt doch voll cool“, erwiderte Yasuo freudig. Mimi ging die Idee in ihrem Kopf durch. Irgendwie hatte dieser Name etwas und er schien wirklich zu jedem einen Bezug zu haben, auch zu Noriko, die zwar nicht mitspielte, aber als Songwriterin aktiv mitwirkte. Sie hatte viele Erfahrungen mit dem „ungewollt sein“ gemacht. Genauso wie Mimi, die von ihrem Vater sehr verletzt wurde und jemandem hinterher lief, der wohl nie Gefühle für sie entwickelte. Auch Masaru hatte Probleme mit seinem Vater, der ihn aufgrund seiner Sexualität anders behandelte. Yasuo war in seiner Klasse als Freak verschrien und wurde ebenfalls als Störenfried mit Kamera wahrgenommen. Aber was war mit Chiaki? „Ist das wirklich dein Ernst?“, fragte dieser aufgebracht. „Die Ungewollten? Willst du mir damit irgendwas sagen, Noriko?“ Erschrocken blickte sie ihn an, doch bevor sie etwas antworten konnte, sprang er schon auf und stürmte zur Tür. _ „Ich glaube, ich habe ihn verärgert“, meinte Noriko niedergeschlagen, als sie sich auf dem Nachhauseweg befanden. „Ja, er war ganz schön sauer“, antwortete Mimi langsam und studierte ihre Reaktion genau. So ganz hatte sie den Zusammenhang leider nicht erfassen können. Chiaki war schneller weg, als man gucken, geschweige denn reagieren konnte. Danach stellte sich ein betretenes Schweigen ein, dass Mimi wahnsinnig machte. Sie hatte zwar schon gemerkt, dass zwischen Noriko und Chiaki irgendetwas war, doch ihre Beziehung war für sie nach wie vor ein Rätsel. „Was läuft da zwischen euch?“, fragte Mimi unverblümt und bleib einfach mit verschränkten Armen hinter ihr stehen. Auch Noriko wandte sich ihr zu, verlangsamte ihre Schritte bis sie ebenfalls zum Stehen kam. Bedrückt sah sie zu Boden und fuhr sich mit den Fingern durch ihre langen dünnen Haare. „Er mag mich und das ist das Problem“, gab sie zu und lächelte müde. „Aber du scheinst ihn doch auch zu mögen“, stellte Mimi nüchtern fest, als sich etwas in Norikos Blick veränderte. „Ich kann aber nicht mit ihm zusammen sein. Das wäre egoistisch“, kam es von ihr und Mimi sah wie sie sich kurz mit ihrer Handfläche über die Augen fuhr. Besorgt ging Mimi ein paar Schritte auf sie zu und berührte ihre beiden Schultern. Noriko sah auf und Tränen hatten sich tatsächlich in ihren Augen gebildet. „Ist er deswegen so sauer geworden? Weil du ihm ständig ‘ne Abfuhr erteilst?“, erkundigte sie sich vorsichtig. Noriko nickte nur betreten. „Er versteht nicht, dass ich es nur gut mit ihm meine. E-Er hat etwas Besseres verdient.“ Die Verzweiflung und Trauer war aus ihrer Stimme herauszuhören. Ohne darüber nachzudenken zog Mimi sie in eine herzliche Umarmung, die Noriko zögerlich erwiderte. „Du darfst auch glücklich sein“, hauchte Mimi mit schwerer Stimme und drückte sie noch ein bisschen fester an sich. „Du darfst die Menschen, die dich lieben, nicht aus deinem Leben verbannen. Du musst ihnen einen Platz geben.“ Mimi ließ sie los und sah sie dringlich an. „Und Chiaki mag dich wirklich. Das sehe ich immer, wenn er dich ansieht und seine Augen förmlich leuchten! Er hat eine Chance verdient, auch wenn die Zeit nur begrenzt ist. Ich glaube, er kann dich wirklich glücklich machen!“ Ein zartes Lächeln zog sich über ihr Gesicht, während Noriko lautlose Tränen über die Wangen kullerten. „Ich weiß, aber…“ „Kein aber“, widersprach Mimi vehement und strafte sie mit einem strengen Blick, der sich jedoch schnell aufhellte. „Ich möchte, dass du glücklich wirst.“ _ Am darauffolgenden Tag hatte sich Mimi von Sora zu einem Mädelsabend breitschlagen lassen. In den letzten Wochen hatten sie wenig Zeit zu zweit miteinander verbracht, besonders nach dem ersten August, der in Mimi etwas verändert hatte. Sie war nicht böse auf sie, auch wenn sie in der Vergangenheit oft von Neid zerfressen war. Dennoch hatte sie sich erhofft, dass Sora ihr diesbezüglich etwas erzählen würde. Zwar hatten sie sich ab und an mal getroffen, aber meist waren Yolei und Kari ebenfalls dabei gewesen. Zeit zum Reden war kaum vorhanden gewesen, auch wenn sie vor Neugier förmlich platzte. Doch wahrscheinlich hätte sie sich sowieso nicht getraut das Thema Tai anzusprechen, weil es einfach noch zu sehr wehtat. Vielleicht hatte Davis Recht. Manchmal musste man die Person, die man liebte, loslassen, auch wenn es nicht leicht fiel. Kurz bevor Mimi zu Sora aufbrach, hatte Noriko ihr eine SMS geschrieben und ihr mitgeteilt, dass sie heute ein offenes Gespräch mit Chiaki führen wollte. Mimi hatte schon längst gemerkt, dass beide etwas Besonders verband. Noriko durfte nicht aufgeben, selbst wenn sie nur noch wenig Zeit hatte. Liebe war zeitlos und jeder Mensch verdiente sie, egal wie lange er auf dieser Erde auch verweilte. Mimi glaube ganz fest daran. Noriko sollte diese Erfahrung nicht missen, nur weil sie Angst davor hatte. Denn Liebe war eine kraftvolle Macht, die einen zwar nicht heilen konnte, aber das Leben erleichterte. Mimi drückte ihr beide Daumen, als sie ihre Nachricht las und sie gleich darauf beantwortete. Außer ‚Viel Glück‘ und einem Zwinkersmiley hatte sie nichts geschickt. Danach machte sie sich auch schon auf den Weg zu Sora, die ihr eine halbe Stunde später lächelnd die Tür öffnete. „Ich bin froh, dass wir uns endlich mal wieder alleine treffen“, sagte sie und nahm Mimi ihre Sachen ab. Ihre Mutter war arbeiten, daher hatten die beiden Mädchen wie immer sturmfrei und tobten sich aus. Wenn Mimi mit ihr alleine war, war es so unbeschwert wie früher, obwohl sich so viel verändert hatte. Veränderungen, die sie vor ihrer besten Freundin nicht traute zuzugeben, obwohl es sich nicht mehr ändern würde. Ihr Vater war schon vor Wochen ausgezogen und hatte mittlerweile eine neue kleine Wohnung. Mimi hatte den Kontakt zu ihm gänzlich eingeschränkt, während ihre Mutter gelegentlich mit ihm telefonierte, um über finanzielle Anforderungen zu diskutieren. Nebenher sah sie sich auch schon nach einer kleineren Wohnung in Schulnähe um, da das Haus zu groß und zu teuer für zwei Personen war. Doch so langsam gewöhnte sie sich an die Situation, auch wenn es immer noch schwer für sie war. Oft verspürte sie das Gefühl, Sora alles zu erzählen, doch sie verkniff es sich immer wieder, da sie einerseits weiterhin ihre Fassade aufrechterhalten, andererseits sie auch nicht mit ihren Problemen zusätzlich belasten wollte. Die Sache mit den Jungs zerrte an ihren Nerven, wie sie ihr nach dem Abendessen berichtete. „Mit Matt habe ich schon ewig nicht mehr geredet und irgendwie glaube ich, dass er mir aus dem Weg geht“, erzählte sie bedrückt, während beide zwei Löffel in einer riesigen Eiscremeschale hatten und genussvoll das Eis rauslöffelten. Mimi hörte gespannt zu, auch wenn sie ihr gegenüber ein schlechtes Gewissen hatte. Sie hatte mit Matt geschlafen und sicherlich einen Freundinnencodex dadurch gebrochen, auch wenn sie noch nicht mal offiziell zusammen waren. „Und wie sieht´s mit Tai aus?“, fragte Mimi unsicher und schaufelte eine extra große Portion Eis in ihren Mund. Sie hatte das Gefühl, dass ihr Gehirn kurz erfror und hielt sich mit einer Hand die rechte Schläfe. Sora kicherte leise und schüttelte leicht den Kopf. „Du hast immer schon zu viel Eis auf einmal in dich reingeschaufelt. Du weißt doch, das gibt Gehirnfrost“, sagte sie gespielt mahnend und zeigte mit dem Löffel auf sie. „Ja Mama, aber es ist so lecker“, erwiderte sie stur und hatte prompt eine etwas kleinere Portion auf dem Löffel. „Du bist einfach unverbesserlich“, lachte sie, wurde aber automatisch wieder ganz ernst. Sie ließ den Löffel in die Schale sinken und blickte traurig zu Mimi. „Die Sache mit Tai ist nach wie vor schwierig und ich muss dir auch noch was beichten“, erklärte sie langsam, biss sich auf ihre Unterlippe und zog diese nach hinten. Mimi konnte sich schon denken, um was es ging. „Er hat mich geküsst! Am ersten August. Ungefähr zur gleichen Zeit, wo du deine üblen Bauchschmerzen hattest und früher gegangen bist. Jedenfalls warst du damals schon weg gewesen und eigentlich wollte ich es dir auch schon viel früher erzählen, aber nicht wenn seine Schwester dabei ist. Nachher erzählt sie ihm ausversehen irgendwas“, erklärte sie leicht aufgebracht und redete sich in Rage. „Wir haben uns danach furchtbar gestritten, weil er meine Beweggründe nicht verstehen wollte. Ich kann mich nicht zwischen den beiden entscheiden, ohne einen zu verlieren, obwohl ich Matt anscheinend schon verloren habe.“ Sie seufzte herzergreifend und Mimi sah sie für den Moment mit großen Augen an. Tai und sie hatten sich gestritten? Hatte sie den Kuss etwa nicht erwidert? Nachdenklich durchleuchtete Mimi Sora mit ihren Augen. Sie wirkte auf sie so niedergeschlagen und erst jetzt fiel ihr auf, dass sie außer Matt und Tai nicht sonderlich viele gute Freunde hatte. Zwar trafen sie sich ab und an mit Yolei und Kari und natürlich hatte sie auch noch sie, aber nur mit den beiden Jungs verband sie eine tiefe und enge Freundschaft, die wohl nun vorbei war, da sich Gefühle dazu geschlichen hatten. „D-Du kannst dich wirklich nicht entscheiden, oder?“ „Ich will mich nicht entscheiden“, korrigierte Sora sie, „aber ich glaube, mittlerweile ist viel zu viel passiert, dass es schwer fallen wird, nur noch miteinander befreundet zu sein. Besonders bei Matt.“ „Verstehe…“, sagte Mimi leise und fuhr mit den Lippen über ihren Löffel. Der süße Geschmack breitete sich in ihrem Mund aus und benetzte ihre Zunge. „Kannst du deine Gefühle beschreiben? Also für Tai und Matt.“ Sora zuckte nur mit den Schultern und ließ sich auf den Stuhl sinken. „Ich mag beide wirklich unheimlich gerne, da wir so viel miteinander erlebt und durchgestanden haben. Beide sind für mich dagewesen, wenn’s mir schlecht ging und ich? I-Ich bin einfach überfordert“, gestand sie sich ein. Mit zitternden Händen ergriff sie wieder ihren Löffel und beugte sich ein wenig vor. „Die Sache mit Matt war unheimlich aufregend, besonders weil er der erste Junge war, dem ich so richtig nah gekommen bin. Du kennst ihn ja, eigentlich ist er immer so richtig verschlossen, aber bei mir war er komplett anders.“ Mimi nickte nur beiläufig und merkte erst gar nicht, wie ihr etwas Eis über die Handfläche tropfte. Sie ließ den Löffel in die Schüssel gleiten und leckte sich über die Hand, während Sora nach den passenden Worten rang. „Aber ich merkte auch, dass mir Tai nicht egal ist. Auch wenn ich glaube, dass dieser Kuss einen anderen Beweggrund hatte.“ „Warum glaubst du das?“, fragte Mimi verdutzt. „Beim ersten Mal, als er mich geküsst hat, war er sehr nervös gewesen, doch diesmal war es ganz anders. Und auch seine Reaktion danach war sehr fragwürdig gewesen.“ „Inwiefern fragwürdig?“, hakte sie bewusst nach. „Wir hatten uns ja danach gestritten, aber er hat mir die ganze Zeit versucht zu erklären, dass es selbst gerade nicht weiß, was er tut und das es sich diesmal so anders angefühlt hat und er mit so einem Gefühlschaos niemals gerechnet hätte. Bevor ich nachfragen konnte, hatte er sich entschuldigt und meinte, ich sollte es am besten vergessen. Danach ist er verschwunden und hat mich einfach stehen lassen.“ Verwirrt über Soras Erzählung hob Mimi die Augenbraue an und musterte sie kritisch. Was sollte man von dieser Reaktion nur halten? Was meinte er mit Gefühlschaos? Er war doch in Sora verliebt… Mimi schnürte sich der Hals zu und eine Schwere legte sich über ihre Brust. Für eine Sekunde überlegte sie, Sora die Wahrheit über ihre Gefühle für Tai zu sagen. Doch dann sah sie ihr tief in die Augen und wusste, dass sie diese Tatsache noch mehr ins Unglück stürzten würde. Daher entschied sie sich zu schweigen, auch wenn es ihr schwer fiel, Sora dabei zuzuhören, welche seltsamen Veränderungen auf sie zukamen. Es erleichterte sie daher ein wenig, dass Sora von beiden die Finger lassen wollte, um das Chaos so minimal wie möglich zu halten. Sie würde es nicht ertragen, Sora und Tai als verliebtes Pärchen zu sehen. Sie wusste auch, dass es Matt genauso ging, obwohl er es niemals zugeben würde und bald eh über alle Berge war. Insgeheim wünschte sie sich eine Zeitmaschine herbei, die ihr helfen sollte, dass Vergangene anders zu gestalten. Sie würde vieles gern ändern wollen. Kapitel 37: Der große Auftritt ------------------------------ Die Schule hatte vor rund einer Woche wieder begonnen, doch die Ernüchterung kam schneller als erwartet. Auch wenn Mimi mit Hilfe von Noriko und Masaru weiterhin ihre Mathenote hielt, waren die freundschaftlichen Verhältnisse zum Zerreißen gespannt. Sora versuchte sich weiterhin mit Tai zu arrangieren, auch wenn es schwierig war nach all dem normal miteinander umzugehen. Von Kari erfuhr Mimi, dass es ihm zurzeit nicht sonderlich gut ging, da er außer Sora und Matt kaum andere Freunde hatte. Doch mit Matt unterhielt er sich kaum noch. Er ging sowohl Tai als auch Sora aus dem Weg und verbrachte die Pausen mit seinen Bandkollegen. Auch Sora schien den Abstand zu suchen, da sie heute schon wieder nicht mit ihnen gemeinsam aß. Missmutig saß Tai Mimi gegenüber und kaute schon eine geschlagene Viertelstunde auf einem Stückchen Fleisch herum, sodass Mimi nur mit dem Kopf schütteln konnte. „Wie lange willst du noch darauf herum kauen?“, fragte sie genervt und erschrak Izzy wegen ihrer schrillen Stimme, da er sich bereits an die Stille gewöhnt hatte. Tai hielt kurz inne, kaute danach weiter und schluckte schwerfällig sein Essen hinunter. Mit einem bösen Blick funkelte er sie an. „Zufrieden?“, zischte er bissig und spielte beiläufig mit den Erbsen auf seinem Teller. „Man, wie kann man nur so schlechte Laune haben“, grummelte Mimi, obwohl sie genau wusste, was los war. Aber sie war genervt. Von der Situation. Von ihren eigenen Gefühlen. Von allem. „Tja, ein Prinzesschen, dass alles von Papi in den Arsch geschoben bekommt, hat sicherlich nie schlechte Laune“, feuerte er zurück und Mimis Augen weiteten sich bedrohlich. Wut stieg in ihr auf und brodelte. Doch Tai schien die deutliche Grenze, die er gerade überschritten hatte, nicht wahrzunehmen und bohrte unbeeindruckt weiter. „So ein Leben hätte ich auch gerne. Sich um nichts Gedanken machen zu müssen, da ja der Papa alles für einen regelt“, tönte er spottend, als sich in Mimi plötzlich ein Schalter umlegte und sie vom Tisch aufsprang. „Wie kann man nur so ätzend sein?“, brüllte sie, sodass auch andere Schüler ihren kleinen Disput mitbekamen. „Nur weil Sora dir ‘ne Abfuhr erteilt hat? Kannst du dich denn kein bisschen in ihre Situation hineinversetzten?“ Aufgebracht ließ Tai die Fäuste auf den Holztisch knallen und stand ihr überaus aufbrausend gegenüber. Izzy sah eingeschüchtert zwischen beiden hin und her, hielt sich aber bedeckt. „Du verstehst rein gar nichts!“, erwiderte er erstaunlich ruhig, als sich sein Blick plötzlich veränderte. Ein tiefer Schmerz war in seinen Augen zu erkennen, doch Mimi blieb unbeeindruckt und gab nur ein zischendes Geräusch von sich. Sie hatte einfach keine Lust mehr, sich von ihm alles gefallen und sogar beleidigen zu lassen. Auch wenn sie Gefühle für ihn hatte. Er hatte eine Grenze überschritten, sodass sich Mimi nicht mehr zurückhalten konnte. „Ich sage nur die Wahrheit! Ich kann nichts dafür, dass du sie nicht erträgst“, antwortete sie zähneknirschend. Ohne sich beirren zu lassen, hielt sie Tais Blick stand und versuchte sich nicht weiter von ihm provozieren zu lassen, auch wenn es ihr schwer fiel. Doch Tai wandte den Blick von ihr, nahm sein Tablett und nuschelte etwas Unverständliches vor sich hin, ehe er an einen anderen Tisch verschwand. Mimi blickte ihm traurig hinterher und bereute einerseits ihre Worte, wusste aber, dass sie genau genommen nichts Falsches gesagt hatte. Tai hätte nicht von ihrem Vater anfangen sollen. Er war nach wie vor ein rotes Tuch für sie, auch wenn er es nicht wissen konnte. Seufzend ließ sie sich wieder neben Izzy nieder, der schweigsam in seinem Essen stocherte. Selbst Mimi war der Appetit vergangen, auch wenn sie ihren Bauch deutlich grummeln hörte. Wieso musste die Situation nur so eskalieren? Für einen Moment hatte sie wirklich Angst, dass Tai ihr eine Scheuern würde. Doch in seinem Blick hatte sie noch etwas anderes außer Wut gesehen. Es war fast so, als wollte er ihr viel mehr sagen, es aber bewusst zurückhielt, auch wenn seine Augen ihr durchaus etwas mitzuteilen versuchten. Doch was hatte das alles nur zu bedeuten? Im Gedankenlesen war sie bisher immer kläglich gescheitert. Vielleicht hätte sie sich doch besser etwas zurückhalten sollen. _ Den Rest des Tages war sie Taichi aus dem Weg gegangen. Niedergeschlagen machte sie sich auf den Heimweg und achtete nicht sonderlich auf ihre Umgebung, als sie plötzlich mit jemanden zusammenstieß und prompt auf dem Boden landete. Sie rieb sich schmerzverzerrt den Po und säuselte ihrem Gegenüber eine Entschuldigung entgegen, ohne direkt hochzuschauen. „Du solltest wirklich besser aufpassen“, ertönte eine sehr bekannte Stimme und Mimi sah erschrocken in Matts Gesicht, der ihr seine Hand hinhielt und ihr wieder auf die Beine half. „Danke“, murmelte sie verlegen und senkte ihren Kopf, um ihn nicht direkt ansehen zu müssen. Es war ihr immer noch peinlich mit ihm alleine zu reden, nachdem diese Nacht zwischen ihnen passiert war. Er schien weniger Probleme damit zu haben, doch Mimi war einfach nicht der Typ für One Night Stands, besonders nicht mit Freunden. Beide setzten sich wieder in Bewegung und liefen schweigend eine Zeitlang nebeneinander, als Matt plötzlich das Wort ergriff. „Und wie geht’s dir so? Alles klar bei dir?“ Überrascht musterte sie ihn, da sie mit einer solchen Frage nicht gerechnet hatte. „Ja, eigentlich schon und bei dir?“, log sie und ignorierte die Tatsache, dass sie sich heute lautstark mit Taichi gestritten hatte. „Man macht so weiter“, kam es von Matt, der seine Hände in seiner Hosentasche vergraben hatte und stur geradeaus schaute. Ein Lächeln legte sich auf seine Lippen. „Ich habe gehört, dass du Tai heute den Marsch geblasen hast…wie kam es denn dazu?“, fragte er interessierte und drehte sich ihr wieder zu. Mimi wurde leicht rot um die Nase und stammelte unvollständige Sätze vor sich hin, bevor sie ihre Sprache allmählich wiedererlangte. „Naja…er lässt halt seine Laune an alles und jedem aus, weil…naja du weiß ja, dass die Dinge kompliziert sind.“ Er nickte nur bestätigend und ließ seine Schultern leicht nach unten hängen. „Ja und ich bin gar nicht mal so unschuldig an der Sache“, räumte er ein, weshalb sich Mimi verwirrt zu ihm hindrehte. „Du hast doch Sora für ihn freigegeben. Aber wenn sie…“ „Ich hätte nichts mehr mit ihr anfangen dürfen. Das war egoistisch“, unterbrach er sie. „Aber du liebst sie doch, oder?“, entgegnete Mimi zweifelnd. Matt blieb plötzlich stehen. Auch Mimi hielt in ihrer Bewegung inne und sah ihn mit hochgezogener Augenbraue an. Ein leichtes Lächeln zog sich über seine Lippen und verunsicherte Mimi zusehends. „Wir hatten mehr als eine Chance und es hat nie geklappt, weil ich Musik machen wollte und immer noch will. Sie stand dazwischen und war unglücklich damit, das weiß ich“, erwiderte er nachdenklich. „Und außerdem habe ich mich ziemlich schnell getröstet, findest du nicht?“ Mimi lief auf einmal knallrot an und bemerkte einen plötzlichen Schweißausbruch. Wollte er jetzt ernsthaft darüber reden? Warum war sie nur in ihn hineingelaufen? „Matt…wir waren beide betrunken und verletzt“, antwortete sie vage, konnte ihm aber nicht in die Augen sehen. Matt stöhnte herzlich und schüttelte seine blonde kurze Mähne. Er schloss etwas zu ihr auf und blieb dicht neben ihr stehen. „Ich weiß, aber trotzdem habe ich ein schlechtes Gewissen“, flüsterte er betroffen. Mimi hatte die Arme vor der Brust verschränkt und biss sich auf die Unterlippe. Auch sie hatte ein schlechtes Gewissen, besonders Sora gegenüber. „Die Sache wird doch unter und bleiben, oder?“, fragte sie nach einer Weile und wirkte alarmiert. „Also, ich wüsste jetzt nicht wem ich es erzählen sollte“, antwortete Matt schulterzuckend und beide gingen weiter. „Sag mal, warum arbeitest du jetzt eigentlich in diesem Bistro?“, hakte Mimi nach, nachdem ihr wieder eingefallen war, dass sie ihn letztens mit Noriko gesehen hatte. Die Situation mit Matt war nach wie vor komisch für sie. Doch sie schaffen es, ein halbwegs normales Gespräch miteinander zu führen. Er erzählte ihr, dass er noch etwas zusätzliches Geld für die spätere Tour in den USA benötigte, weshalb er unter der Woche und in den Ferien in dem kleinen Bistro arbeitete. Er befand sich gerade wieder auf dem Weg dorthin, als sie an der Kreuzung ankamen, in die Mimi einbiegen musste. Einerseits war sie erleichtert endlich nicht mehr mit ihm reden zu müssen, doch andererseits merkte sie, dass ihn die Sache mit Tai und Sora mehr mitnahm als er zugab. Doch darüber hatten sie nicht gesprochen. Gerade als Mimi in ihre Straße einbiegen wollte, hörte sie wie er ihren Namen rief. Sie drehte sich herum und erkannte einen ungewöhnlichen, aber auch herzzerreißenden Ausdruck in seinen Augen, den sie zuvor noch nie bei ihm gesehen hatte. „War es richtig, sie gehen zu lassen?“ Mimi legte den Kopf schief und fuhr sich mit ihren Händen über ihren Rock. „Ich weiß es nicht, was sagt dir denn dein Gefühl?“ Matt legte die flache Hand in den Nacken, richtete seinen Blick immer wieder vom Boden zu Mimi und zurück. Er druckste ein wenig herum, verzog die Lippen und richtete den Kopf zum unendlich wirkenden Himmel. „Es fühlt sich nach einem riesengroßen Fehler an…aber jetzt kann ich ihn nicht mehr ändern. Ich habe sie schon einmal verletzt und will, dass sie glücklich wird.“ _ Seine Worte hallten ihr auch noch eine knappe Woche später durch den Kopf, auch wenn sie vor Aufregung fast platzte. Doch sie wollte weder an Matt, noch an irgendwen sonst denken. Heute war der Tag der Tage gekommen. Sogar ihre Mutter wollte sich ihren ersten Auftritt ansehen, für den sie, mit den Jungs, wie eine Blöde geübt hatte. Noriko und sie wollten auch ihren Plan, ihre Mütter wieder einander ein bisschen näher zu bringen, in die Tat umsetzen. Ayame hatte versichert später nach zukommen und Mimi hoffte, dass ihre Mutter nach dem erneuten Zusammentreffen bereit war nochmal mit ihr zu reden. Auch Chiaki und Noriko hatten sich ausgesprochen und er arrangierte sich allmählich mit dem Bandnamen, den sie ausgewählt hatten. Mimi befand sich zurzeit gemeinsam mit Yasuo und Noriko in einem Nebenraum des Clubs, um sich fertig zu machen. Noriko schminkte sie, da Mimi viel zu nervös dafür war. Ihr Outfit war etwas rockiger gehalten. Sie trug einen schwarzen Lederrock und ein weißes Shirt mit Aufdruck. Die Schuhe hatte ihre Noriko geliehen, da sie meinte, dass Boots mit Nieten besser zum Outfit passten, als ihre filigranen Pumps. Ihre Haare hatte sie sich gelockt und Noriko hatte ihre Federextensions in die Haare gesteckt, die farblich zur schwarz-weiß Kombi passten. Nur noch das Makeup fehlte. „Ich bin schon total nervös“, gab Mimi zu, als Noriko ihre Lider schminkte. „Das ist normal, aber wenn du erstmal auf der Bühne stehst…ach du wirst das Gefühl lieben“, antwortete sie euphorisch, da sie genau wusste, von was sie sprach. Mimi hatte sie oft von ihren Orchesterauftritten erzählt und das sie öfters ein Klaviersolo eingeräumt bekam. Doch Mimi wurde bei dem Gedanken, auf einer Bühne zu stehen und vor wildfremden Menschen zu spielen, nur schlecht. „Geht’s dir gut?“, fragte Yasuo auf einmal und erinnerte an seine Anwesenheit. „Du bist so blass.“ „Ehm…“, brachte Mimi hervor und betrachtete sich auffällig im Spiegel. „Yasuo, sie ist nur aufgeregt“, beruhigte Noriko ihn und drehte ihren Kopf wieder zu ihr. „So jetzt halt bitte still, ich ziehe den Eyeliner.“ Mimi schloss die Augen und versuchte nicht allzu sehr zu wackeln, auch wenn sie sich kurz erschrak, als Noriko den Eyeliner ansetzte und mehrmals über den Wimpernkranz zog. „Deswegen dauert das bei euch so lange“, hörte Mimi Yasuo erstaunt sagen. „Ich glaube, sowas könnte ich gar nicht.“ „Ist eben Präzisionsarbeit und Übungssache“, antwortete Noriko. „So du kannst die Augen langsam öffnen. Aber wirklich langsam!“ Mimi blinzelte leicht und tat was ihr gesagt wurde. Sie erkannte Noriko und Yasuo vor sich, der wieder seine Kamera gezückt und auf sie gerichtet hatte. „Was kommt als Nächstes? Sieht noch unfertig aus“, meinte er zu Noriko. „Die Wimperntusche fehlt noch, aber erst müssen wir sie noch ein bisschen biegen, damit sie einen schönen Schwung haben“, erklärte sie ausführlich und schnappte sich eine silberne Wimpernzange. „Ich glaube, das werde ich noch selbst hinbekommen“, erwiderte Mimi, da sie es nicht mochte, wenn ihr jemand mit so einem Ding am Auge herumspielte. Noriko überreichte sie ihr und Mimi drehte sich zum Spiegel, um die Zange an ihren Wimpern anzusetzen und hochzubiegen. „Sieht ja abartig aus“, kommentierte Yasuo mit offenem Mund und hielt die Kamera direkt auf Mimi, die sich bei dieser Nahaufnahme alles andere als wohl fühlte. Doch sie ließ sich nicht beirren, tuschte sich noch die Wimpern und betrachtete ihr fertiges Selbst im Spiegel. Sie sah anders aus als sonst. Normalerweise schminkte sie sich nicht so stark, sondern hielt alles sehr natürlich. Dennoch passte alles zusammen und ihr Magen beruhigte sich wieder etwas. „Und wie sehe ich aus?“, stellte sie die Frage an Noriko und Yasuo gewandt. „Super“, meinte Noriko strahlend. „Gewöhnungsbedürftig“, kam es von Yasuo, der den Kopf schräg legte. Mimi wuschelte ihm nur mit einer Hand durch seine braunen Haare und lächelte. „So, hilfst du mir jetzt auch dabei, mich ein wenig aufzuhübschen?“ „Klar“, antwortete Mimi sofort und machte für Noriko Platz, die jedoch zielstrebig zu ihrer Tasche lief und etwas hervorholte. Mimis Lächeln versteinerte sich, als sie sich wieder herumdrehte und sie den Gegenstand sah, den sie in ihren Händen hielt. _ Nervös stand sie auf der Bühne. Das Licht war noch aus und somit noch nicht auf sie gerichtet. Masaru und Chiaki hatten jeweils die Gitarre und den Bass umgeschnallt, während Yasuo hinter dem Schlagzeug saß. Mimis Knie zitterten und sie haute ihre Schneidezähne in ihre Unterlippe, als Etsuko das andere Mikro in die Hand nahm und sie, neben Noriko stehend, ankündigte. „Hallo, ich möchte euch ganz herzlich heute Abend bei uns begrüßen“, sagte Etsuko mit einem Lächeln auf den Lippen, dass Mimi sogar von der Bühne aus erkennen konnte. Sie war mindestens genauso gespannt, wie das Publikum, das größtenteils aus Studenten bestand, auf sie reagieren würde. „Wir haben heute ein wenig Frischfleisch für euch!“, tönte sie und streckte den Arm in Richtung Bühne. „Ladys und Gentleman: The Unwanted!“ Das Licht schaltete sich prompt ein und Mimi zuckte leicht zusammen. Sie krallte sich am Mikrofonständer fest, so als hätte sie Angst den Halt zu verlieren. Ihr Herz hämmerte wild gegen ihre Brust als Masaru und Chiaki zu spielen begannen. Dieses Lied war hart. Sie hatten es in der Probe oft gespielt und Noriko hatte oft Tränen in den Augen, da es ihr sehr nah ging. Es ging ums Verlieren. Etwas zu verlieren, das einem wichtig war und man am liebsten sterben wollte. Yasuo schlug auf das Becken und Mimi wurde bewusst, dass sie gleich mit dem Gesang einsetzte. Sie blickte zu Noriko, die sie anstrahlte und ihr versuchte damit Mut zu machen. Doch Mimi sah nur die kurz rasierten Haare, die selbst auch noch ausfallen würden. Sie setzte ein und konzentrierte sich auf die Verbindung, die sie auf einmal spürte. I had everything Opportunities for eternity And I could belong to the night Ja, sie hatte ihr den Kopf rasiert. Noriko musste sie nicht lange dazu überreden, da sie nur einmal kurz an ihren langen Haaren zog und sich mehrere Strähnen auf einmal lösten. Sie wollte selbst die Entscheidung treffen, wann sie ihre Haare verlor. Sie wollte nicht zusehen und feststellen, dass sie immer weniger wurden. Daher tat Mimi ihr diesen Gefallen, auch wenn es ihr schwer fiel. Sie umklammerte das Mikro und fuhr mit dem Mund dicht daran vorbei. Sie hatte das Gefühl, den Text teilweise zu krächzen, da ihre Stimme drohte sich bei manchen Passagen zu überschlagen. Doch das was sie hörte, war wie Magie, die ihre eigene Euphorie fütterte. Sie blickte kurz zu Masaru, der bestätigend mit dem Kopf im Takt mitwippte. Auch dem Publikum schien der Song zu gefallen, da sie taktvoll mitgrölten oder klatschten. Ein Gefühl strömte durch ihren Körper, dass sie nicht beschreiben konnte, aber so belebend war, dass sie drohte sich selbst zu vergessen und nur für diesen einen Moment zu leben. You make me wanna die I'll never be good enough And everything you love will burn up in the light Beim Refrain setzte auch Masarus Stimme ein, die in das Mikrofon grölte. Mimi schüttelte ausgelassen ihre Haare und obwohl sie diesen Song immer so furchtbar traurig gefunden hatte, empfand sie in diesem Moment genau das Gegenteil. Er war aggressiv, wild und unberechenbar. Sie nahm das Mikro vom Ständer und ging näher zum Bühnenrand, wo sich das grölende Publikum ihr entgegenstreckte. Sie fuhr sich durch die Haare und bemerkte, dass sie leicht feucht waren. Der Schweiß stand ihr auf der Stirn, da durch die Lampen eine unheimliche Hitze auf der Bühne entstand. Doch sie genoss den Moment. Die Musik. Die Bestätigung. Und unbändige Leidenschaft. Es fühlte sich alles so surreal an, doch sie stand tatsächlich hier. Und dieses Gefühl konnte ihr keiner mehr nehmen. _ Den letzten Song stimmte sie nur mit Masaru ein, der sie auf einer Akustikgitarre begleitete. Beide hatten zwei Hocker auf die Bühne gestellt bekommen, während sich Chiaki und Yasuo schon zu Noriko gesellen. Es war abgesprochen, dass der letzte Song etwas Besonders sein sollte. Nicht nur weil Mimi ihn geschrieben hatte. Nein, sie wollte etwas loslassen, das sie schon lange beschäftigt hatte. Es war ein seichter Song mit einer beruhigenden Melodie, genau passend zum Ende. Masaru strich über die Seiten und stimmte die Melodie an, während Mimi etwas unruhig auf ihrem Hocker hin und her zappelte. Sie sah zu Noriko, die gerade Yasuo umarmt hatte und nun Chiaki an sich drückte. Doch etwas veränderte sich auf einmal, was Mimi gut beobachten konnte. Sie wusste nicht genau, was Noriko mit Chiaki besprochen hatte, aber beide wirkten viel glücklicher auf sie. Noriko ließ ihn wieder los, doch er hielt sie weiterhin in seiner Umarmung fest, fuhr ihr über die kurzen Haare, während Noriko schüchtern lächelte. Plötzlich reckte sie sich ihm entgegen und Mimi sah, wie sie ihre Lippen aufeinander legten. Für einen Moment blickte sie ungläubig in die Ecke, doch sie halluzinierte nicht. Die beiden küssten sich tatsächlich. You don’t want me, no You don’t need me Ein wenig wehmütig wandte sie den Blick von ihnen und konzentrierte sich ganz auf den Text, den mitten in der Nacht unter Tränen verfasste. Sie erinnerte sich noch gut an das Gefühl des Schmerzes und der Hilflosigkeit, dass sie empfand und immer wieder empfinden würde, wenn sie nicht losließ. Es verletzte sie, nicht so von ihm wahrgenommen zu werden, wie sie ihn wahrnahm. Es verletzte sie, dass er kaum noch mit ihr sprach oder ihr Beleidigungen an den Kopf warf. Doch am meisten verletzte sie, dass er sie nicht so lieben konnte, wie sie es tat. Sie senkte den Kopf und kämpfte mit ihrer eigenen Stimme. Die Emotionen übermannten sie und Mimi bemerkte nur noch eine Nässe, die ihre Wangen hinunter lief. And I want you in my life And I need you in my life Man konnte sich nicht aussuchen, in wen man sich verliebte. Aber man konnte selbst entscheiden, dem Schmerz ein Ende zu bereiten. Es half ihr ungemein über ihre Gefühle zu singen und sie war sich auch sicher, dass keiner im Publikum merkte, dass sie leise vor sich hin weinte. Nur Masaru schenkte ihr einen kurzen aufmunternden Blick, den sie nur knapp erwiderte. Es fiel ihr schwer, aber es war auch unsagbar befreiend, dass auszusprechen, was sie sonst immer für sich behielt. Sie saß mitten auf der Bühne, hielt eine Hand am Mikro und ließ sich fallen, da sie wusste, dass jemand da, der sie wieder auffing. _ „Oh mein Gott, das war einfach unfassbar toll“, quietschte Noriko und fiel ihr um den Hals. Mimi strauchelte kurz, kam aber mit ihr zum Stehen und erwiderte ihre herzliche Umarmung. „Du hast mir wirklich einiges zu erklären, meine Liebe“, flüsterte sie in ihr Ohr und grinste verschwörerisch. Noriko löste sich von ihrer Umarmung und wurde prompt ein wenig rot um die Nase, dass das grelle Licht nur verschlimmerte. „Später, okay?“, antwortete sie mit einem vielsagenden Lächeln und zwinkerte ihr zu. Mimi lachte nur und hielt bereits Ausschau nach ihrer Mutter, die von der Bühne aus nicht finden konnte. „Sag mal, hast du meine Mutter gesehen?“, fragte Mimi an Noriko gewandt, obwohl sie sie immer noch mit ihren Augen suchte. „Ehm ja, vorhin. Ich glaube Etsukos Vater bespricht gerade mit ihr noch den Dienstplan für nächste Woche“, erklärte sie kurz und fuhr sich über ihre Haarstoppeln. „Wird mich Deine umbringen, wenn sie das sieht?“ Etwas verunsichert starrte sie zu Noriko, die nur ein mattes Lächeln auflegte. „Sie weiß Bescheid. Mach‘ dir da mal keine Gedanken.“ „Hast du dir schon überlegt, wie wir beide zum Reden bewegen wollen?“, hakte Mimi skeptisch nach. Irgendwie war ihr immer noch nicht so ganz wohl bei ihrem Vorhaben. So richtig abgesprochen hatten sie das Ganze nicht. Sie hatten einfach etwas getrickst und ihre beiden Mütter zu ihrem Auftritt bestellt, ohne der jeweils anderen zu sagen, dass die andere auch käme. Sie war sich nicht sicher, ob das die beste Idee war. „Wie sie wohl reagieren werden…?“ Noriko legte den Kopf zu Seite und bewegte die Lippen von links nach rechts. „Ich gehe davon aus, dass sie es schon längst ahnen. Wir unternehmen so viel miteinander, dass das wohl unvermeidlich bleibt“, sagte sie nüchtern und lächelte leicht. Sie sah direkt hinter Mimi. Überrascht drehte sie sich herum und erkannte, wie ihre Mutter strahlend auf sie zugelaufen kam. Sie stieß einen schrillen Schrei aus und umarmte Mimi stürmisch. „Ihr wart so toll“, säuselte sie ihr ins Ohr und drückte sie so fest, dass Mimi zu ersticken drohte. „Mama, ich bekomme kaum noch Luft“, krächzte sie außer Atem. Abrupt ließ sie sie los. Das Strahlen war immer noch in ihren Augen zu sehen. Sie strotzte vor Stolz und drohte ihr erneut um den Hals zu fallen, als ihre Mutter Noriko wahrnahm. Beide hatten sich noch nicht so oft gesehen. Mimi konnte sich daher vorstellen, dass es für sie nach wie vor komisch war, dem Kind gegenüberzustehen, das aus einer Affäre ihres Mannes entstanden war. „Hallo, wie geht es dir denn?“, fragte Satoe behutsam und musterte ihre kurze Frisur, was Mimi nicht unbemerkt blieb. „Mama, starr‘ nicht so“, forderte sie sie auf und sah entschuldigend zu Noriko die nur mit der Hand abwinkte. „Ich bin sowas gewöhnt. Aber mir geht es soweit gut, danke der Nachfrage“, antwortete sie ehrlich und entschuldigte sich kurz bei ihnen. Mimi schluckte, da sie wusste, dass Noriko ihre eigene Mutter suchen wollte. Nervös kaute sie auf ihrer Unterlippe herum und bemerkte erst gar nicht, dass ihre Mutter sie sorgenvoll betrachtete. „Ist alles okay? Du bist so angespannt. Wartest du noch auf jemanden?“ Ihr Blick richtete sich in die Menge, doch Noriko blieb vorerst verschollen. Die Jungs hatten sich mit Etsuko an die Bar verzogen, während Mimi und ihre Mutter am Rande der Tanzfläche standen. Neben ihnen wurde ausgelassen getanzt, als bei Mimi die Anspannung ins Unermessliche stieg und ihre Finger zu zittern begannen. „Mimi?“ Ihre Mutter berührte sie sachte am Arm. Sie schrak kurz zusammen, blickte wieder zur Menschenmenge und entdeckte Noriko direkt auf sie zukommen. „Mama, ich…“ „Satoe?“ Ihre Mutter drehte sich um, als sie ihren Namen hörte und blickte direkt in die Augen ihrer ehemaligen besten Freundin. „Mimi, was ist hier los?“, brachte sie nur zu Stande und sah sie irritiert an. Ayame wirkte weniger überrascht und schielte wissend zu ihrer Tochter, die sich ein Grinsen nicht verkneifen konnte. „Überraschung?“, meinte Noriko kleinlaut, während ihre Mutter herzlich seufzte. „Das war geplant!“, stellte Ayame mit verschränken Armen fest und blies sich eine Strähne aus dem Gesicht. „Stimmt das etwa, Mimi?“ Satoe wandte sich ihr zu, während Mimi ihr einen gequälten Gesichtsausdruck zuwarf. „Wir wollten einfach nochmal erreichen, dass ihr miteinander redet“, warf Noriko ein und zuckte mit den Schultern. „Es ist noch so vieles ungeklärt.“ „Ja, genau“, stimmte Mimi bedrückt mit ein und erntete von ihrer Mutter direkt einen bösen Blick. Sie hatte zwar gesagt, dass ihr Ayames und Norikos Situation leidtat, doch das hieß noch lange nicht, dass sie bereit war mit ihr zu reden. „Überlegt es euch doch nochmal! Für uns!“, bettelte Noriko hilflos. Satoe und Ayame blicken sich kurz an. Keiner der beiden Mädchen konnte so richtig, deuten was in ihren Köpfen vorging. Angespannt warteten sie auf eine Antwort. Kapitel 38: Okay? Okay. ----------------------- „Ich kann immer noch nicht glauben, dass sie sich treffen“, sagte sie verwundert und hielt den Hörer zwischen ihrem Ohr und ihrer Schulter fest. Ihre Haare hatte sie zu einem unordentlichen Dutt zusammengebunden, der recht locker auf ihrem Kopf saß. Ein paar Strähnen hatten sich daraus gelöst und hingen ihr leicht gewellt ins Gesicht. „Ich war auch überrascht, aber Hartnäckigkeit lohnt sich eben doch manchmal“, tönte die Stimme am anderen Ende der Leitung großspurig. „Was machst du gerade?“ Mimi stand am Herd und grinste. „Ich koche, naja jedenfalls versuche ich es gerade.“ Sie sah in die Pfanne und roch den zarten Duft von gebratenem Fleisch aufsteigen. „Solange es nicht anbrennt, kann man es sicher noch essen“, witzelte Noriko. Ein Grinsen war aus ihrer Stimme praktisch rauszuhören, da sie genau wusste, dass Mimi besser backen statt kochen konnte. „Sehr witzig“, zischte sie, musste sich aber ebenfalls ein Lächeln verkneifen. Ihr Blick wanderte zur Uhr und Mimi wunderte sich ein wenig, dass ihre Mutter noch nicht zurück war. Sie und Ayame hatten sich auf einen Kaffee verabredet. Mittlerweile war es weit nach sechs. „Glaubst du, dass alles in Ordnung ist? Die beiden sind schon ziemlich lange weg“, stellte Mimi nüchtern fest. „Naja offene Gespräche dauern eben“, erwiderte Noriko nur. „Ich würde mir erst Gedanken machen, wenn beide morgen früh noch nicht zu Hause sind.“ Ihre Besorgnis hielt sich also in Grenzen. Doch Mimi war bei der ganzen Sache von Anfang an nicht richtig wohl gewesen. Natürlich war es wichtig auch einmal die andere Seite der Geschichte zu hören, aber Mimi kannte ihre Mutter. Sie wusste, dass die Wahrheit sie verletzte und sie meist von ihren eigenen Gefühlen überrollt wurde. In Gefühlsdingen war ihre Mutter schon immer sehr verletzlich gewesen, genau wie sie. Mimi hatte die Befürchtung, dass sie wieder zu einem seelischen Wrack mutierte und ins Bodenlose fiel, gerade wo es ein bisschen bergauf ging. Doch das konnte sie Noriko nicht sagen. Es war ihr Wunsch gewesen, dass sich ihre Mütter noch einmal aussprechen und sich vielleicht sogar wieder annäherten, auch wenn Mimi es bezweifelte. „Was planst du eigentlich für deinen Geburtstag?“, lenkte Mimi plötzlich auf ein anderes Thema, nachdem ihr Blick kurz den Kalender streifte. Mittlerweile war schon die Hälfte des Septembers einfach so verstrichen, ohne dass sie es wirklich bemerkt hatte. Noriko hatte in einer Woche bereits Geburtstag. Ihr Achtzehnter. Wohlmöglich ihr Letzter. Mimi schluckte. Auf einmal bereute sie es ungemein überhaupt gefragt zu haben. Wie taktlos konnte sie nur sein? Noriko hatte sicher keine Lust, sich mit ihr über ihren baldigen Geburtstag zu unterhalten. Für sie war es doch ohnehin schon schwer genug. „Also, ich denke, ich werde das Gleiche machen wie jedes Jahr. Zu viel Schokolade essen und Alice im Wunderland schauen. Traditionen muss man eben beibehalten“, antwortete sie und kicherte. Erleichtert entspannte sich Mimis angestrengtes Gesicht, das sich gebildet hatte. „Du bist selbstverständlich eingeladen! Ich würde mich freuen, wenn du zu meiner Megaparty kommen würdest“, ergänzte sie gespielt ernst. „Ich werde bestimmt ein wenig Zeit finden dich mit meiner Anwesenheit zu beglücken“, kam es von Mimi, die immer noch in ihrer Wok-Pfanne rührte. „Ich fühle mich geehrt! Ich setze schon mal eine größere Portion Schokolade auf die Einkaufsliste.“ Mimi lachte und hörte wie die Haustür ins Schloss fiel. Sie beugte sich neugierig nach hinten, konnte aber nicht erkennen, wer gekommen war. „Wir reden später weiter! Ich glaube, meine Mutter ist gerade gekommen“, informierte sie sie knapp, verabschiedete sich und legte auf. Unbeirrt rührte Mimi weiter und wollte ihre Mutter nicht gleich überfallen, als sie wankend in die Küche trat und sich am Tisch niederließ. Skeptisch musterte sie ihre Mutter von oben bis unten, den Kochlöffel immer noch in ihrer Hand. Ihre Wangen hatten einen rötlichen Schimmer und ein seltsames Grinsen hatte sich über ihre Lippen gelegt. Sie hickste kurz, als sie leicht lallend fragte, was es zu essen gab. „Bist du betrunken?“, fragte Mimi empört und stemmte einen Arm in ihre Hüfte. Mit der anderen Hand hielt sie den Kochlöffel fest umschlossen und wedelte damit umher. „Vielleicht ein bisschen angeschickert“, antwortete sie nur und lachte. Mimi klappte nur fassungslos der Mund auf. „Ich dachte, ihr wolltet miteinander reden?“ „Das haben wir auch. Dann kam der Sekt“, sagte sie heiter und sah sie mit großen Augen an. „Das ist jetzt nicht dein Ernst“, antwortete sie entrüstet und verschränkte die Arme vor der Brust. „Schätze schon.“ Sie versteckte ihr Gesicht hinter ihren Händen und gackerte wie eine Henne, bis ihr die Luft ausging und sie rot anlief. Völlig entsetzt schüttelte Mimi den Kopf und sah wie ihre Mutter fast den Stuhl hinuntersegelte und sich gerade noch so an der Lehne festhalten konnte. „Und? Wie sieht’s jetzt zwischen euch aus?“ „Zwischen wem?“, hakte sie nach und hob fragend den Kopf. „Zwischen dir und Ayame?“ „Ah, naja wir haben geredet und das war wirklich aufschlussreich, aber dann kam der Sekt! Und er war so lecker“, erwiderte sie verträumt, hatte allerdings Schwierigkeiten sich aufrecht zu halten. Mimi fasste sich nur an die Stirn und massierte sich die Mitte. Ihre Mutter und Alkohol? Das ging niemals gut. Plötzlich vernahm Mimi den Geruch von angebranntem Fleisch und drehte sich erschrocken zum Herd. „Scheiße“, fluchte sie, als auch noch zusätzlich Rauch aufstieg. Sie rannte zum Herd, stellte ihn aus und nahm die Pfanne von der Platte. „So ein verdammter Mist“, wetterte sie und sah zu ihrer Mutter, die noch nicht mal richtig wahrgenommen hatte, dass ihr das Essen angebrannt war. Enttäuscht blickte sie in die Pfanne und betrachtete niedergeschlagen den Inhalt. Ihre Mutter war neben sie gewankt und legte den Kopf schief. „Also Mimi, das war etwas zu viel des Guten“, meinte sie und stocherte mit dem Finger im Fleisch herum. „Das würde ich jetzt nicht mehr essen.“ „Danke, hatte ich auch nicht vor“, grummelte sie und verzog die Augen zu Schlitzen. Ihre Mutter lächelte nur und tätschelte ihre liebevoll den Kopf, bevor sie sich entfernte. „Ich gehe jetzt mal duschen! Ich rieche wie ein Aschenbecher“, stellte sie entsetzt fest und verschwand ins Badezimmer. Mimi blickte ihr nachdenklich hinterher. _ „Ich finde es echt komisch einem merkwürdigen Kaninchen hinterher zulaufen“, meinte Mimi skeptisch und legte den Kopf schief. „Aber es trägt Kleider und hatte eine riesige Taschenuhr dabei. Außerdem kann es reden! Da würde ich auch hinterher laufen“, stimmte Noriko mit ein und griff nach dem Popcorn. Mimi beobachtete wie sie eine Handvoll davon in ihrem Mund verschwinden ließ. Sie hatten den ganzen Tag zusammen verbracht, gemeinsam mit ihrer Mutter Kuchen gegessen und sich später mit den Jungs getroffen. „Schade, dass die Jungs nicht mitgucken wollten“, sagte Mimi und studierte ihre Reaktion. Chiaki und sie waren so etwas Ähnliches wie ein Paar, auch wenn sie nicht wirklich etwas zu ihrer Beziehung sagten. Ihre Blicke verrieten eigentlich alles, auch wenn sie sich in der Gegenwart der anderen zurückhielten. Es hatte sich etwas verändert das klar und deutlich zu spüren war. Und Mimi war froh, dass sie in ihrer Situation das Lieben nicht verlernt hatte. Sie wusste, wie schlecht es ihr zurzeit ging, da sie die Chemo nicht sonderlich gut vertrug, sich oft deswegen erschöpft fühlte und manchmal sogar ihr Essen nicht bei sich behalten konnte. Heute war ein guter Tag, auch wenn sie mittlerweile mit immer schwerer werdenden Augen den Film, den sie über alles liebte, verfolgte. „Ach, ich nehme es ihnen nicht übel. Sie sind eben wahre Männer, obwohl Yasuo sicher gerne mitgeguckt hätte“, kicherte sie und fuhr sich über die kurzen Haare. „Yasuo kann man wirklich noch gut beeinflussen.“ „Fragt sich nur noch wie lange“, gähnte Noriko, „ich hoffe wirklich, dass er nicht so ein Gefühlsklotz wie Masaru wird.“ Mimi wurde hellhörig. Masaru war wirklich ein Gefühlsklotz, den man nur schwer einschätzen konnte, wenn man ihn nicht näher kannte. „Er hat es mit seinem Vater nicht leicht“, stellte Mimi resigniert fest. „Beide haben es nicht leicht. Die Mutter hat keine eigene Meinung und steht unter der Fuchtel ihres Ehemanns und er? Ich habe ihn einmal erlebt…ich glaube, da ist es wirklich besser keinen zu haben“, antwortete Noriko zähneknirschend. Unbemerkt schielte Mimi zu ihr rüber. Ihre Hände verkrampften sich vor ihrem Schoss und in ihrem Kopf bildete sich dichter Nebel. Ihr Herz zog sich schmerzvoll zusammen und signalisierte ihr, dass sie etwas vermisste. Nein. Jemanden vermisste. Geistesabwesend kaute sie auf ihrer Unterlippe herum, sodass sie leicht blutete. Sie vermisste ihn unheimlich, auch wenn er ihr und ihrer Mutter so wehgetan hatte. Genau genommen hatte er noch viel mehr Menschen wehgetan. Ihr Blick wurde gläsern. Der Schmerz in ihrer Brust verschlimmerte sich und nahm ihr die Luft zum Atmen. Sie hatte das Gefühl, dass sich eine unsichtbare Schlinge um ihren Hals legte und sich langsam zuzog. Sie war in einem Zwiespalt gefangen. Auf der einen Seite war ihre Familie, die auseinanderbrach. Ihr Vater, der sich zurzeit in Hong Kong befand und von dem sie schon seit Wochen nichts mehr gehört hatte, weil sie seine Nähe nicht ertragen konnte. Auf der anderen Seite waren Noriko und ihre Mutter, die irgendwie auch zu ihrer Familie gehörten, aber sich dennoch abgrenzen. Das Gespräch zwischen Ayame und ihrer Mutter hatte nichts Weltbewegendes geändert, abgesehen von der Tatsache, dass sich ihre Mutter betrunken und in die Toilette übergeben hatte. So richtig wussten die beiden Mädchen immer noch nicht, was ihre Mütter miteinander besprochen hatten, aber es half, die jetzige Situation besser zu akzeptieren, auch wenn noch einige Gespräche untereinander nötig waren. Doch sie lebten im hier und jetzt. Es brachte nichts, sich über die Vergangenheit aufzuregen und die Zukunft zu planen, da das eine bereits vergangen und das andere noch nicht wirklich begonnen hatte. „Ich würde sagen, dass wir langsam mit der Schokolade beginnen“, riss Noriko sie aus ihren Gedanken und grinste frech, als sie vom Bett aufsprang. Als sie wiederkam, hatte sie die verschiedensten Sorten auf ihr Bett geworfen und krabbelte wieder zu Mimi. Der Film war eher nebensächlich geworden. „Der Verkäufer hat mich sau dämlich angeschaut, weil ich so viele verschiedene Sorten mitgenommen habe.“ Sie grinste. „Vielleicht lag es auch an meiner kurzgeschorenen Mähne.“ „Ach was“, winkte Mimi ab, „dir stehen kurze Haare unglaublich gut!“ „Danke, aber manchmal vermisse ich die langen Haare schon“, erwiderte sie leicht niedergeschlagen und lächelte milde. „Aber sie wären ja sowieso ausgefallen.“ Sie zuckte nur mit den Achseln und sah Mimi dringlich an, so als würde sie eine Antwort oder Reaktion von ihr erwarten, die ihre Aussage untermauerte. Mimi sah nur unsicher zu dem Berg Schokolade und dann wieder zu ihr. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Ihre langen Haare hatte sie schon bei ihrer ersten Begegnung bewundert gehabt, auch wenn sie es ihr nie gesagt hatte. Es stimmte zwar, dass ihr kurze Haare standen, doch man konnte klar erkennen, dass diese Frisur nicht aus einem Trend geboren war, sondern ihr jeden Tag zeigte, dass sie bald sterben würde. „Was ist denn?“, fragte Noriko, als sie Mimis trauriges Gesicht bemerkt hatte. Mimi zog die Mundwinkel leicht nach oben und senkte den Kopf. Ihr Blick war auf ihre Bettwäsche gerichtet. Mit den Fingern zupfte sie am weichen Stoff, so als wollte sie ihr klar machen, dass sie nicht wirklich darüber reden wollte. Schließlich war es Norikos Geburtstag. Sie wollte ihr nicht die Laune mit ihrer sentimentalen Stimmung verderben, doch ihre Zunge war mal wieder schneller als ihr Verstand. „Hast du Angst?“ Ihre unüberlegten Worte erschütterten sie selbst. Unter Schock riss sie die Augen auf und hielt sich die Hand vor den Mund. Norikos Blick war unergründlich. „T-Tut mir leid! Das war dumm“, brachte sie stotternd hervor. Doch Norikos Blick wurde auf einmal ganz sanft und ein leichtes Lächeln zierte ihre Lippen. „Nein, ist es nicht“, antwortete sie mit beruhigender Stimme. „Angst habe ich nicht so wirklich, aber ich würde gerne noch ein paar Dinge vorher erledigen, deswegen hoffe ich, dass ich noch ein bisschen Zeit haben werde.“ „Verständlich“, murmelte Mimi bedrückt. Die seltsame Stimmung blieb aus, auch wenn Mimi ein schlechtes Gewissen hatte. Früher brüllte sie meist ihre ehrliche aufrichtige Meinung heraus, ohne zuvor einen klaren Gedanken gefasst zu haben. Diese direkte Art kam in Amerika nicht immer gut an. Mit vielen Mitschülern war sie anfangs aneinander geeckt, bis sie lernte sich zu intergieren und manchmal auch die Klappe zu halten, auch wenn ihr kecker Spruch bereits auf der Zunge lag. Sie hatte gelernt, dass es nicht immer gut war, seine Meinung offen zu äußern, auch wenn sie spürte, dass sie sich dadurch ein wenig selbst verlor. Die Mimi, die sie früher war, die allen verkündete, was in ihr vorging, was ihr passte und was nicht…oft vermisste sie sie. Plötzlich spürte sie, wie sich ein Arm um die legte. Sie sah zur Seite und erkannte, wie Noriko sie an sich drückte. Ohne etwas zu sagen. Sie spürte nur ihre Wärme, die durch ihren Körper zirkulierte. „Es wird schon alles gut werden, okay?“ Mimi schmunzelte leicht und drückte sie ein wenig fester an sich, bevor sie ihr antwortete. „Okay.“ Kapitel 39: Hier und Jetzt -------------------------- Sie öffnete die Tür und stolzierte freudig in die leere Wohnung, die sich in einem Mehrfamilienhaus befand. Man hörte die Absätze ihrer Schuhe auf dem Laminatboden klackern und ein wiederkehrendes Hallen war zu hören. „Und was sagst du? Schön, oder?“ Ihre Mutter breitete die Arme aus und tänzelte durch das offene Wohnzimmer mit angrenzender Küche. „Wir haben sogar einen kleinen Balkon“, verkündete sie euphorisch und ging zur Balkontür, um Mimi ihr persönliches Highlight der Wohnung zu zeigen. Skeptisch blieb sie immer noch am Eingang stehen und schaute sich langsam um. Sie konnte nicht leugnen, dass ihr der Gedanke wenig gefiel, dass sie aus ihrem schönen Haus in ein Mehrfamilienhaus umziehen mussten. Sie hatten einen großen Garten und Mimi mochte ihr Zimmer, dass sie damals nach ihren Wünschen eingerichtet hatte. Doch blieb ihr eine Wahl? Nein. Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt und ging zur kleinen Küche. Ihr hoher Zopf wippte Schritt für Schritt mit und ein paar Haare fielen ihr ins Gesicht, als sie sich bückte und die unteren Schränke inspizierte. Es war nicht sonderlich groß, aber für sie beide würde es sicherlich reichen. Sie hatten einen kleinen Herd und einen mittelgroßen Kühlschrank, der ihnen der Vorbesitzer überlassen hatte. „Wo finde ich denn mein neues Zimmer?“, fragte Mimi interessiert und richtete den Blick zu ihrer Mutter, die zu Grinsen begann. „Komm mit, ich zeig‘ dir, wo es lang geht“, sagte sie und winkte sie zu sich. Etwas genervt trottete Mimi ihr hinterher. Zuerst zeigte sie ihr das kleine Badezimmer, das eine Dusche und Badewanne in einem hatte. Dann öffnete sie die Tür zu ihrem einen Zimmer, das wirklich winzig war. Sobald ein Schrank und ein Bett drinnen stehen würden, war es voll – wortwörtlich. Sie hoffte wirklich, dass Ihres etwas größer war. „So, kommen wir nun zu deinem Zimmer“, kündigte sie groß an und platzte förmlich vor Freude, was Mimi nicht sonderlich verstehen konnte. Doch nachdem sie das Zimmer betreten hatten, war auch sie sprachlos geworden. „Wow, das ist ja riesig!“, stellte sie erstaunt fest und ging zur Raummitte. Die Wände waren weiß und ein großes Fenster spendete dem Zimmer genügend Licht. „Ich habe mit der Vermieterin gesprochen…wenn du willst kannst du sogar die Wände in deiner Lieblingsfarbe streichen.“ „Das wäre wirklich cool“, brachte sie noch hervor, bevor ihre Mutter ihr das Wort abschnitt. „Rosa stelle ich mir hier drinnen sicher toll vor“, meinte sie träumerisch und richtete scheinbar schon gedanklich ihr Zimmer ein, als Mimi sachte den Kopf schüttelte. Sie wollte kein Rosa-Mädchenzimmer. „Ich denke eine farbliche Veränderung wäre auch nicht so schlecht“, erwiderte sie gedankenverloren. Überrascht zog ihre Mutter eine Augenbraue in die Höhe. „Ach ja? Und in welcher Farbe willst du es streichen?“ Mimi lächelte nur und drehte sich ihrer Mutter zu. „Grün“, antwortete sie strahlend und fing den irritierten Blick ihrer Mutter sofort auf. „Grün?“, wiederholte sie misstrauisch. Mimi nickte nur. „Okay, wie du willst. Es ist ja dein Zimmer“, ruderte sie plötzlich zurück und schlenderte zu dem großen Fenster. Auch Mimi ging interessiert zu ihr und starrte hinaus. Der Ausblick war nicht sonderlich berauschend. Man konnte viele Häuser erkennen, ein wenig Grünzeug und ein paar Leute, die die Straßenseite wechselten. „Wir bekommen das schon hin“, meinte ihre Mutter auf einmal und erweckte Mimi Aufmerksamkeit. „Klar, bekommen wir das hin“, bestärkte Mimi sie und legte ihre Arme um sie. „Wir sind ein Spitzenteam!“ Ihre Mutter lächelte und tätschelte mit ihrer Hand Mimis Oberarm. „Ich weiß, aber trotzdem möchte ich noch etwas mit dir besprechen.“ Ihre Stimme klang ernst und Mimi ließ sie sofort los. Angestrengt sah sie zu ihr, konnte sich aber nicht zusammenreimen, was sie ihr sagen wollte. Ihr Gesicht wirkte angestrengt, so als wollte sie nicht gerne darüber sprechen. Sie lehnte sich gegen das Fensterbrett und fixierte Mimi nachdenklich. „Dein Vater kommt bald aus Hong Kong wieder. Vor ein paar Tagen hatten wir telefoniert und einige Dinge besprochen.“ Mimi schluckte und verschränkte die Arme hinter ihrem Rücken, damit ihre Mutter nicht sehen konnte, wie sehr ihre Finger zitterten. Solche Telefonate klangen nie gut. „Und was gibt´s?“, fragte Mimi und versuchte eher desinteressiert zu klingen, auch wenn sie vor Neugier förmlich explodierte. „Wir werden uns scheiden lassen!“, sprach sie aus und Mimi wurde mit der vollen Wucht dieses Satzes getroffen, sodass sie ihre Emotionen nur schwer kontrollieren konnte. Das innere Kind in ihr hatte immer noch gehofft, dass sich beide wieder versöhnen würden. „Oh“, murmelte sie erstickt und senkte den Kopf. Ein Kloß hatte sich in ihrem Hals gebildet, den sie verzweifelt versuchte hinunterzuschlucken, ihr jedoch immer weiter die Tränen in die Augen trieb. Plötzlich spürte sie wie ihre Mutter ihr Kinn abhob und sie zwang, sie anzuschauen. Tränen lösten sich und rannen ihre Wangen hinunter. Der besorgte Blick ihrer Mutter machte es nicht besser. „Es tut mir leid, dass es soweit kommen musste, aber ich kann ihm nicht mehr vertrauen“, sagte sie schwach und Mimi erkannte das auch ihr Tränen in den Augen standen. Mimi schüttelte nur den Kopf und fuhr sich mit dem Ärmel ihrer Strickjacke über ihre Augen. „Ich kann dich verstehen! Ich bin immer noch so böse auf ihn und kann seine Gegenwart nicht ertragen. Ich möchte nicht wissen, wie es dir damit geht“, flüsterte sie und unterdrückte einen Seufzer. Sie umfasste ihr Gesicht. Ihr Blick war liebevoll, aber auch etwas traurig. „Mir geht es gut. Du brauchst dir um mich keine Sorgen zu machen! Es wird schon wieder alles gut werden!“ _ Sie hielt an der Seite an und Mimi schnallte sich ab. Ihre Mutter hatte sie direkt nach der Besichtigung am Nachmittag zu Kari gefahren, die sie gestern beim Tanztraining spontan gefragt hatte, ob sie nicht bei ihr übernachten wollte. Mimi drehte sich herum und griff nach ihrer Tasche, die auf der Rückbank des Wagens lag. „Ich hoffe, du hast heute Abend viel Spaß. Ist er denn auch zu Hause?“, fragte sie interessiert und Mimi wusste sofort, wen sie mit er meinte. Sie senkte den Kopf und hielt kurz inne. Ihre Hand, die bereits die Wagentür öffnen wollte, verkrampfte sich und sie zog sie wieder zurück. „Nein, er ist mit Sora unterwegs“, antwortete sie niedergeschlagen. Die beiden versuchten nach wie vor an ihrer Freundschaft zu arbeiten, auch wenn das alles andere als einfach war. Was wenn Tai wieder versuchte ihr näher zu kommen? Bisher war Sora standhaft geblieben. Die Frage war, für wie lange noch? „Oh, heißt das etwa…“, hakte sie vorsichtig nach. Doch Mimi brauchte nichts zu sagen, da ihre Mutter ihren Blick genau deuten konnte. „Ist alles okay. Sollte eben nicht sein“, sagte sie und versuchte es hinunter zu spielen. Es so aussehen zu lassen, dass es ihr eben nichts ausmachte, auch wenn es ihr zusätzlich das Herz zerbrach. Gerade als ihre Mutter ansetzte wieder etwas zu sagen, öffnete Mimi die Wagentür und stieg aus. Sie kannte ihre altbekannten Sätze und war im Moment nicht in der Stimmung sie zu ertragen, auch wenn es ihre Mutter nur gut meinte. Ihr ging es sicher nicht anders. „Mir geht es gut“, versicherte sie ihr, als sie den Kopf nochmal zur Beifahrerseite hineinstreckte. Ihre Mutter nickte nur schwach und wünschte ihr viel Spaß. Danach schlug Mimi die Tür zu und der Wagen fuhr lautlos davon. Sie atmete tief durch und machte sich auf den Weg zu der Wohnung der Yagamis. Etwas außer Atem kam sie vor der Wohnungstür zum Stehen und betätigte die Klingel. Ihre Tasche hielt sie mit beiden Händen fest umklammert und wartete bis Kari ihr öffnete. Sie und Tai hatten sturmfrei, da ihre Eltern zu einem Wellnesswochenende aufgebrochen waren. Den halben Abend würden sie alleine verbringen, da Tai mit Sora gemeinsam einen Vergnügungspark besuchen wollte, der vor kurzem erst eröffnet hatte. Sora hatte sie erst gefragt, ob sie mitkommen wollte, doch sie hatte abgelehnt, da sie nicht schon wieder in diese komische Situation mitreingezogen werden wollte. Es war eine Sache zwischen Sora und Tai. Sie hatte genug andere Probleme. „Ich komme“, hörte sie Kari von Innen rufen. Ein paar Sekunden später wurde ihr die Tür geöffnet. Kari hatte bereits ihre Pyjamahose an und begrüßte sie herzlich. „Dein Bett habe ich schon vorbereitet“, flötete sie fröhlich und ließ sie hinein. „Willst du eher was kochen oder wollen wir eine Pizza bestellen?“ Mimi erinnerte sich an ihren letzten Kochversuch und der beißende Geruch von verbranntem Fleisch stieg ihr automatisch in die Nase, sodass ihr sich die Nackenhärchen leicht aufstellten. „Pizza klingt gut“, meinte sie überzeugend und zog ihre Schuhe aus. „Okay gut, dann bestelle ich gleich! Wenn du willst kannst du dir noch etwas Bequemes anziehen“, schlug Kari vor, da Mimi noch ihre Jeans anhatte. Sie nickte nur verhalten und brachte ihre Sachen in Karis Zimmer. Schnell entledigte sie sich ihrer Jeans und schlüpfte ebenfalls in ihre Pyjamahose. Sie fragte sich, wie Tai später auf sie reagieren würde und ob neuer Streit vorprogrammiert war. Kari schien nichts von dem mitbekommen zu haben, weshalb Mimi sich auch wenig wunderte, dass sie sie einlud. Beide hatten schon länger geplant gehabt, auch mal etwas zu zweit zu unternehmen, gerade weil Kari auch die einzige war, die von ihren Gefühlen zu Tai wusste. Doch Mimi zierte sich, da sie ihre mitleidigen Blicke nicht ertragen konnte. Nicht jetzt. Gerade wo alles so den Bach hinunterging. Dennoch hatte sie sich dazu durchgerungen heute bei ihr zu übernachten, da sie der Überzeugung war, dass Kari sie in Ruhe ließ, wenn sie nicht selbst das Thema ansprach. Außerdem würde Tai auch irgendwann wieder zu ihnen stoßen und sie wollte sicher nicht Gefahr laufen, vor ihm aufzufliegen. Langsam trottete sie wieder ins Wohnzimmer und sah wie Kari bereits eine Schüssel mit Chips befüllte und auf den kleinen Glastisch stellte. „Ich habe auch Filme besorgt“, meinte sie euphorisch und hielt zwei DVDs in die Höhe. „Ich konnte mich nicht entscheiden und wir werden ja bestimmt eine Zeitlang auf bleiben.“ „Ach die beiden Filme klingen doch gut“, antwortete Mimi verhalten, da es zwei romantische Komödien waren, die zu Mimis Stimmung komplett konträr waren. Doch vielleicht halfen sie ja, sie ein wenig aufzuheitern, auch wenn ihr wohl eher nach einem Drama zu Mute war. „Okay“, sagte Mimi und klatschte in ihre Hände, „wann kommt die Pizza?“ _ Sie hatten sich auf der Couch ausgebreitet. Vor ihnen erstreckten sich zwei Pattkartons mit Salamipizza, eine Schüssel mit gesalzenen Chips und eine weitere Schüssel mit süßem Popcorn. Nebenher lief der Film „...und dann kam Polly“, der wirklich viele witzige Momente hatte. Mimi musste mehr als einmal herzlich lachen und hatte sich sogar beinahe an ihrer Cola verschluckt, die Kari ihr kurz zuvor eingeschenkt hatte. Als sie ungefähr die Hälfte des Filmes erreicht hatten, bemerkte Kari wie plötzlich ihre Haustür ins Schloss fiel und ein wütender Tai ins Zimmer gestürmt kam. Überrascht blickten sich die beiden Mädchen an und waren sichtlich über die verfrühte Heimkehr von Tai verwundert gewesen. „Was machst du denn schon hier?“, fragte Kari unbeirrt und stopfte sich ein paar Chips in den Mund. Tai gab nur einen undefinierbaren Laut von sich, zog seine Schuhe aus und warf seine Jacke über einen der Küchenstühle. „Man nerv‘ nicht“, gab er nur von sich und fixierte Mimi, die verschüchtert die Couch hinabrutschte. Er biss sich nervös auf die Unterlippe, konnte ihrem Blick aber nicht lange standhalten und steuerte deswegen ohne ein weiteres Wort zu verlieren direkt ins Bad. Die Tür schlug er mit einem lauten Knall hinter sich zu, sodass Mimi kurz aufschrak. „Der hat ja eine Laune“, kommentierte Kari das Verhalten ihres Bruders. „Ist er immer so drauf?“, hakte Mimi nach und runzelte die Stirn. Die arme Kari. Kein Wunder, dass sie lieber Zeit bei Takeru verbrachte. Tai war unmöglich. Wie er sie schon angesehen hatte…bestimmt war sie ein Dorn in seinem Auge. Traurig richtete sie den Blick wieder auf den Fernseher und seufzte herzlich. „Er wird hoffentlich in seinem Zimmer blieben“, murrte Kari und schüttelte ihre Haare. Mimi hingegen stierte in den Fernseher, obwohl sie insgeheim das Gleiche hoffte. Man hörte eine viertel Stunde das gleichmäßige Prasseln der Dusche, bis er ein paar Minuten danach oberkörperfrei aus dem Bad gestürmt kam. Er trug nur seine Boxershorts und es schien ihm auch egal zu sein, dass Mimi ihn so sah. Kari quietschte schrill auf, als er den Boden nass tropfte. „Man trockne dich mal richtig ab und zieh‘ dir was an! Wir haben einen Gast!“, forderte sie, doch Tai grinste nur selbstgefällig. Mimi versuchte ihn nicht zu auffällig anzustarren, auch wenn das was sie sah, ihr deutlich gefiel. „Ich glaube, Mimi hat sicherlich nichts dagegen, oder Mimi?“ „W-Was?“, stotterte sie und fühlte sich ertappt. Ihre Wangen glühten und die Hitze schien sich in ihrem ganzen Gesicht auszubreiten, was Tai sichtlich zu amüsieren schien. „Sie bekommt eben nicht jeden Tag solche Bauchmuskeln zu sehen“, tönte er großspurig und fuhr sich über seine durchtrainierte Brust, während Kari nur verächtlich schnaubte. „Zieh‘ dir was an! Nachher wirst du noch krank…wir haben keinen Sommer mehr“, tadelte sie und warf ein Kissen nach ihm, das er selbstverständlich sofort auffing. „Ist ja schon gut, du Spaßbremse!“, knurrte er, warf es zurück und verschwand in sein Zimmer. Mimi war währenddessen etwas näher an Kari herangerückt und zog sie an ihrem Arm näher an sich heran. Ihr Kopf war immer noch feuerrot, was ihm sicherlich nicht entgangen war. „Ahnt er irgendwas?“, flüsterte sie ihr verzweifelt zu. Erschrocken riss Kari die Augen auf. „Nein, ich habe ihm jedenfalls nichts gesagt!“ Mimi lehnte sich nachdenklich wieder zurück und drehte sich kurz zu seinem Zimmer um. „Bin ich sehr rot geworden?“, fragte sie und hielt ihre kühlen Handflächen gegen ihre heißen Wangen. Kari lächelte milde und verzog leicht das Gesicht. „Vielleicht ein wenig“, versuchte sie die Situation zu retten, doch Mimi wusste bereits, dass sie aussah wie eine reifgewordene Tomate. Sie fuhr sich einige Strähnen aus dem Gesicht und hoffte, dass ihre Gesichtsfarbe sich wieder normalisieren würde. Genervt tauchte Tai, diesmal in seinen Schlafsachen bekleidet, wieder im Wohnzimmer auf und ließ sich direkt neben Mimi auf der Couch nieder. „Was guckt ihr denn da für einen Mist?“, fragte er herablassend und stierte zum Fernseher. Es liefen die letzten Minuten des ersten Filmes, bis der Abspann einsetzte. Erleichtert schnaubte Tai und griff sofort zur Fernbedienung und war gerade im Begriff den DVD Player auszuschalten, als Kari empört die Stimme erhob. „Hey! Wir wollten noch einen Film gucken!“ „Nicht dein Ernst, oder?“, seufzte er und fasste sich an den Kopf. „Meckere nicht so viel und nimm‘ dir einfach ein Stück Pizza“, meldete sich nun auch Mimi zu Wort und deutete mit dem Kinn auf die Pattschachtel. „Wer hat dich denn gefragt?“, fragte er ruppig und verschränkte die Arme vor der Brust. „Man Tai, benimm‘ dich!“, ermahnte Kari ihn und warf ihm einen strafenden Blick zu. Tai verrollte nur die Augen und griff schlussendlich doch zu dem Stück Pizza. _ Angespannt saß sie neben ihm und hatte ihre Beine dicht an ihren Körper gepresst. „Willst du noch Popcorn?“, fragte Kari und reichte ihr die Schüssel. Mimi schüttelte nur den Kopf und stierte zum Fernseher. Ihr war die Situation unangenehm und sie hoffe noch immer, dass er nicht den ganzen Abend mit ihnen verbringen wollte. Doch ihre Hoffnungen schwanden, als er obendrein noch über den Film zu meckern begann. „Das ist doch mega anstrengend“, nörgelte er und schüttelte seine wilde Mähne. „Wer will denn schon eine Frau daten, die sich nach einem Tag nicht mehr an einen erinnern kann?“ „Du bist so unromantisch“, riefen Kari und Mimi im Chor und sahen ihn herausfordernd an. „Was ist daran denn romantisch? Er rackert sich voll ab und sie? Sie vergisst einfach alles!“ „Das macht sie doch nicht absichtlich“, meinte Kari und legte ihren Kopf auf ihren Knien ab. „Sie hatte einen schlimmen Autounfall!“ „Also ich finde es wirklich süß, wie er sich so um sie bemüht! Das zeigt, dass er sie wirklich liebt“, erkannte Mimi und sah verträumt zum Fernseher. Gemeinsam hatten sie den Film „50 erste Dates“ mit Adam Sandler angefangen. Während Kari und Mimi die Bemühungen des Hauptdarstellers rührend mitfolgten, zog Tai immer noch ein Gesicht wie drei Tage Regenwetter. „Das du sowas sagst, war mir klar gewesen“, entgegnete er herablassend und schielte kurz zu ihr, bevor er seinen Blick wieder abwandte. Mimi gab nur ein zischendes Geräusch von sich und versuchte ihn ab nun zu ignorieren. Doch immer wieder stieg ihr sein Duft in die Nase und reizte ihre Sinne. Er roch so unfassbar gut, dass sie ihn gar nicht wirklich ignorieren konnte. Ihre ungestillte Begierde nach ihm wuchs ins Unermessliche. Sie wusste nicht, wie sie den Abend überstehen sollte, wenn er so dicht neben ihr saß. Ihre Arme berührten sich leicht und eine zarte Gänsehaut überzog ihren Arm. Wieder und wieder schielte sie begierig zu ihm, auch wenn sie keine Reaktion von ihm erwartete. Doch diesmal war etwas anders. Zwar erwiderte er ihren Blick nicht, doch er begann sie auf einmal auffällig zu mustern, was ihr nicht entging, da sie heimlich zu ihm schaute. Er grinste immer wieder kurz und konnte komischer Weise kaum die Augen von ihr wenden. Ihr wurde allmählich heiß, da sie es nicht gewohnt war von ihm angestarrt zu werden. „Ich werde nochmal etwas Popcorn machen“, sagte Kari auf einmal, nahm die Schüssel und verschwand zur Kochnische. Kurz nachdem Kari außer Reichweite war, spürte wie Tai sich ihrem Gesicht gefährlich näherte, so als hätte er regelrecht auf ihre Abwesenheit hin gefiebert. Sie fühlte seinen Atem an ihrem Ohr und verkrampfte sich leicht, da sie nicht einschätzen konnte, was er vorhatte. „Ist dir kalt?“ „Was?“, fragte sie irritiert und sah ihn verdattert an. Ihre Gesichter waren sich ganz nah, sodass sie seine Blicke auf ihrer Haut deutlich spüren konnte. Er grinste lüstern und senkte seinen Blick. Mimi folgte ihm unbeirrt und erkannte schnell, dass er auf ihre Brüste guckte. Ihre Augen weiteten sich augenblicklich, als sie sah, was er sehen konnte. „Boah Taichi!“, quietschte sie schrill und stieß ihn unsanft weg, während er ein Kichern nicht unterdrücken könnte. „Was denn? Ist mir nur aufgefallen!“, verteidigte er sich und warf die Arme schützend vors Gesicht, als Mimi aufsprang und peinlich berührt ihre Brüste vor ihm verdeckte. „Du bist so ein Idiot“, zischte sie und stapfte wütend in Karis Zimmer. Sie hörte wie Kari den lachenden Tai fragte, was passiert war, doch er gab ihr keine Antwort, sondern kicherte unbeirrt weiter. Mit hochrotem Kopf kramte Mimi nach einem Jäckchen und zog es schnell über. Auch den Reißverschluss zog sie bis zum Anschlag nach oben, schaute kurz in den Spiegel und fuhr sich über ihre rotgewordenen Wangen. Wieso musste Tai nur so ein Idiot sein? Sowas konnte doch jedem Mal passieren, besonders wenn man fror, doch er machte sich einen Heidenspaß daraus. Angesäuert ging sie wieder zurück und wurde fragend von Kari empfangen, die bereits eine frische Schüssel Popcorn auf den Tisch gestellt hatte. Tai hatte sich währenddessen wieder etwas beruhigt, sah sie dennoch provokant an. „Was war denn los?“, hakte Kari nach, als Mimi über Tais Beine zu ihrem Platz stieg und sich fallen ließ. Mimi erwiderte seinen Blick herausfordernd. „Ach, dein Bruder hat wohl noch nie Brüste gesehen und war wohl etwas überrascht, dass sich ab und zu mal etwas abzeichnet.“ Kari runzelte die Stirn, während Tai lauthals protestierte. „Natürlich habe ich schon Brüste gesehen! Und ich weiß auch ziemlich gut, was man damit alles anstellen kann!“ „Bah ihh! Zu viele Informationen“, sagte Kari angewidert, die wohl genauso wenig über sein Sex-Leben wissen wollte, wie Mimi. Sie wollte sich nicht vorstellen, wie er mit einem anderen Mädchen schlief, auch wenn es keine Bedeutung für ihn hatte, da er Sora liebte. Dennoch hinterließ es einen tiefen Stich in ihrem Herzen, den sie versuchte zu unterdrücken. Sie lächelte nur traurig und erkannte das Tai regelrecht wartete, dass sie etwas dazu sagte. Doch sie wandte sich von ihm ab und griff in die Schüssel Popcorn. Verdattert blickte er sie unentwegt an, besonders nachdem sie näher zu Kari gerückt war und sich ganz belanglos mit ihr über den Film unterhielt. Tai hielt Ruhe und starrte zu dem flimmerten Bildschirm, ohne das er noch ein negatives Wort über den Film verlor. Gelegentlich merkte sie, wie er verwundert zu ihr schaute. Er war es wohl nicht gewohnt gewesen, dass sie ihre Widerworte irgendwann einstellte, besonders nicht bei so einem heiklen Thema. Doch sie hatte keine Kraft mehr. Eigentlich hoffte sie, dass sie nach dem Film schnellstmöglich ins Bett verschwinden könnte. _ Gegen zwei Uhr nachts, wurde Mimi von ihrer Blase aus dem Bett getrieben. Nach dem Film waren die beiden Mädchen in Karis Zimmer verschwunden und hatten noch eine Zeitlang gequatscht, bevor ihnen vor Müdigkeit die Augen zugefallen waren. Auf leisen Sohlen schlich sich Mimi ins Bad. Als sie fertig war, wollte sie eigentlich schnellstens zurück ins Bett kriechen, als ihr ein kalter Luftzug entgegenkam und sie aus ihrem Halbschlaf riss. Sie blieb abrupt stehen und sah, dass die Balkontür geöffnet war. Leise schlich sie sich heran und blieb im Türrahmen stehen. „Seit wann rauchst du denn?“, fragte sie sprachlos, als Tai ertappt zusammenzuckte. „Man, musst du mich so erschrecken?“ Er drehte sich zu ihr, hielt jedoch unbeeindruckt seine Zigarette in der Hand. Mimi schritt auf den Balkon und musterte ihn skeptisch, als er genüsslich daran zog und danach den Rauch aus seiner Lunge blies. „Mein Vater hat in seinem Arbeitszimmer immer eine Schachtel versteckt, da er manchmal mit Arbeitskollegen nach Feierabend Eine rauchen geht. Wenn ich ein bisschen Stress habe, klaue ich mir ein, zwei von ihm“, erklärte er und starrte in die dunkele Nacht. Ein paar Sterne waren zu sehen, obwohl die meisten von dem Smog verdeckt wurden. Mimi stützte sich am Geländer ab, wandte ihm jedoch immer noch ihr Gesicht zu. „Was ist denn heute passiert? Haben wir dich so genervt?“ Er lächelte nur und lockerte seine Beine. „Ihr nervt mich doch immer, besonders du“, meinte er lachend und stellte sich dicht neben sie. „Sehr witzig“, knurrte sie gespielt beleidigt und stupste ihn leicht an. Er zog nur gequält die Mundwinkel nach oben. Lautlos rauchte er seine Zigarette, während Mimi ihn besorgt beobachtete. Er wirkte so unfassbar traurig, dass sie ihn am liebsten in den Arm genommen hätte, auch wenn sie seine Art immer noch unausstehlich fand. Doch wenn sie alleine waren, war irgendetwas zwischen ihnen. Eine Anziehung, die sie nicht beschreiben konnte. „Es tut mir leid“, entschuldigte er sich plötzlich und senkte den Kopf. Mit seinen dunkelbraunen Augen sah er sie direkt an und fing ihren verwirrten Gesichtsausdruck auf. „Hä? Was meinst du denn?“ „Alles“, erwiderte er nur und zog ein letztes Mal an seiner Zigarette, als er sie am Balkongeländer ausdrückte und in die Ferne schnipste. „Ich war ein richtiges Arschloch!“ Ihre Augen weiteten sich, da sie nicht wirklich verstand, worauf er hinaus wollte. Mimi biss sich leicht auf die Unterlippe und zog sie schmerzhaft mit den Zähnen nach hinten. Sie hatte das Bedürfnis etwas zu sagen, doch sie wusste nicht, wo sie anfangen sollte, weshalb sie ihm das Reden überließ und aufmerksam zuhörte. „Seit die ganze Sache so eskaliert ist, läuft alles nur noch schief. Ich bin zu den Menschen gemein, die ich eigentlich mag und bin mit allem nur unzufrieden, so als würde ich einem tiefen schwarzen Loch entgegen segeln“, begann er zu erzählen. Er sah sie dabei nicht an, sondern betrachtete die beleuchtete Stadt, die sich vor ihnen erstreckte. Ein laues Lüftchen wehte und brachte Mimis Haare ein wenig durcheinander. Mit einer fahrigen Bewegung strich sie sich einige störende Strähne aus dem Gesicht, ohne den Blick von ihm zu wenden. „Hätte ich gewusst, dass zwischen Matt und Sora wieder etwas läuft, hätte ich sie niemals geküsst!“ Mimi schluckte. Sie umfasste das Geländer und hatte das Gefühl einen Backstein verschluckt zu haben, der gegen ihre Magenwände polterte. Wollte er ihr jetzt ernsthaft etwas über seine unglückliche Liebe zu Sora erzählen? Reichte es nicht, dass sie schon Soras persönlicher Mülleimer war? „Wir haben uns heute wieder gestritten“, eröffnete er ihr wehmütig. „Ich wollte ihr nur was zu Trinken ausgeben und sie hat sich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt, sodass mir selbst bei ihr irgendwann der Geduldsfaden gerissen ist.“ Mimi presste die Lippen aufeinander und unterdrückte das Bedürfnis laut losschreien zu wollen. Was wollte er damit nur bezwecken? Wollte er sie auf seine Seite ziehen? „Tai, ich…“ „Und dich habe ich in den ganzen Mist auch mitreingezogen!“, unterbrach er sie und fuhr sich hastig durch seine Haare, die in alle Himmelrichtungen standen. „Es tut mir so leid, dass ich dich geküsst habe, um Sora eifersüchtig zu machen. Mir war nicht bewusst gewesen, welches Chaos ich damit anstelle. Erst als du mich letztens so angekackt hast, ist es mir bewusst geworden. Und durch heute.“ „Durch heute?“, wiederholte sie fragend und zog eine Augenbraue hoch. Tai richtete seinen Blick auf sie und ließ die Schultern hängen. „Du hast dich gegenüber mir komplett verändert. Früher hast du mir immer Widerworte gegeben und heute? Heute war ich der Idiot, der dich sogar provoziert hat, um festzustellen, ob du mich überhaupt noch magst!“ Mimis Gesichtszüge entglitten. Sie verstand nur noch Bahnhof. „Was? Das macht überhaupt keinen Sinn!“, stellte sie fest und zog die Stirn in Falten. „Klingt bescheuert, oder?“ „Ja! Nur weil ich dich nicht ständig angiftete, heißt das noch lange nicht, dass ich dich nicht mehr mag“, sagte mit Nachdruck und erschrak ein wenig über ihren eigenen Tonfall, der besonders ernst klang. Sie mochte ihn nicht nur. Nein, sie war in ihn verliebt. Deswegen hatte sie keine Lust ihn ständig zu ärgern, so wie sie es früher getan hatte, doch sie hatte nicht damit gerechnet, dass Tai auf einmal dachte, sie könnte ihn nicht mehr leiden. „I-Ich…mir ist eben im Moment nicht danach“, gestand sie sich vor ihm ein und sah bedrückt zu dem Betonboden. „Wie schade, ich mochte unsere Sticheleien immer gerne“, antwortete er und lächelte verschmitzt. Mimis Herz begann schneller zu schlagen. Was tat sie hier nur? Warum konnte sie ihm nicht sagen, was sie für ihn empfand? Sie wusste doch ohne hin schon, dass er ihr einen Korb erteilen würde, was hatte sie also noch zu verlieren? Sie wäre eine ihrer vielen Lasten endlich los und konnte nach vorne schauen. Plötzlich trieb es ihr die Tränen in die Augen. Geschockt versteckte sie sich unter ihrem Haarvorgang, konnte allerdings ein leises Schluchzen nicht länger unterdrücken. Sie presste ihre Hand vor den Mund, doch Tai hatte es bereits gemerkt und legte äußerst behutsam den Arm um sie. Er beugte sich leicht zu ihr hinunter und strich ihr liebevoll ihre Haare aus dem Gesicht, um sie direkt ansehen zu können. „Und warum weinst du jetzt?“, fragte er unverblümt und musterte sie sorgenvoll. Mimi zuckte nur hilflos mit den Achseln und rang um ihre Worte. „Keine Ahnung, ich glaube ich hatte in letzter Zeit einfach genug Streit und bin es leid geworden“, entgegnete sie wahrheitsgemäß. „I-Ich, ich wollte dich wirklich nicht…“ „Es ist nicht deine Schuld. Mein Leben steht einfach nur Kopf!“ Ohne darüber nachzudenken, sprach sie die Worte aus, die sie lange tief in ihrem Herzen gehütet und vor ihren Freunden versteckt hatte. Sie brauchte jemanden. Jemanden, der ihr zuhörte. Der sie in den Arm nahm und ihre Tränen trocknete. Eigentlich wollte sie es nicht sagen, doch Tais Besorgnis brannte sich auf ihre Haut, sodass sie es nicht mehr zurückhalten konnte. „Meine Eltern lassen sich scheiden! Mein Vater wohnt schon seit Wochen nicht mehr bei uns und heute haben wir uns sogar eine neue Wohnung angeguckt, da unser Haus viel zu groß und zu teuer ist.“ Sie merkte, wie sich ein riesengroßer Stein von ihrem Herzen löste und Tai seinen Griff um ihren zierlichen Körper verstärkte. „Oh Gott…warum…was ist? Oh Mimi, ich bin so ein Idiot!“, stammelte er unvollständig und schien sich an seine Worte von letztens zurück erinnert zu haben. „Du kannst nichts dafür“, erwiderte sie schwach und lächelte milde. „Mein Vater ist der Arsch, nicht du.“ Vorsichtig rieb er ihr über ihren Rücken, was ihr erneut die Tränen in die Augen triebt. Komisch, dass sie sich ausgerechnet Tai anvertraute. Der Junge, der sie in der letzten Zeit mehr als einmal verletzt hatte und sich nun für alles zu entschuldigen schien. „H-Hat er deine Mutter etwa…?“ Mimi begann zu zittern. Ein undefinierbarer Laut kam ihr über die Lippen, den sie halb unterdrückte, um nicht laut los zu schluchzen. Sie wandte den Kopf zu Tai und sah ihn mit einem qualvollen Blick an, sodass er direkt Bescheid wusste und mit dem Schlimmsten rechnete. Salzige Tränen rannen ihr über die Wangen, als er beide Arme um sie schlang und sie hingebungsvoll umarmte. Sie verlor jegliches Zeitgefühl, als sie zaghaft seine liebevolle Geste erwiderte. Sie fühlte sich in seinen Armen so geborgen, dass sie sich fallen ließ und ihre Gefühle offen zeigte, ohne sich zu schämen. Es war ihr egal, was er von ihr hielt, oder ob sie sein Mitleid dadurch erweckte. Alles was zählte war das hier und jetzt. Und dieser Moment hätte für sie ewig andauern können… Kapitel 40: Neue Perspektiven ----------------------------- Sie blinzelte leicht, als die Sonnenstrahlen ihr Gesicht wach kitzelten. Sie stöhnte leise, kniff die Augen ein paar Mal zusammen, bis sie sich an das Licht gewöhnt hatte, das durch das Fenster schien. Sie schlug die Augen auf und hatte Schwierigkeiten sich zu orientierten. Wo war sie nur? Irgendwie hatte sie Karis Zimmer anders in Erinnerung. Mimi runzelte verwirrt die Stirn und war gerade im Begriff sich aufzusetzen, als sie seinen Arm bemerkte. Sie hielt inne und verharrte in der Position, in der sie sich gerade befand. Mimi lächelte leicht, als sie den Kopf über die Schultern wandte und sah wie er friedlich hinter ihr schlief und seinen Arm um ihren Körper geschmiegt hatte. Lautlos legte sie sich wieder hin und starrte zur Wand. Kurz fuhr sie mit zitternden Finger über seinen Unterarm, sodass er seinen Griff um sie noch ein wenig verfestigte. Sie erinnerte sich wieder. Stundenlang hatten sie miteinander gesprochen, auch wenn sie mehr geweint hatte. Ihre Augen waren sicherlich rot und verquollen, aber das war ihr egal. Selten hatte sie sich einem Menschen so nah gefühlt, wie Tai während der gestrigen Nacht. Sie hatte ihm nicht alles erzählt. Er wusste nur das Nötigste. Hätte sie auch die Geschichte rund um Noriko erzählt, wäre sie sicher zusammengebrochen. Ihr fiel es selbst bei ihrer Mutter nicht sonderlich leicht, über diese Situation zu sprechen, wohlwissend, dass sie sie kannte. Dennoch fiel es ihr recht einfach, sich bei Tai zu öffnen. Sie hatte immer vermutet, dass Sora die erste Person war, die von der Scheidung ihrer Eltern erfuhr, doch Tai kam ihr zuvor, hatte sie den ganzen Abend in seinen Armen gehalten und sie getröstet. Natürlich hatten sie sich auch ausgesprochen. Er hatte ihr mehrfach gesagt, wie Leid es ihm täte, dass er die gemeinsamen Nachhilfestunden sogar vermisste und sich in letzter Zeit wie ein Arschloch aufführte. Sie wusste, dass all das mit Sora zu tun hatte, besonders nachdem er den Streit zwischen ihnen erwähnt hatte. Doch in ihrer Gegenwart erzählte er kaum etwas von ihr, was vielleicht auch daran lag, dass Mimis Sorgen im Fokus des Geschehens lagen. Dennoch machte sich Euphorie und Glückseligkeit in ihr breit und trieb ihr ein Lächeln ins Gesicht. Er hatte seine Hand auf ihren Bauch gelegt, während sie seinen gleichmäßigen Atemzügen lauschte. Natürlich war nicht mehr gelaufen, aber trotzdem fand sie die Situation sehr romantisch. Sie biss sich leicht auf die Unterlippe und merkte, wie ihr eigenes Herz schneller zu schlagen begann. Sie lagen Löffelchen…war das nicht eher eine Position für Pärchen? Ihr Herzschlag beschleunigte sich erneut. Eng gepresst lagen sie schon eine Zeitlang in seinem Bett. Immer wieder schielte sie zu ihm, stellte jedoch fest, dass er immer noch tief und fest schlief. Wie gerne hätte sie sich zu ihm herum gedreht und ihm einen Kuss auf die Lippen gehaucht? Sie luden praktisch dazu ein…sollte sie es etwa wagen? Was passierte wenn sie ihn dadurch wecken würde? Die Tatsachen hatten sich genau genommen kein Stück verändert. Er war immer noch in Sora verliebt und würde sie sicher geschockt von sich stoßen, da er mit sowas sicher nicht rechnete. Enttäuscht drehte sie sich wieder zur Wand und überlegte besser aufzustehen, bevor Kari noch merkte, dass sie verschwunden war. Doch er hatte sie so fest im Griff, dass sie sich kaum rühren konnte, ohne ihn zu wecken. Außerdem genoss sie seine Berührungen sehr, auch wenn sie ihr mehr bedeuteten als ihm. Mimi schob ihre Hand unter ihr Gesicht und seufzte leise. In welche verzwickte Situation war sie nur da wieder hineingeraten? Sie war zwischen Verlangen und Selbstbeherrschung gefangen, da ein Moment wirklich alles zerstören konnte, was sie sich je aufgebaut hatten. Sie liebte ihn zwar, aber sie konnte nicht Gefahr laufen, ihn als Freund zu verlieren. Nicht, nachdem sie gerade wieder vertragen hatten. Lieber litt sie still und heimlich, als ihm nie wieder in die Augen blicken zu können. Langsam wanderte sie mit ihrer Hand zu seiner hinunter und wollte sie anheben, als sie plötzlich etwas gegen ihren Po drücken spürte. Ihre Augen weiteten sich und ihre Bewegungen froren ein. Ihr Mund wurde staubtrocken und ihr Puls beschleunigte sich. Ihr Herz hämmerte gegen ihre Brust, als ihr bewusst wurde, was sich da gegen sie drückte. Sie schluckte. Das durfte doch wirklich nicht wahr sein… Als wäre das Ganze hier nicht schon schwer genug. Ihr Körper begann zu rebellieren. Ihr Verlangen wuchs ins Unermessliche, da sich auch bei ihr körperliche Reaktionen einstellten. Schon oft hatte sie sich vorgestellt, wie es sich wohl anfühlte mit ihm zu schlafen. Was er mit ihr anstellte, wenn es soweit war… Ihr wurde ganz heiß. Sie spürte ein unaufhörliches Kribbeln zwischen ihren Beinen, das ihr signalisierte, dass sie mehr wollte. Seine Hand ruhte auf ihrem Unterbauch, doch sie wünschte sich, dass er weiter nach unten glitt. Schmerzvoll haute sie ihre Zähne in ihr zartes Lippenfleisch und wollte sich am liebsten selbst für diesen Gedanken ohrfeigen. Doch er machte es ihr wirklich nicht leicht. Seine Erregung presste sich noch immer gegen ihren Po und raubte ihr den Verstand. Sie musste sich dringen von ihm lösen, sonst würde sie wirklich noch auf dumme Gedanken kommen. Schwerfällig hob sie seinen Arm an und legte ihn sachte neben sich, während sie ihren Körper langsam von ihm schob. Mimi lag auf dem Rücken und hangelte sich am Rand seines Bettes entlang. Sie atmete tief ein und wieder aus. Sah ihn mit sehnsüchtigen Blicken an und hob ihren Arm leicht an. Langsam tastete sie sich vor und fuhr mit ihrer Hand sanft über seine Wange. Gedankenverloren blickte sie in sein schlafendes Gesicht und ärgerte sich darüber so ein Feigling zu sein. Würde sie mehr riskieren, wäre vieles sicher anders gekommen. Mimi zog ihre Hand zurück und beobachtete ihn einen Augenblick. Es fiel ihr so unheimlich schwer, sich aus seinem Bett zu erheben, da sie spürte, dass dieser wunderschöne Moment dann endgültig vorbei war. Es gab kein Zurück mehr. Wahrscheinlich war das ihre erste und letzte Chance mit ihm das gleiche Bett zu teilen und sie vermasselte es. Mimi bemerkte nicht, wie sie dem Rand des Bettes immer näher kam. Sie drehte sich etwas zur Kante, spürte allerdings nicht mehr die weiche Matratze unter sich. Ein lauter Knall ließ sie auf den Boden der Tatsachen zurückkehren. Mit einem schmerzverzerrten Gesicht hielt sie sich ihren Hinterkopf und setzte sich vollkommen verdattert auf. Tai saß auf einmal kerzengrade im Bett und richtete den Blick auf sie. „Scheiße, hab ich dich aus dem Bett geworfen?“, fragte er unverblümt, bemerkte jedoch relativ schnell, dass etwas nicht stimmte. Er lief rot an, sah zu Mimi und drückte die Bettdecke näher an sich. Auch Mimi sah peinlich berührt zur Seite und zeigte ihm dadurch, dass sie sein Problem durchaus mitbekommen hatte. „Tut mir leid…sowas passiert mir eigentlich nur sehr selten“, erklärte er mit hochrotem Kopf und sah in eine komplett andere Richtung. Ihm war die Situation unangenehm. Das spürte sie, doch was sollte sie sagen? ‚Hey, ich kann dir sicher helfen?‘ Ihre Augen weiteten sich und sie schüttelte sich bei diesem versauten Gedanken. „Sowas kann doch jedem mal passieren“, flüsterte sie und versuchte die Situation zu retten, obwohl sie eigentlich hoffnungslos peinlich war. Tai hielt praktisch die Luft an, so als würde er hoffen, dass es dadurch wieder weggehen würde. Doch er hatte keinen Schluckauf. „Vielleicht sollte ich jetzt mal nach Kari sehen. Sie fragt sich sicher schon wo ich bin“, sagte sie mit zitternder Stimme und richtete sich auf. Tai blieb regungslos in seinem Bett sitzen, während sie zu seiner Tür schritt. Sie öffnete sie, blieb aber abrupt in seinem Türrahmen stehen und drehte sich zu ihm. Seit gestern wusste sie, wie sehr er ihre Schlagfertigkeit und ihre Neckereien vermisst hatte und ein bisschen Spaß konnte sie sich wirklich auch mal erlauben. Sie lächelte ihn wissend an und zog provokant ihre Augenbraue in die Höhe. „Viel Spaß“, raunte sie und versuchte dabei besonders verführerisch zu klingen. Danach verließ sie sein Zimmer und erkannte aus dem Augenwinkel heraus, dass er selbst grinsen musste. _ Ein wenig angespannt saß sie später mit Tai und Kari am Frühstückstisch. Die Stimmung war recht locker und Kari hatte gar nicht bemerkt, dass sie die Nacht über bei Tai verbracht hatte. Als sie in ihr Zimmer zurückkehrte, schlief sie immer noch seelenruhig in ihrem Bett. Erst als die Dusche ertönte, wurde sie aus dem Schlaf gerissen. „Sag mal Tai…“, begann Kari und bestrich ihr Brötchen mit Marmelade, „warum warst du heute Morgen schon wieder duschen? Du warst doch erst gestern!“ Tai, der gerade seinen übervollen Löffel Müsli in den Mund befördern wollte, hielt plötzlich inne und lief prompt rot an. Sein Blick wanderte zu Mimi, die verlegen den Kopf senkte. Sie wusste genau, warum er die Dusche gebraucht hatte. „Ehm…ich…ich habe die Nacht stark geschwitzt“, redete er sich raus und stopfte sich sein Müsli in den Mund, um nicht weiter reden zu müssen. Kari gab nur ein zischendes Geräusch von sich. „Das nächste Mal kannst du auch ‘ne Stunde später gehen! Mimi und ich haben noch geschlafen“, informierte sie ihn mit ausschweifenden Handbewegung und sah ihn empört an. „‘Tschuldigung“, brummte er mit vollem Mund. Mimi kicherte leise und auch Tai konnte sich ein verwegenes Grinsen nicht verkneifen. Die Situation war auch wirklich schräg gewesen. „Und was machst du später noch so?“, fragte Kari auf einmal und richtete ihre volle Aufmerksamkeit auf Mimi, die immer noch damit beschäftigt war, vielsagende Blicke mit Tai auszutauschen. Es war eines der wenigen Male, wo Tai ihre Blicke erwiderte und sie liebevoll anlächelte. Sie fühlte sich wie auf Wolken, auch wenn sie wahrscheinlich wieder mehr hineininterpretierte, als es eigentlich war. Kari stupste sie an und legte fragend den Kopf zur Seite. Mimi riss die Augen auf und überlegte angestrengt, was sie gefragt hatte. „Mhm?“ „Was machst du heute noch?“, wiederholte Kari erneut und sah mit einem verschärften Blick zwischen Tai und Mimi hin und her. „Ähm…ich besuche noch einen Freund“, sagte sie, ohne groß darüber nachzudenken. Sie hatte sich später noch mit Masaru verabredet und wollte mit ihm an einigen neuen Songs arbeiten, da Noriko mit Chiaki etwas Zeit verbringen wollte. „Einen Freund?“, hakte Kari interessiert nach und hob eine Augenbraue. Überrascht blickte sie zu Mimi, die sich ein paar Haarsträhnen hinter ihr Ohr strich. „Kennen wir deinen Freund denn?“, mischte sich auch Tai ein, der seine Stirn in Falten gelegt hatte. „Ehm…nein! Er geht nicht auf unsere Schule“, antwortete sie hastig und biss in ihr Brötchen. „Uhh, davon wusste ich noch gar nichts. Erzähl‘ doch mal!“, meinte Kari mit immer größerer werdenden Augen. Dachte sie etwa? Mimi schaute zu Tai, der sie äußerst seltsam beäugte und seinen Löffel angespannt in die Müslischale sinken ließ. Seinen Blick konnte sie nicht deuten. „Er ist nur ein Freund, der mir manchmal bei Schulkram hilft“, versuchte sie es herunterzuspielen, doch Kari fing an zu Grinsen, was Mimi verunsicherte. Sie konnte ja nicht Masarus Geheimnis ausplaudern. „Hilft er dir auch in Mathe?“, fragte Tai mit angezogener Augenbraue. Mimi presste die Lippen aufeinander und druckste herum. „Gelegentlich.“ „Aha“, erwiderte er nur und blickte finster auf sein Frühstück, ohne sie noch einmal anzusehen. Irritiert sah Mimi ihn an und schüttelte instinktiv den Kopf. Sie verstand seine Reaktion nicht. War er etwa eingeschnappt? _ Nach dem Frühstück machte sie sich direkt fertig, da sie ihre Sachen nach Hause bringen und später noch eine Kleinigkeit zu Mittag essen wollte, bevor sie zu Masaru ging. Kari verabschiedete sie herzlich, als plötzlich das Telefon klingelte und sie zurück ins Wohnzimmer rannte. Etwas verhalten zog sie ihre Schuhe an und blickte zu Tai, der ebenfalls im Flur stand und sich fertig machte, da er noch ein paar Stunden auf dem Fußballplatz verbringen wollte. Er schnappte sich seine Sporttasche und öffnete die Tür. „Bis Morgen, Kari!“, rief Mimi ihr zu, während sie lächelnd den Hörer an ihr Ohr hielt und ihr zum Abschied mit der anderen Hand zuwinkte. Gemeinsam mit Tai ging sie die Treppen des Mehrfamilienhauses hinunter. Tai hatte seine Tasche geschultert, während Mimi ihm flüchtige Blicke zuwarf. Nach heute Morgen hatten sie nicht mehr wirklich miteinander geredet, auch wenn es ihr ganz lieb war. Manche Peinlichkeiten sollte man einfach unter den Teppich kehren und für immer vergessen. Diese zählte definitiv dazu. Kurz bevor sie die Kreuzung erreichten, die ihre Wege voneinander trennten, räusperte sich Tai auffällig und blieb stehen. „Geht es dir etwas besser?“, fragte er vorsichtig und auch Mimi hielt an und drehte sich zu ihm. Sie lächelte milde und nickte sachte. „Ja, danke für gestern Nacht!“, sagte sie nur, krampfte ihre Finger um ihre eigene Tasche und studierte Tais Reaktion, der sich verlegen am Hinterkopf kratzte. „Ach was, kein Problem! Du kannst immer zu mir kommen, wenn du Probleme hast!“ Überrascht sah sie ihn an, war aber sehr gerührt von seinem Angebot, obwohl sie sich sicher war, dass Tais Nähe sie irgendwann noch wahnsinnig werden ließ. „D-Danke“, antwortete sie nur und überlegte kurz, was sie noch sagen könnte, doch ihr fiel beim besten Willen nichts mehr ein. Er hatte ihr die Sprache verschlagen. Einen Moment standen sie sich schweigend gegenüber, bis Mimi erneut das Wort ergriff. „Ich muss jetzt langsam los…ich…“ „Schon klar, du bist ja noch verabredet“, sagte er in einem ungewöhnlichen Ton und lockerte seine Beine. Er grinste leicht, sodass sich ein paar Grübchen auf seinen Wangen bildeten. Mimi schritt etwas näher an ihn heran, überwand eine Distanz, die sie gewöhnlich immer einhielt, wenn sie mit ihm sprach oder heimlich beobachtete. Sie lächelte ihn an und stand ihm dicht gegenüber, sodass er leicht auf sie hinabblickte. Ohne groß darüber nachzudenken, nahm sie ihren ganzen Mut zusammen und zog ihn in eine herzliche Umarmung. Sie erwartete nicht, dass er sie erwiderte, sie wollte ihm einfach nur zeigen, wie dankbar sie ihm war. Doch er ließ seine Tasche geräuschvoll auf den Boden fallen und legte seine Arme um ihren zierlichen Körper. Er drückte sie noch etwas näher an sich, so wie er es gestern Abend schon getan hatte. Wieder stellte sich bei ihr ein Gefühl der Geborgenheit ein, dass sie einfach nicht mehr missen wollte. Sie stellte sich ein wenig auf die Zehenspitzen, sodass sie mit ihren Lippen sein Ohr erreichen konnte. Ihr ganzer Körper war tiefentspannt und genoss seine Nähe, die sie sich nicht so schnell wieder erhofft hatte. Ein Lächeln legte sich über ihre Lippen, die sie langsam kräuselte. „Vielen Dank“, murmelte sie in sein Ohr, während er seinen Griff um sie verfestigte. Sie konnte sein Gesicht nicht erkennen, doch sie spürte, dass ihm dieser Moment genauso viel bedeutete wie ihr. Wenige Minuten später löste er sich von ihr und zog die Mundwinkel nach oben. „Hab‘ ich gern gemacht!“, antwortete er ihr matt und hob seine Tasche wieder vom Boden auf. „Wir sehen uns morgen, okay?“ „Klar“, sagte er selbstverständlich und verabschiedete sich von ihr. Mit zitternden Händen und bebenden Körper machte sie sich auf den Nachhauseweg. _ Gegen Nachmittag hatte sie tatsächlich Masaru aufgesucht, der in einer sehr wohlhabenden Gegend der Stadt lebte. Eine gefühlte Ewigkeit stand sie vor dem riesigen Haus und war vollkommen eingeschüchtert von dem großen Anwesen, das sich vor ihr erstreckte. Eigentlich brauchte sie sich gar nicht zu wundern, da sie genau wusste, dass Masarus Vater ein angesehener Politiker war, der sogar einen Platz im Stadtrat hatte. Mimi wurde bereits von Masaru erwartet, der sofort zur Tür gestürmt kam und ihr öffnete. Zuerst wollte er sie direkt in sein Zimmer lotsen, doch beide wurden von seiner Mutter abgepasst, die Mimi freudig begutachtete. Sie musterte sie von oben bis unten und lächelte wie ein Honigkuchenpferd. Masaru quittierte ihre Reaktion nur mit einem genervten Augenrollen. Mimi blieb jedoch höflich und stellte sich kurz vor, in dem sie sich förmlich vor seiner Mutter verbeugte. Kaum hatten sie ein paar Worte miteinander geredet, wurde Mimi auch schon prompt zu Abendessen eingeladen, obwohl sie eigentlich den Abend mit ihrer Mutter verbringen wollte. Doch Mimi wollte nicht unhöflich sein und sagte zu. Als sie bei Masaru im Zimmer angekommen waren, saß Yasuo bereits an seinem Schreibtisch und begrüßte sie fröhlich. Masaru ging daraufhin zu seinem kleinen Bruder und wuschelte ihm durch die Haare, sodass sie in alle Himmelrichtungen abstanden, während Mimi mitten im Raum stehen blieb und mit großen Augen sein Zimmer begutachtete. Masaru sammelte alte Schallplatten, die er hinter einer Vitrine platziert hatte. Er hatte auch selbstverständlich einen alten Schallplattenspieler und seine alte Akustikgitarre im Zimmer stehen. Farblich war es in einem zarten Blau gehalten. Zwei große Fenster erhellten den Raum, der durch das helle Laminat noch größer wirkte, als er ohnehin schon war. Beeindruckt ließ sich Mimi neben den Jungs nieder und holte ihren Block hervor, auf dem Noriko und sie einige Songs geschrieben und komponiert hatten. „Dein Zimmer ist wirklich der Wahnsinn“, murmelte Mimi und war immer noch sprachlos. Masaru zuckte nur mit den Schultern und schnappte sich seine Gitarre. „Meine Eltern zeigen somit eben ihre Zuneigung“, waren seine Worte und Mimi wandte sich ihm verwundert zu. Erst als sie genauer hinblickte, fiel ihr auf, dass keinerlei privaten Bilder seine Wand zierte. Nur ein Foto stand auf seinem Nachttisch, dass sie nicht richtig erkennen konnte. „Und jetzt zeig mal her, was du uns mitgebracht hast“, meinte Masaru und schnappte sich ihren Block. Mimi rückte etwas näher an beide heran und konzentrierte sich auf den Song, den sie als nächstes einstudieren wollten. _ Masaru, Mimi und Yasuo saßen über zwei Stunden in seinem Zimmer und versuchten die passende Melodie für ihren neuen Songs zu finden. Doch Mimi war immer noch abgelenkt, da sie dringend etwas mit Masaru unter vier Augen besprechen wollte. Ihr gingen die letzte Nacht und der heutige Morgen einfach nicht mehr aus dem Kopf. Sie brauchte unbedingt jemanden zum Reden. Für eine Sekunde hatte sie daran gedacht, Noriko anzurufen, doch sie war mit Chiaki verabredet und Mimi wollte sie bei ihren gemeinsamen Momenten nicht stören. Masaru war der Einzige, der ihr nach Noriko einfiel. Er war einer der wenigen, der die komplizierte Situation rund um Tai kannte, zumal er ihr auch immer gute Ratschläge gegeben hatte. Doch vor Yasuo konnte sie so ein Thema nicht ansprechen. Er hatte noch diese unschuldige Kinderseele, die sie mit ihren Geschichten auf gar keinen Fall verderben wollte. Daher wartete sie gespannt den Moment ab, als Yasuo das Zimmer verließ, um kurz auf Toilette zu gehen. Mimi nutzte ihre Chance sofort und legte den Block beiseite. „Kann ich dich mal was fragen?“ Masaru sah kurz auf und sah sie unbeeindruckt an. „Klar, was gibt es denn?“ Mimi druckste etwas herum und wurde leicht rot um die Nase, während sie nervös an Masarus Bettwäsche zupfte. „Ähm, wenn ein Junge morgens aufwacht und…und du weißt schon…“, sie bewegte auffällig den Kopf und hoffte, dass er sie auch verstehen würde, ohne dass sie das Wort in den Mund nahm. Masaru sah sie angestrengt an und zog verwirrt die Augenbrauen zusammen. „Wenn was?“, hakte er irritiert nach und verzog das Gesicht zu einer Grimasse. „Naja…wenn…naja ihr…oh man“, stammelte sie und merkte wie sie hochrot anlief. Sie atmete einmal tief durch und sprach das aus, was sie eigentlich vermeiden wollte. „Ich habe heute Morgen mit einem Jungen zusammen im Bett gelegen und er hatte eine Erektion.“ Sie war mit dem Wort leiser geworden, doch Masarus Grinsen versicherte ihr, dass er sie verstanden hatte. „Wart ihr wenigstens nackt?“, fragte er unverblümt. „N-Nein!“, antwortete Mimi empört und spürte wie er ihr den Schweiß auf ihre Stirn trieb. „Wie uninteressant“, schnaubte Masaru nur und ließ die Schultern hängen, bevor er sich ein unverschämtes Schmunzeln auf seine Lippen schlich. „Mit wem hast du denn im Bett gelegen? Wieder mit einen Kerl, der irgendwie der Halb-Ex deiner Freundin ist?“ Mimi riss die Augen auf. „NEIN! Aber…ach es ist so kompliziert!“, knurrte sie und fuhr sich durch die Haare. „Er ist auch in meine Freundin verknallt, aber gestern beziehungsweise heute Morgen war etwas zwischen uns! Das habe ich gespürt.“ „Du meinst seinen Penis?“, stellte er trocken fest, formulierte es jedoch mehr als Frage. „Das habe ich nicht gemeint!“, antwortete sie schnippisch und schlug ihm gegen den Arm. „Schon gut“, verteidigte er sich und warf schützend die Hand vor sein Gesicht. „Was willst du jetzt von mir wissen?“ Mimi lockerte ihre Beine und setzte sich im Schneidersitz aufrecht hin. Sie reckte ihren Hals und sah ihn mit großen Augen an. „Naja, ob es was zu bedeuten hatte, dass er ausgerechnet in so einer Situation…naja du weißt schon. Es hat sich in diesem Moment so seltsam angefühlt und ich bin auch relativ zügig aus seinem Zimmer verschwunden, aber…“ „Wieso bist du rausgegangen? Noch nie was von Blowjob gehört?“ Mimi entgleisten die Gesichtszüge. „Was? Das ist doch nicht dein Ernst!“ „Du wolltest meine Meinung hören“, murrte er nur. „Und so hättest du ihn sicher glücklich gemacht!“ Überzeugt nickte er und verschränkte nachdenklich die Arme vor der Brust. „Du bist so bescheuert! Hätte ich besser nicht gefragt!“ „Willst du meine ehrliche Meinung hören?“, lenkte er ein und seufzte. „Ja natürlich! Und jetzt beeil‘ dich besser, bevor dein Bruder wieder auftaucht!“, hetzte sie und sah zur Tür. Masaru schüttelte nur den Kopf und setzte sich näher an sie heran. „Sowas passiert uns Männern auch unbewusst. Mit Erregung hat das manchmal gar nichts zu tun. Es ist eine körperliche Reaktion, die in der Nacht öfters vorkommt“, erklärte er ihr und blickte in ihr enttäuschtes Gesicht. „Oh“, machte sie nur und ließ den Kopf hängen. Masaru legte auf einmal den Arm um sie und beugte sich ihr entgegen. „Aber hey, ich weiß nicht genau, was zwischen euch vorgefallen ist. Vielleicht liege ich in diesem Punkt auch komplett falsch und er hat nur darauf gewartet, dass du ihm in die Hose fasst!“ Mimi gab einen entrüsteten Laut von sich und stieß ihm kräftig in die Rippen. „Masaru!“, tadelte sie ihn empört und richtete einen bösen Blick auf ihn. Er lachte nur und setzte sich auf seinen Stuhl. Fast Zeitgleich trat auch Yasuo ins Zimmer ein und schloss die Tür hinter sich. „Und hab ich etwas verpasst?“, erklang seine Stimme und er trottete wieder zu den beiden. Mimi sah mahnend zu Masaru, der immer noch vor sich hin grinste. „Ach nein, wir haben nur über belanglose Dinge gequatscht!“, entkräftete er und Mimis Haltung entspannte sich. Fröhlich setzte sich Yasuo neben sie und schnappte sich den Block, den Mimi aufs Bett gelegt hatte. „Gut, dann können wir ja jetzt weitermachen!“ _ Später saß Mimi beim gemeinsamen Abendessen mit Masarus Familie. Seine Mutter hatte sich viel Mühe gegeben ein zauberhaftes Abendessen zu zuzubereiten, das aus zartem Hühnchenfleisch und verschiedenen Beilagen bestand. Es schmeckte alles vorzüglich, sodass Mimi nur ein Kompliment an die Köchin aussprechen konnte. „Das ist wirklich unfassbar lecker“, sagte Mimi und deutete mit ihrer Gabel auf das Hühnchen. „Vielen Dank, das Rezept ist noch von meiner Mutter“, schwärmte sie und griff nach ihrem Glas Wein. Mimi lächelte zurückhaltend und warf einen unauffälligen Blick zu Masaru, der neben ihr saß. Gelangweilt stocherte er in seinem Essen und nahm gelegentlich einen Happs zu sich. Yasuo saß Masaru direkt gegenüber und wirkte auf Mimi angespannt. Sein Vater schnitt gerade das Fleisch, als er sich räusperte und Mimi und Masaru mit seinem Blick fixierte. „Ich wusste gar nicht, dass du eine Freundin hast“, meinte er überrascht. Mimi öffnete den Mund und wollte gerade erklären, dass sie kein Paar waren, doch Masaru kam ihr zuvor. „Mimi ist nicht meine Freundin!“, antwortete er nachdrücklich und schien verärgert. „Du weißt doch, was bei mir los ist!“ „Ich weiß überhaupt nichts“, zischte er und wandte den Blick von ihnen. „So seltsame Phasen macht doch jeder Mal durch und sie ist ein hübsches Mädchen!“ „Es ist aber keine Phase! Wann kapierst du das endlich?“, rief er empört und sein Besteck klapperte gegen seinen Teller. Yasuo zuckte zusammen und sah hilfesuchend zu Mimi, die zwischen Vater und Sohn unsicher hin und her blickte. „Du willst doch irgendwann mal eine Familie, oder? Wie soll das funktionieren, wenn du dir nicht endlich mal eine anständige Partnerin suchst?“, stellte er fest und nippte an seinem Wein. „Du meinst also keinen Mann, richtig? Warum verstehst du es nicht? Ich kann mich nicht ändern, weil ich ebenso bin! Ich bin deine ewigen Diskussionen so leid und jetzt ziehst du sogar noch meine Freunde mit rein!“, entgegnete er immer lauter werdend. Mimi sackte auf ihrem Stuhl hinab und wusste nicht, ob sie sich in das Gespräch einmischen sollte, oder nicht. „Warum sagst du eigentlich nie was dazu?“, richtete Masaru sich an seine Mutter, die den Kopf gesenkt hatte. „Deine Mutter ist der gleichen Meinung wie ich! So eine Verhaltensweise ist unnormal!“ „So ein Bullshit!“, brüllte er und sprang auf. „Masaru setzt dich wieder!“, forderte sein Vater und deutete auf seinen Stuhl, doch Masaru weigerte sich. „Darf ich denn nicht glücklich sein? Ich will auch mein Glück und meine Liebe der Welt zeigen und mich nicht verstecken müssen!“ „Weißt du welches Licht das auf unsere Familie rückt? Bald sind Wahlen!“ „Du und deine beschissenen Wahlen“, knurrte er bedrohlich. „Das ist dir doch schon immer das Wichtigste gewesen!“ Er schlug mit der Faust auf den Tisch, sodass das Geschirr leicht klirrte. Mimis Augen waren geweitet und sie befand sich in einer Art Schockstarre, aus der sie sich einfach nicht lösen konnte. Wie war sie hier nur hineingeraten? Ihre Augen wanderten zu Yasuo, der den Tränen bereits nah war. Wahrscheinlich lief es immer so ab, wenn sie gemeinsam aßen. Seine Mutter saß teilnahmslos am Tisch und fixierte einen bestimmten Punkt, von dem sie nicht den Blick wandte. Masaru stand immer noch, genauso wie sein Vater, der vor wenigen Sekunden ebenfalls wütend aufgesprungen war und fuchsteufelswild auf ihn einredete. Mimi entwickelte das Bedürfnis, sich die Ohren zuhalten zu wollen, doch sie verfolgte das Streitgespräch immer noch regungslos und konnte nicht fassen, dass alles plötzlich so eskaliert war. „Du solltest endlich mal erwachsen werden und diese verflixten Phantasien aus deinem Kopf verbannen! Ist dir egal, was die Leute über dich reden?“ „Ja ist es! Du machst mir dadurch alles kaputt! Sogar die Beziehung zu IHM! Ich versteh‘ dich nicht! Willst du mich nicht glücklich sehen?“ Vollkommen in Rage gekommen redete sich Masaru um Kopf und Kragen. Wen meinte Masaru nur? Und warum hatte Mimi noch nie von IHM gehört? Fragend blickte sie zu Masaru, dessen Zornesfalte in der Mitte seiner Stirn gefährlich angeschwollen war. „Du wirst mich nie verstehen, weil ich für dich immer eine Enttäuschung sein werde.“ Mit diesen Worten warf er seine Serviette auf den Teller und verließ den Tisch. Auch Mimi stand auf, während Masarus Vater auf seinen Stuhl sackte. „Dieser Junge bringt mich noch ins Grab“, nuschelte er und richtete einen verheißungsvollen Blick zu seiner Frau, die immer noch auf den Tisch starrte. Yasuo hatte den Kopf gesenkt und schluchzte leise vor sich hin. Mimi schluckte kurz, als sie sich ihre Tasche schnappte und ohne darüber nachzudenken, Masaru hinterher lief. Kein Wunder, dass er diese ganze Heimlichtuerei satt hatte, aber trotzdem war seine Familie alles andere als hilfreich. Sein Vater war ein wahrhaftiger Choleriker, während seine Mutter sich wohl immerzu zurückhielt und nichts sagte. Mimi musste dringend mit Masaru reden. Kapitel 41: Herzenswünsche -------------------------- Nachdenklich ging sie am nächsten Tag zur Schule, konnte aber den gestrigen Abend nicht aus ihren Erinnerungen streichen. Sie hatte versucht mit Masaru zu sprechen, doch er blockte ab. Meinte, dass es nichts bringen würde, da sein Vater einfach vom alten Schlag wäre und es niemals akzeptieren könnte. Traurig und auch ein wenig verzweifelt machte sie sich kurz danach auf den Nachhauseweg. Gestern hatte sie kurz noch mit Noriko telefoniert, die sie nach der Schule abholen kommen wollte. Sie hoffte, dass sie ihr einen Rat geben könnte und sie wenigstens eine Idee hatte, wie man Masaru wieder aufheitern konnte. Das war doch kein Dauerzustand. Irgendwann würde er daran zerbrechen und das konnte Mimi nicht zulassen. Dafür hatte sie ihn schon viel zu lieb gewonnen. Auf einmal schreckte sie zusammen, als sie ein deutliches Zwicken auf der Seite vernahm und sich in die Richtung des „Zwickers“ drehte. Schnell wandte sie wieder den Kopf herum, als sie niemanden neben sich sah und blickte plötzlich in das grinsende Gesicht von Tai. „Hey“, begrüßte sie ihn fröhlich und konnte sich ein verhaltenes Lächeln nicht verkneifen. Es freute sie ihn wieder zu sehen, besonders nachdem sie sich wieder vertragen hatten. „Ich habe dich von dahinten aus gesehen und dachte mir, dass ich dich noch einholen könnte“, meinte er und schnaufte leicht. „Interessant“, erwiderte Mimi, „läufst du mir jetzt neuerdings hinterher, wie ein süßer kleiner Dackel?“ Belustig sah sie ihn mit einem herausfordernden Blick an und zog die Augenbraue in die Höhe. „Sie ist wieder da“, antwortete er nur und passte sich ihrem Gehtempo an. „Aber ich glaube, ich wäre eher ein Schäferhund.“ Mimi zuckte nur grinsend mit den Schultern. „Solange ich dir nicht ständig den Bauch kraulen und dich nach Flöhen absuchen muss, ist alles noch im grünen Bereich“, scherzte sie und hielt ihre Schultasche festumklammert. Ihr Herz schlug wie wild, auch wenn sie nur über Banalitäten sprachen. Diese Lockerheit zwischen ihnen hatte ihr sehr gefehlt, auch wenn sie dadurch in der Vergangenheit öfters aneinander geraten waren. „Du bist so charmant“, stellte er fest und verdrehte spielerisch die Augen. Er hatte seine Arme locker hinter seinem Kopf verschränkt, hielt seine Tasche mit zwei Fingern fest und balancierte sie geschickt hin und her. Beide liefen ein Stück, als Mimi das Wort wieder ergriff. „Und was habt ihr gestern noch so gemacht?“ Ein wenig überrascht zog Tai die Augenbrauen zusammen. „Nicht mehr so viel. Ich musste noch Hausaufgaben machen und am späten Nachmittag kamen unsere Eltern auch schon wieder zu Hause an. Mama hat später für uns gekocht und das Essen mal wieder hoffnungslos versalzen“, sprudelte aus ihm hervor. Mimi lächelte sachte, da sie von Kari schon öfters gehört hatte, dass ihre Mutter keine sonderlich gute Köchin war. Sie richtete heimlich den Blick wieder zu Tai und stellte überrascht fest, dass er sie immer noch anstarrte. Fragend legte sie den Kopf zu Seite und fixierte ihn mit ihren nussbrauen Augen. „Ist was?“ „Ähm nee, alles gut“, antwortete Tai hastig und wandte den Kopf zur anderen Seite. „Und konnte dein Freund dir noch mit deinem Schulkram weiterhelfen?“ Seine Stimme bohrte sich in ihr Ohr, doch sie konnte nicht genau sagen, was sie heraushörte. Er klang irgendwie etwas sauer, doch sie wusste gar nicht warum. „Ehm, ja ein wenig“, log sie und verzog das Gesicht. An gestern Abend wollte sie eigentlich gar nicht mehr denken, besonders nachdem Masarus Vater seine Meinung über Homosexuelle vor ihr kundtat. Er machte sie fast so wütend, wie ihr eigener Vater, der so viel Mist gebaut hatte, aber es einfach nicht einsehen wollte. Die Scheidung ihrer Eltern hatte ihrer ganzen Verzweiflung nochmals die Krone aufgesetzt und sie war wirklich froh gewesen, jemanden wie Tai an ihrer Seite zu wissen. Dennoch musste sie sich mit dem Gedanken auseinandersetzen. Heute wollte sie auch Noriko über den neusten Kenntnisstand informieren, auch wenn sie sich vorstellen konnte, dass sie sich Vorwürfe machte. Doch es war nicht ihre Schuld. Sie konnte am wenigsten für die aktuelle Situation. Mimi hätte sicher genauso gehandelt, wenn sie an der Stelle ihrer Mutter gewesen wäre. In manchen Fällen machte es keinen Sinn, eine Ehe weiterhin aufrecht zu erhalten, auch wenn sie sich damit noch nicht anfreunden konnte. „D-Du sag mal…“, riss die Stimme von Tai sie aus ihren Gedankengängen. „Mhm?“, machte sie nur und sah zu ihm rauf. Er druckste etwas herum, verschränkte seine Finger um seine Schultasche und fuhr sich mit der Zunge nervös über seine Lippen. „Wie ist denn dein neuer Nachhilfelehrer so? Kommst du besser mit ihm klar, als mit mir?“ Verblüfft blieb Mimi stehen und konnte nicht fassen, was sie gerade aus seinem Mund gehört hatte. Er klang so verletzt. Tai blieb ebenfalls stehen und sah zu ihr. Ein paar Klassenkammeraden gingen an ihnen vorbei und unterhielten sich angeregt. Die Stimmung zwischen Tai und Mimi war zum Zerreißen gespannt. Was sollte sie nur sagen? Masaru half ihr wirklich nur gelegentlich. Noriko half ihr definitiv regelmäßiger. Doch Tai schien dieses Thema durchaus zu beschäftigen. „Also, er…er hilft mir nur sehr selten. Ich habe noch eine Freundin, die mir öfters hilft, allerdings…“, murmelte sie und hatte das Gefühl, sich total bescheuert anzuhören. Sie ging ein paar Schritte auf ihn zu und überlegte haargenau, ob sie den folgenden Satz überhaupt aussprechen sollte. Nachher verstand er es noch falsch, oder noch schlimmer…er könnte es genau richtig interpretieren und ihre gut behüteten Gefühle für ihn herauslesen. Sie schluckte. Er sah sie erwartungsvoll an, so als würde er hoffen, dass sie diesen einen Satz sagte und auch so meinte. Sie wusste doch selbst schon, dass er die gemeinsame Nachhilfe vermisste, da er realisiert hatte, dass sich beide seither voneinander entfernten. Sie wollte diese Freundschaft nicht riskieren, besonders weil sie von seinen unerwiderten Gefühlen zu Sora wusste. „Allerdings?“, hakte er nun selbst nach und begutachtete sie genauestens. Mimi stockte der Atem. Ihr fiel es so unsagbar schwer, das zu sagen, was sie dachte. Doch was hatte sie zu verlieren? Es war ja kein Liebesgeständnis, sondern nur die Tatsache, dass sie gerne mit ihm lernte und auch vieles besser verstanden hatte. „Allerdings, hat die Nachhilfe mit dir immer Spaß gemacht und ich habe auch viel dabei gelernt“, offenbarte sie ihm ehrlich. Er schmunzelte leicht und stand plötzlich wie ein unsicherer Schuljunge vor ihr, die ihrem Blick nicht standhalten konnte. Es dauerte einen Moment, bis er sich wieder fing und ihr erneut eine Frage stellte, mit der sie nicht gerechnet hatte. „Könntest du dir vorstellen, es nochmal zu probieren? Ich verspreche dir auch, meine Launen für mich zu behalten.“ Überrascht weiteten sich ihre Augen und ein zaghaftes Lächeln legte sich über ihre Lippen. _ Die Pause hatte sie mit Sora verbracht, die nochmal ihre Sicht der Dinge erzählt hatte. Sie gab zu, dass sie ein wenig ausgeflippt war und Tai nur nett sein wollte, doch seit die Situation so angespannt zwischen ihnen war, endete fast jede Begegnung in einer Katastrophe. Unerfüllte Hoffnungen, unterdrückte Gefühle und ein Fünkchen Leidenschaft, hatte eine jahrelange Freundschaft zu tiefst erschüttert und sie ins Wanken gebracht. Auch die Tatsache, dass Matt sich komplett von ihnen zurückgezogen hatte, belastete ihre beste Freundin sehr. Sie vermisste die unbeschwerte Zeit, in der sie alle nur Freunde waren und zusammen Spaß hatten. Auch Mimi vermisste diese Zeit zutiefst, da sie zwischen Sehnsucht und Verlangen gefangen war. Er würde ihr nicht das geben, was sie brauchte. Dennoch klammerte sie sich an den winzigsten Strohhalm fest und hoffte, dass es sich doch noch ändern würde. Sora hatte sie nichts von der Nacht und den Gesprächen mit Tai erzählt. Es war wie ein kleines Geheimnis, das sie hüten wollte, wie ihren Augapfel. Am Nachmittag schlenderte sie gelassen zum Schultor. Noriko hatte ihr eine SMS geschrieben, dass sie dort auf sie warten wollte. Es dauerte nicht lang, bis sie sie entdeckte und freudestrahlend auf sie zugelaufen kam. Auch Etsuko war dabei und hatte einen angestrengten Gesichtsausdruck aufgelegt. „Hey“, begrüßte Mimi sie fröhlich und blieb vor den beiden stehen. Sie hatte nicht gewusst, dass Etsuko auch mitkommen wollte und war sehr überrascht sie zu sehen, auch wenn sie sich über ihre Anwesenheit freute. Noriko trug eine schwarze Mütze und verdeckte ihre Glatze vor den neugierigen Blicken der anderen. Ein paar Schüler gingen an ihnen vorbei, nahmen sie aber nicht wirklich wahr. Das einzige was Mimi sofort auffiel, war das unaufhörliche Grinsen ihrer Schwester. „Was ist denn los? Hast du Grinse-Saft getrunken?“, fragte Mimi stirnrunzelnd und richtete kurz den Blick zu Etsuko, die genervt aufstöhnte. „Ich habe auch keine Ahnung, was mit ihr los ist! Sie hat mich einfach mitgeschleppt und mir gesagt, sie hätte große Neuigkeiten!“ „Neuigkeiten?“, wiederholte Mimi verwundert, als Noriko sich bei ihr unterhakte. Sie zog Mimi und Etsuko ein Stückchen mit, sodass sie außer Reichweite von Mimis Schule waren. „Jetzt tut nicht so geheimnisvoll, ich werde schon ganz hibbelig“, sagte Etsuko empört und setzte sich auf eine freie Parkbank in der Nähe. Auch Mimi setzte sich und legte ihre Tasche auf ihren Schoß. Noriko grinste unaufhörlich und hatte ihre Hände hinter dem Rücken verschränkt. Nervös kaute sie auf ihrer Unterlippe und rang nach Worten. „I-Ich brauch‘ ein Kleid!“, platzte aus ihr hervor. Verwirrt blickten sich Mimi und Etsuko an. „Ein Kleid?“, hakte Etsuko nach und zog ihre Stirn kraus. „Dafür schwänze ich gerade meine Vorlesung?“ „Ein besonderes Kleid“, sagte Noriko mit Nachdruck und richtete ihren Blick zu Mimi, um ihr scheinbar gedanklich die Wichtigkeit ihrer Worte mitzuteilen. Doch Mimi verstand nur Bahnhof. „Okay? Willst du etwa mit uns shoppen gehen?“ „Das auch, aber ich will mir ein besonderes Kleid kaufen“, untermauerte sie und legte ihre Betonung auf „besonderes“. Sie gestikulierte etwas mit ihren Händen und spreizte ihre Finger auffällig. Erst fiel Mimi nichts auf, da sie ihre Gedanken immer noch ordnete und sich fragte, ob und wann sie Noriko von den neusten Ereignissen in Kenntnis setzen sollte, als sie plötzlich etwas an ihrem Finger aufblitzen sah. Ihre Augen weiteten sich und ihr Mund klappte vor lauter Sprachlosigkeit auf. „Was ist denn das?“, fragte sie und begutachtete das Schmuckstück an ihrem Finger. „Was ist was?“, hakte Etsuko nach und folgte Mimis Blick, der direkt auf ihren Ringfinger gerichtet war. Etsuko schlug die Hand vor den Mund und sah unsicher zu Noriko, die nur bestätigend nickte. „Scheiße, er hat dir einen Antrag gemacht?“, platzte aus der forschen Filmstudentin hervor, als sie sich den Ring genauer anschaute. Auch Mimi rang mit ihrer Fassung und schüttelte immer wieder ungläubig den Kopf. „Ist das dein Ernst? Chiaki und du werdet heiraten?“, vergewisserte sie sich nachträglich. „Ja, werden wir“, antwortete Noriko atemlos und hielt ihren Ring fest umklammert. „Am Sonntag hat er mir den Antrag gemacht. Das ist der Ring seiner Großmutter“, präsentierte sie stolz. Ein rostroter Stein zierte die Fassung und Mimi und Etsuko blicken immer noch vollkommen entgeistert in das überglückliche Gesicht von Noriko. „Aber wie kam es dazu? Gib‘ uns mal ein paar Infos“, forderte Etsuko empört und beide sahen die angehende Braut erwartungsvoll an. Plötzlich sprudelte alles aus ihr hervor. Verträumt erzählte sie ihnen, dass sie schon länger mit Chiaki über ihre sehnlichsten Herzenswünsche gesprochen und immer wieder betont hatte, dass sie gerne ihre eigene Hochzeit noch erleben wollte, aber dies eher unwahrscheinlich war. Am Sonntag hatte er sich ein Herz gefasst, all seinen Mut zusammen genommen und sie gefragt. Unter Tränen hatte sie „Ja“ gesagt, auch wenn sie vollkommen überrascht war und mit sowas überhaupt nicht gerechnet hatte. „Er hat gesagt, dass die Momente hier und jetzt zählen und wir nicht länger warten sollten!“ „Wow, ich bin sprachlos“, brachte Mimi nur noch hervor, stand auf und zog sie in eine liebevolle Umarmung. Sie konnte es nicht fassen…Noriko würde heiraten! Das kam alles so plötzlich, aber dennoch freute sie sich unheimlich für sie. Chiaki liebte sie aufrichtig und würde alles für sie tun, auch wenn er selbst wusste, dass ihre Zeit nur noch begrenzt war. Sein Blick war voller Liebe, etwas was Mimi immer neidvoll bei ihren ganzen Freundinnen beobachtete. Doch hier empfand sie nur pures Glück, da Noriko jemanden gefunden hatte, der sie verstand, liebte und alles mit ihr durchstehen würde, egal was ihnen noch bevorstand. Mimi ließ sie wieder los und sah sie freudig lächelnd an. „Und wann ist der große Tag?“, fragte sie interessiert und sah sie gespannt an. Noriko presste die Lippen aufeinander und zog ihre Schultern zu ihren Ohren. „Wir heiraten Ende des Monats!“, eröffnete sie ihnen euphorisch, während Mimi das Gesicht entgleiste. Ende des Monats? So bald? Das konnte doch nur ein Scherz sein. Kapitel 42: Eine ungewöhnliche Hochzeit --------------------------------------- „Ich glaube, ich werde niemals heiraten“, murrte Etsuko missmutig, als sie einen Ständer mit Kleidern durchstöberte. Mimi runzelte die Stirn und wandte den Blick von dem Kleid, das sie gerade in den Händen hielt, zu Etsuko. „Warum? Ich will auf jeden Fall mal heiraten! Sich einen Tag wie eine Prinzessin zu fühlen, mit dem Mann, den man über alles liebt eng zusammen tanzen, die ganzen Geschenke. Ist doch toll“, meinte sie verträumt und hielt sich das türkisfarbene Kleid an. Etsuko gab einen verächtlichen Laut von sich und ließ von dem Kleiderständer ab. „Die Ehe ist sowas von vergänglich, ich weiß gar nicht warum ich überhaupt hier bin“, grummelte sie und verschränkte die Arme vor der Brust. Ihr Blick war zur Umkleidekabine gewandt, in der sich Noriko befand. Mimi verdrehte nur genervt die Augen. Etsuko war alles andere als romantisch veranlagt. Auch wenn Mimi wusste, dass es mit dem frühen Tod ihrer Mutter zusammenhing, fand sie ihr Verhalten dennoch unpassend. Beide waren gemeinsam mit Noriko in einen Secondhandladen gegangen, um sich ein paar schöne Kleider für die bevorstehende und wirklich sehr spontane Hochzeit herauszusuchen, doch Etsuko zog, schon seit sie den Laden betreten hatten, ein Gesicht wie drei Tage Regenwetter. „Natürlich gibt es für keine Ehe eine Garantie, aber trotzdem verbindet sie zwei Menschen, die sich aufrichtig lieben.“ „Als ob es keine Ehen gäbe, die rein zweckmäßig, oder durch ungewollte Schwangerschaften entstanden wären“, entgegnete sie zynisch. „Wie lang brauchst du denn noch da drin?“ Mimi schnaubte frustriert und spürte das Etsukos Laune langsam auf sie übersprang. Doch sie wollte sich durch ihre schlechte Stimmung, ihre Laune nicht verderben lassen, besonders nicht nachdem, was alles passiert war. Sie war das erste Mal, seit einer sehr langen Zeit, glücklich. Gestern hatte sie wieder Nachhilfe bei Tai, die ziemlich gut verlaufen war. Sie hatte das Gefühl, dass sie sich viel besser verstanden, seit sie sich ausgesprochen hatten. Ihr fiel es seither viel einfacher mit ihm zu sprechen, auch wenn ihr Herz in seiner Nähe immer noch kurz vorm Explodieren stand. Er hatte sie sogar noch nach Hause gebracht, da sie sich nach der Nachhilfe noch verquatscht hatten und er sie im Dunkeln nicht alleine nach Hause gehen lassen wollte. „Bin fertig!“, kündigte Noriko freudig an und trat aus der Kabine. Mimi Augen begannen zu leuchten, während Etsuko eher desinteressiert wirkte. „Wie findet ihr es?“, fragte sie zurückhaltend und drehte sich einmal um ihre eigene Achse. Es war kein typisches Hochzeitkleid, aber das suchte sie auch gar nicht. Das Kleid war eher cremefarben statt weiß, war knielang und hatte ein filigranes Stickmuster um die Brust herum. „Du siehst wunderschön aus“, sagte Mimi ehrlich und strahlte sie herzlich an. „Ja, es ist fabelhaft! Können wir es jetzt nehmen und gehen?“ Angesäuert drehte Mimi den Kopf zu Etsuko, die ihren Ellenbogen lässig auf einer der Ständer abgestützt hatte. Ihr Ton signalisierte, dass sie mehr aus nur genervt war. „Hetz‘ mal nicht so, wir brauchen doch auch noch welche“, zischte Mimi wütend. Sie konnte ihre Einstellung einfach nicht verstehen. Noriko heiratete, konnte sie nicht einfach so tun und sich wenigstens ein bisschen für sie freuen? „Ich habe schon eins gefunden“, antwortete sie provokant und ging zu einem der Ständer und zog ein hässliches braunes Kleid hervor. Mimi zog die Augenbrauen zusammen und warf Noriko einen skeptischen Blick zu, die nur überfragt mit den Schultern zuckte. „Wenn es dir gefällt, dann nimm‘ es ruhig“, sagte sie nach einer Weile, während Mimi einen frustrierenden Laut von sich gab. „Willst du nicht etwas Freundliches nehmen? Wie das hier?“ Mimi hielt sich ein roséfarbenes Kleid vor ihren Körper, von dem sie fand, dass es perfekt zu ihren langen braunen Haaren passte. Erwartungsvoll starrte sie zu Etsuko, die nur das Gesicht verzog und somit ganz klar ihre Abneigung äußerte. „Sowas kannst du anziehen, Barbie…aber zu meinen pinken Haaren? Never!“ „Boah, wie kann man nur so ätzend sein? Willst du Noriko die Laune verderben?“, hinterfragte Mimi zickig und legte das Kleid über ihren Arm. „Wir sollten doch schon alle ein bisschen zusammenpassen, oder etwa nicht?“ „Ach, darauf lege ich jetzt nicht so viel Wert“, schwächte Noriko ihre Behauptung ab, da sie erkannt hatte, das sich die beiden bereits böse Blicke zuwarfen. Sie ging ein paar Schritte auf sie zu und legte eine Hand auf Etsukos Schulter. Noriko lächelte lieblich und auch Etsukos Blick entspannte sich wieder. Überrascht zog Mimi die Augenbraue hoch, doch erkannte selbst relativ schnell, wie kindisch sie sich verhielten. Es ging doch um Noriko und nicht um die blöden Kleider, die sie beide trugen. Mimi wollte sie unbedingt glücklich sehen. Streitereien waren hier eher unangebracht. _ Miesepetrig lief Mimi neben Noriko her und versuchte, auf Teufel komm raus, ihre schlechte Laune vor ihr zu verbergen. Auch wenn sich Etsuko und sie nicht länger angegiftet hatten, war eine deutliche Spannung zwischen den beiden zu spüren gewesen. Letztlich hatte jeder das Kleid genommen, das er von Anfang an haben wollte. „Sei nicht sauer auf sie. Etsuko meint das nicht so…sie kennt es eben nicht anders“, sagte Noriko auf einmal und riss Mimi prompt aus ihren Gedanken. Mimi schnaubte nur verächtlich und betrachtete die Tüte, die sie in ihren Händen hielt. „Aber es geht doch um dich und nicht um sie. Ich weiß ja, dass ihre Mutter gestorben ist, aber…“ „Sie hatte es nicht leicht“, begann Noriko zu erzählen und senkte betroffen ihren Kopf. Sie schob ihre Mütze etwa weiter nach unten, sodass ihre Stirn voll bedeckt war. Kurz fixierte sie Mimi, wandte jedoch recht schnell ihren Blick nach vorne und seufzte herzzerreißend. Mimi fragte sich allmählich, was mit ihr los war. Immer verteidigte sie sie, obwohl sich Etsuko deutlich daneben benommen hatte. „Ihre Mutter ist bei der Geburt gestorben“, eröffnete sie ihr leise. Mimis Augen weiteten sich und vollkommen perplex blieb sie neben ihr stehen. „Wie bitte?“, fragte sie entsetzt und konnte ihre Mimik nicht mehr kontrollieren. Ihr waren sämtliche Gesichtsmuskeln entgleist, da sie mit sowas überhaupt nicht gerechnet hatte. Sie hatte immer den Verdacht gehegt, dass Etsuko ihre Mutter durch einen Autounfall oder durch eine Krankheit verloren hatte. Mimi hatte sich nie getraut nachzufragen, da sie Etsuko noch nicht sonderlich gut kannte und auch nicht den Eindruck hatte, dass es sie immer noch tagtäglich beschäftigte. Auf Mimi machte sie einen sehr selbstsicheren und recht glücklichen Eindruck. Doch sowas, konnte ein Mensch wohl kaum verarbeiten. Egal wie sehr er es auch versuchte. Auch Noriko war mittlerweile stehen geblieben und krampfte die Finger um ihre Tasche. „Sie redet nicht sonderlich oft darüber, da sie sich lieber auf die Zukunft konzentrieren will, als auf die Vergangenheit, aber mir hat sie alles erzählt. Genauso wie ich ihr.“ Sie machte eine kurze Pause. Mimi biss sich instinktiv auf die Unterlippe und schob diese nervös hin und her. Warum konnte sie ihr das nicht eher sagen? Kein Wunder, dass sie so reagierte. „Ihr Vater war mit der Situation komplett überfordert gewesen. Sie hatten sich kurz nach der Hochzeit ein Baby gewünscht und keiner hatte damit gerechnet, dass sowas passieren würde. Deswegen hat er sie weggeben“, sprach Noriko weiter. Ihre Stimme zitterte leicht und sie richtete ihren Blick in den immer dunkler werdenden Himmel, der sich vor ihnen erstreckte. „Er hat sie weggegeben? Aber wie? Sie leben…? Hä?“ Vollkommen verwirrt blickte Mimi zu Noriko. Etsuko arbeitete doch im Club ihres Vaters und ihr Verhältnis wirkte auf Mimi immer so innig, dass dieser Satz überhaupt keinen Sinn für sie ergab. Er soll sie weggeben haben? Das konnte sie sich nicht vorstellen. „Etsu hat fünf Jahre lang bei den Eltern ihrer Mutter gelebt, bis ihr Vater mit dem Verlust besser zurecht kam und sie wieder zu sich holen konnte.“ Noriko lächelte leicht vor sich hin und drehte sich Mimi wieder zu. „Er hat es so wahnsinnig bereut, fünf Jahre ihres Lebens nicht miterlebt zu haben, dass er alles dafür getan hatte, um es wieder gut zu machen. Als sie damals die Diagnose bekommen hatte, war ihr Vater zusammengebrochen. Er hatte sich die Schuld an allem gegeben, obwohl es schwachsinnig war.“ Mimi lauschte ihren Worten und zog ungewollte Parallelen zu ihrer eigenen Situation. Es lag so viel Wehmut in ihrer Stimme, dass Mimi ihren Schmerz spüren konnte. Während Etsukos Vater sein Verhalten bereute, war ihr Vater noch meilenweit davon entfernt, überhaupt etwas zu bereuen. In Mimis Bauch brodelte es auf einmal ungemein. Natürlich fragte er immer mal wieder nach ihr, doch sie weigerte sich noch immer mit ihm zu reden, da sie noch zu verletzt war. Allerdings fiel ihr auf, dass er kein einziges Mal nach Noriko gefragt hatte, obwohl sie genauso seine Tochter war, wie sie. Sie konnte ihn nicht mehr verstehen, was ihren Hass auf ihn schürte. Jeder Mensch machte Fehler, doch nicht jeder konnte sie sich eingestehen. Man konnte sich vieles schön reden, doch die Wahrheit blieb die Wahrheit. „Bitte sag‘ ihr nicht, dass ich dir das erzählt habe. Sie behält ihre Vergangenheit lieber für sich“, murmelte Noriko und setzte sich langsam wieder in Bewegung. Mimi folgte ihr lautlos durch die leeren Straßen. Es schien Menschenleer, auch wenn in einigen Läden ein paar Leute saßen und sich angeregt unterhielten. „Wie läuft es eigentlich zurzeit mit deinem Nachhilfelehrer?“, lenkte Noriko ein anderes Thema ein und grinste verschwörerisch. Mimi hing immer noch ihren Gedanken nach, dachte an Etsuko und daran, dass sie meist sehr schwer hinter die Fassade eines Menschen gucken konnte. Sie zuckte leicht zusammen, als Noriko sie antippte und ihre Frage erneut stellte. „Ähm, ja keine Ahnung. Es läuft soweit gut, aber…“, stammelte sie und hielt plötzlich inne. Sie wusste doch selbst nicht, wie sie ihre Beziehung zu Tai beschreiben sollte. Seit dem Vorfall in seinem Bett und diesen intensiven Gesprächen, die sie miteinander führten, schien sich ihre Beziehung allmählich zu verändern. Er hatte ihr zwar auch erzählt, dass er sich mit Sora wieder vertragen hatte, aber dennoch verbrachte er seine Zeit lieber mit ihr, statt mit seiner besten Freundin. Noriko hatte einen ganz klaren Ausdruck dafür. „Ich weiß nicht, ich finde es komisch, dass er auf einmal so viel Zeit mit dir verbringt. Es fühlt sich so ein bisschen an, als wollte er sich mit dir ablenken“, eröffnete sie ihre Bedenken abermals. Ablenken. Ein Stich durchfuhr ihr Herz. „Wenn er Ablenkung sucht, hätte er sicher schon andere Sachen versucht“, beschwichtigte Mimi sie und klammerte sich an die Hoffnung, dass er sich doch noch in sie verlieben würde. „Vielleicht macht er das ja noch, schließlich habt ihr schon mal zusammen im Bett gelegen“, erinnerte sie sie und Mimi bereute es ein wenig, ihr von dieser Situation erzählt zu haben. Sie wollte einfach nicht wahrhaben, dass sie möglicherweise doch Recht haben könnte. _ Die restliche Woche verging relativ schnell und Mimi verschwendete keinen Gedanken mehr daran, was während des Einkaufens alles passiert war. Sie versuchte Etsuko so normal wie möglich gegenüberzutreten und Norikos Stimme in ihrem Kopf abzustellen, die ihr immer wieder sagen wollte, dass sie für Tai nur Ablenkung war. Ziemlich früh hatten sie sich bei Etsuko zu Hause getroffen, um Noriko etwas aufzuhübschen. Es war das erste Mal, dass Mimi die Wohnung von Etsuko und ihrem Vater von innen sah. Auch wenn sie bereits studierte, lebte sie immer noch zu Hause, da die Uni keine Viertelstunde entfernt lag. Sie hatten sich in ihrem Zimmer ausgebreitet, das sehr schlicht gehalten war. Es bestand aus Creme- und Brauntönen. Neben ihrem großen Bett befand sich ein Foto ihrer Mutter, das ein paar Monate vor ihrer Geburt entstanden war. Unauffällig musterte Mimi es, versuchte sich aber relativ schnell wieder auf Noriko zu konzentrieren, die bereits ihr schlichtes Kleid trug und von Etsuko geschminkt wurde. Der blaue Spitzenstoff umspielte ihr Dekolleté hervorragend und eine filigrane Kette, die Mimi ihr zum Geburtstag nachträglich geschenkt hatte, zierte ihren Hals. Es war ein halbes Herz, das silbern funkelte. Mimi trug die andere Hälfte, die zusammen ein „Für immer“ ergab. Ganz zufällig hatte sie sie in einem Schaufenster liegen gesehen und kratzte ihr Erspartes zusammen, um ihr diese kleine Freude zu machen. „So fertig!“, meinte Etsuko und betrachtete ihr Resultat und nickte zufrieden. Auch Mimi lächelte ihr anerkennend zu, da ihr Make up Norikos natürliche Schönheit unterstrich und ihr einen rosigen Teint verlieh. Mimi war schon sehr gespannt, wie Chiaki aussah, der sich bei Masaru und Yasuo fertigmachte. Sie hatten niemandem sonst von der Hochzeit erzählt, da sie Angst hatten, dass die Erwachsenen etwas dagegen haben könnten. Deswegen hatten sie es für sich behalten und feierten so unauffällig wie möglich. Nach dem Standesamt wollten sie eine Kleinigkeit essen gehen und danach schauen, wo der angebrochene Abend, sie noch hinführen würde. Mimi und Masaru sollten die Trauzeugen werden. „Hast du eigentlich etwas Altes, Neues, Geborgtes und Blaues?“, fragte Mimi auf einmal und sah interessiert zu ihrer Schwester, die sie erschrocken anblickte. „Hä? Brauch‘ ich sowas denn?“, stellte sie die Gegenfrage und sah entsetzt zu Etsuko, die nur überfordert mit den Schultern zuckte. Mimi berichtete von dem traditionellen Hochzeitbrauch, während ihre Augen immer größer wurden und vor Vorfreude zu funkeln begannen. Ihre Mutter hatte ihr als kleines Mädchen davon erzählt gehabt, sodass Mimi sich nur noch mehr auf eine eigene Hochzeit freute. Sie mochte Bräuche und Traditionen, bemerkte aber relativ schnell, dass Norikos Gesicht auf einmal ganz blass wurde. Von Panik ergriffen sprang Noriko auf und fuhr sich über ihren zarten Haarflaum, der bereits nachgewachsen war, nachdem ihre Haare komplett ausgefallen waren. „Nein, sowas habe ich nicht! Was mach‘ ich denn jetzt nur? Wie bekomme ich auf der Stelle nur so viele Sachen her?“ Vollkommen hysterisch lief Noriko durch den Raum und sah hilfesuchend zu Mimi, die sie liebevoll anschaute. Sie strich ihr roséfarbenes Kleid glatt und führte sie zurück zum Bett. Grinsend legte sie den Kopf schief, während Etsuko das Ganze schweigsam mitverfolgte. „Naja, also dein Kleid ist etwas Altes“, begann Mimi fröhlich und musterte sie genauestens. „Und blau ist auch drin“, stellte sie fest und deutete auf ihre Brust. „Und die Kette ist neu.“ „Aber mir fehlt immer noch etwas Geborgtes!“, hakte sie nach und riss vor Entsetzen die Augen auf. Diesmal war es Etsuko, die sofort aufsprang und zielstrebig in einen anderen Raum lief. „Wo geht sie denn hin?“, fragte Noriko nervös und spielte aufgeregt an ihren Fingern. „Ich werde mal nachsehen gehen“, meinte Mimi gedankenverloren und schritt ebenfalls aus dem Zimmer und suchte nach Etsuko, die sie im Nebenzimmer fand. Sie stand vor einem großen Schrank und kramte nach etwas, während Mimt mit verschränkten Armen gegen den Türrahmen lehnte. „Hast du etwa eine Idee für etwas Geborgtes?“, wollte Mimi wissen und schritt näher an sie heran. „Ja“, meinte Etsuko knapp und kramte weiter. Mimi war die Situation mit ihr immer noch etwas unangenehm, besonders nachdem sie die Wahrheit kannte. Sie schämte sich, dass sie über ihr Kleid gemeckert hatte, obwohl es ihr wirklich hervorragend stand und zu ihren pinken Haaren passte. Unruhig wippte Mimi mit ihren Füßen hin und her und überlegte fieberhaft, was sie doch zu ihr sagen könnte. „Hey…“, begann Mimi unsicher, „i-ich…Etsuko…ehm, es tut mir leid!“ Etsuko sah kurz zu ihr, kramte jedoch unbeirrt weiter. Mimi ging ein paar Schritte auf sie zu und stellte sich direkt hinter sie. „Ich hätte nicht über dein Kleid meckern sollen…es steht dir einfach fabelhaft und…naja, ich…“ „Mach‘ mal einen Punkt Mimi“, sagte sie und drehte sich grinsend zu ihr. „Ich bin dir nicht böse. Ich weiß selbst, dass ich mich dämlich aufgeführt habe und du nur deine Meinung gesagt hast. Das ist in Ordnung“, stellte sie mit sanfter Stimme klar und widmete sich wieder dem gesuchten Gegenstand. Mimi blieb sprachlos stehen und wusste beim besten Willen nicht, was sie noch erwidern sollte, als Etsuko sich freudig umdrehte und etwas in ihren Händen hielt. „Tada“, sagte sie nur und hielt das seltsame Ding unter Mimis Nase. Argwöhnisch musterte Mimi es und rümpfte die Nase. „Was soll das denn sein?“ „Etwas Geborgtes“, antwortete Etsuko grinsend und ging ein paar Schritte auf sie zu. Ihr Grinsen verschwand und wich einem matten Lächeln. „Hör zu, ich bin dir nicht böse, oder so“, eröffnete sie ihr und legte die Hand auf ihre Schulter. „Ich mag sogar Menschen sehr gerne, die offen ihre Meinung sagen, aber in manchen Dingen bin ich eben etwas anderes eingestellt. Nimm‘ das nicht persönlich, okay?“ Mimi lächelte leicht und nickte augenblicklich. „In Ordnung.“ „Okay, dann wäre das ja geklärt“, meinte Etsuko und legte einen Arm um sie. „Jetzt komm, lass‘ uns Norikos Outfit fertigstellen!“ _ Nervös stand sie vor dem Standesamt und wartete draußen auf die Jungs, während Noriko und Etsuko nochmal auf der Toilette verschwunden waren, um sich frisch zu machen. Jetzt ging es also tatsächlich los. Noriko würde heiraten und sie befand sich mittendrin. Sie sah sich um und kuschelte sich ein wenig in ihre Jacke. Für Ende Oktober war es zwar noch recht warm, doch an ihren Beinen begann sie leicht zu frösteln, weshalb sie hoffte, dass die Jungs bald auftauchen würden. Gespannt hielt sie nach ihnen Ausschau, als plötzlich drei Männer unterschiedlicher Größer auf die zugesteuert kamen. Ihr Grinsen stieg ins Unermessliche, als sie die drei vollkommen rausgeputzt im Anzug auf sie zukommen sah. „Wow, ich bin beeindruckt“, meinte sie stolz, als sie direkt vor ihr stehen blieben. Yasuo tätschelte sich verlegen den Hinterkopf, während Masaru nur spielerisch die Augen verdrehte. „Man tut eben was man kann“, gab er von sich und klopfte seinem besten Freund auf die Schultern, der heute besonders blass und nervös auf Mimi wirkte. Auch er trug einen wunderschönen Anzug und hatte eine rote Rose an sein Sakko gesteckt. Mimi hielt den Brautstrauß, den sie auf einem öffentlichen Blumenfeld einfach gepflückt hatten, als sie sich unbeobachtet fühlten. „Sie sieht wirklich fantastisch aus“, sagte Mimi und zwinkerte Chiaki verschwörerisch zu. Seine Hände begannen zu zittern und er atmete auffällig und leicht schnaubend vor sich hin. Mimi konnte nur erahnen, was in ihm vorging. Er liebte sie. Aufrichtig. Das hatte sie sofort gemerkt, als sie beide miteinander gesehen hatte. Er schenkte ihr eindeutige Blicke, die nur für sie bestimmt waren und seine Zuneigung für sie ausdrückten. Er signalisierte ihr, dass sie die Einzige für ihn war und nichts und niemand auf dieser Welt es ändern konnte. Selbst der Tod, der sie in geraumer Zeit einholen würde. Mimi schüttelte sich bei diesem Gedanken. Nein, sowas durfte sie wirklich nicht in ihre Gedanken lassen. Es war kein Tag der Traurigkeit. Wieder blickte sie zu Chiaki, der hinter sie schaute und sein liebevolles Lächeln nicht mehr unterdrücken konnte. Mimi folgte seinem Blick und drehte den Kopf. Hinter ihr stand Noriko, die Chiaki anstrahlte und langsam auf ihn zuschritt. Etsuko folgte ihr lautlos und hatte ihre Arme hinter dem Rücken verschränkt. Sie blieb neben Mimi stehen und beide beobachteten, wie Noriko auf Chiaki zu ging und dieser sprachlos ihr gegenüberstand. Die langen braunen Haare ihrer Perücke hatten sie leicht gelockt und ein Blumenhaarband an ihrem Kopf befestigt. Chiaki trat näher an sie heran, strich ihr sanft über die Wange und fixierte sie mit einem liebevollen Blick. Er presste seine Stirn gehen ihre, als sie ihre Arme um ihn legte und ihm einen sanften Kuss auf die Lippen hauchte. Yasuo hatte selbstverständlich seine Kamera gezückt und filmte diesen herzergreifenden Moment. Selbst Masarus Gesichtszüge wurden weicher, auch wenn sich Mimi immer noch den Streit mit seinem Vater erinnerte. Bisher hatte sie keine Gelegenheit mehr gehabt mit ihm in Ruhe zu reden und heute würde sie es wohl auch nicht schaffen, da die Atmosphäre fast schon magisch auf sie wirkte. Noriko griff zaghaft nach den immer noch zitternden Händen von Chiaki, der seinen Blick einfach nicht von ihr abwenden konnte. Verliebt sah er sie an und fuhr ihr innig über ihr zartes Gesicht. Ein paar Haarsträhnen schob er beiseite, als sich das Paar in Bewegung setzte. „Wollen wir reingehen?“, fragte er in die kleine Runde und fing nur ein leichtes Nicken der meisten auf. Mimi wartete auf Masaru und hakte sich bei ihm unter, während Etsuko zu Yasuo ging und ihn regelrecht zum weiterfilmen motivierte. Dieser Tag sollte etwas besonders werden und Mimi wusste genau, dass Chiaki ihre Schwester glücklich machen konnte. _ Nach dem Standesamt waren sie gemeinsam etwas essen gegangen – so wie sie es geplant hatten. Ihr Weg führte sie in eine schlichte Pizzeria, in der sie ziemlich auffielen, da sich jeder herausgeputzt hatte. Mimi hatte sich noch eine Strumpfhose übergezogen, da sie zu sehr fror und sich ihre Schwester als nächstes ein ganz besonders Ziel gesetzt hatte. Sie fragte sich wirklich manchmal, wie sie auf solche Ideen kam. War Alice im Wunderland ihr zu Kopf gestiegen? „Das ist die ungewöhnlichste Hochzeit, der ich je beiwohnen durfte“, erwiderte Mimi, als sie direkt vor der Achterbahn im neuen Vergnügungspark standen. Alle hatten noch ihre feinen Klamotten an und standen tatsächlich an, um eine Runde Achterbahn zu fahren. Vor Mimi standen Noriko und Chiaki, die ihre Finger ineinander verschränkt hatten. An Norikos rechter Hand sah sie ihren Ehering blitzen und konnte immer noch nicht fassen, dass sie tatsächlich verheiratet war. Alles fühlte sich an, wie ein wilder und verrückter Traum. Es fühlte sich nicht real an, sondern viel mehr wie die Welt, in die Alice abtauchte. Wunderland. Ein Land, indem alles möglich schien und alle glücklich waren. Einem Land, indem Wunder zur Tagesordnung zählten. Ein Land, das in Wirklichkeit nur in Märchen existierte. Doch wenn Mimi, Chiaki und Noriko genau beobachtete, hatte sie diesen Funken Hoffnung, der ihr zeigte, dass gerade die kleinen Momente wertvoll und unvergessen blieben. „Bist du schon mal Achterbahn gefahren?“, fragte Masaru sie und starrte mit einem immer blasser werdenden Gesicht, die Menschen, die sich darauf befanden und um ihr Leben schrien, an. „Hast du etwa Schiss?“, mischte sich Etsuku ein und grinste verschwörerisch. „Keine Ahnung, ich bin noch nie gefahren!“, antwortete er wahrheitsgemäß und schluckte, als sie eine scharfe Kurve lang fuhr. Mimi kicherte leise und legte die Hand auf seine Brust. „Mach dir keinen Kopf, ist halb so schlimm! Das Gefühl ist aber unbeschreiblich.“ „Welches Gefühl? Todesangst?“ „Sei nicht so ein Spielverderber“, murrte Etsuko verärgert und knotete ihre Haare zu einem unordentlichen Dutt zusammen. „Du wirst schon nicht sterben!“ „Ich habe aber Final Destination 3 gesehen“, zischte er von Angst erfüllt und Mimi fiel ein, dass sie diesen Film ebenfalls gesehen hatte. Zusammen mit Tai und Sora. Was er wohl heute unternahm? Ihr fiel plötzlich ein, dass sie schon eine halbe Ewigkeit nicht mehr auf ihr Handy geschaut hatte. Sie schrieben ab und zu, wenn ihnen langweilig war, miteinander. Einmal hatten sie sich sogar bis drei Uhr nachts wachgehalten, da sie sich über das leidige Thema Fußball unterhalten hatten. Eigentlich war es sogar recht witzig gewesen, als Tai versuchte in den Kurzmitteilungen ihr Interesse an dem Sport zu wecken. Natürlich hatte Mimi zisch Gegenargumente, die sie prompt gegen ihn verwendete. Sie hatte dadurch auch erfahren, dass er mit seinem Vater zu dem Fußballspiel seiner Lieblingsmannschaft gegangen war, was sie irgendwie beruhigte. Die Vorstellung, ihn mit einem anderen Mädchen zu sehen, brachte sie weiterhin an den Rand der Verzweiflung, selbst wenn es nur ein dummes Fußballspiel und ursprünglich ein Geburtstagsgeschenk von Matt und Sora war. Langsam pfriemelte sie ihr Handy heraus und stellte ein wenig überrascht fest, dass sie tatsächlich eine Nachricht von Tai bekommen hatte. Neugierig öffnete sie sie und musste über den Inhalt leicht schmunzeln. Kari hat mich überredet einen Liebesfilm mit ihr zu sehen, weil ihr heißgeliebter TK die Grippe hat. Irgendwelche Ratschläge wie ich das Überleben soll? ;) – Tai Ein Dauergrinsen brannte sich auf ihre Lippen, als sie eine Antwort an ihn zurücktippte. „Wem schreibst du denn? Du grinst ja wie ein Honigkuchenpferd“, stellte Masaru nüchtern fest und beugte sich über ihr Handy. Mimi presste das Display gegen ihre Brust und sah Masaru mit einem vorwurfsvollen Blick an. Warum schaute er einfach in ihre SMS? Doch sein Blick verriet ihr, dass er den Namen bereits erkannt hatte. „Ist das dein Stecher? Man, du hättest wirklich mal die Initiative ergreifen und Hand anlegen müssen“, entgegnete er grinsend und erweckte prompt Etsukos Aufmerksamkeit. Zum Glück stand Yasuo vorne bei Noriko und Chiaki. „Hand anlegen? Hab ich etwa, was verpasst?“, mischte sie sich ein und musterte Mimi auffällig. Sie lief prompt rot an und fixierte Masaru mit einem feindseligen Blick. Doch er machte sich nicht viel daraus und plauderte munter drauf los. „Naja, da gibt es halt so einen Kerl, in den sie ganz schön verknallt ist und letztens hat sie bei ihm im Bett gelegen.“ „MASARU!“, brüllte sie und erweckte somit auch die Aufmerksamkeit der Leute, die teilnahmslos um sie herumstanden. „Was denn? Stimmt doch“, sagte er verständnislos, während Etsuko einen fragenden Gesichtsausdruck auflegte. „Okay, und steht er auch auf dich?“ Bevor Mimi das Wort ergreifen konnte, redete Masaru bereits weiter. „Ist noch ungewiss, aber sie traut sich ja nichts! Oder?“ Provokant sah er zu ihr und schürte ihre Wut auf ihn. Wie konnte er es nur wagen in aller Öffentlichkeit über Tai zu sprechen? Nachher bekam es noch jemand mit, der sie kannte und würde es ihm erzählen! Das konnte sie auf gar keinen Fall zu lassen. „Kannst du jetzt mal aufhören? Du gibst mir ja nur so komische Ratschläge wie ‚Komm blas ihm einfach mal einen‘. Wirklich sehr hilfreich“, pustete sie lauter als gewollt durch die Gegend. Ein paar Leute drehten sich zu ihnen um und schenkten ihr einen fragwürdigen Blick. „Das hast du doch nicht im Ernst zu ihr gesagt?“, meinte Etsuko entsetzt. Mimi atmete erleichtert auf und war froh, dass es jemand genauso sah wie sie. Masaru und seine blöden Ratschläge. Die konnte er sich wirklich sparen. „Wenn schon ganz oder gar nicht! Ich meine, du bist ’ne Frau! Setz‘ mal deine weiblichen Reize ein und verführe ihn einfach!“ Ihr klappte augenblicklich der Mund auf, während Masaru herzlich zu lachen begann und Etsuko anerkennend auf die Schulter klopfte. Mimi entgleiste ihr Gesicht und sie konnte es nicht fassen, was die beiden da von sich gaben! Wurde Romantik etwa komplett ausgeblendet? Es war ja nicht so, dass sie nicht das Verlangen hatte mit ihm zu schlafen, aber sie wollte sich dabei besonders fühlen. Wissen, dass er ebenso Gefühle für sie hatte, wie sie für ihn. „Ich hätte es nicht besser ausdrücken können“, lachte Masaru und wusch sich ein paar Tränen, die durch das herzliche Lachen entstanden waren, aus dem Gesicht. Wütend schubste in Mimi etwas weiter und schüttelte über die Meinung der beiden nur noch den Kopf. Wie konnte man nur so bescheuert sein? „Man Mimi, das ist doch nur Spaß“, versuchte er sie zu beruhigen. Doch Mimi warf ihm einen bösartigen Blick zu und verschärfte ihn zusehends. „Pass auf, dass du gleich nicht rausfliegst“, zischte sie verheißungsvoll und drückte weiter nach vorne. _ Sie hatten gerade Platz genommen, als die Sicherheitstechniker, ihnen einzeln die Bügel anlegten. Vor Mimi saßen Etsuko und Yasuo, der seine Kamera an den Sicherheitsleuten vorbeigeschmuggelt hatte und in seiner Jackentasche versteckt hielt. Mimi und Masaru saßen in der Mitte, als sich hinter ihnen Noriko und Chiaki einen liebevollen Kuss auf die Lippen hauchten. Noriko hatte die Perücke mittlerweile wieder gegen ihre Mütze eingetauscht, sie eng anlag, sodass sie keine Sorgen haben musste, sie während der Fahrt zu verlieren. Masaru wurde immer nervöser, je näher der Techniker kam und nach und nach die Bügel nach unten zog. Als er bei Mimi und Masaru ankam, zuckte dieser leicht zusammen und begutachtete mit einem argwöhnischen Blick das Handeln des Mannes. „Ist das auch wirklich alles sicher? Wie oft wird die Achterbahn überhaupt gewartet?“, fragte er hysterisch und bekam von Mimi prompt einen Hieb in die Seite. „Beruhig‘ dich mal!“, murmelte sie und auch der Mann schien Masaru nicht sonderlich viel Beachtung zu schenken, da er einfach weiterging und seine gestellte Frage ignorierte. Masaru blies die Wangen auf und versuchte sich zu entspannen, was ihm nicht sonderlich gut gelang. Er hatte Angst. Seine zitternden Hände sprachen Bände. „Ist alles okay? Wir können immer noch aussteigen, wenn du willst?“, beruhigte sie ihn und umfasste seine Hand, die sich langsam wieder beruhigte. Er lächelte sachte und schüttelte fast schon beiläufig den Kopf. „Ach was, ich bin eben noch nie Achterbahn gefahren und halt etwas nervös“, spielte er hinunter, klammerte sich allerdings an Mimis Hand fest. Einen kurzen Moment später wurden die Bügel elektronisch geschlossen und jedes entkommen war unmöglich geworden. Masaru schreckte kurz zusammen, wurde aber von Mimis aufmunternden Lächeln wieder beruhigt. Er krallte die Finger in ihre, als sie sich in Bewegung setzten und steil nach oben fuhren. „Oh Gott, es geht los“, kreischte Masaru und festigte den Griff um Mimis Hand. Sie wandte den Kopf zu ihm und verkniff sich ein Grinsen. Sein Gesicht war einfach herrlich gewesen. Er war ein wenig blass um die Nase und hielt sich mit der anderen Hand am Sicherheitsbügel fest. Mimis Herz begann gegen ihre Brust zu klopfen. Sie wandte den Blick von Masaru und überblickte den hellerleuchteten Vergnügungspark vor sich. Sie fuhren immer noch nach oben, erreichten den höchsten Punkt, als der erste Wagen sich in den freien Fall begab. Ihr Puls beschleunigte sich, als auch sie steil nach unten fuhren. Das Adrenalin schoss durch ihren Körper und ein Grinsen legte sich über ihre Lippen. Ihre Haare peitschten ihr ins Gesicht. Masaru hatte in der Zwischenzeit ihre Hand losgelassen und krallte sich fast schon verzweifelt an die Bügel. Die Bahn schoss von unten wieder nach oben, legte sich in ihre erste Kurve und ein allgemeines Schreien war zu hören. Mimi streckte die Arme in die Höhe, genoss die Geschwindigkeit und das der Wind ihre Haare durcheinander wehte. „Du musst deine Arme in die Lüfte strecken!“ sagte sie zu Masaru, der nur mechanisch mit dem Kopf schüttelte und ganz weiß wurde. Wahrscheinlich drehte sich ihm der Magen um. Besorgt musterte Mimi ihn, konnte aber erkennen, dass er langsam seine Gesichtsfarbe wiedererlangte. Seine Finger lösten sich langsam und er lockerte einen Arm, der dem Wind entgegenschlug. Mimi lächelte verschmitzt und ergriff einfach seine Hand. In der nächsten Kurve richteten sie ihre Arme in den Himmel und eine unbändige Freiheit durchzog ihren Körper. Es schien auf einmal alles möglich zu sein. Egal wie schwer das Leben einem manchmal vorkam, gab es Momente, in denen es sich federleicht anfühlte. Indem alles in Ordnung schien. Für Mimi war genau das, ein solcher Moment. Kapitel 43: Vielseitige Chancen ------------------------------- Der kalte Wind blies ihr ins Gesicht und ließ sie leicht erschaudern. Sie hielt den Kaffee, den sie sich vor kurzem geholt hatte, fest in ihren Händen und wärmte sich ein wenig auf. Tai kam gerade auf sie zu und hielt ebenfalls einen Becher Kaffee in seiner rechten Hand. Es war bereits Anfang November und die Tage hatten deutlich abgenommen. Mimi kuschelte sich noch ein wenig mehr in ihre Jacke, als sich beide langsam in Bewegung setzten. Sie hatten beschlossen die Nachhilfe ausfallen zu lassen und lieber etwas durch die Stadt zu bummeln. Zurzeit kam sie wirklich ziemlich gut in Mathe zurecht und beide verbrachten auch außerhalb ihrer Nachhilfestunden gerne Zeit miteinander. Mimi hatte das Gefühl, dass sich so langsam alles in die richtigen Bahnen begab. Sie ignorierte die Tatsache, dass Noriko bald sterben könnte komplett, da es ihr zurzeit gut ging und sie ihre Zeit mit Chiaki genoss. Sie wollte nicht daran denken, dass es bald anders sein könnte. Mimi wiederrum freute sich bald umzuziehen und mit ihrer Mutter in ein neues Leben zu starten. Sie brauchte ihren Vater nicht. Sie kamen auch ohne ihn und sein Geld zurecht. Und dann war da noch Tai, der so liebevoll mit ihr umsprang und sich wirklich Mühe gab, ihr zuhörte und sie wieder aufheiterte, wenn es ihr doch mal schlecht ging. „Hab ich dir schon erzählt, dass ich mich am Wochenende mit Matt getroffen habe?“, fragte er vollkommen aus dem Kontext gerissen. Überrascht sah Mimi ihn an und schüttelte beiläufig den Kopf. Damit hatte sie wirklich nicht gerechnet, besonders weil die beiden sich seit Monaten aus dem Weg gingen. „Über was habt ihr denn gesprochen?“, hakte sie verunsichert nach und hoffte, dass Matt wirklich dicht gehalten hatte. Sie wollte mit Tai sicherlich nicht über diese einmalige Sache sprechen, die sie versuchte zu verdrängen. Tai ließ sich auf einer Bank nieder und sah zu Mimi hoch. „Wir haben uns ausgesprochen. Ich habe mich entschuldigt…er war noch nicht mal wirklich sauer auf mich, sondern…ach keine Ahnung, es war komisch“, sagte er durcheinander und wandte den Blick von ihr. Mimi setzte sich ebenfalls dicht neben ihn und spürte seine Wärme. Sein Aftershave stieg ihr mal wieder in ihre Nase und reizte ihre Sinne. Wie gerne würde sie ihm näher kommen und endlich aus dieser Freundschaftszone ausbrechen? Sie hasste es zwischen Liebe und Freundschaft gefangen zu sein, auch wenn sie natürlich nicht das verlieren wollte, was sie bereits hatte. Seine Freundschaft. Mühselig hörte sie ihm zu, wie er von der angespannten Beziehung zu Matt berichtete, aber auch von Fortschritten erzählte. Ein müdes Lächeln zog sich über sein Gesicht, das ihn so unfassbar traurig wirken ließ, sodass Mimi ihn am liebsten in die Arme genommen hätte. Doch sie wusste nicht, ob sie diese Grenze, die immer schmaler wurde, wieder überstreiten sollte. Irgendwann würde sie sich nicht mehr zurückhalten können. „Er hat mir erzählt, dass er weggeht!“, platzte plötzlich aus ihm hervor und Mimis Augen weiteten sich augenblicklich. Es war für sie nichts Neues, da sie bereits von seinen Plänen wusste, aber die Wehmut war aus Taichis Stimme herauszuhören. Er schaute zu seinem Kaffeebecher und drehte ihn in seiner Hand. „Ich habe es wohl endgültig verbockt. Erst fange ich so einen Mist an und dann erfahre ich, dass mein bester Freund ans andere Ende der Welt geht, um berühmt zu werden. Ich hätte ihm nicht so in den Rücken fallen dürfen. Ich habe unsere gemeinsame Zeit einfach weggeworfen, weil ich so egoistisch war und Sora für mich haben wollte“, stammelte er unsicher vor sich hin und krallte sich mit einer Hand in seine wilde Mähne. Mimi rutschte unruhig neben ihm her und überlegte, was sie nur sagen sollte. Die Sache mit Sora versetzte ihrem Herzen einen deutlichen Stich, auch wenn sie das vor ihm nicht zugeben konnte. Aber dennoch merkte sie, wie verzweifelt er war und traurig den Kopf gesenkt hatte. Mimi nahm sich ein Herz und schluckte ihre eigenen Gefühle für den Moment einfach hinunter und rutschte näher an ihn heran. Ohne Vorwarnung schlang sie ihre Arme um ihn und drückte ihr Gesicht gegen seine Halsbeuge. Ein paar Haarsträhnen fielen ihr über ihre Schulter und verdeckten so ihr Gesicht. Erst erwiderte er ihre Umarmung nicht, sondern hielt starr seinen Kaffee in seinen Händen. „Er wird immer dein bester Freund bleiben, egal wo er sich befindet. Eure Freundschaft endet dadurch doch nicht“, flüsterte sie ihm zu und spürte wie er sich langsam zu ihrem Arm vortastete und behutsam seine Hand darauflegte. „Danke, Mimi“, murmelte er, ließ sie aber für ihren Geschmack viel zu schnell wieder los. Enttäuscht löste sie sich und wandte sich wieder zu ihrem Kaffee, den sie neben sich abgestellt hatte. Sie nahm ihn in die Hand und spürte die Wärme, die sich auf ihrer Handfläche langsam ausbreitete. Sie warf einen verstohlenen Blick zu Tai, der sie lächelnd anstarrte, plötzlich ihre Hand ergriff und leicht drückte. Mimi richtete den Kopf zu ihm und merkte wie er sich leicht zu ihr gebeugt hatte. Ihr wurde augenblicklich heiß. Seine Nähe hatte einfach eine unglaubliche Wirkung auf sie, die sie einfach nicht beschreiben konnte. Sie schwitzte, ihre Hände wurden langsam feucht und ihr Hals fühlte sich wie die Sahara an. „Tut mir leid, dass ich dich hier zumülle. Ich weiß ja, dass es bei dir auch drunter und drüber geht“, erwiderte er und sah betroffen zu Boden. Mimi drehte ihre Hand und umfasste seine von unten. Zart fuhr sie mit den Finger zwischen seine, sodass er seinen Kopf anhob und schief grinste. „Willst du vielleicht noch etwas unternehmen? Ich glaube, wir könnten wirklich ein paar positivere Gedanken vertragen“, meinte er überzeugend und Mimi ging ihren Gedanken nach. Was tat sie hier eigentlich? Was war das für ein komisches Gefühl zwischen ihnen beiden? Hielten sie gerade wirklich Händchen? Ihr entgleisten die klaren Grenzen, die sich einst gesteckt hatte. Es fehlte nicht mehr viel…sie hätte sich einfach näher zu ihm rüber beugen können, um ihre Lippen mit seinen zu verschließen. Doch etwas hinderte sie daran. Ihr Gewissen hatte sie fest im Griff und sendete ihr eindeutige Signale. Sie konnte sich nicht einfach fallen lassen, da sie im Hinterkopf hatte, dass er Sora liebte und nicht sie. Vielleicht hatte Noriko Recht und sie war nur reine Ablenkung von dem Mädchen, das er nicht haben konnte. Doch wenn sie in seine warmen Augen schaute, konnte sie es einfach nicht glauben. Tai war kein Arschloch. Ihre Hände waren noch immer miteinander verflochten und er machte auch keinerlei Anstalten ihre Hand loszulassen. Viel mehr starrte er sie erwartungsvoll an und hoffte, dass sie ihm einen Vorschlag unterbreiten konnte. Mimi musste nicht lange überlegen und grinste freudig in seine Richtung. „Ich habe tatsächlich eine Idee, wie wir etwas bessere Laune bekommen könnten“, sagte sie fast schon vorhersagend und sprang auf. Ohne irgendwelche Widerworte zu geben, ließ Tai sich von ihr mitziehen. _ „Hey Tai, ich falle gleich vom Stuhl“, sagte sie lachend und hielt sich an ihm fest. Auch er konnte sein Lachen nicht länger unterdrücken und rutschte ein Stück, sodass Mimi mehr Platz hatte. Eng aneinander gepresst saßen sie in einem kleinen Fotoautomat, den Mimi während des Kaffeeholens entdeckt hatte. Er legte einen Arm um ihre Hüften, um sicher zu stellen, dass sie nicht wieder wegrutschte. Zwei Bilder hatten sie bereits gemacht und wirklich lustige Fratzen in die Kamera gezogen. Mimi war gespannt, was da wohl rauskam. Das letzte Mal war sie mit Sora in einem solchen Automaten gewesen. Beide hatten unfassbar viel Spaß gehabt und die Fotos am Ende aufgeteilt. „So, was machen wir als nächstes?“, fragte Tai belustig und drehte den Kopf zu ihr. Mimi kräuselte die Lippen und verzog sie leicht nach rechts. Sie ließ ihre Schultern hängen und beugte sich leicht nach vorne. „Wie wäre es mal mit einem schönen Foto…auf den ersten beiden ziehen wir nur Grimassen“, schlug Mimi vor. „Okay, dann einfach ein breites Grinsen“, fasste Tai zusammen und drückte auf den Knopf. Die Sekunden wurden bereits angezeigt, als Tai sich zu ihr wandte und feststellte, dass ein paar Haarsträhnen an ihrer Lippe hingen. „Dreh dich mal kurz zu mir, ich mach‘ sie schnell weg“, sagte er und Mimi sah ihm tief in die Augen. Behutsam fuhr er mit seinen Fingern über ihre Lippen und löste die klebenden Strähnen. Doch danach wandte er seinen Blick nicht von ihr, sondern hielt ihrem Stand. Er fuhr über ihre Wange und strich ihre Haarsträhnen hinter ihr Ohr. Seine Hand ruhte in ihrem Nacken. Eine elektrisierende Spannung baute sich zwischen ihnen auf, doch keiner bewegte sich. Ihre Blicke waren aufeinander fixiert, hätten nicht intensiver sein können, als er zusätzlich mit den Fingern über ihre vollen Lippen fuhr und sanft über ihr Gesicht streichelte. Mimi ließ es einfach geschehen, beobachtete seine zarten Berührungen, bis sie bemerkte, dass er sich etwas zu ihr vorgebeugt hatte. Sie sah ihm wieder in die Augen und erkannte, dass er seine Augenbrauen leicht zusammengekniffen hatte und nervös auf seiner Unterlippe kaute. Auch ihre Nervosität zeigte sich, indem ihre Hände leicht zu zittern begannen und sie gespannt darauf wartete, was er vorhatte. Wie hypnotisiert sahen sie sich an, bewegten sich behutsam aufeinander zu, als plötzlich der Blitz ausgelöst wurde und beide zusammen fahren ließ. Erschrocken ließ Tai sie los und richtete sich wieder nach vorne. „So, ein Mist“, murrte er, als das Bild erschien. Er wollte schon auf löschen drücken, als Mimi seine Hand festhielt und sachte zurückzog. „Wir können doch noch eins machen und so schlimm sieht es doch gar nicht aus“, erwiderte sie und lächelte munter. „Na wenn du das sagst“, antwortete er verschmitzt und drückte erneut auf den Knopf. Wieder erschienen die beide in dem kleinen Fenster, doch diesmal hatten beide den Kopf nach vorne gerichtet und schauten fröhlich in die Kamera. „Und jetzt lächeln“, sagte Tai und zeigte seine weißen Zähne. Sein Arm drückte ihren Körper näher an seinen und ihr Herz hämmerte erneut wie wild gegen ihre Brust. Sie schenkte ihm einen kurzen verliebten Blick, konzentrierte sich aber dann wieder voll und ganz auf die Kamera. Beide lachten herzlich, als der Blitz erneut ausgelöst wurde. _ Als sie sich bereits auf dem Nachhauseweg befand, bekam Mimi eine SMS von Sora, mit der zu so später Stunde nicht mehr gerechnet hatte. Es war bereits halb sieben und die Straßenlaternen beleuchteten seit einer halben Stunde ihren Weg. Nachdem Tai und sie ein paar Erinnerungsfotos geschossen hatten, hatten sie gemeinsam eine Kleinigkeit gegessen. Er hatte sogar für sie bezahlt, auch wenn er das bei Sora auch schon öfters getan hatte. Sie genoss einfach die Zeit mit ihm, fühlte sich wie auf Wolken, wenn sie mit ihm sprach. So, als würde sie in eine andere Dimension abtauchen, in der nur sie beide existierten. Aber dennoch wollte sie ihre anderen Freunde nicht vernachlässigen, auch wenn sie mit Tai besonders viel und gerne Zeit verbrachte. Soras Nachricht klang ungewöhnlich dringend, sodass Mimi sofort kehrt machte und auf ihren Wohnblock zusteuerte. Ich habe Neuigkeiten! Kannst du vorbeikommen? Ist wirklich wichtig. – Sora Mimi konnte sich nicht vorstellen, welche Neuigkeiten sie für sie haben könnte, daher war sie auch sichtlich nervös, als sie vor Soras Tür stand und die Klingel betätigte. Nicht einmal eine Sekunde später wurde die Tür von einer strahlenden Sora aufgerissen, die sie prompt in die Wohnung schleifte. Skeptisch zog Mimi ihre Schuhe und Jacke aus und sah, wie ihre beste Freundin fast wie ein hyperaktiver Flummi durch die Wohnung sprang. Sie konnte nicht stillhalten und ein breites Grinsen zog sich über ihre Lippen. Das letzte Mal, wo Mimi sie so glücklich gesehen hatte, war in der Beziehung mit Matt. Doch das war schon eine Zeitlang her und Mimi bekam auch mit, dass beide nicht sonderlich viel Kontakt miteinander hegten. Ihre Freundschaft hatte sich komplett verändert, war gespickt von Geheimnissen und Missverständnissen, die nicht einfach so aufgeklärt werden konnten, da sie tiefe Wunden hinterlassen hatten. Es hatte sich alles verändert und Mimi ahnte nicht welche weitere Veränderung bereits in der Luft lag. „Was ist denn los? Du bist so hibbelig“, stellte Mimi nüchtern fest und ließ sich auf einem Küchenstuhl nieder. Soras Mutter war noch nicht da, weshalb die beiden Mädchen die Wohnung für sich hatten. Sora setzte sich ebenfalls und fuhr mit zitternden Fingern über die Tischplatte. Sie zog sachte Kreise, die Mimi wahnsinnig werden ließen. Warum konnte sie nicht einfach sagen, was los war? „Komm‘ spuck es schon aus! Ich werde nervös“, forderte sie ihre beste Freundin auf, die unaufhörlich grinste. Sie beugte sich leicht über den Tisch und kramte nach etwas. Irritiert blickte Mimi zu ihr, als sie ihr plötzlich ein Brief vor die Nase hielt und sie aufforderte ihn zu lesen. Mit hochgezogener Augenbraue öffnete sie den Umschlag und klappte den Brief auseinander. Ihr Blick klebte an den ersten Zeilen, ihre Augen wurden immer größer und ihr Mund klappte leicht auf. Sehr geehrte Frau Takenouchi…mit Freuden können wir Ihnen verkünden, dass sie sich für einen Praktikumsplatz qualifiziert haben. Vollkommen baff legte Mimi den Brief auf den Tisch und blickte sprachlos zu Sora, die sich vor Freude fast überschlug. „Sora…das ist einfach unglaublich“, brachte Mimi hervor und vergrub immer noch ungläubig ihre Finger in ihrer langen Mähne. „Paris war immer dein Traum gewesen.“ „Ich weiß“, sagte sie mit leuchtenden Augen. „Ich habe mich einfach vor ungefähr einem halben Jahr beworben und nicht damit gerechnet, dass es klappt!“ Mimi ergriff ihre Hand und sah sie freudestrahlend an. Ein paar Tränen bildeten sich in ihren Augen, da sie wusste, dass es sich Sora so sehr gewünscht hatte, einmal in Paris arbeiten zu durfen. „Wissen es deine Eltern schon?“ fragte Mimi und konnte immer noch nicht fassen, was gerade passiert war. Sora hatte die Möglichkeit für sechs Monate nach Paris zu gehen, um in einem kleinen Modelabel ein Praktikum zu absolvieren. Eine große Chance. „Noch nicht, aber du als meine beste Freundin solltest es auch als Erste erfahren“, meinte sie überzeugend, während Mimi automatisch von ihrem schlechten Gewissen überfahren wurde. Ihr Lächeln verschwand und Mimi löste den Griff um ihre Hand. Zaghaft zog sie sie zurück und senkte schuldbewusst den Blick. Auch wenn es mit Sora in den letzten Monaten alles andere als leicht war, war sie doch sehr aufrichtig zu ihr gewesen, erzählte ihr von ihren überforderten Gefühlen, die sie für die beiden Jungs empfand. Und sie? Sie hatte noch nicht mal den Mut, ihr die Wahrheit über ihren Vater und Noriko zu erzählen. Sora hatte durchaus bereits mitbekommen, dass sie etwas beschäftigte, fragte sogar nach, was los war, doch Mimi konnte ihr gegenüber nicht ehrlich sein und versteckte sich hinter fadenscheinigen Lügen, die sie langsam selbst zu glauben begann. Mimi spielte ein Spiel. Ein Spiel, das sie nicht gewinnen konnte. Sie atmete tief ein und blickte wieder zu Sora, die ihr Gesicht verzogen hatte, da Mimis Reaktion, alles andere als nachvollziehbar war. Doch sie hatte einen Entschluss gefasst. Wenn Sora zu ihr ehrlich sein konnte, konnte sie es auch. Ging es im Leben nicht auch darum, sich schwierigen Situationen mutig entgegen zu stellen? Die Momente zu nutzen? Das war einer dieser Momente. Sie hatte es verdient, die Wahrheit zu erfahren, auch wenn sie ihr bisher nur bei Tai halbwegs über die Lippen gekommen war. Sie musste etwas tun, um sich selbst nicht noch mehr zu verlieren. „Sora? Ich muss dir etwas sagen!“ Kapitel 44: Ein gewaltiger Tiefschlag ------------------------------------- „Sag‘ mal, was hast du eigentlich mit meinem Bruder angestellt?“ Überrascht über diese Frage, senkte Mimi ihre Wasserflasche und runzelte die Stirn. Kari und sie hatten sich in eine Ecke verzogen und genossen zusammen die Pause, da Frau Kurama sie mal wieder bis an ihre Grenzen getrieben hatte. „Wie meinst du das denn?“, hakte Mimi verwundert nach und schraubte den Deckel ihrer Flasche kurzer Hand zu. Kari fuhr sich über ihre schweißbenetzte Stirn und grinste verschwörerisch vor sich hin. „Naja, seit ihr beide wieder mehr Zeit miteinander verbringt, ist er wie ausgewechselt! Er wirkt so richtig glücklich.“ Verlegen sah Mimi zu Boden und konnte nicht verbergen, wie sich ein zaghaftes Lächeln auf ihre Lippen legte. Auch ihr war aufgefallen, dass sich Tai um hundertachtzig Grad gedreht hatte, aber sie hätte nicht erwartet, dass es an ihr liegen würde. Zwar verbrachten sie oft Zeit miteinander, aber auch das Verhältnis zu Sora und Matt hatte sich deutlich verbessert, auch wenn Tai noch nichts von Soras Zukunftsplänen und Paris wusste. Sie wollte es ihm sagen, sobald sich die Gelegenheit bot. Doch seit kurzem hatte sich eigenes verändert. Auch ihre beste Freundin wusste mittlerweile Bescheid, was zwischen ihren Eltern vorgefallen war. Sie war unfassbar geschockt gewesen und konnte es kaum fassen, dass Mimi ihr nicht schon viel früher davon erzählt hatte. An diesem Abend hatten beide ein sehr langes Gespräch geführt. Sie war auch diejenige, die sie ermutigt hatte, auch zu den anderen ehrlich zu sein. „Wie geht es dir eigentlich? Ich war richtig geschockt gewesen, als du letztens von der Trennung erzählt hast“, murmelte Kari auf einmal und riss sie aus ihren Gedankengängen. Ja, selbst Kari hatte sie es bereits erzählt, auch wenn sie ihren Freunden eine wichtige Tatsache immer noch verschwieg. Sie wusste nicht, was sie davon abhielt ihren Freunden von Noriko zu erzählen, aber sie hatte bereits während des Gesprächs mit Sora gemerkt, wie schwer es ihr gefallen war, allein über die Trennung ihrer Eltern zu sprechen. Sie hatte sich vorgenommen, ehrlich zu sein, aber scheiterte kläglich, als sie Soras mitleidigen Gesichtsausdruck bemerkte. Ein dicker Kloß hatte sich in ihrem Hals gebildet und sie daran gehindert, ihr den Rest zu offenbaren. Auch als sie Kari und Yolei davon erzählt hatte, schaffte sie es nicht sich zu überwinden, obwohl Yolei neugierig nachgehakt hatte, aber von Kari direkt in ihre Schranken gewiesen wurde, da sie bemerkt hatte, wie unangenehm die Situation für Mimi war. „Es läuft soweit. Wir werden ja bald in die neue Wohnung ziehen“, verkündete sie kleinlaut und versuchte hoffnungsvoll in die Zukunft zu blicken. Sie hatte sich sogar schon überlegt, wie sie ihren Freunden Noriko als ihre Schwester vorstellen konnte. Sie wollte, dass sie endlich wussten, dass sie kein Einzelkind war, Dass es einen Menschen gab, mit dem sie sich nicht nur die gleiche DNS teilte, sondern auch einen wichtigen Lebensabschnitt. Aber sie wollte sie so vorstellen, wie sie es auch verdient hatte. Von Angesicht zu Angesicht. So wie sie es damals auch bei ihren Freunden getan hatte. Mimi hatte auch bemerkt, wie sehr es an ihren Nerven zerrte, wieder und wieder diese leidige Geschichte aufs Neue zu erzählen, weshalb sie Noriko fragen wollte, ob sie ihr beim Umzug half, damit sie ihre Freunde besser kennen lernen konnte. Tai hatte ihr bereits zugesagt, Kari und Yolei hatten auch ihre Hilfe angeboten und auch Sora wollte helfen, wo sie nur konnte, auch wenn sie wegen Paris noch viel vorzubereiten hatte. Es wurde an der Zeit, dass sie Noriko kennen lernten. Sie bedeutete ihr viel. Mehr, als sie anfangs je gedacht hatte. Sie war zu einem wichtigen Teil ihres Lebens geworden, der untrennbar schien. Egal, was auch noch passieren würde. _ „Du bist ja so fröhlich…ist etwas vorgefallen, von dem ich wissen sollte?“, fragte Noriko beiläufig und rührte in der Gemüsesoße, die gemeinsam zubereitet hatten. Mimi unterbrach daraufhin ihr Dauergrinsen und sah sie fast schon ein wenig verständnislos an. „Du grinst doch auch den ganzen Tag nur vor dich hin“, unterstellte sie ihr und rappelte sich auf. Langsam schritt sie zu den Stühlen und setzte sich. Sie hatten sich zu einem Mädelstag getroffen und bereiteten gerade das Abendessen zu. Auch Etsuko wollte später noch zu ihnen dazu stoßen und mit ihnen zusammen ein paar Filme schauen. Mittlerweile hatte sie auch Noriko von der Scheidung ihrer Eltern erzählt, da sie bisher davon noch nichts gewusst hatte, weil Mimi das junge Liebesglück mit Chiaki nicht trüben wollte. Sie hatten lange darüber gesprochen gehabt und wollten sich nun den positiveren Dingen widmen. „Na und? Ich bin eben eine verheiratete glückliche Frau, was ist deine Begründung?“ Noriko lächelte, wissend, dass ihr Stimmungshoch nur mit Tai zu tun haben konnte. Provokant verschärfte sie ihren Blick auf Mimi und stemmte ihre Hand in die Hüfte. „Hast du deiner Mutter eigentlich schon erzählt, dass der Ring an deinem Finger, kein Freundschaftsring ist?“, versuchte sie auf ein anderes Thema zu lenken. Sie wusste bereits, dass Noriko ihrer Mutter noch nichts gesagt hatte und diese Tatsache lieber für sich behielt, solange es möglich war. Noriko sah auf ihre Hand hinab und begutachtete ihren funkelnden Ring. Verträumt umfasste sie ihren Finger und drehte kurz daran. „Ich glaube, dass das eine Sache zwischen mir und Chiaki ist. Wir sind glücklich, auch wenn wir es nicht bei unseren Eltern offiziell machen. Das gibt sicher nur Streit!“ Mimi konnte sich schon vorstellen, dass es für ihre Eltern sicher ein Schock sein musste, ihre Kinder plötzlich als verheiratetes Paar anzusehen, gerade wegen Norikos Situation und der Tatsache, dass Chiaki und sie noch nicht mal den Abschluss in der Tasche hatten. Vielleicht war es besser, die Hochzeit für sich zu behalten und alles schweigend zu genießen. Immer wenn Mimi sie ansah, bemerkte sie, wie glücklich Noriko war. Ihre Krankheit war in den Hintergrund gerückt und durch Chiaki schien sie neu aufzublühen. So als wäre ein Wunder geschehen, dass das Unmögliche möglich machte. Sie heilte. Ihr eine Chance gab, das Leben mit anderen Augen wahrzunehmen. „Aber jetzt erzähl‘ doch mal…irgendwie muss ich dir neuerdings alles aus der Nase ziehen“, meinte Noriko ein wenig vorwurfsvoll, stellte die Herdplatte ein paar Stufen runter und setzte sich zu Mimi. Erwartungsvoll begutachtete sie sie, so als würde sie hoffen, dass Mimi ihr brandaktuelle Neuigkeiten unterbreiten konnte. Doch es gab genau genommen nichts zu erzählen. Es war immer noch alles beim alten, abgesehen davon, dass sich zwischen beide diese Spannung gelegt hatte. Sie war elektrisierend, so als könnte jeden Augenblick etwas passieren, mit dem sie nicht rechneten. „Wir verbringen nur etwas Zeit miteinander“, schwächte Mimi ihre Aussage ab. „Wir verstehen uns zwar ziemlich gut, aber…ach ich weiß ja auch nicht.“ Sie senkte den Kopf, sodass ihr ein paar Haarsträhnen ins Gesicht fielen. Noriko betrachtete sie noch immer, nur dass ihr Kopf schräg lag und versuchte unter ihre Haarpracht zu blicken. „Lass dich bitte nicht verarschen“, erwiderte sie plötzlich und ergriff ihre Hand. Etwas geschockt sah Mimi wieder zu ihr hoch und nahm ihren besorgten Blick auf. „Noriko…so ist das nicht!“, versuchte sie sich rauszureden, doch ihr ernster Gesichtsausdruck blieb. „Du bist zu leichtgläubig“, unterstellte sie ihr vorsätzlich. Empört blies Mimi die Wangen auf und zog ruppig ihre Hand weg. Bevor sie etwas sagen konnte, sprach Noriko unbeirrt weiter. „Ich mache mir nur Sorgen um dich. Die Geschichte mit deinem komischen Ex hat dein Selbstwertgefühl ganz schön geschädigt und im Moment läufst du einem Kerl hinterher, der in deine beste Freundin verliebt ist. Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass er sich so schnell entlieben wird.“ Mimi stockte der Atem. Mit so viel Ehrlichkeit hatte sie nicht gerechnet. Sie wollte etwas erwidern, als sie ihr erneut ins Wort fiel. Diesmal in einem sanfteren Ton. „Ich habe nur Angst, dass du dich in etwas verrennst. Dieser Jason war wirklich ein Idiot und du hast jemanden verdient, der dich aufrichtig liebt! Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob dir Tai, dass geben kann, was du dir wünschst.“ Mimi kaute auf ihrer Unterlippe herum und folgte ihren Worten ein wenig geistesabwesend. Sie verstand zwar, was sie ihr sagen wollte, doch ihr fiel es unheimlich schwer ihre Worte auch zu akzeptieren. Sie wusste selbst, dass Jason ein Arsch war, der sie nicht nur entjungfert, sondern auch in der gesamten Schule damit herumgeprahlt hatte, nur um sie wenige Wochen später abzuschießen und gegen ein neues Modell umzutauschen. Es hatte ihrem Selbstbewusstsein sehr geschadet, da es ihr schwer fiel, erneut einem Jungen zu vertrauen, den sie gern hatte. Deswegen versteckte sie sich hinter einer Mauer, die sie selbst errichtet hatte. Sie hatte verlernt, ehrlich zu sein. Zu sich selbst. Zu anderen. Zu allem. Mimi krampfte ihre Hände ineinander und sah betrübt zu Boden. Plötzlich merkte sie, eine Hand auf ihre Schulter. „Tut mir leid…das war dumm von mir. Ich kenne ihn ja nicht und habe somit kein Recht ihn vorzuverurteilen. Es passieren immer wieder Wunder und er wäre ganz schön blöd, wenn er nicht irgendwann von selbst merken würde, wie toll du bist.“ Ein leichtes Grinsen huschte über Mimis Lippen, als sie sie ansah. „Wie wäre es denn, wenn du ihn und meine Freunde einfach mal kennen lernst, um dir selbst ein Bild zu machen. Ich glaube, es ist wirklich Zeit dafür und bald steht ja auch der Umzug an und ich brauche sicher noch eine zuverlässige Helferin“, sagte sie zaghaft und huschte mit den Augen hin und her. „Du willst mich deinen Freunden vorstellen?“, hakte sie überrascht nach. „Ja, ich weiß, dass ich lange ein Geheimnis um dich gemacht habe, aber ich will, dass sie wissen, dass es dich gibt und du mir unglaublich wichtig bist“, antwortete sie rührselig. Ergriffen ließ Noriko ihre Schulter los und versuchte einige Tränen zu unterdrücken, die sich in ihren Augen gebildet hatten. „Ich würde sie sehr gerne alle kennen lernen“, erwiderte sie herzlich, fuhr sich mit dem Zeigefinger über ihre Augenpartie und trieb Mimi ein glückliches Grinsen ins Gesicht. Als sie gerade etwas daraufhin erwidern wollte, veränderte sich Norikos Gesichtsausdruck abrupt, als sie auf einmal kräftig husten musste. Sie ging auf Abstand und hielt sich die Hand vor den Mund. Fragend sah Mimi sie an, da ihr Husten kein Ende nahm. „Ist alles okay? Hast du dich verschluckt?“, hakte sie besorgt nach und klopfte ihr leicht auf den Rücken, doch Noriko schüttelte nur den Kopf, um ihr zu signalisieren, dass ihr Klopfen nicht half, sondern eher das Gegenteil bezweckte. Sie begann zu würgen und presste die Hand gegen ihren Mund. Hilflos starrte Mimi zu ihr und verstand nicht, was auf einmal passiert war. Wo kam dieser Husten plötzlich her und warum hörte er nicht auf? Noriko sprang vom Stuhl auf und rannte ins Badezimmer. Dicht gefolgt von Mimi, in der sich Panik ausbreitete. Ihre Schwester riss die Tür auf, würgte wieder auffällig und hatte es gerade noch geschafft sich über das Waschbecken zu beugen, als sie sich erbrach. Entsetzt riss Mimi die Augen auf und schaltete sofort das Licht im Badezimmer an und presste sich dicht neben sie. „Was ist denn los?“, fragte sie hysterisch, während sich Noriko weiterhin ins Waschbecken übergab. Sie sah hinunter, wollte schon nach einem Handtuch greifen, als sie feststellte, dass das Waschbecken blutrot war. _ Angespannt lief sie den Flur auf und ab und spielte an dem kleinen Pflaster, dass ihre Armbeuge zierte. Hochkonzentriert fuhr sie mit ihren Zähnen über ihre Lippe und bewegte den Kiefer von links nach rechts. Sie fand keine Ruhe, wartete darauf, dass etwas passieren würde und ihr endlich Gewissheit gab. Doch sie stand völlig in der Luft. Die Panik fuhr durch ihren Körper und raubte ihr gänzlich jeden klaren Gedanken. Sie war so töricht gewesen. Glaubte, dass ein Wunder geschah und ihre Schwester doch noch heilte. Allerdings war es eine Wunschvorstellung, die sich in ihrem Kopf festgesetzte hatte und sie in ein Traumland segeln ließ. Dieser Traum war heute endgültig zerplatzt und zeigte ihr die grausame Realität. Noch nie im Leben, hatte sie so viel Blut gesehen. Noch nie, hatte sie sich so hilflos gefühlt, wie in diesen Moment. Wie in Trance rannten sie zum Telefon und alarmierte sofort einen Krankenwagen, der eine gefühlte Ewigkeit brauchte, um bei ihnen anzukommen. Sie war danach sofort ins Bad zurückgestürmt und musste mit Erschrecken feststellen, dass Norikos Beine zusammengeklappt und sie auf den Boden gesegelt war. Noch immer übergab sie sich, verlor Blut und zitterte am ganzen Körper. Verzweifelt versuchte Mimi sie zu stützten, ihr in irgendeiner Form, den Halt zu geben, den sie brauchte…aber auch sie war überfordert gewesen. Erinnerte sich kaum noch daran, was sie zu ihr sagte oder wie sie es geschafft hatte, sie bei Bewusstsein zu halten. Danach ging alles ganz schnell und sie waren im Krankenhaus gelandet. Noriko brauchte dringend eine Bluttransfusion, da sie während des Erbrechens viel Blut verloren hatte. Natürlich erklärte Mimi sich sofort bereit, Blut zu spenden, da sie wusste, dass beide die gleiche Blutgruppe hatten. Schon auf dem Weg ins Krankenhaus, hatte Mimi Norikos Mutter angerufen, die bereits eingetroffen war und mit dem Arzt sprach. Mimi ließ von ihrem Pflaster ab und setzte sich in den Wartebereich. Ihre Beine bewegten sich hibbelig auf und ab, während sie immer wieder zu dem Zimmer starrte, in das Noriko nach ihrer Ankunft gebracht wurde. Zurzeit durfte keiner zu ihr, noch nicht mal ihre Mutter, die allerdings die Gelegenheit ergriffen hatte, mit dem behandelten Arzt zu sprechen. Plötzlich wurde die Tür zum Treppenhaus aufgerissen und ein bekanntes Gesicht steuerte auf den Wartebereich zu. Mimi sprang sofort auf und lief schnurstracks auf ihn zu. Er drückte sie sofort an sich und auch sie verstärkte ihren Griff um ihn. Ihre Umarmung dauerte nur wenige Sekunden, als er von ihr abließ und sie seinen besorgten Blick sofort auffing. „Wo ist sie? Dürfen wir zu ihr?“ Mimi schüttelte nur wehmütig den Kopf und starrte wieder zu dem Zimmer, in dem sie sich befand. „Ayame spricht gerade mit dem Arzt, aber er konnte ihr zuerst auch keine Auskunft geben, weil keiner sagen konnte, was sie hatte“, sagte sie mit zitternder Stimmte und blickte verunsichert zu ihm. „Chiaki, da war so viel Blut“, murmelte sie erstickt und spürte einen Kloß ihren Hals empor kriechen. Ihre Augen wirkten gläsern, doch sie konnte nicht weinen. Der Schock war zu groß. Sie wollte nur wissen, wie es um Noriko stand und ob sie bald zu ihr konnte. Die Ungewissheit machte sie wahnsinnig. Chiaki schnaubte und fuhr sich durch seine dunklen Haare. Er drehte Mimi den Rücken zu und schüttelte ungläubig den Kopf. „Ich habe geahnt, dass sie mir irgendetwas verheimlicht, aber immer wenn ich sie darauf angesprochen hatte, hat sie mir versichert, dass alles in Ordnung sei“, erwiderte er mit einem verzweifelten Unterton. Überrascht blickte Mimi ihn an, als er sich ihr wieder zuwandte. Er hatte etwas geahnt? Warum traf sie das Ganze nur so unverhofft? Sie wusste doch, was mit ihr los war… Von der Härte der Realität getroffen, fuhr sie über ihr Gesicht und konnte selbst nicht fassen, dass sie die Tatsachen einfach verdrängt hatte. Ihre Schwester würde sterben. Daran gab es keinen Zweifel! Warum war ihr es jetzt erst bewusst geworden? Aus ihrem Gesicht entwich sämtliche Farbe. Sie hatte es verdrängt. Wollte nicht wahrhaben, was sie eigentlich wusste. Doch an welches Wunder hatte sie nur geglaubt? Dass, die Medizin plötzlich mit einem Wundermittel daherkam und Noriko rettete? War sie wirklich so naiv gewesen? Sie schluckte hart und konzentrierte sich darauf, vor Chiaki nicht in Tränen auszubrechen. Nachdenklich blickte er zu ihr, als er auf einmal den Kopf hob und erwartungsvoll hinter sie starrte. Mimi folgte seinem Blick und erkannte Ayame auf sie zukommen. Ihr Gesicht wirkte wie versteinert. Keinerlei Emotionen waren darin zu erkennen. Die kalte Angst stieg in ihr hoch, als sie vor ihnen stehen blieb und nach den passenden Worten suchte. „Was ist mit ihr? Können wir sie sehen?“, wollte Chiaki wissen. Die Dringlichkeit in seiner Stimme bohrte sich hindurch, während Mimi wie betäubt zwischen Realität und Traumwelt gefangen war. Ayame seufzte tief und ließ die Schultern mutlos hängen. „Die Metastasen in der Lunge haben sich vermehrt und im Moment bekommt sie nur ziemlich schwer Luft, aber die Ärzte versuchen ihr Bestes um ihr zu helfen.“ „Aber…sie…das Blut…“, Mimi rang nach ihren Worten. „Sie hat ein neues Medikament nicht vertragen“, erklärte Ayame mit fester Stimme, „ihr ging es schon länger schlechter.“ Mimi schnellte mit dem Kopf zu Chiaki, der die Hand vor dem Mund zusammengefaltet hatte. Sie hingegen versuchte irgendetwas zu sagen, dass einigermaßen sinnvoll klang, doch ihr fiel nichts ein. Ihre Lippen zitterten, sodass sie sie fest aufeinanderpresste und ihren Schmerz im Innern versiegte. Sie hatte sich komplett verrannt, sich einer Illusion hingegeben und die Aussichtlosigkeit der Situation verdrängt. Ein gewaltiger Tiefschlag ereilte sie und brachte Mimi auf den Boden der Tatsachen zurück. Kapitel 45: Alles rein platonisch? ---------------------------------- Gedankenverloren packte sie eine der letzten Kisten und bemerkte erst gar nicht, wie ihre Mutter in ihr Zimmer trat und sich gegen das Gitter ihres Bettes lehnte. „Und? Hast du das meiste zusammengepackt?“, fragte sie interessiert und schaute sich in ihrem leeren Zimmer um. Mimi folgte ihrem Blick wehmütig, als sie die ganzen Kisten und die leeren Einbauschränke vor sich sah. „Ja, das meiste ist bereits verstaut. Es muss nur noch das Bett und mein Schreibtisch auseinander gebaut werden“, sagte sie schwermütig und setzte sich auf ihre Matratze. Ihre Mutter ließ sich direkt neben ihr nieder und nahm sie in den Arm, so als würde sie spüren, welchen inneren Kampf sie mit sich selbst ausfocht. „Ren kommt später vorbei und erledigt das…er hat auch einen kleinen Transporter, womit wir alles in die neue Wohnung bringen können“, erklärte sie und drückte Mimi noch ein wenig näher an sich. Die letztens paar Tage waren hart gewesen. Noriko ging es zwar mittlerweile etwas besser, aber sie befand sich immer noch im Krankenhaus. Mimi hatte sie oft besucht, doch heute stand der große Umzug an, bei dem Noriko ursprünglich helfen wollte. Mimi sah es als die Gelegenheit, ihren Freunden Noriko als ihre Schwester vorzustellen und den wahren Trennungsgrund zu offenbaren. Doch das Schicksal hatte andere Pläne. Während die Jungs und Etsuko abwechselnd nach Noriko sehen wollten, hatten sich für den eigentlichen Umzug nur Tai, Kari, Yolei und Ken angemeldet. Yolei und Ken klebten mittlerweile ständig zusammen und auch Takeru hätte mitgeholfen, wenn er heute kein Spiel gehabt hätte. Auch Sora hatte ihre Hilfe angeboten, doch auch bei ihr ging zurzeit alles drunter und drüber, da sie gemeinsam mit ihren Eltern alles für das Praktikum in Paris organisierte, von dem bisher nur Mimi wusste. „Wann kommen eigentlich deine Freunde?“, hakte ihre Mutter nach und ließ langsam von ihr ab. „Auf jeden Fall bevor Etsukos Vater die Möbel bringt. Tai und ich wollten noch die Wände streichen!“ Ihre Mutter wurde augenblicklich hellhörig und ein Lächeln schlich sich auf ihre Lippen. „Ihr versteht euch wirklich zurzeit ziemlich gut“, stellte sie freudig fest, „er ist auch ziemlich oft bei uns gewesen…also in letzter Zeit. Läuft da vielleicht irgendetwas?“ Verlegen sah Mimi zur Seite und legte ihre Haare über eine Schulter. Unsicher blickte sie zu ihrer Mutter und spürte wie ihre Wangen warm wurden. „I-Ich, ich weiß es um ehrlich zu sein nicht“, antwortete sie wahrheitsgemäß. Es war inzwischen immer schwerer geworden, die Grenze zwischen Freundschaft und Liebe klar zu erkennen, auch wenn ihre Gefühle klar definiert waren. Er war für sie immer noch das ewige Rätsel, das sich einfach nicht lösen ließ. Erst letztens hatten sie gemeinsam den Abend miteinander verbracht, kurz nach Norikos Einlieferung. Ihr ging es an diesem Abend nicht sonderlich gut, was er sofort zu bemerken schien. Ohne groß etwas zu sagen, hatte er sie in den Arm genommen. Drückte sie dicht an sich und ließ sie an seiner Wärme teilhaben, die ihr half. Stundenlang hielt er sie einfach nur fest und redete gut auf sie ein, auch wenn er gar nicht wusste, warum es ihr so schlecht ging. Dennoch fand sie diese Situation unfassbar romantisch, auch wenn es zu keinem Kuss oder ähnlichen Annährungsversuchen kam, die Mimi die Gewissheit gab, das Tai möglicherweise doch ansatzweise das Gleiche für sie empfand, wie sie für ihn. Sie war verunsichert, da sie sich auch nicht traute nachzufragen oder endlich mal die Initiative zu ergreifen. Mit Zurückweisung konnte sie im Moment nur schwer umgehen. _ „Wie kommst du eigentlich auf Grün? Ich dachte Rosa wäre deine Lieblingsfarbe?“, fragte er mit hochgezogener Augenbraue, als er den Deckel der Farbe öffnete. Mimi stand mit einer Rolle bewaffnet ihm gegenüber und trug ein altes Shirt, das ihre Mutter ihr gegeben hatte. Auch Tai trug etwas Altes und rührte langsam in der hellgrünen Farbe herum. „Ich brauche einfach mal eine farbliche Veränderung“, sagte sie überzeugend und stemmte die Hände in die Hüfte. „Und Grün ist doch eine wunderschöne Farbe, oder?“ Tai grinste und stand auf. „Also mir gefällt es besser als Rosa“, antwortete er spitzfindig und sah sie provokant an, da er nach wie vor wusste, dass sie die Farbe immer noch gern hatte. „Komm‘ jetzt lass uns mal anfangen, sonst werden wir nie hier fertig“, scheuchte sie ihn und deutete direkt auf die Farbe. Tai seufzte nur, bereute es bestimmt schon, sich für das Streichen mit Mimi entschieden zu haben. Beide waren alleine, während der Rest gemeinsam mit Mimis Mutter den Transporter von Etsukos Vater beladen und in circa einer Stunde bei ihnen sein würde. Tai goss ein bisschen Farbe in einen größeren Eimer und tauchte seine Rolle großzügig hinein und streifte die überschüssige Farbe an dem Farbgitter etwas ab. Dann setzte er an und rollte gleichmäßig über die weiße Wand. Mimi beobachtete den Vorgang genau und bückte sich ebenfalls zur Farbe hin. Auch ihre Rolle tunkte sie in die Farbe, bemerkte aber relativ schnell, dass sie viel zu viel aufgenommen hatte. Hilfesuchend blickte sie zu Tai, der auf sie herabschaute und belustigt anlächelte. Er legte seine Farbrolle ab und tapste auf der Folie, die sie zum Abdecken ausgelegt hatten, zu ihr. Tai beugte sich zu ihr hinunter und umfasste ihre Hand. Ihre Körper berührten sich sachte und lösten bei Mimi wohlige Schauer aus. Sein Kopf befand sich direkt neben ihrem und ihr Zopf kitzelte ihn leicht im Gesicht, weshalb er ihn sanft über ihre linke Schulter legte. Danach fuhr er behutsam mit der Rolle über das Gitter, um die zusätzliche Farbe abzustreifen. Er hatte ihre Hand fest im Griff, auch wenn er sie nur locker umschloss. Unauffällig blickte Mimi immer wieder zu ihm und spürte das ständige Verlangen nach seiner Nähe, dass in ihr das Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit auslöste. Gemeinsam standen sie auf. Tai stand dicht hinter ihr und zeigte ihr, wie sie die Rolle zu halten hatte und wie viel Druck sie ausüben musste, um ein gleichmäßiges Ergebnis zu erzielen. Während er mit der einen Hand, immer noch ihre Hand und die Rolle festhielt, fühlte Mimi seine andere an ihrer Taille, um ihr den nötigen Halt zu geben. Sie konnte gar nicht in Worte fassen, wie intensiv sich seine Berührungen allein über den Klamotten anfühlten. Ihr ganzer Körper kribbelte vor Freude und in ihren Gedanken malte sie sich aus, wie es wohl wäre, weniger als dieses olle Schlabbershirt zu tragen. Sie biss sich intuitiv auf die Zunge. Warum dachte sie nur sowas? Ihr fiel es generell schwer, sich in seiner Anwesenheit auf das Wesentliche zu konzentrieren, doch neuerdings meldete sich wohl auch ihre Libido zu Wort. Sie wusste nicht, was es war, aber der Drang ihm noch näher sein zu wollen, wuchs. Es machte sie wahnsinnig. Nahm ihr sämtliche Konzentration und drängte sie dazu, sich ständig vorzustellen, wie es wohl sein könnte, mit ihm intim zu werden. Wie er liebevoll ihre zarte Haut streichelte….wie sich ihre Härchen behutsam aufstellten…wie ihre nackten Körper sich vollkommen im Einklang miteinander bewegten… Sie schluckte und hielt für einen kurzen Moment inne. Begierig sah sie zu ihm und presste sich sanft noch etwas näher an ihn, doch er ließ sie auf einmal los und schnappte sich sein eigenes Streichwerkzeug. Etwas enttäuscht sah sie zu ihm, während er mit leicht rötlichen Wangen, die Farbe erneut abstreifte und auf die Wand brachte. Mimi seufzte resigniert und widmete sich ihrer Arbeit, auch wenn sie ein Auge immer auf Tai gerichtet hatte. Wieder und wieder tunkte sie die Rolle in die Farbe, wurde dabei immer unaufmerksamer und holte etwas schwungvoll aus, sodass nicht nur die Wand Farbe abbekam. Sie erschrak, als sie plötzlich selbst grüne Farbe im Gesicht hatte und vor Ekel leicht vor sich hin quiekte. Sie presste die Lippen zusammen und hielt mit einer Hand die Rolle fest, um mit der anderen ihr vollgespritztes Gesicht zu säubern. Belustig sah Tai zu ihr und verschränkte die Arme vor der Brust. „Du weiß schon, dass du dich nicht selbst streichen sollst?!“, erwiderte er lachend und ein großer Farbklecks löste sich von seiner Rolle und tropfte auf den Boden. „Hey, pass‘ besser auf!“, beschwerte sich Mimi augenblicklich, trat näher an ihn heran und stapfte prompt mit ihren Sneakers in den Klecks. „Sagt gerade die Richtige! Jetzt hast du es auch noch am Schuh!“, polterte Tai und hob die Farbrolle zu schnell an. Wieder spritzte Farbe durch die Gegend und traf keinen geringeren als Mimi, die vor Schreck ihre Augen zusammengekniffen hatte. Als sie sie wieder öffnete, stand Tai mit der Hand vor dem Mund vor ihr und unterdrückte ein Lachen. Langsam tastete sie sich ab und wanderte mit der Hand zu ihrem Gesicht. Mit Entsetzen musste sie feststellen, wie grüne Farbe ihr Kinn hinunter tropfte und Tai in einem waghalsigen Gelächter ausbrach. Wütend steuerte sie auf ihn zu und schlug gegen seinen Arm, was ihn jedoch nicht sonderlich beeindruckte. Ohne darüber nachzudenken, tauschte sie ihre Rolle gegen den unbenutzten Pinsel, der eigentlich für die Ecken vorgesehen war. Großzügig nahm sie Farbe auf und stellte sich provokant vor ihn. Sein Lachen verstummte augenblicklich und seine Mundwinkel zogen sich nach unten. Er nahm eine Art Sicherheitsabstand ein, indem er langsam rückwärtsging. „Mimi…leg den Pinsel weg! Ich warne dich!“, sagte er verheißungsvoll und funkelte sie ernst an. Doch Mimi war auf Angriff getrimmt. Ohne Vorwarnung stürmte sie auf ihn zu und erwischte prompt seine linke Wange. Mit geweiteten Auge fuhr Tai mit den Finger darüber und schüttelte nur fassungslos den Kopf. „Na warte Fräulein, das gibt Krieg!“ _ Sie waren in Gelächter ausgebrochen und hatten es noch nicht aufgegeben, sich gegenseitig mit Farbe zu verzieren. Mimi hatte ihren Pinsel mit ihren Fingern festumschlossen, als Tai sie von hinten festhielt und seine Arme um sie schlang. Sie rangelten miteinander, während Tai versuchte ihr den Pinsel abzunehmen. Auch er hatte bereits Farbe im Gesicht, in den Haaren und auf seiner Kleidung, doch das interessierte beide reichlich wenig. Eine unsagbar, elektrisierende Spannung hatte sie zwischen ihnen aufgebaut und wurde von Minute zu Minute leidenschaftlicher. Er hatte ihr Handgelenk gepackt und drehte sie zu sich, während sie immer noch versuchte, sich den Pinsel von ihm nicht abnehmen zu lassen. Zuerst merkte sie seine Hand hinter ihrem Rücken gar nicht, auch nicht, dass sie immer tiefer glitt und mittlerweile sanft auf ihrem Po ruhte. Ihre Körper waren dicht aneinander gepresst und sie spürte, wie er sie näher an sich zog. Ihr Blick verfing sich in seinem. Einige Haarsträhnen hatten sich bereits aus ihrem Zopf gelöst und hingen ihr etwas ins Gesicht. Mit Leichtigkeit hätte er ihr den Pinsel annehmen können, doch statt ihre Hand zu ergreifen, fuhr er die Kontur ihres Gesichtes nach, bis seine Hand ihren Nacken erreichte und sich dahinter vergrub. Mimis Atmung beschleunigte sich. Ihre eine Hand lag auf seinem Brustkorb, während die andere den Griff um den Pinsel langsam lockerte. Geräuschvoll fiel er auf den Boden und bedeckte die Folie mit zusätzlichen Farbspritzern. Doch die Anspannung steigerte sich zwischen ihnen. Es war nicht wie damals im Fotoautomat. In seinem Blick lag etwas, was Mimi zuvor noch nie gesehen hatte. Sie konnte es nicht beschreiben, was er ihr signalisieren wollte, geschweige denn von ihr erwartete. In ihrem Blick lag die tiefe Sehnsucht nach ihm, die schon viel zu lange ungestillt vor sich hin plätscherte. Sie wollte es wagen. Nur ein einziger Kuss, der ihr zeigen sollte, was das hier zwischen ihnen war. Ein einziger Kuss, der diesmal nur ihnen gehören sollte. Ihr Gesichtsausdruck wurde auf einmal recht ernst, als sie sich ihm zaghaft entgegenstreckte. Wie hypnotisiert, beobachtete er ihre Bewegungen, regte sich jedoch selbst keinen Millimeter, so als würde er abwarten, was sie letztlich vorhatte. Abrupt hielt sie inne und sah mit ihren großen braunen Augen erwartungsvoll zu Tai, der verunsichert zu ihr hinabblickte. Er huschte mit seine Augen immer wieder von links nach rechts, blieb aber dann wieder an ihrem Gesicht hängen. Er atmete unruhig, lockerte seinen Griff hinter ihrem Nacken und wanderte mit seiner Hand ihren Arm hinunter, bis er mit den Fingerspitzen ihre Hand erreichte und behutsam darüber strich. Dieses Spiel ging nur wenige Sekunden, als er seine Wanderung fortsetzte und zart ihre Hüfte berührte. Eine Gänsehaut überkam sie, als sie seinen Bewegungen folgte und gar nicht merkte, dass er mit dem Gesicht zu ihr hinuntergebeugt hatte. Erst als sie seinen warmen Atem an ihrer Wange spürte, wurde sie sich seiner Nähe bewusst. Instinktiv vergrub sie ihre Arme hinter seinem Nacken und öffnete leicht den Mund, als wollte sie etwas sagen. Doch sie wurde komplett aus dem Konzept gebracht, als sich ihre Nasenspitzen berührten und sie auf seine Lippen schielte. Sein Atem traf ihre Lippen. Nur noch wenige Zentimeter fehlten ihnen zu Vereinigung. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals und schrie, dass sie kein Feigling mehr sein und es wagen sollte. Er hatte seine Stirn an ihre lehnt, bewegte den Kopf leicht zur Seite und suchte mit seinen Lippen ihre. Begierig wartete sie darauf, dass sie sich endlich trafen. Es waren nur noch wenige Millimeter… „Mimi! Wir sind da!“, ertönte plötzlich die Stimme ihrer Mutter. Erschrocken lösten sie sich voneinander und blickten sich für den Moment schweigend an, als Tai verlegen die Hand in den Nacken legte und sich räusperte. Auf Mimis Wangen legte sich ein zarter Rotschimmer und ihr Herz schlug immer noch bis zum Hals, doch der Moment, der alles hätte ändern können, war vorbei. „Vielleicht sollten wir die Sauerei sauber machen, bevor sie die Möbel reintragen“, meinte er kleinlaut und sah zu Boden. Mimi folgte seinem Blick und schnaubte frustriert. Hier sah es aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Überall waren Farbspritzer verteilt…die wenigste Farbe befand sich an der Wand. Wütend über sich selbst, raffte sie den Pinsel auf und sah verstohlen zu Tai, der sich wieder der Wand widmete – so als wäre nichts zwischen ihnen gewesen. Enttäuscht legte sie den Pinsel in den Eimer mit Wasser und schnappte sich ihre Farbrolle, um ihr Werk zu vollenden. _ Mit der Hilfe der anderen, hatten sie es noch geschafft die Wände in einem saftigen Grün zu streichen. Mittlerweile war ihr Bett aufgebaut und sie hatte es auch schon frisch bezogen, als sie eine der Kisten durchwühlte. Sofort sprang ihr etwas ins Auge, dass sie schon ewig nicht mehr auf ihrem Kopf sitzen hatte. Respektvoll nahm sie ihn an sich und betrachtete ihn eine Weile, bis es plötzlich an ihrer Zimmertür klopfte. „Herein“, sagte sie matt und sah wie Tai sein Gesicht in ihr Zimmer streckte und mit dem Fuß die Tür öffnete. Er trug eine weitere Kiste in seinen Händen, die sie nach und nach aus dem Transporter von Ren räumten. „Wo soll ich die hinstellen?“, fragte er und balancierte sie wagemutig in seinen Händen. „Stell‘ sie einfach auf die da hinten“, antwortete sie und deutete auf den Kistenstapel in der Ecke. „Ich packe die wohl erst morgen früh aus.“ Sie wandte den Blick von Tai und richtete ihn wieder auf ihr Fundstück, das sie in ihren Händen hielt. Tai stellte die Kiste ab und ging ein Stück auf sie zu. „So, jetzt müssen wir warten bis der Rest mit den letzten Kisten kommt“, seufzte er theatralisch und ließ sich auf ihrem Bett nieder. Mimi biss sich auf die Unterlippe und setzte sich den gefundenen Gegenstand einfach auf ihren Kopf. „Guck mal, was ich gefunden habe“, sagte sie stolz und präsentierte ihren alten Hut vor ihm. Tai setzte sich leicht auf und musterte sie unbeeindruckt. „Steht dir wirklich hervorragend. Du erinnerst mich an diese Zehnjährige, die ich mal kannte. Sie hat oft gemeckert und war so eine kleine zickige Prinzessin“, erwiderte er sarkastisch und grinste verschwörerisch. Mimi legte den Kopf schief und sah ihn beleidigt an. Sie schnappte sich eines ihrer Kissen und pfefferte es ihm direkt ins Gesicht. „Hey, das war nur die Wahrheit“, protestierte er und setzte sich auf. „Und ich kannte da mal einen elfjährigen Idioten, der immer ‘ne dämliche Taucherbrille auf dem Kopf getragen hat“, stichelte sie und ließ sich direkt neben ihm nieder. „Das war eine Fliegerbrille“, stellte er klar und zog ihr den pinken Hut ins Gesicht. „Ey, lass das“, quietschte sie schrill und richtete ihren Hut wieder. „Erinnerst du dich noch dran, als du mit pinken Haaren hier in Japan aufgetaucht bist?“ Mimi grinste verlegen und zog den überdimensionalen Cowboyhut von ihrem Kopf. „Ja, du hast zu mir gesagt, dass ich diese hässliche Perücke ausziehen soll“, erinnerte sie sich zurück und grinste. „Danach hatte ich voll geheult und Kari musste dir erklären, dass ich sie gefärbt hatte.“ „Hallo, dass konnte ich doch nicht wissen?!“, räumte er ein und machte ein unschuldiges Gesicht. „Aber ich finde, dass dir braune Haare wirklich besser stehen.“ Wenig überrascht hob sie den Kopf und ein Lächeln zierte ihre Lippen. „Kann ich schon verstehen…welcher Kerl findet schon rosa Haare toll“, murmelte sie immer leiser werdend. „Das stimmt wohl, aber ich mag einfach generell braune Haare an dir lieber“, meinte er nachdrücklich und sah sie forsch an. Verlegen strich sie sich durch die Haare und legte sie sachte über ihre Schulter. „Das sagst du jetzt sicher nur so, damit ich nicht irgendwann auf dumme Gedanken komme und sie mir doch wieder rosa färbe“, unterstellte sie ihm und fixierte ihn herausfordernd. „Hör bloß auf! Ich warne dich! Mach deine schönen Haare nicht kaputt“, erwiderte er alarmierend. Ihre schönen Haare? Was war denn in ihn gefahren? Skeptisch zog sie die Augenbrauen zusammen. „Sag mal, was hast du auf einmal mit meinen Haaren? Braun ist doch sowieso nicht deine Farbe“, entgegnete sie etwas schnippisch und bereute augenblicklich, ihre Gedanken ausgesprochen zu haben. Völlig perplex starrte Tai zu ihr und schien darüber nachzudenken, was sie genau damit meinte. „Ähm…hä?“, machte er nur und Mimi rollte nur mit den Augen. Sie konnte sich noch gut daran erinnern, als er zu ihr meinte, dass er nicht auf Brünette stehen würde. Es hatte sich in ihren Kopf eingebrannt, wie sämtliche andere Geschehnisse der Vergangenheit, die sie lieber vergessen wollte. „Schon gut, nicht so wichtig“, schwächte sie ab und legte ihren Hut wieder in die Kiste. Gerade als sie aufstehen wollte, packte er sie am Handgelenk und brachte sie dazu sich wieder zu setzen. „Hast du das jetzt gesagt, weil ich mal meinte, dass Brünette nicht mein Typ sind?“ „Vielleicht?“ Die Unsicherheit war aus ihrer Stimme herauszuhören. Was machte sie nur, wenn Tai weiterbohren würde? Was wenn er sie darauf ansprach, warum ihr diese Aussage etwas ausmachte? Irgendwie fühlte sie sich heute nicht bereit, ihm ihre Liebe zu gestehen, besonders nicht nach heute Nachmittag. Was sollte das? Wollte er sie wirklich küssen? „Also, das habe ich eigentlich nur gesagt, weil mir Matt und Izzy auf den Zeiger gegangen sind“, erklärte er auf einmal. „Mir ist die Haarfarbe eigentlich egal, wichtig ist doch, dass man sich gut versteht.“ Er hatte sie bereits losgelassen, doch ihre Arme berührten sich noch immer. Mimi wandte sich ihm zu und setzte sich auf ihren Fuß, sodass ihr eines Bein gebeugt war und seins leicht streifte. „Ich hätte jetzt gedacht, dass du sagst, dass du auf Rothaarige stehst“, sagte sie und wunderte sich über ihre eigene Offenheit. Über Sora wollte sie eigentlich nicht sprechen. Gespannt wartete sie auf seine Antwort und stellte sich schon darauf ein, dass er mit einem Satz ihr Herz komplett zerschmetterte. Sie hielt die Luft an, betrachtete genau sein Gesicht, das auf einmal so nachdenklich aussah. „Also, weißt du…“, begann er zögerlich. Seine Augen huschten hin und her, so als würde er innerlich mit sich diskutieren und versuchen die richtigen Worte zu finden. Gerade als er erneut ansetzten wollte, wurde ihr Gespräch durch ein Klopfen unterbrochen. „Herein“, meinte Mimi genervt und sah ihre Mutter mit einem Kochlöffel in der Hand vor ihnen stehen. „Ren ist gerade angekommen“, sagte sie fröhlich und forderte sie indirekt auf, die letzten Kisten hochzutragen. Mimi seufzte und schüttelte den Kopf. Timing war in dieser Familie ganz klar verloren gegangen. _ Gegen Abend hatten sie sich alle auf der großen Couch verteilt und sahen gemeinsam einen Film. Mimis Mutter war gemeinsam mit Ren zur Arbeit gefahren, da sie mal wieder eine größere Veranstaltung planten. In einem unbemerkten Augenblick hatte Ren Mimi sogar gefragt, ob sie sich vorstellen könnte, mit der Band nochmal in ihrem Club aufzutreten. Ein wenig geschmeichelt, eröffnete Mimi ihm, dass sie mit Masaru und den anderen zu allererst sprechen wollte und ihm schnellstens Bescheid gäbe. Doch daran wollte sie heute Abend nicht denken. Viel zu sehr genoss sie die Nähe ihrer Freunde. Yolei, Ken und Kari hatten ihr wirklich unheimlich geholfen und sie war ihnen dankbar, dass sie extra ihre Zeit für sie opferten. Sie hatten zisch Kisten hochgetragen und waren mehr als nur erschöpft gewesen. Auch Tai, der hauptsächlich mit ihr irgendwelchen Unfug angestellt und mehr ihr Gesicht besudelte, statt die Wand gestrichten hatte, war vollkommen erschöpft und konnte kaum die Augen offen halten. Mimi beobachtete wie seine Lider immer schwerer wurden und er allmählich wegnickte. Sie saß nicht direkt neben ihm, sondern neben seiner Schwester, die jedoch mehr mit ihrem Handy beschäftigt war, statt auf den Film zu achten. Ken und Yolei saßen aneinander gekuschelt am anderen Ende der Couch und waren wohl die einzigen, die den Film noch richtig verfolgten. Mimi war einfach zu abgelenkt, da sie kaum den Blick von Tai wenden konnte, auch wenn er fast schlief. Plötzlich erhob sich Kari und riss ihn aus seinem Dämmerschlaf. Irritiert blickte er zu seiner kleinen Schwester, die sich mit dem Handy am Ohr von ihnen langsam entfernte. Ein breites Grinsen war auf ihrem Gesicht zu erkennen, was für Mimi nur eins heißen konnte. Sie konnte sich schon denken, wer sich am anderen Ende der Leitung befand, genauso wie Tai, der nur einen genervten Laut von sich gab und näher zu Mimi rutschte. „Das dauert jetzt eine halbe Ewigkeit bis sie wieder zurückkommt“, kommentierte er nur augenverdrehend und grinste selbstgefällig, auch wenn es auf Mimi eher traurig wirkte. Sie schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln, da sie sich schon vorstellen konnte, dass er sich manchmal sehr alleine fühlte. Die Freundschaft zu Sora und Matt hatte sich zwar etwas gebessert, aber sie war nicht mehr so eng wie früher, da sie von unerwiderten und verletzten Gefühlen geprägt war. Er schien sofort zu verstehen, wie er ihren Blick zu deuten hatte. Tai lächelte schwach und presste sich gegen die Couch. Mimi sah kurz zu Yolei und Ken, die in ihr Liebesgedusel vertieft waren und gar nicht bemerkten, dass sie näher aneinander gerückt waren. Sie waren beide allein und vermissten die Nähe eines lieben Menschen. Wehmütig legte sie ihren Kopf auf seine Schulter, während er seinen Arm um sie schlang und sie fester an sich drückte. Sie wollte ihm nah sein, auch wenn sie wusste, dass sie es nicht wirklich konnte. Sie war in einem Teufelskreis gefangen, der sich aus verzweifelter Sehnsucht, ungestillter Begierde und fadenscheiniger Hoffnung zusammensetzte. Er nahm sie nur in den Arm, weil er wusste, dass sie einsam war und auch unter der Trennung ihrer Eltern litt. Mittlerweile war ihr alles zu viel geworden, sodass sie sich an seine Nähe klammerte…vielleicht verzweifelt irgendwelche Zeichen suchte und drauf hoffte, dass er ihr signalisierte, dass ihre Beziehung nicht mehr rein platonisch war. Gedankenverloren spielte er an ihren Haaren, was ihr ein leichtes Lächeln ins Gesicht trieb. Sie ruhte an seiner harten Brust, als sie den Kopf etwas anhob, um ihn ansehen zu können. Er erwiderte ihren Blick sofort und strich zärtlich einige Haarsträhnen aus ihrem Gesicht, als er sich etwas zu ihr hinunterbeugte und ihr einen sanften Kuss auf die Stirn hauchte. Mimi riss die Augen auf, als ihr Herz einen gewaltigen Sprung machte. Er hatte die Augen geschlossen, drückte ihren zierlichen Körper noch dichter an sich, während sie seine heißen Lippen auf ihrer Stirn spürte. Es waren nur wenige Sekunden und es war auch schneller wieder vorbei, als Mimi überhaupt hätte reagieren können. Er grinste sie schüchtern an, während sie verlegen den Kopf senkte und sich gegen seine Brust drückte. Nachdenklich presste sie die Lippen aufeinander. Was hatte das nur zu bedeuten? Einen Kuss auf die Stirn gab man doch eher seiner Mutter oder Schwester… Doch was sollte das Ganze heute Nachmittag? Vielleicht hatte sie es falsch interpretiert und sich Hoffnungen gemacht, wo gar keine waren? Ein Stirnkuss? Klang eher nach einer rein platonischen Beziehung, statt nach einer aufkeimenden Liebe. Hatte sie es sich doch alles nur eingebildet, oder bedeutete es mehr, als sie vermutete? Frustrierte löste sich ein leiser Seufzer von ihren Lippen, als sie erkennen musste, dass sie in einer Sackgasse steckte. Kapitel 46: Begrenzte Möglichkeiten ----------------------------------- Sie stellte ein Foto auf ihren Schreibtisch und betrachtete es eine Zeitlang wortlos, bis ein Klopfen sie aus ihren Gedanken riss und sie umdrehen ließ. „Herein.“ Ihr Blick war auf die Tür gerichtet und sie sah wie ihre Mutter mit einem verlegenen Lächeln eintrat, langsam zu ihrem Bett schritt und sich darauf setzte. „Besuchst du heute noch Noriko?“, fragte sie und starrte auf das Foto, dass Mimi gerade aufgestellt hatte. Wehmütig blickte sie zu Boden und nickte beiläufig mit dem Kopf, ohne groß etwas zu sagen. „Wie geht es ihr denn?“, hakte ihre Mutter weiter nach und rutschte zum Fußende, sodass sich Mimi ebenfalls hinsetzen konnte. Mimi zuckte nur mit den Schultern und wusste nicht genau, was sie antworten sollte. Es fiel ihr unsagbar schwer, über Noriko zu sprechen, besonders nach dem Vorfall, den sie live miterleben durfte. Schon damals im Club hatte sie sich hilflos gefühlt, doch jetzt fand sie für ihre Empfindung keine Worte mehr. Es war nicht nur Hilflosigkeit. Nein, es war eher die Gewissheit, die sie quälte und ihr die schmerzhafte Wahrheit bewusst machte. „Sie hat jetzt ein Atemgerät, da sie so schlecht Luft bekommt“, sagte Mimi auf einmal und eine Schwere machte sich in ihr breit. Ihrer Mutter fiel es nach wie vor immer noch schwer über Ayame und Noriko zu sprechen, da ihr Vater sie sehr verletzt hatte. Zwar versuchte er auch zu Mimi wieder Kontakt aufzunehmen, wollte sie sogar in seine neue Wohnung einladen, doch Mimi war noch nicht bereit ihm gegenüber zu treten. Sie wusste nicht, wie sie auf ihn reagieren würde. Selbstverständlich war sie wütend. Er bemühte sich zwar um sie, indem er immer wieder Kontakt zu ihr, beziehungsweise ihrer Mutter aufnahm, doch sie konnte ihm einfach nicht verzeihen, dass er sie all die Jahre belogen hatte. Zu Noriko hatte er bis jetzt immer noch keinen Kontakt aufgenommen. Ignorierte die Tatsache, dass sie ebenfalls sein Kind war, das wohl nicht mehr allzu lange leben würde. Augenblicklich stellten sich bei Mimi die Nackenhaare auf. Daran wollte sie nicht denken. Das konnte sie Noriko nicht antun. Sie ebenfalls mit diesem mitleidigen, herzzerreißenden Blick anzustarren und ihr damit mitzuteilen, dass ihre gemeinsame Zeit vorbei war. Noch war sie das nicht. Die wenigen Momente, die sie noch gemeinsam hatten, wollte Mimi in aller Fülle genießen, sie aufsaugen und für immer in ihrem Herzen behalten. Plötzlich bemerkte sie, wie ihre Mutter den Arm um sie legte und sie fest an sich drückte. „Es tut mir leid, dass alles so gekommen ist“, murmelte sie mit schwerer Stimme. Fassungslos hob Mimi den Kopf an und starrte zu ihrer Mutter. „Du kannst doch gar nichts dafür. Papa hat den Mist gebaut und uns all das verschwiegen“, antwortete sie dringlich, wirkte aber gleichzeitig hilflos. Ihre Mutter durfte sich keine Vorwürfe machen. Sie hatte zwar die Augen vor der Wahrheit verschlossen, aber konnte sie ihr das verübeln? Es ging schließlich um ihre Familie, die sie nicht verlieren wollte. Satoe schmunzelte verhalten und lockerte den Griff um Mimi etwas. „Ich habe mich für nächste Woche mit Ayame verabredet. Wir wollen nochmal reden und diesmal wollen wir auch versuchen nüchtern zu bleiben“, sagte sie lachend und drückte Mimi nochmal kurz an sich, bevor sie aufstand und sich für die Arbeit fertig machen wollte. Mimi rutschte zum Fußende und krallte ihre Finger in das Bettgitter. „Mama?“ Satoe drehte sich fragend herum, kurz bevor sie ihre Zimmertür erreicht hatte. „Ja?“ „Denkst du, dass du Ayame jemals verzeihen kannst?“ Ihre Mutter lehnte sich an den Türrahmen und musterte Mimi nachdenklich. Es dauerte einen Moment bis sie antwortete. „Ich weiß es noch nicht“, antwortete sie wahrheitsgemäß. Mimi presste ihre Stirn gegen das Gitter und war sich unsicher, was sie erwidern sollte. Genau genommen, konnte sie eine Versöhnung der beiden nicht erzwingen, auch wenn es ein geheimer Wunsch von Noriko war. Die Zeit heilte zwar alle Wunden, doch ob ihre Mutter es jemals vergessen konnte? Mimi war sich da nicht so sicher. _ „Und wie geht es dir?“, fragte sie behutsam und lächelte milde. Ihr fiel es unglaublich schwer, unbeschwert und locker mit ihr umzugehen, auch wenn sie und die anderen sich sehr bemühten. Sie hatten sich bei ihr getroffen, da es von dort aus einfacherer war, dass tragbare Sauerstoffgerät notgedrungen auszutauschen. Noriko lächelte schwach und zupfte an dem Sauerstoffschlauch, der in ihrer Nase befestigt war. „Mir geht es gut! Ihr braucht mich wirklich nicht wie ein rohes Ei zu behandeln“, sagte sie fast schon ein wenig vorwurfsvoll, auch wenn sie wusste, dass sie es nur gut meinten. Chiaki hatte sie seit dem Krankenhaus keine Sekunde aus den Augen gelassen und würde sogar heute bei ihr übernachten, da ihre Mutter länger arbeiten musste. Man merkte bereits, dass ihre Kräfte allmählich schwanden. Es fiel ihr schwer länger zu stehen, weshalb sie auf ihrem Stuhl saß, während sich der Rest in der kleinen Küche verteilte, um eine Kleinigkeit zu kochen. Mimi lehnte sich gegen die Arbeitsplatte und überlegte fieberhaft, was sie ihr bloß antworten sollte. Sie hatte sich fest vorgenommen, sie nicht anders zu behandeln, doch wenn sie so vor ihr saß, fiel es ihr nicht leicht ihre Vorsätze einzuhalten. Chiaki hatte sich neben sie gesetzt und hielt ihre Hand, während Etsuko die Paprika klein schnitt und in den Topf hinzu gab. Masaru rührte in der Gemüsesoße herum, schielte aber bewusst zu Mimi, die sich prompt unter Druck gesetzt fühlte, etwas zu sagen. Sie fuhr sich mit ihrer Zungenspitze über ihre trockenen Lippen, öffnete den Mund ein wenig, als sich Etsuko plötzlich zu ihnen wandte und Noriko mit einem herausfordernden Blick fixierte. „Was ist?“, hakte sie nach und drückte auffällig Chiakis Hand. „Wir wollten doch noch etwas besprechen, oder?“, meinte Etsuko mit Nachdruck. Mimi streifte Etsuko mit einem skeptischen, aber auch verwirrten Blick, bis sie wieder bei Noriko hängen blieb. Sie zog die Augenbraue in die Höhe, merkte jedoch relativ schnell, dass ihre Schwester den Kopf senkte und aus dem Fenster stierte. Yasuo, der sich ebenfalls gesetzt hatte, wippte hibbelig auf dem Stuhl herum, so als ahnte er bereits, um was es ginge. „Was ist hier los? Verheimlicht ihr uns etwas?“, wollte Mimi entrüstet wissen und stemmte die Hände in die Hüfte. Sämtliche Schreckensszenarien machten sich in ihrem Kopf breit und vernebelten ihre Gedankengänge. Ihre Augen weiteten sich und sie versuchte telepathischen Kontakt zu Noriko aufzunehmen, doch sie scheute es ihr ins Gesicht zu sehen. „Jetzt redet schon! Wenn irgendwas ist, will ich es wissen!“ Mimi hatte die Arme vor der Brust verkrampft und sah in der kleinen Runde hin und her. Es machte den Eindruck, als wüssten alle mehr als sie, auch wenn Masaru und Chiaki genauso überrascht schienen. Langsam wurde die Unruhe immer spürbarer. „Ist irgendetwas nicht in Ordnung?“, fragte nun auch Chiaki und umfasste die Hand von Noriko. Sie seufzte und schüttelte nur mit dem Kopf. „Nein, also mir geht es nicht schlechter, als vorher auch, aber…“ Sie machte eine dramatischte Pause, nahm Blickkontakt zu Etsuko auf, die ihr nur bestätigend zunickte. Mimi runzelte daraufhin die Stirn, blickte zu Masaru, der immer noch am Herd stand und nichtsahnend mit den Achseln zuckte. „Etsuko und ich hatten schon länger vorgehabt, es euch zu sagen, aber bisher noch keine gescheite Gelegenheit gefunden…“ „Ja, also eigentlich geht es um meine Abschlussarbeit“, ergänzte Etsuko geheimnisvoll und erhaschte die volle Aufmerksamkeit. „Dein Abschlussprojekt?“, hinterfragte Masaru misstrauisch. „Davon wusste ich auch nichts“, stieg Mimi mit ein und eine deutliche Verwirrung machte sich breit. „Wir waren uns halt lange nicht sicher ob es klappt, aber…ich möchte eine Dokumentation über Noriko machen“, eröffnete sie mit einem breiten Grinsen. Noriko lief etwas rot an und wurde ganz verlegen. „Ich war anfangs auch ganz überrascht gewesen, aber Etsu kann wirklich überzeugend sein.“ Während der Rest überrascht drein blickte, bemerkte Mimi Masarus skeptischen Blick sofort. „Klingt wirklich toll, aber meint ihr nicht, dass es etwas ‚zu spät‘ ist?“ Kaum hatte Masaru seine Worte ausgesprochen, kehrte Totenstille ein. Zu spät. Mimi konnte es schon nicht mehr hören. Warum musste es nur soweit kommen? Wieso musste sie krank sein? Mimi haute ihre Zähne fest in ihre Unterlippe und zog sie schmerzvoll nach hinten. „Ich glaube, wir haben schon ziemlich viele gute Aufnahmen“, warf Etsuko in den Raum und sah direkt zu Yasuo, der seinen Stuhl hinuntergerutscht war und sich zu verstecken schien. „Du verdammter Maulwurf!“, erwiderte Masaru fassungslos, bevor er sich den Mädchen zuwandte. „Ihr habt meinen kleinen Bruder dazu benutzt, alles zu filmen? Hast du ihm deswegen die Kamera geschenkt, Nori?“ „Möglicherweise“, räumte sie kleinlaut ein und verzog das Gesicht zu einem schiefen Grinsen. „Zu meiner Verteidigung, mich haben sie erst vor kurzem eingeweiht“, mischte sich nun auch Yasuo ein und setzte sich wieder aufrecht hin. Mimi stand immer noch am selben Fleck und wusste nicht, was sie von der ganzen Aktion halten sollte. Eine Dokumentation? Über Noriko? Was würde da wohl nur auf sie zukommen? _ Nach dem Essen hatte sie sich auf den kleinen Balkon verzogen und starrte zum unendlich wirkenden Sternenhimmel. Sie hatten viel gequatscht, unter anderem auch über die Dokumentation und wie Etsuko es sich vorgestellt hatte. Sie wollte viele kleine Ausschnitte aus ihrem Leben verwenden, die sie in den letzten Monaten aufgezeichnet hatte. Erst jetzt wurde Mimi bewusst, in welchen Momenten Yasuo sie mit der Kamera verfolgt hatte. Manche empfand sie auch als sehr intim, besonders als sie ihrer Schwester den Kopf rasiert hatte und sie für einen kurzen Moment im Tränenmeer versunken war. Sie war sich nicht sicher, ob sie solche Momente mit anderen teilen und auf Band festhalten wollte. Mimi trat etwas näher zum Geländer, wandte sich kurz um. Im Wohnbereich saßen alle zusammen, lachten, erzählten sich Geschichten und verschwendeten keinen Gedanken an morgen. Ein müdes Lächeln zog sich über ihre Lippen, als sie sich wieder zum Himmel wandte. Sie brauchte diese Auszeit um Nachzudenken. Es fiel ihr schwerer als gedacht, normal mit ihrer Schwester umzugehen. Immer wenn sie sie sah, wurde ihr bewusst, dass es nicht mehr lange dauern würde. Sie hatte stark abgenommen, war nicht mehr das Mädchen, das sie voller Selbstbewusstsein in der Bar damals dumm angemacht hatte. Genau genommen war sie eher ein Schatten ihrer Selbst, der immer mehr verschwand und sich allmählich auflöste. Es war unaufhaltsam. Gewissheit, die kein Arzt der Welt ändern könnte. Sie brauchten ein Wunder. Doch Wunder waren in der realen Welt leider Mangelware. „Hey, alles klar bei dir?“, ertönte Masarus tiefe Stimme und ließ sie zusammenfahren. „Mensch, erschreck‘ mich doch nicht so“, grummelte Mimi und sah wie er sich zu ihr auf den Balkon quetschte. „Sorry“, entschuldigte er sich dämlich grinsend und erinnerte sie unweigerlich an Tai, der sie auch schon oft mit so einem Blick angesehen hatte. Generell fielen ihr viele Ähnlichkeiten zu ihm auf, auch wenn sie Masaru noch nie davon erzählt hatte. Wahrscheinlich würden die beiden sich sogar ziemlich gut verstehen, dumme Witze reißen und herzlich darüber lachen. Mimi presste die Lippen aufeinander und ärgerte sich insgeheim darüber, dass er es wieder geschafft hatte, sich in ihre Gedankengänge zu drängen, obwohl sie viel Wichtigeres im Kopf haben müsste. „Und was hältst du von der Idee? Klingt ja schon irgendwie interessant!“, meinte Masaru locker und vergrub die Hände in der Hosentasche. Mimi kuschelte sich in ihre Jacke, die sich übergezogen hatte. Es war bereits sehr kalt geworden, für Anfang Dezember definitiv nichts Ungewöhnliches. Doch die Kälte, die sie in ihrem Herzen spürte, hatte nichts mit der Jahreszeit oder den Temperaturen zu tun. Es war die Wahrheit, die ihr Herz in Beschlag nahm und es mit Kälte ummantelte. „Sie wird sterben“, murmelte sie ehrfürchtig und Tränen stiegen in ihren Augen auf. Die Tatsache, die sie nicht wahrhaben wollte, war näher denn je. Es hatte sie mit einem Schlag getroffen und sie auf den Boden gerissen. Und sie schaffte es nicht von alleine aufzustehen. Ihre Füße waren wie in Beton gegossen und wurden vom Boden magisch angezogen, sodass sie für einen kurzen Moment wirklich Bedenken hatte, sich weiterhin auf zwei Beinen halten zu können. Masaru blieb ihr trauriges Gesicht natürlich nicht unbemerkt. Behutsam legte er einen Arm um sie und drückte sie näher an sich, ohne ein weiteres Wort zu verlieren. Mimi kämpfte mit sich selbst, da sie nicht vor ihm in Tränen ausbrechen wollte, doch seine Geste brachte ihre Dämme zum Brechen. Es überkam sie einfach. Vollkommen unkontrolliert. Obwohl sie wusste, dass er es kein bisschen leichter hatte als sie. Beide hatten nicht mehr über den Vorfall von damals gesprochen, auch wenn Mimi gemerkt hatte, wie sehr Masaru die angespannte Beziehung zu seinem Vater belastete. Sie war zurzeit nicht in Lage, ihm anständige Ratschläge zu geben. Mimi selbst, hatte schon Wochen nicht mehr mit ihrem eigenen Vater gesprochen, da er ein Feigling war und nicht zu seinen Fehlern stehen konnte. Eine einsame Träne rann ihre Wange hinunter und sie verfestigte den Griff um ihn. Wie betäubt, lag sie in seinen Armen und wünschte, dass sie nochmal die Zeit zurückdrehen könnte. Sie war in der Vergangenheit immer so verdammt egoistisch gewesen. War sauer, wenn sie nicht das bekam, was sie wollte, bis sie es letztlich doch immer auf dem Silbertablett präsentiert bekam. Ihre Wünsche hatten sich mit der Zeit jedoch geändert. Sie wollte, dass Noriko weiterhin bei ihr blieb. Ein Teil ihres Lebens war, mit dem sie lachen und weinen konnte. Doch es war zu spät. Die Zeit lief gegen sie. Kapitel 47: Zerstörte Hoffnungen -------------------------------- Das warme Wasser prasselte auf sie hinab und umhüllte ihren Körper. Die Anspannung lockerte sich allmählich von ihren Schultern und Mimi hatte das Gefühl, das erste Mal wieder richtig durchatmen zu können. Sie war alleine zu Hause und nahm sich gerne Zeit beim Duschen. Sie griff nach ihrem Shampoo und verrieb den Inhalt ein wenig in ihren Handflächen, bevor sie es sich in ihre Haare gab. Der Duft nach Erdbeeren strömte durch die Dusche und ließ sie entspannen. Sanft glitt sie mit ihren Fingern durch ihre Haare und massierte das Shampoo in ihre Kopfhaut ein. Noch immer hing sie mit ihren Gedanken nach und dachte an Noriko, die heute etwas Zweisamkeit mit Chiaki genoss. Das letzte Treffen mit allen, war bereits eine ganze Woche her. Eine Woche, in der sich wieder viel verändert hatte. So oft es nur ging, besuchte Mimi Noriko zu Hause, quatschte mit ihr über Alltägliches und versuchte sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr sie sich damit quälte. Sie zwang sich zum Lachen, auch wenn ihr danach nur wenig zu Mute war. Selbst Sora und auch Tai hatten mitbekommen, dass sie irgendetwas belastete. Sora hatte es immer noch nicht geschafft, die anderen über ihre Paris-Pläne in Kenntnis zu setzen, auch wenn es immer näher rückte. Die Abschlussprüfungen würden bald beginnen und Sora schob es auf die fehlende Zeit, die sie einfach zum Lernen brauchte. Auch Tai hatte bereits mit dem Lernen begonnen und sah sich nach diversen Studiengängen um, die ihn interessieren könnten. Nach wie vor trafen sie sich einmal in der Woche zur Nachhilfe, auch wenn sie nicht immer bei Mathe blieben. Er hatte gemerkt, wie schlecht es ihr ging und sie direkt darauf angesprochen, was Mimi sehr aus dem Konzept gebracht hatte. Natürlich schob sie es mal wieder auf ihren Vater, auch wenn es mit ihm gar nichts zu tun hatte. Doch je länger sie Noriko vor ihren Freunden geheim hielt, desto schwerer fiel es ihr, über sie zu sprechen. Und Tai kaufte ihr jedes einzelne Wort ab, ohne es zu hinterfragen. Gemeinsam redeten sie bis spät abends und bemerkten gar nicht die vorangeschrittene Zeit. Schon öfters war Tai in ihrem Bett eingeschlafen und legte die Arme behutsam um sie, um ihr etwas Trost zu spenden. Mimi konnte nicht mehr differenzieren, was das zwischen ihnen war und wo es noch hinführen würde. Sie spürte die Anspannung, die in der Luft lag, wenn sie sich berührten, oder ein Bett miteinander teilten. Seit dem Umzug war es sogar noch schlimmer geworden, auch wenn sie sich nicht mehr so nah kamen, wie beim Streichen. Es waren viel mehr seine Blicke, die sie verunsicherten und ihr immer das Gefühl gaben, mehr als nur eine gute Freundin zu sein. Es hatte sich vieles verändert. Selbst in der Schule, war er komplett anders zu ihr. Mimi erinnerte sich noch gut daran, wie er immer ihre Blicke ignorierte und stattdessen lieber Sora anschmachtete. Gut, sie müsste lügen, wenn sie nicht ab und an seinen Blick zu ihr rüber huschen sah, doch wenn er nicht sie anstarrte, blickte er unweigerlich zu ihr. Schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln, oder berührte unauffällig ihre Hand, wenn sie traurig drein blickte. Vielleicht suchte sie auch die Nadel im Heuhaufen und genoss einfach nur, dass er ihr mehr Aufmerksamkeit schenkte als vorher. Schließlich waren sie gute Freunde, die füreinander da waren. Nachdenklich brauste sich Mimi ab und stieg danach aus der Dusche, um in ihre Nachtwäsche zu schlüpfen. Sie wollte sich gerade ihr Oberteil anziehen, als sie ein stürmisches Klingeln vernahm. Irritiert zog sie ihr Oberteil nach unten und schritt zu Tür. Eigentlich erwartete sie heute niemanden mehr. Sie öffnete die Tür und bekam gerade noch mit, wie ein wütender Taichi in den Flur stürmte, ohne sie zu begrüßen. „Okay“, machte sie nur und wandte sich ihm misstrauisch zu. Seine Miene blickte sie finster an und ohne Umschweife lief er direkt in den Wohnraum, dicht gefolgt von Mimi, die seine Laune nicht verstehen konnte. „Ist alles klar bei dir?“, fragte sie zaghaft nach und ging ein paar Schritte auf ihn zu. „Wusstest du es?“, hakte er wütend nach und verschränkte die Arme vor der Brust. Mimi runzelte die Stirn und konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was er gerade meinte. „Wusste ich was?“ Tai ging ein paar Schritte auf sie zu und blieb direkt vor ihr stehen. Sein Blick wurde auf einmal ganz weich und wirkte unfassbar traurig auf sie. Er ließ die Schultern hängen und seufzte laut, als er sich von ihr abwandte und sich auf die Couch fallen ließ. „Ich war heute bei Sora“, informierte er sie und Mimis Herz rutschte automatisch in die Hose. Langsam ging sie zur Couch und setzte sich schwerfällig neben ihn. „Wir wollten zusammen für Englisch lernen und…“ Er atmete tief ein und seufzte erneut. „Sie hat mir von Paris erzählt“, eröffnete er ihr monoton. Sein Blick fixierte irgendeinen unbestimmten Punkt an der Wand, sodass er Mimi nicht ansah, als er ihr davon erzählte. Anspannung machte sich in ihr breit, da sie wirklich bereits wusste, was Sora schon länger geplant hatte. Sollte sie ihm die Wahrheit sagen? Wäre er sehr böse auf sie? Aber Sora hatte sie darum gebeten, es vorerst für sich zu behalten, bis sie den richtigen Zeitpunkt dafür gefunden hatte, es den anderen zu sagen. Dieser Zeitpunkt war wohl nun gekommen. „Tut mir leid“, murmelte sie niedergeschlagen und senkte den Kopf, „sie hat mir davon erzählt, aber sie wollte es euch persönlich sagen und hat mich darum gebeten vorerst nichts zu verraten.“ Sie hörte Tai gleichmäßig atmen, traute sich aber nicht unter ihrem Haarvorgang hervor zu kommen. Es dauerte eine Weile, bis seine tiefe Stimme ertönte und ihr eine Gänsehaut über die Arme jagte. „Nein, mir tut es leid. Du kannst nichts dafür und ich habe dich angefaucht. Das war nicht so gemeint.“ Ihr Herz hämmerte gegen ihre Brust, da sie allein schon wegen seiner impulsiven Art, mit einer anderen Reaktion gerechnet hatte. Überrascht sah sie zu ihm auf und schaute in sein niedergeschlagenes Gesicht. Er hatte sich ein wenig zu ihr gewandt und rutschte unruhig hin und her. „Irgendwie schon scheiße, dass ich mit meiner Vermutung rechtbehalte“, flüsterte er, als Mimi näher zu ihm ran gerutscht war und mit ihrer Hand seine leicht berührte. Dunkel erinnerte sie sich an ein Gespräch mit ihm, indem er ihr seine Ängste offenbarte, die nun tatsächlich eintraten. Matt und Sora suchten das Weite und ließen ihn alleine zurück. Auch wenn ihre Freundschaft viel durchmachen musste, konnte sie erahnen, wie schlecht er sich fühlte. Sie drückte seine Hand, um ihm zu signalisieren, dass sie für ihn da war – so wie er für sie in letzter Zeit dagewesen war. Tai lächelte milde und verschränkte seine Finger mit ihren. Ein seltsames Gefühl machte sich erneut in ihr breit und brachte die Grenzen zwischen ihnen ins Wanken. Diese Berührungen fühlten sich nicht mehr Freundschaftlich an, sie säten das Verlangen nach mehr. Sachte legte sie ihren Kopf auf seine Schultern und bemühte sich das Pochen ihres Herzens in den Griff zu bekommen. Noch immer wirkte er auf sie sehr angespannt, schien in ihrer Nähe jedoch allmählich Ruhe zu finden. Zart fuhr er mit seiner anderen Hand über ihren Handrücken und hinterließ wohlige Schauer auf ihrer Haut. Sie schielte zu ihm und kuschelte sich näher an ihn heran. Er tat ihr gut, genauso wie sie ihm gut tat. Es war daher nicht verwerflich. Sie halfen sich nur gegenseitig. _ Nachdem er sich wieder einigermaßen beruhigt hatte, entschieden sie sich dafür gemeinsam einen Film anzuschauen. Ihre Mutter musste heute länger arbeiten und würde erst in der Nacht zurückkommen. Mimi interessierte sich nicht wirklich für den Film und aß teilnahmslos ihre Gummibärchen, während Tai in den Fernseher stierte. Er hatte die Arme hinter dem Kopf verschränkt und verfolgte den Film mit purer Langeweile. Mimi seufzte leise und drückte ihren Kopf ins Kissen. Ihre Augen wurden immer schwerer, sodass sie ein paarmal blinzelte, bevor sie ihre Lider schloss. Die Situation zwischen ihnen war angespannt. Sie waren alleine in ihrem Bett. Die Versuchung war allgegenwärtig und größer denn je. Sie konnte ihn nicht verstehen. Was war das zwischen ihnen? Hätte er sie wirklich geküsst, wenn ihre Mutter damals nicht dazwischen gefunkt hätte? Oder war sie wirklich nur Ablenkung, wie Noriko es behauptete? „Schläfst du?“, ertönte plötzlich seine Stimme und Mimi schlug die Augen auf. Er hatte sich leicht über sie gebeugt und musterte sie grinsend. „Nein, natürlich nicht“, antwortete sie schlaftrunken und setzte sich wieder auf. „Naja, der Film ist schon ganz schön einschläfernd“, meinte er schulterzuckend und drückte sich in die Matratze. „Wollen wir vielleicht etwas anders gucken? Er ist wirklich einschläfernd“, meinte Mimi lächelnd und legte den Kopf schräg. „Schon okay“, erwiderte Tai nur und schüttelte sachte den Kopf. Mimi kräuselte die Lippen, so als wollte sie etwas sagen, doch dann legte sie sich ebenfalls wieder hin und starrte in Richtung Fernseher. Es dauerte nicht lange, bis sie wieder die Augen schloss, sich zur Seite drehte und ihr Gesicht in das weiche Kissen drückte. Sie blinzelte leicht und erkannte gerade noch, dass ihr Wecker 22:38 Uhr anzeigte, bevor sie wegnickte. _ Einen Augenblick später schlug sie die Augen wieder auf und rieb sich den Schlaf daraus. Sie setzte sich leicht auf, drehte sich kurz herum und sah das Tai hinter ihr eingeschlafen war und seinen Arm locker auf ihrer Hüfte liegen hatte. Irritiert blickte sie zur Uhr und erkannte, dass es schon weit nach zwölf war und beide den gesamten Film verschlafen hatten. Sollte sie ihn etwa wecken? Es war schließlich schon sehr spät geworden. Sie hatte noch nicht mal mitbekommen, ob ihre Mutter schon zu Hause war, oder nicht. Wieder wandte sie sich ihm zu und betrachtete sein friedlich schlafendes Gesicht. Ein Lächeln legte sich über ihre Lippen. Sie senkte sich langsam wieder und legte sich dicht neben ihn, sodass ihr Rücken sich gegen seinen Bauch schmiegte. Sie spürte seine Wärme und bemerkte, wie er seinen Arm fester um sie legte und somit näher an sich zog. Sie drückte seine Hand dichter an ihren Bauch und ließ für den Moment ihre eigene auf seiner ruhen. Wieder drehte sie sich zu ihm und blickte ihn über ihre Schulter hinweg an. Er lockerte seinen Griff und ließ zu, dass sich Mimi weiter zu ihm wenden konnte. „Schläfst du?“, murmelte sie heiser und sah ihn liebevoll an. Müde schlug er die Augen auf und blickte direkt in ihr Gesicht. „Jetzt nicht mehr“, sagte er verschlafen und rieb sich mit seinem Handrücken über die Augen. „Tut mir leid, ich wollte dich nicht wecken“, kicherte sie und bemerkte wie nah sich ihre Gesichter gekommen waren. Schnell drehte sie sich verlegen zur anderen Seite. Ihr Herz pochte wie wild, nur weil sie ihm kurz in seine wunderschönen braunen Augen gesehen hatte. Tais Arme waren immer noch eng um ihren Körper geschlungen und sie spürte wie er sein Kinn gegen ihre Schulter presste. Sein warmer Atem blies gegen ihren Nacken und brachte ihre Härchen dazu, sich leicht aufzustellen. Sie genoss seine Nähe in vollen Zügen. Es gefiel ihr, ihm so nahe sein zu dürfen, auch wenn sie sich wohlmöglich falsche Hoffnungen machte und so nie über ihn hinwegkommen würde. Aber nahmen sich nicht auch gute Freunde ab und zu in den Arm? Kuschelten, wenn ihnen danach war? Zeigten ihre Zuneigungen füreinander? War es falsch hier neben ihm zu liegen, obwohl sie von seinen Gefühlen zu Sora wusste? Doch konnte es überhaupt falsch sein, wenn es sich so richtig anfühlte? Auf einmal bemerkte sie, wie er sich leicht aufsetzte, um auf ihren Wecker blicken zu können. Schnaufend senkte er seinen müden Körper auf die Matratze, als Mimi sich auf den Rücken drehte und seinen nachdenklichen Blick auffing. „Ich sollte besser nach Hause gehen, es ist wirklich schon ziemlich spät.“ Ein wenig enttäuscht presste sie ihre Lippen aufeinander und nickte nur bestätigend, auch wenn sie nicht wollte, dass dieser wunderschöne Moment endete, was auch Taichi zu bemerken schien. Sanft fuhr er mit seiner Hand über ihre, die sachte auf ihrem Bauch ruhte, als er noch näher zu ihr rutschte und keinerlei Anstalten machte, sich zu erheben. „Obwohl ich zugeben muss, dass deine Matratze doch sehr bequem ist“, scherzte er und ein freches Grinsen legte sich über seine Lippen. „Vielleicht sollte sich sie einfach mitnehmen.“ „Und auf was soll ich schlafen?“, fragt Mimi empört und drehte sich ihm zu. „Dein Boden ist sicher auch mega bequem“, grinste er unverschämt und kassierte prompt einen sanften Schlag gegen seinen Oberarm. „Aua, was soll das denn?“, fragte er gespielt ernst und strich sich über die Stelle, die Mimi erwischt hatte. „Geschieht dir recht“, antwortete sie schnippisch, lächelte aber dabei. „Gar nicht wahr“, murrte er mit einem finsteren Blick, der Mimi noch mehr zum Grinsen brachte. „Doch klar“, erwiderte sie nur und legte ihre Handfläche auf seiner strammen Brust ab, als er sie näher an sich heranzog und sich beide tief in ihre Augen blickten. „Gewalt ist keine Lösung“, mahnte er spielerisch und fuhr sanft über ihren Rücken und hinterließ bei ihr eine wohlige Gänsehaut. „Doch in Ausnahmefällen schon“, antwortete sie triumphierend und schmiegte sich dichter an seinen warmen Körper. „Ich bin doch kein Ausnahmefall!“, widersprach er und zog schmollend die Unterlippe nach vorne. „Oh doch“, kam es direkt von ihr, als sich ein zartes Lächeln auf ihre Lippen schlich. „Nein…“ „Doch…“, flüsterte Mimi sinnlich, als sie seine zitternde Hand an ihrem Gesicht wahrnahm. „Nein…“, murmelte er schwach und schielte auf ihre vollen Lippen. Gerade als sie wieder kontern wollte, merkte sie wie er mit seiner Hand sanft ihre Wange entlang wanderte und sie hinter ihrem Nacken vergrub. Sie spürte wie sich ihre Gesichter näherkamen und sein warmer Atem ihre Lippen traf und er sie bestimmend zu sich zog. Ihr Herz klopfte wie wild gegen ihre Brust, als sie ihn begierig anstarrte und für einen kurzen Moment die Luft anhielt. Sein Blick wurde ganz weich, als er seine Augen schloss und sich ihr langsam näherte. Ihre Nasenspitzen berührten sich sanft, als er zärtlich darüber fuhr und den Kopf leicht zur Seite drehte. Anspannung machte sich in ihrem Körper breit, als er ihr immer näher kam und ihre sämtlichen Wünsche und Träume in diesem einen Augenblick lagen. Es war der Moment, auf den sie schon so lange gewartet hatte. Sehnsucht. Hoffnung. Leidenschaft. All das spürte sie, als er endlich seine Lippen mit ihren versiegelte. Genüsslich schloss Mimi ihre zarten Lider, fand sich sehr schnell im Rausch der Empfindungen wieder und ließ sich völlig auf ihn ein. Anfangs küsste er sie etwas schüchtern, bis die Leidenschaft beide übermannte. Mimi umfasste mit der Hand seinen Nacken, als er gierig mit der Zunge in ihre Mundhöhle glitt und ihre Zungen im wilden Duell aufeinander trafen. Sie umkreisten sich lustvoll und keiner der beiden dachte nur im Entferntesten daran, ihre Küsse zu unterbrechen, auch wenn sie eine klare Grenze längst überschritten. Doch wie sehr hatte sie sich gewünscht, ihn noch einmal küssen zu dürfen? Und diesmal war keine Sora dabei, die diesen wundervollen Moment unterband. Es gab nur sie und ihn. Alles andere interessierte sie zurzeit nicht. Sanft fuhr er ihren Rücken entlang und hinterließ dabei eine zarte Gänsehaut, die ihren ganzen Körper zu bedecken schien. Sie seufzte genüsslich, während ihren einzelnen Küssen und konnte nicht verbergen, wie sehr sie sie genoss, als er seine Wanderung weiter fortsetzte. Er wanderte immer tiefer und erreichte ihren wohlgeformten Po, auf dem er seine Hand platziert hatte. Mimi grinste den Kuss hinein, nachdem sie ihren Griff um seine Nacken noch ein wenig verfestigt hatte und er ihren strammen Hintern mit zaghaften Berührungen streichelte. Ihr wurde allmählich heiß und sie konnte das unaufhörliche Prickeln zwischen ihren Beinen und die flatternden Schmetterlinge in ihrem Bauch nicht länger ignorieren. Sie wollte ihn. Mehr als alles andere auf der Welt. Deswegen presste sie sich noch dichter an ihn heran und schlug ihr Bein um seine Hüften, um ihm noch näher sein zu dürfen. Tai keuchte leise, als sie sich unabsichtlich genau gegen seine Mitte presste und ihm die Luft zum Atmen raubte. Sie konnte kaum fassen, was sie hier taten, doch sie wollte jetzt auch nicht darüber nachdenken. Plötzlich bemerkte sie, wie seine Hand von ihrem Hintern abließ und sich zu ihren Brüsten hocharbeitete. Auch seine Küsse wanderten weiter, benetzten ihren Hals und hinterließen heiße Spuren auf ihrer Haut, die ihren Puls zum höher schlagen brachte. Sanft umfasste er ihre Brust und fuhr mit dem Daumen die Kontur ihrer Brustwarze nach, als er sie abrupt auf sich zog, sodass ihre pulsierenden Körper genau im Einklang wiederfanden. Mimis Gehirn und somit sämtliche Stoppsignale waren abgeschaltet. Ohne einen weiteren Gedanken, an die Konsequenzen ihres Handels zu verschwenden, nahm sie seine Hand und fuhr mit ihr unter ihr Shirt zu ihren nackten Brüsten. Sie saß leicht aufrecht und drückte sich begierig gegen seine Erregung, während er sanft, aber fordernd ihre linke Brust massierte. Mimi wurde allmählich verrückt. Nie im Leben hatte sie erwartet, dass dieser Abend sich in solch eine Richtung entwickelte. Doch sie saß tatsächlich auf ihm und schürte sein Verlangen nach ihr, das immer größer zu werden schien. Ohne große Umschweife fuhr Tai mit beiden Händen ihren Rücken entlang, griff nach dem Saum ihres Shirts und zog es ihr einfach über den Kopf, um es danach achtlos auf den Boden zu werfen. Sie presste sich ihm entgegen und hauchte ihm wieder einen abverlangenden Kuss auf die Lippen, als er sie plötzlich packte und sanft auf die andere Bettseite beförderte. Etwas erschrocken blieb Mimi liegen und beobachtete ihn, wie er sein eigenes T-Shirt über den Kopf zog und seine muskulöse Brust vor ihr entblößte. Bevor sie sich sammeln konnte, drückte er sie mit seinem Gewicht aufs Bett und benetzte ihre Haut mit leidenschaftlichen Küssen, die ihren Verstand völlig vernebelten. Er wanderte von ihrem Hals erneut zu ihrem Mund und hauchte ihr einen lustvollen Kuss auf die Lippen, während sich seine Hand den Weg nach unten bahnte. Ungeduldig pfriemelte er an ihrer Schlafhose herum, um sie mit samt ihrer Unterhose langsam nach unten zu ziehen und sich ihren geheimsten Stellen zu widmen. Er brachte sie innerlich förmlich zum Kochen, als er mit sanften, aber kraftvollen Bewegungen über ihre Mitte strich und die hitzige Leidenschaft weiter antrieb. Mimi schnappte nach Luft, als er mit zwei Fingern in sie eindrang und mit dem Daumen zusätzlich ihren empfindlichsten Punkt stimulierte. Sie spürte seine Zunge an ihren Brüsten. Immer wieder zog er feine Linien, umkreiste ihre Brustwarze neckend mit der Zunge und saugte sich leicht daran fest, während Mimi ihre Finger in seinen Haaren vergrub und ihn bestimmend an sich drückte. Seine Erregung spürte sie noch immer durch die Jeans an ihren Schenkeln und konnte gar nicht erwarten ihn ganz zu spüren. Ihre Hüften bewegten sich rhythmisch mit seinen Fingern, die sie in den Wahnsinn trieben. Sie öffnete ihre Beine weiter, während er sich immer wieder hin und her bewegte – ihr somit alle Sinne raubte und ihr Verlangen ins Unermessliche trieb. Kurz bevor sie ihren Höhepunkt erreichte, zog er sich aus ihr zurück und Mimi gab einen frustrierenden Laut von sich, sodass er sich ein keckes Grinsen nicht verkneifen konnte. Er beugte sich zu ihr hinunter und gab ihr einen fordernden Kuss auf die Lippen, bevor er sich schwer atmend von ihr löste und den Gürtel seiner Jeans öffnete. Angespannt beobachtete sie ihn und fuhr gierig mit den Zähnen über ihre Unterlippe. Er entledigte sich seiner Jeans und seiner Boxershorts, die schneller auf den Boden segelten, als Mimi gucken konnte. Zuvor hatte er aus seiner Hosentasche ein Kondom hervorgekramt und zog es sich über. Mimis Herz hämmerte gegen ihre Brust, als er sachte ihre Beine auseinanderschob und sich zwischen ihr platzierte. Mit den Fingern krallte sie sich in ihr Gitter und hielt für den Moment die Luft an, als er sich langsam nach vorne tastete und vorsichtig in sie eindrang. Sie weitete ihre Beine noch ein wenig, um ihm mehr Platz zu verschaffen, doch er hielt für den Moment inne und bewegte sich nicht. Seine Augen waren geschlossen, während Mimi ihn voller Liebe und Zuneigung anstarrte. Dann zog er sich wieder etwas zurück, um erneut zuzustoßen, was Mimi ein unterdrücktes Keuchen über die Lippen jagte. Sie schlang die Beine um seinen Rücken und ließ das Gitter los, um ihre Hände hinter seinem Nacken zu vergraben und ihn somit näher an sich heranzuziehen. Sie küsste ihn auf die Lippen, spürte wie er immer wieder zustieß, ihre Küsse liebevoll erwiderte und seine Hände die Wanderschaft von vorhin fortsetzten. Sie rekelte sich ihm entgegen, als er sich wieder ihrer empfindsamsten Stelle zuwandte und mit der anderen Hand über ihre Brust fuhr. Ihre Blicke trafen sich kurz und zeigten das Verlangen und die Leidenschaft, die sich zwischen ihnen aufgebaut hatte. Sie wanderte mit den Fingerkuppen seinen muskulösen Rücken immer wieder entlang und bemerkte wie sich seine Härchen, wie elektrisiert, aufstellten. Er spielte mit dem Tempo, als würde er genau wissen, wie er sie um den Verstand bringen konnte. Wieder und wieder stieß er kraftvoll zu, stöhnte leise neben ihrem Ohr und küsste sie hingebungsvoll auf ihre vollen Lippen. Mimi wusste, dass sie es nicht länger zurückhalten konnte und drückte sich ihm entgegen. Seine Bewegungen wurden immer flüssiger, sodass ihr Orgasmus sie unvermittelt erfasste. Sie haute ihre Fingernägel in sein Rückenfleisch und fuhr seine breiten Schultern entlang. Ein paar rote Striemen entstanden, während ihr Innerstes sich zusammenzog und bebte. Sie seufzte genießerisch auf, als er ihre Lippen mit seinen versiegelte und sie begierig küsste. Ein letztes Mal stieß er fest zu und verlangsamte keuchend seine Bewegungen. Völlig außer Atmen unterbrach Mimi ihren lustvollen Kuss und drückte seinen nackten Körper noch ein weniger dichter an sich. Ihr Herz pochte schnell und beide sahen sich wortlos tief in die Augen. Mimis Mund war leicht geöffnet, als sie ihm ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht strich, die an seiner schweißbenetzten Stirn klebten. Er küsste sie ein letztes Mal eindringlich und legte sich schwer atmend neben sie. Völlig perplex starrte Mimi an die Decke und versuchte sich zu sammeln. Es fühlte sich an, wie einer ihrer verrückten Träume, die sie schon öfters hatte. Doch auch mehrfaches Zwicken zeigte ihr, dass sie sich in der Realität befand und tatsächlich Sex mit Tai hatte. Ein unbeschreibliches Gefühl machte sich in ihr breit. Sie hatte Sex mit Tai, den Jungen in den sie schon seit Ewigkeiten verliebt war. Der, der ihr einfach alles bedeutete. Glücklich drehte sie sich zu ihm und wollte gerade näher zu ihm rutschen, als er sich bedacht aufsetzte und ihr den Rücken zuwandte. Fragend setzte sich Mimi auf und musterte seine Rückansicht. „Ist alles in Ordnung?“ Er reagierte nicht, sondern starrte immer noch zur Wand, die beide vor wenigen Wochen grün gestrichen hatten. Ein leises Seufzen entwich seine Lippen, als er sich durch seine wilde Mähne fuhr, aber sich ihr immer noch nicht zugewandt hatte. „Oh Scheiße, was habe ich nur getan…“, murmelte er auf einmal und schien aus dem Rausch der Leidenschaft allmählich zu erwachen. Verwundert legte sie den Kopf schief und wollte gerade eine Hand auf seine Schultern legen, als sich ein Satz von seinen Lippen löste, der ihre Bewegungen gefrieren ließ. „Das hätte nicht passieren dürfen…“ Fassungslos starrte Mimi ihn an und griff zur Bettdecke, um ihren nackten Körper zu bedecken. „Was ? Warum?“, brachte sie mit zitternder Stimme hervor und blickte ihn unsicher an. „Hat es dir denn nichts bedeutet?“ Ihr standen die Tränen in den Augen, da sie seine Reaktion nicht verstehen konnte. Sie hatten gerade noch leidenschaftlichen Sex und dann drehte er einfach so den Rücken zu und sagte, dass es nicht hätte passieren dürfen? Hatte sie etwas falsch gemacht? „Mimi…ich…“, begann er und drehte sich zu ihr. Sein Gesicht versteinerte sich und er wandte schnell den Blick von ihr. „Ich…“, seine Stimme brach ab und er sah betroffen zu Seite. Mimi verzog die Mundwinkel und spürte einen tiefsitzenden Schmerz durch ihren Körper fahren. Die Stimme von Noriko hallte ihr durch den Kopf und erinnerte sie daran, dass es ihm nichts bedeutet hatte, sondern, dass sie nur Ablenkung war. Ablenkung von Sora. „Es tut mir leid“, sagte er, scheute es aber ihr direkt in die Augen zu sehen. „Wir hätten das nicht tun sollen. Nicht so…“ Mimi brachte einen schmerzverzerrten Laut über die Lippen und hielt sich die Hand vor den Mund. Tränen rannen ihr über ihre zarten Finger. Warum tat er ihr sowas nur an? Er wusste doch, wie schlecht es ihr ging. Warum? „Mimi, ich…wir sind nicht zusammen…und…ich…“ Erbost blickte sie ihn an und krampfte die Bettdecke vor ihrer Brust zusammen. „Und weiter? Was macht das für einen Unterschied? Wir hatten gerade Sex und du…“ Ihre Stimme brach ab, als sie einen dicken Kloß in ihrem Hals spürte. „Ich weiß…lass es mich dir…“ Doch sie ließ ihn nicht mehr zu Wort kommen. Die Enttäuschung und der Schmerz waren einfach zu groß. „Verschwinde!“, sagte sie erstickt, sodass er abrupt inne hielt. Sie hatte sich unter ihrem Haarvorhang versteckt, konnte aber erkennen, dass er seine Hand nach ihr ausgestreckt hatte. Reflexartig schlug sie sie weg und wiederholte ihr Worte noch einmal nachdrücklich. „Verschwinde!“ „Mimi…bitte…ich will…“, flüsterte er, als er ihr weinerliches Gesicht sah und erkannte, dass er ihr wehgetan hatte. Langsam erhob er sich von ihrem Bett und schlüpfte in seine Unterhose, doch setzte sich nicht in Bewegung, sondern blieb verloren mitten in ihrem Zimmer stehen. Mimi klammerte ihre Bettdecke im ihren Körper und wurde allmählich wütend. Warum konnte er nicht einfach gehen? Wieso stand er wie ein eingeschüchtertes Reh immer noch da? „VERSCHWINDE!“, brüllte sie unter Tränen und Tai zuckte erschrocken über ihre Lautstärke zusammen. Verletzt und wütend fixierte sie ihn mit ihrem Blick. „HAU AB!“, schrie sie und sah wie er den Rest seiner Sachen anzog und unsicher zu ihr starrte. „Aber Mimi…das hier bedeutet mir…“ „Geh einfach“, murmelte sie schwach, fuhr sich mit dem Handrücken über ihre Augen und erkannte gerade noch, wie er ihr Zimmer verließ. Mimi verzog das Gesicht und ließ sich langsam auf ihrem Bett nieder. Sie krampfte die Arme vor ihrem Oberkörper zusammen und weinte hemmungslos. Noch nie im Leben hatte sie sich so benutzt gefühlt. Kapitel 48: Zwei Herzen, ein Takt --------------------------------- Wie betäubt trottete sie zur Schule und nahm ihre Umgebung nur mäßig wahr. Seit der Nacht mit Tai fühlte sie sich einfach nur noch leer. Den gesamten Sonntag hatte sie in ihrem Zimmer verbracht, kaum etwas gegessen und auch das Vibrieren ihres Handys weitestgehend ignoriert. Sie wollte weder jemanden sehen, noch sich aus ihrem Bett bewegen, dass sie panisch neu bezogen hatte. Sie konnte nicht in dem Bett liegen, in der gleichen Bettwäsche, in der beide miteinander… Mimi presste die Lippen aufeinander und unterdrückte den Schmerz, der ihren Hals hoch kroch. Ein paar Schüler rannten an ihr vorbei, doch sie konzentrierte sich nur darauf nicht in Tränen auszubrechen. Sie hatte keine Ahnung, wie sie auf ihn reagieren würde, wenn er auf einmal vor ihr stand und sie gezwungen war mit ihm zu reden. Sie hatte das Bedürfnis ihn anzuschreien und immer wieder zu fragen, was er sich nur dabei gedacht und ob sie sich alles nur eingebildet hatte. Waren diese Momente so wertlos für ihn? Wollte er sie einfach nur flachlegen, weil Sora ihn nicht ranließ? Ihr drehte sich der Magen herum und die Übelkeit stieg in ihr auf. Sie war ein verdammtes Trostpflaster. Das Mädchen, dass man vögeln konnte, wenn einem danach war. Das Mädchen, das es einfach so zuließ, weil sie so schrecklich verliebt gewesen war. Ihre Wut wuchs ins Unermessliche und richtete sich nicht nur gegen Tai. Auf sich selbst war sie mehr als nur wütend. Noriko hatte sie gewarnt, doch sie wollte nicht auf sie hören, in der Hoffnung, es könnte sich doch noch irgendetwas zwischen ihnen entwickeln. Doch nichts dergleichen würde geschehen. Es war eine Nacht, mehr nicht. Sie war die Dumme, die sich mehr erhofft hatte, obwohl sie es besser hätte wissen müssen. Schwerfällig setzte sie einen Fuß vor den anderen und bemerkte erst gar nicht, wie jemand ihren Namen rief und auf sie zusteuerte. Erst als die Person sie erreichte und zart an der Schulter berührte, drehte sie sich ruckartig herum. Zuerst dachte sie es wäre Tai, doch dann sah sie in das Gesicht ihrer besten Freundin, die sie vor Freude förmlich anstrahlte. „Ach, du bist es Sora“, sagte sie erleichtert und blieb stehen. „Wer soll es denn sonst sein?“, fragte sie ein wenig verdattert und war nach Mimis Ansicht definitiv zu gut gelaunt. „Ach niemand“, sagte sie schnell und merkte wie Sora sich bei ihr unterhakte. „Ich muss dir einiges erzählen“, eröffnete sie ihr relativ fix, als sie in Richtung Schulgebäude gingen. Mimi konnte sich schon denken, was sie ihr berichten wollte. Doch sie wollte nichts darüber hören. Bestimmt hatten sie sich wieder vertragen, nachdem er bei Mimi Dampf abgelassen hatte. Sie sog scharf Luft ein, als sie sich daran zurückerinnerte. Seine Berührungen. Seine Küsse. Die Verbundenheit, die sie für diesen einen Augenblick spürte. Ein tiefsitzender Schmerz machte sich in ihr breit, als Sora ihr tatsächlich erzählte, dass Tai von Paris wusste, tierisch sauer wurde, aber am nächsten Tag sich mit ihr getroffen hatte, um mit ihr zu reden. Am nächsten Tag! Da war ihre gemeinsame Nacht noch keine vierundzwanzig Stunden alt. Und schon rannte er an Soras Rockzipfel, um sich bei ihr zu entschuldigen. „Er war enttäuscht gewesen, dass ich es ihm nicht früher gesagt hatte, aber er hat eingesehen, dass es ein großer Traum von mir ist. Er will mich deswegen auch unterstützen“, sagte sie freudestrahlend, so als wäre ein Zentner Last von ihrer Brust gefallen. „Ich werde es auch bald den anderen sagen!“ Mimi nickte nur beiläufig, bekam aber kein einziges Wort heraus. Bei Sora entschuldigte er sich? Wegen so eine Lappalie? Und bei ihr? Fand er es etwa in Ordnung, einfach mit ihr zu schlafen und danach abzuhauen? Verzweifelt kaute Mimi auf ihrer Lippe herum und versuchte sich aus Soras Klammergriff zu lösen. „Ist wirklich alles in Ordnung? Du bist so komisch…ist irgendwas vorgefallen? Mit deinem Vater?“, spekulierte sie und Mimi dachte darüber nach, ihr einfach die Wahrheit zu sagen, doch kein einziges Wort kam über ihre Lippen. Das Bedürfnis zu weinen wurde immer größer und veranlasste sie dazu, ihren Kopf zu senken und sich hinter ihrem Haarvorgang zu verstecken. „Nein, es ist alles gut“, log sie mit schwerer Zunge, fixierte einen Punkt auf dem Boden, um nicht zu weinen. „Wirklich?“, hinterfragte Sora spitzfindig, so als hätte sie sie bereits durchschaut. Widerwillig nickte Mimi mit dem Kopf und hatte sich wieder etwas beruhigt, sodass sie ihrer Freundin ins Gesicht schauen konnte. „Schön, dass ihr euch wieder vertragen habt“, sagte sie mit einem seltsamen Gesichtsausdruck, der Sora keinesfalls zu beruhigen schien, aber ihre nervigen Fragen einstellte. Beide blieben kurz vor dem Eingang des Schulgebäudes stehen, als Sora erneut das Wort ergriff. „Du sag‘ mal, weißt du vielleicht warum Tai so neben der Spur ist? Es ist mir schon länger aufgefallen und ihr verbringt ja wirklich ziemlich viel Zeit miteinander.“ Sora hatte sie inzwischen losgelassen und musterte sie interessiert. Mimi zog nur die Stirn kraus und wusste nicht, auf was sie hinaus wollte. „Keine Ahnung, ist mir nicht aufgefallen“, meinte sie abweisend und wollte gerade reingehen, als sich Sora nachdenklich durchs Gesicht fuhr. „Komisch, ich dachte dir wäre auch etwas aufgefallen. Am Sonntag war er richtig komisch drauf!“ Mimi blieb stehen. „Komisch drauf? Inwiefern?“, hakte sie neugierig nach. „Er schien mit den Gedanken manchmal woanders zu sein und als ich ihn darauf angesprochen hatte, meinte er, es wäre nichts. Aber als wir im Café waren hat er ständig auf sein Handy geguckt“, erzählte Sora verwundert. Erst jetzt fiel Mimi ein, dass sie ihr Handy vollkommen vergessen hatte. Sie hatte es so lange ignoriert, bis irgendwann der Akku leer war. Heute Morgen hatte sie es noch aufgeladen, aber seither nicht mehr eingeschaltet. Sie dachte, dass nur Noriko ihr geschrieben hätte. Im Notfall würden ihre Mutter, oder auch die Jungs sowieso auf ihrem Festnetztelefon anrufen, da sie es so abgesprochen hatten. Sie wollte keine Nachricht über das Handy bekommen, dass mit ihrer Schwester etwas nicht stimmte. Doch das was Sora ihr erzählte, ließ sie stutzig werden. Etwas abrupt verabschiedete sie sich von ihr und steuerte direkt zu den Toiletten, um ungestört ihr Handy zu prüfen. Sie ging in eine Kabine und lehnte sich erwartungsvoll gegen die Wand. Kaum hatte sie es eingeschaltet, überschlugen sich ihre Nachrichten. 67 Anrufe in Abwesenheit. Und 32 neue SMS. Mit zitternden Fingern wühlte sie sich durch den Posteingang und stellte fest, dass die meisten Anrufe und SMS tatsächlich von Tai waren. Sie klickte sich durch und war überrascht, dass seine letzte SMS tatsächlich mitten in der Nacht abgeschickt wurde. Bitte melde dich! Es tut mir leid – Tai. Ruf mich zurück, wenn du das hier liest – Tai. Mimi, bitte lass uns nochmal darüber reden – Tai. Unzählige Nachrichten in einem ähnlichen Wortlaut hatte er ihr geschickt. Die Verzweiflung stieg, aber auch die Wut, was seine vorletzte Nachricht deutlich machte. Ich weiß ich habe mich wie ein Arschloch verhalten, aber warum antwortest du nicht? Es ist ja nicht so, dass du es nicht auch wolltest und darauf angelegt hast – Tai. Ihr stockte der Atem. Ihre Hände finden an zu zittern und sie hielt sich augenblicklich den Mund zu. Ein unterdrückter Laut entwich ihren Lippen und salzige Tränen bahnten sich ihre Wangen hinunter. Wie konnte er nur sowas schreiben? Sie wusste selbst, dass sie es gewollt hatte, aber hatte sie es wirklich darauf angelegt? Er hatte doch angefangen sie zu küssen und hatte eine klare Grenze überschritten. Von Wut gepackt, löschte sie seine letzte Nachricht, ohne sie vorher gelesen zu haben. Sie fuhr sich mit dem Handrücken über ihre nasse Augenpartie, bevor sie die Kabine entriegelte und direkt auf einen der Spiegel zusteuerte. Sie sah kurz hinein, schnappte sich ein Tuch und fuhr mit der Spitze unter ihren Augen entlang. Etwas Wimpertusche wurde auf dem Papiertuch sichtbar, als sie nochmal ihr Aussehen checkte und ihre Haare richtete. Sie räusperte sich, schulterte ihre Tasche und ging zu ihrem Klassenzimmer. _ Sie fühlte sich müde und ausgelaugt, als sie ihre Tasche nach der letzten Stunde langsam zusammenpackte. Heute ließ sie sich extra viel Zeit, da sie Tai auf gar keinen Fall begegnen wollte. Sogar in der Mittagspause schaffte sie es ihm aus dem Weg zu gehen und nur mit Sora zu Essen. Sie sagte ihr einfach, dass sie etwas Ruhe bräuchte und auch Sora schien der Abstand zu den Jungs ganz recht zu sein, besonders seit Matt ab und an wieder mit ihnen gemeinsam aß. „Bis morgen“, verabschiedete sich auch Izzy von ihr und ging mit ein paar Mitgliedern des Computerclubs aus dem Raum. „Bis morgen“, murmelte Mimi niedergeschlagen und blieb einen kurzen Moment an ihrem Platz stehen, bevor sie sich aufraffte und langsam aus dem Klassenzimmer verschwand. Sie ging schleppend die Treppe hinunter und wurde beim Gehen von einigen Schüler überholt, die lachend und unbeschwert an ihr vorbei liefen. Mimi trottete hingehen nur sehr schleichend aus der Schule, überlegte, ob sie noch irgendwo hingehen, oder sich doch lieber gleich in ihrem Bett verkriechen sollte. Völlig in Gedanken versunken, bekam sie gar nicht mit, dass jemand auf sie wartete. Erst als sie ruckartig am Arm gepackt und zur Seite gezerrt wurde, nahm sie die Person, die sich vor ihr aufgebaut hatte, wahr. „Was willst du?“, brachte sie erstickt hervor, konnte ihm aber nicht ins Gesicht schauen. Sie sah zu ihrem Rock und spielte am Saum, während er die Arme neben ihrem Kopf abgestützt hatte und sie somit zwischen der Mauer und ihm gefangen hielt. Mimi hatte nicht damit gerechnet, dass er noch auf sie wartete. Eher hatte sie gehofft, dass er wie alle anderen das Schulgebäude schon längst verlassen hatte. Doch dem war nicht so. Er stand direkt vor ihr und drängte sich ihr regelrecht auf, sodass ihr das Atmen bereits schwer fiel. „Was willst du?“, wiederholte sie und steifte kurz seinen Blick, der außerordentlich traurig auf sie wirkte. „Ich will mit dir reden!“, brachte er hervor, ließ etwas von ihr ab und stellte sich ihr gegenüber. „Hast du nicht schon genug gesagt?“, entgegnete sie verletzt und wollte sich an ihm vorbeidrängen, als er sie sanft an den Schultern packte und gegen die Mauer presste. „Es tut mir unheimlich leid. Ich hätte das nicht tun dürfen!“, kam es von ihm, während Mimi immer noch zur Seite schielte und ihn nicht ansah. Zu sehr hatte er sie verletzt und ihre Gefühle mit Füßen getreten, auch wenn er offiziell nichts von ihnen wusste. „Deine SMS hat sich aber ganz anders angehört“, zischte sie und drückte ihre Zunge gegen ihren Gaumen. „Hab es wohl darauf angelegt.“ Aus ihrer Stimme war sehr wohl herauszuhören, dass seine Worte sie sehr gekränkt hatten. Der ganze Abend hatte eine tiefe Wunde bei ihr hinterlassen, die wohl nur sehr schwer wieder zuwachsen würde. Mit schmerzverzehrtem Gesicht wandte sie sich ihm zu. Ihre Blicke trafen sich unweigerlich, wenn auch nur kurz. „Du hast die andere SMS nicht mehr gelesen, oder?“, fragte er auf einmal. Mimi schüttelte nur den Kopf und überlegte fieberhaft, wie sie aus dieser Situation entkommen könnte. Seine Nähe bereitete ihr Unbehagen. Sie wollte am liebsten schreien, riss sich aber zusammen, da sie sich immer noch auf dem Schulgelände befanden. „Ich hätte sowas nicht schreiben dürfen“, platzte aus ihm hervor, „es ist ja nicht so, dass ich es nicht auch darauf angelegt hätte.“ Mimi schluckte, als seine Worte sie erreichten. „Also, hast du es geplant gehabt?“, schlussfolgerte sie und hob zornig den Kopf an. „Wolltest du mit mir vögeln, weil Sora dich nicht rangelassen hat?“ Verdutzt erwiderte er ihren Blick und wirkte zuerst verwirrt, bis er realisierte, was sie zu ihm gesagt hat. Erbost blitzten seine Augen auf und er nahm einen etwas größeren Abstand zu ihr ein. „Halt Sora da raus! Mit ihr hat das nichts zu tun!“ „Und mit was dann? Warst du etwa so untervögelt und wolltest einfach mal wieder zum Schuss kommen?“, entgegnete sie hitzig und achtete gar nicht mehr darauf, was sie eigentlich sagte. Tai klappte der Mund auf und blankes Entsetzen spiegelte sich in seinem Gesicht wider. „Da fällt dir wohl nichts mehr ein“, giftete sie, drückte sich an ihm vorbei und schaffte es zum Tor, als er sie erneut einholte und am Arm packte. „Man Mimi, hör auf so ‘ne verdammte Zicke zu sein und lass‘ mich ausreden!“, flehte er sie an. Doch Mimi hatte genug und riss sich von ihm los. „Ich habe aber keine Lust mir anzuhören, dass es nur für einen Abend war und ich dein beschissenes Trostpflaster bin!“, krächzte sie verzweifelt und trieb sich die Tränen in die Augen. „Trostpflaster? Aber so ist das doch…“, er hielt kurz inne und starrte verwirrt hinter sie, „nanu, wer bist du denn?“, fragte er überrascht. Sie folgte seinem Blick und erstarrte. „Was machst du denn hier?“, fragte sie fast ehrfürchtig, als die Person lächelnd einen Schritt auf sie zuging. Die Reifen ihres tragbaren Sauerstoffgeräts quietschten etwas, als sie sich auf beide zubewegte. Sie trug einen dicken Schal und eine passende Mütze, die ihre Haarlosigkeit vor Tai kaschierte. Auch ihre Jacke sah mollig warm aus und versteckte ihren zierlichen Körper. Nur das Sauerstoffgerät wies daraufhin, dass mit ihr etwas nicht stimmte. „Wie bist du hier her gekommen?“, flüsterte Mimi ihr zu und packte ihren Jackenärmel. „Ich bin mit dem Bus gefahren“, antwortete sie verständnislos, „ein paar Sachen kannst du mir schon noch zutrauen.“ Immer wieder huschte sie mit dem Blick zu Tai, der hinter den beiden Mädchen stand und nervös mit seinem Fuß auf und ab wippte. „Ich bringe dich nach Hause!“, beschloss Mimi und wollte sich schon in Bewegung setzen, als Tai sich erneut zu Wort meldete. „Hey! Wir waren noch nicht fertig!“ Er ging ein paar Schritte auf sie zu, doch Mimi nahm eine abweisende Haltung ein. „Ihr könnt euch ruhig noch zu Ende unterhalten. Ich warte da hinten“, meinte sie und deutete auf die andere Straßenseite. „Nein! Ich bringe dich jetzt nach Hause, Noriko“, erwiderte sie ernst und drehte den Kopf leicht zu Tai, der angespannt hinter ihnen stand. „Dir habe ich nichts mehr zu sagen!“ _ Sie atmete tief ein, als sie sich im Sand niederließ und aufs Meer blickte. Noriko saß direkt neben ihr, in ihren Augen ein Funkeln, dass sie schon länger vermisst hatte. Im Nachhinein war sie froh gewesen, dass sie sie doch noch dazu überreden konnte, hier her zu kommen. Sie hatte sich rausgeschlichen, nachdem ihre Mutter zur Arbeit verschwunden war. „Die Luft ist hier einfach so frisch, ich habe das Gefühl, ich kann viel besser atmen“, meinte sie und sog die Luft durch ihre Lungen. „Zuhause ist mir praktisch die Decke auf den Kopf gefallen.“ Ein mildes Lächeln zog sich über ihre Lippen, als Mimi ihre Beine dicht an ihren Körper zog und bedrückt zu Boden stierte. „Ihr beide scheint ja ein ernstes Gespräch geführt zu haben. Um was ging es denn?“, fragte sie interessiert und spielte natürlich auf Tai an. Mimi presste ihr Kinn gegen ihre Knie und seufzte deprimiert. Sie hatte Noriko noch nichts davon erzählt gehabt, weil sie ihre Probleme nicht zu Norikos machen wollte. Zumal sie auch wusste, dass sie das gesamte Wochenende mit Chiaki verbracht hatte und sie die beiden bei ihrer Zweisamkeit nicht stören wollte. Doch jetzt brauchte sie jemanden. Jemanden wie Noriko. „Du hattest Recht, er wollte mich nur flachlegen“, murmelte sie wehmutsvoll und studierte ihre Reaktion aufmerksam. „Und ich war so dumm und habe mich flachlegen lassen.“ „Du hast mit ihm geschlafen?“, hinterfragte sie entsetzt, rutschte aber automatisch näher an sie heran. „Und wie war’s?“ Mimi drehte den Kopf zu ihr und blickte nachdenklich in die Ferne. Sie schloss die Augen und versetzte sich die vergangene Situation. Sie spürte noch genau seine Hände und seine Küsse auf ihrer Haut. Die ungestillte Sehnsucht fand endlich einen Weg gestillt zu werden, auch wenn es ein hoffnungsloser Irrglaube war. „Es war atemberaubend. Noch nie habe ich so viel für einen Menschen empfunden, wie in diesem Moment. Und dann steht er einfach auf und geht“, brachte sie verzweifelt hervor und erkannte wie ihr Traum, mit ihm zusammen zu sein, wie eine Seifenblase zerplatzt war. Sie redete sich komplett in Rage, merkte gar nicht, dass sie bereits weinte und immer wieder betonte, wie weh Tai ihr getan hatte. Und Noriko? Sie saß einfach nur dicht neben ihr, hörte geduldig zu und nickte mit dem Kopf, während sie wutentbrannt ihrer Verzweiflung freien Lauf ließ. „Ich hatte gedacht, dass sich etwas zwischen uns entwickelt hat, aber…“, sie zog die Nase hoch und wusch mit dem Handrücken über ihre nassen Augen, „ich habe wohl nur das gesehen, was ich sehen wollte. Er liebt Sora und nicht mich.“ Diesmal war es Noriko, die hilflos zu Mimi starrte. Sie konnte sich gut vorstellen, dass ihrer Schwester die Worte fehlten, da sie mit Chiaki das komplette Gegenteil erlebte. Mimi merkte wie glücklich die beiden miteinander waren und auch viele intime Momente miteinander teilten. Noriko schwärmte regelrecht davon, wie sie zusammen einschliefen und am nächsten Tag gemeinsam aufwachten, frühstückten und in den Morgen starteten. So eine Verbindung würde sie zu Tai niemals haben. Selbst Matt, der oft das Bett mit verschiedenen Frauen teilte, hatte sie so nicht behandelt. Er wollte damals mit ihr darüber reden, auch wenn sie sich stillschweigend darauf geeinigt hatten, es nicht zu tun. Tai hatte sie einfach im Stich gelassen und bewusst auf ihren Gefühlen herumgetrampelt, um seine Bedürfnisse zu stillen. „Er ist so ein Arsch“, sagte sie zitternd, als ein kaltes Lüftchen sie erfasste. Die Wellen schlugen wild durcheinander und ein gleichmäßiges Rauschen war zu hören. Der Himmel war wolkenverhangen und ließ die Sonne einfach nicht durch. Es passte perfekt zu ihrer bedrückten Stimmung, bis Norikos Stimme ertönte und sie vom Gegenteil überzeugen wollte. „Aber über was habt ihr geredet? Er hat jetzt nicht den Eindruck gemacht, dass ihm die Sache egal wäre.“ „Auf welcher Seite stehst du überhaupt?“, fragte Mimi empört, „du warst doch diejenige, die meinte das ich nur eine Lückenbüßerin sei.“ Noriko ließ die Schultern hängen und zog ebenfalls ihre Beine an. „Ich weiß, aber ich habe auch gesagt, dass ich ihn ja nicht kenne und vorhin hat er auf mich richtig verzweifelt gewirkt.“ „Schön für ihn“, entgegnete Mimi augenverdrehend, „vielleicht hat er ja doch noch sowas wie ein Gewissen.“ „Hey“, sagte sie behutsam und legte ihr Kinn auf Mimis Schulter, „das wird schon alles werden. Vieles ist auf den ersten Blick nicht so wie es scheint, das müsste dir doch gerade bei uns bekannt vorkommen.“ Mimi wandte sich ihr zu und blickte sie grübelnd an. Genau genommen hatte sie Recht. Wenn sie an ihre erste Begegnung und das, was sie anfangs von ihr hielt, zurückdachte, merkte sie relativ schnell, dass Welten dazwischen herrschten. Noriko war ganz anders, als Mimi sie sich vorgestellt hatte. Im ersten Moment wirkte sie so einschüchtern auf sie, dass sie hoffte, ihr nie wieder zu begegnen. Mimi war froh, dass das Gegenteil eingetroffen war. Sie war ein Mensch, den sie nicht mehr missen wollte. Ein Mensch, bei dem sie sie sich geborgen und wohl fühlte, egal welche Hürden noch auf sie zukamen. Sie würden sie meistern – wie alles in ihrem Leben. Mimi legte ihre Hand auf ihren Arm und hielt Noriko so fest sie nur konnte. „Ich bin froh, dass wir uns kennengelernt haben“, hauchte sie vor sich hin. Noriko lächelte milde, als sie kurz ihren Sauerstoffschlauch in ihrer Nase richtete. „Ich werde immer bei dir sein, egal wo mich mein Weg auch noch hinführt. Ich bin bei dir. Für Immer.“ Mimi nickte schwach und kontrollierte ihre Gefühle, die in ihrem Inneren zu tanzen begannen. Sie war so unfassbar froh, jemanden zu haben, der sie aufrichtig und bedingungslos liebte. Bei Noriko musste sie sich nie verstellen, konnte rumzicken und ihre tiefvergrabenen Empfindungen preisgeben, ohne sich nackt zu fühlen. Es war eine andere Form der Liebe, die sie bisher noch nie empfunden hatte. Sie war ihre Schwester, ein Teil von ihr, ihr Blut. Nichts auf dieser Welt konnte es schaffen, ihre Verbindung zu durchtrennen, noch nicht mal der Tod, der hinter jeder Ecke auf sie warten könnte. Gedankenversunken blickten beide in die Ferne und beobachten die tosenden Wellen, die sich vor ihnen erstreckten. Allmählich kämpfte sich die Sonne durch die Wolkenfront und entfaltete ihre volle Pracht vor ihnen. Sie spiegelte sich im Wasser und wärmte ihre durchgefrorenen Körper, die dicht aneinander gepresst saßen. Die Zeit schien für den Moment still zu stehen. Es gab nur sie und das fest verwurzelte Band der Schwestern, das sie auf ewig miteinander verbinden würde. Kapitel 49: Für immer du ------------------------ Did you think we’d be fine? Still got scars on my back from your knife So don’t think it’s in the past, these kinda wounds they last and they last now. Did you think it all through? All these things will catch up to you And time can heal but this won’t, so if you come in my way just don’t Oh, it’s so sad to think about the good times, you and I Sie sang sich die Seele aus dem Leib, als die Musik sie einnahm und ihr Leid nach außen trug. Sie stand tatsächlich wieder auf der Bühne, sang von ihrem Schmerz, den er ihr zugefügt hatte. Sang über böses Blut, das nun zwischen ihnen herrschte, auch wenn sie nach wie vor noch Gefühle für ihn hatte. Sie machte sich ihrer Enttäuschung Luft, indem sie darüber einen Song schrieb. Eine einseitige Liebe, die nie existieren würde und nur qualvolle Schmerzen in ihr auslöste – jedes Mal wenn sie ihn nur in ihrer Nähe wusste. Mittlerweile hatten sie Winterferien und auch schon zuvor hatte sie den Kontakt zu ihm eingeschränkt. Meist aß sie nur mit Sora zu Mittag und lenkte sich mit Gespräche über Paris oder das bevorstehende Praktikum ab. Mittlerweile hatte es bereits die Runde gemacht, dass Sora nach Europa und Matt auf Tour gehen würden. Doch neben dem ganzen Lernstress, gingen diese erfreulichen Nachrichten nahezu unter. Und Mimi war sich nicht ganz sicher, ob sie sich wirklich darüber freuen sollte. Es klang egoistisch, aber ihr wäre lieber gewesen, wenn Sora hier einen Praktikumsplatz erhalten hätte und ihr nicht ständig mit ihren Paris-Plänen in den Ohren lag. Sie konnte es fast schon nicht mehr hören, da es unerträglich für sie war, nun auch Sora noch zu verlieren, auch wenn es nur für ein halbes Jahr war. Es wäre nicht mehr dasselbe. Sie könnte sie nicht einfach so anrufen, wenn sie Probleme hatte, sondern musste Rücksicht auf die Zeitverschiebung nehmen. Allmählich wurde ihr bewusst, dass sich ihre Freunde wohl genauso hilflos vorkamen, als sie ihnen damals eröffnet hatte, dass sie mit ihrer Familie in die USA ziehen würde. Freundschaft veränderte sich, wenn man mehrere tausend Kilometer voneinander getrennt war. Ihr Blick huschte zu Noriko, die gemeinsam mit Etsuko am Bühnenrand saß und ihr zujubelte. Ein krächzender Ton überkam ihre Lippen, als sie daran dachte, dass tausend Kilometer eigentlich gar nichts waren, wenn man sich für immer voneinander verabschieden musste. Ihr ging es von Tag zu Tag schlechter. Seit sie gemeinsam am Strand waren, baute sie immer weiter ab. Es war eine reine Tortur gewesen, sie hierher zu bringen, doch Noriko bestand darauf sie noch einmal singen zu hören. Zwar grölte sie leidenschaftlich mit, doch Mimi wusste, wie sehr sie das Ganze anstrengte und ihre Energiereserven verbrauchte. Sie schmetterte den letzten Ton, umklammerte mit ihren Fingern das Mikro und schloss die Augen, um sich vollends darauf zu konzentrieren. Sie atmete tief ein, fühlte in ihr Innerstes und brachte die letzten Zeilen über ihre Lippen: And, baby, now we've got bad blood. _ Nachdem sie die Bühne verlassen hatte, stürmte sie sofort zu Noriko, die sie prompt beglückwünschte und den neuen Song in den höchsten Tönen lobte. Kurz danach war Mimi an die Bar verschwunden, um ein paar Getränke zu organisieren. Sie schaute sich kurz um und blieb mit dem Blick an dem abgesperrten Bereich weiter hinten hängen. Ren hatte vor den Club zu erweitern und einen größeren Sitzbereich für die Bargäste zu schaffen. Die Arbeiten gingen recht langsam voran, aber nach und nach konnte man sich etwas darunter vorstellen. Mimi ging einen Schritt weiter nach vorne, als ihr auf einmal jemand auf die Schulter tippte. Irritiert wandte sie sich herum und sah in ein bekanntes Gesicht, dass sie schon länger nicht mehr gesehen hatte. „Oh hallo“, begrüßte sie ihn fröhlich, während er sich lässig neben sie stellte und sie genauestens begutachtete. „Hey, lang nicht mehr gesehen“, meine er mit einem Lächeln und hielt seine Bierflasche fest in der rechten Hand. „Ich wusste gar nicht, dass du in einer Band spielst.“ Mimi lockerte ihre Haltung und sah kurz zur Bühne, auf der sie vor wenigen Minuten noch performt hatte. Sie vergrub ihre Hände in ihren hinteren Hosentaschen und blickte wieder zu ihm. „Wir treten nur gelegentlich auf“, schwächte sie ab und grinste. „Für ‚gelegentlich‘ seid ihr aber echt unfassbar gut“, kommentierte er anerkennend. „Danke Toya“, erwiderte Mimi geschmeichelt und überlegte, wann sie ihn das letzte Mal gesehen hatte. Es war schon eine halbe Ewigkeit her, da sie in letzter Zeit nur selten ein Spiel ihrer Fußballmannschaft besuchte. „Was machst du eigentlich hier? Normalerweise sehe ich nur sehr selten bekannte Gesichter“, bemerkte Mimi etwas verdutzt. Gewöhnlich besuchten eher Studenten der naheliegenden Universität Rens Club. Toya hier zu sehen, überraschte sie schon ein wenig. „Ich bin heute mit meinem Bruder und seinen Freunden unterwegs“, erklärte er und deutete hinter sich. „Er studiert an der Tokai-Universität Jura.“ Mimi nickte schwach und erinnerte sich automatisch an Tai, der ihr erzählt hatte, dass er vorhatte sich an der Universität zu bewerben. Ihr Lächeln verschwand und sie wurde aus ihren Gedanken gerissen, als der Barkeeper ihre Getränke fix und fertig auf der Theke abstellte und sie rief. Schnell nahm Mimi das kleine Tablett mit den Getränken entgegen und bezahlte zügig, um die Gläser an den Stehtisch zu den anderen zu bringen. Doch sie wurde von Toya aufgehalten, der sich ihr in den Weg stellte. „War wirklich schön, dich mal wieder zu sehen“, meinte er nachdrücklich und begegnete ihr mit einem vielsagenden Blick, den sie nicht klar deuten konnte. „Ja, man sieht sich sicher nochmal in der Schule“, antwortete sie recht kurz angebunden und wollte gerade gehen, als er sich immer noch kein Stück bewegte. Verwirrt blickte sie ihn an und runzelte die Stirn, als er letztlich mit der Sprache herausrückte. „Was machst du eigentlich sonst am Wochenende so? Hast du mal Bock auf Kino?“ Verwundert über diese Frage zog Mimi eine Augenbraue nach oben. Fragte er sie gerade tatsächlich um ein Date? Sie war sich nicht sicher, ob sie dazu schon bereit war. Doch was sollte sie sagen? Sollte sie ihm etwa einen Korb geben? „Mal sehen“, antwortete sie wage und zuckte sachte mit den Schultern. Sie blickte zu ihren Freunden, die bereits am Tisch auf sie warteten. „Ich muss jetzt los, sonst verdursten meine Bandkollegen noch“, witzelte sie und schlich an ihm vorbei, während er einen knappen Abschiedsgruß erwiderte. Sein Blick wanderte einmal auf und ab und blieb direkt an ihrem Hintern hängen, was Mimi natürlich nicht entging. Ein lüsternes Lächeln zauberte sich auf seine Lippen. Er hatte schon damals keinen Hehl daraus gemacht, dass er sie attraktiv fand und wäre Mimi nicht so verletzt, würde sie sich auch sehr geschmeichelt fühlen. Allerdings war sie noch nicht bereit, etwas Neues in Betracht zu ziehen, selbst wenn es sich bei ihm nur um Sex zu drehen schien. Grazil schritt sie zu den anderen und wurde prompt von Noriko näher heran gezogen, als sie die Getränke auf dem Tisch abgestellt hatte. „Wer war das denn?“, hakte sie interessiert nach und sah sich nach dem Unbekannten um, der sich ein neues Bier geholt hatte. Mimi hingegen seufzte nur unterdrückt und widmete sich direkt ihrem Getränk. „Das war niemand Wichtiges“, meinte sie besänftigend und nippte etwas genervt an ihrem Glas. _ Es verging keine Woche, als sich Norikos Zustand abrupt verschlechterte. Sie bekam Fieber und hatte sich eine Lungenentzündung eingefangen, die ihr das Atmen noch mehr erschwerte. Sie war ans Bett gefesselt und bekam von den verschiedensten Ärzten Besuche abgestattet, da sie sich weigerte ins Krankenhaus zu gehen. Auch Mimi war anwesend, als einer der Ärzte aus ihrem Zimmer trat und die angespannte Ayame zu sich rief. Mimi war ebenfalls aufgestanden und ging unruhig auf und ab, verschränkte die Finger vor ihrem Gesicht und hoffte, dass der Arzt ihrer Schwester helfen konnte. „Ich habe ihr ein stärker dosiertes Schmerzmittel verabreicht“, erklärte er fast flüsternd, während Ayame nur verständlich nickte. „Wie geht es ihr denn jetzt?“, platze aus Mimi hervor, doch der Blick des Arztes sagte alles, schon bevor er die vernichtenden Worte in den Mund nahm. „Sie schläft jetzt und wird auch keinerlei Schmerzen verspüren, versprochen.“ Ayame nickte betroffen und fuhr sich gedankenverloren über ihre rauen Lippen. Sie sah furchtbar aus. Ihre dicken schwarzen Augenringe zeigten, dass sie kaum geschlafen hatte. Das Zittern ihrer Hände bewies mal wieder, dass zu viel Kaffee alles andere als gut für den Körper war. Ihr Blick huschte kurz zur der, während Norikos Arzt in seine Jacke schlüpfte. „Ich bringe Sie noch zur Tür“, sagte sie schwach, während Mimi teilnahmslos vor Norikos Zimmertür stand und nicht wusste, ob sie reingehen sollte, oder nicht. Ihr Herz pochte unkontrolliert gegen ihre Brust und auf einmal wurde ihr recht kalt, sodass sie ihren Cardigan zuzog und sich hineinkuschelte. Kurze Zeit später kam Ayame zurück, zog sich wankend ihre Schuhe an und blickte verunsichert zu Mimi. „Ich muss jetzt gleich zur Arbeit. Ist es okay, wenn du hier bei ihr bleibst?“, fragte sie vorsichtig, auch wenn es bereits abgesprochen war. Mimi hatte sich bereiterklärt den gesamten Abend bei ihr zu bleiben, auch wenn sie nicht bei Bewusstsein war. Aber ihre Angst war allgegenwärtig. Was wenn es soweit war? Wie sollte sie damit umgehen, wenn sie plötzlich nicht mehr atmete? Ursprünglich war geplant gewesen, dass auch Chiaki noch dazu stoßen sollte, doch Mimi hatte ihm abgesagt, da sie einen Abend alleine mit Noriko verbringen wollte. Im Nachhinein bereute sie ihre Entscheidung, doch das wollte sie sich bei Ayame nicht anmerken lassen. „Aber natürlich“, antwortete sie selbstsicher und bemerkte ihre Erleichterung. Sie schnappte sich ihre Tasche, öffnete Norikos Zimmertür und verabschiedete sich mit einem Kuss auf die Stirn. Mimi beobachtete mit verschränkten Armen und einem angestrengten Gesichtsausdruck ihre liebevolle Geste. Als sie sich von ihr löste murmelte sie einen leisen Gruß, verschwand aber relativ schnell aus dem Zimmer, damit Mimi ihre Verzweiflung nicht mitbekam. Doch sie hatte die aufkommenden Tränen in ihren Augen gesehen. Auch das unterdrückte Schluchzen war nicht unbemerkt geblieben. Erst als sie die Tür ins Schloss fallen hörte, näherte sie sich ihrem Bett. Voller Ehrfurcht betrachtete sie ihre friedlich schlafende Erscheinung, wohlwissend, dass sie mit Medikamenten ruhig gestellt wurde. Wie ein Sack Zement, ließ sie sich auf dem Stuhl neben ihrem Bett nieder und rang um ihre Fassung. Sie war so verzweifelt, dass sie es gar nicht in Worte fassen konnte. Ein intervallartiger Schmerz breitete sich von ihrem Herzen aus, schnürte ihr den Hals zu und nahm ihr praktisch die Luft zum Atmen. Eine Art Schnappatmung entstand, als sie versuchte sich am Weinen zu hindern. Doch ihre Augen brannten wie Feuer, so als wären sie mit Salz oder einer ätzenden Flüssigkeit in Berührung gekommen, obwohl es nur ihre eigenen Tränen waren. Leise löste sich die Erste und rann ihre Wange hinunter. Kaum fähig richtig zu atmen, stieß sie einen lauten schmerzverzehrten Seufzer aus und legte ihre Hand auf ihre. Ihr Kopf senkte sich und berührte ihren kalten Handrücken, den sie mit ihrer eigenen Fingern umfasst hielt. Ein qualvoller Laut überkam ihre Lippen. Angestrengt kniff sie ihre Augen zusammen, konnte aber ihre Tränenflut dadurch nicht unterbinden. Noch Stunden hätte sie so weiter gemacht, als sie auf einmal eine zarte, aber spürbare Bewegung wahrnahm. Sie hob den Kopf an. Ihre Tränen quollen über ihre leicht geschwollenen Augenlider hinweg, bis sie realisierte, dass sich ihre Finger tatsächlich bewegt hatten. „Noriko?“ Ihre Stimme war gebrochen, klang wie ein Reibeisen und ein Kratzen machte sich in ihrem Hals bemerkbar. Sie erwiderte nichts, noch ein leichter Druck ging von ihrer Hand aus, der Mimi signalisierte, dass sie sie durchaus hören konnte. „Du hörst mich, oder?“, flüsterte sie kaum merklich und fuhr über ihre kalte Hand. Wieder spürte sie, wie ihre Finger leicht zitterten und ihre Hand leicht drückten. Ihre Augen waren immer noch geschlossen, ihre Brust hob sich gleichmäßig, während ihre Augenlider leicht zuckten, sich aber nicht öffneten. Mimi presste die Lippen aufeinander, horchte für einen stillen Moment in sich hinein und verstärkte den Druck um ihre Hand, die eine aufrechte Verbindung zu ihnen darstellte. „Als ich dich das erste Mal gesehen hatte, hatte ich mich nur gefragt, was das für eine blöde Zicke und welche Laus ihr über die Leber gelaufen war“, begann sie mit schwacher Stimme. „Du hast mich am Anfang dermaßen eingeschüchtert, auch wenn deine Augen mir gleich so vertraut vorkamen. Ich habe wirklich gedacht, dass du mit deinem Auftauchen einfach nur meine Familie auseinanderbringen willst, indem du dich dazwischen drängst. Aber dem war nicht so.“ Sie machte eine kurze Pause, atmete tief ein und realisierte schon gar nicht mehr, als ihr unaufhörlich die nassen Tränen über ihre Wangen liefen. „Im Nachhinein bin ich froh, dass du so hartnäckig geblieben bist. Das liegt wohl in der Familie. Kämpfen bis zum Schluss, auch wenn die Hoffnung so schwindend gering ist“, ein Lächeln legte sich über ihre Lippen, als sie sich näher zu ihr hinunterbückte und ihr einen Kuss auf ihren Handrücken gab. Mit beiden Händen hielt sie ihre fest umschlossen und drückte sie gegen ihre Stirn. „Ich wünschte, dass alles wieder gut wird. Das du nicht mehr krank bist und wir zusammenbleiben können, so wie ganz normale Schwestern, die miteinander verschiedenste Momente teilen. Freud und Leid. Einfach alles, ohne daran denken zu müssen, dass diese unbeschwerte Zeit jemals endet. Denn ich will nicht, dass es endet.“ Doch es ging nicht darum, was sie wollte. Das war ihr mehr als einmal schmerzhaft bewusst geworden. Es ging um Noriko, ihren Körper, der immer schwächer wurde. Ihre Lebensqualität, die von Tag zu Tag schwand. Mimi zog ihre Nase hoch, lockerte eine Hand und fuhr sich über ihr Gesicht. Sie hatte keinen Einfluss darauf, wann es passierte. Sie wusste nur, dass es passierte. Und sie wollte ihr nicht länger im Weg stehen. „Aber es ist egoistisch von mir, dich darum zu beten, zu bleiben. Ich weiß, dass du Schmerzen hast und ans Bett gefesselt bist. Aber…“, ihre Stimme brach abrupt ab. Ihr Gesicht drückte sich in die weiche Matratze. Sie stieß einen halblauten Schrei aus, der ihren Schmerz beschrieb. Ihr Herz zog sich zusammen, so als hätte sich eine Hand darum gelegt, die es allmählich zu zerquetschen drohte. Sie konnte ihr nicht sagen, dass sie es unfair fand. Natürlich war das Leben war unfair, in vielerlei Dingen. Aber… Schwerfällig hob sie ihren Kopf an, drückte ihre Hand gegen ihre Wange. „Es ist okay“, murmelte sie mit schwerer Zunge. „Lass einfach los.“ Verzweifelt kniff sie sämtliche Gesichtsmuskeln zusammen, nachdem ihr die Bedeutung ihres Satzes bewusst wurde. Ja, sie ließ sie gehen. Sie wollte nicht, dass sie sich noch länger quälte, auch wenn es ihr Herz zerbrach. Sie wollte, dass sie blieb. Bei ihr. Am liebsten für immer. Noriko drückte auf einmal ihre Hand. Mimi blickte zu ihr, in der Hoffnung sie würde nochmal wach werden, um mit ihr ein letztes Mal sprechen können. Doch sie lag nur da und schlief. Der Druck um Mimis Hand ließ langsam nach, war aber immer noch leicht spürbar. Stunden vergingen, doch sie dachte keine einzige Sekunde daran sie loszulassen. Es war ihre Verbindung zueinander, die sie nicht aufgeben wollte… _ Zwei Tage später lag Mimi bereits im Bett, als plötzlich mitten in der Nacht das Telefon klingelte. Sie schreckte nach oben und sah prompt auf ihren Wecker, der ihr 02:48 Uhr anzeigte. Ein Kloß bildete sich in ihrem Hals, als das Klingen aufhörte und sie im Flur die Stimme ihrer Mutter vernahm. Langsam senkte sie sich auf die Matratze und krallte ihre Finger in ihr Kissen. Sie wusste genau, was es zu bedeuten hatte. Vollkommen erstarrt sah sie zu ihrer Wand und wartete. Noch immer hörte sie die Stimme ihrer Mutter, die sie jedoch kaum verstand. Mimi schloss ihre Augen, erinnerte sich an all die schönen Momente der letzten Wochen und Monate, als plötzlich ihre Tür geöffnet wurde. „Mimi? Bist du wach?“, ertönte die Stimme ihrer Mutter im dunkeln Zimmer. Auf leisen Sohlen schritt sie zu ihrem Bett und das zusätzliche Gewicht signalisierte Mimi, dass sie sich hingesetzt hatte. Sie lag mit dem Rücken zu ihr, als sie ihre Hand darauflegte und sachte drüber fuhr. „Ayame hat angerufen.“ Sie verzog das Gesicht, wollte nicht hören, was ihre Mutter zu sagen hatte. Ein qualvolles Glucksen überkam sie, sodass sie prompt ihre Hand gegen ihren Mund presste und ihr Gesicht tiefer ins Kissen drückte. „Es tut mir so leid“, murmelte ihre Mutter hilflos und legte die Arme um sie. Mimi stieß einen unterdrückten Schrei aus, schüttelte die Nähe ihrer Mutter von sich und vergrub ihre Fingernägel in ihrer Bettwäsche. Sie schloss ihre Augen, atmete unregelmäßig und stöhnte qualvoll auf. Ihre Mutter hatte immer noch nicht von ihr abgelassen, auch wenn sie ihre Nähe nicht wollte. In ihr verkrampfte sich alles. Vor ihrem inneren Auge sah sie Bilder von Noriko, wie sie lachte, freudig umhertanzte und sie liebevoll anlächelte. Sie schluckte hart, als ihr schlagartig bewusst wurde, dass sie sie verloren hatte. Ihr Lachen, ihre Stimme, ihre positive Energie. All das lebte nur noch in ihrer Erinnerung. Noriko war gegangen. Für immer. Kapitel 50: Ein leiser Abschied ------------------------------- Das Leben konnte in einer unheimlichen Geschwindigkeit an einem vorbeiziehen. Ein Jahr verging so unfassbar schnell, dass man sich nur noch an die Hälfte erinnern konnte. Mimi hatte keinerlei Erinnerungen an ihr diesjähriges Weihnachtsfest und die nachfolgenden Tage, die in einem Tränenmeer endeten. Alles war grau und traurig geworden, seit sie gegangen war. Das neue Jahr hatte noch nicht mal angefangen, als sie sich alle versammelt hatten, um sich von ihr zu verabschieden. Mimi durfte sie gemeinsam mit Chiaki und Masaru ein letztes Mal alleine sehen, auch wenn es ihr sehr schwer gefallen war. Ein Priester stand ebenfalls im Zimmer und bereitete alles für die bevorstehende Sutrenlesung vor. Sie lag vor ihnen und sah so aus, als würde sie einfach nur seelenruhig schlafen. Mimi bildete sich sogar ein, dass sich ihre Brust hob und wieder senkte, je länger sie sie anstarrte. Sie trug ein weißes Totengewand und wurde in dem kleinen Wohnzimmer aufgebahrt. Sechs Münzen wurden ihr zur Seite gelegt, die symbolisch dafür galten, den Eintritt ins Totenreich bezahlen zu können. Der Geruch von Räucherstäbchen zog sich durch den Raum und reizte Mimis Lungen merklich. Norikos haarloser Schopf glänzte leicht, während ihre Wangen rosa hervorstachen und ihr fehlendes Leben einhauchten. Sie trug die filigrane Herzkette und auch ihren Ehering, die die einzigen Schmuckstücke waren, die sie zierten. Mimi umfasste das Gegenstück zu Norikos Kette, das um ihren Hals lag, während ihr Herz zu Rasen begann. Mimi konnte ihren Anblick kaum ertragen und verließ das Zimmer abrupt. Sie hatte nicht geweint, aber den Schmerz, den sie empfand, zertrümmerte ihr Herz. Sie wollte nicht wahrhaben, dass es vorbei war. Das nur noch eine leblose Hülle vor ihr lag und sie schon längst nicht mehr hier war. Dennoch wollte sie sich zusammenreißen, besonders vor Ayame, die vollkommen überfordert der Situation gegenübertreten musste. Von Etsuko wusste sie bereits, dass sie kaum etwas gegessen hatte oder genügend Schlaf fand, um diesen Abend halbwegs gut zu überstehen. Mimi ging in die kleine Küche, in der sie die anderen eng versammelt vorfand. Ayame wurde von Ren gestützt und auch Etsuko stand in ihrer Nähe. Mimi hatte sich zu ihrer Mutter gesellt, die ihren Arm liebevoll um ihre Schulter legte. Auch wenn sie Nähe zurzeit nicht ertrug, ließ sie sie einfach zu. Yasuo saß teilnahmslos auf dem Stuhl und starrte ins Leere. Nach einer kurzen Verschnaufpause, von wenigen Minuten, gingen sie alle gemeinsam wieder ins Wohnzimmer und steuerten auf die bereitstehenden Stühle zu. Chiaki und Masaru saßen bereits, als der Rest von ihnen eintraf und sich neben ihnen niederließ. Mimi ließ sich von ihrer Wärme ihrer Mutter umhüllen, die sie festumklammert hielt, während der Priester mit seiner Sutrenlesung begann. Sie hörte seine Worte, ohne sie wirklich wahrzunehmen. Mit starren Augen blickte Mimi zu ihrer aufgebahrten Schwester. Eine Schwere machte sich in ihrer Brust breit, nahm sie ein, vernebelte ihr den Kopf und scheuchte jeden klaren Gedanken beiseite. Nichts ist für immer. Wir sind dazu gezwungen loszulassen, ob wir wollen oder nicht. Abschied begegnet uns tagtäglich, zerreißt unser Herz und hinterlässt eine Lücke, die keiner füllen kann. Es ist ein unausgesprochener Schmerz, der nach Heilung verlangt, diese aber nicht so einfach erhalten wird. Wie hypnotisiert richtete sie den Blick zu den Menschen, die Noriko einst so nahe standen. Mimi konnte den meisten gar nicht ins Gesicht schauen, da sie Angst hatte, von ihren eigenen Gefühlen übermannt zu werden. Sie sah an sich hinab und krallte ihre Fingernägel in den rauen Stoff ihres schwarzen Kleides und ballte ihre Hände zu Fäusten. Sie konnte immer noch nicht fassen, was hier gerade passierte… Wenn ein Mensch geht, den wir lieben, vermissen wir ihn. Meist für immer. Ein Teil von uns ist gegangen. Ist ein Stück des hellblauen Himmels geworden, um von nun an, über uns zu wachen. Tag und Nacht. Stunde um Stunde. Der Priester beendete seine Sutrenlesung und verschwand nach kurzer Zeit bereits wieder, um die Familie und Freunde in Ruhe trauern zu lassen. Die Nacht verging nur schleppend und quälte Mimi mit der beißenden Gewissheit, dass alles endgültig vorbei war. Sie war gegangen. Für immer. Erst jetzt wurde ihr all das schlagartig bewusst und zerschmetterte ihre Illusionen, die sie einst hegte. Sie war so dumm gewesen, hatte die Krankheit komplett unterschätzt und sich lieber ihrem eigenen Kummer hingegeben, der irgendwann vorbeigezogen wäre. Doch jetzt hatte sie jemanden verloren, der ihr in kurzer Zeit so wichtig geworden war, ohne ihr jemals ihre wahren Gefühle ins Gesicht gesagt zu haben. Liebe. Freundschaft. Verbundenheit. All das würde sie vermissen, denn es würde nichts mehr so sein, wie es einmal war. Nun war sie gegangen und hinterließ eine tiefe Lücke in ihrem Herzen. Keiner kann sagen, was nach dem Tod kommt, wir können nur hoffen. Hoffen auf das Paradies, einen Neuanfang, oder das Finden von Wunderland. Denn die Hoffnung gibt uns in den schweren Stunden den Mut, nicht aufzugeben. Am nächsten Tag ging alles relativ schnell. Einige Nachbarn, Bekannte und Klassenkammeraden kamen vorbei, um von Noriko Abschied zu nehmen. Sie legten kleine Opfergaben am heimischen Schrein nieder und zündeten Räucherstäbchen an, die die drückende Atmosphäre untermauerten. Keiner von den Anwesenden hatte mehr als zwei Stunden geschlafen. Es wurde viel gebetet und auch wenn jeder nur für sich sprach, war das Gefühl der Zusammengehörigkeit allgegenwärtig. Einige Trauergäste überreichten Ayame Geldgeschenke, um die Beerdigung bezahlen zu können. In Japan war üblich sich finanziell zu beteiligen, da die ganze Zeremonie, alles andere als günstig war. Gerührt von der ganzen Anteilnahme, standen Ayame die Tränen in den Augen, die sie versuchte zu verbergen. Doch als der Bestattungsunternehmer an der Tür klingelte, um Noriko abzuholen, konnte sie sich nicht länger zusammenreißen und weinte stumme Tränen, während Mimi schmerzvoll ihre eigenen Gefühle hinten anstellte und sie qualvoll hinunterschluckte. Noriko wurde in einen Sarg gelegt, der traditionell von ihren nahestehenden Liebsten mit Nägeln verschlossen wurde. Danach machten sie sich auf den Weg zum Krematorium. _ Ihr Kopf schwirrte, als sie sich kraftlos auf ihr Bett niederließ und halbherzig aus ihren Schuhen schlüpfte. Sie waren noch nicht lange zu Hause, doch Mimi war einfach nur noch müde. Der Tag schritt nur langsam voran, für einen kurzen Moment schien sogar alles stillzustehen. Mimi ließ sich rücklings auf ihr Bett fallen und fuhr mit ihren Handflächen über ihre Augen. Sie hatte nicht geweint, fühlte sich betäubt und schwach, sodass sie am liebsten schlafen wollte. Gerade als sie sich zu ihrem Kopfkissen hochgeschafft hatte, klopfte es ausgerechnet an ihrer Zimmertür. Eigentlich hatte sie keine Lust mit ihrer Mutter zu reden, doch sie konnte sie nicht ignorieren, da sie sich ja nur Sorgen machte, weshalb sie sie hineinbat. Verwirrt starrte sie zu ihr, als sie plötzlich mit einem Strauß Gardenien vor ihr stand. „Woher hast du denn den Strauß?“, fragte sie interessiert und musterte die weißen Blüten aufmerksam. „Er lag vor unserer Haustür. Es hat wohl jemand geklingelt und sie davor gelegt“, schlussfolgerte sie und schnupperte an dem Strauß, der einen süßliche Duft im Zimmer verbreitete. „Okay“, machte Mimi nur und drückte ihren Rücken in die Matratze. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und sah herausfordernd zu ihrer Mutter, die sich ein leichtes Lächeln nicht verkneifen konnte. „Er ist für dich“, sagte sie nur und reichte ihn an ihre verwunderte Tochter weiter. Mimi nahm die Gardenien entgegen und runzelte fragend die Stirn. Wer sollte ihr wohl Blumen schicken? Sie sah wieder zu ihrer Mutter, die sie erwartungsvoll anschaute. „Da ist ein kleines Kärtchen dabei“, meinte sie und deutete auf den Stiel. Verwundert ertastete Mimi ein kleines Kuvert, auf dem lediglich ihr Name drauf stand. „Du kannst mir ja später erzählen, von wem du diesen unfassbar schönen Blumenstrauß bekommen hast. Du weißt hoffentlich, was Gardenien bedeuten“, erinnerte sie sie verheißungsvoll, ließ sie aber kurz danach alleine in ihrem Zimmer zurück. Früher hatten ihre Mutter und sie oft über die Bedeutung von Blumen gesprochen, besonders weil ihr Vater ihrer Mutter häufig einen Blumenstrauß schenkte. Gardenien. Mimi überlegte fieberhaft welche Bedeutung Gardenien hatten. Gedankenversunken pfriemelte sie das kleine Kuvert vom Strauß und legte ihn sachte vor sich aufs Bett. Sie begutachtete den wundervoll zusammengesteckten Strauß und öffnete behutsam den kleinen Umschlag. Gardenien. Blumen, die die geheime Liebe symbolisierten. Irritiert über ihren eigenen Gedanken, nahm sie das kleine Kärtchen hervor und klappte es auf. Augenblicklich stockte ihr der Atmen und ihr Herz setzte aus. Mit zitternden Fingern hielt sie sich die Hand vor den Mund und unterdrückte einen schmerzvollen Aufschrei, indem sie ihre Lippen fest aufeinander presste. Ihr Herz zog sich stechend zusammen und trieb ihr die Tränen in die Augen. Fassungslos fixierte sie die Worte, die darin geschrieben standen und in ihr ein wirres durcheinander der Gefühle auslösten. Warum ausgerechnet jetzt, schoss ihr sofort durch den Kopf, als sie immer wieder das Gleiche las. Sie schüttelte ungläubig den Kopf und ließ das Kärtchen auf ihren Schoss sinken. Ihre Gesichtszüge entglitten ihr und sie verzog schmerzerfüllt ihr Gesicht. Sie ließ den Kopf auf die Matratze sinken, unfähig ihre Emotionen zu kontrollieren. Die Tränen rannen ihr über die Wangen, so als hätten sie nur auf den richtigen Moment gewartet, sich qualvoll mitzuteilen. Neben ihr lag immer noch das Kärtchen, dessen Inhalt alles zum Wanken brachte: Es war nicht bedeutungslos – Tai. Kapitel 51: Grenzenlose Wut --------------------------- Apathisch stocherte sie in ihrem Mittagessen herum und hatte ihren Kopf leicht auf ihrer Handfläche abgestützt. Schon seit Tagen hatte sie keinen Appetit, wollte kaum noch aus dem Bett und hatte sogar Silvester regelrecht verschlafen. Alles zog nur so an ihr vorbei, als würde es ihr kaum etwas bedeuten. Auch die Schule und die bevorstehenden Prüfungen schienen ihr egal geworden zu sein. Seit eineinhalb Wochen hatte sie der Schulalltag wieder, den sie mehr schlecht als recht, bestritt. Widerwillig aß sie einen kleinen Happen, da die Blicke ihrer besten Freundin auf ihrer Haut brannten. Besorgt sah Sora zu ihr und ließ ihre eigene Gabel auf ihren Teller sinken. „Mimi? Was hast du denn?“, durchdrang ihre flehende Stimme den Nebel, der sich seit Norikos Beerdigung, in ihrem Kopf ausgebreitet hatte. Kaum merklich hob sie den Kopf und richtete den Blick zu Sora, in deren Augen sich die pure Verzweiflung wiederspiegelte. Schon länger versuchte sie sie zu erreichen, scheiterte jedoch immer wieder an Mimis abweisender Art, die sie als Schutzwall errichtet hatte. Ihr fiel es unsagbar schwer, aufrichtig zu Sora zu sein, da sie dieses Geheimnis schon viel zu lange mit sich trug. Was wenn sie ihr Vorwürfe machen würde, weil sie ihr die ganze Zeit nichts gesagt hatte? Was wenn sie ihre Familie verurteilte, weil ihr Vater achtzehn Jahre ein uneheliches Kind verheimlichte? Sie wusste, dass bei Sora diese Sorgen eigentlich unbegründet waren. Doch sie hatte die Blicke der Nachbarn gesehen, die sich zwar aus Höflichkeit von Noriko verabschiedeten, aber alles andere als gut, von ihrer Familie dachten. Außerdem redete sich Mimi tagtäglich ein, dass es sowieso zu spät war. Mit ihrer Trauer musste sie alleine fertig werden. „Hey, wenn du willst können wir uns am Wochenende mal wieder treffen. Ich brauche vom Lernen auch mal eine Pause“, startete sie einen erneuten Versuch, nachdem Mimi nicht reagiert hatte. „Das ist wirklich sehr lieb…“, begann sie leise, hielt aber kurz inne, als Tai mit ein paar Jungs vom Fußballverein an ihr vorbei lief. Ihre Blicke trafen sich unweigerlich, doch sie senkte schnell den Kopf und versuchte sich wieder auf Sora zu konzentrieren. „I-Ich will dich aber nicht vom Lernen abhalten! Ihr habt ja schließlich bald Abschlussprüfungen“, erinnerte sie sie nachdrücklich. „Aber ich merke doch, dass es dir nicht gut geht“, stellte sie sorgenvoll fest. „Du distanzierst dich von uns. Mit Tai redest du komischer Weise auch nicht mehr! Was ist denn vorgefallen?“ Mimi kniff angestrengt die Augen zusammen und verfluchte sich innerlich dafür, in seine Richtung gestarrt zu haben. Sora hatte schon länger mitbekommen, dass die Beziehung der beiden angespannt war. Während sie und Matt sich Tai langsam wieder annäherten, spürte man die Distanz zwischen den beiden deutlich. Sie hatte keine Ahnung, wie sie mit ihm umgehen sollte. Seit sie diesen ominösen Blumenstrauß von ihm erhalten hatte, schien er auf eine Reaktion von ihr zu warten, doch sie war einfach nur überfordert. Was sollte dieser plötzliche Sinneswandel? Warum schickte er ihr ausgerechnet Gardenien? Hatte er sich etwas dabei gedacht, oder den Strauß einfach wahllos herausgesucht? Doch er hatte ihr extra ein Kärtchen geschrieben und betont, dass ihre gemeinsame Nacht nicht bedeutungslos war. Schon bevor sie seine Blumen erhalten hatte, versuchte Tai hin und wieder Kontakt mit ihr aufzunehmen, schrieb ihr dutzende SMS, die sie nicht las, oder rief sie an. Mimi jedoch hatte keine Nerven, sich auch noch mit Tai herumzuschlagen. Auch wenn sie seine Bemühungen durchaus süß fand, konnte sie sich nach all dem Drama nicht dazu durchringen mit ihm zu reden. Plötzlich spürte sie eine Hand auf ihrem Ärmel. Erschrocken sah sie in das unruhige Gesicht von Sora, die eine Antwort von ihr verlangte. Mimi ging etwas auf Abstand und schüttelte nur beiläufig den Kopf. „Es ist alles in Ordnung, okay?“, meinte sie nur distanziert, stand auf und nahm ihr Tablett in ihre zitternden Finger. Ihre Essen hatte sie kaum angerührt. „I-Ich muss noch mal zur Toilette“, sagte sie knapp und setzte sich, ohne eine Antwort abzuwarten, in Bewegung. _ Sie öffnete die Kabine und steuerte direkt auf eines der Waschbecken zu. Kaltes Wasser traf ihre Handflächen, während sie sie säuberte und etwas Seife aufnahm. Gedankenversunken spülte sie Wasser über ihre Hände und schaute in den Spiegel, der über dem Waschbecken hing. Ihre Augen sahen unfassbar müde aus, so als hätte sie die ganze Nacht durchgemacht. Ihr Teint war fahl und nur etwas Rouge zauberte ihr etwas Lebensfarbe ins Gesicht. Ihre Haare hingen platt nach unten und Mimi war sich noch nicht mal mehr sicher, ob sie sie heute Morgen überhaupt gebürstet hatte. Sie schüttelte sich kurz bei ihrem Anblick und ließ rasch von ihrem Spiegelbild ab. Sie trocknete ihre Hände und verließ stürmisch die Toilette. Der Schulflur war noch leer, da sich die meisten beim Essen befanden. Langsam schritt sie den kargen Gang entlang und ließ sich kurz bevor sie ihr Klassenzimmer erreichte auf dem Boden nieder. Sie seufzte, zog die Beine dicht an ihren Körper, schloss die Augen und genoss die Stille, die nur wenige Minuten anhielt. „Was machst du denn da unten?“, fragte eine bekannte Stimme. Mimi schlug überrascht die Augen auf und sah wie sich ausgerechnet Matt grinsend zu ihr hinunter beugte und sie begutachtete. „Sitzen, sieht man doch!“, antwortete sie leicht schnippisch und hoffte, dass er sich wieder in Bewegung setzte und ging. Matt war auch einer der Kandidaten, denen sie lieber aus dem Weg ging, statt mit ihnen zu reden. Doch Matt schnaubte nur unbeeindruckt und setzte sich direkt neben sie. „Hier hat man während der Mittagspause seine Ruhe. Manchmal nehme ich mir mein Pausenbrot und verziehe mich in den Musikraum und genieße die Stille.“ Überrascht sah Mimi zu ihm, wandte aber relativ zügig die Augen von ihm. Beide hatten schon eine halbe Ewigkeit nicht mehr miteinander gesprochen. Sie war gar nicht mehr im Bilde, was bei ihm eigentlich so los war. Sie wusste nur, dass er sich mit Tai wieder versöhnt hatte und sich seit kurzem auch wieder mit Sora traf, um ihrer Dreieinigkeit eine weitere Chance zu geben. „Wie geht´s dir eigentlich?“, fragte er auf einmal und hatte denselben besorgniserregenden Blick wie Sora aufgelegt, so als hätten sie sich abgesprochen. „Hast du mit Sora geredet?“, unterstellte sie ihm gereizt und schielte zur anderen Seite. Konnte denn niemand verstehen, dass sie alleine sein wollte? „Sie macht sich nur Sorgen. Wir alle machen uns Sorgen“, sagte er mit sanfter Stimme. Mimi biss sich auf die Unterlippe und zog sie nach innen. „Braucht ihr wirklich nicht, mir geht es gut“, versicherte sie Matt, ohne ihm ins Gesicht zu schauen. Sie wusste nicht, was sie mehr beunruhigte…dass ihre Freunde hinter ihrem Rücken über sie sprachen oder, dass man ihr die Traurigkeit bereits ansah? „Tai macht sich auch große Sorge um dich“, eröffnete er ihr auf einmal und Mimi schnellte mit dem Kopf zu ihm. Verwundert sah sie ihn an und überlegte, was sie darauf antworten sollte, ohne ihm nähere Details über ihre verkorkste Beziehung zu unterbreiten. Doch bevor sie sich eine Antwort zurecht legen konnte, hatte er wieder das Wort ergriffen. „Ich weiß nicht was da genau zwischen euch vorgefallen ist, aber ihm geht es sehr schlecht deswegen. Ihm ist auch schon aufgefallen, dass du kaum noch etwas in der Schule isst.“ „Das ist nicht sein Problem“, erwiderte sie nur kühl, obwohl seine Worte ihr schon nah gingen. Mit bebenden Fingern krallte sie sich in ihren Unterarm, den sie auf ihren Knien platziert hatte. „Aber wir sind doch alle miteinander be…“ „Wir haben uns teilweise auseinander gelebt. Sora und du werdet nach dem Schulabschluss weg sein. Joe hat seit seinem Medizinstudium kaum noch Zeit für uns und die Jüngeren machen ihr eignes Ding“, unterbrach sie ihn schroff und sprach das aus, was sie schon länger dachte. Ihr war es bewusst geworden, nachdem Sora ihre Pläne für Paris offenbart hatte. Es ging alles auseinander. Vielleicht war es sogar besser so. Manche Freundschaften waren nicht für die Ewigkeit bestimmt. „Was redest du denn da? Du tust ja so, als wäre unsere Freundschaft bereits verloren.“ „Vielleicht ist sie das ja auch“, murmelte sie leise vor sich hin und raffte sich auf. Auch Matt stellte sich hin und beäugte sie kritisch. „Mimi, das ist Schwach…“ „Nein, ist es nicht! Ihr habt euch zwar wieder einigermaßen vertragen, aber eure Freundschaft wird nicht mehr dieselbe sein. Nicht nachdem, was alles passiert ist.“ Sprachlos stand er ihr gegenüber und wollte gerade etwas erwidern, als die Schulglocke läutete. „Die nächste Stunde fängt an, du solltest in dein Klassenzimmer gehen“, sagte sie ausdruckslos und verschränkte die Arme vor der Brust. Matt schüttelte nur sein blondes Haar, als sie an ihm vorbei ging und die Tür zum Klassenraum öffnete. _ Ein paar Tage später war Mimi auf dem Weg zu Ayame. Gelegentlich ging sie nach der Schule bei ihr vorbei, um nach ihr zu sehen. Meist waren auch abwechselnd Ren oder Etsuko bei ihr gewesen, um ihr etwas Trost zu spenden. Auch ihre Mutter war ein paar Mal bei ihr gewesen, obwohl Ren ihr mehr Verantwortung übertragen hatte und sie somit auch mehr arbeiten musste. Sie waren mitten im Umbau, der seit November begonnen hatte. Ren wollte seinen Club mit einer separaten Cocktailbar erweitern und befand sich gemeinsam mit ihrer Mutter in der Planungsphase. Das Gute daran war, dass Mimi wenigstens zu Hause ihre Ruhe hatte, auch wenn sie sich manchmal sehr einsam fühlte. Schweren Schrittes steuerte sie auf die Wohnung von Ayame zu. Norikos Zimmer war immer noch unberührt, lediglich die Bettwäsche wurde gewechselt. Chiaki hatte sich bereiterklärt, um Gandhi zu kümmern, der als einziger nicht mehr in ihrem Zimmer stand. Sonst sah alles so aus, als würde sie jeden Augenblick zurückkehren. Mimi war nur einmal nach ihrem Tod, in ihrem Zimmer gewesen. Nicht mal fünf Minuten hielt sie es aus und ergriff unter Tränen fast panisch den Rückzug. Meist gesellte sie sich kurz zu Ayame ins Wohnzimmer, da auch dort ihre Urne stand, die Anfang Februar auf dem Friedhof beigesetzt werden sollte. Leise und mit Ehrfurcht erfüllt, stieg sie die Treppen des Mehrfamilienhauses hoch und steuerte den Flur, indem sich Ayames Wohnung befand, an. Kurz bevor sie um die Ecke bog, blieb sie abrupt stehen. Ihr Atem stockte und ihre Augen rissen sich unter Schock auf. Sie ging ein paar Schritte zurück, versteckte sich hinter der Ecke, die wieder zum Treppenhaus führte. Mimi legte ihre Fingerspitzen auf das kühle Mauerwerk und beobachtete mit offenstehendem Mund das vor ihr stattfindende Szenario. Es war eine Ewigkeit her, als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte. Sie hatte versucht ihm aus dem Weg zu gehen, da sie nicht mit ihm sprechen wollte. Mimi hatte genug von seinen fadenscheinigen Ausreden und Lügen, die er ihnen jahrelang auftischte. Doch warum war er hier? Und wieso redete Ayame überhaupt mit ihm? Fassungslos sah Mimi, wie er seine Schuhe richtig anzog, ihr eine Hand auf die Schultern legte und sie in eine sachte Umarmung zog, die sie nur kraftlos erwiderte. Völlig schockiert über, die für sie innig wirkende Umarmung, ging sie wieder ein paar Schritte zurück und presste ihren Rücken gegen die Wand. Ihre Atmung war unkontrolliert. Ihr wurde unvermittelt schlecht, sodass sie ihre Augen zusammenkniff und verzweifelt nach Luft schnappte. Sie griff sich gegen ihre Stirn, öffnete aber kurz danach wieder ihre Augen. Mimi tastete sich mit den Fingern zur Ecke vor und schielte zu den beiden Personen. Schnell stellte sie fest, dass er direkt auf sie zugesteuert kam. Von Panik ergriffen rannte sie die Treppen hinunter, übersah die letzten zwei Stufen, kam leicht ins Straucheln, fing sich aber wieder und schaffte es, sich hinter der Hausfassade zu verstecken. Einige Minuten später tauchte er ebenfalls auf, zückte seinen Schlüssel und ging zu seinem Wagen, der in einer Nebenstraße parkte. Der Motor ertönte und Mimi hörte gerade noch wie er Gas gab und langsam davonfuhr – so als wäre er nie hier gewesen. Schwerfällig begab sie sich aus ihrem Versteck und starrte ihm eine Zeitlang hinter, bis ihr Blick zu Ayames Wohnung hochwanderte und mit zusätzlichen Fragen belastete. Was wollte er nur hier? Er hatte sich all die Jahre nie um Noriko gekümmert, warum besuchte er ihre Mutter ein paar Wochen nach ihrem Tod? Und warum gaben sie sich einer innigen Umarmung hin? Was hatte das nur zu bedeuten? Lief etwa wieder etwas zwischen ihnen? Hatte der Tod ihrer Schwester sie einander näher gebracht? Fielen sie ihrer Mutter erneut in den Rücken, obwohl sie sich eigentlich denken konnten, wie schwer die beide es hatten? Von Wut ergriffen biss sie die Zähne fest aufeinander und verschwand in die andere Richtung. _ Wuterfüllt torkelte sie vor ihrem eigenen Wohnhaus auf und ab, nippte an der halbleeren Flasche Sake, die sie im Nachtschränkchen ihrer Mutter gefunden hatte. Sie konnte mittlerweile verstehen, warum sie ab und zu zur Beruhigung ein Schälchen Sake trank. Ihr ging es zurzeit nicht anders, auch wenn sie den Alkohol dazu missbrauchte, sich fehlenden Mut anzutrinken. Sie setzte erneut an und kippte einen großen Schluck hinunter, sodass sogar etwas Sake auf ihre Kleidung tropfte. Ihr Kopf fühlte sich bereits vollkommen benebelt an, als zwei Gestalten auf sie zugesteuert kamen. Mimi fuhr sich durch ihr nasses Gesicht, trank wieder etwas und hielt die Flasche am Hals kraftlos fest. Sie lief schwankend den beiden entgegen und fixierte den Älteren mit einem bösartigen Blick. „Warum bringst du deinen kleinen Bruder mit?“, fragte sie vorwurfsvoll und merkte, dass ihre Zunge ganz schwer geworden war. „Hä? Du hast doch nur gesagt, dass ich vorbei kommen soll! Ich habe nicht gewusst, dass ich Yasuo nicht mitbringen darf…er ist doch sonst auch immer dabei“, stellte er nüchtern fest und musterte sie verwirrt. Doch Mimi schüttelte nur rasch den Kopf und drückte sich an ihnen vorbei. „Ist jetzt auch egal“, murrte sie gereizt und setzte sich in Bewegung. „Wir müssen zur U-Bahn-Station“, kommandierte sie, ohne auf die beiden weiter einzugehen. Sie leerte die Flasche in einem Zug, wusch sich über den Mund und stellte sie am Boden ab. Sie stützte sich mit der Hand an der Wand ab und hielt sich kurz die Stirn, da ihr plötzlich ganz schwarz vor Augen wurde. „Ist alles in Ordnung? Was ist denn passiert, Mimi?“, fragte Masaru besorgt und legte seine Hand auf ihre Schulter. Mimi schüttelte sie sofort ab und ging wankend ein paar Schritte voraus. „Es ist alles gut“, meinte sie schwerfällig, wohlwissend, dass gar nichts gut war. Sie drehte sich zu den beiden hin, hatte kurz Orientierungsschwierigkeiten, da sich bei ihr alles drehte. „Ich will zu meinem Vater!“, eröffnete sie ihnen und blickte in erstaunte Gesichter. „Warum? Du bist ihm die letzten Monate komplett aus dem Weg gegangen“, stellte Masaru spitzfindig fest. Yasuo senkte nur den Kopf und schien zu merken, dass er eher unerwünscht war. „Ich habe mit ihm etwas zu klären“, beharrte Mimi steif und wandte beiden wieder den Rücken zu. „Ich wollte allerdings nicht alleine gehen.“ Ihre Stimme war immer leiser geworden. Ja, sie wollte ihn zu Rede stellen! Sie brauchte diese Antworten, dringender als sie es erwartet hätte. Seit sie ihn bei Ayame gesehen hatte, wuchs ihre Wut ins Unermessliche. Sie musste ihr Luft machen, sonst würde sie noch explodieren. „Okay, aber findest du wirklich, dass es jetzt passend ist? Du bist angetrunken!“, murmelte Masaru, in der Hoffnung, sie von ihrem Vorhaben abhalten zu können. Doch Mimi war nicht davon abzubringen. Erbost drehte sie sich zu ihm und funkelte ihn an. „Nein, ich muss das jetzt klären! Ist mir egal, ob ihr mitkommt, oder nicht! Ich werde heute noch mit ihm sprechen!“ _ „Mach‘ auf, du blödes Arschloch!“, brüllte sie aus tiefster Seele und schlug gegen seine Wohnungstür. Vor einer viertel Stunde waren sie bei ihm angekommen, doch er öffnete nicht die Tür, obwohl sein Wagen auf dem Parkplatz stand. Von Verzweiflung getrieben, hatte Mimi das ewige Klingeln aufgegeben und hämmerte mit der bloßen Faust gegen seine Appartementtür. Masaru hatte sich gegen das Treppengeländer gelehnt und verschränkte genervt die Arme vor der Brust, während Yasuo sich auf der Treppe niedergelassen hatte. „Mach‘ gefälligst auf!“, kreischte sie schrill, als Masaru lautstark stöhnte. „Man, dass hat doch keinen Sinn! Er ist nicht da, lass uns wieder gehen“, schlug er vor und versuchte entspannter zu klingen, als er eigentlich war. Mimi konnte sich denken, dass sie sein Nervenkostüm strapazierte. Schon in der U-Bahn war sie alles andere als einfach gewesen. Der Alkohol ließ sie äußerst emotional werden, sodass sie ihre Gefühle kaum noch kontrollieren konnte. Immer wieder brach sie in Tränen aus und erzählte im Sekundentakt, was sie gesehen hatte und was sie letztlich reininterpretierte. Selbst Masarus Beruhigungsversuche scheiterten, ließen sie nur noch mehr aus der Haut fahren und ihn an den Rand des Wahnsinns treiben. Mimi war felsenfest davon überzeugt gewesen, ihn heute anzutreffen und mit ihm reden zu können. Ihr kam nicht mal der Gedanke, dass er vielleicht einfach nur etwas essen gegangen war, da er selbst nicht kochen konnte, oder vielleicht einfach zu Fuß irgendwo hingegangen war. In ihrem Kopf drängte sich der Gedanke auf, dass er sie einfach nicht reinlassen wollte. Dass er derjenige war, der sie nun ignorierte und ihr aus dem Weg gehen wollte. Ein letztes Mal hämmerte sie gegen die Tür, als Masaru plötzlich ihre Hand packte und zu sich drehte. „Mimi, beruhig‘ dich jetzt! Er ist nicht da! Wir sollten einfach nach Hause gehen.“ „Ach lass‘ mich doch“, schrie sie und wandte sich aus seinem lockeren Griff. Sie stieß mit dem Fuß gegen Yasuo, der gerade seine Handkamera ausgepackt hatte. Sie rutschte ihm aus der Hand und Yasuo konnte sie gerade noch mit einer Hand auffangen, als Mimi wutentbrannt die Treppen hinunterlief, gefolgt von Masaru. Sie steuerte fuchsteufelswild auf den Wagen ihres Vaters zu und schlug mit beiden Fäusten auf die Motorhaube ein. Masaru kam direkt hinter ihr zum Stehen, als Yasuo leise zu den beiden aufschloss. „Du blödes Arschloch! Wie konntest du uns das nur antun?“, brüllte sie verzweifelt und drosch weiter auf den Gegenstand ein, auch wenn ihre Hände schmerzten. In ihrer Ausweglosigkeit hatte sie alle rationalen Gedanken über Bord geworfen. Langsam zog sie sich zurück und starrte mit gläsernen Augen auf die Motorhaube. Ihre Hand verschwand in ihrer Jackentasche und ertastete etwas kleines Kühles darin. Sie umfasste es mit ihren Fingern und zog es bedächtig aus der Tasche. „Hast du dich jetzt wieder beruhigt?“, fragte Masaru vorsichtig und trat etwas näher an sie heran. Doch Mimi nahm ihn nicht wahr. Es schien so, als hätte ihr eigener Körper ein Eigenleben entwickelt. Sie sah wie ihre Hand sich bewegte und wie sie sich leicht über die Haube beugte. Ihr Verstand war abgeschaltet, alles fühlte sich so an, als würde sie es nur beobachten und nicht selbst tun. Doch das kratzende Geräusch und Masarus Stimme brannten sich in ihr Gedächtnis. Er packte sie plötzlich und versuchte sie von dem Wagen wegzuziehen, während sie um sich schlug. „Bist du noch ganz dicht?“, hörte sie ihn sagen. „Lass mich los!“, kam über ihre Lippen. Ihr Tonfall war aggressiv und sie spürte, wie sie sich aus seinem Griff wandte und mit ihrem Schlüssel über den Lack kratzte. „Das ist Sachbeschädigung!“, brüllte er, packte sie am Becken, doch konnte sie nicht halten, da sie mit aller Kraft um sich schlug und sogar nach ihm trat. „Yasuo! Ruf sofort Etsuko oder Chiaki an! Sie ist komplett wahnsinnig geworden.“ Von hinten umfasste er ihre Handgelenke, während sie sich immer wieder zu befreien versuchte. Sie hörte immer wieder, wie Yasuo und Masaru miteinander stritten, nahm ihre Worte aber gar nicht mehr richtig wahr. Ihr wurde immer schwindeliger. Ihre Kräfte schwanden und sie fühlte wie ihr die warmen Tränen die Wangen hinunterliefen. Kraftlos ließ sie sich auf der Motorhaube nieder und schluchzte herzzerreißend. Masaru konnte sie kaum noch halten, ging deswegen neben ihr auf die Knie, um sie besser stützten zu können. Sie drückte ihr Gesicht auf die kühle Haube, in ihren Finger befand sich immer noch der Schlüssel, der seine Spuren hinterlassen hatte. Tränen tropften auf das Wort, das sie in den Lack geritzt hatte. Sie sackte zusammen, als ihr plötzlich schwarz vor Augen wurde. _ Erschrocken zuckte sie zusammen, als sie das kalte Wasser traf. Würgend beugte sie sich über und hielt sich krampfhaft am Badewannenrand fest. Sie blinzelte und nahm ihre Umgebung erst sehr verschwommen wahr, bis sie sich orientieren konnte. Erst nach und nach, erkannte sie, dass sie sich in ihrem eigenen Badezimmer befand und jemand den Arm um sie gelegt hatte. Das Wasser prasselte auf sie nieder. Sie rang immer noch nach Luft, gewöhnte sich aber an die kühle Nässe, die ihre Haut bedeckte. „Was hast du nur gemacht?“, ertönte eine sanfte Stimme und strich ihr vorsichtig ein paar Strähnen aus dem Gesicht. Mimi richtete den Kopf auf und sah in das besorgte Gesicht von Etsuko, die ebenfalls halb in der Badewanne stand. „W-Was ist passiert?“, hakte sie verwirrt nach und konnte sich nicht mehr daran erinnern, wie sie überhaupt zurück zur Wohnung gekommen war. Und wo waren Masaru und Yasuo? Sie sah an sich hinunter und stellte fest, dass sie nur in Unterwäsche bekleidet war. Neben der Wanne lag ein Kleiderhaufen, der nur ihrer sein konnte. Etsuko hangelte sich nach oben und stellte die Duschbrause ab. Danach stieg sie aus der Wanne und half Mimi ebenfalls heraus. Sie legte ein Handtuch über ihre Schultern und krempelte ihre Hosenbeine wieder runter, während Mimi apathisch alles beobachtete. „Erinnerst du dich an überhaupt nichts mehr?“, fragte Etsuko skeptisch nach und trocknete mit einem kleinen Gästehandtuch ihre Füße ab. Mimi kniete sich langsam hin, da ihr Kopf immer noch schwirrte. Sie umklammerte ihr Handtuch und presste ihren Rücken gegen die Wanne. „Ich wollte mit meinem Vater reden“, erinnerte sie sich dunkel, „aber er war nicht da!“ „Das hat mir Masaru auch erzählt“, schnaufte sie und setzte sich ihr gegenüber. „Du bist komplett durchgedreht. Du hast das Auto von deinem Vater zerkratzt und hast dich von Masaru überhaupt nicht mehr beruhigen lassen. Ich war fassungslos, als Yasuo mich angerufen hat und mir erzählt, dass du nach seinem Bruder trittst.“ Mimi riss die Augen auf und fasste sich beschämt an den Kopf. „Was? Das weiß ich gar nicht mehr…“ In ihrem Kopf drehte sich alles. Sie konnte sich noch gut daran erinnern, dass sie furchtbar wütend war, aber nicht, dass sie das Auto ihres Vaters beschädigt hatte und mutwillig nach Masaru trat. „Wo sind die Jungs denn?“, fragte sie nach einen kurzen Moment der Stille. Etsuko drehte den Kopf zur Tür und deutete hinter sich. „Sie sind im Wohnzimmer. Chiaki ist auch gekommen.“ Verlegen sah sie auf ihren Schoss und zupfte mit den Fingern am Zipfel ihres Handtuches. Sie schämte sich ungemein. Noch nie im Leben war sie so dermaßen ausgerastet. Alles war außer Kontrolle geraten, nur weil ihre unausgesprochene Wut alles ins Wanken brachte und sie wie ein fehlgezündeter Feuerwerkskörper explodieren ließ. „Mein Vater war bei Ayame. Ich habe gesehen, wie er aus ihrer Wohnung kam und sie umarmt hat“, sprudelte plötzlich aus ihr hervor. Mit den Augen suchte sie nach Etsuko, die weniger überrascht aussah, als sie vor wenigen Stunden. Sie streckte die Arme nach ihr aus und sah Mimi tief in die Augen. „Er wollte sich verabschieden. Ich war auch da gewesen, weil ich nach Ayame sehen wollte. Es ist nicht das passiert, was du dir vielleicht vorstellst. Er hat sich nur verabschiedet“, stellte sie klar und Mimi spürte einen leichten Druck auf ihren Schultern. „A-Aber es hat ihn nie interessiert, wie es ihr geht!“, protestierte sie wehleidig und merkte, wie die Tränen in ihren Augen aufstiegen. „Ich weiß auch nicht, was ihn dazu bewegt hat, aber es ist sein gutes Recht sich…“ „So ein Blödsinn“, unterbrach sie sie schroff und drückte sie unsanft beiseite. „Er hätte schon viel früher dazu stehen müssen. Jetzt ist es zu spät und sie ist tot.“ Krächzend kamen ihr die Worte über die Lippen, bevor ihre Stimme abbrach und sie ihre Lippen zitternd aufeinanderpresste. „Mimi“, ertönte Etsukos Stimme und ihre Hand legte sich auf ihren Oberschenkel, „ich weiß, dass das alles nicht leicht für dich ist. Wir vermissen sie alle. Aber es bringt nichts, wenn du alle von dir stößt! Sie war ein wichtiger Teil von uns, von uns allen!“, betonte sie sanftmütig und strich ihr zart über ihre Haut. Mimi drehte sich zu ihr hin und bibberte unaufhörlich. Ihre Worte drangen sofort in ihr Herz und machten ihr bewusst, wie Recht sie hatte. Sie war nicht die einzige, die jemanden verloren hatte. Noriko war nicht nur ihre Schwester, sondern eine Freundin und geliebte Frau, die bei allen eine tiefe, schmerzende Wunde hinterließ. Etsuko rutschte auf den Knien zu ihr und legte den Arm um sie. Es war das erste Mal, dass sie vor jemandem weinte und offen ihre Gefühle zeigte. Sie drückte ihr Gesicht in ihre Armbeuge, registrierte ihre warme Hand auf ihrem Rücken, die behutsam darüber fuhr und ihre selbsterrichtete Mauer zum Einsturz brachte. Kapitel 52: Absender: Wonderland -------------------------------- Es war eine Woche seit ihrem Ausraster vergangen. Die Konsequenzen ihres Handelns waren deutlich spürbar. Natürlich hatte ihr Vater ihre Mutter aufgesucht, um gemeinsam über den Vorfall zu sprechen. Mimis Botschaft an ihn, war unmissverständlich und lenkte den Verdacht sofort auf sie, sodass sie es nicht leugnen konnte. Ja, sie hatte sein Auto beschädigt und in den Lack das Wort „Liar“ hineingeritzt. Aber konnte keiner sehen, wie verzweifelt sie war? Dass ihr Nervenkostüm bei jeder unüberlegten Handlung neue Risse bekam? Sie hatte ihre Mutter selten so wütend erlebt, als ihr Vater sie eines Abends aufsuchte und das Gespräch ohne Umschweife auf Mimis Fehlverhalten lenkte. Von der Wut gepackt, war Mimi aufgesprungen und begab sich in den Sumpf der Vorwürfe. Ihre Stimme war mit jedem Satz lauter geworden und sie merkte nicht, wie sie allmählich darin versank. Sie redete sich in Rage, sodass ihre Mutter sie nicht mehr beruhigen konnte und sie einfach auf ihr Zimmer schickte. Von dort verfolgte sie das Gespräch nur bruchstückhaft und lief nervös auf und ab. Es war das erste Mal seit langem, dass sich ihre Eltern im selben Zimmer aufhielten und wie Erwachsene miteinander sprachen. Seit klar war, dass sie sich scheiden ließen, beschränkten sie den Kontakt lediglich auf Telefonate, die meist kurz und knapp gehalten wurden. Doch diesmal unterhielten sie sich über eine Stunde, bis Mimi das Schloss in die Tür fallen hörte. Danach war ihre Mutter zu ihr gekommen. Ihre eigene Wut war bereits verschwunden, als sie sich auf ihren Schreibtischstuhl setzte und sie besorgt anstarrte. Behutsam hatte sie nach ihrer Sicht des Ganzen gefragt und hörte interessiert zu, was Mimi ihr zu erzählen hatte, auch wenn sie sich das Meiste regelrecht aus der Nase ziehen ließ. Ihr fiel es unsagbar schwer, sich zu öffnen und zuzugeben, dass es ihr schlecht ging. Sie wollte nicht zu einer Belastung für ihre Mutter werden und hatte auch das Gefühl, dass sie nicht im gleichen Maße trauern durfte, wie die anderen. Noriko war zwar ihre Schwester, aber sie kannten sich noch nicht mal ein Jahr, auch wenn es gleich sehr vertraut zwischen ihnen war. Sie gehörte nicht zu den Menschen, die Noriko in wichtigen Lebensabschnitten begleitet hatten. Mimi war nur in den letzten Monaten für sie da gewesen. Viel zu wenig, wie sie es empfand. Sie hätte mehr tun müssen. Ihr gleich glauben und noch mehr Zeit mit ihr verbringen sollen. Doch jetzt war alles zu spät. Fehler konnte man nicht mehr rückgängig machen. Auch wenn sie von ihrer Mutter wegen des Zerkratzens keinen Ärger bekam, ging sie immer noch ihren Gedanken nach. Zwar hatte sich auch ihr Vater einsichtig gezeigt und mittlerweile ihre Wut nachvollziehen können, doch besonders das schlechte Gewissen gegenüber Masaru ließ sie nicht los, auch wenn er behauptete, dass alles vergeben und vergessen war. Mimi war komplett ausgeflippt und richtete ihre Wut und ihren Hass gegen Menschen, die ihr viel bedeuteten und ihr in den letzten Wochen viel Kraft gespendet hatten. Sie wusste daher nicht, wie sie all das wieder gut machen sollte… Widerwillig saß sie in der Cafeteria und stocherte kraftlos in ihrem Essen herum, während sich ihre Freunde angeregt unterhielten. Ausnahmsweise saßen heute alle beisammen und sprachen über die anstehenden Abschlussprüfungen, den bevorstehenden Abschlussball, Soras Paris-Pläne und Matts Tour, die einen baldigen Abschied signalisierten. Mimi fühlte sich unbehaglich, versuchte sich irgendwie auf die Gespräche, oder ihr Essen zu konzentrieren, konnte es aber nicht, da sie seine Blicke auf ihrer Haut spürte. Er hockte ihr schräg gegenüber, zwischen seiner Schwester und Matt, während sie am Rand, direkt neben Izzy saß. Immer wieder bemerkte sie, dass er ihr besorgte Blicke schenkte und ganz darauf fixiert war, ob sie etwas zu sich nahm, oder wie die letzten Tage ihr Essen verschmähte. Angeekelt betrachtete sie ihr Essen, nahm einen Happen und kaute darauf herum, als würde es sich um ein Stück Gummi handeln. Sie verzog das Gesicht, entwickelte das Bedürfnis es wieder herauszuwürgen, riss sich aber zusammen und schluckte es ungern runter. Das Spiel wiederholte sie ein paar Mal, bis der Brechreiz in ihr aufstieg und sie abrupt ihr Essen beiseiteschob. Frustriert ließ sie den Kopf hängen und stützte ihre Arme auf dem Tisch ab, als ihr der fragwürdige Gesichtsausdruck von Yolei in die Augen sprang. „Sag mal Mimi, geht es dir nicht gut? Du bist so blass“, stellte sie besorgt fest und rückte ihre Brille zurecht. Sofort war die ganze Aufmerksamkeit auf Mimi gelenkt, die am liebsten im Boden versunken wäre. Sie hasste es, wenn sie jemand durchschaute und sie vor allen auch noch darauf ansprach. „Mir geht es gut. Wirklich“, versicherte sie angestrengt und begann zu schwitzen. Lügen. Noch etwas, dass sie hasste, aber leider ein Teil ihres Lebens geworden war. „Du siehst aber echt sehr blass aus und isst zurzeit so wenig“, mischte sich nun auch Sora ein, deren Besorgnis sich automatisch auch auf den Rest übertrug. Selbst Izzy, der sich kaum zu so etwas äußerte, blickte sie mitleidig an und meinte, dass sie ruhig mehr essen sollte. Wütend verzog sie das Gesicht und wollte gerade ansetzen etwas zu sagen, als sich auch Kari zu Wort meldete. „Mimi, du kannst doch mit uns reden, wenn es dir schlecht geht“, erwiderte sie sorgenvoll und strich zart über Takerus Handfläche. „Wir sind für dich da!“ Zähneknirschend versuchte Mimi ihrem Blick Stand zu halten, versagte aber nach wenigen Sekunden. Sie wanderte weiter und blieb ausgerechnet bei Tai hängen, der schuldbewusst den Kopf gesenkt hatte und seine Fingernägel in sein Hemd gekrallt hatte. Bevor es zu auffällig wurde, schaute sie lieber schnell weg und presste ihre Lippen aufeinander. Sie hatte keine Lust, dass jeder sie so besorgt anstarrte und versuchte ihr helfen zu wollen. Sie kam alleine klar und brauchte keine Hilfe. Noch immer waren alle Blicke auf sie geheftet, als sie wieder aufsah. Entrüstet schüttelte sie nur den Kopf. „Könnt ihr mal aufhören mich so anzustarren? Das macht es echt nicht besser!“, knurrte sie aufgebracht und sprang auf. „Mir geht es gut! Ist mir egal, ob ihr mir glaubt, oder nicht. Lasst mich einfach in Ruhe“, entgegnete sie aufbrausend, nahm ihr Tablett und entfernte sich zornig vom Tisch. _ Klirrend gab sie ihr Tablett zurück und wollte gerade nach draußen gehen, als sie von Sora aufgehalten wurde. „Was ist denn los mit ihr? Du gehst uns allen aus dem Weg, obwohl wir dir nur helfen wollen“, sagte fast schon ein wenig vorwurfsvoll. Mimi verschränkte die Arme vor ihren Oberkörper und sah sie unbeeindruckt an. „Es ist aber alles okay und es nervt mich, dass ihr alles hinterfragen müsst“, erwiderte sie bissig. Insgeheim wusste sie ja, dass ihre Freunde es nur gut meinten und ihr helfen wollten. „Aber du verhältst dich eigenartig!“ „Das stimmt gar nicht“, protestierte sie, obwohl es eigentlich die Wahrheit war. Sie verhielt sich seltsam, bemerkte manchmal sogar selbst, dass sie nicht richtig anwesend war und mit ihren Gedanken kämpfte. „Hat es etwa mit Tai zu tun?“, fragte sie plötzlich unverblümt und blickte in Mimis entsetztes Gesicht. Sie rang nach Worten, wohlwissend, dass die Situation zwischen Sora und Tai nach wie vor merkwürdig war. Wegen seinem Kuss, scheiterte die anfängliche Beziehung zu Matt, weil sie unsicher geworden war. Doch auch Sora war aufgefallen, dass beide sich näher gekommen waren, sich allerdings vor kurzem, vermeintlich grundlos, voneinander distanzierten. Mit einem durchdringenden Blick sah Sora sie an und wartete ungeduldig auf eine Antwort, als Toya auf einmal an ihnen vorbei ging und Mimi kurz grüßte. Etwas aus der Bahn geworfen, grüßte sie ihn knapp zurück, während sich ein schelmisches Grinsen auf seine Lippen legte. Er sah sich nochmal kurz zu ihr um, bevor er mit seinen Freunden die Mensa verließ. Auch Sora verfolgte skeptisch die kurze Begegnung mit runzelnder Stirn. Augenblicklich schien sie vergessen zu haben, was sie sie zuvor gefragt hatte. „Was war das denn?“, wollte sie wissen und drehte sich wieder zu Mimi, die nachdenklich zu Boden blickte. Sie überlegte kurz, ob sie Sora nicht einfach die Wahrheit sagen sollte. Dass sie mit Taichi eine wunderschöne gemeinsame Nacht verbracht hatte, die er jedoch mit seinen unbedachten Worten zerstörte und jetzt versuchte die Wogen zwischen ihnen zu glätten, während sie völlig verunsichert war. „Sora, ich…“ „Sag‘ mal läuft da was zwischen dir und diesen Toya?“, hakte sie verwundert nach und zog eine Augenbraue in die Höhe. Etwas perplex hielt sie inne und wollte es bereits verneinen, als ihr etwas in den Sinn kam. „Er hat mich letztens Mal gefragt, ob ich mit ihm zusammen ins Kino will“, fiel ihr ein und plauderte es aus, ohne groß darüber nachzudenken. Überrascht riss Sora die Augen auf und musterte sie eindringlich. Ein Grinsen zierte ihre Lippen und verunsicherte Mimi vollends. „Ach jetzt verstehe ich’s…“, murmelte sie lächelnd und berührte Mimi sanft an der Schulter. Stirnrunzelnd und mit angestrengtem Blick beäugte Mimi sie und ahnte schon, dass sie sich nur auf der falschen Fährte befinden konnte. „Nein Sora, so ist das…“ „Keine Sorge, ich verrat’s keinem“, antwortete sie zwinkernd, während Mimi nur leise seufzte. Warum musste sie nur alles falsch verstehen? _ Am Wochenende konnte sie sich endlich aufraffen, etwas für die Schule zu tun. Sie lag langgestreckt auf ihrem Bett und hatte ihre Schulsachen vor sich ausgebreitet. Angestrengt versuchte sie eine Matheaufgabe zu lösen, was ihr immer noch sichtlich schwer fiel. Sie vermisste die Nachhilfestunden mit Tai, die ihr wirklich geholfen hatten, aber mittlerweile Schnee von gestern waren. Zurzeit versuchte sie sich alleine durchzuschlagen, was ihr im Moment recht gut gelang. Dennoch beschäftigte sie noch eine ganz andere Tatsache, die alles ein wenig durcheinanderbrachte. Sora dachte tatsächlich, dass sie sich so komisch aufführte, weil sie sich in den Spinner Toya verliebt hatte. Alle Versuche, sie vom Gegenteil zu überzeugen, scheiterten unmittelbar, da Mimi immer noch nicht die richtigen Worte fand, ihr die Wahrheit zu gestehen. Ihr brannte es regelrecht auf der Zunge, aber sie hatte Angst vor ihrer Reaktion. Sie wollte ganz sicher nicht, in diese Dreieckskatastrophe mitreingezogen werden, auch wenn sie sich schon längst mittendrin befand. Die Sache mit Matt hatte sie zwar versucht komplett auszublenden, aber die Tatsache, dass sie auch ausgerechnet mit beiden Jungs geschlafen hatte, zerrte an ihrem Gewissen. Ihr wäre es am liebsten, wenn Sora von beidem nichts mitbekam und sie es nach und nach einfach vergessen könnte. Doch Tai ging ihr einfach nicht aus dem Kopf. Noch immer sehnte sie sich nach ihm, träumte von ihrer gemeinsamen Nacht, spürte seine Küsse und Berührungen auf ihrer Haut. Egal was sie auch versuchte, ihre Gefühle waren immer noch allgegenwärtig. Und auch Noriko vernebelte ihren Verstand zusehends. Es gab keine Nacht, in der sie nicht von ihr träumte, nicht mit ihr redete und sie nicht vermisste. In ihren Träumen, Wunderland, waren sie immer noch zusammen. Als könnte sie nichts auf dieser Erde trennen, obwohl dies schon längst geschehen war. Bald würde sie sogar auf dem Friedhof beigesetzt werden. Ihre Finger verkrampften sich um ihren Stift und drückten ihn ins Papier. Erst als sie die Türklingel vernahm, ließ sie locker und raffte sich auf. Schleppend trottete sie nach vorne, da ihre Mutter mal wieder arbeiten war. Als sie die Tür öffnete, stand Lieferant davor und musterte sie grinsend. „Ich habe hier eine Lieferung, für eine Mimi Tachikawa“, sagte er nur, während sie bereits mit großen Augen das fixierte, was er in seinen Händen hielt. „Ja, das bin ich“, sagte sie mit einem leichten Lächeln, nahm den Strauß rote Nelken entgegen. Der Lieferant verschwand kurz darauf wieder, als Mimi sich zum Briefkasten drehte und feststellte, dass etwas drin sein musste. Sie holte den Schlüssel und fand tatsächlich einige Briefe darin, die meisten waren an ihre Mutter adressiert. Doch ein Umschlag zierte ihren Namen. Argwöhnisch betrachtete sie ihn kurz, legte ihn aber dann auf ihren Schreibtisch, nachdem sie wieder in ihrem Zimmer war. Lieber betrachtete sie die wunderschönen Blumen, die einen angenehmen Geruch in ihrem Zimmer verbreiteten. Mimi ließ sich auf ihrem Bett nieder und ertastete nach kurzer Suche wieder ein kleines Kärtchen. Gespannt legte sie den Strauß nieder, nachdem sie den Umschlag von Stängel löste und das Kärtchen aufklappte. Bitte triff mich heute Nachmittag um halb fünf in der Innenstadt am Brunnen. Ich ertrag es nicht länger, dich jeden Tag zu sehen, aber nicht mit dir reden zu können. Bitte komm‘, es ist wirklich wichtig – Tai. Gerührt sah sie auf das Kärtchen und war den Tränen nahe. Das Gefühl von Glückseligkeit machte sich in ihr breit und erreichte ihr schmerzendes Herz. Sie ließ das Kärtchen auf ihrem Schoss nieder, schnappte sich den Strauß Nelken und roch daran. Sie konnte ihm nicht länger aus dem Weg gehen. Die Sehnsucht war viel zu groß geworden. Ein zufriedenes Lächeln legte sich über Mimis Lippen, als sie über die Bedeutung der Blumen nachdachte. Sie war also etwas Besonders für ihn. Berauscht von diesem Gedanken stand sie auf und nahm die Nelken mit zu ihrem Schreibtisch. Kurz verschwand sie in die Küche und kam mit einer Vase wieder zurück, um seinen Strauß hineinzustellen. Er wollte sie sehen und sie konnte seine Bemühungen nicht länger ignorieren. Gerade als Mimi sich abwenden wollte, um sich fertig zu machen, sprang ihr der Briefumschlag, den sie achtlos auf den Schreibtisch geworfen hatte, erneut ins Auge. Allmählich fragte sie sich von wem dieser Brief sein könnte. Sie hatte sich ihn noch gar nicht genau angesehen, da sie von den Blumen zu sehr abgelenkt wurde. Langsam nahm sie ihn in die Hand und fuhr mit ihren langen Fingern über den rauen Umschlag. Angestrengt betrachtete sie die Vorderseite, auf der lediglich ihr Name und ihre Adresse standen. Die Schrift kam ihr durchaus bekannt vor, doch ihr wollte beim besten Willen nicht einfallen, zu wem sie gehörte. Erst als die ihn auf die Rückseite drehte, wich sämtliche Farbe aus ihrem Gesicht. Ihre Finger begannen zu zittern und der Brief drohte ihr aus den Händen zu gleiten. Wieder und wieder starrte sie auf den Absender und konnte nicht fassen, was dort stand. Gedankenverloren und mit wackeligen Beinen steuerte sie auf ihr Bett zu und ließ sich darauf nieder. „Das kann nicht sein“, murmelte sie kopfschüttelnd. War es etwa ein makabrer Scherz? Oder hatte sie ihn schon zuvor geschrieben, aber erst später abgeschickt gehabt? Nein, das konnte nicht sein. Das ergab keinen Sinn. Mit den Fingern fuhr sie über die getrocknete Tinte und bemerkte wie sich ihr Hals allmählich zuschnürte. Wonderland. Es gab keinen Zweifel. Der Brief war von Noriko. _ Liebe Mimi, es ist mir unendlich schwer gefallen, dir diesen Brief zu schreiben, da ich wusste, dass ich ihn dir nicht mehr persönlich überreichen kann. Nach mehreren Versuchen, habe ich aufgehört rational an die ganze Sache heranzugehen und wollte mein Herz sprechen lassen. Denn die letzten Monate haben vieles verändert. Sie haben mich unsagbar glücklich gemacht und ich war froh, dass du ein Teil meines Lebens geworden bist, auch wenn wir einen holprigen Start hingelegt hatten. Es war nicht einfach, aber in deiner Gegenwart habe ich mich erst komplett gefühlt. Seit ich dreizehn war und wusste, dass es dich gibt, war mein sehnlichster Wunsch, dich kennen zu lernen. Dir eine Schwester zu sein. Ich wollte so gerne wissen, was wir miteinander teilen und was uns unterscheidet. Letztlich sind mir mehr Gemeinsamkeiten, als Unterschiede aufgefallen, unteranderem auch die Liebe zur Musik. Mein größter Traum war es, meine eignen Songs zu komponieren und zu performen. Auf einer Bühne stehen und sich von der Musik treiben zu lassen. Dich zu sehen, gemeinsam mit Chiaki, Masaru und Yasuo, hat mich unfassbar glücklich gemacht. So als hätte es ein Teil von mir ebenfalls auf die Bühne geschafft. Durch dich habe ich so viel gelernt, unter anderem, dass ich auch vor meinen Gefühlen nicht weglaufen kann. Zum Leben gehört nicht nur Schmerz und Leid, sondern auch Liebe und Freude. Ich wünsche mir daher, dass du dein Glück findest. Irgendwann heiratest und ein paar dutzend Kinder bekommst. Verschwende nicht deine Zeit mit der Vergangenheit. Lebe, als gäbe es keinen Morgen mehr. Nimm so viel mit, wie du nur kannst und genieße jede Sekunde, die du auf dieser Welt bekommst. Finde dein Wunderland! In dem Umschlag des Briefes, findest du einen USB-Stick. Das Lied darauf, habe ich für dich komponiert. Hört gut hin, lass dich von der Melodie führen und beende das, was ich angefangen habe. Du bist ein wundervoller Mensch, der mein Leben lebenswert gemacht hat. Durch dich bin ich zu einem besseren Menschen geworden und konnte mein Wunderland finden. Danke, dass du mir all das ermöglicht hast. In ewiger Liebe Noriko Kapitel 53: Kleine Schritte --------------------------- Der Brief hatte sie eiskalt getroffen, bewegte jedoch etwas in ihr. Feuerte ihren inneren Antrieb an und half ihr sich wieder aufzuraffen, auch wenn sie nach dem Lesen völlig zusammengebrochen war. Sie brauchte diesen Moment, um zu erkennen, dass Noriko sie nicht verlassen hatte, sondern immer noch ein Teil von ihr sein würde. Ihre Mutter hatte sie unter Tränen in ihrem Zimmer sitzend vorgefunden. Den Brief hatte dicht an ihr Herz gedrückt, um die Worte von Noriko zu verinnerlichen und in ihrem Leben etwas zu verändern. An diesem Tag hatte sie sich nicht mehr Tai getroffen, da sie zu sehr durch den Wind war und Zeit für sich brauchte. Dennoch hatte sie sich vorgenommen mit ihm zu reden. Mimi konnte seine Bemühungen nicht länger ignorieren. Jedes Mal, wenn sie an seine Blumensträuße und dazugehörigen Kärtchen dachte, machte ihr Herz einen kleinen freudigen Hüpfer. Es war das erste Mal, dass sie wahrhaftig an eine Chance zwischen ihnen glaubte. Direkt nach der Schule hatte er noch Fußballtraining, weshalb sie ihn vor der Sporthalle abfangen und mit ihm reden wollte. Fieberhaft hatte sie sich die Worte zusammengelegt, die sie zu ihm sagen wollte, in der Hoffnung, sie würden ihr noch einfallen, wenn sie ihm tatsächlich gegenüberstand. Sie wartete vor der Sporthalle auf seine Ankunft. Es war immer noch recht frisch, weshalb sie sich in ihren Mantel kuschelte. „Hey, was machst du denn hier?“, ertönte unvermittelt eine bekannte Stimme und ließ sie herumwirbeln. „Willst du uns vielleicht etwas anfeuern?“ Ein schelmisches Grinsen legte sich auf Toyas Lippen, als er direkt vor Mimi zum Stehen kam. Auch er hatte Fußballtraining, was man an seiner Sporttasche unschwer erkennen konnte. Mimi erwiderte sein Lächeln milde. „Eigentlich warte ich auf Tai“, antwortete sie wahrheitsgemäß und presste die Lippen aufeinander. Verdutzt sah er sie an, nickte daraufhin jedoch bestätigend. „Stimmt ja, er ist dein Nachhilfelehrer, oder?“ „Ja war er, aber ich wollte mit ihm über etwas sprechen“, antwortete sie bedacht und wandte den Blick von Toya. Aus der Ferne sah sie Taichi auf sie zukommen. Mimi wurde, je näher er kam, umso nervöser. Auch Toya schien die angespannte Situation mitzubekommen. Kurz bevor er bei den beiden ankam, verabschiedete er sich von Mimi. „Man sieht sich sicher noch“, kam es hinzufügend, bevor er in der Halle verschwand. Etwas verunsichert wippte sie mit den Beinen auf und ab, als Tai die Treppen zur Halle hinaufging. Mimi drehte sich zu ihm und schenkte ihm ein Lächeln, das er mürrisch erwiderte. Er kam direkt vor ihr zum Stehen und hatte seine Tasche lässig geschultert. Ihr Körper begann zu beben, als er unmittelbar vor ihr stand. Selten war sie so nervös gewesen, wie in diesem Moment. „Hey“, brachte sie kleinlaut hervor und spielte auffällig am Saum ihres Rockes. Mit gesenktem Blick schielte sie zu ihm und wartete auf eine Reaktion. „Was ist?“, fragte er ruppig und nahm seine Tasche von seiner Schulter. Völlig aus ihrem Konzept gebracht, rang Mimi nach den passenden Worten. Genervt verdrehte Tai die Augen und fixierte sie mit einem feindseligen Blick, den Mimi zuvor noch nie bei ihm gesehen hatte. „Kommt da noch was? Ich hab‘ jetzt Training!“, meinte er schroff und wandte die Augen von ihr. Mimi schluckte und nahm ihren ganzen Mut zusammen. „Ich möchte nochmal mit dir reden. Ich habe es am Wochenende…“ „Schon gut“, unterbrach er sie, sah sie jedoch nicht dabei an, „ist in Ordnung. Ich habe schon verstanden.“ „Nein, so war das wirklich nicht. Ich wollte kommen, aber…“ „Du wolltest kommen? Willst du mich verarschen? Ich habe über zwei Stunde, wie ein Depp vor dem Brunnen gestanden und gewartet. Von SMS hast du noch nie was gehört, oder?“ Gekränkt schaute er direkt in die Augen, während Mimi beschämt den Blick senkte. Sie hatte so sehr geweint gehabt, nachdem sie Norikos Brief gelesen hatte, dass sie ihn vollkommen vergaß. Als sie sich wieder beruhigt hatte, war es bereits zu spät und Mimi kam sich dämlich vor, ihm im Nachhinein noch eine SMS zu schreiben. „Ich kann dir das erklären“, meinte sie verzweifelt, bereit ihm die Wahrheit zu offenbaren. Doch Tai schüttelte nur den Kopf. „Du brauchst mir gar nichts zu erklären! Sora hat mir erzählt, was los ist“, erwiderte er in einem seltsamen Tonfall, bei dem sich Mimis Herz zusammenzog. Er klang abweisend und zu tiefst verletzt, dass sich Mimi am liebsten selbst Ohrfeigen wollte. Sie hatte ihn versetzt und war letztlich keinen Deut besser gewesen als er. Allerdings verwirrte sie die Sache mit Sora komplett. Sie wusste, dass sie sich am Wochenende meist zum Lernen trafen, aber was meinte er damit nur? Was hatte sie zu ihm gesagt? Bevor sie ihn fragen konnte, hatte er wieder das Wort ergriffen und schnaubte frustriert. „Ich hoffe du findest dein Glück mit ihm! Ich werde dich ab heute in Ruhe lassen“, eröffnete er ihr unruhig. Bevor Mimi etwas erwidern konnte, warf er seine Sporttasche über die Schulter und ging in die Halle. Perplex starrte sie ihm nach, unfähig zu reagieren. Mit so einer Reaktion hatte sie nicht gerechnet. _ „Danke, dass du dich mit mir triffst“, sagte sie gerührt und schämte sich ein wenig, wenn sie an ihre letzte Begegnung zurückdachte. Er startete den Laptop und lächelte leicht, als er zur Seite schielte. „Du weißt doch, dass ich gerne Zeit mit dir verbringe“, antwortete er, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt. Doch Mimi haderte nach wie vor mit ihrem Gewissen. Beschämt senkte sie den Kopf und berührte seinen Arm zaghaft. Sie drückte die Stirn gegen seinen Oberarm und kämpfte mit den Tränen. „Es tut mir leid“, murmelte sie heiser und drückte ihr Gesicht noch ein wenig fester gegen ihn. Sie spürte nur noch, wie er sanft ihren Hinterkopf tätschelte, danach aber etwas Abstand nahm, um ihr in die Augen sehen zu können. „Ist doch alles wieder in Ordnung. Du warst verzweifelt und traurig gewesen. Ich kenn‘ sowas und bin dir auch nicht böse“, erwiderte er behutsam. „Aber ich habe dich getreten und war überhaupt nicht mehr bei Sinnen!“ „Und weiter? Soll ich dich jetzt dafür hassen?“, stellte er die Gegenfrage. „Nein, aber ich könnte verstehen, wenn du sauer auf mich wärst. Wenn alle sauer auf mich wären. Ich kannte sie noch nicht mal ein Jahr, während ihr sie ein halbes Leben begleitet habt. Für euch muss es doch viel furchtbarer sein, als für mich, besonders für Chiaki“, gab sie ihre Bedenken preis und senkte den Kopf. Sie hatte sich unmöglich aufgeführt und die Gefühle der anderen unter ihre eigenen gestellt, obwohl es ihnen wohl sogar noch schlechter ging als ihr. Chiaki hatte sie seit ihrem Wutausbruch kaum noch gesehen, da er Zeit für sich brauchte. Ayame besuchte sie auch nur sporadisch, da sie es einfach nicht ertrug sich in ihrer Wohnung aufzuhalten. Besonders schwer fiel es ihr Norikos Zimmer zu betreten, da es einfach noch genauso aussah, wie sie es verlassen hatte. Allerdings drückte die Gewissheit, dass sie nie wieder zurückkommen würde, auf ihren Schädel und machte ihr tagtäglich bewusst, welchen wertvollen Schatz sie verloren hatte. Bisher hatte sie sich nur dazu durchgerungen Masaru von dem Brief zu berichten. Auch wenn ihre letzte Begegnung einen bitteren Beigeschmack hatte, vertraute sie ihm. Er verstand ihre komplexen Gedankengänge und abstrusen Gefühlswelten, in denen sie sich ab und an befand. Er verurteilte sie nicht, gab ihr zwar manchmal komische Ratschläge, hörte ihr jedoch immer aufmerksam zu und konnte sie meist auch wieder auf den Boden der Tatsachen zurückbringen. „Es ist für uns alle gleich schwer“, antwortete er nach einer Weile des Schweigens. „Es ist egal, wie lange du sie kanntest. Ihr hattet eine besondere Verbindung zueinander, die euch keiner mehr nehmen kann.“ Gerührt sah sie ihn an, Tränen standen in ihren Augen. „Danke“, wisperte sie erstickt, als das Geräusch des hochfahrenden Laptops beide wieder zurück in die Realität holte. „Okay, dann zeig mal her, was Noriko dir geschickt hat“, meinte er freudig und nahm den USB-Stick entgegen. _ Sie gingen den leeren Schulflur entlang. Nach sieben war meist keiner mehr in der Schule, auch wenn Mimi gar nicht aufgefallen war, wie schnell die Zeit voran schritt. Sie hatten sich schon oft nach der Orchesterprobe getroffen, waren aber nie länger als halb sechs in der Schule geblieben. Für Mimi war die Hiroo Oberschule ein zweites Zuhause geworden. „Der Song ist wirklich unfassbar schön“, meinte Masaru plötzlich zu ihr und zauberte ein zurückhaltendes Lächeln auf die Lippen. „Ich glaube, ich habe ihn mir hundert Mal hintereinander angehört, auch wenn sie nur eine kurze Passage singt“, räumte Mimi nachdenklich ein. „Naja, für den Text bist du ja auch zuständig. Jedenfalls zu neunzig Prozent“, antwortete er grinsend. „Ich werde mein Bestes geben“, sagte sie nur, als sie an der großen Vitrine vorbeiliefen und Mimi abrupt stehen blieb. Sie sah hinauf und ihr Atem stockte für den Moment. Auch Masaru blieb stehen und stellte sich neben sie. „Das Bild wurde erst vor kurzem reingestellt. Sie war zwar schon lange nicht mehr hier gewesen, aber sie gehörte auch zum Abschlussjahrgang und unsere Jahrgangssprecherin hatte sich dafür eingesetzt, dass man sich an sie erinnert.“ Bewegt starrte sie auf das Bild, dass sie regelrecht anstrahlte. Mit einem herzerwärmenden Lächeln sah sie auf Mimi hinab und ließ alte Erinnerungen aufleben. „Ich war immer neidisch auf ihre langen Haare gewesen“, murmelte sie rührselig und betrachtete das Foto genau. Es zeigte Noriko in ihrer Schuluniform. Ihre langen Haare lockten sich leicht und gingen ihr bis über die Brust. Es erinnerte an einen komplett anderen Menschen, wenn Mimi daran zurückdachte und sie sich mit Glatze vorstellte. Doch sie war immer dieselbe geblieben. „Ihr seht euch echt verdammt ähnlich“, ertönte überraschend eine Stimme hinter ihnen. Perplex drehten sich beide dem Unbekannten zu und Mimi musste feststellen, dass er ihr sehr bekannt vorkam. „Was machst du denn hier?“, fragte Masaru abweisend und verschränkte die Arme vor der Brust. „Wir haben noch gelernt und ich hatte noch ein paar Sachen in meinem Spint vergessen“, antwortete er nur und starrte ebenfalls auf das Bild. „Die Ähnlichkeit ist echt frappierend, wenn man sich dich mit Pony vorstellt“, meinte er nachdrücklich und betrachtete Mimi genauer. Ihr war bewusst, dass nicht jeder aus ihrer Schule über sie Bescheid wusste, aber dennoch war ihr nach wie vor unangenehm sich rechtfertigen zu müssen. „Sag‘ mal, was willst du überhaupt von uns, Hideaki? Dein Spint ist dahinten“, knurrte Masaru schroff und deutete auf den hinteren Gang. „Warum so bissig? Erträgst du meine Nähe etwa nicht mehr?“, erwiderte er nur mit einem selbstgefälligen Lächeln. „Deine Nähe erträgt auf Dauer überhaupt niemand“, giftete er aufbrausend. „Was ist dein Problem?“, raunzte Hideaki und baute sich vor Masaru auf. Automatisch legte Mimi die Hand auf Masarus Arm, um ihn zu beruhigen. Doch sie merkte, dass sich jeder Muskel in seinem Körper angespannt hatte und sich seine Miene verfinsterte. „Keine Ahnung? Du vielleicht?“ Seine Stimme war scharf und wirkte bedrohlich. Hikeaki ging auf einmal auf Abstand und schüttelte nur den Kopf. „Komm‘ endlich darüber hinweg! Ist besser für uns beide“, meinte er barsch und setzte sich augenblicklich in Bewegung. Mimi merkte, dass Masaru noch etwas erwidern wollte, sich aber instinktiv auf die Zunge biss und seine gedachten Worte lieber hinunterschluckte. Sein Körper entspannte sich, nachdem Hikeaki aus ihrem Sichtfeld verschwunden war. „Lass‘ uns jetzt besser gehen“, wisperte er, wurde jedoch von Mimi aufgehalten, die ihn verwirrt musterte. „Was war das denn? Was meinte er damit denn, dass du drüber hinwegkommen sollst?“, fragte sie interessiert und legte ihre Hand fester um seinen Arm. Doch Masaru machte sich los und nahm eine abweisende Haltung ihr gegenüber ein. „Ist doch egal, lass uns jetzt einfach verschwinden“, entgegnete er und zerrte sie in Richtung Ausgang. Kapitel 54: Zweifelhafter Beschluss ----------------------------------- „Schön, dass du wieder öfters hier bist. Ich habe dich wirklich vermisst“, sagte ihre Freundin lächelnd, als sie sich in einer Ecke niederließen. „Es hat mir auch sehr gefehlt“, offenbarte Mimi flüsternd und trank einen Schluck. Der Schweiß stand auf ihrer Stirn und sie bemerkte, wie sehr sie außer Puste war. Schon seit mehreren Wochen war sie nur noch unregelmäßig ins Tanztraining gekommen, da sie andere Dinge im Kopf hatte, die sie beschäftigten. Doch sie war froh, einen kleinen Ausgleich gefunden zu haben, der sie ablenkte. „Und du hast mir natürlich auch gefehlt“, ergänzte sie grinsend. Kari schüttelte lächelnd den Kopf und setzte sich in einen lockeren Schneidersitz. Ihre Trinkflasche ruhte auf ihrem Schoß. „Wir sollten mal wieder etwas zusammen machen. Es ist schon eine halbe Ewigkeit her“, meinte sie gespielt vorwurfsvoll und zog ihre rechte Augenbraue schräg nach oben. Mimi kicherte und nickte nur bestätigend. „Du kannst gerne demnächst wieder bei mir übernachten! Meine Eltern fahren bald nochmal zu meinen Großeltern“, eröffnete sie ihr und sah sie mit leuchtenden Augen an. Mimis Lächeln verschwand jedoch und wich einer ernsteren Miene. „Wir können ja auch was essen gehen, oder zusammen ins Kino“, schlug sie alternativ vor und wandte den Blick von ihr. „Aber letztes Mal war es doch echt lustig. Wir könnten wieder Filme ausleihen.“ „Kari, ich glaube, das ist keine gute…“ „Ist es wegen Tai?“, unterbrach sie sie nachdenklich. Mimi blickte wieder zu ihr auf und hatte das Gefühl, mal wieder von ihr durchschaut geworden zu sein. Ihr fiel es unglaublich schwer, mit seiner Schwester über ihre Beziehung zu sprechen. Sollte sie ihr erzählen, dass sie sich näher gekommen waren? Oder würde es nur Öl ins Feuer gießen? Noch immer hatte sie keine Ahnung, warum er so abweisend zu ihr war. Mit Sora hatte sie noch keine Gelegenheit gehabt zu sprechen, da die Prüfungen schon begonnen hatten. Bald würde auch der Abschlussball vor der Tür stehen, den das Schülerkomitee vor zwei Jahren ins Leben gerufen hatte. „Was ist denn zwischen euch vorgefallen?“, hakte Kari nach, nachdem Mimi auf ihre Frage nicht reagiert hatte. „Gar nichts“, murmelte sie halblaut und entzog sich ihren fragenden Blicken. „Aber ihr standet euch eine Zeitlang echt nah. Und jetzt ist alles wieder so komisch geworden“, stellte sie resigniert fest. Mimi schnaubte nur und überlegte sich, was sie Kari nur sagen sollte. Die Wahrheit war wohl keine gute Alternative, da sie selbst keine Ahnung hatte, was mittlerweile zwischen ihnen war. Es war zu viel passiert und Mimi hatte den Überblick verloren. Mittlerweile war sie bereit ihm zu verzeihen, aber nun stellte er sich quer und warf ihr komische Sätze an den Kopf, die sie nicht verstand. „Lass uns einfach über etwas anderes reden, okay?“, entgegnete sie schwach, doch Kari runzelte nur die Stirn. „Nein, ich merke doch, dass es dir voll schlecht geht! Ich bin deine Freundin, also sag‘ mir bitte, was vorgefallen ist. Jeder hat schon bemerkt, dass du kaum etwas isst und abgenommen hast!“ Mimi schluckte, denn ihre Worte trafen sie, wie ein Schlag ins Gesicht. Ihr war bewusst, dass sie zurzeit alles andere als gut aussah, das das Essen gegen sie ging, aber mit Tai hatte all das nur bedingt zu tun. Sie trauerte und brauchte diese Zeit, um alles zu verarbeiten. „Das hat wirklich nichts mit Tai zu tun“, antwortete sie schließlich nachdrücklich. „Im Moment ist alles etwas schwierig. Es sind Prüfungen, meine Eltern reden immer noch nicht wirklich miteinander und…“ Sie brach abrupt ab. Unter Schock riss sie die Augen auf und dachte darüber nach, was sie Kari sagen wollte. In ihrem Kopf herrschte Chaos, sodass sie alles durcheinander brachte und tatsächlich von Noriko erzählen wollte. „Und?“, hakte Kari neugierig nach. Mimi fuhr sich nervös übers Gesicht und räusperte sich kurz. Sie blickte sich in der Halle um und hoffte, dass Frau Kurama sie zum Weitermachen animierte. Doch sie unterhielt sich gerade mit zwei Mädchen vom Abschlussballkomitee, die die Halle bald für den Ball dekorieren wollten. Schon in zwei Wochen war es soweit und Mimi war sich immer noch nicht sicher, ob sie überhaupt hingehen wollte. Plötzlich hielt sie kurz inne und legte den Kopf gedankenverloren zur Seite, als ihr plötzlich eine Idee in den Sinn kam. „Und…und ich habe noch kein Date für den Abschlussball“, sagte sie todernst, während Kari verwirrt drein blickte. Normalerweise war der Ball nur für die Abschlussklassen gedacht, doch schon letztes Jahr war Mimi mit den anderen dort gewesen, um die älteren Jahrgänge zu verabschieden und ausgelassen zu feiern. Sie vermisste die gute alte Zeit mit ihren Freunden. Kein Drama und keine verletzten Gefühle, die sie Tag für Tag aufs Neue heimsuchten. Es war alles schwierig geworden. „Tai hatte bis gestern auch noch kein Date gehabt“, sagte Kari auf einmal und hielt sich augenblicklich die Hand vor den Mund, als Mimi sie entgeistert niederstarrte. „Er hat ein Date?“, fragte sie verletzt und bereute nun, das Thema absichtlich darauf gelenkt zu haben. Kari nickte nur, doch ihr Blick sagte alles. Das Mitleid quoll förmlich hervor. Sie berührte ihrem Arm zaghaft und tätschelte ihn behutsam, sodass Mimi gleich wusste, was sie dachte. Doch sie wollte nicht vor Kari zugeben, dass es sie verletzte. Sie hatte ernsthaft gedacht, dass Tai Interesse an ihr haben könnte. Doch sie hatte sich mal wieder getäuscht. Er hatte ein Date und sie blieb mal wieder auf der Strecke. _ Niedergeschlagen machte sie sich nach dem Training auf den Nachhauseweg. Von Kari hatte sie nur noch erfahren, dass Tai Maron, das Mädchen, das auch letztes Jahr auf seinem Geburtstag war, gefragt hatte mit ihm zum Abschlussball zu gehen. Angestrengt hatte sie versucht alles zu ignorieren und sich vollkommen auf das Training zu konzentrieren, doch Frau Kurama merkte sofort, dass sie mit den Gedanken woanders war und scheute es nicht, es ihr vorzuenthalten. Verlegen hatte sie zu Kari gesehen, die ihr die Schrittfolge wieder und wieder zeigen musste, bis es letztlich geklappt hatte und sie völlig verschwitzt in die Umkleidekabine verschwunden war. Ausnahmsweise duschte sie in der Schule und ging mit halbnassen Haaren nach draußen. Es war immer noch frisch, aber für Februar bereits sehr mild. Mimi hatte ihren Jackenkragen aufgestellt und steuerte bereits auf das Schultor zu, als sie ihren Namen hörte. Als sie sich herumdrehte, sah sie Toya direkt auf sie zusteuern. Die meisten waren bereits gegangen, da Mimi sich beim Duschen viel Zeit genommen hatte. Es wunderte sie daher schon etwas, ausgerechnet Toya anzutreffen. Freitags hatten sie noch nie Fußballtraining gehabt. „Was machst du denn hier?“, fragte sie verwundert und legte ihre feuchten Haare locker über ihre Schultern. Ihre Sporttasche hatte sie zwischen ihren Beinen abgestellt. Toya grinste, als er direkt vor ihr zum Stehen kam und sich durch seine dunklen Haare wuschelte. „Ich habe noch mit ein paar Klassenkammeraden gelernt. Nächste Woche schreiben wir Mathe“, erklärte er kurz und schulterte seine Tasche. Mimi nickte nur bestätigend, da sie von Sora bereits wusste, welche Prüfungen noch anstanden. „Dann habt ihr es ja bald geschafft. Sora hat mir erzählt, dass nächste Woche nur noch Englisch und Mathe drankommt.“ „Ja, genau“, antwortete er und verzog leicht das Gesicht. „Mathe wird einfach, aber Englisch…“ Er wankte mit seiner Hand hin und her, um ihr zu signalisieren, dass er sich nicht wirklich sicher war. Mimi kicherte belustigt und nahm ihre Sporttasche wieder auf. „Ach Englisch ist doch leicht, wenn man die Grammatik beherrscht und ein paar gute Vokabeln kennt“, lachte sie und setzte sich gemeinsam mit Toya in Bewegung. „Du hast ja auch leicht reden. Das könnte ich auch sagen, wenn ich mehrere Jahre in den USA gelebt hätte“, murrte er unbeeindruckt und verdrehte unbekümmert die Augen. Sie gingen ein Stück und unterhielten sich über die Prüfungen und Toyas Englischängste. „Du schaffst das sicher schon“, stärkte Mimi ihm den Rücken und blieb vor der Kreuzung stehen. „Vielleicht kannst du mir ja ein paar Tipps geben“, meinte Toya grinsend. „Bock auf einen Kaffee?“ Er deutete auf die Richtung hinter sich, während Mimi etwas unsicher drein blickte. Eigentlich wollte sie nur noch in ihr Bett und vielleicht eine Kleinigkeit vorher essen. Doch ihre Mutter war mal wieder arbeiten und würde vor zehn sowieso nicht nach Hause kommen. Der Umbau war immer noch im vollen Gange, weshalb ihre Mutter auch öfters später nach Hause kam. Es wartete also niemand auf sie. Es wäre somit egal, wenn sie etwas später nach Hause käme. Mimi zuckte mit den Schultern und lächelte lieblich. „Klar, gegen einen Kaffee lässt sich sicher nichts einwenden!“ _ Er hatte sich zu ihr rüber gelehnt und berührte leicht ihren Arm. Er hatte seinen Englischkram vor ihr ausgebreitet, während sie ihm versuchte, die verschiedenen rhetorischen Mittel zu erklären. Ein spitzbübischer Blick hatte sich auf sein Gesicht gelegt, als Mimi bemerkte, dass er ihr gar nicht richtig zuhörte, sondern sie lieber von oben bis unten abcheckte. Sie schlug ihm sachte gegen die Schulter und sah ihn mahnend an. „Hey, ich versuche dir das gerade zu erklären“, meinte sie ein wenig vorwurfsvoll, schwächte es aber durch ein Schmunzeln wieder ab. „Tut mir leid, du lenkst mich schon ein wenig ab“, antwortete er und kam ihr etwas näher. Sie spürte seine Hand an der Außenseite ihres Oberschenkels und erschauderte unter seinen Berührungen. „Ich glaube, deine Hand hat sich etwas verirrt“, meinte sie trocken, hielt sein Handgelenk fest und rutschte etwas von ihm weg. „Sorry“, murmelte er eine leise Entschuldigung und sah etwas peinlich berührt zur Seite. „Du hast mich irgendwie ziemlich beeindruckt und ich möchte dich echt gerne näher kennen lernen, aber leider scheinst du ja kein Interesse zu haben“, entgegnete er frustriert und stützte sein Kinn nachdenklich auf seiner Hand ab. „Das hat wirklich nichts mit dir zu tun“, stellte sie sofort klar und berührte sanft seinen Arm. „Hast du etwa einen Freund?“ Hastig schüttelte sie den Kopf, auch wenn sie automatisch an Tai denken musste. Doch sie waren nicht zusammen. Mimi hatte überhaupt keine Ahnung, obwohl aus ihnen jemals ein „wir“ werden würde. Toya legte einen seltsamen Gesichtsausdruck auf und rückte wieder etwas näher an sie heran, damit sie ihn besser verstehen konnte. „Stehst du etwa auf Frauen?“, fragte er flüsternd und erntete von Mimi einen empörten Blick. „Wie bitte?“, fragte sie schrill und erhaschte die Aufmerksamkeit der anderen Gäste. Toya grinste unverschämt, als Mimi rot anlief. „Also ich schätze mal, dass das ein ‚Nein‘ ist, oder?“ „Wie kommst du nur auf so einen Mist“, zischte sie und zog ihn am Ärmel näher an sich heran. Toya zuckte nur mit den Schultern und wirkte ein wenig gleichgültig auf sie. „Vielleicht wollte ich dich nur ein bisschen aus der Reserve kitzeln“, antwortete er lässig und lehnte sich gegen seine Stuhllehne. „Oder ich suche nach einer logischen Lösung, warum ich einfach nie ‘ne Chance bei dir habe.“ „So ist das doch gar nicht“, sagte sie unüberlegt und säte neue Hoffnungen, die sich in seinem freudigen Gesicht wiederspiegelten. Natürlich fand sie Toya nett und charmant, aber er war eben nicht Tai. Das einzige was beide miteinander verband, war der Anfangsbuchstabe ihres Namens. Toya war viel größer und kräftiger als Tai. Seine Haare waren relativ kurz und fast schwarz, während sie Tais Wuschelmähne immer so faszinierend fand. Seine Augen waren seegrün und strahlten nicht eine solche Wärme aus, wie bei Taichi. Aber dennoch. Vielleicht brauchte sie jemanden, der eben nicht wie Tai war. Jemand, der sie begehrenswert fand und ihr nicht dämliche Blumensträuße schickte, die nichts zu bedeuten hatten. Jemand, der mit ihr zum Abschlussball gehen wollte und nicht mit irgendeiner blöden Klassenkameradin, die ihn nur sporadisch kannte. Mimi atmete tief durch, als Toya ansetzte etwas zu sagen. Sie ahnte schon, was er gleich aussprechen wollte. Gespannt starrte sie auf seine Lippen, als er ihr eine Frage stellte, mit der sie schon längst gerechnet hatte: „Willst du mit mir zum Abschlussball gehen?“ Kapitel 55: Der Abschlussball ----------------------------- Gemeinsam standen sie vor dem Spiegel, zupften ihre Kleider zurecht und richteten sich gegenseitig die Haare. Sora steckte eine filigrane Haarspanne in Mimis lange, gelockten Haare, die sie halb hochgesteckt hatte. Sie trug ein türkisfarbenes Kleid, das ihr bis zu den Knien ging. Ihre Schuhe waren schwarz und hatten einen kleinen Absatz. Sora trug ein dunkelblaues Kleid mit Spitze und hatte ihre kurzen Haare in einer geschickten Hochsteckfrisur verpackt. „Ich bin wirklich froh, dass die Prüfungen endlich vorbei sind“, sagte sie erleichtert und sprühte etwas Haarspray auf ihre Frisur. Mimi wuschelte sich mit den Fingerspitzen durch ihre voluminösen Locken und blickte zu ihrer Freundin. „Kann ich mir wirklich vorstellen. So viele Klausuren sind echt anstrengend.“ „Das stimmt, aber jetzt kann ich den Abend voll und ganz genießen und mich mit ganzer Aufmerksamkeit Paris widmen“, erinnerte sie sie, was Mimi einen kleinen Stich versetzte. Auch Sora würde bald gehen und für ungefähr sechs Monate in Europa leben. Das meiste hatte sie schon geregelt, hatte sogar eine kleine bezahlbare Wohnung gefunden und musste lediglich nur noch ein paar Kleinigkeiten regeln, bevor sie im März aufbrach. „Ich werde dich wahnsinnig vermissen“, eröffnete sie ihr wahrheitsgemäß und büßte etwas von der ausgelassenen Stimmung ein, die beide bis vor kurzem noch umgeben hatte. „Es sind noch nicht mal sechs Monate. Ich bin schneller wieder da, als du gucken kannst“, versuchte Sora sie aufzuheitern. Mimi lächelte vage und richtete den Blick kurz zur Uhr. „Wann wollte Izzy nochmal vorbei kommen?“, hakte sie nach und war immer noch überrascht, dass Sora ausgerechnet mit Izzy auf den Ball ging. Doch nach einem langen Erklärungsversuch, konnte sie ihre Freundin verstehen. Sie verstand sich zwar mit Matt und Tai wieder besser, doch sie wollte ihre zarte Freundschaft nicht gefährden, indem sie einen der beiden vorzog. Matt würde sowieso den halben Abend auf dem Ball mit seiner Band spielen, während Tai sich eine andere angelacht hatte. Izzy war nur eine Art Lückenfüller, der Sora jedoch gerne Gesellschaft leistete. Mimi fand es ebenfalls gut, dass er mal von seinem Laptop wegkam und sich ins Leben stürzte. Nachdenklich betrachtete sich Mimi kurz im Spiegel und bewegte sich etwas, sodass ihr Kleid leicht flatterte. „Um neunzehn Uhr. Wo treffen wir eigentlich Toya?“ Mimi sah zu Sora und strich sich durchs Gesicht. Sie schnappte sich ihren Lipgloss und trug etwas auf, bevor sie antwortete. Ihr wäre es lieber gewesen, sich für ihn hübsch zu machen… „An der Schule“, erwiderte sie nur und drehte sich herum. Sie steuerte auf ihr Bett zu und warf ihren Lipgloss in die Tasche. Als sie sich wieder zu Sora wandte, hatte sich diese erwartungsvoll gegen ihre Kommode gelehnt und starrte sie nieder. „Was ist denn?“, fragte Mimi patzig nach und verstand nicht, warum Sora sie auf einmal so seltsam musterte. Sora kam ein paar Schritte auf sie zu und ließ sich auf ihrem Bett nieder. „Naja, du hast mir noch gar nichts von dir und Toya erzählt. Hatte ihr schon viele Verabredungen?“ Mimi seufzte, setzte sich ebenfalls und erinnerte sich daran, dass sie nach ihrem Kaffeedate nur einmal miteinander aus gegangen waren. Er hatte sie zum Essen eingeladen und alles schien perfekt zu laufen, bis sie sich auf dem Nachhauseweg befanden und er sie küssen wollte. Sie hatte hektisch den Kopf zur Seite gedreht und ihm gesagt, dass es ihr zu schnell ginge, obwohl sie insgeheim wusste, dass es nicht an ihm lag, sondern an ihren Gefühlen für Tai. Sie konnte keinen anderen Jungen küssen. Nicht wenn sie immer noch Herzflattern bekam, wenn sie nur eine Sekunde an ihn dachte. Es fühlte sich einfach falsch an. „So oft waren wir noch nicht aus“, gestand sie sich ein und senkte ihren Blick zu Boden. „Macht er dich denn glücklich?“ Mimi hatte ihre Hände auf ihren Schoss gelegt und spielte nervös an ihrem Zeigefinger. Ihre Augen klebten immer noch auf dem Boden. „Naja, nett ist er schon“, sagte sie nur, bemerkte jedoch selbst, dass sie nicht sonderlich überzeugend klang. Es kehrte Stille ein, die Mimi irritierte. Sie sah auf und stellte fest, dass Sora über etwas nachzudenken schien. Wenige Minuten später, sah sie ihr in die Augen und kräuselte die Lippen. „Kann ich dich etwas fragen?“ Mimi nickte nur bestätigend. „Was ist zwischen dir und Tai gelaufen und bitte sei ehrlich!“ Mimi klappte der Mund auf. Ihre Frage klang eher nach einer Forderung. „Was meinst du denn? Wir sind nur Freunde“, meinte sie unsicher, da sie ihre Beziehung schon lange in Frage stellte. Sora schüttelte den Kopf und kratzte sich an der Schläfe. „Ich habe es eigentlich schon viel länger vermutet, aber du hast es immer abgestritten. Wie jetzt.“ „Ich streite überhaupt nichts…“ „Mimi, ich weiß, dass ich in letzter Zeit keine gute Freundin für dich war. Ich war selbst sehr durch den Wind gewesen und jetzt stehe ich kurz vor einer riesigen Veränderung, die alles ziemlich durcheinander gebracht hat. Aber ich habe auch gesehen, dass Tai dir wirklich gut getan hat, weshalb ich wollte, dass ihr euch wieder vertragt, damit du jemanden hast, wenn ich weg bin“, unterbrach sie sie sanft. „Was? Wie kommst du jetzt drauf?“, fragte Mimi verwirrt, da sie davon ausgegangen war, dass Sora dachte, sie würde auf Toya stehen. Sora gestikulierte wild, ließ jedoch ihre Hände sinken, um sich Mimi voll und ganz zuzuwenden. „Ich glaube, ich muss von vorne anfangen“, begann sie geheimnisvoll und erzählte Unglaubliches. „Ich hatte schon länger gemerkt, dass Taichi etwas bedrückt. Ich hatte zwar immer den Verdacht, dass zwischen euch beiden etwas vorgefallen sein muss, aber keiner hatte wirklich mit mir geredet, weshalb ich versucht hatte, euch beide etwas aus der Reserve zu locken. Deswegen hatte ich einmal während des Lernens das Thema absichtlich auf dich gelenkt, was ihn völlig verunsichert hatte. Aber er wollte nichts weiter sagen und dann war mir etwas ausgerutscht“, erklärte sie beschämt und senkte den Kopf. Mimis Augen weiteten sich. In ihrem Kopf ratterte es und ihr fiel ein, dass Tai auch so etwas Ähnliches erzählt hatte. Dass Sora ihm etwas gesagt hätte. Doch vor lauter Stress, hatte sie es vergessen gehabt. „Ich habe ihm ausversehen gesagt, dass Toya dich um ein Date gebeten hat und du deswegen so durch den Wind bist“, eröffnete sie ihr kleinlaut. „Wie bitte?“, brauste Mimi auf und sah entsetzt zu Sora. „Das stimmt doch gar nicht!“ „Ja, ich weiß, aber irgendwie wollte ich euch irgendwie helfen, ihm einen Anreiz geben, aber das ging völlig nach hinten los. Ich hätte mich da nicht einmischen sollen, aber irgendwie habe ich mich sehr ausgeschlossen und hilflos gefühlt. Dir ging es auch die ganze Zeit über sehr schlecht und ich wollte einfach nur, dass ihr zwei wieder miteinander redet, aber als ich Tai vorgestern auch noch erzählt hatte, dass du mit Toya zum Abschlussball gehst, war er so enttäuscht gewesen, dass ich gemerkt habe, dass mein ganzer Plan nach hinten los gegangen ist.“ Sora biss sich auf die Unterlippe und verzog sie mit den Schneidezähnen leicht nach rechts. „Es tut mir leid, aber als du dich gerade eben nicht gefreut hast und auch Tais Reaktion so fragwürdig war, konnte ich eins und eins zusammenzählen.“ „Wie hat er denn reagiert?“, fragte Mimi interessiert, aber auch etwas ruhiger nach. Sie setzte sich auf ihr Knie und sah dringlich zu Sora, die sich unruhig hin und her bewegte. „Naja, er war nicht begeistert und ist furchtbar böse geworden, hat Toya sogar als Mistkerl bezeichnet und das er nicht gut für dich wäre.“ Überrascht über ihre Worte stand Mimi auf. „Und er ist kein Mistkerl oder was?“, brummte sie aufgebracht. „Mimi, ich würde gerne wissen, was zwischen euch vorgefallen ist“, bohrte Sora erneut nach. Mimi wandte ihr den Rücken zu, konnte sie aber im Spiegel immer noch beobachten. „Ja, wir sind uns näher gekommen, aber eigentlich ist alles nur schief gelaufen. Obwohl ich schon so unfassbar lange Gefühle für ihn habe. Doch jetzt reden wir nur noch aneinander vorbei“, murmelte sie schweren Herzens, als sie sich zu Sora herumdrehte. „Und ich wusste ja, dass du ihn irgendwie magst und verunsichert bist. Ich wollte mich da nicht auch noch reinmengen und bin trotzdem irgendwie dazwischen geraten.“ Sie machte eine kurze Pause, sah in Soras Gesicht und überlegte sich, ob sie ihr auch von der Sache mit Matt erzählen sollte. Schon länger hatte sie ein schlechtes Gewissen gegenüber ihr, weil sie sich auf beide Jungs eingelassen hatte, die Sora so sehr mochte. Sie war eine schlechte beste Freundin, doch die ganze Wahrheit brachte sie nicht übers Herz. Matt war ihr Freund, jedenfalls irgendwie. Sie konnte nicht zugeben, dass sie mit ihm geschlafen und Sora hintergangen hatte. Diese stand auf und ging ein paar Schritte auf sie zu, bis sie knapp vor ihr zum Stehen kam. „Du hast Gefühle für ihn? Wie lange schon?“ Mimis Herz setzte aus. Hatte sie wirklich ihr gesagt, dass sie Gefühle für Taichi hatte? Ihr Magen drehte sich automatisch um und fühlte sich an wie ein Sack Beton. „S-Schon länger, aber ich konnte doch nichts sagen, weil er in dich verliebt war“, entgegnete sie schwach. Die Tränen standen ihr in den Augen, als sie zaghaft darüber wischte und etwas von ihrer Wimperntusche an ihren Fingern kleben blieb. „Natürlich hättest du etwas sagen können.“, Sora nahm sie augenblicklich in den Arm und drückte sie fest an sich. „Ich bin so dämlich. Ich hätte so etwas viel früher bemerken müssen, aber in der letzten Zeit war ich zu sehr mit mir beschäftigt gewesen, dass ich gar nicht nach links und rechts geschaut habe. Es tut mir so unglaublich leid. Du bist doch meine beste Freundin und…man Mimi, hätte ich das alles früher gewusst“, erwiderte sie reumütig. Sachte drückte Mimi sie von sich weg und wandte sich von ihr ab. „Sora…du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Ich hätte einfach viel früher etwas sagen sollen, aber ich dachte, dass es sowieso nichts ändert. Man kann sich ja schließlich nicht aussuchen, in wen man sich verliebt. Und Tai hatte dich ausgewählt und nicht mich“, antwortete sie deprimiert. „Aber ihr seid euch doch näher gekommen“, fasste sie zusammen und stemmte die Hände in die Hüfte, „das muss doch was zu bedeuten haben und es war ihm alles andere als egal, dass du dich mit Toya triffst!“ „Aber falls du es mitbekommst hast, geht Tai mit einer anderen zum Abschlussball. Mich hat er noch nicht mal gefragt“, antwortete sie erbost und vergaß unmittelbar ihre Traurigkeit. „Du solltest dringend mit ihm reden“, schlug Sora vor, als fast zeitlich die Klingel läutete. „Hier liegt ganz sicher ein Missverständnis vor, an dem ich leider nicht unschuldig bin. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass er es auch klären will. Ihm geht es damit nämlich auch nicht gut.“ „Das habe ich schon versucht, aber wenn er nicht reden will, kann ich ihn auch nicht dazu zwingen. Ich würde gerne alles aus der Welt schaffen und ihm sagen, was ihn für ihn empfinde, aber irgendwie klappt das nie so wirklich, egal was ich auch versuche“, erwiderte sie geknickt und senkte betroffen den Kopf. „Hey“, ertönte die sanfte Stimme von Sora, als Mimi hochblickte und in ihre warmen Augen sah. Ihr standen immer noch die Tränen in den Augen, als Sora ihre Hände behutsam auf ihren Schultern ablegte. „Du musst hartnäckig bleiben! Du kennst doch Tai…er ist ein Sturkopf wie es im Buche steht, bekommt oftmals Dinge in den falschen Hals und ist sehr impulsiv. Sei einfach ehrlich zu ihm. Sag ihm das, was du mir gesagt hast und vertraue auf deine Gefühle. Er wird dich nicht wegstoßen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er die gleichen Gefühle hat, wie du. Also nur Mut! Lass sie zu und schnapp‘ ihn dir endlich“, beendete Sora ihren Monolog und ein Grinsen huschte über ihre Lippen. Nachdenklich blickte Mimi sie an, als sie verhalten nickte. Sie hatte Recht. Es war so vieles schief gelaufen und jetzt hatte sie auch ausgerechnet noch ein Date mit Toya, dass sie wohl schlecht kurz vorher absagen konnte. Dennoch spürte sie, dass sie etwas ändern musste. Sie wollte kämpfen. „Vielleicht sollten wir jetzt gehen“, meinte sie nachdem sie ihr Äußeres nochmal kurz im Spiegel gecheckt hatte. „Izzy wartet sicher schon.“ _ Sie hatten gerade Toya an der Schule entdeckt und ihn kurz begrüßt, als Sora und Mimi hinter ihnen langsam in die Halle gingen. Irgendwie verstand Mimi die Reaktion ihrer Freundin nicht wirklich. Sie war verständnisvoll und bestärkte sie mit Tai zu reden, obwohl sie doch selbst Gefühle für ihn hatte. Jedenfalls teilweise. „Du bist aber jetzt nicht mit Toya hergekommen, um Tai eifersüchtig zu machen, oder?“, flüsterte sie ihr auf einmal zu und Mimi blieb empört stehen. Sie zog sie am Arm etwas beiseite und legte ihren Zeigefinger auf die Lippen. „Nicht so laut“, grummelte sie vorwurfsvoll. „Und natürlich will ich ihn nicht eifersüchtig machen. Toya hat mich höflich gefragt.“ Sora sah sie weniger überzeugt an, legte den Kopf schief und zog eine Augenbraue in die Höhe. „Was denn? Es ist die Wahrheit! Und ich verstehe wirklich nicht, warum du so cool darauf reagierst! Wegen Tai ist doch die ganze Beziehung zu Matt in die Brüche gegangen, weil du dir unsicher geworden bist. Macht dir das denn gar nichts aus?“, hinterfragte Mimi skeptisch. Sora distanzierte sich etwas von ihr und schnaufte lautstark. Sie konnte sich wohl auch noch gut daran erinnern, als sie wegen dem Kuss zwischen ihr und Tai vollkommen ausgeflippt und Mimi regelrecht von ihm weggerissen hatte. „Das war damals etwas anders, Mimi“, versuchte sie auf sie einzureden und wollte sich zielstrebig in die Halle begeben, als Mimi sie festhielt. „Du bist dir mittlerweile nicht mehr unsicher, oder?“ Sora senkte den Kopf und nickte nur leicht. „Am Anfang habe ich beide unheimlich vermisst, aber dann…“ „Dann hast du gemerkt, wen du mehr vermisst und derjenige war nicht Tai“, beendete sie ihren Satz und ließ die Schultern locker nach unten hängen. „Ich war damals sehr unsicher gewesen, gerade weil Matt und ich unsere Beziehung verheimlicht hatten, statt dazu zu stehen. Und dann war da noch Tai, den ich mein ganzes Leben kenne und der immer für mich da war. Gerade in den Momenten, wo es Matt eben nicht war. Ich hätte niemals an meinen Gefühlen zweifeln sollen, aber dann hatte Taichi dich geküsst und ich war echt wütend auf ihn gewesen, aber viel mehr, weil er dich auch noch mit reingezogen und dich in diesem Moment einfach nur ausgenutzt hat, um mir eins reinzuwürgen“, erklärte sie aufrichtig. Ein mildes Lächeln legte sich auf Mimi Lippen und sie tätschelte ihr liebevoll die Schulter. „Ich glaube, in dem Moment fand ich es gar nicht so schlimm ausgenutzt zu werden“, gab sie zu und erinnerte sich an ihren ersten Kuss, der bei ihr sämtliche Gefühle durcheinander brachte. „Wir sollten demnächst alles Mal in Ruhe besprechen. Lass uns jetzt reingehen und den heutigen Abend genießen“, schlug Sora vor. Mimi nickte bestätigend und hakte sich bei ihrer Freundin unter. Gemeinsam betraten sie die festlich, geschmückte Halle. Überall hing buntes Lametta und Luftballons in sämtlichen Farben. „Da seid ihr ja endlich. Habt ihr draußen Wurzeln geschlagen?“, kam es von Toya, der etwas gelangweilt neben Izzy stand. Die Halle war bereits gut gefüllt und die meisten befanden sich auf der Tanzfläche. Die Mädchen trugen wunderschöne Kleider, während die Jungs in schicke, aber schlichte Anzüge gehüllt waren. „Hast du vielleicht Lust zu tanzen?“, fragte Toya keck und grinste Mimi an. Diese sah kurz zu Sora, die ihr zu verstehen gab, dass sie sich ruhig amüsieren sollte. Sie nickte daher nur, machte sich los und ging zu Izzy. Toya streckte Mimi den Arm hin, den sie selbstverständlich sofort ergriff. Gemeinsam schritten sie auf die Tanzfläche und wurden schon nach wenigen Minuten eng aneinander gedrückt. Mimi lächelte verlegen und ließ gelegentlich ihre Blicke schweifen. Matt stand tatsächlich auf der Bühne und grölte ins Mikro. Auch wenn Mimi fast alle seine Lieder bereits auswendig kannte, tanzte sie gerne dazu und ließ die Hüften kreisen. Mit den Augen war sie jedoch immer noch auf der Suche nach einer gewissen Person, die ihr immer noch im Kopf herumspuckte. Nach einer Weile entdeckte sie ihn an einem Tische stehen. Sein Date schien gelangweilt zu sein und nippte an ihrem Getränk, während er ins Leere starrte. Immer wieder schenkte sie ihm einen sehnsüchtigen Blick, wollte am liebsten alles mit ihm klären, obwohl sie wusste, dass sie falsche Signale sendete. Hätte sie gewusst, was Sora zu ihm gesagt hatte, hätte sie sicherlich anders reagiert gehabt. Und nun tanzte sie ausgerechnet mit Toya, den sie auch nicht einfach so abservieren konnte. Plötzlich trafen sich ihre Blicke unweigerlich, sodass Mimi Probleme hatte, sich weiterhin auf ihren Tanzpartner zu konzentrieren. Tai wirkte unfassbar traurig auf sie, sodass sie das Bedürfnis hatte, ihm alles Fragwürdige zu erklären. Doch auf einmal spürte sie eine Hand an ihren Hüften und drehte sich erschrocken um. „Du bist ja ganz abgelenkt“, stellte Toya ein wenig enttäuscht fest und zog sie etwas näher an sich heran. Er grinste und beugte sich etwas zu ihr hinunter. Etwas irritiert, blickte Mimi ihn mit großen Augen an und fragte sich, was er nun vorhatte. Beide bewegten sich tänzerisch hin und her, als er seine andere Hand in ihren Nacken legte. „Ich glaube, ich weiß wie ich deine Aufmerksamkeit wiedererlange“, hauchte er ihr entgegen und kam ihrem Gesicht immer näher. Mimis Herz klopfte gegen ihre Brust, als sie seinen Atem auf ihrer Haut spürte. Ohne eine Reaktion von ihr abzuwarten, legte er seine Lippen auf ihre. _ Völlig durcheinander begab sie sich zu den Getränken und berührte geistesabwesend ihre Lippen. Toya hatte sie geküsst. Vollkommen unerwartet. Sie hatte noch nicht mal die Gelegenheit gehabt zu reagieren. Wieder und wieder fuhr sie über ihre rauen Lippen und presste ihre Zunge gegen ihren Gaumen. Mimi musste dringend mit ihm reden. Sie wollte ihm keine falschen Hoffnungen machen, die dieser Kuss wohlmöglich geweckt haben könnte. Nach dem Kuss war Toya nach draußen verschwunden und hatte sie völlig verstört in der Halle zurückgelassen. Ihre Füße führten sie zu dem Getränketisch, wo sie sich ein Glas Bowle genehmigte. Sie hatte noch nicht mal einen Schluck getrunken, als Sora auf die zugesteuert kam und sie entgeistert niederstarrte. „Was war denn da los? Hab ich mir das eingebildet, oder hat Toya dich geküsst?“ „Er hat mich überrumpelt“, gab Mimi kleinlaut zu und nippte am Pappbecher. „Hast du nicht mitbekommen, wie Tai wütend rausgestürmt ist?“ Sora riss die Augen auf und deutete auf die Tür. „Ich habe Izzy nachgeschickt, weil er so aufgebracht war. Ich dachte, du wolltest ihn nicht eifersüchtig machen!“ „Wollte ich doch auch nicht! Er hat mich geküsst und nicht umgekehrt“, verteidigte sie sich vehement. Doch wenn sie ehrlich war, hatte sie ganz genau bemerkt, dass Tai sie beobachtete. Mimi hatte sich hinreißen lassen. Sie wollte eine Reaktion von ihm erhaschen. Etwas, das ihr ein Zeichen gab und Soras Worte von vorhin bestätigte. Doch jetzt war sie nicht mehr so sicher, ob sie den richtigen Weg gegangen war. „Wo ist Toya überhaupt hin?“ „E-Er wollte nach draußen“, sagte Mimi langsam und deutete zur Tür, als Izzy bereits angerannt kam und aufgeregt mit den Armen umherwirbelte. „Ihr müsst mitkommen“, brüllte er aufgebracht und zeigte immer wieder in die gleiche Richtung. „Tai und deine Verabredung geraten gerade heftig aneinander.“ Mimis Augen weiteten sich und sie blickte unweigerlich zu Sora, die sofort loslief und Mimi hinter sich herzerrte. Draußen hörte man bereits wildes Geschimpfe und Mimi war sich nicht sicher, was sie erwarten würde. Izzy drückte die Tür auf und vor ihnen bot sich ein Bild, mit dem keiner der drei gerechnet hatte. Die Aufsichtspersonen verteilten sich hauptsächlich in der Halle, sodass draußen fast gar nicht kontrolliert wurde. Mimi hielt sich nur die Hand vor den Mund, als sie sah, wie Toya Tai am Kragen gepackt hatte und Blut aus seiner Nase strömte. Einige Mannschaftskollegen standen nebendran und versuchten sie auseinanderzureißen. Doch sie waren wie zwei Hunde, die um einen alten Knochen kämpften und sich verzweifelt festgebissen hatten. Sora brüllte etwas Unvollständiges, als Tai Toya einen Kinnhaken verpasste und sich, wie wild geworden, auf ihn stürzte. Wieder versuchte jemand Tai von Toya zu reißen, doch Tai riss sich los und zog ihn zu Boden. Mimi hielt sich mittlerweile die Augen zu und drückte ihr Gesicht gegen Izzys Schulter, da sie nicht ertragen konnte, wie sich die beiden Jungs windelweich prügelten. Was war nur passiert? So fuchsteufelswild hatte sie Tai noch nie erlebt. Lag es nur an dem Kuss? „Jetzt macht doch endlich mal was!“, forderte Sora die Umherstehenden auf, die völlig ratlos auf die beiden Streithähne blickten. Zwei Mutige packten Tai am Kragen und zogen ihn von Toya herunter, der sich sein Kinn schmerzhaft hielt. „Lasst mich los“, schrie Tai und wand sich umher. Sein wütender Blick war immer noch auf Toya gerichtet, der sich langsam und vorsichtig wieder auf seine Füße begab. „Was ist dein Problem, Yagami? Bist du high?“, raunzte dieser und sah Tai bedrohlich an. Mimi krallte sich an Izzy fest, der immer noch ungläubig und völlig fassungslos zu den beiden schaute. „Was ist denn in euch gefahren?“, fragte Sora plötzlich und stellte sich zwischen die Streithähne, ihren Blick auf Taichi gerichtet. „Tai was ist passiert?“ Mimi erkannte nur, dass er zu Boden schielte und sich weigerte Sora ins Gesicht zu sehen. „Tai, ich rede mit dir!“ „Boah, lasst mich doch alle in Ruhe“, brüllte er und riss sich los. Er drehte sich ruppig herum, sodass Mimi einen kurzen Blick auf sein Gesicht erhaschen konnte. Seine Nase blutete immer noch und auch seine Lippe schien etwas geschwollen zu sein. Auf seinem weißen Hemd befanden sich ein paar Blutspuren. Doch all das schien ihm egal zu sein. Zielstrebig lief er in Richtung Sportplatz und ließ den Rest zurück. Mimi sah ihm hinterher, blickte unsicher zu Sora, die nur bestätigend nickte und ihr so signalisierte, dass sie ihm folgen sollte. Sie lockerte den Griff um Izzys Arm und rannte los. _ Suchend lief sie umher und konnte Tai erst gar nicht finden, da er schneller aus ihrem Sichtfeld verschwunden war, als sie es erwartet hatte. Sie wanderte beharrlich umher, bis sie die hinteren Umkleidekabinen erreichte und ein ganzes Stück von den anderen entfernt war. Mimi drehte sich kurz herum und sah, dass ihr keiner gefolgt war. Unbeirrt ging sie weiter, bog an der Ecke ab und fand Tai tatsächlich sitzend am Gemäuer lehnend vor. Sein Blick war in die Ferne gerichtet, weshalb er Mimi gar nicht zu bemerken schien. Diese kramte aus ihrer kleinen Handtasche ein Taschentuch hervor und schritt leise zu ihm. Sie beugte sich zu Tai hinunter, der erschrocken zusammenfuhr und sofort in eine Art Abwehrhaltung ging. „Was willst du hier? Solltest du nicht deinen tollen Freund verarzten?“, grummelte er und drehte sein blutverschmiertes Gesicht von ihr. „Er ist nicht mein Freund“, antwortete sie leicht gereizt, drehte seinen Kopf wieder in ihre Richtung und begann mit dem Tempo das Blut abzutupfen. Tai ließ es einfach geschehen, ohne sich weiter zu wehren. Immer wieder fixierte er sie auf neue, konnte ihrem Blick aber nie lange standhalten, was ihr deutlich auffiel. „Warum habt ihr euch geprügelt? Ihr seid doch keine Neandertaler“, murmelte sie und zog die Hand zurück. Tai verdreht nur die Augen und stützte seinen Arm locker auf seinem Knie ab. Mimi hatte sich mit ihrem Kleid einfach auf den Boden gesetzt, ohne sich über Schmutz oder Krabbelvieher Gedanken zu machen. „Der Kerl ist ein Wichser“, behauptete er nachdrücklich und biss die Zähne wütend aufeinander. „Er will dich nur flachlegen.“ „Das weißt du doch gar nicht“, protestierte Mimi, auch wenn sie ebenfalls schon öfters die Vermutung gehabt hatte. Toya war kein unbeschriebenes Blatt, aber sie war dennoch all ihrer Sinne fähig und durchaus in der Lage „Nein“ zu sagen. „Doch das weiß ich! “, brummte er aufgebracht und sah ihr direkt in die Augen. „Warum bist du nur so blind?“ „Wie bitte?“, pfiff Mimi schrill, sodass Tai zusammen zuckte. „Warum machst du überhaupt so einen Aufriss? Dir kann es doch egal sein, mit wem ich was habe!“ Entgeistert sah Tai sie an, bevor er ihre Aussage mit einem Kopfschütteln quittierte und sich aufrappelte. Er drehte ihr den Rücken zu, während sie immer noch auf dem Boden saß und zu ihm hinaufblickte. „Er hat gesagt, dass er genau weiß, wie er dich rumkriegt und dass er ja gar nicht viel machen braucht, damit du seinen Namen vor lauter Lust stöhnst“, erzählte er auf einmal und Mimis Augen weiteten sich. Dass er sowas von sich gegeben hatte, war ihm durchaus zuzutrauen und dann sagte er es auch ausgerechnet noch vor Taichi, der sehr niedergeschlagen auf sie wirkte. „Ich will eben nicht, dass er dich anfasst“, gab er fast flüsternd zu, konnte sie dabei aber nicht direkt ansehen. Mimi sah wie er wütend seine Fäuste ballte und erkannte von der Seite, wie er sein Gesicht ein wenig verzog. Sie presste die Lippen aufeinander und überlegte, was sie ihm nur sagen sollte. Er hatte kein Recht ihr eine Moralpredigt zu halten, schließlich waren sie nicht zusammen. „Ich denke, sowas ist immer noch meine Entscheidung“, erwiderte sie unbedacht. Fassungslos wandte er sich ihr zu und konnte seine Gesichtszüge kaum kontrollieren, als die Wut in ihm sichtbar aufstieg. „Gut, dann viel Spaß beim Vögeln“, giftete er verletzt und setzte sich augenblicklich wieder in Bewegung. Mimi klappte der Mund auf, da sie nicht fassen konnte, was er eben zu ihr gesagt hatte. Sie schnellte nach oben, klopfte den Schmutz von ihrem Hintern und sprintete, in ihren hohen Schuhen so schnell es ging, hinterher. Als sie ihn erreicht hatte, platzte ihr plötzlich der Kragen, sodass sie ihn unsanft schubste und er leicht ins Straucheln kam. „Ey, was soll das?“, blaffte er sie an, hielt aber jedoch sofort inne, als er ihr ins Gesicht sah. Sie musste sich zusammenreißen, nicht jeden Augenblick vor ihm in Tränen auszubrechen. Doch sie konnte ihn beim besten Willen nicht verstehen. Sie wollte doch mit ihm zusammen sein und nicht mit irgendeinem Kerl, der nur eine verdammte Notlösung für sie gewesen war. „Du bist so ein Arsch“, brachte sie wehleidig hervor und kämpfte mit ihren Tränen. „Du hast überhaupt kein Recht mich hier dumm anzumachen! Er hat mich im Gegensatz zu dir wenigstens anständig und höflich um ein Date gebeten!“ Fassungslos sah Tai zu ihr nieder. „Willst du mich jetzt verarschen?“, fragte er gefährlich aggressiv. Er ging ein paar Schritte auf sie zu, seine Miene verfinsterte sich von Mal zu Mal, sodass Mimi angsterfüllt zurückschritt. „Ich habe mich mehrfach bei dir entschuldigt, weil ich mich wie ein Arsch verhalten habe, und du? Du hast überhaupt nicht reagiert. Ich habe dir Blumen geschickt, wollte mich mit dir treffen, aber du kommst einfach nicht und lässt mich wie ein Depp stehen. Ich wollte dich doch fragen, aber dann erzählt mir Sora auch noch, dass du an diesem Affen interessiert bist“, klagte er sie an. „Das hat sie falsch verstanden!“, widersprach sie nachdrücklich, „und ich habe dir doch gesagt, dass ich kommen wollte…aber…es ging nicht.“ „Und warum nicht?“, fragte er plötzlich ganz verwundbar und ließ die Schultern hängen. Mimi senkte schuldbewusst den Kopf und bemerkte, dass sie ihn ebenfalls nicht viel besser behandelt hatte. Sie hätte ihm viel früher sagen sollen, was los war. Dass sie ihn liebte und einfach nur mit ihm Zusammensein wollte. Wehmut machte sich in ihr breit und ein tiefsitzender Schmerz kroch ihren Hals empor. Tai sah sie immer noch wartend an, doch sie war praktisch zu Eis erstarrt. Kein Wort fand einen Weg über ihre Lippen, da sich alles so unfassbar unrealistisch anhörte. Nur stille Tränen liefen über ihre Wangen, während sie fieberhaft überlegte, wie sie Tai alles erklären sollte. Doch was sollte sie sagen? Dass, sie eine Halbschwester hatte, die mittlerweile gestorben war und ihr einen Brief aus dem Jenseits schickte? Es klang einfach nur absurd und sie wusste genau, dass er ihr nicht glauben würde, auch wenn er der einzige war, der Noriko einmal gesehen hatte. „Ich…“, druckste sie und pfriemelte an ihrem Kleid herum. Sein Blick wurde immer finsterer, je länger sie ihn warten ließ. Am liebsten hätte sie ihm alles erzählt, sich vor ihm offenbart, ihre Gefühle in sein Gesicht geschrien, doch sie konnte nicht. Sie hatte Noriko zu lange verleugnet und ihr jegliche Chance genommen, ein Teil ihres Lebens zu werden, während sie keinerlei Probleme hatte, Mimi ihren Freunden sofort vorzustellen. Sie hingegen hatte gewartet, bis alles zu spät war. „Okay, verstehe“, sagte Tai auf einmal, vergrub beide Hände in den Hosentaschen und starrte in den sternenbedeckten Himmel. Stille kehrte zwischen ihnen ein, die fast schon bedrohlich auf sie wirkte. Tai wandte den Blick vom Nachthimmel, konnte aber ihr nicht länger in die Augen sehen. Er seufzte herzzerreißend, wollte gerade an ihr vorbei gehen, als sie sein Handgelenk packte und leise aufschluchzte. „Tai, bitte…“, murmelte sie qualvoll. „Nein, ich habe es schon verstanden“, unterbrach er sie schroff, machte sich von ihr los und ging in Richtung Halle, ohne sich nochmal zu ihr umzudrehen. Mimi sah ihm entsetzt hinterher. Sie hatte alles falsch gemacht. Sie hätte ihm die Wahrheit sagen müssen. Mimi blieb weinend an der gleichen Stelle zurück, stampfte vor Wut auf und hielt sich mit beiden Armen festumklammert, wohlwissend ihn zu tiefst verletzt zu haben. Kapitel 56: Mad Hatter and Cheshire Cat --------------------------------------- Nachdenklich blickte sie auf ihren Schreibtisch und glitt mit den Fingern über den rauen Umschlag. Sie fuhr die Worte nach und sah sich hilfesuchend um. Noch immer wirkte ihr Blick traurig, nur das ihr schlechtes Gewissen gegenüber Noriko seit dem Abschlussball ins Unermessliche wuchs. Warum fiel es ihr so unsagbar schwer, zu ihr zu stehen? Schämte sie sich etwa? Saß der eigene Schmerz zu tief, sodass sie Angst hatte zu zerbrechen, wenn sie sich ihm stellte? Viele dieser Fragen hatte sich Mimi in den letzten Tagen gestellt. Sie erinnerte sich immer wieder daran, wie sehr sie Tai verletzt hatte, obwohl nur wenige Worte alles hätten ändern können. Sie war direkt nach dem Streit gegangen, hatte sich von niemandem verabschiedet, sondern schnappte sich ihre Jacke und stürmte kopflos nach draußen. Sora hatte sie am nächsten Tag versucht zu erreichen, doch Mimi konnte ihrer Mutter glaubhaft erklären, dass es ihr nicht gut ging, sodass sie Sora am Telefon abwimmelte. Seither hatte sie sich mehr in ihrem Zimmer verschanzt, ging nur noch raus, wenn sie musste und war froh, dass ihre Mutter so wenige Fragen wie nötig stellte. Auch sie hatte die letzten Prüfungen in der Schule erfolgreich absolviert, auch wenn sie nicht wusste, wie sie das geschafft hatte. Immer wieder geschah etwas Neues, dass sie unvermittelt aus der Bahn warf und ihr Leben auf den Kopf stellte. Sie hatte nicht geahnt, dass noch ein Brief von Noriko auf sie warten würde. Völlig schockiert über diese Tatsache, hatte sie in ihrer Verzweiflung Masaru angerufen, der vor zwanzig Minuten mit Chiaki bei ihr aufgetaucht war. Sie hatte sich nicht getraut, ihn alleine zu öffnen. „Worauf wartest du denn noch? Der Inhalt wird bestimmt auch in zehn Minuten noch der gleiche sein“, meinte Masaru murrend und wechselte seine Sitzposition, sodass ihr Bett leise knarrte. „Soll vielleicht einer von uns ihn öffnen und vorlesen?“, fragte Chiaki mit sanfter Stimme und berührte zaghaft Mimis Arm. Doch sie schüttelte nur leicht den Kopf, schob ihren Stuhl etwas zurück und setzte sich. Chiaki stand nun als einziger im Raum, als Masaru sich über Mimis Bett lehnte, nach seinem T-Shirt griff und ihn ebenfalls aufs Bett verfrachtete. Mimi seufzte nur, als sie den Umschlag in ihre Hände nahm, die Jungs kurz mit einem intensiven Blick fixierte, aber dann den Brief langsam oben öffnete. Ihre Finger begannen zu zittern, als sie das gefaltete Blatt heraus nahm. Sie ertastete noch etwas anders, dass viel glatter als das Papier war, doch sie wollte zuerst ihren Brief lesen. Mimi legte daher den Umschlag beiseite, faltete den Brief auseinander und fing an, das Geschriebene laut vorzulesen. _ Liebe Mimi, Schmerz gehört zum Leben dazu, wie die Luft, die wir zum Atmen benötigen. Nicht alles wird gut verlaufen und einen bis ans Ende des Lebens glücklich machen. Sowas findet man vielleicht wirklich nur in Märchen, die gebraucht werden, um wagemutige Helden und wunderschöne Prinzessinnen nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Früher wollte ich auch immer eine Prinzessin sein, in einem wundervollen Schloss leben und von meinem Prinzen wachgeküsst werden. Doch du weiß, wie es wirklich war. Das auch das Furchtbare seinen Sinn hat, den man erst nach längeren Überlegungen verstehen kann. Manchmal sogar nie. Jedoch kann man alles überstehen, wenn man Menschen hat, die einen lieben. Die, an einen fest glauben und auch das Unmögliche wahr werden lassen. Denn in dem Unmöglichen selbst, steckt das Mögliche, dass wir nur finden müssen. Ihr habt mir geholfen, meine Möglichkeiten zu finden. Mein Leben lebenswert zu gestalten und ein Stückchen Wunderland in mein Herz gelangen zu lassen. In meinen schwersten Stunden habt ihr mich begleitet, wart an meiner Seite, wie der Hutmacher und die Grinsekatze, die Alice auf ihrem schweren Weg nach Hause begleitet hatten. Ihr habt mein Leben bunt werden lassen. Es einfärbt, mit den schönsten Farben dieser Erde. Habt das triste Grau aus meinem Herzen vertrieben. Ihr gabt mir eine Aufgabe. Besonders du. Ich habe mich jahrelang gefragt, wie es wohl wäre, eine große Schwester zu sein, wie es sich anfühlt, wie die Verbindung zueinander ist. Durch dich habe ich es herausgefunden und kann immer noch nicht fassen, dass Menschen mit dem gleichen Erbgut, sich doch so unterscheiden können. Wir sehen uns so ähnlich und haben viele Dinge, die uns verbinden, aber du hast so viele Eigenschaften, um die ich dich beneidet habe. Oft hast du mir gnadenlos die Meinung geigt, hast keine Rücksicht genommen und mir deine Gefühle offenbart, sodass es mir leichter gefallen ist, zu meinen zu stehen. Ich habe andere Menschen immer zurückgewiesen, da ich dachte, dass es sie nur verletzt, mit einem kaputten Menschen, wie mir zusammen zu sein. Du hast mich das Gegenteil lehrt. Das man besonders die Fehler an einem selbst und anderen lieben lernen muss, da sie einfach dazugehören. Es ist nicht leicht, Menschen zu finden, die einen akzeptieren, wie eine Einheit hinter einem stehen. Doch es ist nicht unmöglich. Wenn man Glück hat, findet man verrückte, einzigartige Persönlichkeiten wie den Hutmacher, die Grinsekatze, das weiße Kaninchen und den Märzhasen, die außerordentliche Dinge miteinander erleben werden. Damit auch ihr die Möglichkeit auf etwas unglaublich Verrücktes habt, wirst du auch in diesem Umschlag etwas finden. Nutze die Möglichkeit! Sei kreativ und lebe jede einzelne Sekunde mit jeder Faser deines Körpers! Finde dein Glück und verteidige es heldenhaft. Denn das ist das, was du verdienst. In ewiger Liebe Noriko _ Sie ließ den Brief lautlos sinken, war immer noch ergriffen von ihren Worten, die sich in ihr Herz geschlichen hatten. Es erfüllte sie mit Freude zu wissen, dass sie ein so wichtiger Teil ihres Lebens geworden war. Vor allem in so kurzer Zeit. Mimi richtete den Blick zu den Jungs, die schweigend auf dem Bett saßen und die Köpfe gesenkt hatten. Er dauerte einen Moment, bis sich alle wieder gesammelt hatten und ihre Sprache wiedererlangten. „Was ist noch in dem Umschlag?“, fragte Chiaki fast schon ein wenig ehrfürchtig und hob den Kopf bedacht an. Auch Masaru sah interessiert zu Mimi, die den Brief auf ihrem Schoß ruhen hatte und zielstrebig nach dem Umschlag griff. Sie spürte das glatte Papier an ihren Fingerkuppen und zog es schwerfällig aus dem Briefumschlag. Es war ein Flyer, der mehrfach gefaltet wurde. Gespannt klappte Mimi ihn auf und runzelte augenblicklich die Stirn, als sie die Überschrift las. „Was ist denn eine Musikschnitzeljagd?“, fragte sie irritiert und reichte den Zettel an Chiaki weiter, der ihn kritisch beäugte. Masaru rückte näher an ihn heran und sah ihm über die Schulter, bevor er zu Seufzen begann. „Das kann doch nicht ihr ernst sein“, grummelte er und fuhr sich durch seine kurzen braunen Haare. „Denkst du sie will, dass wir mitmachen?“, hakte Chiaki nach krallte seine Finger in das widerstandsfähige Papier. Mimi beobachtete beide nur wortlos und hatte keinerlei Ahnung, was eine Musikschnitzeljagd sein sollte. Aber irgendetwas musste sich Noriko doch dabei gedacht haben. Und die beiden Jungs schienen auch schon eine Vermutung zu haben. „Was ist das denn jetzt? Mir sagt das überhaupt nichts!“, murrte Mimi mit Nachdruck und hoffte, dass jemand sie aufklärte. Chiaki legte den Flyer auf Mimis Bett und kratzte sich etwas unbeholfen am Hinterkopf. „Naja sie wird von Kenzo Watanabe alle fünf Jahre ausgerichtet“, begann er zögerlich, als sich Mimis Augen weiteten. „Kenzo Watanabe? Der berühmte Cellist?“ Mimi kannte ihn nur, weil sie einmal mit ihren Eltern eines seiner Konzerte in New York besucht hatte. Eigentlich hielt Mimi nicht viel von solcher Musik, aber Kenzo Watanabe hatte sie an diesem Abend wirklich beeindruckt gehabt. „Ja, genau. Er hatte an unserer Schule seinen Abschluss gemacht und ist danach auf die Musikhochschule. Er fördert viele Projekte, besonders weil unsere Schule einen ausgebauten Musikfachbereich hat“, erklärte er ausschweifend. „Alle fünf Jahre veranstaltet er in Shibuya eine Schnitzeljagd für Nachwuchstalente und alle Musikinteressierten.“ „Und was kann man gewinnen?“, fragte Mimi neugierig und beugte sich etwas nach vorne. Chiaki schielte auf den Zettel, bevor er ihr eine Antwort geben konnte. „Hier steht 620.000 Yen.“ „Das sind fast 5000 Dollar“, platzte aus Mimi hervor. „Was machen die denn mit dem Geld?“ „Die meisten geben es wohl für unnötigen Kram aus, aber die letzten Gewinner hatten einen neuen Musikraum mitfinanziert.“ Mimi sah beeindruckt zu den beiden Jungs und nickte nur etwas perplex, als sich auch Masaru zu Wort meldete. „Müssen wir da jetzt ernsthaft mitmachen? Da gehen doch meist eh nur voll die Deppen hin“, schnaubte der mit verschränkend Armen und erntete sofort einen bösen Blick von Chiaki. „Was soll das den heißen? Es war ihr Wunsch!“, betonte er lauthals und sprang vom Bett. „Toll und weiter? Manche Wünsche gehen eben nicht in Erfüllung“, schnauzte er ihn grimmig an, während Mimi unsicher ihren Stuhl hinabrutschte. „Du willst doch nur nicht hingehen, weil du genau weißt, dass Hideaki auch kommt!“ Chiaki stand provokant vor Mimis Bett und fixierte Masaru herausfordern, der lediglich ein zischendes Geräusch von sich gab. „Hör‘ auf mit so dusseligen Unterstellungen!“ „Unterstellungen?“, wiederholte er waghalsig, „du weißt doch genau, was da los war! Und ich werde ganz sicher nicht deswegen Norikos Wunsch einfach ignorieren! Komm‘ drüber hinweg“, schrie er seinen besten Freund an und verließ wütend Mimis Schlafzimmer. Der laute Knall der Tür, ließ Mimi erschrocken hochfahren, während Masaru betrübt auf ihrem Bett saß und an ihrer Bettwäsche zupfte. Irritiert stand sie auf, setzte sich auf ihr Bett und war immer noch von Chiakis Worten etwas perplex. „Was meint er denn damit?“, fragte sie leise, doch Masaru konzentrierte sich voll und ganz auf einen bestimmten Punkt auf ihrer Bettwäsche, den er fixiert hatte. „Kannst du diesen Hideaki nicht leiden, oder war er gemein zu dir?“, bohrte sie weiter, auch wenn sie merkte, dass es ihm Unbehagen bereitete. Er stöhnte nur gedämpft und kräuselte die Lippen. „Nein, das nicht. Eher das Gegenteil.“ Überrascht sah sie ihn an und wusste im ersten Moment nicht was sie sagen sollte. „Du…du warst in ihn verliebt?“, hinterfragte sie unglaubwürdig. „Was ist passiert? Hat er dir einen Korb gegeben, oder war er…?“ „Er war der Junge zu dem ich eine Beziehung hatte“, seufzend fuhr er sich durch die Haare, „oder so ähnlich.“ „Ihr hattet eine Beziehung? Er ist schwul?“, brachte Mimi stockend hervor. Damit hatte sie beim besten Willen nicht gerechnet. Hideaki kam wie ein selbstgefälliges, von Mädchen gefeiertes Arschloch rüber. Und er sollte eine Beziehung mit Masaru gehabt haben? Das konnte sie sich wirklich nicht vorstellen. „Ich weiß nicht mehr genau, wie das zwischen uns beiden angefangen hat, aber in den Sommerferien, vor dem letzten Schuljahr sind wir uns näher gekommen“, schwelgte er in seinen Erinnerungen. Sein Gesicht sah wehmütig und sehr verletzt aus, je länger Mimi es sich betrachtete. „Und was ist schief gelaufen?“ „Vermutlich alles“, sagte er nur. „Wir haben unsere Beziehung verheimlicht, da keiner aus seiner Familie wusste, dass er sich zu Männern hingezogen fühlte. Er galt immer als der Mädchenschwarm, aber irgendwie habe ich sofort gemerkt, dass da etwas zwischen uns ist.“ Ein trauriges Lächeln zog sich über seine Lippen. „Wir hatten uns einmal bei mir zu Hause getroffen, da ich sturmfrei hatte und meine Eltern mit Yasuo zu meiner Großmutter gefahren waren. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass sie früher nach Hause kommen würden, also hatten wir uns einfach fallen gelassen und sind uns an diesem Tag näher gekommen.“ Mimis Herz pochte, als er ihr von seiner Geschichte erzählte, da sie einige Parallelen zu ihrer eigenen ziehen konnte. Doch sie konzentrierte sich voll und ganz auf Masaru. Klebte an seinen Lippen, die traurig nach unten hingen. „Wir waren so ineinander vertieft, dass ich meinen Vater erst bemerkte, als er mitten in meinem Zimmer stand. Irgendwie hatte ich vergessen abzuschließen“, erwiderte er frustriert und ballte seine Hände zu Fäusten. „Er hat rumgebrüllt und gesagt, dass sowas unnatürlich sei und Hideaki schnellstens verschwinden sollte, bevor er bei ihm zu Hause anrief und seinen Eltern von seinem unangemessenen Verhalten erzählte. Hideaki ist daraufhin einfach gegangen, während mein Vater mich am liebsten verprügelt hätte. Doch dieses eine Mal war meine Mutter dazwischen gegangen und konnte ihn einigermaßen beruhigen, während ich mich halb nackt über zwei Stunden im Bad eingeschlossen hatte.“ „Oh Gott, das klingt ja fürchterlich“, murmelte Mimi entsetzt und presste ihre Handflächen gegen ihren Mund. „War es auch“, kam von ihm flüsternd, den Kopf wieder in Richtung Matratze gesenkt. „Wir hatten uns ein paar Tage später nochmal getroffen. Ich wollte ihm klar machen, dass er uns nicht aufgeben soll, aber er hatte sich bereits gegen uns entschieden. Seither hatte ich mich auch nicht mehr getraut, etwas Ernsteres in Erwägung zu ziehen.“ Mimi biss die Zähne fest zusammen und betrachtete angestrengt sein Gesicht. Ihr fiel es schwer, die richtigen Worte zu finden, da sie selbst meist jedes Wort für zu viel empfand. Daher entschied sich dagegen, etwas zu sagen, sondern ließ Taten sprechen. Sie rutschte lautlos neben ihn und ergriff seine geballten Fäuste. Zart für sie darüber und merkte, wie sich seine Anspannung allmählich löste. Für einen kurzen Moment tauschten sie tiefe Blicke miteinander, die beide zu verstehen schienen. Manchmal waren Worte nicht die richtige Lösung und konnten ein Problem nur noch komplizierter werden lassen. Eine Geste hingegen, war ehrlich, warmherzig und verlieh die nötige Kraft in schwachen Momenten. Sie war völlig zeitlos, während Worte meist nach kurzer Zeit ihren Glanz verloren. Eine Hand, die einem den richtigen Weg zeigte, konnte man jedoch ergreifen und sich führen lassen. Kapitel 57: Die Musikschnitzeljagd ---------------------------------- Die Zeit schritt stetig voran und ließ die letzten paar Wochen im Nu vergehen. Es war bereits Anfang März und die Ferien würden bald beginnen. Etwas niedergeschlagen über die baldige Tatsache, sich ebenfalls im Abschlussjahrgang zu befinden und sich für ein Studium entscheiden zu müssen, sank Mimi die Couch hinab und fixierte ihre beste Freundin, die die Schule vor ungefähr einer Woche beendet hatte. Sora hatte darauf bestanden den Freitagabend zusammen zu verbringen, da beide nicht sonderlich viel Zeit miteinander verbringen konnten. Sie sprachen über Soras Praktikum und das Abschlussjahr, sodass Mimi immer mehr bewusst wurde, dass sich alles veränderte. Ihre Gruppe brach immer mehr auseinander und Mimi vermisste das starke Band der Freundschaft, dass sie alle miteinander verbunden hatte. Jetzt schien es so, als würde jeder seinen eigenen Weg gehen. Joe hatten sie bereits letztes Jahr an sein Medizinstudium verloren, Sora und Matt waren die nächsten, die gingen und sogar die weite Welt bereisten. Von Kari hatte Mimi lediglich erfahren, dass Tai auf der Tokai Universität angenommen wurde und bereits nach einem Zimmer suchte. Seit dem Abschlussball hatten sie nicht mehr miteinander gesprochen. Etwas, das auch Sora nicht unbemerkt blieb. „Und wie geht es jetzt zwischen euch weiter?“, fragte sie interessiert und reichte die Tüte Paprikachips an sie weiter. Mimi langte zu und knabberte lustlos an der gebackenen Leckerei. „Seit dem Abschlussball hatte ich ihn nur mal kurz in der Schule gesehen“, gab sie kleinlaut zu und senkte betrübt den Kopf. „Er geht mir aus dem Weg. Ich habe es wohl komplett versaut.“ „Ach Mimi“, kam es besorgt von Sora, als sie auch noch ihre Hand auf ihre Schulter legte, „es tut mir so unfassbar leid. Ich würde dir echt gern helfen, aber ich weiß wirklich nicht wie. Mit mir redet er darüber nicht, sondern blockt gleich ab.“ Unsicher sah Mimi zu ihrer Freundin und zuckte nur hilflos mit den Schultern. Sie hatte überhaupt keine Ahnung, was in ihm vorging, oder was er wirklich für sie empfand. Sie wusste nur, dass sie ihm nicht egal war, aber das konnte ja bekanntlich vieles bedeuten. „Willst du mir erzählen, was zwischen euch vorgefallen ist?“ Soras Stimme durchdrang sie und hallte in ihrem Inneren. Seit dem Abschlussball hatte sie immer wieder versucht, dieses Thema anzusprechen, doch Mimi war es unangenehm über die kleinen hoffnungsvollen Momente und die gemeinsame Nacht zu sprechen. Sie überlegte immer wieder, wie sie Sora erzählen sollte, doch je länger sie darüber nachdachte, desto unsicherer wurde sie. Mimi fiel auf, dass sich die Anspannung zwischen ihr und Tai, bis zu jenem Abend gesammelt hatte. Allerdings war nicht sie diejenige, die die Grenze letztlich überschritten hatte. Er hatte sie geküsst. „Er hat mich geküsst“, sprach sie letztlich aus, huschte mit den Augen hin und her. „Und dann kam eins zum anderen.“ „Habt ihr miteinander…“ Sie traute sich nicht ihre Frage zu Ende zu stellen, doch das brauchte sie auch gar nicht. Mimis Gesicht verriet eigentlich so gut wie alles. „Oh“, machte Sora nur und wurde etwas rot um die Nase. Ihr war es immer noch peinlich, sich über das Thema Sex zu unterhalten, da sie in diesem Punkt nur wenige Erfahrungen gesammelt hatte. Aber auch für Mimi war dieses Thema ein wunder Punkt. Sie bereute es, ihre Jungfräulichkeit so früh verloren zu haben und war daher stolz, dass Sora sich aufhob. Sie hätte auch lieber gewartet, ließ sich jedoch von dem Jungen, den sie dachte zu lieben, unter Druck setzen. Und auch ihre weiteren Erfahrungen zu diesem heiklen Thema, waren alles andere als traumhaft gewesen. Mimi biss sich instinktiv auf ihre Unterlippe, wandte den Blick von Sora, da ihr schlechtes Gewissen sie gepackt hatte. Warum hatte sie nur mit Matt geschlafen? Wie konnte sie Sora nur so etwas antun? Sie hatte es richtig gemacht und hatte beiden Jungs klar gemacht, dass sie sich nicht entscheiden konnte, auch wenn sich ihr Herz mittlerweile entschieden hatte. Und Mimi? Sie hatte einfach in ihrer Trauer und Wut, mit dem Jungen geschlafen, den Sora immer noch liebte. „Aber wenn ihr euch bereits so nahe gekommen seid, verstehe ich nicht, warum ihr nicht einfach über eure Gefühle sprecht. Es könnte doch so einfach sein“, meldete sich Sora wieder zu Wort und versuchte mit allen Mitteln eine Lösung für dieses ganze Schlamassel zu finden. Doch für Mimi war es alles andere als einfach. Sie hatte den Weg gewählt, der mit Lügen zugepflastert war und sie daran hinderte ehrlich zu sich und den Menschen zu sein, die ihr so wichtig waren. „I-Ich habe ihn damals versetzt. Er wollte sich mit mir in der Stadt treffen, aber i-ich bin nicht hingegangen“, offenbarte sie schwerfällig, als plötzlich die Tränen in ihren Augen aufstiegen. „Warum?“, fragte Sora verständnislos und musterte sie nachdenklich. „Weil es nicht ging“, erwiderte sie mit krächzender Stimme und zog die Beine an ihren Körper. Ihre Tränen machten sich qualvoll bemerkbar, als sie unkontrolliert über ihre Wangen liefen und Soras Alarmsignale zum Läuten brachten. „Was ist denn los?“, hakte sie verzweifelt nach, als ein tiefsitzender Schmerz über Mimis Kehle hinweg wanderte und sich in einem leisen Wimmern äußerte. Sie presste ihr Gesicht gegen ihre Knie, als ihre beste Freundin behutsam darüber tätschelte und immer wieder aufs Neue fragte, was passiert sei. Doch ihre Verzweiflung war allgegenwärtig, als ihr schmerzhaft bewusst wurde, was sie getan hatte. Nicht nur, dass sie mit Matt geschlafen hatte…nein, sie hatte sogar ihre eigene Schwester verleugnet. „I-Ich habe euch alle angelogen“, brachte sie über ihre zitternden Lippen und konnte kaum den Kopf anheben, als Sora sie plötzlich fest an sich drückte. „Mimi…“ „I-Ich habe sie verleugnet. Vor euch allen, weil ich mich so geschämt habe“, gab sie zu und presste die Lippen qualvoll aufeinander. „Aber wovon redest du nur? Wen hast du verleugnet?“, fragte Sora verwirrt und hilflos zu gleich. Für sie machte all das natürlich überhaupt keinen Sinn, weshalb Mimi ihren ganzen Mut zusammen nahm. Sie blickte mit geröteten Augen zu Sora, als ihr Herz bis zum Hals schlug und sie die Worte in den Mund nahm, vor denen sie sich die ganze Zeit so sehr gefürchtet hatte. „M-Mein Vater hat noch eine Tochter.“ Ungläubig weiteten sich Soras Augen und ihr Mund klappte augenblicklich auf. „Noch eine Tochter? D-Du hast eine Halbschwester?“ Mimi nickte beschwerlich, als sie erneut in ihrem Tränenmeer versank und ihr Unterbewusstsein ihr schmerzvoll in Erinnerung rief, dass all das der Vergangenheit angehörte. Noriko war tot. _ Sprachlos saß Sora ihr direkt gegenüber, als sie genügend Kraft gesammelt hatte und ihr die leidvolle Geschichte ihrer Schwester erzählte. Sie unterbrach sie nicht, sondern hörte ihr aufmerksam zu, während Mimi nach wie vor um ihre Fassung rang. Je mehr sie von Noriko erzählte, desto mehr bereute sie es, sie so lange vor ihren Freunden geheim gehalten zu haben. „Oh mein Gott“, löste sich von Soras Lippen, als sie völlig fassungslos die Hände vor dem Gesicht zusammenschlug, aber Mimi keinen Augenblick aus den Augen ließ. „Warum hast du mir das nicht erzählt?“, hinterfragte sie, ohne anklagend zu klingen. Es war viel mehr die Enttäuschung aus ihrer Stimme herauszuhören. Mimi fuhr sich hektisch über ihre Augen, als Sora sie sofort wieder in den Arm nahm und sie fest an sich drückte. „Mimi…es tut mir alles so leid. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.“ Halbherzig erwiderte Mimi ihre Umarmung und wusste selbst nicht, was sie denken, oder fühlen sollte. In ihrem Kopf herrschte Chaos, da sie gerade ihrer besten Freundin alles über Noriko, ihre Krankheit und ihren unerbittlichen Lebensmut erzählt hatte, den sie Tag für Tag immer mehr vermisste. Sie löste sich aus Sora Umarmung, die ihr augenblicklich zu viel wurde. Sie hatte das nicht verdient. Verwirrt, aber liebevoll blickte Sora sie mit großen Augen an und schenkte ihr somit die nötige Kraft zu ihren eigenen verwirrenden Gefühlen zu stehen, die sie über Wochen, nein sogar schon Monate begleitet hatten. „Ich wollte euch so oft von ihr erzählen, doch ich…ich konnte es nicht. Am Anfang wollte ich ihr all das nicht glauben, auch wenn ich irgendwie gemerkt hatte, dass sie nicht lügt, a-aber…“, sie biss sich auf die Unterlippe, sah nach oben und blinzelte gegen ihre aufkommenden Tränen an. „Ich konnte eine Zeitlang meine Gefühle für sie gar nicht beschreiben. Ich hatte ihr lange die Schuld gegeben, dass sich meine Eltern getrennt hatten, ohne es wirklich zu merken. Ich war in einem Zwiespalt gefangen, hatte Angst sie noch mehr in mein Leben zu lassen, weil ich gefürchtet hatte, dass ich sie dadurch noch mehr in mein Herz schließe, als es ohne hin schon möglich war. Ich wollte nicht, dass sie ein Teil meines Lebens wird, w-weil ich genau gewusst hatte, dass sie mich auch irgendwann verlassen wird“, ihre Stimme brach ab und ihr Gesicht drückte sich in Soras Schoss. „Ich hatte versucht, sie nicht in mein Herz zu lassen, besonders als ich von ihrer Diagnose erfahren hatte. A-Aber sie war…“ Ein leiser Schrei überkam sie, ließ sie laut aufschluchzen und auf Soras Schoss sinken, während sie bedacht über ihren Rücken stich und ihren Kopf darauf bettete. „Du hast sie sehr geliebt…“, ertönte ihre leise Stimme an ihrem Ohr. „Und manchmal versuchen wir gerade die Menschen, die wir lieben, so sehr festzuhalten, dass wir sie praktisch in einem Marmeladenglas einsperren, statt ihnen ihre Flügel zu geben.“ Überrascht über ihre Worte, wand sie sich aus ihrem Griff und betrachtete ihre beste Freundin nachdenklich. „Wie meinst du das denn?“ Auch ihre Augen waren leicht trüb, auch wenn ein wärmendes Lächeln ihre Lippen umspielte. Sie ergriff ihre Hände und drückte sie zart. „Du wolltest sie nicht verlieren und manchmal handeln wir dadurch egoistisch. Du hattest sie erst kennengelernt und musstest dich mit einem baldigen Verlust auseinandersetzen. Es ist also eine natürliche Reaktion, dass du erst einmal damit zurechtkommen musstest, bevor du dich jemandem anvertrauen konntest. Manchmal geschieht sowas einfach unfassbar schnell, dass wir wie erstarrt sind und nicht wissen, wie wir uns richtig verhalten sollen. Sie war dir unglaublich wichtig, dass sehe ich in deinen Augen. Und keiner wird dich dafür verurteilen! Aber du solltest ehrlich sein. Besonders zu Taichi. Er wird das verstehen und für dich da sein, so wie ich für dich da sein werde.“ Gerührt über Soras Worte fand sie erneut Schutz in ihren Armen, die sich behutsam um sie legten und ihr das Gefühl von Geborgenheit vermittelten. Sie hatte Recht. Mimi war lange genug weggelaufen und wollte nicht noch mehr Menschen verlieren, die sie hingebungsvoll liebte. _ Nachdem Mimi einen tränenreichen Mädelsabend mit Sora verbracht hatte, war am nächsten Tag die langersehnte Schnitzeljagd angesetzt. Noch nie hatte sie an einem Abend so viel über Noriko gesprochen gehabt, sodass ihr Anreiz gleich umso größer war. Sora hatte ihr viel Verständnis entgegen gebracht, ihr den nötigen Mut gegeben, ehrlich zu sein und sie ebenfalls bestärkt an der Schnitzeljagd teilzunehmen. Und sie hatte sich vorgenommen, für Noriko zu gewinnen. Nach langen Überredungsversuchen schafften es Chiaki und Mimi tatsächlich Masaru dazu zu bringen, mitzumachen. Gemeinsam begaben sie sich auf das Gelände der Hiroo Oberschule, trennten sich aber kurz danach, da Mimi noch einmal in den Musikraum wollte, indem sie mit Noriko viel Zeit verbringen durfte. Sie schritt langsam umher, ging an dem Klavier vorbei, wo sie immer komponiert hatten und fuhr mit den Fingern die Tasten entlang. Sie hörte keinen einzigen Ton erklingen und blickte finster zu Masaru, der auf der gegenüberliegenden Fensterbank saß. „Wann ist es kaputt gegangen?“, fragte sie traurig und nahm die Finger von den kühlen Tasten. „Schon vor zwei Wochen...unser Orchesterleiter meinte, es sei schon sehr alt gewesen, aber die Schule wird sich wohl erst neue Blasinstrumente anschaffen, bevor sie sich um das Klavier kümmern werden“, erklärte er mit bebender Stimme. Er war nervös, dass konnte Mimi heraushören. Sie legte ein leichtes Lächeln auf die Lippen und setzte sich auf einen der freien Stühle. „Es freut mich, dass du doch noch mitmachst“, sagte sie erleichtert, da sie die Hoffnung beinahe aufgegeben hätte. Masaru konnte manchmal ein Sturkopf sein, wie es im Buche stand, doch auch er wollte Norikos Wunsch erfüllen. Selbst Etsuko war gekommen, um das Spektakel zu filmen und Ausschnitte für ihre Dokumentation zu verwenden, die sie bald fertigstellen wollte. Leider hatte Masaru mit seiner Vermutung Recht behalten, da auch Hideaki mit seiner Band teilnehmen wollte. Seit Mimi die Geschichte der beiden kannte, konnte sie Masarus Abneigung gegenüber ihm nachvollziehen. Es war nicht fair, was er gemacht hatte. Noch unfairer war das Verhalten von Masarus Vater, der Hideaki regelrecht vor die Wahl gestellt hatte. „Und wie geht’s dir?“, hakte Mimi nach, nachdem Masaru nicht geantwortet hatte. Er zuckte nur mit den Achseln und blickte stur aus dem Fenster. „Ich bin zwar nicht froh, dass er mitmacht, aber vielleicht begegnen wir ihm ja während der Schnitzeljagd kaum und danach ist er eh erstmal weg“, murmelte er beruhigt. Verwundert hob Mimi die Augenbraue an und betrachtete Masaru argwöhnisch. „Wie er ist danach erstmal weg?“ Masaru richtete sein Gesicht wieder zu ihr und blickte sie unbeeindruckt an. „Hab ich dir das noch nicht erzählt?“, fragte er verwirrt. Mimi schüttelte nur den Kopf. „Er geht mit seiner tollen Band auf Tour. In Amerika, für mindestens sechs Monate. Sie haben sogar eine Vorband“, meinte er spöttisch und rümpfte die Nase. „Die Vorband ist bei euch sogar recht bekannt. Wie heißen die nochmal?“ Er überlegte kurz und nahm eine Denkerposition ein, indem er sich mit Zeigefinger und Daumen am Kinn entlang rieb. „Ach ja, die Teenage Wolves!“ Mimis Augen weiteten sich. „WAS?“, platzte aus ihr hervor, da sie sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte, dass Matt ausgerechnet mit so einem Idioten auf Tour gehen wollte. „Ah, du kennst sie also. Ich habe von irgendjemandem gehört, dass sie vor ein paar Monaten nach einer Vorband gesucht hatten, aber es hatten sich wohl nicht allzu viele beworben, aber das liegt wohl an Hideakis Art.“ Mimi nickte und kaute geistesabwesend auf ihrem Daumennagel herum. Sollte sie Masaru sagen, dass sie Matt sogar besser kannte, als ihr eigentlich lieb war? Er wusste schließlich von der Sache, aber…nein! Sie musste, alles einfach hinter sich lassen. Sie hatte nur ein schlechtes Gewissen, das durch die letzten Wochen verstärkt wurde. Es konnte ihr doch egal sein, dass ausgerechnet Matt mit Hideaki auf Tour gehen würde. Deswegen würde sie noch lange nicht nachsichtig werden. Noriko hatte sie angemeldet, damit sie ihr Bestes gaben und vielleicht sogar gewannen. Mimi durfte sich deshalb nicht ablenken lassen. _ „Wo bleibt ihr denn nur?“, fragte Etsuko aufgebracht und wedelte schwerfällig mit ihrer Kamera umher. Neben ihr stand ihr Tonassistent Kota, den Mimi lediglich vom Sehen kannte. Sie begrüßte ihn kurz, als auch schon der Schuldirektor der Hiroo Oberschule alle Teilnehmer begrüßte. „Darfst du hier überhaupt filmen?“, fragte Chiaki, der zwischen Etsuko und Mimi stand. „Natürlich“, sagte sie überzeugend, „Ich filme ja nur öffentliche Plätze und hier in der Schule habe ich selbstverständlich um Erlaubnis gebeten.“ Sie verdrehte die Augen, stupste Kota an und signalisierte ihm, dass sie weiter nach vorne gehen sollten. Danach war sie für kurze Zeit verschwunden und filmte den Anfang wahrscheinlich von einer anderen Perspektive. Mimi hingegen hörte gespannt zu, wie der Direktor von Kenzo Wantanabes Werdegang erzählte und die letzte Schnitzeljagd kurz thematisierte. „Bevor es nun losgeht, möchte ich noch erwähnen, dass eine ehemalige Schülerin von uns die heutige Schnitzeljagd etwas mit der Kamera begleiten wird. Verwendet werden die Aufnahmen für ihr Abschlussprojekt“, erklärte er, während Etsuko die aufgeregte Menge filmte. Chiaki stöhnte leise und stupste Masaru an, der seine Reaktion nur mit einem Kopfschütteln quittierte. „Okay dann beginnen wir nun“, kündigte er an und ließ die weiße Wand hinter sich anstrahlen. r = a * Phi M-A Minato „Also, so eine Formel hatte ich noch nicht in der Schule“, meldete sich Yasuo zu Wort und starrte wie Mimi zur Wand. Mathe. Damit hatte sie wirklich nicht gerechnet. Verzweifelt sah sie zu den Jungs, die konzentriert zur Wand stierten. „Vor ihnen sehen sie eine Formel. Es ist eine besondere Formel, die auch in der Musik ihre Wichtigkeit hat. Mehr wird jedoch nicht verraten. Ich wünsche ihnen nun viel Erfolg und Spaß bei unserer diesjährigen Schnitzeljagd“, verabschiedete sich der Schuldirektor und ließ alle Mitmachenden ratlos zurück. Eine allgemeine Unruhe zog sich durch die große Runde. Einige schienen schon ein paar Ideen zu haben und entfernten sich von der größeren Gruppe, während Mimi ratlos drein blickte. „Was soll das denn heißen?“, fragte sie hilflos und wandte sich zu den Jungs. Yasuo schien genauso ratlos wie sie, während Chiaki und Masaru fleißig grübelten. Nachdem sich jedoch immer mehr von ihnen entfernten, wurde Mimi immer unruhiger. Kurze Zeit später traf Etsuko wieder bei ihnen ein. „Und habt ihr schon eine Idee? Ein paar sind schon weg“, informierte sie die kleine Gruppe mit Nachdruck. „Warum muss es ausgerechnet Mathe sein?“, knurrte Mimi, als hätte der Veranstalter ihre Matheschwäche gerochen. Am liebsten würde sie diesen Kenzo Watanabe den Hals umdrehen. „Ich glaube, ich hab’s!“, kam es von Masaru und zog direkt die Aufmerksamkeit der anderen auf sich. „Na los, spuck es schon aus“, drängelte Chiaki, doch Masaru veranlasste die Gruppe dazu, ihm unauffällig zu folgen. Als sie ein paar Meter von Schulgelände entfernt waren, unterbreitete Masaru seine Idee. „Kennt einer von euch die Archimedische Spirale?“ Mimi runzelte augenblicklich die Stirn, da ihr diese komische Spirale rein gar nichts sagte. Auch Yasuo schien nur bedingt zu verstehen, was gemeint war. „Wird sie nicht als Speichermedium für Schallplatten und CDs verwendet?“, warf Chiaki neugierig ein. Masaru bestätigte seine Aussage durch ein Nicken. „Genau und das ist die mathematische Formel der Archimedischen Spirale und das da unten muss eine Adresse sein. Minato ist ein Bezirk von Tokio“, schlussfolgerte er scharfsinnig, als Etsuko auf einmal applaudierte. „Wow, du bist echt ein Genie“, sagte sie ein kleinwenig arrogant. „Was machst du eigentlich noch hier? Du weißt doch schon alles und sollst die Schnitzeljagd filmen“, murrte Masaru und fixierte Etsuko mit einem vielsagenden Blick. „Ja, ja, aber trotzdem liegt mein Fokus auf euch und ich wollte nur nochmal Yasuo erinnern, in meiner Abwesenheit, alles mit der kleinen Kamera zu filmen. Das gibt nachher die ultimative Perspektive“, antwortete sie gelassen und wuschelte dem Jüngsten durch die Haare. Masaru verdrehte nur die Augen und widmete sich wieder dem Rest. „Und was soll M-A bedeuten?“, hakte Mimi nach, da sie damit rein gar nichts in Verbindung bringen konnte. Nach einer Weile war Etsuko mit samt ihres Tonassistenten wieder verschwunden, als Chiakis plötzlich eine Eingebung hatte. „Wartet mal, gibt es in Minami-Aoyama, einem der Stadtteile von Minato, nicht so ein Gebäude, dass innen drinnen spiralförmig verläuft?“ „Stimmt, das Spiral Building!“, sagte Masaru und fasste sich an die Stirn. „Da gibt es doch auch immer diese besonderen Kunstaustellungen.“ „Dann muss es das sein!“, beschloss Chiaki überzeugt. „Wir müssen da hin!“ _ Missmutig schleppte sie sich von Ziel zu Ziel. Sie hatte nicht das Gefühl eine sonderlich große Hilfe für die anderen zu sein. Die meisten Rätsel lösten Chiaki und Masaru, während Mimi nur dumm nebendran stand und noch nicht mal verstand, was von ihr verlangt wurde. Nach und nach holten sie immer mehr auf, was ihnen Etsuko freudig berichtete, als sie an einer Zwischenstation ankamen. Vom Ehrgeiz gepackt, stachelten sich die Jungs immer mehr an, während Mimi allmählich das Interesse verlor. Sie hatte es sich irgendwie anders vorgestellt. Die Fragen, die gestellt wurden, deckten sämtliche Bereiche der verschiedensten Disziplinen ab und hatten dennoch immer einen Bezug zur Musik und anderen künstlerischen Fachrichtungen. Sie war frustriert, weil sie so wenig helfen konnte und sich so vorkam, als würde sie ihre Gruppe mehr behindern, als das Gegenteil zu bewirken. Selbst Yasuo hatte eine Aufgabe gefunden, in der er gut war. Er filmte das mit, was Etsuko nicht mitbekam und richtete die Kamera auf alles und jeden. Mittlerweile waren sie auf der Suche nach dem nächsten Hinweis. Es war bereits Abend geworden, als sie den Yoyori-Park erreichten. Das Zentrum des Parks bildete ein riesiger See, um den ringsherum Kirchbäume gepflanzt waren, die noch etwas kahl aussahen. Der Winter war zwar recht mild gewesen, doch Mimi sehnte sich jetzt schon nach ein paar Stunden Sonne am Stück. Schwerfällig ließ sie sich auf einer der Bänke nieder und sah sich um. Mimi konnte sich gut vorstellen, dass hier viele Musik-und Tanzfeste stattfanden und der Park ein anziehender Treffpunkt für viele Musiker war. „Man Mimi, jetzt beweg‘ deinen Arsch hier her! Wir haben den nächsten Hinweis gefunden“, kam es von Masaru, der etwas genervt klang. Mimi seufzte nur leise und bewegte sich langsam zu den anderen. Sie konnte doch sowieso nicht helfen. Sie war viel zu blöd für alles, hatte keine Ahnung von Mathe oder sonstigen Naturwissenschaften. Und auch auf zwischenmenschlicher Basis schien sie komplett versagt zu haben. Vielleicht war es doch keine gute Idee gewesen mitzukommen, auch wenn es Norikos Wunsch war. Niedergeschlagen begab sie sich zu den Jungs, die den Zettel, der an einem Kirchbaum abgebracht war, in ihren Händen hielten. Masaru sah zu Chiaki, so als hätte er keine Ahnung, was es diesmal zu bedeuten hatte. „Willst du ihn dir mal angucken?“, fragte er hoffnungsvoll. Mimi sah zu ihm auf und nickte widerwillig. Wahrscheinlich hatte sie ebenfalls keine Ahnung und würde sich nur lächerlich machen. Doch als sie den Hinweis sah, wurde sie stutzig. Have I gone mad? I'm afraid so. You're entirely bonkers. But I'll tell you a secret. All the best people are. Plötzlich erinnerte sie sich an etwas. An etwas, dass sie verdrängt hatte, weil es zu sehr wehtat. Mimi schluckte und sah zu den Jungs, die ihr neugierige Blicke zuwarfen. „Und? Hast du eine Idee?“ Mimi sagte nichts, sondern nickte nur schwach. Sie wusste genau, wo es als Nächstes hinging. _ „Was ist das denn?“, fragte sie neugierig und klappte den Flyer auf. „Alice in Wonderland?“ Verwirrt richtete sie den Blick zu Noriko, die auf ihrem Bett saß und müde aussah. Doch Alice trieb ihr sofort die Euphorie ins Gesicht. „Ja, das ist ein englisches Theaterstück über die neuen Abenteuer von Alice im Wunderland. Sie kommen nächstes Jahr im März nach Japan, um es aufzuführen!“, erzählte sie begeistert. Mimi lächelte verhalten und klappte den Flyer wieder zu. März. Bis dahin war es noch lange hin. In dieser Zeit konnte noch viel passieren. „Wollen wir da zusammen hingehen? Ist bestimmt voll spannend! Man sieht alle Charaktere auf der Bühne. Den Hutmacher, die Grinsekatze, das weiße Kaninchen, die Herzkönigin und ihre Gefolgschaft. Lass uns da unbedingt hingehen“, sagte sie strahlend, sodass sie für den Moment gar nicht krank wirkte. Mimi presste die Lippen aufeinander und krallte ihre Nägel in das dünne Papier. Sie war sich nicht sicher, was sie sagen sollte, auch wenn ihr Herz ihr eine klare Anweisung gab. „Natürlich, wir werden Alice ganz sicher anfeuern und mit ihr mitfiebern, versprochen.“ Sie erinnerte sich an diesen Moment, so als wäre es erst gestern gewesen. Als Noriko ihr den Flyer zeigte, ging es ihr bereits sehr schlecht. Mimi wusste, dass sie ihr etwas Unmögliches versprochen hatte, aber jede rationale Erklärung, hätte ihre letzten Hoffnungen zerstört – und das konnte sie ihr nicht antun. Alice war ihre Heldin, sie hätte es verdient gehabt, sie live zu sehen. Mit der U-Bahn gelangten sie schnell an den Ort, der Mimi in Erinnerung gekommen war. „Das Theater?“, skeptisch hob Masaru die Augenbraue, da er den Zusammenhang noch nicht verstanden hatte. „Ja, das Theater“, wirbelte Mimi herum. „Die Sätze kamen mir gleich bekannt vor, weil ich sie mal auf einem Flyer gelesen hatte. Ab nächster Woche wird hier die Geschichte von Alice im Wunderland weitererzählt.“ Aus der Ferne konnte man ein großes Plakat erkennen, dass das weiße Kaninchen mit seiner Taschenuhr zeigte. Anerkennend klopfte Masaru ihr auf die Schulter und auch Chiaki und Yasuo schienen beeindruckt. Gerade als sie mit der Suche des nächsten Hinweises beginnen wollten, erschien auch die Gruppe von Hideaki, der überrascht war, schon jemanden anzutreffen. „Na, wen haben wir denn da?“, tönte er überheblich wie immer. „Ist ja interessant, dass wir mal zeitgleich irgendwo eintreffen, sonst wart ihr doch weit hinter uns.“ „Halt deine dumme Fresse“, platzte aus Masaru hervor, der ihn feindselig musterte. „Sitzt dein Strumpfhöschen zu eng, oder warum wirst du so ausfallen?“, grinste er süffisant und sah ihn niederträchtig an. Mimi glaubte sich schon verhört zu haben, doch seit ihre einstige Beziehung in die Brüche gegangen war, hatten sich beide wohl nicht mehr viel zu sagen. Jedenfalls nichts mehr Nettes. „Was ist dein verdammtes Problem? Ich kann wenigstens zu dem stehen, was ich bin und was nicht. Ich ziehe nicht einfach so den Schwanz ein, wenn‘ s Probleme gibt.“ Seine Worte hörte sich nach einer indirekten Anklage an, was Hideaki auch als solche verstand. Er packte ihn am Kragen, fletschte die Zähne, während sich ihre Gesichter immer näher kamen. Chiaki stand angespannt neben Mimi, bereit jeden Augenblick einzugreifen. Auch Hideakis Gefolgschaft beobachtete das Ganze mit Argwohn, hielten sich allerdings vorerst bedeckt. „Ich habe dir schon tausend Mal gesagt, dass du darüber hinweg kommen sollst“, giftete er, ließ ihn jedoch abrupt wieder los. „Lasst uns gehen, die lenken uns nur ab.“ Ohne ein weiteres Wort an Masaru zu verlieren, wandte er sich von ihm ab und ging mit seiner Gruppe zum Eingang des Theaters. Masaru sah ihm immer noch hinterher. Sein Blick wirkte wie eingefroren, sodass Mimi bedacht ihre Hand auf seinen Oberarm legte. Er reagierte nicht sofort, sondern schnaufte nur herzlich. „Darüber hinwegkommen? Er ist doch selbst nicht drüber hinweg“, murmelte er nur und steuerte auf seinen Bruder zu, der die ganze Zeit bereits nach dem nächsten Hinweis gesucht hatte. Mimi blieb immer noch an der Stelle stehen und sah hilflos zu Chiaki, der nur auf sie zugeschritten kam und den Arm um sie legte. „Er kommt schon damit klar, mach‘ dir nicht so viele Sorgen.“ Mimi lächelte nur matt, als Chiaki den Arm von ihr löste und ebenfalls zu den anderen ging. Sie ließ sich ein bisschen Zeit und hörte nur noch, wie Yasuo unvermittelt zu brüllen begann. „Ich hab ihn!“, rief er freudig und kam aus einem nahegelegenen Busch gesprungen. Ein paar kleine Äste hatten sich in seinen Haaren verfangen, als er stolz den kleinen Zettel in die Lüfte hielt. „Na los mach‘ ihn schon auf“, drängelte Masaru und riss ihn Yasuo förmlich aus der Hand, weil er zu langsam war. Treue war seine hervorstechendste Charaktereigenschaft. Wartete Tag für Tag aufs Neue, bis der Tod ihn mit seinem Besitzer vereinte. Doch noch heute, ist er dort zu finden, wo er einst wartete. „Und was soll das schon wieder heißen?“ Es war der letzte Hinweis und wohl auch der Schwerste von allen. Sie grübelten gemeinsam, doch keiner schien darauf zu kommen, was damit gemeint war. „Wir müssen uns beeilen, nachher sind sie noch vor uns da!“, nörgelte Masaru und hatte die andere Gruppe stets im Blick. Nach und nach trudelten weitere Teilnehmer ein und machten sich auf die Suche nach ihren Zetteln. Es war wichtig unter die ersten vier zu kommen, die nochmal in einem Art Showdown aufeinander trafen. Meist wurde gegeneinander gesungen, doch das durfte man nur, wenn man rechtzeitig am letzten Standort ankam. „Was meinen die denn mit Besitzer? Ich bin gerade völlig überfragt“, gab Chiaki zu und rieb sich die Stirn. „Vielleicht meinen sie ja Hachiko“, sagte Yasuo auf einmal. „Der hat doch auch immer auf sein Herrschen gewartet, bis er gestorben ist. Und jetzt gibt es dort die Hundestatue.“ Alle drei sahen sich kurz argwöhnisch an und schienen zu überlegen, was Yasuo gerade gesagt hatte. „Das ist genial! Natürlich!“, kam es von Masaru, der auf Yasuo zustürmte und ihm fast die Kamera aus der Hand warf. Er drückte ihn fest an sich und zupfte ein paar Äste aus seinen Haaren. „Wir sollten los!“, bestimmte er ohne jeden Zweifel. „Wir werden das Ding hier gewinnen.“ _ Als sie die Hundestatue erreichten, sahen sie bereits, wie Etsuko ihnen freudig zuwinkte und die Kamera auf sie gerichtet hatte. „Ihr seid die Zweiten“, rief sie fröhlich, während Mimi schnaufend ausatmete. Ihre Lunge brannte wie Feuer und ihr wurde mal wieder bewusst, wie wenig Sport sie gemacht hatte. Masaru hatte sie regelrecht zum Treffpunkt gehetzt, sodass Mimi keine Zeit zum Verschnaufen hatte. „Und was passiert jetzt als Nächstes?“, wollte Yasuo wissen und erspähte aus der Ferne einen Kleinbus, der auf der anderen Straßenseite parkte. „Jetzt heißt es erstmal warten“, meinte Etsuko und schaltete die Kamera aus. Kota seufzte erleichtert und fuhr sich über seine schweißnasse Stirn. Er sah aus, wie durch die Mangel gedreht und schenkte Etsuko den ein oder anderen bösen Blick. „So eine Hexe“, zischte er, als sie außer Reichweite war. Mimi musste grinsen und konnte sich durchaus vorstellen, das Etsuko anstrengend sein konnte. Sie war eben eine Perfektionistin, die sich nur mit dem Besten zufrieden gab. Nach und nach tauchten weitere Gruppen auf. Direkt nach ihnen trafen Sense of Rhythm ein, die sich automatisch für das große Finale qualifizierten. Keiner hatte eine Ahnung, was sie erwartete, alle wussten nur, dass es etwas mit Musik zu tun hatte. „Und wie geht es jetzt weiter?“, fragte Mimi und lehnte sich gegen eine Mauer. Als hätte er diesen Moment abgewartet, tauchte plötzlich Kenzo Watanabe hinter dem Kleinbus auf. Mimis Augen weiteten sich und ihr Herz stockte. „Oh mein Gott, das ist er!“, rief sie und deutete zur Mitte. Eine große Menschentraube bildete sich unvermittelt und Mimi drängelte sich mit den anderen nach vorne. „Herzlich Willkommen“, begrüßte Kenzo sie und war nach Mimis eigenem Empfinden etwas zu kurz geraten. „Es freut mich, dass ihr alle wohlbehalten hergefunden habt! Allerdings gab es auch diesmal vier Gruppen, die besonders schnell waren”, führte er fort und las die Namen laut vor. Man meldete sich generell als Gruppe an, was Noriko schon für sie erledigt hatte. Die meisten waren bereits schon bestehende Bands, oder spielten zusammen im Schulorchester. Gespannt richtete Mimi den Blick auf diesen faszinierenden kleinen Mann, der die letzte Aufgabe erteilte. „Der Fokus liegt auf der Musik. Es ist das, was sie alle miteinander verbindet…daher zeigen sie, was sie können. Werden sie kreativ! Sie haben eine Stunde Zeit! Instrumente sind reichlich im Kleinbus vorhanden und wurden von der Stadt Tokio zur Verfügung gestellt. Viel Erfolg!“, er grinste und verschwand aus dem Mittelpunkt des Geschehens, als das Gerede untereinander begann. „Ihr wisst, welchen Song wir spielen, oder?“, hakte Masaru dringlich nach. Allen sahen sich untereinander an, brauchten aber nicht zu antworten, da jeder wusste, dass es das Richtige war. Der Song war perfekt. Von der Euphorie getrieben, versammelten sich die letzten vier Gruppen vor dem Kleinbus, der die entsprechenden Instrumente rausgab. Es wurden nur Akustikinstrumente verteilt, die die Unverfälschtheit der Musik fördern sollten. Alles sollte eine stabile robuste Klangmauer ergeben, die nichts zum einstürzten bringen konnte. Nach kurzen Absprachen begann das große Finale. Etsuko stellte sich wieder auf Position und drangsalierte Kota herum, der auf einen guten Ton achten sollte. Alle Unbeteiligten standen in einem großen Kreis, in der Nähe der Hachiko Statue, während sich die vier übriggebliebenen Gruppen startklar machten. Mimi wurde immer nervöser und ihre Hände fingen an zu schwitzen, als sie feststellte, dass nur die Besten der Besten vertreten waren. Wie der Zufall es wollte, waren sie die dritte Gruppe, die noch vor Sense of Rhythm antreten durfte. Doch Mimi wurde immer unsicherer, je mehr Strophen, kreative Soloparts mit Rapeinlage und interessante Musikeinlagen sie hörte. Sie sah kurz zu Hideaki, der verbissen auf seinem Daumennagel herumkaute. Auch er musste wohl feststellen, dass sie anderen Bands alles andere als schlecht waren. Und jeder wollte gewinnen. Gerade als die zweite Gruppe angefangen hatte zu spielen, sanken Mimis Hoffnungen ins Bodenlose. Mit einer interessanten Mischung aus modernen und traditionellen Instrumenten, brachten sie das Publikum zum Ausrasten. Auch Mimi musste zugeben, dass sie die Mischung zwischen Geige, Gitarre und modernen Rap äußerst faszinierend fand. Doch sie wollte nicht verlieren. Sie durften nicht verlieren. Nicht nachdem sie sich vorgenommen hatte, das Geld für etwas Sinnvolles auszugeben. Traurig verfolgte sie den Gig und bemerkte erst gar nicht, wie jemand ihre Schulter berührte. Sie schnellte herum und runzelte die Stirn, als sie auf einmal Hideaki neben sich sah. „Bevor du was sagst, hör‘ mir einfach zu, okay?“ Verwirrt hielt sie inne und spitzte gespannt die Ohren. „Ich schätze mal, dass ihr genauso gewinnen wollt wie wir“, sagte er geheimnisvoll und zog sie etwas weiter nach hinten. „Ich hätte ein Plan, wie wir beide profitieren könnten.“ _ Sie stand in der Mitte und atmete unruhig. Sie blickte hinter sich und sah wie Masaru sie kurz fixierte. Mimi konnte sich vorstellen, dass er die Idee alles andere als gut fand, aber er musste sie verstehen. Sie tat es ja schließlich nicht für Hideaki, sondern für sie. Angespannt nickte sie den Jungs zu, die sich bereit machten. Dann richtete sie ihren Blick wieder nach vorne, schloss die Augen und kontrollierte ihren Puls. Sie hörte wie die Gitarre einsetzte und ihr eine Richtung wies. Sie öffnete die Augen, richtete sie weit in den unendlichen Nachthimmel, als die Musik sie erfasste und mit sich trug: Flashing lights and we Took a wrong turn and we Fell down a rabbit hole. I want to hide the truth I want to shelter you But with the beast inside There's nowhere we can hide Mimi drehte sich zu der Stimme, die ertönte. Die gesamte Aufmerksamkeit wurde darauf verlagert und von Mimi gewandt, die sich auf die verschiedenen Klänge und Töne konzentrieren musste, um ihren Einsatz wiederzufinden. Aus der Menge trat Hideaki, der sie fast schon provokant herausforderte, gegen ihn zu singen. Der Rest seiner Band formierte sich und stand ihnen gegenüber, als Mimi forsch voranschritt und direkt vor ihm zum Stehen kam. Sie stemmte die Hände in die Hüfte und lächelte überlegen. Der Krieg konnte beginnen. But darling, we found wonderland You and I got lost in it And we pretended it could last forever When you feel my heat Look into my eyes It's where my demons hide Es war ein Kampf, um Stärke und Schwäche. Um Gewinn und Verlust. Doch nur gemeinsam hatte sie eine Chance zu gewinnen. Sie standen zu acht in dem kleinen Kreis, begegneten sich stimmlich immer wieder aufs Neue, dominierten einander, spielten mit ihren Reizen, die in Form ihrer harmonievollen Stimmen miteinander tanzten. Mimi hob die Arme, ging rückwärts und gesellte sich zu den Jungs, die eine Einheit gegen die anderen bildeten. Hideaki blieb in der Mitte stehen, teilte sein Anliegen durch seinen lyrischen Text mit, schritt zurück und machte erneut Platz für Mimi, die sich besonders vor der nächsten Strophe fürchtete. Es waren nicht ihre Worte, die sie sang. Sie bedeuteten so viel mehr, als das. Es war ein Versprechen, dass sie einhalten wollte. Es waren ihre letzten Worte. Sie ging auf Hideaki zu, tippte ihm kraftvoll gegen die Brust und musterte ihn vielsagend. Ihre Kehle brannte und sie bekam unheimlichen Durst, der ihr nur ihre eigene Angst klar werden ließ. Das so viel Wahrheit in ihren Sätzen lag. Sie hatte ihr die Inspiration geliefert, ihr praktisch die Worte in den Mund gelegt, da sie genau wusste, was Noriko mit diesem Song bezweckt hatte. Sie war gegangen, doch blieb unvergessen. Sie lebte weiter. War ein Teil des Himmels geworden, der nun auf sie herabschaute und diesen Moment möglicherweise mehr genoss als sie. Allein deswegen, konzentrierte sie sich genau auf die Worte, die sie sang. Füllte sie mit all ihrer Liebe und brüllte sie in die Welt, damit jeder sie hören konnte. I reached for you but you were gone I knew I had to go back home You search the world for something else to make you feel like what we had And in the end in wonderland we both went mad. Your eyes, they shine so bright I want to save their light I can't escape this now Unless you show me how Mimi spürte sämtliche Gefühle auf die niederprasseln. Sie war gepackt von Wut, Schmerz, Trauer aber auch Hoffnung, die alles andere ausschaltete. Vollkommen beflügelt, zauberte sich ein Lächeln auf ihre Lippen. Sie fühlte den Rückhalt, den ihr Masaru und die anderen gaben. Glücklich sah sie zu Etsuko, die fast vorm Ausrasten stand. Es war wie ein Befreiungsschlag, der alles Negative und Schlechte zerstörte und ihrer Seele die Chance zur Heilung gab. Das Leben war nie leicht. Es hatte Höhen und Tiefen, beinhaltete Schmerz und Trauer, aber auch Hoffnung und Liebe. Und wenn Mimi sah, wie viele Menschen es gab, die sie liebten und dies auch mit all ihren Fehlern taten, machte es sie unsagbar glücklich im hier und jetzt zu leben. Es war nicht leicht, nein. Aber das war okay. Daher bereitete sie ihre Arme aus, spürte den Wind, der ihre Haare zerzauste und sang mit voller Gefühl die letzten Zeilen des Songs, der ihr die Stärke gab, loszulassen. We found wonderland You and I got lost in it And we pretended it could last forever Kapitel 58: Menschliche Fehler ------------------------------ „Ich kann immer noch nicht fassen, dass ihr tatsächlich gewonnen habt. Schade, dass ihr das Geld teilen müsst“, meinte Etsuko und öffnete eine Dose Cola. „Genau genommen war es ja auch Hideakis Idee. Er hat uns wohl belauscht, wie wir geprobt hatten und fand, dass unsere Songs gut miteinander harmonieren würden“, antwortete Mimi und setzte sich auf einen freien Stuhl. „Er ist trotzdem ein Idiot“, grummelte Masaru und nippte an seinem Bier. „Aber immerhin können wir ein neues Klavier kaufen! Idiot hin oder her“, sagte Mimi freudig und lehnte sich zurück. Etsuko verrollte nur die Augen und schloss mit einer Hand ihren Laptop am Beamer an, da sie ihnen einige Filmszenen schon vorab präsentieren und von jedem noch eine Einzelaufnahme machen wollte. Direkt nach der Schnitzeljagd hatte sie sich mit Yasuo getroffen und seine, mit ihren Filmaufnahmen, gemeinsam ausgewertet. Sie hatten vormittags die Bar meist für sich und waren zu fünft, als Chiaki sich vor zehn Minuten kurz nach draußen verzog. Er sagte, er wollte kurz frische Luft schnappen, war jedoch immer noch nicht zurückgekehrt. Sorgenvoll musterte Mimi die Hintertür, aus der er verschwunden war. Beide hatten seit Norikos Tod nicht sonderlich viel miteinander gesprochen gehabt, sondern kommunizierten mehr durch die Musik, statt wirklich zu reden. Unruhig rutschte sie ihren Stuhl rauf und runter, während sich Masaru belanglos mit seinem Bruder unterhielt, der schon vollkommen euphorisch durch die Gegend hampelte. Etsuko war immer noch mit dem Beamer beschäftigt, als Mimi sich erhob und vorgab auf die Toilette zu verschwinden. In einem unbeachteten Augenblick huschte sie zur Hintertür hinaus und schloss diese bedacht. Sie musste nicht lange suchen, um Chiaki zu finden, der auf einem kleinen Mauervorsprung saß und in den Himmel stierte. Er hatte sie noch nicht mal bemerkt, als sie sich langsam zu ihm hinbewegte. Sie stieg zu ihm hoch und berührte leicht seine Schulter, als er sich prompt erschreckte und ins Straucheln kam. „Man Mimi, musst du mich so erschrecken?“, fragte er als er sich wieder gefangen hatte und seine Hand gegen seinen Brustkorb drückte. Chiaki machte ihr sofort Platz, sodass sie sich setzen konnte. „Warum kommst du nicht rein? Etsu ist sicher gleich fertig und will…“ „Ich weiß nicht, ob ich schon bereit bin, dass alles zu sehen“, unterbrach er sie und sah augenblicklich in die andere Richtung. Er biss sich auf die Unterlippe und verzog qualvoll das Gesicht. „Ich habe meinen Eltern noch nicht mal das mit der Hochzeit erzählt und jetzt sitze ich hier und ärgere mich, dass auf ihrem Grabstein Yamaguchi stehen wird“, sagte er von Trauer zerfressen. Mimi schluckte und hatte keine Ahnung, was sie ihm daraufhin antworten sollte. Die Hochzeit war immer ein unausgesprochenes Geheimnis zwischen ihnen geblieben, dass keiner einfach so preisgeben wollte. Mimi schielte unauffällig auf seinen Ringfinger und stellte fest, dass er den Ring immer noch trug und noch nicht abgelegt hatte. „Meinen Eltern habe ich gesagt, dass es ein Freundschaftsring sei“, erwiderte er unvermittelt, nachdem Mimi zu lange auf seine Hand gestarrt hatte. Er zog die Finger ein und sah beschämt zu Boden. „Ich habe das Gefühl, sie verleugnet zu haben, auch wenn wir es von Anfang an für uns behalten wollten. Unsere Eltern hätten es eh nicht für gut gefunden, in unserem Alter zu heiraten. Schon gar nicht unter diesen Umständen“, er fuhr sich schnell über seine Augenpartie und zog ungeniert die Nase hoch. Betroffen senkte Mimi den Kopf und zog ihre Beine näher an ihren Körper. „Ich habe erst vor kurzem meiner besten Freundin von ihr erzählt. Es hat Monate gedauert, bis ich mich jemandem anvertraut hatte und trotzdem weiß so gut wie gar keiner über sie Bescheid“, murmelte sie und fixierte einen unbestimmten Punkt an der Wand. „Ich weiß noch nicht mal wieso. Es hat so wehgetan, alles nach und nach zu erfahren, dass ich einfach nur mit mir beschäftigt war und keinem erzählen konnte, was ich für einen tollen Menschen ich als Schwester hatte.“ Chiaki legte den Kopf schief und bettete ihn auf seinen Knien. „Vielleicht ist das manchmal auch einfach so. Das man sich erst selbst heilen muss, bevor man andere an sich heranlassen kann.“ „Meinst du? Sie war mein größtes Geheimnis, obwohl ich das eigentlich gar nicht wollte“, antwortete sie verzweifelt. „Du wolltest dich selbst schützen. Ich kenne so viele Menschen, die Noriko herablassend angeguckt haben, weil rauskam, dass ihr Vater die Familie verlassen hatte. Die meisten kannten noch nicht mal den wirklichen Grund, aber wir leben in einer Gesellschaft, in der du schneller dein Gesicht verlieren kannst, als dir liebt ist“, sagte er in einem aufbrausenden Ton. „Es ist egal, wie liebevoll und engelsgleich ein Mensch ist, es zählt nur dein Ruf, der durch Nichtigkeiten zerstört werden kann.“ Er ballte die Fäuste, während Mimi ihn nachdenklich anblickte. Sie konnte sich denken, was er meinte. Oft hatte sie mitbekommen, wie Noriko und Ayame von ihren Nachbarn herablassend angesehen wurden, auch wenn sie ihre Geschichte nicht kannten. Es gab eben keinen Vater und die Geschichten entwickelten ein Eigenleben. Es war unfair. Doch Menschen konnten nun mal grausam sein. Mimi atmete tief ein und sammelte sich langsam wieder. Sie war schließlich nicht grundlos zu Chiaki gegangen. „Trotzdem sollten wir uns nicht unterkriegen lassen und den Menschen zeigen, wer sie wirklich war. Das war ihr Wunsch und den sollten wir ihr auch erfüllen.“ „Ich weiß, aber…“ Er hielt inne und legte seinen Lippen fest aufeinander, als Mimi sich zu ihm vorbeugte und seine Hand fest drückte. „Du kennst sie besser als jeder andere, bitte lass‘ uns reingehen“, bat sie ihn hoffnungsvoll. Wie erstarrt blickte er sie an, schien mit sich selbst zu kämpfen, bis er sich langsam regte, aus ihrem Griff befreite und bereitwillig die Mauer verließ. Mimi sah ihm zuerst etwas verdattert nach, lächelte aber dann, als er ihr die Hand hinstreckte und bereit war, ihren Weg gemeinsam weiterzugehen. _ Die nächste Woche rauschte einfach so an ihr vorbei und war gespickt mit diversen Vorbereitungen, die ihre volle Aufmerksamkeit forderten. Takeru und Hikari hatten sich spontan in den Kopf gesetzt, eine kleine Abschiedsparty für Matt und Sora zu schmeißen, weshalb sie sämtliche Kräfte mobilisierten. Gemeinsam hatten sie eine kleine Feier organisiert, die sie in der gleichen Halle ausrichteten, wie Tais Geburtstag. Die Party war bereits schon voll im Gange, als Mimi sich zurückhaltend auf einen der Tische hockte. Sie hatte Tai bereits gesehen, der immer noch nicht mit ihr sprach und lieber auf Abstand ging, als mit ihr zu reden. Der Rest amüsierte sich ausgelassen. Davis tanzte gemeinsam mit Ken und Yolei, während Kari und TK wild umherwuselten und sich um das Wohlbefinden aller kümmerten. Sora und Matt hatten sich sehr über ihre kleine Überraschungsparty gefreut, auch wenn Mimi beide aus ihrem Blickfeld verloren hatte. Nachdem sie ihren Becher leergetrunken hatte, machte sie sich auf die Suche nach ihrer besten Freundin, um noch etwas Zeit mit ihr genießen zu können. Sie ging an einem Abstellraum vorbei, als sie abrupt stehen blieb und leise zurückschlich. Die Tür war einen Spalt geöffnet und Mimi konnte zwei Personen ganz klar in dem Raum erkennen. Es handelte sich um Sora und Matt, die sich miteinander unterhielten. „Ist echt niedlich, wie viel Mühe sich unsere Freunde geben, oder?“, kam es von Sora, die gerührt zu Matt blickte. „Ja, vor einem Jahr hätte ich nicht gedacht, dass wir diejenigen sind, die in die weite Welt ziehen werden“, antwortete er überwältigt. „Das stimmt“, murmelte Sora kleinlaut, „vor einem Jahr war vieles noch anders.“ Ihre Stimme klang wehmütig und von Schmerz erfüllt, sodass Mimis Stimmung ebenfalls ins Bodenlose segelte. Sie konnte sich vorstellen, dass es für Sora alles andere als leicht war, besonders nachdem sie festgestellt hatte, dass Matt derjenige war, für den ihr Herz schlug. „Es tut mir alles so leid. Ich weiß nicht, warum alles so schief gelaufen ist, aber du sollst wissen, dass ich keinen Augenblick mit dir bereut habe.“ Mimi hielt die Luft an und lauschte gespannt, was Matt ihr daraufhin antworten würde. „Ich habe auch nichts bereut, aber es gibt vielleicht Menschen, die einfach nicht zusammen kommen sollen. Irgendwie hat das Universum etwas gegen uns“, lachte er schwermütig. Mimi schielte in den Raum und erkannte, dass Sora den Kopf gesenkt hatte und leise schluchzte, als Matt liebevoll den Arm um sie legte. „Bitte Sora, du weißt doch, dass ich es nicht ertrage, wenn du weinst“, antwortete er herzzerreißend. „Ich weiß, aber ich vermisse dich. Ich vermisse uns“, sagte sie weinerlich und Mimi trat einen Schritt zurück. In ihr kam das Gefühl auf, dass es falsch war, weiterhin zuzuhören. Es ging schließlich um ihre Beziehung, die kaputt gegangen war. Langsam schritt Mimi zurück, beobachtete noch eine Weile die Tür, hinter der sich ihre beiden Freunde befanden und um ihre Beziehung trauerten. _ Leise verzog sie sich nach draußen und schloss die Tür hinter sich. Sie lehnte sich gegen das kühle Metall und fasste sich an ihre Stirn. Es fühlte sich furchtbar an, zu wissen, wie sehr Sora und Matt tatsächlich unter ihrer Trennung litten. Auch ihr schlechtes Gewissen wuchs unaufhörlich, wenn sie daran dachte, Sora so übel hintergangen zu haben. Sie hatte selbst keine Erklärung, warum es damals so weit gekommen war. Mimi stöhnte leise und sah auf, als sie plötzlich erstarrte. Sie blickte in zwei sehr vertraute braune Augenpaare, die sie schweigsam musterten. „Tut mir leid, ich wollte dich nicht stören“, sagte sie mit trockener Kehle und wandte sich schnell herum. Sie legte die Hand auf die Türklinke und drückte sie nach unten, doch die Tür ging nicht wieder auf. Verzweifelt ruckelte sie am Griff und schimpfte leise vor sich hin, als sie unauffällig zu ihm schielte. Unsicher presste sie die Lippen aufeinander und drehte sich langsam zu ihm. „Die Tür klemmt wohl“, murmelte sie leise, als er nur augenverdrehend zu ihr rüber gestiefelt kam und ebenfalls die Klinke nach unten drückte. „Na ganz toll“, grummelte er und warf Mimi einen vorwurfsvollen Blick zu, den sie mit senkendem Kopf erwiderte. „Tut mir leid“, entgegnete sie flüsternd, als Tai sich wieder der Tür zuwandte und dagegen schlug. „Hallo?! Ist hier jemand? Die Tür klemmt“, rief er verzweifelt und hämmerte weiter dagegen, während Mimi sich gegen die Wand presste. Ein paar Regentropfen rieselten auf die Erde hinab und wurden immer stärker, als sich Tai fluchend von der Tür entfernte und gemeinsam mit Mimi Schutz unter der kleinen Überdachung suchte. Eng gepresst standen sie nebeneinander und sahen wie der Regen die Erde bedeckte. Frierend verweilte Mimi neben ihm, da sie ihre Jacke drinnen vergessen hatte. Sie schlotterte etwas, vermied es jedoch ihn anzuschauen, als sie auf einmal das Geräusch eines Reißverschlusses vernahm. Unvermittelt hielt Tai ihr seine braune Strickjacke entgegen. Verwundert sah Mimi zu ihm auf und bemerkte wie er stur in eine andere Richtung starrte. „Dir ist kalt und sie ist noch relativ trocken“, meinte er nur und klang immer noch recht abweisend zu ihr. „Danke“, flüsterte sie verhalten und nahm seine Jacke entgegen. Ihre Hände berührten sich kurz, als er zu ihr hinabstarrte. Ihre Bewegungen froren ein und ein intensiver Blickwechsel folgte, der ihr Innerstes zum Kochen brachte. Wehleidig betrachtete sie ihn und fuhr mit ihrer Hand über seinen nackten Arm, da er nur ein T-Shirt anhatte. Er fehlte ihr so sehr, dass sie sich zusammenreißen musste, nicht vor ihm zu weinen. Seine abweisende Art verletzte sie immer mehr, weil sie wusste, dass sie nicht unschuldig an diesem Missverständnis war. Tai beobachtete sie nur ausdrucklos und wollte sich langsam aus ihrem Griff befreien, als Mimi sachte den Kopf schüttelte und näher an ihn heranrutschte. „Bitte, gib‘ mir eine Chance, es dir zu erklären“, flehte sie kläglich und umschloss mit ihren zarten Fingern, seine Faust, die sich gebildet hatte. Er drehte den Kopf weg und murmelte etwas Unvollständiges, als er sie etwas beiseiteschob und sich von ihr abwandte. Sie zog sich nur schweigsam sein Jäckchen an und roch seinen betörenden Duft, der ihr alle Sinne vernebelte. „Du konntest es mir am Abschlussball nicht erklären, warum solltest du es jetzt können?“, stellte er ihr die Gegenfrage und drehte sich ihr wieder zu. Ein wenig verzweifelt fuhr sie sich durch die langen Haare und strich sie sich hinter ihre Ohren. „Weil ich lange genug weggelaufen bin und dir unbedingt die Wahrheit erzählen möchte“, gestand sie ihm und spielte an dem Reißverschluss seines Jäckchens, das ihr viel zu groß war. „Und was willst du mir sagen? Das Toya einfach so viel besser ist, als ich es je war?“, knurrte er herablassend. „Das du seinem Charme nicht wiederstehen konntest?“ „Hör endlich damit auf! Er ist mir egal! Wann verstehst du das endlich?“, brüllte sie aufgebracht und stampfte wütend mit dem Fuß auf. „Und um wen ging es dann? Warum hast du mich damals versetzt?“, fragte er bestimmt. „Gibt es noch irgendeinen Kerl, oder was?“ „Es gibt keinen anderen Kerl“, zischte sie aufbrausend. „Es ging um ein Mädchen!“ „Ein M-Mädchen?“, hakte er nach und war vollends verwirrt. Mimi nickte nur bestätigend. „Ja, sie hat einfach mein komplettes Leben auf den Kopf gestellt und ich wusste nicht, wem ich mich anvertrauen sollte“, antwortete sie beschämt, während Tai so rot anlief, wie ein Feuermelder. Zu gern hätte sie gewusst, was er in diesem Moment gedacht hatte, doch sie nahm ihm gleich sämtliche Illusionen und Fantasien, indem sie das aussprach, vor dem sie lange Zeit so große Angst hatte. „Ihr Name ist Noriko und sie ist meine Halbschwester.“ _ „Warum hast du uns das nicht alles früher erzählt?“ Beide hatten sich auf den Boden gehockt, während er seine Beine angestellt und seine Arme locker darauf platziert hatte. Mimi hingegen erzählte einfach alles, was ihr zu Noriko einfiel. Hauptsächlich erwähnte sie, wie sehr sie sie vermisste. „Ich hatte Angst und war mit allem nur überfordert gewesen. Plötzlich hatte ich eine Schwester, die mein komplettes Leben auf den Kopf gestellt hat. Die Ehe meiner Eltern ist dadurch kaputt gegangen und dann erfahre ich, dass sie nicht mehr lange leben wird! I-Ich wusste auch nicht, wie ich all das verarbeiten sollte“, offenbarte sie ihm schweren Herzens, auch wenn sie all das schon Sora erzählt hatte. Bei Taichi fühlte es sich alles viel intensiver an, auch wenn sie bei ihm ihre Emotionen besser kontrollieren konnte. „Sie war das Mädchen, das ich nach unserem Streit gesehen hatte. An der Schule, oder?“ Sie schlang ihre Arme um ihre Beine und presste sie fest an ihren Körper, als sie zaghaft nickte. „Ich konnte dir damals nicht die Wahrheit sagen. Ich wollte einfach nur noch weg und als sie dann noch aufgetaucht war, hatte ich Panik bekommen. Sie war damals schon so schwach und gebrechlich gewesen, dass ich sie nur noch nach Hause bringen wollte und dich einfach abgefertigt hatte, ohne dir richtig zuzuhören“, gab sie resigniert zu und schämte sich für ihr Verhalten. Tai sah in den Nachthimmel, während der Regen allmählich nachließ. „Wir alle machen doch Fehler“, hauchte er, sah sie aber nicht dabei an, während sie an seinen Lippen hing. Sie hatte ihm so viel erzählt und er hatte sie kein einziges Mal unterbrochen – nun war sie gespannt, was er ihr zu sagen hatte. „Ich habe auch viele Fehler begangen, die ich nicht mehr rückgängig machen kann“, er lächelte schwach und wandte seinen Blick nicht von den Sternen. „Damals hätte ich nicht einfach gehen sollen, sondern mit dir reden müssen.“ Mimi schluckte hart, als sie automatisch an ihre erste und einzige gemeinsame Nacht zurückdachte. Es hatte ihr so unheimlich weggetan, dass sie gar nicht drüber nachdenken konnte, was er in diesem Moment gedacht haben musste. „I-Ich war so überfordert gewesen. Mit meinen Gefühlen. Mit der Situation. Einfach mit allem, obwohl ich derjenige war, der unbedingt mit dir schlafen wollte“, gestand er sich ein und knackte mit den Fingern, während Mimi überrascht drein blickte. „Ich wollte dir nicht wehtun, aber ich habe es nicht mehr ausgehalten, nur ein Freund für dich zu sein. Besonders nicht, nachdem wir uns immer näher gekommen waren. Aber das ist mir leider erst zu spät bewusst geworden. Ich hatte dich schon verletzt und du wolltest mich nicht mehr sehen.“ Schuldbewusst senkte er den Kopf, während Mimi über seine Worte nachdachte. Es rührte sie ungemein zu hören, dass er wohl doch mehr für empfand, als sie eigentlich dachte, aber dennoch drängten sich Fragen auf, die sie nicht mehr länger ignorieren konnte. „Und was ist mit Sora?“, hakte sie nach und spürte einen tiefen Stich in ihrem Herzen. „Ich dachte, ich hätte Gefühle für sie. Bestimmt hatte ich auch eine Zeitlang welche und als wir ins Abschlussjahr gekommen waren, hatte ich einfach Panik bekommen. Ich hatte nur noch gesehen, dass ich all die Jahre meine Zeit vergeudet hatte, ohne jemals etwas zu riskieren“, erinnerte er sich wehmütig zurück. „Ich wollte es einfach versuchen. Mich meinen Gefühlen stellen und meine Chancen nutzen, damit ich es hinterher nicht bereue.“ „Verstehe…“, murmelte Mimi etwas verletzt, obwohl sie ihn durchaus verstehen konnte. Er hatte lediglich versucht seine letzte Chance zu nutzen. Wäre sie an seiner Stelle gewesen, hätte sie genauso gehandelt, auch wenn es ihr wehtat. Verbittert presste Mimi die Lippen aufeinander und kämpfte gegen das Brennen in ihren Augen an, da sie vor ihm nicht weinen wollte. Sie hatte noch nicht mal einen Grund dazu, da er nie gesagt hatte, dass er sie nicht mochte, sondern, dass sogar das Gegenteil der Fall war. Sie konnte selbst nicht verstehen, warum es sie so verletzte, wenn er über seine Gefühle zu Sora sprach. Mimi unterdrückte ein leises Schluchzen, als er überraschend seinen Arm um sie legte und näher an sie heranrutschte. „Ich war noch nicht fertig“, hauchte er mit rauchiger Stimme und wusch eine Träne, die sich gelöst hatte, aus ihrem Gesicht. „Ich war vollkommen blind gewesen und hatte dich erst gesehen, als ich dich verloren hatte, aber ich hatte irgendwie immer gewusst, dass da etwas zwischen uns ist. Als du wieder nach Japan gekommen bist, hatte ich es geliebt, dich auf die Palme zu bringen und dich über mich schimpfen zu hören. Deine Nase hat sich dabei immer gerümpft und schon damals fand ich das unfassbar niedlich“, gab er immer leiser werdend zu und versuchte seine unnatürliche Gesichtsfarbe zu unterdrücken. Doch Mimi musste zugeben, dass sie es recht süß fand, wenn er vor ihr rot anlief. Es ließ ihn unfassbar unschuldig, aber auch gleichzeitig so verletzlich wirken. „Ich weiß nur noch, wann ich dich das erste Mal küssen wollte. Es war an meinem Geburtstag, als du mir diesen wundervollen Fußballkuchen gebacken hattest. Ich hatte nicht erwartet, dass sich jemand so viel Mühe für mich gibt, aber als ich dir dann so gegenüber saß, war ich völlig verunsichert gewesen. Da waren noch diese Gefühle für Sora, die ich nicht zuordnen konnte, weshalb ich mich dagegen entschieden hatte, dich zu küssen. Doch dieses unbeschreibliche Gefühl wurde mit der Zeit immer stärker, sodass ich dich damals in der Bar nicht nur geküsst hatte, um Sora eifersüchtig zu machen. Ich wollte wissen, wie es sich anfühlt, redete mir aber ein, dass die zitternden Finger und das pochende Herz nur von der Aufregung gekommen waren. Ich hatte mich selbst belogen und musste auch dafür bezahlen“, rekonstruierte er aus seinen Erinnerungen. Mimi hing noch immer an seinen Lippen, in ihr der Drang, ihn einfach küssen zu wollen. Aber sie hielt sich zurück, um weiterhin seinen Worten lauschen zu können. „Als du die Nachhilfe beendet hattest, kam einfach alles zusammen. Matt war sauer, Sora zog sich zurück und auch du bist mir aus dem Weg gegangen. Und dieser Kuss…er wollte mir einfach nicht mehr aus dem Kopf gehen. Ich hatte Sora sogar nochmal geküsst, aber dann festgestellt, dass es sich nicht mehr so angefühlt hatte, wie ich es mir erhofft hatte. Ich wollte daher alles wieder in Ordnung bringen, weshalb ich so unfassbar glücklich war, als wir uns wieder miteinander vertragen hatten und wir uns auch näher standen, als vorher. Aber dann wurde es immer schlimmer, je näher wir uns gekommen waren, desto schwerer fiel es mir, mich zusammenzureißen. Ich hatte es wirklich lange versucht, aber…aber dann konnte ich nicht länger dagegen ankämpfen.“ Er fuhr sich mit den Zähnen über seine Unterlippe und zog diese leicht nach hinten. Die Anspannung stand ihm ins Gesicht geschrieben, als Mimi zart über seinen Arm strich, auf dem sich mittlerweile eine leichte Gänsehaut abzeichnete. Sie drückte ihren Kopf gegen seine Brust und hörte das gleichmäßige Pochen seines schlagenden Herzens. Er lockerte seinen Arm und fuhr ihr liebevoll über ihr weiches Haare, als er bedacht weitererzählte. „Als wir miteinander geschlafen hatten, hatte ich so viel dabei empfunden, dass ich einfach nur überrascht war. Es fühlte sich so intensiv an, dass ich einfach überfordert war. Ich hatte solche Gefühle noch nie und in der Vergangenheit war es immer so gewesen, dass ich bei Mädchen meist immer sehr unbeholfen war. Gerade bei dir. Wir sind schon so lange miteinander befreundet und ich wollte nicht noch mehr kaputt machen, da bei Sora auch alles nur schief gelaufen war. Aber ich hatte dich damit nur noch mehr verletzt, bis ich mich irgendwann mit meiner Eifersucht auseinandersetzen musste. I-Ich hatte dich aufgegeben, weil ich dachte, dass ich dich endgültig an einen anderen verloren hatte.“ „Aber das hast du doch gar nicht“, wiedersprach Mimi und setzte sich auf. „Wir haben aneinander vorbei geredet und i-ich bin selbst schuld, dass es zu so einem Missverständnis gekommen ist.“ „Nein, bist du nicht. Ich hatte doch gesehen, dass es dir schlecht ging und hätte für dich da sein müssen! Aber letztlich hatte ich mich meinem verletzten Stolz hingegeben und auf stur gestellt“, protestierte er vehement. Verständnislos sah Mimi ihn an und schüttelte nur den Kopf, sodass ihre Haare leicht mitschwangen. „Du hattest doch gar keine Ahnung, was bei mir los war. Ich brauchte die Zeit, um das alles zu verarbeiten, obwohl ich immer noch nicht alles verstehe und akzeptieren kann. Ich hatte eine Schwester, die mir unglaublich schnell sehr an Herz gewachsen war und ein Teil von mir war, der jetzt nicht einfach weg ist. Ich möchte nicht noch mehr Menschen verlieren, die mir wichtig sind. Und du hast doch um mich gekämpft“, stammelte sie tränenerfüllt. Voller Liebe starrte sie ihn an, als er mit seinen rauen Fingern die Konturen ihres Gesichts nachfuhr und seine Stirn gegen ihre presste. „Ich vermisse dich“, murmelte er mit verhangener Stimme, strich mit seiner Nase über ihre und suchte begierig nach ihren Lippen. Mimi reckte sich ihm entgegen und schlang die Arme um seinen Hals, als sie sich miteinander vereinten. Genüsslich schloss sie die Lider, sog alle Empfindungen, seinen Geschmack und seine Berührungen tief ein, so als wollte sie sie nie wieder loslassen. Sie spürte seine Hand hinter ihrem Nacken, die dem Kuss die nötige Tiefe schenkte, um einen Schritt weiterzugehen. Zaghaft fuhr sie mit der Zunge über seine Lippen, als er seinen Mund öffnete und fordernd in ihren glitt. Liebevoll begegneten sich ihre Zungen, indem sie sich zart streichelten und ihren angehenden Kampf mit Leidenschaft anheizten. Tai schob sie auf seinen Schoss, während seine Hände unter der Strickjacke verschwanden und ihren zierlichen Körper entlang fuhren. Er presste beide Arme hinter ihren Rücken und drückte ihre Körper dichter aneinander. Er keuchte lustvoll auf, als Mimi ihre Hüften gegen seine Lenden presste und die hitzige Leidenschaft zwischen ihnen antrieb. Ganz ineinander versunken, bemerkte keiner der beiden, wie die Tür geöffnet wurde. Er strich mit der Zunge über ihre Lippen, als sie ein lautes Räuspern hörten und rasch auseinander fuhren. Mit hochrotem Kopf fixierten sie die Person, die sie erwischt hatte. Es war kein geringer als Matt, der nur dämlich vor sich hin grinste und wissend die Arme vor der Brust verschränkt hatte. „Sorry, ich wollte nicht stören“, lachte er nur und lehnte einen größeren Stein gegen die Tür, damit sie nicht wieder zu fiel. „Macht ruhig weiter, ich bin schon wieder weg“, gab er nur von sich und verschwand tatsächlich wieder in der Halle. Verlegen sahen sich Mimi und Tai an, bis beide kichern mussten. „Wow, das ist mir auch noch nicht passiert“, meinte Tai und kratzte sich am Hinterkopf. „Mir schon“, räumte sie ein und dachte an Tais Geburtstag zurück. „Ich hatte ihn mal mit Sora erwischt. Das nenne ich wirklich Karma.“ „Naja, von mir aus kann gern jeder zugucken“, meinte er verführerisch und setzte an sie wieder zu küssen, als Mimi plötzlich aufstand, auf Abstand ging und nachdenklich drein blickte. „Was ist denn? Das war nur Spaß gewesen“, rechtfertigte er sich mit einem spitzbübischen Grinsen. Doch Mimi merkte, wie die ersten Zweifel in ihr hochkrochen. Tai würde bald zur Uni gehen, neue Menschen kennen lernen, unteranderem auch attraktive Studentinnen. Nach allem was sie erlebt hatte, hatte sie enorm große Verlustängste entwickelt, die ihr das Leben schwer machten und sie verunsicherten. „Willst du etwa nicht mit mir zusammen sein?“, fragte er betrübt, sodass sich Mimi sofort zu ihm herumdrehte. Er stand auf und sah sie wartend an, als würde er auf eine Antwort hoffen, die beide glücklich machte. Sie wurde allerdings von ihren aufkommenden Zweifeln gepackt, die sie nicht einfach so schnell loswurde. „Doch, das will ich mehr denn je“, sagte sie hoffnungsvoll, auch wenn das aber schon ihrer Stimme lag, „allerdings habe ich Angst. Du gehst bald auf die Uni und fängst richtig an zu leben, während ich hier festsitze und nicht weiß, ob das mit uns funktionieren wird.“ „Das weiß man doch nie“, versuchte Tai sie zu beruhigen. „Ich weiß, aber was ist wenn es nicht funktioniert und du an der Uni jemanden findest, der…“ Ihre Stimme brach ab und sie gab sich ihren Tränen hin. Doch Tai reagierte sofort und ging einen Schritt auf sie zu und wusch ihr die Tränen aus dem Gesicht. „Hey, das wird schon irgendwie werden. Gib‘ uns bitte eine Chance! Ich will mit dir zusammen sein! Ich habe lange gebraucht, um das zu verstehen, aber ich bin nicht bereit uns aufzugeben!“ Kapitel 59: Die Geschichte meiner Schwester ------------------------------------------- Gedankenverloren stand sie am Fenster und starrte in die dunkle Nacht. Sie fuhr sich über ihr zerzaustes Haar und seufzte leise. Ihr schlechtes Gewissen holte sie ein, da sie ohne sich richtig von Sora und Matt zu verabschieden, ihre Party verlassen hatte. Mimi war regelrecht getürmt, weil sie es einfach nicht mehr ausgehalten hatte. Ihre Gefühle standen Kopf und tanzten wie wild durch ihren ganzen Körper. Sie legte die Lippen fest aufeinander, als er plötzlich von hinten die Arme um sie schlang und ihren Hals mit Küssen benetzte. „Das kitzelt“, kicherte sie und streichelte über seine maskulinen Unterarme. Mimi genoss es in seinen starken Armen zu liegen und bettete ihren Kopf gegen seine Schulter, als er sie kurzer Hand zu sich drehte, hingebungsvoll küsste und zurück aufs Bett zog. Sie lag zwischen seinen Beinen und fasste mit den Fingern in seine wilde Mähne, als er über ihre Lippen leckte und um Einlass bat. Sie öffnete den Mund leicht und ließ seine Zunge gewähren. Ihre Spitzen berührten sich fordernd, bis sie im Einklang miteinander tanzten, sich ihren Empfindungen vollends hingaben. Mimi spürte die aufkommende Hitze zwischen ihren Beinen, die ihr signalisierte, dass sie so viel mehr wollte, als nur mit ihm rumzuknutschen. Er setzte sich leicht auf, platzierte sie auf seinem Schoss und wanderte mit seinen Küssen ihren Hals hinunter. Sie legte den Hals lustvoll in den Nacken, als er sich an einem empfindlichen Punkt festsaugte und ihn mit der Zunge liebkoste. Gefangen in ihrer Sehnsucht spürte sie seine wachsende Erregung deutlich unter sich und senkte langsam ihr Becken, sodass er genießerisch seufzen musste. Er wanderte mit beiden Händen unter ihr Shirt und wollte es sachte nach oben schieben, als sie überraschend stoppte und ihn mit geröteten Wangen anstarrte. „Ich glaube, dass wäre keine so gute Idee“, murmelte sie außer Atem und drückte ihre Stirn gegen seine. „Schon okay“, antwortete er lächelnd, „gib‘ mir einfach einen Moment, um mich wieder zu beruhigen.“ Er grinste schwer atmend, als Mimi von ihm herunterkletterte und sich neben ihn aufs Bett setzte. Einen kurzen Moment später lehnte er sich wieder zu ihr, um ihr einen kurzen Kuss auf die Lippen zu hauchen und sie in eine Umarmung zu ziehen. Mimi legte den Kopf auf seine Brust und lauschte dem gleichmäßigen Schlagen seines Herzens, währendem er ihr behutsam über den Kopf streichelte. „Vielleicht sollte ich bald nach Hause gehen“, murmelte er verhalten und wirkte ein wenig müde, als Mimi zu ihm hochschaute. „Ich will nicht, dass du gehst“, sagte sie nachdrücklich und krallte ihre Fingernägel in sein Shirt. „Ich weiß, aber du machst es mir gerade echt nicht leicht“, antwortete Tai ein wenig wehleidig. Mimi grinste nur und verstand sofort, was er meinte. Verspielt zog sie Kreise auf seiner Brust und schien ihn damit in den Wahnsinn zu treiben. „Wann ziehst du eigentlich um?“, fragte sie unvermittelt, um vom eigentlichen Thema abzulenken. „Ende nächster Woche“, erwiderte er matt und rieb sich den Schlaf aus den Augen. „Wie wird es dann mit uns weitergehen?“, murmelte sie gegen seine harte Brust und vergrub ihr rötliches Gesicht in seinem Shirt. „Mhm, das werden wir sehen. Wir bekommen das sicher schon hin. Am Wochenende werde ich wohl meistens nach Hause kommen und kann dich nachts besuchen“, sagte er unverschämt grinsend. Mimi musste lächeln und sah ihn herausfordernd an. „Das hättest du wohl gerne, mein Lieber.“ „Klar, ich hätte kein Problem mit so einer entzückenden Person das Bett zu teilen“, raunte er und beugte sich zu ihr hinunter. Sie musste über seine Worte schmunzeln und strich ihm sanft einige Haarsträhnen aus seinem markanten Gesicht, als er sie ohne Vorwarnung zu kitzeln begann. Sie krümmte sich vor Lachen, konnte aber einfach nicht den Blick von ihm wenden, da so viel Wärme in seinen Augen lag. In diesem Moment wusste sie, er Recht hatte. Sie würden es schon irgendwie hinbekommen. _ „Was hast du denn da an? Du versinkst ja in dem Ding“, meinte Masaru stirnrunzelnd und betrachtete Mimi skeptisch. Mimi kuschelte sich allerdings noch ein wenig mehr in die braune Strickjacke, versuchte einerseits ihre rötlichen Wangen vor den anderen zu verbergen, andererseits wollte sie seinen Duft einatmen. Tai hatte ihr seine Jacke überlassen, die sie fast jede freie Minute trug, wenn er nicht bei ihr war. Mittlerweile war er ins Wohnheim gezogen und hatte bereits die ersten Uniwochen hinter sich gebracht. Leider sahen sie sich nur an den Wochenenden, weshalb sie beschlossen hatten, es langsam anzugehen und ihre gemeinsame Zeit in vollen Zügen zu genießen. Auch Sora war bereits schon ein paar Wochen in Paris und meldete sich nur gelegentlich bei ihr. Mimi hatte noch die Gelegenheit gehabt, sich kurz von ihr zu verabschieden, auch wenn ihr Abschied kühler ausfiel, als sie erwartet hatte. Doch darüber wollte sie sich keine Gedanken machen, da sie sich selbst in einem Art Glücksrausch befand und beschlossen hatte, das Positive zu sehen, auch wenn es ihr etwas komisch vorkam. Matt war tatsächlich mit Hideakis Band auf Tour gegangen, was sie sogar in der Zeitung nachlesen konnte. Von Tai wusste sie bereits, dass sie ihre Tour in Los Angeles starten wollten. Doch heute sollte etwas ganz anderes im Fokus stehen. Etsuko hatte sie alle eingeladen, da ihr Abschlussprojekt mit Bestnote ausgezeichnet wurde und mit anderen Projekten in der Aula der Kunsthochschule vorgeführt werden sollte. Gemeinsam mit den Jungs, wartete sie auf den Einlass und hörte Masaru und Chiaki gespannt zu, wie sie über die Uni redeten. Beide wurden auch an der Tokai Universität angenommen und suchten zurzeit nach einer gemeinsamen Wohnung, da besonders Masaru auf eigenen Beinen stehen wollte und Abstand zu seinem Vater suchte. Yasuo war an die Oberschule gewechselt und berichtete euphorisch von seinem Beitritt in den Medien-und Audioclub seiner Schule. Auch Mimi machte einige Veränderungen durch, da sie sich jetzt im Abschlussjahrgang befand und sich mit ihrer Zukunft auseinandersetzen musste. Sie war noch relativ planlos, aber sie war sich sicher, dass sie schon eine Idee ausarbeiten würde. Heute wollte sie sich voll und ganz auf diesen besonderen Abend und Noriko konzentrieren. Sie hatten alle nur Ausschnitte des Films gesehen und Mimi war sehr auf das Endresultat gespannt. Doch kurz bevor sie reingelassen wurden, bat Masaru sie kurz mit ihm mitzukommen. Verwirrt folgte sie ihm und ließ Chiaki und Yasuo genauso irritiert zurück. Er schleifte sie in eine abgelegene Ecke des Campus und sah sie etwas zurückhaltend an, als er etwas aus seiner Jackentasche hervorzog. „Was ist das?“, fragte Mimi verwundert, weil sie es nicht gleich erkannte. Doch ihre Augen weiteten sich augenblicklich als das Licht darauf schien und die Schrift reflektierte. Fassungslos klappte ihr Mund auf, während sie angesäuert die Arme vor der Brust verschränkte. „Masaru!“, grummelte sie bedrohlich, wurde aber direkt von ihm unterbrochen. „Bevor du anfängst zu schimpfen, sie hat mich darum gebeten, dass ich dir die Briefe nach einer bestimmten Zeit gebe. Ich wusste nicht, was drin steht, sondern sollte sie einfach nur bei der Post abgeben. Nur den letzten sollte ich dir persönlich überreichen“, erklärte er und reichte den Umschlag an sie weiter. Verhalten nahm sie das raue Papier entgegen und sah etwas verängstigt zu Masaru, der einen Schritt auf sie zukam und seine Hände sanft auf ihren Schultern platzierte. „Du solltest ihn lesen. Es ist der Letzte und demnach etwas ganz besonders. So wie du“, sagte er und drückte ihr einen Kuss auf sie Stirn. Dann ging er wortlos an ihr vorbei und ließ sie alleine zurück. Hilflos starrte Mimi ihm nach, betrachtete mit Ehrfurcht erfüllt den Umschlag, als sie sich dazu entschied ihn aufzumachen. _ Liebe Mimi, Vergebung ist ein schwieriger Prozess, der manchmal sogar Jahre andauern kann. Ich hätte nie im Leben erwartet, dass ich einer Person verzeihen kann, sie mich seit meines Lebens nur enttäuscht hatte. Aber mittlerweile verstehe ich, dass alles seine zwei Seiten hat, wie eine Medaille. Es ist nicht alles eindeutig, sondern meist hochkomplex und sehr verstrickt, dass man manchmal den Überblick komplett verliert. Doch man sollte alles dran setzen, sich seinen eigenen Überblick wiederzubeschaffen. Sich beide Seiten anhören und erst dann ein Urteil bilden. Und genau das habe ich getan. Du weißt nichts davon und es wird doch wohl genauso überraschen, wie es damals mich überrascht hatte. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte, auch als er sich bei mir entschuldigte und sagte, er wünschte es sei anders gekommen. Unter Tränen gestand er mir, dass er in letzter Zeit oft an mich gedacht hatte und es bereute nie einen Schritt auf mich zugegangen zu sein. Er erzählte mir die unendliche Geschichte über Zweifel, Leid, Herzschmerz und Vergebung. Ich hörte zu, bekam eine Einsicht in seine Lebenslage und erkannte, dass er euch, deine Mutter und dich, nicht verlieren wollte. Er hatte geahnt, dass alles den Bach runtergehen würde, wenn jemals die Wahrheit als Licht käme. Aber er bereute auch. Er gestand sich seine Fehler ein, erklärte glaubwürdig, dass er damals nicht wusste, was wirkliche tiefe Liebe war. Er fand es erst mit den Jahren heraus, indem er sich ein Leben mit dir und deiner Mutter aufbaute und dieses lieben lernte. Ich weiß, dass ich nie zu seinen Plan gehörte. Dass, das mit meiner Mutter nichts Ernstes war, auch wenn sie es damals vielleicht anders sah. Doch man kann Fehler nicht ändern, sie passieren, lassen uns reifer werden und daran wachsen. Selbstverständlich, habe ich mir immer einen Vater gewünscht, der mich liebt und als seine Tochter akzeptiert. Doch das wollte ich nicht von ihm. Er war ein Fremder für mich und den Menschen, den ich all die Jahre als meinen Vater angesehen hatte, wollte mich nicht mehr. Auch wenn ich ihn nicht ersetzen wollte. Im Nachhinein wurde mir klar, dass ich viele Dinge wollte, die nicht richtig zusammenpassten. Ich wollte deine Familie nicht kaputt machen, habe dies aber nicht gescheut, um dich besser kennen zu lernen. Ich wollte dich kennen lernen und nicht den Mann, der mich gezeugt hatte. Ein Kind zu machen ist einfach, aber ein Vater zu sein, umso schwerer. Ich weiß, dass er bei dir gute Arbeit geleistet hat. Er hat dich zu einem wundervollen Menschen erzogen, der mit mir einen wichtigen Weg gegangen ist. Ich kann dir nicht vorschreiben, es nochmal mit ihm zu versuchen, aber denk‘ daran, er ist dein Vater. Er war für dich da, wenn du ihn gebraucht hast. Hasse ihn nicht, weil er nicht mein Vater sein wollte. Rede mit ihm, stell‘ dich deinen Fragen und er wird bereit sein, dir die Antworten zu geben. Ich hingegen, werde immer ein Auge auf dich haben. Dich vor Gefahren schützen, dich auf deinem Weg begleiten, dein Schutzengel sein. Uns wird immer etwas miteinander verbinden. Und das kann nichts auf dieser Welt ändern. Für immer. In aufrichtiger Liebe Noriko _ Mit feuchten Augen ging sie in die Aula und fuhr sich immer wieder mit dem Jackenärmel darüber, auch wenn sie von der rauen Wolle etwas brannten. Sie war überwältigt, wusste gar nicht so wirklich, was sie dazu sagen sollte. Ihre Gefühle standen Kopf, sodass sie sie nicht einordnen konnte. Ein wenig desorientiert lief Mimi durch die Halle, sah kurz auf ihre Platzkarte und suchte die Reihe auf, in der sie zusammen mit den Jungs saß. Tatsächlich fand sie Masaru, Chiaki und Yasuo dort vor, die sich angeregt zu unterhalten schienen. „Also ich finde ihn ja sehr nett, aber wie kann man nur so verknallt sein? Er redet ohne Punkt und Komma von seiner Freundin“, erzählte Masaru überschwänglich und gestikulierte wild umher. Mimi lächelte leicht und schritt näher heran. Sie konnte sich bereits denken, dass Masaru von seinem neuen Kommilitonen sprach, den er am zweiten Tag an der Uni kennenlernte. Beide verstanden sich auf Anhieb so gut, dass Mimi interessiert nachfragte, ob Masaru vielleicht sogar Chancen bei ihm hätte. Doch leider hatte sein neuer Kumpel bereits eine Freundin, von der er tagtäglich schwärmte. Mimi hoffte allerdings, dass auch Masaru irgendwann sein Glück finden würde. „Hey Mimi, da bist du ja endlich“, begrüßte Chiaki sie und der Rest drehte sich zu ihr. Masaru musterte sie besorgt, da ihre Augen wohl rot angelaufen waren. „Ist alles okay?“, stellte er gleich die Frage und nahm ihre Hand. Mimi nickte verhalten, als Yasuo eins auf rutschte und sie sich neben Masaru setzten konnte. „Mir geht es gut“, versicherte sie ihnen geschwächt. Sie sah sich in der Halle um und erkannte Etsuko vorne bei den anderen Absolventen sitzen, als sich Chiaki zu ihr rüber beugte. Masaru hielt noch immer ihre Hand und drückte sie leicht, um ihr zu signalisieren, dass er für sie da war. Sie schenkte ihm einen kurzen dankbaren Blick, als Chiaki sie auf zwei Personen, vier Reihen vor ihnen, aufmerksam machte. „Etsuko hat auch Ayame und ihren Vater eingeladen. Guck‘ da unten sitzen sie“, zeigte er und winkte ihnen zu. Ayame lächelte ihnen zu, als auch Mimi ihr einen kurzen Gruß zuwarf. Sie sah um einiges besser aus und verbrachte viel Zeit mit Etsuko und ihrer Familie. Auch mit ihrer Mutter hatte sie sich in letzter Zeit öfters verabredet gehabt. Zwar hatte Ayame noch immer nicht ihr Gleichgewicht zurückerhalten, aber sie war auf einem guten Weg, es zurückzuerlangen, auch wenn es schwer war. Eine allgemeine Unruhe herrschte dem Saal, als auf einmal das Licht gedämmt wurde und sich die Leute allmählich auf ihren Plätzen bequem machten. Etsukos Film war der Erste, der gezeigt werden sollte. Gespannt richtete Mimi ihre Augen auf die Leinwand, die hinter ihnen angestrahlt wurde und langsam ein Bild zeigte. Nach einer kurzen Begrüßung wurde der Film auch schon abgespielt. „Was ist dein größter Wunsch?“, fragte eine unbekannte Stimme und zeigte ein junges Mädchen, das im Schneidersitz auf einem Krankenhausbett saß. Sie grinste in die Kamera und spielte nervös an der Kanüle, die an ihrem Handgelenk befestig war. Ihre Glatze glänzte und ihre Augen begannen zu leuchten, als sich ihre trockenen Lippen leicht kräuselten. „Mein größter Wunsch?“, sie warf den Kopf nach hinten und kicherte leise. „Das weißt du doch genau, Etsu!“ „Na und? Sag es bitte nochmal in die Kamera! Für die Nachwelt!“, ertönte die Stimme erneut und klang herausfordernd. Grübchen bildeten sich auf dem matten, sehr kindlich wirkenden Gesicht. „Mein größter Wünsch ist es, irgendwann meine Schwester kennen zu lernen!“ Ihr stockte der Atem und sie spürte unter ihrer Jacke eine zarte Gänsehaut aufziehen. Damit hatte sie nicht gerechnet. Es zeigte ihre dreizehnjährige Schwester, die um ihr Leben kämpfte und ihren größten Wunsch äußerte. Mimi hatte nicht erwartet, dass sie ihr größter Wunsch war. Sie legte die Lippen aufeinander und starrte berührt zur Leinwand. Ihr zaghaftes Lächeln brannte sich ein und ließ die Sehnsucht in ihr hochkommen. Sie konnte sie nicht mehr umarmen, ihr sagen, wie gern sie sie hatte…sie konnte nur noch in Erinnerungen schwelgen, die immer noch sehr wehtaten. Kurz wandte sie das Gesicht von der Leinwand und fuhr sich mit den Fingern leise schluchzend über ihre nassen Augen. Sie kniff sie zusammen, als sie merkte, dass Masaru ihre Hand fester drückte. Sie versuchte sich zusammenzureißen, doch ihre Worte hallten in ihrem Kopf, ließen sie nicht mehr los und verfolgten sie bis in die Tiefe ihres Herzens. Erst bekam sie die Dokumentation gar nicht mehr richtig mit, bis sie ihre eigene Stimme vernahm. Überrascht sah sie wieder hin und sah Szenen, die sie bei einem gemeinsamen Abend zeigten. Wie sie lachten und Witze rissen. Wo die Welt noch in Ordnung war. Bilder blitzen auf, zeigten sie auf dem Weg zum Fuji, wie sie fluchtend an Masaru vorbei zog, oder alle gespannt da saßen und den goldenen Sonnenaufgang beobachten. Mimi fühlte sich jedoch nur leer, war von einem stumpfen Schmerz umhüllt, der ihr Herz in der Hand hatte und es schmerzvoll zusammendrückte. „Bist du bereit?“, fragte sie verunsichert, so als wollte sie versuchen, es ihr auszureden. Sie betrachtete ihr Spiegelbild und sah immer wieder zu dem Gegenstand, den sie in ihren Händen hielt. Sie saß vor ihr, ihre langen braunen Haare hingen lasch nach unten und hatten ihren Glanz schon längst verloren, als sie leise seufzte. „Lass‘ es uns hinter uns bringen“, murmelte sie und kämpfte mit ihren eigenen Tränen, die in ihren Augen aufstiegen. „Bist du dir auch wirklich sicher?“, hakte sie ein letztes Mal nach. „Ja! Und jetzt mach‘ bevor ich hier komplett in Tränen ausbreche“, forderte sie sie auf und man hörte das Surren des Apparats, den sie langsam über den Schädel des Mädchens gleiten ließ. Sie presste die Lippen aufeinander und weinte stumme Tränen, als die ersten Haare auf den Boden fielen und ihren kahlen Kopf präsentierten. Ein Schluchzen überkam sie, sodass sie ihre Hand gegen ihren Mund drückte. Das Mädchen mit der Haarschneidemaschine hielt inne und sah traurig in den Spiegel. „Noriko, ich…“, begann sie unsicher und sah zur Kamera, die auf sie gerichtet wurde. „Ist in Ordnung! Das gehört dazu, mach‘ einfach weiter“, sagte sie mit erstickter Stimme und fuhr sich über ihre feuchten Augen. Einen kurzen Moment hielt das Mädchen inne, sah auf sie hinab, bis sie die Maschine erneut an ihrem Kopf ansetzte und sanft darüber fuhr. Es wurde ganz still, so als würde diese Szene immer noch den Raum erfüllen und in Schweigen hüllen. Es war so intensiv, es nochmal zu durchleben, dass Mimi sich kaum zurückhalten konnte. Sie konnte sich noch genau daran erinnern, wie schwer ihr dieser Schritt gefallen war und wie sehr sie es bedauerte, Norikos langen braunen Haare abzurasieren. Es dauerte nur wenige Minuten, als sie auf einmal ihre Glatze berührte und sich sanft über den Kopf fuhr. Noriko versuchte stark zu sein, auch wenn es ihr schwer fiel. Keine Frau trug gerne eine Glatze. Haare konnten viel verändern, dem Gesicht schmeicheln und Vorzüge hervorheben. Wenn man keine mehr hatte, fühlte man sich nur nackt und angreifbar. Und so wollte sich keiner fühlen. Die Szene wurde ausgeblendet und zeigte auf einmal den ersten Auftritt, den sie in Rens Bar hatten. Es fühlte sich komisch an, sich auf einmal auf einer großen Leinwand zu sehen und zu erkennen, dass man die Macht hatte, Menschen zu bewegen. Mimi hatte damals gar nicht richtig wahrgenommen, wie sehr sie das Publikum mitgerissen hatte. Sie spürte plötzlich ein unfassbares Glückgefühl durch ihren Körper strömen, als die Kamera unvermittelt auf Noriko und Chiaki zoomte und zeigte, wie sie sich liebevoll küssten. Mimi richtete den Blick zu Chiaki, der gebannt auf die Leinwand stierte und sich komplett in einer anderen Welt befand. Es war wie Magie. Das Stillstehen der Zeit. Eine Momentaufnahme des Lebens. Sie lächelte, als er ihr gegenüberstand und ihre Hand hielt. Sie trug ein wunderschönes knielanges Kleid, das mit blauer Spitze ihr Dekolleté umrandete. Das frische Make-up brachte Farbe in ihr Gesicht und ließ es erstrahlen. Die braunen langen Haare lockten sich leicht und ein buntes Blumenhaarband schmückte ihren Kopf. Er sah sie an, als könnte er keine Sekunde den Blick von ihr wenden. Zart fuhr er über ihre Arme und erreichte ihr rosiges Gesicht. Er fuhr liebevoll über ihre Wange, als dieser intime Momente durch eine tiefe Stimme unterbrochen wurde. „Sie müssen zuvor noch die Ringe tauschen“, sagte der Mann, der kurz im Fokus des Bildes lag. Beide begannen zu kichern, nahmen die Ringe entgegen und steckten sie dem jeweils anderen an den Ringfinger. „Hiermit erkläre ich sie offiziell zu Mann und Frau. Jetzt dürfen sie auch endlich ihre Braut küssen“, sagte der Mann mit einem Zwinkern und trat aus der Mitte. Die Kamera war auf die beiden Liebenden gerichtet, die ihr Glück nicht weiter verbergen konnten. Sanft legte er die Hände um ihren zierlichen Körper und zog sie näher an sich heran, als er voller Liebe, die Lippen auf ihre legte. In diesem Augenblick drehten sich Ayame und Ren und zu ihnen und musterten Chiaki geschockt. „Jetzt wissen sie wohl Bescheid“, murmelte Masaru und klopfte ihm auf den Oberschenkel. Doch seine Augen waren nach vorne gerichtet. Er schien nichts mehr mitzubekommen, sondern beobachtete den Moment des Glücks schweigsam. Er kaute angespannt auf seiner Unterlippe herum, versuchte sich seine Trauer nicht anmerken zu lassen. Mimi beäugte ihn jedoch kritisch, konnte sich vorstellen, wie er sich fühlte. Langsam beugte sie sich über Masaru hinweg, der sie nur mit großen Augen begutachtete. Sie ertastete Chiakis Arm und fuhr zärtlich zu seiner Hand, die er leicht geöffnet hatte. Er senkte den Kopf, umfasste ihre und schenkte ihr einen von Trauer erfüllten Blick. Es war nicht leicht, all das ein zweites Mal zu durchleben. Egal, ob die Momente schön oder bedrückend waren, es zeigte all das, was sie gemeinsam erlebten. All die winzigen, aber dennoch wichtigen Abschnitte von Norikos Leben. Selbst nach ihrem Tod bildeten sie eine gemeinsame Einheit, die mit Leidenschaft die gemeinsame Schnitzeljagd bestritten, in den einzelnen Sequenzen den Hinweisen hinterher jagten und im großen Finale, sich der Liebe zur Musik hingaben. Norikos letzten Song gemeinsam performten, ihn mit Leben fühlten und zeigten, dass ein Teil von ihr immer noch da war und für immer da sein würde. Der Film endete mit einem herzlichen Lachen. Zeigte sie mit ihrer Mütze und ihrem Beatmungsgerät, dass das Ende voraussehen ließ. Dann wurde der Hintergrund schwarz und es dauerte einige Minuten, bis etwas geschah. Langsam kam das Bild zurück und zeigte einen weißen Hintergrund, vor dem Masaru auf einmal Platz nahm. „Du hast mir gezeigt, dass es wichtig ist, zu sich selbst zu stehen und man sich nie belügen sollte. Auch wenn es nicht einfach ist. Es ist wichtig, sich selbst lieben zu lernen. Und du hast mir gezeigt, wie ich das tun kann.“ Nervös fuhr er sich immer wieder durch die Haare, sah zur Kamera und wieder zu Boden. Ein verhaltenes Lächeln legte sich auf seine Lippen, als in einer Rückblende Noriko mit Masaru gezeigt wurden, wie er sie Huckepack durch den Park trug und sie herzlich miteinander lachten. Als nächstes wurde Chiaki eingeblendet. „Ich wusste nicht, was es heißt jemanden aufrichtig und bedingungslos zu lieben, bis ich dich traf. Du hast mein komplettes Leben auf den Kopf gestellt und mein Herz im Sturm erobert. Vielen Dank für alle Momente, die ich mit dir teilen durfte.“ Man sah sie danach am Strand, wie sie händchenhaltend durch den Sand liefen, direkt in Richtung Sonnenuntergang. Sie trat etwas Sand mit dem Fuß durch die Luft und steuerte auf das Meer zu, als er sie packte und in seinen Armen herumwirbelte. Er stand mit den Füßen ihm Meer, als er seinen Griff um sie etwas lockerte. Sie legte liebevoll die Hände um sein Gesicht und glitt langsam nach unten, als sie ihn voller Liebe küsste. Das Bild wechselte wieder und zeigte Yasuo, der aufgeregt in die Linse blickte. „Es ist nie einfach, anders zu sein. Aber gerade das Andersartige macht uns zu etwas Besonderem. Danke, das du nie den Freak in mir gesehen hast, sondern immer nur Yasuo, der der es liebt, alles Besondere auszuzeichnen.“ Es wurde zu Noriko und Yasuo geblendet, wie sie eine Kamera in den Händen hielten und Yasuo ausdrucksstark gestikulierte. Er zeigte in den Himmel, der die verschiedensten Blautöne zeigte. Er richtete die Kamera nach oben, lachte und sah zu Noriko, die nur bestätigend nickte und das sah, was er sehen konnte. Die Welt mit all ihren Farben, in all ihrer Schönheit, die nur besondere Menschen wahrnahmen. Erneut wechselte die Szene, als Mimi plötzlich starkes Herzklopfen bekam. Sie sah sich selbst, wie sie sich hinsetzte, sich kurz die Haare richtete und angestrengt nach vorne schaute. „Du hast wohl mein komplettes Leben auf den Kopf gestellt, indem du aufgetaucht bist und mir sagtest, du seist meine Schwester. Ich wollte dir anfangs nicht glauben, auch wenn wir uns in gewisser Weise so unglaublich ähnlich waren. Du hast es geschafft, dich in mein Herz zu schleichen und mir eine Welt zu zeigen, von der ich keine Ahnung hatte, dass sie existierte, bis ich dich kennenlernte.“ Ein sagenumwobenes Gefühl machte sich in ihr breit, als sie auf einmal sich selbst und Noriko sah, wie sie nebeneinandersaßen und zusammen komponierten. Sie saßen an dem alten Klavier, als Noriko kichernd sanft über die Tasten fuhr und Mimi dazu animierte mitzumachen. Sie konnte kein Klavier spielen, aber dennoch fiel es ihr leicht, sich bei ihr fallen zu lassen und ihrer ansteckenden Freude zu folgen. Gemeinsam spielten sie ein Stück ihres Songs, lachten herzlich, tauschten immer wieder tiefe Blicke miteinander, so als würde sie nichts trennen können. Als letztes wurde zu Etsuko selbst geblendet, die sich ebenfalls vor dem weißen Hintergrund niedergelassen hatte. „Ein Held zeichnet sich nicht allein durch seine Worte aus, sondern auch durch seine Taten. Es gibt sehr wenige, die in der Lage sind Menschen zu retten und sie zu inspirieren. Doch durch dich, sehe ich die Welt mit ganz anderen Augen.“ Es wurden ältere Aufnahmen eingefügt, die Etsuko und Noriko während ihres ersten Krankenhausaufenthalts zeigten. Beide trugen kunterbunter Kopftücher und tänzelten voller Freude und Euphorie durch einen Garten, der wohl zum Krankenhaus gehörte. Wahrscheinlich hatte sie damals Ren in einem scheinbar unbeobachteten Augenblick gefilmt, der sie befreit und glücklich zeigte. Es wurde auf Noriko gezoomt, die den Kopf in den Nacken legte und sich vor Lachen den Bauch hielt. Plötzlich hielt sie inne, sah die Kamera und ging mit einem breiten Grinsen auf die Person zu. Sie streckte die Zunge heraus, legte den Kopf zur Seite, blickte lieblich in die Kamera, als sie das Objektiv schließlich zuhielt und das Bild erneut schwarz wurde. Weiße geschnörkelte Schrift erschien und fasste zusammen, was Noriko für sie alle bedeutet hatte. The Story of a Bastard Child: A Documentary by Etsuko Ito In liebevoller Erinnerung an Noriko Tanaka geb. Yamaguchi 1988-2006 Geliebte Tochter, Schwester, Ehefrau und treue Freundin. Kapitel 60: Neuanfänge ---------------------- Sie wischte über die Theke und hob sein Glas an, als sie mit einer schwungvollen Bewegung über das raue Holz fuhr. Gähnend nahm Masaru ihr das Glas Eistee aus der Hand und rieb sich mit den Finger über seine müden Lider. „Du solltest wirklich früher ins Bett gehen und nicht so viel feiern“, tadelte Mimi ihn und legte den Lappen unter die Theke. „Ich war nicht feiern“, grummelte Masaru und nippte an seinem Eistee. „Habe nur ein paar Flyer mit dem Strubbelkopf verteilt.“ Er machte eine ausschweifende Handbewegung, als er seinen Ellenbogen auf der Theke abstützte und seinen Kopf sanft darauf bettete. Mimi kicherte leicht bei dem Spitznamen für Masarus neuen Kumpel. Sie hatte ihn noch nicht kennengelernt und kannte ihn lediglich aus seinen Erzählungen. Seit die Uni angefangen hatte, hatten beide immer mal wieder etwas unternommen und waren in den letzten Wochen unzertrennlich geworden. „Ist doch voll süß. Er macht das ja schließlich für seine Freundin“, schwärmte Mimi und trocknete nebenbei einige Gläser ab. „Ich weiß und mir tut das zusätzliche Geld ja auch gut, aber er ist so verknallt, dass ich davon schon Kopfschmerzen bekomme“, nörgelte er wehleidig. „Ich finde es immer noch süß. Ich wünschte…“, sie hielt abrupt inne und senkte betroffen den Kopf. „Hat er sich heute schon bei dir gemeldet?“, fragte Masaru behutsam, als er Mimis trauriges Gesicht sah. Sie schüttelte nur kurz den Kopf, drehte sich herum und räumte die Gläser ins Regal. „Aber es lief doch eigentlich ziemlich gut bei euch, was ist passiert?“ Das Gleiche fragte sich Mimi ebenfalls. Niedergeschlagen widmete sie sich wieder ihrer Arbeit und zuckte nur beiläufig mit den Schultern. Vor gut einem Monat hatte alles angefangen. Etsuko hatte ihr einen Job als Kellnerin besorgt, da sie für den ausgebauten Barbereich noch Leute suchten. Ihre Mutter war zu sehr mit der Organisation und der Buchhaltung beschäftigt gewesen, sodass sie selbst nicht einspringen konnte. Mimi hatte sich schon länger vorgenommen gehabt, ihre Mutter zu unterstützen, auch wenn sich das Verhältnis mit ihrem Vater mittlerweile gebessert hatte. Sie hatte sich nach der Dokumentation und Norikos letzten Brief mit ihm getroffen und sich ausgesprochen. Mittlerweile sahen sie jedes zweite Wochenende, verabredeten sich zum Essen oder verbrachten einfach etwas Vater-Tochter-Zeit zusammen. Natürlich hatte sich in den letzten zwei Monaten einiges verändert, dass wusste sie, doch mit manchen Veränderungen kam sie nicht so gut klar, wie sie anfangs dachte. Zwar hatte sie sich gut ins Abschlussjahr eingelebt, freute sich, dass sie weniger Probleme in Mathe hatte, da sie gemeinsam mit Izzy und ein paar anderen Klassenkammeraden eine Lerngruppe gegründet hatte, aber dennoch war nicht alles so, wie sie es sich erhoffte. Mimi biss sich verbittert auf die Unterlippe und kaute darauf herum, da sie sich eingestehen musste, dass die Beziehung mit Tai nicht sonderlich gut lief. Als er mit dem Studium angefangen hatte, trafen sie sich meist am Wochenende, schrieben viele SMS und telefonierten, so oft es ging. Doch ihre Beziehung schien immer mehr festzustecken, da besonders Mimi Hemmungen entwickelt hatte, einen Schritt weiterzugehen. Sie gab sich bereits selbst die Schuld an der ganzen Misere, da sie ihn immer auf Abstand hielt und sämtliche intimeren Annährungsversuche abblockte. Sie hatte Angst erneut verletzt zu werden, denn immer wenn sie sich näher kamen, sah sie dasselbe Bild vor sich. Die Nacht, in der er aufstand und einfach ging. Sie wusste zwar, dass er es damals aus Unsicherheit getan hatte, aber es hatte alte Wunden aufgerissen, die sie nicht einfach ignorieren konnte. „Vielleicht hat er ja eine andere kennengelernt und überlegt wie er mit mir Schluss machen kann“, sagte sie nach einer Weile und spürte wie sich ihr Herz schmerzvoll zusammen zog. Seit drei Wochen meldete er sich immer unregelmäßiger bei ihr, sagte Treffen ab und flüchtete sich in fadenscheinige Ausreden, die sie ihm einfach nicht glauben konnte. In ihr kochte die Wut, wenn sie daran dachte, dass er sich wohlmöglich mit anderen Mädchen vergnügte, die sich nicht so anstellten wie sie. Sie war wütend auf sich selbst, auch wenn sie ihre Gefühle durchaus verstehen konnte. „Red‘ dir doch nicht so einen Mist ein! Vielleicht muss er ja wirklich so viel lernen und du arbeitest ja meist am Wochenende“, meinte er erklärend. „Er weiß noch gar nicht, dass ich hier arbeite und wenn schon?“, wiedersprach sie und schüttelte flüchtig den Kopf. „Es ist noch lange kein Grund, sich überhaupt nicht mehr zu sehen. Ich vermisse ihn, aber ich bin auch so unfassbar wütend, weil ich mir die schlimmsten Sachen vorstelle.“ Ihre Lippen bebten vor Zorn, weshalb sie sie qualvoll aufeinanderpresste. Der Schmerz ihres verletzten Herzens kroch ihren Hals hinauf und trieb ihr die Tränen in die Augen, als sie plötzlich Masarus Hand auf ihrer eignen spürte. „Du machst dir viel zu viele Sorgen! Du solltest ihn einfach darauf ansprechen und ihm sagen, was du fühlst. Die Erklärung ist vielleicht einfacher als gedacht“, versuchte er sie zu beruhigen und fuhr zaghaft über ihren Handrücken. Einen kurzen Moment später stand er auf, kippte seinen Eistee hinunter und grinste leicht. „Ich muss jetzt leider los. Muss noch einkaufen, weil Chiaki mich sonst umbringt“, sagte er lachend und schnappte sich seine Tasche. Mimi schenkte ihm ebenfalls ein Lächeln, da es sie unheimlich freute, dass beide endlich eine passende Wohnung gefunden hatten und bereits seit knapp zwei Monaten mehr oder weniger friedvoll zusammenlebten. „Grüß‘ ihn bitte ganz lieb von mir“, murmelte sie leise und wollte sich gerade wieder ihrer Arbeit zuwenden, als Masaru sich nochmal zu ihr umdrehte. „Wir sehen uns doch später“, erinnerte er sie nachdrücklich, „Chiaki kommt auch mit, auch wenn hauptsächlich Kommilitonen von mir dabei sind. Dann lernst du auch endlich den Strubbelkopf kennen. Du wirst ihn sicher mögen.“ _ Gegen Abend wurde die Bar immer voller und Mimi rannte wie ein aufgescheuchtes Huhn von Tisch zu Tisch, um die Bestellungen aufzunehmen. Abgehetzt kam sie wieder an der Theke an und sah wie Etsuko verträumt in Richtung des Barkeepers schielte. „Willst du nicht auch mal arbeiten?“, fragte Mimi empört und befüllte die Gläser mit alkoholfreien Getränken. „Ja gleich, Daigo mixt gerade die Cocktails“, antwortete sie fast schon sabbernd und richtete ihre volle Aufmerksamkeit auf die muskulösen Arme des neuen Barkeepers. „Du solltest ihn endlich mal nach einem Date fragen“, murrte Mimi genervt, da sie schon mitbekommen hatte, wie lange Etsuko ein Auge auf ihn geworfen hatte. Daigo hatte zur gleichen Zeit angefangen wie Mimi und Etsuko war gleich Feuer und Flamme für den jungen schwarzhaarigen Mann. „Nee, das wäre keine gute Idee“, meinte Etsuko nur und wandte sich von ihm ab. „Er ist bei meinem Vater angestellt, das gibt nur Stress.“ „Das weißt du doch gar nicht! Aber gut, steh‘ deinem Glück ruhig im Wege“, protestierte sie, streckte ihr provokant die Zunge heraus und begab sich mit ihrem Tablett schnell zum Tisch, bevor Etsuko reagieren konnte. Sie grinste ihr nur verschwörerisch hinterher und rief ihr etwas Unvollständiges nach, was Mimi allerdings nicht verstehen konnte. Grazil stolzierte sie zu dem Tisch, platzierte geschickt die Getränke darauf und bezirzte ein wenig die Kundschaft, um mehr Trinkgeld zu bekommen. Gerade als sie sich wieder zur Theke zuwenden wollte, sah sie wie Masaru eintrat. Er erkannte sie sofort und winkte ihr zu. Mimi lächelte verschmitzt und ging auf ihn zu, als Chiaki und seine Studienfreunde hinter ihm auftauchten. Verstört sah sie hinter ihn, als sie ihn erkannt hatte. Ihr rutschte das Tablett aus den Händen, das geräuschvoll auf dem Boden landete. Mit geweiteten Augen starrte sie immer noch zu ihm, als sich ihre Blicke auf einmal trafen und er sie sofort erkannte. Schnell beugte sie sich nach unten und suchte nach ihrem Tablett, das sich unter einem Tisch versteckt hatte. Sie krabbelte darunter und fischte danach, wollte aber nicht gleich wieder auftauchen. Ihre Wangen wurden ganz warm und ihr Herz schlug augenblicklich schneller. Was hatte er nur hier verloren? Waren er und Masaru etwa befreundet? Was zur Hölle war hier nur los? Sie griff nach ihrem Tablett und tauchte wieder auf, als Masaru grinsend auf sie zugelaufen kam. „Ist es okay, dass wir uns dahinten hinsetzten?“, fragte er und deutete auf die kleine Gruppe, die sich schon auf den Weg zu dem ausgewählten Tisch gemacht hatte. Mimi schielte nur kurz hin und erkannte, dass er sie verwirrt anstarrte und ein unbekanntes Mädchen zart seine Schulter berührte und ihn sachte mit sich zog. Eifersucht durchströmte ihren Körper, als sie aufgebracht Masaru am Arm packte und ihn in wortlos in die Besenkammer schleppte. Sie schlug die Tür zu und wirbelte aufgebracht herum. „Woher kennst du Tai?“ „Hä? Was meinst du? Und was soll das hier?“, hakte er irritiert nach. „Dein Freund, den du mitgebracht hast! Das ist Tai!“, erklärte sie ihm wild gestikulierend. „Wie jetzt?“, fragte Masaru dümmlich nach. „Das ist DEIN Tai?“ Mimi schlug ihm wütend gegen die Brust. „Ja! Wie konntest du das nicht checken?“ „Tut mir leid“, entschuldigte er sich und wich ihren Schlägen aus, indem er ihre Handgelenke festhielt. „Aber zu meiner Verteidigung…es heißen wirklich nicht gerade wenige Taichi. In meinem einen Seminar gibt es gleich fünf!“ Sie riss sich los und drehte ihm seufzend den Rücken zu. Sie hätte es ahnen müssen. Beide studierten Politikwissenschaften an der Tokai Universität. Früher oder später wären sie sich sowieso über den Weg gelaufen. Angestrengt runzelte Mimi die Stirn und wandte sich Masaru wieder zu. „Warum hast du mir nie etwas von ihm erzählt?“, hakte sie aufgebracht nach und ging ein paar Schritte auf ihn zu. „Das hab ich doch! Sehr viel sogar! Er ist der Strubbelkopf, der mich zum Flyer verteilen genötigt hat, um…“, er stoppte unvermittelt und grinste Mimi wissend an. „Jetzt macht das auch alles irgendwie viel mehr Sinn“, sagte er und kratzte sich am Kinn, während Mimi die Zusammenhänge nicht bilden konnte. „Was meinst du denn?“ Masaru schritt nur noch etwas näher an sie heran und legte behutsam den Arm um sie. Sie spürte seinen warmen Atem an ihrem Ohr. „Du solltest wirklich mal mit ihm reden. Ich glaube, danach klärt sich einiges“, antwortete er fast schon prophezeiend und zog sie mit nach draußen. Gerade als Masaru sie mit zu ihrem Tisch ziehen wollte, stellte sich Etsuko ihnen in den Weg und funkelte sie böse an. „Man Mimi, ich such‘ dich überall“, knurrte sie und hatte bereits einen Eimer mit Putzzeug in ihren Händen. „Du bist heute mit den Toiletten dran. Also los! An die Arbeit!“, forderte sie sie auf, drückte ihr den Eimer in die Hände und deutete auf die Männertoilette hinter ihnen. Mimi folgte ihrem Blick und seufzte hörbar, als sie sich von Masaru löste und sich ohne Widerworte in die Herrentoilette begab. _ Ihre Nervosität nahm trotz der Ablenkung kein bisschen ab. Sie hatte nicht damit gerechnet, ausgerechnet Tai heute wiederzusehen. Es zerbrach ihr das Herz, ihn mit einem anderen Mädchen so vertraut zu sehen, aber auch Masarus Worte vernebelten ihr noch weiter den Kopf, sodass sie kaum einen klaren Gedanken fassen konnte. Sie wischte mit dem Schwamm über die Armatur des Waschbeckens und bemerkte erst gar nicht wie die Tür aufging, da sie ihren Gedanken nachhing und stur auf das verschmutzte Becken starrte. Plötzlich spürte sie, wie sich zwei Arme um sie legten. Erschrocken starrte sie in den Spiegel und erkannte Tai hinter sich, der sich angeschlichen hatte. Sie machte sich etwas ruppig von ihm los und drehte sich wütend zu ihm. „Du bist also Masarus Kumpel“, stellte sie nüchtern fest und fixierte kurz seine Augen, die sehnsüchtig auf ihren lagen. „Und du bist Masarus Kellnerfreundin“, sagte er lachend. „Ich wusste gar nicht, dass du hier arbeitest. Davon hast du mir nichts erzählt.“ Eingeschnappt drehte sie sich wieder um und schruppte das Waschbecken, sodass ihr Zopf leicht mitwippte. „Du hast dich ja in den letzten Wochen kaum bei mir gemeldet, da du keine Zeit hattest“, antwortete sie enttäuscht und versuchte angestrengt sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Doch er stellte sich dicht hinter sie und beobachtete ihr Spiegelbild. Ein paar Strähnen hatten sich aus ihren Zopf gelöst, die ihr störend ins Gesicht fielen. Mit einer ruckartigen Bewegung strich sie sich welche hinter die Ohren, als sie sich erneut lösten und ihr wieder ins Gesicht fielen. Genervt stöhnte sie, als sie auf einmal Tais Hand sah, die ihr liebevoll durch das Gesicht strich und sie von den nervigen Strähnen befreite. Mit der anderen Hand drückte er ihren Körper näher an sich, legte seinen Kopf in ihren Nacken und hauchte ihr einen zärtlichen Kuss auf ihren Hals, der sie erschaudern ließ. Wehmütig sah sie ihn an, ließ den Schwamm ins Waschbecken gleiten und drehte sich ihm zu. Er ließ sie wieder los, während sie sich an der Armatur abstützte und betroffen den Kopf senkte. „Warum hast du dich denn nur so unregelmäßig bei mir gemeldet? I-Ich habe dich vermisst“, gab sie schüchtern zu und wurde prompt rot vom die Nase. Es war ihr peinlich im Männerklo über ihre Gefühle zu sprechen, aber Masaru hatte Recht. Sie mussten es klären. Tai trat näher an sie heran und legte liebevoll die Arme um sie, so als wollte er sie nie wieder loslassen. Er fuhr mit den Händen hinter ihren Nacken, brachte sie dazu den Kopf etwas anzuheben, damit er seine Lippen auf Ihre legen konnte. Sehnsüchtig erwiderte sie seinen Kuss, indem so viel Gefühl lag, dass ihr erst richtig bewusst wurde, wie sehr sie ihn vermisst hatte. Mimi krallte ihre Finger in sein Hemd und spürte wie er sie hochnahm und auf dem Waschbecken platzierte. Sie presste ihre Beine um ihn, um seine Nähe noch mehr zu spüren, ihn ganz nah bei sich zu haben. Atemlos löste er sich nach kurzer Zeit von ihr und sah sie voller Liebe an. Mit den Fingern fuhr er über ihr Gesicht und musterte sie von oben bis unten. Sie trug ihre Arbeitskleidung, die aus einer schwarzen Hose, einem gleichfarbigen Shirt und einer weißen Umhängeschürze bestand. „Heißes Outfit“, kommentierte er grinsend, als Mimi ihm spielerisch gegen den Arm boxte. „Du hast meine Frage nicht beantwortet“, erinnerte sie ihn und zog eine Schnute, die Tai noch mehr zum Schmunzeln brachte. Er fuhr ihren Arm entlang, bis er bei ihren Händen angelangt war und diese mit seinen umschloss. „Es tut mir leid. Ich war sehr beschäftigt gewesen, auch wenn es nichts mit der Uni zu tun hatte“, gab er zu und machte eine kurze Pause bevor er weitersprach. „Ich wollte einfach einmal richtig mit dir ausgehen, da wir uns nur bei dir getroffen hatten oder manchmal spazieren gegangen waren. Aber ich wollte dir ein richtiges Date mit allem drum und dran ermöglichen, deswegen habe ich ein bisschen Geld dazuverdient, weil ich meinen Eltern schon genug auf der Tasche liege und sie nicht unbedingt danach fragen wollte.“ Mimi atmete hörbar aus, erinnerte sich daran, als Masaru von dem Strubbelkopf erzählte, der ihn immer wegen seiner Freundin nervte und ihr unbedingt ein schönes Date organisieren wollte. „Masaru hat mir davon erzählt, aber ich wusste nicht, dass er dich meint“, sagte sie gerührt und zog ihn näher an sich heran. Sie presste ihre Stirn gegen seine und wurde von Glücksgefühlen durchströmt. „Das ist so unfassbar süß von dir“, raunte sie heißer und küsste ihn hingebungsvoll. Seine rauen Lippen berührten ihre, erst ganz sachte, dann immer fordernder. Sie vergrub ihre Finger in seiner wilden Mähne, presste ihre Beine enger um ihn, während seine Hände ihren zierlichen Körper hinunterwanderten und seine Spuren eine sanfte Gänsehaut hinterließen. Lustvoll glitt er mit seiner Zunge in ihre Mundhöhle, streichelte ihre begierig, als Mimi genüsslich die Augen schloss und den Moment in vollen Zügen genoss. So hatten sie ihn schon länger nicht mehr geküsst. Sie sehnte sich nach ihm, nach seinem starken männlichen Körper, seinen muskulösen Armen, die ihr Sicherheit gaben. Am liebsten hätte sie ihn nie wieder losgelassen, als eine schrille Stimme, beide auseinander fahren ließ. „Was in drei Teufelsnamen machst du da? Das kannst du Zuhause machen! Geh‘ wieder an die Arbeit“, tadelte Etsuko sie und stemmte ihre Arme in die Hüfte. Mit hochrotem Kopf, saß Mimi immer noch auf dem Waschbecken und blickte peinlich berührt zu Etsuko, die nur völlig fassungslos den Kopf schüttelte. „Das darf doch nicht wahr sein“, grummelte sie, schenkte Mimi einen vielsagenden Blick, als sie die Toilette wutentbrannt wieder verließ. Schamvoll sah Mimi zu Tai, der sein Lachen kaum noch unterdrücken konnte. „Hey hör‘ auf! Sie meint das ernst, ich muss weiterarbeiten“, sagte sie schnell und sprang von der Armatur hinunter. „Ist ja schon gut“, gab er klein bei, entfernte sich aber nicht. Mimi hatte gerade die Putzsachen zusammengeräumt und wollte weitermachen, als er sich ihr in den Weg stellte. „Tai, ich muss wirklich arbeiten. Lass‘ uns später reden!“, schlug sie ihm vor, schritt zur Seite, wurde aber erneut von ihm aufgehalten. „Was ist denn noch?“ „Ich muss dich noch etwas fragen“, erwiderte er geheimnisvoll und fuhr sich nervös durch seine wilde Mähne. „Okay, was möchtest du mich denn fragen?“, hakte sie nach und legte ein zuckersüßes Lächeln auf. „Geh‘ bitte mit mir aus! Nächsten Samstag!“, erwiderte er inständig und hatte sie mit einem liebevollen Blick fixiert. Mimi musste leicht schmunzeln, da es mehr eine Aufforderung, statt eine Frage war. Doch sie wusste genau, welche Antwort sie ihm geben würde. Kapitel 61: Das erste richtige Date ----------------------------------- Sie betrachtete sich im Spiegel und zupfte ihr luftiges Sommerkleid zurecht. Ihre leicht gelockten Haare trug sie offen und hatte lediglich ein schlichtes Haarband an ihrer braunen Mähne befestigt. Nervös fuhr sie sich mit den Fingern durch ihre Längen und atmete hörbar aus. Ihr Herz pochte gegen ihre Brust, als sie auf die Uhr schaute und feststellte, dass sie bald los musste. Sie schnappte mit schwitzigen Händen nach ihrer Handtasche und stürmte aus ihrem Zimmer. Ganz in Gedanken, bemerkte sie zuerst gar nicht, dass sie Besuch hatten. „Und machst du dich jetzt auf den Weg zu deinem wichtigen Date?“, hakte ihre Mutter fröhlich grinsend nach. Mimi wirbelte herum und wollte gerade ansetzten etwas zu sagen als sie feststellte, dass eine weitere Person im Wohnzimmer saß. Überrascht riss sie die Augen auf und hielt inne. „Hallo, mit dir habe ich ja gar nicht gerechnet“, sagte sie zurückhaltend und blieb mitten im Zimmer stehen. Es war ungewöhnlich sie so friedlich neben ihrer Mutter sitzen zu sehen. Es war wie die Ruhe vor dem Sturm, nur, dass der Sturm diesmal ausblieb. „Wie geht es…“, Mimi biss sich intuitiv auf die Unterlippe, da es sich falsch anhörte, sie so etwas zu fragen. Es war wie eine Grenze, die sie sich selbst gesteckt hatte. Doch Ayame lächelte sanft und nickte bestätigend. „Mir geht es den Umständen entsprechend gut. Ich bin hier, weil ich deiner Mutter etwas erzählen wollte.“ Neugierig beobachtete sie, wie sie eindeutige Blicke miteinander tauschten. Seit kurzem unternahmen beide regelmäßig etwas miteinander und arbeiteten ihre Beziehung nach und nach auf. Ren war derjenige, der beiden ins Gewissen redete und sie dazu animierte sich aufzuraffen und miteinander zu reden. Mimi merkte, dass es ihrer Mutter unglaublich half, die Geschehnisse von damals zu reflektieren und zu wissen, wie es dazu gekommen war. „Um was geht es denn?“, fragte sie interessiert und stützte sich auf einem der Stühle ab, während sie die Uhr immerzu im Auge behielt. Sie wollte Tai nicht warten lassen, auch wenn sie gespannt war, was Ayame ihnen zu berichten hatte. „Ich werde mein Jurastudium wieder aufnehmen. Noriko hatte immer gemeint, dass ich es fertig machen sollte, aber bisher hatte sich keine Gelegenheit ergeben. Aber jetzt habe ich die Möglichkeit in Abendkursen mein Examen nachzuholen“, erzählte sie freudig und strahlte förmlich. „Das freut mich für dich“, erwiderte Mimi herzlich und umarmte Ayame ohne Umschweife. Sie wusste, wie wichtig es Noriko war, dass auch ihre Mutter nach ihrem Tod eine sinnvolle Aufgabe im Leben fand. Sie wäre sicher sehr stolz auf sie gewesen, hätte sich für sie gefreut und wäre euphorisch durch die Wohnung getanzt. Noriko war ein ganz besonderer Mensch, da sie es schaffte, einen selbst mit ihrer Freude regelrecht umzuhauen und mitzureißen. Mimi erinnerte sich noch gut an Ayames Reaktion, als sie Etsus Dokumentation gesehen hatte und ihr gerührt in die Arme fiel. Sie hatte Noriko so gezeigt, wie sie war. Voller Leben und einer ergreifenden positiven Lebenseinstellung. Zwar war Mimi immer noch traurig, wenn sie an ihre Schwester dachte, da sie sie sehr vermisste und sich wünschte, dass sie länger an ihrer Seite hätte bleiben können. Doch Noriko war nie ganz fort. Etwas hatte sie hinterlassen. Ein tiefes Band der Verbundenheit, dass Mimi mit allen, die ihr wichtig waren, zusammenhielt. Sie war daher dankbar, für jeden einzelnen Tag, den sie mit ihr verbringen durfte. _ Als sie am verabredeten Treffpunkt eintraf, wartete Tai bereits auf sie. Ein keckes Grinsen hatte sich auf sein Gesicht gezaubert, als Mimi mit schnellen Schritten auf ihn zugelaufen kam. „Hey“, sagte sie mit verhangener Stimme, ließ sich von ihm in eine herzliche Umarmung ziehen und einen kurzen Kuss auf die Lippen hauchen. In ihrem Bauch kribbelte es wie verrückt, als er ihre Hand nahm und seine Finger mit ihren verschränkte. „Wartest du schon lange?“ „Nein, ich bin auch gerade erst gekommen, Prinzessin“, antwortete er sanft und fuhr mit dem Daumen über ihren Handrücken. „Und was hast du für heute geplant?“, hakte sie neugierig nach, fixierte ihn eindringlich und versuchte seine Gedanken zu lesen. „Lass dich einfach überraschen“, lachte er und zog sie in Richtung Innenstadt. „Aber ich will es wissen“, schmollte sie und zog die Unterlippe nach vorne. „Ja, bald wirst du das auch“, hielt er sie hin und führte sie an verschiedenen Restaurants vorbei, ohne anzuhalten. Erst jetzt fiel ihr auf, dass er unglaublich gut roch und in dieser engen Jeans und seinem roten Hemd einfach zum Anbeißen aussah. Begierige Blicke wanderten über seine Haut ohne, dass er etwas davon mitbekam. Wie gern würde sich Mimi einfach fallen lassen und nicht mehr länger über ihre Zweifel nachdenken? Doch sie hatten sich in ihrem Kopf verschanzt, erinnerten sie immer wieder an Vergangenes, auch wenn sie keine Gedanken mehr daran verschwenden wollte. Schon wieder ließ sie sich von ihren schmerzlichen Erinnerungen ablenken, bis Tai auf einmal stoppte und vor einem schicken Restaurant anhielt. „Da willst du reingehen? Das sieht ziemlich teuer aus“, murmelte Mimi, als er Anstalten machte, es zu betreten. Er legte jedoch nur den Arm um sie und zog sie widerwillig mit rein. „Mach‘ dir mal keine Gedanken“, schwächte er ab und Mimi erfuhr, als Tai mit dem Kellner redete, dass er bereits auf seinen Namen reserviert hatte. Mit großen Augen betrachtete Mimi das schicke Lokal und fühlte sich gleich unpassend angezogen, sodass sie sich fest an Tai presste, der von dem Kellner einen Tisch zugewiesen bekam. Ganz gentlemanlike zog er ihren Stuhl an, damit Mimi sich setzten konnte, bevor er selbst Platz nahm. „Jetzt mal ehrlich, das ist ein Nobelrestaurant! Ich kann doch nicht von dir erwarten, dass du das für mich bezahlst“, sagte sie ein kleinwenig empört und beugte sich zu ihm vor. „Mimi bleib ganz ruhig! Meine Eltern, Kari und ich waren hier schon öfters essen. Es ist bezahlbar und sehr lecker“, beruhigte er sie, als auch schon die Speisekarte an beide weitergereicht wurde. Mimi verdeckte dahinter ihr rotes Gesicht, da es ihr peinlich war, vor Tai so ein Tamtam zu veranstalten. Sie wollte wirklich nicht, dass er für sie so viel Geld hinblätterte, auch wenn sie die Preise auf der Speisekarte einigermaßen beruhigten. Es war günstiger, als sie erwartet hatte. Als sie sich entschieden hatten, bestellte Tai ganz selbstverständlich für sie mit, während Mimi bereits schon wieder ins Schwärmen geriet. Sein Lächeln betörte sie jedes Mal aufs Neue und seine Berührungen erweckten bei ihr tiefsitzende Sehnsucht, die sie zuvor noch nie gespürt hatte. Ihr wurde immer bewusster, wie gern sie in seiner Nähe war und das sie sich, je mehr Zeit sie mit verbrachte, noch mehr in ihn verliebte, wenn dies überhaupt möglich war. Er brachte sie zum Lachen, heilte ihr Herz und schürte in ihr das Feuer der Leidenschaft, das sich hemmte zu entladen. Dabei wollte sie so gern mit ihm zusammen sein. Er hatte so um sie gekämpft, dass sie ihm etwas zurückgeben wollte, dass zeigte, wie sehr sie ihn liebte. _ Nachdem fabelhaften Essen, schlendern beide in Richtung Strand. Die Sonne war bereits dabei unterzugehen und färbte den Himmel in den unterschiedlichsten Rottönen. Mimi ließ sich im warmen Sand nieder und starrte auf das unendlich wirkende Meer. Tai setzte sich direkt neben sie und hielt sich seinen gutgefüllten Bauch. „Ich bin wirklich pappsatt“, meinte er zu ihr, erkannte aber schnell, dass sie traurig dreinblickte. Mimi hatte ihre Beine angestellt und umarmte mit ihren Armen ihren eigenen Körper. Die Melancholie des Meeres erfasste ihr Herz und ließ sie in die Vergangenheit zurückkehren. Sie bildete sich ein, ihr Lachen zu hören und wenn sie ihre Augen schloss, sah sie ihr Gesicht klar vor sich, wie sie glücklich am Strand tobte und eine fröhliche Melodie vor sich her summte. Von Trauer erfüllt, öffnete sie die Augen, stellte fest, dass sie in ihre kurzzeitige Traumwelt zurückkehrt war und sich nun wieder der Realität stellen musste. Sie würde irgendwann alles vergessen. Ihren Geruch, ihre Stimme, die Momente, die sie einander näherbrachten. Plötzlich spürte sie seine starken Arme hinter sich. Er, der ihr Halt gab, damit sie nicht ins Bodenlose fiel. „Sie fehlt dir, oder?“ Seine Stimme war tief und brachte das auf den Punkt, was sie in diesem Moment fühlte. Sie fühlte sich gebrochen, merkte, dass ein Teil von ihr komplett fehlte. Sie ertastete die Kette an ihrem Hals, die sie das erste Mal seit langem wieder umgelegt hatte. Es war eine Verbindung zu ihr, die sie nicht missen wollte, aber dennoch tat. „Als ich noch jünger war, habe ich mir immer einen Bruder, oder eine Schwester gewünscht. So als hätte ich gewusst, dass ein Teil von mir fehlt und nicht komplett ist“, sie atmete schwer und konzentrierte sich darauf, nicht vor ihm zu weinen. Tai mochte nicht, wenn sie weinte. Er wollte sie glücklich sehen, auch wenn das leichter gesagt, als getan war. Sie sammelte sich und versuchte weiterzuerzählen. Mit schwerer Zunge sprach sie weiter, richtete aber ihren Blick immer noch stur geradeaus. „Und jetzt, wo ich sie kenne und feststellen muss, dass ich sie unheimlich gerne habe, wird sie mir einfach wieder weggenommen“, sie schluchzte und presste ihr Gesicht gegen ihre Knie. Tai rieb ihr behutsam den Rücken und rutschte noch ein wenig näher an sie heran. Sie hatte ihm alles über Noriko erzählt, auch wenn es sie traurig stimmte. Tai schaffte es immer wieder sie aufzuheitern und ihr neuen Mut zu schenken, der sie motivierte jeden Tag weiterzumachen. Bei ihren anderen Freunden hatte sie immer noch Hemmung sich so fallen zu lassen, auch wenn sie mittlerweile über Noriko Bescheid wussten. Nur bei Tai fühlte sie sich sicher und geborgen, um sich ihren Gefühlen zu stellen, die immer noch ihr gesamtes Leben nachhaltig prägten. „Sie war sicher ein wundervoller Mensch“, behauptete Tai auf einmal und küsste sie liebevoll auf ihren Haaransatz. Mimi erhob sich und sah ihn tränenverschleiert an. Ein paar Tränen lösten sich, die Tai mit seinem Daumen abfing und wegwischte. „Weißt du auch, warum ich das weiß?“, hakte er umsichtig nach. Mimi schüttelte nur kraftlos den Kopf und lehnte sich bei ihm an. Er hielt sie einfach fest, war wie ein Fels in der Brandung, der die einzige Konstante bildete. Liebevoll strich er ihr über ihr Gesicht, fuhr zart mit den Fingern über ihre rosigen Wangen und brachte sie dazu ihn anzusehen. Sein Blick war tiefgehend und unergründlich, signalisierte ihr aber eine unfassbare Wärme, sodass sie sich geborgen fühlte. Sein Gesicht kam ihr näher und hielt direkt vor ihren Lippen an. „Weil du einfach wunderbar bist. Sie war deine Schwester und wird auf dich aufpassen. Egal, wo sie auch sein mag, sie wird immer ein Teil von dir sein und du ein Teil von ihr.“ Gerührt von seinen Worten, reckte sie sich ihm entgegen und küsste ihn gefühlvoll. Es war kein tiefgehender Kuss, der aber dennoch all ihre aufrichtigen Gefühle für ihn zeigte. „Danke, das du für mich da bist“, sagte sie mit schwacher Stimme und kuschelte sich an ihn. Beide betrachteten den voranschreitenden Sonnenuntergang, der langsam das Meer berührte. Der Himmel schimmerte dunkelrot und ein laues Lüftchen wehte, als Tai auf einmal ein keckes Grinsen auflegte. Er zog seine Schuhe aus, richtete sich auf und lächelte sie spitzbübisch an. Er packte Mimi abrupt am Handgelenk, als sie nur perplex zu ihm starrte und zu spät realisierte, dass er sie in Richtung Meer zog. Sie versuchte sich zu wehren, als er sie plötzlich hochnahm und auf das dunkelblaue Meer zulief. „Das ist doch jetzt nicht dein ernst? Ich habe doch noch meine Schuhe an“, protestierte sie und strampelte wild. Er ließ sie runter, sah sie herausfordern an und blickte auf ihre Füße. Mimi verstand sofort, zog zuerst den linken und dann den rechten Schuh aus, als sie sich danach gemeinsam mit ihm ins Wasser stützte. Sie plantschten herum, spritzen sich gegenseitig nass, als sie sich lachend in die Arme fielen. Auch wenn das Leben manchmal alles andere als fair war, war Mimi glücklich. Jede einzelne Sekunde, fühlte sich mit ihm so belebend an, dass sie ihren Kummer für einen kurzen Moment vergessen konnte. _ Völlig durchnässt kamen beide am Strand an, küssten sich engumschlugen und genossen die Nähe zueinander. Sanft legte sie sich in den Sand, während er sich über sie gebeugt hatte und ihren zierlichen Körper erkundete. Mimi hatte ihre Hände hinter seinem Nacken vergraben, schloss genüsslich ihre Lider, als er sie leidenschaftlich küsste. Im Rausch der Sehnsucht, bemerkte sie gar nicht, wie er immer wieder Anstalten machte, ihr Kleid hochzuziehen. Erst als er von ihren Lippen abließ und ihren Hals entlangfuhr, spürte sie, wie er mit den Fingern unter dem nassen Stoff verschwand. Er spielte auffällig an ihrer Unterwäsche, als sie sein Handgelenk packte und es wieder zu ihrer Taille führte. Tai ließ sich nicht aus dem Konzept bringen, auch wenn ihn ihre Handlung sicherlich irritierte, doch auch Mimi war verunsichert. Wie gerne würde sie mit ihm schlafen, sie stellte sich nichts Schöneres vor, allerdings hatte ihr Kopf sie fest im Griff und hinderte sie daran, sich fallen zu lassen. In letzter Zeit musste sie vermehrt an Dinge aus der Vergangenheit zurückdenken, die sie nach wie vor beschäftigten und einfach nicht losließen, egal wie sehr sie es auch versuchte. Tai wanderte mit seiner Hand weiter nach oben, während seine heißen Lippen langsam hinunterglitten. Er fasste nach ihrer linken Brust und begann sie gleichmäßig, über ihr Kleid hinweg, zu massieren. Sie keuchte leise, legte ihren Kopf in den Nacken und spürte wie sehr seine Streicheleinheiten ihr gefielen. Er drückte seinen Körper dichter an ihren, sodass sie sich genau im Einklang miteinander befanden. Mimi fuhr mit ihren Fingern seinen Rücken entlang und krallte sich in den Stoff seines Hemdes, als er sich an einer empfindlichen Stelle an ihrem Hals festsaugte. Die Erregung in ihr wuchs, brachte das Feuer der Leidenschaft immer weiter zum Lodern und ihr Körper ergab sich der ausbreitenden Hitze. Sie spürte ein wohliges Kribbeln zwischen den Beinen, dass durch seine wachsende Erregung kontinuierlich gesteigert wurde. Tai ließ langsam von ihrer Brust ab, wanderte mit seiner Zunge weiter zu ihrem Dekolleté, bedeckte ihr süßlich riechendes Fleisch mit zärtlichen Küssen, als er den Stoff ihres Kleides etwas nach unten zog. Er verschwand mit der Zunge in ihrem BH, reizte ihre Brustwarze spielerisch mit seinen liebevollen Liebesbissen und saugte sich lustvoll daran fest. Mimi stöhnte leise, drückte seinen Kopf näher an sie heran und bewegte ihr Becken gegen seins. Er ließ augenblicklich von ihr ab und seufzte genießerisch auf. Sie zog ihn jedoch wieder bestimmend zu sich hinunter und legte fordernd die Lippen auf seine. Das Meer rauschte im Hintergrund und erinnerte sie daran, dass sie sich an einem öffentlichen Strand befanden und ihre halbe Brust aus ihrem Kleid hervorblitzte. Doch er schaffte es, dass sie sich wieder voll und ganz auf ihn konzentrierte und ließ sich auf seinen abverlangenden Kuss ein. Zielstrebig glitt er mit seiner Zunge in ihre Mundhöhle, streichelte ihre sanft und begegnete ihr wild tanzend. Mimi keuchte während den einzelnen Küssen und ließ sich von ihm den Atem rauben. Er hingegen strich ihre Schenkel hinunter, wanderte unter ihr Kleid, hoch zu ihrem Slip. Gerade als er ihn mit seinem Finger beiseiteschieben wollte, verkrampfte sich alles in ihr und sie dachte an ein langvergessenes Ereignis zurück, das ihre kleine rosarote Welt sofort zum platzten brachte. „Du bist echt nur zum Vögeln gut, obwohl du das auch noch nicht mal gut kannst. Aber du bist kein Mädchen, mit dem man eine ernsthafte Beziehung führt. Dich kann man so leicht rumkriegen, ich musste einfach nur ein verführerisches Lächeln auflegen und schon warst du Wachs in meinen Händen.“ Etwas unsanft stieß Mimi Tai von sich runter und richtete ihr Kleid. Schweratmend dachte sie an die Worte zurück, die ihr durch den Kopf schossen. Ihr Herz hämmerte gegen ihre Brust, als ihr bewusst wurde, was sie beinahe mit Tai hier am Strand getan hätte. Besorgt sah er sie an und kniete sich neben sie. „Tut mir leid, i-ich…“ „Nein, schon gut. Mir tut es leid. Das war eine blöde Idee“, sie lächelte schwach und presste ihr Beine gegen ihren Körper. „Ich wollte dich wirklich zu nichts drängen“, versicherte er ihr und rutschte näher an sie heran. „Hast du nicht“, schwächte sie ab und blickte verunsichert zu ihm. „Wäre am Strand möglicherweise etwas ungünstig.“ Er grinste verstohlen und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Mittlerweile war es schon dunkel geworden und der Mond schimmerte auf das schwarzaussehende Meer. „Vielleicht sollte ich dich gleich mal nach Hause bringen“, meinte Tai sorglos, während Mimi betroffen den Kopf senkte und nur ein verhaltenes Nicken zu Stande brachte. Er war sicher enttäuscht und wollte es vor ihr nicht zeigen. Warum konnte sie nicht mit ihm schlafen? Es wäre doch nicht das erste Mal gewesen. Niedergeschlagen blickte sie in die Ferne und ahnte, dass die Vergangenheit sie bald einholen würde. Kapitel 62: Leidenschaftliche Begierde -------------------------------------- Frustriert blickte sie auf den Thesen und sah gelegentlich auf die Uhr, die ihr signalisierte, dass sie bald Feierabend hatte. Sie hatte sich extra für die Nachmittagsschicht einteilen lassen, da sie den Abend mit Tai im Studentenwohnheim verbringen wollte. Sie hatten sich in den letzten Wochen häufig getroffen, albern viel zusammen rum und erlebten augenscheinlich eine unvergessliche Zeit miteinander. Doch ihr Glück bekam deutliche Risse, an denen Mimi sich allein die Schuld gab. Sie kamen sich näher, doch bevor sie den nächsten Schritt wagten, verkroch sich Mimi lieber in ihr Schneckenhaus und ließ ihn abblitzen. Sie wusste, dass sie ihn damit verletzte, vielleicht auf Dauer sogar vergraulte, doch sie sah keinen anderen Ausweg. Nachdem sie das erste Mal miteinander geschlafen hatten, war er gegangen und hinterließ eine tiefe Wunde, die einfach nicht heilen wollte. Auch wenn er sagte, dass es nicht bedeutungslos war, bekam sie das Bild, wie er einfach aufstand und ging nicht mehr aus ihrem Kopf. Das Vertrauen war weg, auch wenn es mehr mit ihrem Ex zutun hatte als mit Tai. Was wenn er recht hatte? Was wenn sie nur ein Mädchen für gewisse Stunden war? Wenn sie nicht fähig war, diese Beziehung aufrecht zu halten? Es stand auf einmal so viel auf dem Spiel. Sie wollte Tai nicht verlieren, spürte aber, dass sie sich voneinander entfernen würden, wenn sie so weitermachte. Mimi seufzte niedergeschlagen und stützte sich an der Theke ab. Nachmittags war nur wenig los, da viele nur auf einen Kaffee vorbeikamen und nach einer halben Stunde die Bar wieder verließen. Doch Ren glaubte an sein Konzept und war sich sicher, dass er auf seine Nachmittagskundschaft nicht verzichten konnte. Gelangweilt sah Mimi zu Masaru, der sich bei ihr eingefunden hatte und eine Postkarte kritisch begutachtete. „Denkst du, das hat etwas zu bedeuten?“, fragte er und las abermals die kurzen Zeilen, die für ihn bestimmt waren. „Keine Ahnung, ich weiß nicht“, antwortete Mimi abweisend und sortierte aus Langeweile einige Gläser nach ihrer Größe. Masaru hatte von Hideaki eine Postkarte aus den USA erhalten und war völlig aufgebracht zu ihr gekommen. Doch Mimi war nicht in der Stimmung ihm einen anständigen Ratschlag zu geben. Normalerweise hätte sie scharfsinnig interpretiert, aber die Tatsache, dass sie in einer Stunde mit Tai alleine im Studentenheim sein würde, schürte ihre Angst erneut. Sie konnte ihn nicht schon wieder abweisen. Sie musste sich etwas einfallen lassen. „Sag‘ mal, was ist eigentlich los mit dir? Du bist so hibbelig“, stellte Masaru fest und legte die Postkarte beiseite. Mimi wippte aufgeregt auf und ab, hatte es jedoch erst bemerkt, als Masaru sie darauf ansprach. Sie kam zum Stehen, sah sich kurz um und beugte sich näher zu ihm. „Es geht um Tai“, begann sie und erklärte ausschweifend von ihren Ängsten und Zweifeln, während Masaru ihr aufmerksam zuhörte und sie kein einziges Mal unterbrach. Sie fühlte sich schäbig, die ganze Aufmerksamkeit auf ihre Probleme zu ziehen, aber sie brauchte auch jemandem, dem sie sich anvertrauen konnte. Und auch wenn ihr Masaru schon öfters seltsame Ratschläge gab, war er ein Junge, der ihr möglicherweise weiterhelfen konnte. „Ich weiß wirklich nicht, was ich machen soll. Ich will ihn nicht verlieren“, zog sie ihn ins Vertrauen und wartete gespannt auf eine Reaktion von ihm. Vielleicht hielt er sie auch einfach nur für komplett verrückt. Nachdenklich verschränkte Masaru die Arme vor der Brust und überlegte einen Moment, bevor er antwortete. „Kennt er die Geschichte mit deinem Ex?“, fragte er umsichtig nach. Doch Mimi schüttelte nur schnell den Kopf und war sich nicht sicher, ob sie Tai jemals von Jason erzählen wollte. Masaru stützte sich auf der Theke ab und legte den Kopf schief. „Was ist mit dem anderen Kerl? Der mit dem du den One Night Stand hattest?“ Mimi lief unvermittelt rot an, da sie die Sache mit Matt erfolgreich aus ihrem Kopf verdrängt hatte. „Das darf er nicht erfahren“, beeilte sie sich zu sagen, bevor sie den Kopf von ihm abwandte und sich einen Lappen zum Wischen suchte. „Und warum nicht? Das war doch vor ihm, oder habe ich da was falsch verstanden?“, hakte er interessiert nach. „Trotzdem geht das nicht“, redete sich Mimi raus und wischte angestrengt über einen Flecken, der nicht vorhanden war. Masaru legte einen zweifelnden Blick auf und behielt sie unter Beobachtung, bis sie sich nicht mehr zurückhalten konnte. „Er ist sein bester Freund“, gab sie kleinlaut zu und hoffte, dass er sie nicht augenblicklich verurteilte. „Sein bester Freund? War das nicht der, der mit Hideaki auf Tour gegangen ist?!“, fragte er überrascht nach, während Mimi nur ein leichtes Nicken zu Stande brachte. Masaru legte nachdenklich den Kopf in den Nacken, als er plötzlich gleichgültig mit den Schultern zuckte, so als wäre es egal, dass Mimi mit Yamato geschlafen hatte. „Aber du warst damals betrunken gewesen und dachtest du hättest sowieso keine Chance bei ihm. Vielleicht solltest du offen mit…“ „Nein“, unterbrach sie ihn schroff, „auf klar keinen Fall. Tai nimmt das gleich persönlich und wird furchtbar enttäuscht von mir sein. Da muss es eine andere Lösung geben.“ „Aber viele Möglichkeiten hast du leider nicht!“, sagte er nüchtern. „Ich weiß“, jammerte sie und ließ ihren Kopf langsam sinken. „Bitte hilf‘ mir! Ich muss doch irgendwas machen können.“ Sie blickte hilfesuchend zu ihm und erkannte, dass sich ein diabolisches Grinsen auf seine Lippen geschlichen hatte. Er winkte sie näher heran, damit nur sie ihn hören konnte. „Naja, wenn du im Moment nicht mit ihm schlafen kannst, dann tu‘ halt andere unanständige Dinge mit ihm. Er wird sich sicher über eine entspannende Massage unterhalb der Gürtellinie freuen.“ „Man Masaru!“, rief Mimi empört und schlug ihm gegen den Arm, ohne, dass er sein herzliches Lachen unterbrach. „Was denn? Du hast mich um meine Meinung gefragt! Und man, warum bist du so prüde? Glaub mir, jeder Mann freut sich über etwas Zuwendung für seinen kleinen Freund“, erklärte er ihr anekdotenhaft. „Du darfst nur nicht reinbeißen!“ Mimi wurde augenblicklich tiefrot und wandte peinlich berührt den Kopf von ihm, als Masaru seine Tasche und Postkarte schnappte und aufstand. „Du machst dir viel zu viele Gedanken! Lass dich von deinen Gefühlen leiten“, schlug er ihr vor und beugte nochmal etwas näher zu ihr. „Er mag dich wirklich.“ Dann wandte er sich von ihr ab und grinste wissend. „Du solltest mal in sein Buch über Politische Systeme reinschauen“, riet er ihr nachdrücklich, klopfte auf die Theke und verließ die Bar danach. Mimi sah ihm mit rötlichen Wangen hinterher und dachte darüber nach, was er ihr geraten hatte. _ „Das ist mein kleines Reich“, sagte er stolz und zeigte ihr alles. Etwas verhalten beäugte Mimi sein Zimmer, das sehr klein war, aber alles beinhaltete, was man zum Leben brauchte. Er hatte eine winzige Kochnische mit Kühlschrank, einen Schreibtisch, der am Fenster stand, ein paar halbvolle Regale und ein kleines Bett direkt an der Zimmerwand. Die Wände waren Weiß gehalten, nur wenige Fotos zierten sie. Neugierig betrachtete Mimi diese und erkannte auf ein paar Bildern sich selbst wieder. Auf vielen Fotos waren Tai, Matt und Sora zu sehen, die früher immer als unzertrennliches Trio galten, sich allerdings nicht mehr so nahstanden, wie vor wenigen Monaten. Mimi dachte an Sora und stellte verbittert fest, dass sie ebenfalls kaum noch Kontakt zueinander hatten. Auf die meisten SMS reagierte sie kaum, oder wenn nur sehr einsilbig, was Mimi schon zu denken gab. Doch sie versuchte sich voll und ganz auf die Probleme in ihrem Leben zu konzentrieren, besonders, weil es nur eine Frage der Zeit war, bis sie wiederkam. Mimi musste leider zugeben, dass ihr dieser Gedanke alles andere als gefiel. Nach wie vor schaffte Sora es eine gewisse Unsicherheit in ihr auszulösen. Sie mochte ihre Freundin nach wie vor sehr gerne, doch wenn sie zurückkehrte, könnte sie Einfluss auf ihre Beziehung zu Tai haben. Sie schüttelte sich kurz und versuchte den Gedanken zu verdrängen, als Tai sie sanft an den Schultern berührte und ihr einen Kuss auf den Hinterkopf drückte. „Ich werde schnell duschen gehen. Ich war noch mit ein paar Kumpels Fußball spielen“, sagte er mit einem Lächeln und fuhr sich über seine schweißbenetzte Stirn. Mimi nickte nur verhalten, als er sich ins Badezimmer begab. Erst als sie das Wasser prasseln hörte, sah sie sich weiter in seinem Zimmer um. Sie legte ihre Tasche neben sein Bett, ging zu seinem äußerst ordentlichen Schreibtisch und sah einen kleinen Bücherhaufen, der darauf gestapelt war. Ihr kam sofort in den Sinn, dass Masaru eine Andeutung bezüglich eines Buches gemacht hatte, dass ebenfalls auf dem Tisch lag. Mit ihren zarten Fingern zog sie es aus dem Stapel und fuhr über die raue Oberfläche, bis sie es aufschlug. Im ersten Moment fiel ihr nichts Ungewöhnliches auf, bis sie ein Lesezeichen darin entdeckte und ebendiese Seite aufschlug. Ihre Augen huschten über die Seite, doch sie verstand kein einziges Wort. Erst als sie sein Lesezeichen umdrehte, stockte ihr der Atem. Gedankenverloren legte sie das Buch auf den Tisch und fuhr mit dem Finger über das glatte Papier, dass sie in Erinnerungen schwelgen ließ. Ganz darauf fixierte, bemerkte sie nicht, wie er nur mit Boxershorts bekleidet und einem Handtuch aus dem Badezimmer kam. „Ich wollte dir immer davon noch eine Kopie machen. Irgendwie habe ich es nie geschafft“, ertönte seine Stimme hinter ihr und ließ sie herumschnellen. Ihr Atem stockte, als er so leicht bekleidet vor ihr stand und sich mit dem Handtuch durch seine nassen Haare rubbelte. „Ich hätte nicht gedacht, dass du es aufgehoben hast“, sagte sie leise und betrachtete die vier verschiedenen Fotos genau. Sie erinnerte sich noch genau an die Gefühle und Emotionen, die sie an jenem Tag hatte. Sie durchströmten ihren Körper und entfachten eine neue Welle der tiefsitzenden Sehnsucht in ihrem Herzen. Er kam näher, berührte ihre zitternde Hand und sein herbes Duschgel stieg ihr in die Nase. Tai stellte sich so, dass er die Fotos ebenfalls gut sehen konnte, tippte mit dem Zeigfinger auf das dritte Bild und fing an zu lächeln. „Das ist mein Lieblingsbild“, sagte er mit rauer Stimme und bettete sein Kinn auf ihrer Schulter. Seine Arme schlang er um ihren Bauch und kuschelte sich ein wenig näher an sie heran. Ihr Herz pochte immer schneller gegen ihre Brust und ein zarter Rotschimmer legte sich über ihre Wangen. „Warum ausgerechnet das?“, hakte sie nach und blickte zu ihm rauf. Seine schokobraunen Augen trafen ihre und umhüllten ihr Herz mit einer sagenumwobenen Wärme, die sich gleich in ihrem ganzen Körper ausbreitete. „Weil wir uns damals beinahe geküsst hätten“, dachte er zurück und erweichte ihre Knie. Damals in dem Fotoautomaten… Natürlich konnte sie sich an diese Spannung zwischen ihnen erinnern, die ihr das Leben schwer machte. Sie hatte nicht gewusst, was sie tun sollte, welcher Schritt zu viel war und ob er genauso empfand wie sie. Mittlerweile hatten sich viele Unsicherheiten geklärt, aber nicht komplett aufgelöst. Sie wollte nicht mehr nachdenken, damals hatte sie viel zu viel nachgedacht. Mimi wollte risikofreudiger sein, ihm die Liebe geben, die er verdiente. Deswegen reckte sie sich ihm entgegen und küsste ihn einfach. _ Von der Leidenschaft und Euphorie getrieben, schafften sie es auf sein Bett. Selbstständig zog sie ihr viel zu störendes T-Shirt über den Kopf und warf es achtlos auf den Boden. Er lag unter ihr und machte sich an ihrem Jeansknopf zu schaffen, während sie seinen Hals entlangfuhr, sich festsaugte und mit zarten Bewegungen seine muskulöse Brust entlangwanderte. Ihre Haare fielen sachte über ihre linke Schulter, als sie sich aufsetzte und ihn mit einem lustverhangenen Blick fixierte. Sie pfriemelte sich aus ihrer Hose und platzte ihren nur mit Unterwäsche bekleideten Körper direkt auf seiner empfindlichsten Stelle. Er stöhnte genießerisch, als sie sich fordernd hin und her bewegte und seine Erregung weiter anheizte. „Shit“, fluchte er heiser und warf den Kopf zurück. Er verrollte die Augen lustvoll, als Mimi begann seinen Oberkörper zu küssen. Seine männliche Statur trieb ihre eigene Lust auf mehr ins Unermessliche. Noch nie in ihrem Leben, fand sie Unterwäsche so störend, wie in diesem Moment. Sie war so erregt, dass sie eine verzerrte Wahrnehmung entwickelte und sich ganz auf Tai konzentrierte. Sie stieg von seinem Schoss und brachte ihn dazu sich hinzulegen. Mit einem verführerischen Lächeln beugte sie sich weiter nach unten und zog mit ihrer Zunge feine Spuren bis hin zu seinem Bauchnabel. Mimi wurde mutiger und wanderte mit ihrer Hand über seine Boxershorts, was ihm einen genüsslichen Seufzer entlockte. Über seine Shorts hinweg, begann sie seine erigierte Männlichkeit gleichmäßig zu massieren. Zeitgleich erreichte sie mit ihrer Zunge den Saum seiner Boxershorts, fing an zärtliche Küsse darüber zu verteilen und ihn in den Wahnsinn zu treiben. Quälend langsam zog sie seine Shorts nach unten und enthüllte seine Erregung in voller Pracht. Ein wenig ehrfürchtig betrachtete sie ihn, dann sah sie zu Tai, der vor Anspannung die Augen zusammengekniffen hatte. Mimi warf die ihre Zweifel über Bord, dachte an Masarus Worte und ihre eigenen. Sie wollte ihn nicht verlieren. Daher legte sie die Hand um ihn und begann mit zögerlichen Bewegungen ihn zu massieren. Tai stöhnte, als sie ihre Bewegungen beschleunigte und mit der Zunge ihn sachte küsste. Sie wanderte seine Länge hoch und runter, fuhr über seine Spitze, als sie sich dazu entschloss ihn ganz aufzunehmen, indem sie die Lippen um ihn legte. Mimi bewegte ihren Kopf gleichmäßig, merkte das er, nach einiger Zeit, seine Hüften automatisch mitbewegte und ein gelegentliches Keuchen über seine Lippen kam. Zusätzlich spürte sie seine Hand in ihrem Nacken, die sie noch weiter hinunter drückte. Doch sie spielte mit der Leidenschaft, umkreiste ihn begierig, saugte sich fest und massierte ihn rhythmisch. Seine Bewegungen wurden immer schneller, seine Atmung immer kürzer. Tai sog scharf nach Luft, als Mimi eine salzig schmeckende Flüssigkeit in ihrem Mund bemerkte. Sie zog sich zurück, schluckte ohne darüber nachzudenken und fuhr sich über den Mund. Er atmete unregelmäßig und rang breitgrinsend nach Luft, während Mimi immer noch nicht fassen konnte, was sie gerade getan hatte. Mit geröteten Wangen sah sie zu ihm und wusste nicht, ob sie etwas sagen sollte, oder nicht. Er reagierte jedoch schneller als erwartete, zog sie zu sich und küsste sie bestimmend. Behutsam drehte er sie auf den Rücken, ließ von ihr ab und grinste sie schelmisch an. „Es wird Zeit dir etwas Gutes zu tun“, raunte er lustbetont, strich mit den Fingern ihren flachen Bauch entlang und stoppte kurz vor ihrem Slip. Langsam zog er das Stück Stoff nach unten… Kapitel 63: Gesprächsbedarf --------------------------- „Ich kann das nicht“, sagte sie fast schon panisch und umfasste seine Hände zitternd. Tai hielt augenblicklich inne, setzte sich auf, richtete seine Boxershorts und ging etwas auf Abstand. „Warum denn nicht? Mache ich irgendetwas falsch?“, fragte er verzweifelt, als sich Mimi ebenfalls aufsetzte und ihre Beine dicht an ihren Körper zog. Sie hatte die Lage komplett überschätzt, dachte wirklich, dass sie soweit wäre und ihm endlich wieder vertrauen könnte. Doch ihr Innerstes rebellierte und ließ einfach nicht zu, dass sie sich ihm hingab. Es war egal, welchen leidenschaftlichen Moment sie auch vorher miteinander geteilt hatten, sie war in der Vergangenheit gefangen und konnte nicht einfach ohne weiteres loslassen. „Rede doch bitte mit mir“, ertönte seine besorgte Stimme, nachdem sie ihren Blick von ihm abgewandt hatte und stur zu Boden richtete. Ihre Augen füllten sich mit Tränen und ein leises Schluchzen überkam ihre Lippen. „Es tut mir leid, aber…“, sie brach ab und presste ihre Lippen fest aufeinander. Ihre warmen, salzigen Tränen liefen über ihre Wangen und verunsicherten Tai zusehends. Er rutschte unruhig hin und her, kratzte sich unbeholfen am Hinterkopf und wusste augenscheinlich nicht, was er tun sollte. Mimi beobachtete ihn aus dem Augenwinkel heraus und konnte ihm seine verhaltene Reaktion nicht verübeln, auch wenn sie sich etwas Anderes erhofft hatte. „Ich glaube, es wäre besser, wenn ich nach Hause gehe“, murmelte sie und wollte sich gerade aus seinem Bett erheben, als er ihr Handgelenk schnappte und sie wieder zu sich runterzog. Er fixierte sie mit seinen schokobraunen Augen so eindringlich, dass sie seinem Blick kaum standhalten konnte. Liebevoll strich er über ihr Gesicht, fuhr sanft über ihre nassen Wangen, als sie seine Hand mit ihrer Eigenen umfasste. Er drückte seine Stirn gegen ihre, sodass sich ihre Nasenspitzen leicht berührten. „Wir können doch über alles sprechen, bitte lauf‘ nicht immer vor mir weg“, flüsterte er ihr entgegen und Mimis angespannte Haltung lockerte sich augenblicklich. „Das ist alles nicht so einfach, Tai“, antwortete sie wehmütig und zog sich etwas von ihm zurück. Sie drückte sich gegen die Wand, schwelgte in Erinnerung, brachte aber vorerst keinen Ton über die Lippen. Erst als Tai zärtlich über ihr Knie fuhr, konnte sie sich dazu durchringen, über ihre Vergangenheit zu sprechen. „Es war der Sommer, bevor ich auf die High School wechselte“, begann sie ehrfürchtig und kaute angespannt auf ihrer Lippe herum. „In den Sommerferien war ich in einem Cheerleadercamp und lernte dort viele Mädchen aus meiner neuen Schule kennen. Die meisten waren zwei Jahre älter als ich, aber das war okay. Wir redeten über Make-up, Schuhe und gelegentlich auch Jungs, die wir toll fanden.“ Sie verzog das Gesicht, als das Stechen in ihrer Brust immer spürbarer wurde. Tai hörte ihr aufmerksam zu, unterbrach aber seine liebevollen Berührungen kein einziges Mal. „Kurze Zeit später lernte ich auf der neuen Schule einen Jungen kennen, der in unserer Footballmannschaft spielte. Ich sah ihn anfangs nur bei den Spielen, weil ich noch zu den Frischlingen gehörte, die nicht zwangsläufig zu den coolen Partys eingeladen wurden. Doch irgendwann hat mich eine aus dem Verein mitgeschleppt und so lernte ich Jason näher kennen“, erzählte sie fast schon wehleidig, da sie nicht gerne an die Zeit mit Jason zurückdachte. „Anfangs war es echt schön, auch wenn meinen Eltern der Altersunterschied zu groß war. Mir war das egal gewesen, da ich mich von ihm blenden ließ und es schön fand, von einem Jungen so viel Aufmerksamkeit zu bekommen.“ Sie erinnerte sich noch genau an seine Bemühungen, die süßen SMS, oder wie er sie meist morgens mit dem Auto für die Schule abholte. Sie war vollkommen verknallt gewesen, sah nur das, was sie sehen wollte und erkannte erst viel zu spät sein wahres Wesen. „Irgendwann begann er mich öfters dazu zu drängen, mit ihm zu schlafen. Er sagte, dass das erst der Beweis für die wahre Liebe sei. Doch ich war noch nicht so weit, bis ich mich kurz vor meinem Geburtstag von ihm dazu überreden ließ. Es war einfach furchtbar…“, sagte sie mit schwerer Stimme. Mimi hatte damals keine Ahnung, was man machen musste, war noch völlig unerfahren, als er sie überrumpelte und rücksichtslos nur auf seine Bedürfnisse achtete. Ihr erstes Mal hatte ihr so viel Schmerzen bereitet, dass sich die Lust auf Sex bei ihr in Grenzen hielt. Doch Jason brauchte Intimität, wie die Luft zum Atmen. Jedes Mal lief ähnlich ab. Sie ließ sich rumkriegen, schlief mit ihm und musste mit ansehen, wie er jedes Mal danach ging, ohne sich zu erkundigen, wie es ihr damit ging. „Mit der Zeit hat es nicht mehr so weggetan, aber es fühlte sich einfach falsch an. Er war nie da und hat mich in den Arm genommen, sondern wollte nur seinen Spaß. Bis dann irgendwann Schluss war.“ Es hielten sich bereits länger die Gerüchte, dass Jason die Finger von anderen Mädchen nicht lassen konnte. Mimi hatte dem, nie viel Beachtung geschenkt, da sie ihm vertraute, bis sie ihn beim Knutschen mit einer anderen erwischt hatte. „Keine zwei Wochen später, war er mit der anderen fest zusammen und erzählte ziemlich blöde Sachen über mich in der Schule herum“, wimmerte sie kaum hörbar. Tai war näher an sie heran gerutscht und legte den Arm um ihren zierlichen Körper. Er hatte sein Kinn auf ihre Schulter gebettet und drückte sie noch fester an sich. „Was hat er rumerzählt?“, fragte er mit bebender Stimme nach. Es war klar herauszuhören, dass es ihn wütend machte. „Er hat gemeint, dass man mich leicht rumbekäme und ich für eine feste Beziehung nicht geeignet sei“, eröffnete sie ihm schwermütig. Sie wusste, dass Jason nur Unsinn von sich gab und sie ihn nicht hätte ernst nehmen sollen, doch sie war so jung und naiv, sodass sie ihm geglaubt hatte. „Als du damals gegangen bist, habe ich ernsthaft geglaubt, dass er Recht hat. Dass ich nur ein Mädchen für gewisse Stunden bin und…“ „So ein Quatsch“, fiel er ihr ins Wort und brachte sie dazu ihn anzusehen. „Das…es tut mir leid, ich hätte das nicht tun dürfen.“ „Es ist nicht deine Schuld, aber es hat mich verunsichert und alte Wunden aufgerissen. I-Ich würde wahnsinnig gerne mit dir schlafen, aber immer, wenn wir kurz davor sind, bekomme ich Angst“, stammelte sie und errötete leicht vor Scham. Es war ihr unangenehm, Tai etwas über ihre vergangene Beziehung zu erzählen, auch wenn er sehr verständnisvoll reagierte. Er hauchte ihr einen Kuss auf die Wange und drückte seine Stirn gegen ihre Schläfe. „Wir brauchen nichts zu überstützen. Wir lassen uns einfach Zeit und gucken, was als Nächstes kommt.“ _ Sie hatten bereits ihre Schlafsachen an, als sie eng aneinander gekuschelt in seinem Bett lagen. Mimi hatte ihr Kinn auf seiner Brust abgelegt und lauschte seine Stimme. Beide hatten beschlossen zueinander ehrlich zu sein und erzählten von ihren Erfahrungen und Enttäuschen, die sie bereits erlebt hatten. Tai lachte herzlich, als er von seinem ersten Mal berichtete. „Ich war verdammt betrunken gewesen und ich glaube, es hat nur gefühlte zehn Sekunden gedauert. Es war so peinlich“, gestand er sich ein und hielt sich lachend die Augen zu. Mimi kicherte, hob ihren Kopf etwas an, um ihm in sein Gesicht sehen zu können. Auf ihrer Zunge brannte eine Frage, die sie sich schon Ewigkeiten stellte und nun den Mut gefunden hatte, es endlich zu tun. „Hattest du eigentlich…“, sie senkte den Kopf und vergrub ihr rötliches Gesicht in seinem Shirt. „Hatte ich was?“, hakte er neugierig nach. „Naja, hattest du viele…Mädchen?“, sprudelte aus ihr hervor, auch wenn es ihr doch sehr unangenehm war. Sie blinzelte zu ihm rauf und erkannte, dass er peinlich berührt den Kopf zur Seite gewandt hatte. „Naja, so viele gab es nicht, aber kurz bevor du wieder nach Japan gezogen bist, hatte ich eine kurze Beziehung. Irgendwie bin ich nicht der Typ, der einfach so mit Mädchen schläft, ohne das es etwas zu bedeuten hat. Ich mag’s lieber, wenn man sowas mit jemandem erlebt, der einem wichtig ist“, eröffnete er ihr, konnte sie dabei aber nicht wirklich anschauen. Mimi wusste von der Beziehung, hatte sie aber erfolgreich aus ihrem Gedächtnis verbannt gehabt. Nach und nach kamen die Erinnerungen wieder. „Aber gerade bei ihr habe ich schnell gemerkt, dass es nicht so passt, weshalb wir auch nur knapp vier Monate zusammen waren“, beeilte er sich zu sagen. „Hattest du denn nach dem Scheißkerl noch…“ Er traute sich den Satz nicht zu Ende zu sprechen, doch seine Eifersucht war klar rauszuhören. Auch ihr gefiel es nicht, dass er anscheinend mit mindestens zwei anderen Mädchen geschlafen hatte, doch sie musste sich vor Augen führen, dass das der Vergangenheit angehörte. Dass, sie nun ein Paar waren, das ehrlich zueinander sein sollte. Augenblicklich erfasste sie ihr schlechtes Gewissen, dass sie des Öfteren heimsuchte. Sie ließ von ihm ab und setzte sich schuldbewusst auf. Angespannt blickte sie zu ihm, wohl wissend, dass ihn die Wahrheit verletzen könnte. Doch eine Beziehung baute zwangsläufig auf Vertrauen und Ehrlichkeit auf, was ihr mehrfach bewusst geworden war. Tai war aufrichtig zu ihr gewesen, sah sie nun voller Erwartungen an, auch wenn seine Augen etwas Ängstliches wiederspiegelten. „Es gab da mal jemanden…es war nur etwas Einmaliges und wirklich bedeutungslos“, betonte sie nachdrücklich und versuchte es herunterzuspielen. Tai setzte sich leicht auf und sah sie mit einer ernsten Miene an. „Hast du etwa mit diesem Trottel…“ Mimis Augen weiteten sich und sie schob mit einer harschen Handbewegung seinen Verdacht beiseite. „Nein…“, sagte sie, konnte aber nicht verbergen, dass sie etwas beschäftigte. „Wir…ach nicht so wichtig.“ „Was ist denn? Kenn‘ ich den Kerl etwa?“, hakte er nach und achtete darauf nicht übermäßig eifersüchtig zu klingen. Mimi wich seinen Blicken aus, da sie insgeheim gehofft hatte, dass sie ihm nur von dem One Night Stand erzählen brauchte und er danach Ruhe gab und sich für alle weiteren Details nicht interessierte. „Mimi?“, fragte er leise. Sie zuckte leicht zusammen, als sie den Nachdruck in seiner Stimme hörte. „Wir waren damals beide verzweifelt gewesen und wie gesagt, es hatte nichts zu bedeuten gehabt“, antwortete sie bedacht, bestärkte aber seinen Verdacht, dass er denjenigen kannte, mit dem sie geschlafen hatte. „Mit wem hast du geschlafen?“, wollte er wissen und durchbohrte sie mit einem intensiven Blick, dem sie nicht standhalten konnte. „Das ist doch gar nicht so wichtig“, murmelte sie verständnislos. „Doch! Es kommt nämlich gerade wirklich so rüber, als würde ich denjenigen kennen und das macht schon einen Unterschied“, untermauerte er energisch. „Wer war es? Izzy?“ „Was? Nein!“, wiedersprach sie entsetzt. Wie kam er plötzlich auf Izzy? Zwar verbrachten beide schon Zeit miteinander, aber um Himmels Willen doch nicht so. „Wer dann? Joe vielleicht?“ „Sag‘ mal spinnst du?“, knurrte sie aufgebracht und war gerade im Begriff aufzustehen, als Tai sie wütend anfunkelte. „Wer war es dann? Doch Toya, oder was?“ Fassungslos sah Mimi ihn an und wurde von ihrer eigenen Wut gepackt. Warum konnte er es nicht, auf sich beruhen lassen? Wieso wollte er es so genau wissen? Doch er ließ sich nicht davon abbringen, war richtig rasend vor Wut, als Mimi der Geduldsfaden endgültig riss. „Es war Matt! Ich habe mit Matt geschlafen!“ _ Mit einem verheulten Gesicht stand sie vor der Wohnungstür und wartete darauf, dass man ihr aufmachte. Sie hielt ihre Tasche fest umklammert und hatte immer noch ihr Schlafanzugoberteil an, während sie sich notgedrungen in ihre Jeanshose gequetscht hatte. Als die Tür endlich geöffnet wurde, fiel sie Masaru direkt um den Hals, der sie völlig verwundert musterte. Er ließ sie hinein, als sie kraftlos ihre Tasche sinken ließ und ihm lautlos ins Wohnzimmer folgte. „Oh hallo Mimi. Mit dir habe ich jetzt wirklich nicht gerechnet“, begrüßte Chiaki sie herzlich und hielt eine dampfende Tasse Tee in seinen Händen. Masaru warf ihm einen vielsagenden Blick zu, als auch er erkannte, dass sie weinte. „Was ist denn passiert?“ „Ich hab‘ keine Ahnung“, kam es von Masaru, der sich verzweifelt durch die Haare fuhr. „Kann ich heute Nacht hier bleiben? Ich möchte nicht allein sein“, sagte Mimi weinerlich und setzte sich auf die kleine Couch. Masaru ging auf sie zu, sagte etwas zu Chiaki, was sie nicht verstehen konnte und ließ sich danach neben ihr nieder. „Was ist passiert? Stress im Paradies?“ Ein keckes Grinsen zog sich über sein Gesicht, verblaste aber sofort wieder, als Mimis trauriger Blick ihn durchbohrte. „Du hast echt überhaupt kein Einfühlungsvermögen!“, tadelte Chiaki ihn und hielt Mimi eine Tasse Tee vor die Nase, die sie dankend annahm. Danach setzte er sich auf den urigen Sessel, den er von seinem Großvater vermacht bekommen hatte. Nebendran stand das Terrarium von Gandhi, dass wehmütige Erinnerungen in Mimi aufleben ließen. Gedankenverloren starrte sie zur Tarantel, vor der sie sich einst so gefürchtet hatte, wohl wissend, dass sie das einzige war, was Noriko hinterlassen hatte. „Ich habe ihm das mit meinem Ex erzählt und irgendwann waren wir bei dem One Night Stand angekommen“, begann sie leise und wandte ihren Blick zu ihrer Teetasse, die lautlos vor sich hin dampfte. „Er weiß, dass ich mit Matt geschlafen habe.“ „Wer ist Matt?“, fragte Chiaki irritiert nach, da er von all dem am wenigstens mitbekommen hatte. „Wie hat er reagiert?“, hakte Masaru nach und signalisierte seinem besten Freund, dass er die Klappe halten sollte. „Er war enttäuscht und wollte, dass ich gehe“, antwortete sie resigniert und senkte den Kopf. „Er war sogar richtig sauer, so als hätte ich ihn betrogen.“ „Hast du ihm gesagt, dass das vor ihm war?“, wollte Masaru wissen und lehnte sich zurück. „Natürlich habe ich das gesagt“, antwortete Mimi aufgebracht und schüttete beinahe den warmen Tee über sich. „Er hat mir nicht zugehört, sondern wollte einfach nur, dass ich verschwinde.“ Bedrückt sah sie zu Boden und befürchtete ihn endgültig verloren zu haben. „Hey jetzt zieh‘ doch nicht so ein Gesicht“, ertönte Chiakis Stimme. „Rede einfach nochmal mit ihm! Morgen sieht der Tag bestimmt schon wieder ganz anders aus. Bestimmt hat er sich dann wieder beruhigt und merkt von selbst, dass er überreagiert hat.“ „Ja, denke ich auch“, meinte Masaru bestätigend, „morgen ist Tanabata und wir wollten doch alle zum Fest gehen.“ Mimi rümpfte nur die Nase und fuhr sich mit dem Handrücken über ihre nassen Augen. „Ich weiß nicht, ob ich da mitgehen sollte. Tai will mich sicher nicht sehen“, gab sie kleinlaut zu und nippte vorsichtig an ihrem Tee. „So ein Quatsch! Du kommst mit! Yasuo freut sich schon so sehr darauf dich wiederzusehen und außerdem habe ich schon eine Idee, wie du Tai wieder für dich gewinnen kannst.“ Masaru grinste verschwörerisch, während Chiaki nur leise seufzte. Interessiert wandte Mimi den Kopf zu ihm und konnte ein Funkeln in seinen Augen erkennen, dass sie bisher nur gesehen hatte, wenn er dumme Ideen in die Tat umsetzen wollte. „Und wie kann ich ihn wieder für mich gewinnen?“, hakte sie missmutig nach. „Naja, das Fest findet doch in der Nähe vom Wohnheim statt oder?“ „Ja…“, antwortete Mimi langsam und zog misstrauisch eine Augenbraue in die Höhe. „Du ziehst dir einfach deinen schönsten Yukata an, sagst, dass du mit ihm reden willst und entführst ihn dann in sein Zimmer. Dann öffnest du langsam den Yukata und enthüllst einen Hauch von nichts“, raunte er und machte mit den Händen das Öffnen eines Yukata nach. „Was?“, quietschte sie empört und lief rot an. „Du willst, dass ich ohne Unterwäsche aufs Fest gehe und ihn dann verführe?“ „Ich wusste, dass da nur ‘ne Schnapsidee kommen konnte“, stöhnte Chiaki genervt und fuhr sich durch seine kurzen dunkeln Haare. „Lass‘ dir bitte nicht so einen Schwachsinn einreden! Rede einfach mit ihm! Dafür brauchst du dich doch nicht auszuziehen!“ „Aber das wäre doch der Überraschungseffekt!“, wiedersprach Masaru und schüttelte den Kopf. „Er wäre so perplex, dass er nur noch auf sie achten würde. Und ich habe gehört, dass Versöhnungssex, der beste Sex überhaupt sein soll.“ „Aber das mit dem Sex ist doch mein Problem! Ich hatte schon zisch Gelegenheiten mit ihm zu schlafen, konnte es aber nicht“, untermauerte Mimi und ließ deprimiert den Kopf hängen, als Masaru sie an ihren Schultern packte. „Hör mir zu! Er mag dich echt gern, redet so unfassbar viel von dir, dass ich am liebsten Zuckerwatte kotzen möchte. Ihr habt heute alles aus dem Weg geschafft, was eure Beziehung in irgendeiner Weise belastet hat! Er weiß von Jason und auch das von Matt. Und du bist schon so lange in ihn verliebt! Hast du keine Sehnsucht, oder sowas?“ „Doch…“, gab sie peinlich berührt zu und erinnerte sich an den leidenschaftlichen Moment, den sie heute miteinander geteilt hatten. „Aber…“ „Kein aber! Sei ehrlich zu dir selbst, lass dich von deinen Gefühlen leiten und mach‘ dich nackig!“ Kapitel 64: Verführungsversuche ------------------------------- Angespannt stand sie neben Etsuko und verschränkte krampfhaft die Arme vor ihrem Yukata. Sie hatte sich ihren Schönsten herausgesucht. Der seidige, roséfarbene Stoff mit floralem Muster schmiegte sich zart an ihre Haut. Mimi trug einem lockeren, seitlich, geflochtenen Zopf, sodass ein paar gewellte Strähnen sich herauslösten und ihr Gesicht sanft umrahmten. Etsuko trug einen dunkelblauen Yukata mit geometrischen Mustern. Instinktiv warf sie ihren Kopf nach hinten und seufzte leise. „Ich hätte ihn nicht fragen sollen. Das war ein Fehler.“ Mimi folgte ihrem Blick und musste sich ein Grinsen verkneifen. „Er hat doch ja gesagt und ich glaube, Daigo mag dich wirklich gern“, sprach Mimi ihr Mut zu. Etsuko richtete den Blick wieder zu ihr und fuhr sich nervös durch ihre langen rosafarbenen Haare. „Mein letztes Date ist schon Ewigkeiten her“, murmelte sie verunsichert. „Du bekommst das schon hin“, meinte Mimi aufmunternd, wurde aber von ihrer eigenen Nervosität prompt eingeholt, als der Rest von ihnen am Treffpunkt eintraf. Yasuo kam direkt auf sie zugestürmt und umarmte sie herzlich, während Tai ihr einen abschätzigen Blick schenkte und sich auf ein Gespräch mit einer Kommilitonin konzentrierte. Auch er trug einen traditionellen Yukata, der in einem schlichten Grünton gehalten war. „Wir haben uns ja eine Ewigkeit nicht mehr gesehen“, quasselte Yasuo drauf los und lachte freudig. Mimi musterte ihn von oben bis unten und stellte fest, dass er ein ganzes Stück gewachsen sein musste. Hinter ihm tauchten auch Chiaki und Masaru auf, der ein schelmisches Grinsen aufgelegt hatte. „Grins‘ nicht so“, knurrte sie bissig, als er sich direkt neben sie gestellt hatte und Yasuo von Chiaki kurz abgelenkt wurde. „Und hast du meinen Ratschlag befolgt?“, fragte er keck und schielte in ihren Ausschnitt, als sie empört die Arme vor ihrem Brustkorb verschränkte und ihm sämtliche Sichtfreiheit nahm. „Du bist so ein Idiot“, blaffte sie und spürte die Hitze in ihr Gesicht fahren. „Also deine Reaktion lässt ja einiges vermuten, aber wohl keine Unterwäsche“, erwiderte er lachend und warf den Kopf zurück. „Hätte nicht gedacht, dass du das wirklich machst.“ „Ich auch nicht“, gab sie zu und setzte sich langsam in Bewegung. Vor ihnen liefen Chiaki und Yasuo, die sich angeregt über etwas unterhielten. Auch Tai war stets in ihrem Sichtfeld, auch wenn sie das Gespräch mit seiner Kommilitonin mit Argwohn beobachtete. Er würdigte sie keines Blickes, sondern konzentrierte sich ganz auf die fremde Frau, die ihm deutlich zu nahekam. Mal berührte sie zart seine Schulter, oder lachte über einen seiner dummen Witze. In Mimi begann es zu brodeln, als Masaru versuchte mit ihr ein Gespräch aufzubauen. „Yasuo meinte, dass wir uns bald mal wieder zum Musik machen treffen sollten. Wir haben schon so lange nicht mehr zusammen gespielt und sollten das wirklich mal wieder nachholen.“ „Mhm…“, machte Mimi nur und verengte ihre Augen zu Schlitzen, als das Mädchen herzlich kicherte und ihrem Freund verliebte Blicke zuwarf. Wütend stampfte sie vor sich hin, während Masaru irgendetwas über Musik redete. Ihr Blick wanderte kurz zu Etsuko und Daigo, die hinter ihnen gingen und sich miteinander austauschten. Eigentlich wäre ihr Platz neben Tai, schoss ihr durch den Kopf, als sie die zarten Liebesbande zwischen Etsuko und Daigo beobachten konnte. Eifersüchtig hatte sie ihren Blick stur nach vorne gerichtet, ignorierte auch Masaru vollkommen, der sie plötzlich am Arm packte und nach hinten zog. Irritiert gingen Etsuko und Daigo an ihnen vorbei, als Masaru meinte, dass sie gleich nachkämen und etwas Wichtiges besprechen müssten. „Was ist denn los mit dir? Ist es unter deinem Yukata zu frisch oder was?“, fragte er ein kleinwenig pampig und stellte sich direkt vor sie. „Was denn? Musst du mich jetzt die ganze Zeit daran erinnern, dass ich nichts drunter habe? War doch deine bescheuerte Idee“, giftete sie zurück und sah wie sich der Rest von ihnen entfernte. „Nein, aber du ziehst echt ein Gesicht wie drei Tage Regenwetter! Ich unterhalte mich mit dir und du hörst nicht zu“, unterstellte er ihr vorwurfsvoll. „Tut mir leid“, meinte sie wehleidig und sah wie Tai sich aus ihrem Sichtfeld entfernte. „Aber er ignoriert mich und redet lieber mit dieser ollen Schnalle.“ Gekränkt ließ sie die Schultern hängen und wollte sich gerade wieder in Bewegung setzten, als Masaru sie aufhielt. „Mach dir wegen Naruko keine Sorgen! Sie steht zwar ein bisschen auf ihn, aber sie weiß, dass er eine Freundin hat“, versuchte er sie zu beruhigen, bezweckte allerdings genau das Gegenteil. „Sie steht auf ihn?“, hakte sie entrüstet nach. „Warum sagst du mir das erst jetzt?“ Fluchend stapfte sie in Richtung des Festgeländes und zog Masaru ruppig hinter sich her. Sie würde Tai keine fünf Minuten mehr mit ihr alleine lassen. _ Das Festgelände war mit unendlich vielen Lampions geschmückt und zahlreiche kleine Essenstände mit Leckereien waren aufgebaut. Hin und wieder fand man einen kleinen Bambusstrauch, an dem man seinen Wunsch aufhängen konnte. Unzählige Menschenmassen befanden sich auf dem Gelände und versperrten Mimi die freie Sicht. Mit suchenden Augen huschte sie über die Menge hinweg, konnte aber keinen von den anderen entdecken, bis Masaru ihren Arm nahm und sie in eine Richtung zerrte. Widerwillig ließ sie sich mitziehen und erkannte Chiaki und Yasuo aus der Ferne. „Wo ist denn der Rest?“, fragte sie aufgebracht und verschränkte wütend die Arme vor der Brust. „Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?“, fragte Chiaki direkt und musterte sie eindringlich. Er schien noch gar nicht mitbekommen zu haben, dass ein für sie unbekanntes Mädchen, an ihrem Tai klebte und keinerlei Anstalten machte sich von ihm zu lösen. „Frag‘ besser nicht“, kam es von Masaru, der nur verhalten den Kopf schüttelte. Mimi hingegen wanderte mit den Augen durch die Menge, erspähte kurz Etsuko und Daigo, die sich etwas zu essen geholt hatten und wieder auf sie zusteuerten. Von Tai und dem Rest seiner Kommilitonen fehlte jegliche Spur. Gelöst kam Etsuko ihnen entgegen und strahlte über das ganze Gesicht, sodass Mimi vermuten konnte, dass ihr Date mit Daigo bereits gut lief. Sie hingegen fühlte sich einfach nur dämlich, da sie sich in den Kopf gesetzt hatte, Tai zu verführen, indem sie unter ihren Yukata einen Hauch von nichts trug. Doch er blieb verschwunden und tauchte auch in der nächsten halben Stunde nicht wieder auf, sodass sich Mimi aus der Frustration heraus, einen Drink genehmigte. Es machte sowieso keinen Sinn irgendwelche Verführungsversuche zu starten, wenn das Objekt der Begierde verschollen war. Niedergeschlagen hatte sie sich auf den Boden gesetzt und hatte sich bereits Cocktail Nummer zwei geleistet. Sie war bedacht sich so zu setzten, dass keiner erkennen konnte, dass sie nichts drunter trug, was leichter gesagt als getan war. Immer wieder zupfte sie an ihrem Yutaka herum, hatte Angst, dass doch etwas hervorblitzen könnte und fühlte sich von Mal zu Mal unwohler in ihrer eigenen Haut. In ihrer Besessenheit Tai ausfindig zu machen, bemerkte sie gar nicht, wie sich plötzlich jemand neben sie niederließ. „Du hast heute wohl nicht so gute Laune“, erkannte eine bekannte Stimme und musterte sie sorgenvoll. Mimi schwang ihren Kopf zu ihm und lächelte gezwungen. „Es hat nichts mit euch zu tun. Ich bin einfach nur ein bisschen sauer“, gestand sie sich ein, als im gleichen Moment Tai zurückkam und gemeinsam mit der bescheuerten Tussi auf Masaru zusteuerte. „Ist das wegen ihm?“, fragte er spitzfindig und deutete mit dem Kinn in Tais Richtung. „Du hast wirklich eine gute Beobachtungsgabe, Yasuo“, antwortete sie anerkennend und bemerkte erst jetzt, dass er seine heißgeliebte Kamera nicht dabei hatte. „Wo ist denn deine Kamera?“ Verwundert zog Mimi die Stirn kraus, als Yasuo seinen Kopf auf seine angestellten Beine bettete und sie milde anstarrte. „Ich habe beschlossen nur noch besondere Momente zu filmen und mich mehr ins Leben einzubringen. Wenn ich alles filme verliere ich wohl den Überblick.“ Mimi musste lächeln, als sie wieder den Blick zu Taichi wandte und verbittert die Zähne aufeinanderpresste. „Ich glaube, du solltest mal mit ihm reden“, löste sich unvermittelt von seinen Lippen. Überrascht blickte Mimi ihn an, als Yasuo unbeirrt weiterredete. „Ist dir noch gar nicht aufgefallen, dass er ständig zu dir rüber sieht?“ „Was? Wirklich?“, fragte sie verblüfft und drehte sich zaghaft zu Taichi, der im gleichen Moment auffällig den Blick von ihr gerichtet hatte. „Er sieht dich genauso an, wie Chiaki immer Noriko angesehen hat“, stellte Yasuo fest. Unsicher presste Mimi die Lippen aufeinander und bewegte sie hin und her. „Meinst du wirklich? Im Moment sieht er für mich einfach nur sauer aus.“ „Mhm, dann solltest du doch erst recht mit ihm reden. Liebe ist etwas ganz Besonderes und man muss sie gut festhalten, aber nicht zu sehr, damit sie immer noch atmen kann und nicht erstickt“, begann er philosophisch. „Und wenn du ihn liebst, musst du auch manchmal über deinen Schatten springen und deine Gefühle sprechen, auch wenn es dir schwerfällt und man vielleicht Angst hat verletzt zu werden. Man sagt doch immer ‚Wer nicht wagt, der nicht gewinnt.‘“ Beeindruckt sah Mimi zu Yasuo und konnte gar nicht glauben, welche weisen Worte aus seinem Mund gekommen waren. Doch er war schon immer jemand, der das sehen konnte, was andere nicht konnten. „Ich glaube die Oberschule tut dir richtig gut. Du bist ja sehr weise geworden“, lachte Mimi und klopfte ihm leicht auf die Schulter. „Wie gefällt dir denn deine neue Klasse? Wir sehen uns wirklich zurzeit sehr selten“, stellte sie traurig fest und vermisste die gemeinsame Zeit mit den Jungs. „Es ist ganz schön. So langsam finde ich den Anschluss“, erklärte er freudig, während Mimi ernst dreinblickte. Nach und nach hatte sich alles verlaufen, auch wenn sie noch Zeit miteinander verbrachten, war es nicht mehr so intensiv, wie es einmal war. Sie vermisste einfach alles. Die gemeinsamen Auftritte. Die Musik, die sie aufgrund von Zeitmangel aufgeben mussten. Und Noriko. Ihr Blick wurde auf einmal ganz gläsern und sämtliche Farbe entwich ihrem Gesicht. Die Bilder von ihrem letzten Geburtstag flimmerten auf, zeigten ihr den Streit, den sie zuvor hatten und ihre Versöhnung, die beide noch enger zusammenbrachte, als vorher. Sie schluckte, erinnerte sich an ihren letzten Wunsch, den zu Tanabata hatte und das sie ihn am liebsten zurückgenommen hätte. Mimi wünschte sich nichts Sehnlicheres als Tai endlich näher zu kommen, ihm ihre Gefühle zu gestehen und mit ihm zusammen sein zu dürfen. Dieser Wunsch hatte sich erfüllt, auch wenn es sich nicht danach anfühlte. Doch auch ein anderer Wunsch hatte sich in ihr aufgedrängt. Spiegelte sich in tiefster Sehnsucht und Trauer wieder, die sie augenblicklich traf, wie ein Schlag mit der Faust in die Magengegend. Sie betrachtete ihren halbleeren Cocktail, spürte ihren sehnlichsten Wunsch in ihr hochwandern. Mimi sah zu Yasuo, der nichtsahnend ihren Blick erwiderte. „Hast du schon deinen Wunsch aufgeschrieben?“, fragte sie auf einmal und stocherte mit ihrem Strohhalm ihrem Getränk herum. Auf Yasuos Lippen bildete sich ein Lächeln, so als würde er bereits ahnen, was sie vorhatte. _ Gemeinsam standen sie an einem Bambusstrauch und versuchten ihre Wünsche auf ein kleines Stück Papier zu bringen. Yasuo war der Erste, der damit fertig wurde. Ungeduldig machte er seinen Zettel an einem der Zweige fest und sah zu Mimi, die immer noch zu schreiben schien. „Ist dein Wunsch etwa so lang?“, fragte er verwirrt und riss sie aus ihren Gedanken. Sie war bereits schon längst fertig, betrachtete ihren Wunsch jedoch eine Zeitlang schweigsam. Ihr war es nicht leicht gefallen, die Worte zu Papier zu bringen, auch wenn sie es für notwendig hielt. „Ich bin auch fertig“, sagte sie nur und stellte sich dicht neben Yasuo, der sie dabei beobachtete, wie sie ihren Zettel befestigte. Unauffällig schniefte sie kurz und fuhr sich schnell mit dem Ärmel ihres Yukatas über ihre Augenpartie, als sie sich Yasuo wieder zuwandte. „Ich glaube wir gehen jetzt besser zu den anderen zurück“, meinte sie nachdrücklich und versuchte sich ihre gedrückte Stimmung vor ihm nicht anmerken zu lassen. Wie in Trance ging sie zurück und achtete nur noch auf das Gefühlschaos, das in ihrem Inneren herrschte. Sie gestand sich ein, dass das Ganze, eine Schnapsidee gewesen war und sie einfach mit Tai hätte reden müssen, statt sich den Abend verderben zu lassen. Mittlerweile war ihre Laune am Tiefpunkt angelangt, sodass sie einfach nur noch nach Hause wollte. „Wo wart ihr denn gewesen?“, wurden sie von Masaru begrüßt, der gerade ein paar Tintenfischbällchen verdrückte. Auch Tai war immer noch bei ihnen und nippte an seiner Flasche Bier, während er kurz zu Mimi starrte. Doch Mimi erwiderte seinen Blick nicht, sondern sah nur traurig zu Boden. Sie hasste Streit, mehr als alles andere auf der Welt und wusste meist nicht, wie sie darauf passend reagieren sollte. Die Sache mit Tai zerrte an ihren Nerven, war eine einzige Achterbahnfahrt der Gefühle, die steil nach oben schoss und dann ins Bodenlose fiel. Sie haute ihre Schneidezähne schmerzvoll in ihre Unterlippe, ging ein paar Schritte auf Masaru zu und zog ihn an seinem Ärmel näher heran. „Ich werde jetzt nach Hause gehen“, eröffnete sie ihm leise. Er wich irritiert zurück und runzelte die Stirn. „Warum? Du wolltest doch noch etwas erledigen“, meinte er nachdrücklich und schielte zu Tai, der sich gerade mit Chiaki unterhielt. Mimi schüttelte nur den Kopf und strich sich ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht. „Ich glaube, dass ist heute keine gute Idee, ich bin müde und mir geht’s gerade nicht so gut“, erklärte sie ihm wahrheitsgemäß und verabschiedete sich schneller vom Rest als Masaru reagieren konnte. Mit raschen Schritten entfernte sie sich von den anderen und sah wie unzählige Menschen auf sie zugesteuert kamen. Sie quetschte sich hindurch und sah am Eingang plötzlich zwei Mädchen freudig an ihr vorbeilaufen. „Onee-Chan, ich hätte gerne einen Goldfisch“, hörte sie das kleine Mädchen zu ihrer älteren Schwester sagen. Sie zerrte sie in Richtung Tombola, während Mimi ihnen wortlos hinterher blickte. Schmerzvoll wurde ihr bewusst, dass sie ihre eigene Schwester so nie genannt hatte und niemals mehr die Gelegenheit dazu haben würde. Sie schluckte und stellte sich vor, wie es gewesen wäre, wenn sie sich schon als Kinder gekannt hätten. Wären beide auch freudig auf den traditionellen Festen herumgetollt, hätten gemeinsam gelacht und sich jeweils einen Goldfisch gefangen? Mimi musste hier weg. Sie drehte sich ruckartig herum und ging eilig zum Ausgang, als unvermittelt jemand ihren Arm festhielt und sie herumwirbeln ließ. „Man, was willst du…“, sie dachte zuerst, dass Masaru ihr nachgelaufen war, doch sie stellte mit erschrecken fest, dass nicht er vor ihr stand. „Tai…“, murmelte sie ehrfürchtig, als sie in seine warmen braunen Augen starrte. Er lockerte seinen Griff um ihren Arm und ließ sie los. „Du willst schon gehen?“, hakte er nach und wirkte enttäuscht. Mimi senkte nur den Kopf und bemerkte nicht sofort, dass sie Tai und den herumlaufenden Menschen tiefere Einblicke schenkte, als sie eigentlich wollte. Entsetzt weiteten sich seine Augen und sein Mund klappte auf. „Bist du darunter etwa nackt?“, hakte er empört nach und deutete voller Entsetzen auf ihren Ausschnitt, der deutlich zeigte, dass sie keinen BH trug. Geschockt starrte sie an sich hinunter und verschränkte panisch die Arme vor ihrer Brust, als sie sich fluchend herumdrehte und Tai den Rücken zuwandte. „Bist du wahnsinnig?“, knurrte er bedrohlich. „Sag‘ mir bitte das du wenigstens ein Höschen drunter hast?!“ Mit hochrotem Kopf kniff sie peinlich berührt die Augen zusammen und presste die Zähne fest aufeinander. „Ich kann das wirklich erklären.“ „Das ist doch jetzt nicht dein Ernst!“, blaffte er sie an, packte sie am Handgelenk und zog sie vom Festgelände. „Wo gehen wir denn hin?“, fragte sie überrascht und versuchte mit ihm Schritt zu halten, doch er war fuchsteufelswild und zerrte an ihrer Hand. „Dir etwas zum Anziehen besorgen! Ich fass‘ es nicht“, erwiderte er erschüttert und steuerte, ohne weitere Umschweife, das Wohnheim an. _ Wütend kramte er in seinem Schrank und holte schwarzes Shirt hervor. Mimi stand mitten in seinem Zimmer und hatte die Arme vor der Brust zusammengekrampft. Sie hatte nicht erwartet, dass er so wütend werden würde und sämtliche Pläne zunichte machte, die sie sich zusammengelegt hatte. Unauffällig versuchte sie den Knoten ihres Obis zu öffnen, doch es gelang ihr einfach nicht, weil ihre Finger so sehr zitterten. Mimi hatte sich diesen Moment anders vorgestellt gehabt und wollte sich am liebsten selbst dafür ohrfeigen, auf Masaru und seinen dämlichen Plan gehört zu haben. Tai schloss den Schrank und reichte das Shirt an sie weiter, dass sie zaghaft entgegennahm. „Ich bekomme den Knoten nicht mehr auf“, sagte sie leise und scheute es, ihm direkt ins Gesicht zu gucken. Murrend ging Tai ein paar Schritte auf sie zu und fummelte an dem Knoten herum, den sie vorne zu einer hübschen Schleife gebunden hatte. „Was soll das denn? Willst du mich noch wütender machen?“, fragte er sie vorwurfsvoll und lockerte den Knoten etwas. „Nein, das wollte ich nicht“, verteidigte sie sich sofort, wusste aber auch nicht, was sie sonst antworten sollte. Ihr war es peinlich, zuzugeben, dass sie ihre Unterwäsche nur wegen ihm zuhause gelassen hatte. Sie bemerkte, wie sich der Knoten langsam löste, als seine Finger kräftiger daran zogen. Er schaffte es tatsächlich, ihn zu öffnen und musste mit Entsetzen feststellen, dass sie komplett nackt darunter war. „Du hast ja wirklich kein Höschen drunter! Man, Mimi wenn das jemand gesehen hätte!“ Schnell verdeckte sie ihre nackten Stellen, indem sie den Yukata zuzog und sich etwas von Tai entfernte, der sie böse anstarrte. „Was hast du dir nur dabei gedacht?“ „Ich habe mir gar nichts dabei gedacht! Es sollte mich ja keiner so sehen!“, untermauerte sie und wollte sich gerade Tais Shirt schnappen, dass sie auf das Regal gelegt hatte. „Und warum bist du splitterfasernackt darunter? Man vergisst seine Unterwäsche bestimmt nicht einfach so“, unterstellte er ihr erbost, als auch sie von der angespannten Situation mitgerissen wurde. „Natürlich nicht! Aber…ach so eine Scheiße“, fluchte sie und drehte ihren Kopf weg. „Das war ganz anders geplant gewesen.“ „Du hast das geplant?“, völlig fassungslos entgleisten ihm sämtliche Gesichtszüge. „Was ist nur los mit dir?“ „Ich wollte doch nur deine Aufmerksamkeit erlangen, aber du hast den ganzen Abend lieber mit dieser Naruko geredet“, klagte sie ihn an und ging ein paar Schritte auf ihn zu. „Indem du dich ausziehst? Bist du vollkommen verrückt geworden?“ „Verrückt geworden? Ich?“, rief sie schrill. „Hättest du heute nur ein bisschen Reaktion gezeigt, dann wäre das alles anders abgelaufen, aber nein…du bist immer noch sauer auf mich, wegen einer Sache die schon Monate zurückliegt und nichts bedeutet hat!“ Sie warf sie Arme nach oben, funkelte ihn ungehalten an und steigerte sich immer weiter hinein. „Du bist so ein Idiot!“, brüllte sie und schlug gegen seine Brust. Immer wieder hämmerte sie gegen ihn, kämpfte gegen ihre Gefühle, die sich machtvoll an die Oberfläche kämpften. Sie hatte bereits Tränen in den Augen, als er plötzlich ihre Handgelenke mit einer Hand packte und zusammenhielt. Ihr Yukata entblöße tiefe Einblicke, doch das war ihr mittlerweile egal geworden, da er genau wusste, wie sie nackt aussah und sie sich nicht schämte, sich ihm so zu zeigen. Er hielt immer noch ihre Hände über ihrem Kopf zusammen und schaute auf sie hinab, als sich ihre Blicke zeitgleich trafen und all die Wehmut und verletzten Gefühle wiederspiegelten, die sie in den letzten Stunden empfunden hatten. Für einen Moment stand die Zeit still. Voller Sehnsucht sah sie ihm tief in die Augen und warf sämtliche Zweifel über Bord. Sie wollte jetzt nicht länger nachdenken, stellte sich auf die Zehenspitzen, als er langsam seinen Griff lockerte und ihre Hände wieder freigab. Sie legte beide auf seiner harten Brust ab und fuhr über den rauen Stoff seines Yukata, während sie ihre Fingernägel sanft hineinkrallte und ihm entschuldigend tief in die Augen blickte. „Es tut mir leid“, murmelte sie ihm entgegen, als sie nur wenige Zentimeter von seinen Lippen entfernt war. „Ich wollte nicht, dass alles so zwischen uns eskaliert“ Tai drehte den Kopf kurz weg, als sich seine Gesichtszüge erweichten und er sie dichter an sich zog. Behutsam platzierte er eine Hand auf ihrer Taille, während er mit der anderen sanft ihr Gesicht entlangfuhr und sie dann bestimmend hinter ihrem Nacken vergrub. „Ich hätte dich nicht rauswerfen dürfen, das war nicht fair“, raunte er und drückte seine Stirn an ihre. „Aber als du mir gesagt hast, dass du mit Yamato geschlafen hast, ist irgendeine Sicherung in mir durchgebrannt.“ „Aber ich habe, dir doch gesagt, dass es nichts zu bedeuten hatte. Ich will mir dir zusammen sein und keinem anderen“, flüsterte sie ihm entgegen. „Das will ich doch auch, aber warum ausgerechnet Yamato?“, fragte er qualvoll und verzog das Gesicht. „Er ist viel erfahrener als ich und ich will doch…“ Er hielt kurz inne und atmete unruhig, während Mimi ihn erwartungsvoll anstarrte. „Du willst was?“, hakte sie behutsam nach und strich ihm leicht durchs Gesicht, während er nach den passenden Worten rang. „Naja, ich will natürlich, dass es dir gefällt, auch wenn sicherlich nicht mit ihm mithalten kann…“, antwortete er resigniert und senkte betroffen den Kopf. „Aber Tai, hier geht es doch nicht ums mithalten. Ich fand es damals mit dir wunderschön und ich will, dass das wieder so wird“, erwiderte sie lustbetont und rekte sich ihm etwas entgegen. „Das will ich auch…“ Unbemerkt wanderte er mit den Händen unter ihren Yukata und fuhr ihre weiche Haut entlang. Gerade als Mimi etwas erwidern wollte, spürte sie, wie seine Hände ihren Rücken hinunter wanderten und ihre wohlgeformten Pobacken umfassten und wohltuend massierten. Mimi presste die Lippen aufeinander und unterdrückte ein leises Keuchen, dass sich beinahe von ihren Lippen gelöst hätte. Verstohlen sah sie zu ihm, als seine Berührungen immer fordernder wurden und ihren zierlichen Körper hochwanderten. Von der Erregung gepackt, schnappte sie ihn am Kragen und presste dringlich ihre Lippen auf seine. Gierig nach mehr, glitt sie unbeirrt mit der Zunge in seine Mundhöhle. Er unterbrach seine Wanderung und fuhr mit seinen Händen ihren Hals hinauf, um dem Kuss mehr Intensität einzuverleiben, als er ohne hin schon hatte. Sanft begegneten sich ihre Zungen, strichen liebevoll übereinander und umkreisten sich voller Lust. Langsam wanderte er mit den Fingern ihre Schultern entlang, bis er sanft unter den seidigen Stoff strich und Anstalten machte, ihn auszuziehen. Bereitwillig ließ Mimi sich den Yukata ausziehen, spürte seinen warmen Finger ihre weiche Haut entlangfahren. „Du bist wunderschön“, hauchte er ihr ins Ohr, als er ihre Natürlichkeit enthüllte. Er hinterließ feurige Spuren der Leidenschaft auf ihrem Hals, als er mit seiner Zunge darüberfuhr und sich an ihrer Halsbeuge festsaugte. Ihre Atmung beschleunigte sich, als ihr bewusst wurde, dass es endlich soweit war. Ihr Knoten war geplatzt. Ihre Gefühle wurden ihr klar und sie spürte, dass auch sie ihm endlich verzeihen konnte. _ Zielstrebig steuerte sie auf sein Bett zu, als Mimi begierig seinen Knoten löste und seinen Yukata zu Boden gleiten ließ. Auffällig glitten ihre Hände sofort zu seiner Unterhose, die beide von kompletter Nacktheit trennte. Ihre Münder fanden wieder aufeinander, als Tai rückwärts auf sein Bett zusteuerte und sich unbeholfen mit Mimi darauf fallen ließ. Sie kicherte, als sie auf ihn fiel und hörte nur wie er schmerzerfüllt „Aua“ schrie und sich im nächsten Moment den Hinterkopf hielt. „Hast du dir wehgetan?“, fragte sie besorgt und setzte sich auf. „Hab‘ wohl die Wand erwischt“, witzelte er und fuhr sich immer noch über dieselbe Stelle. „Oh, armer Tai“, sagte sie gespielt mitleidig und kletterte auf seinen Schoss. „Vielleicht kann man ja irgendetwas gegen deine Schmerzen tun.“ Verführerisch setzte sie sich in Pose, wohlwissend, ihn damit noch weiter zu quälen. Er keuchte, als sie sich ihm näher entgegen presste und mit den Fingern über seine muskulöse Brust fuhr. Gerade als sie mit den Fingern weiter runter wandern wollte, packte er sie und warf sie auf den Rücken. „Was soll das denn?“, brachte sie gerade noch hervor, als er ihren Mund mit einem kurzen Kuss versiegelte und sie danach dringlich anstarrte. Er strich ihr einige Haarsträhnen, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatten, aus dem Gesicht und betrachtete sie liebevoll. „Ich will, dass du dich wohlfühlst. Und ich werde nur soweit gehen, wie du möchtest. Ich richte mich da ganz nach dir, ja?“ Mimi nickte bestätigend und ergriff sofort seinen Nacken, um ihre Lippen begierig auf seine zu pressen und ihm dadurch zu zeigen, dass sie bereit war. Sie schloss genüsslich ihre Lider, als sie seine Zunge in ihrem Mund spürte, wild kämpfend mit ihrer. Ohne sich weiter beirren zu lassen, glitt er mit seiner Hand forsch nach unten und begann sich mit ihrer empfindlichsten Stelle zu befassen. Mimi stöhnte leise auf, als sie seine Finger an ihrer Mitte spürte und ihre lodernde Hitze weiter antrieb. Er ließ von ihrem Mund ab, zog feine Linien zu ihren Brüsten, küsste ihre Brustwarze, während er die andere fordernd zu massieren begann. Lustvoll legte er die Lippen um sie, fuhr mit der Zunge spielerisch darüber und saugte sich kurz fest, bis er mit den Zähnen sanft hineinbiss und genüsslich an ihrem süßlich riechenden Fleisch knabberte. Voller Begierde legte Mimi den Kopf in den Nacken, konnte sich kaum noch auf etwas Anderes konzentrieren, außer Tai und verfing sich immer mehr im tiefen Empfinden der Sehnsucht. Sie wollte ihn spüren, mit ihm zusammen sein. Mimi wollte ihn schon sanft von sich wegdrücken, als er ihren flachen Bauch hinabküsste und zielstrebig sich seinen Weg nach unten bahnte. Irritiert beobachtete sie sein Handeln, bemerkte, dass sie ihm instinktiv die Hüfte entgegen hob, als er immer tiefer nach unten wanderte und das Zentrum ihrer Lust erreichte. Mimi hielt die Luft an, als sie seine warme Zunge spürte, wie sie mit gefühlvollen Bewegungen, kraftvoll entlangstrich und ihr alle Sinne raubte. Zusätzlich drang er mit einem Finger in sie ein, saugte sich an ihrem empfindlichen Fleisch fest und entlockte ihr einen tiefen lustgetränkten Seufzer. Mimi rang nach Luft, je länger und intensiver sie sich auf seine Berührungen und zärtlichen Streicheleinheiten einließ. Es dauerte nicht lang, bis er das Tempo erhöhte und sich Mimi zwischen Lust und Erregung gefangen fühlte. Sie bewegte ich ihm immer schneller entgegen, spürte, dass auch er seine Bewegungen abermals beschleunigte. Sie spreizte die Beine, bemerkte wie diese unkontrolliert zu zucken begannen und die Welle der Lust sie erfasste und genießerisch aufstöhnen ließ. Sie krallte ihre Fingernägel in sein Laken, als sich sämtliche Muskeln in ihr verkrampften und kraftvoll bebten. Schwerfällig atmete sie, als Tai langsam von ihr abließ und sich neben sie legte. Zufrieden sah er sie an und strich ihr liebevoll über ihre Haare, während sie sich von ihrem betörenden Höhepunkt erholte. Nachdem die erste Welle der Lust abgeklungen war, drehte sie sich zur Seite und musterte ihn glücklich. Sie rutschte näher an ihn heran und hauchte ihm einen kurzen, aber sinnlichen Kuss auf die Lippen und begann langsam seinen Hals hinunter zu wandern, während ihre Hand zaghaft den Weg zu seinen Boxershorts fand und seine erigierte Männlichkeit mit wohltuenden Berührungen darüber hinweg massierte. Sie zupfte auffällig an dem weichen Stoff, als er sich langsam aufsetzte und Mimi die Gelegenheit nutzte, ihm seine Shorts zu entfernen. Überrascht blickte Taichi sie an, kniff aber abrupt die Augen genüsslich zusammen, als sie ihre Finger über ihn gleiten ließ und ihn begierig auf die Lippen küsste. Taichi lehnte sich gegen die Wand und schien ihre zärtlichen Berührungen mehr als zu genießen, als Mimi immer fordernder wurde und ihm signalisierte, dass sie mehr wollte. Sie führte ihn mit der anderen Hand zu ihren Brüsten und wollte, dass auch er sie wieder berührte. Sie ließ sich voll und ganz auf ihn ein, drückte sich ihm immer weiter entgegen, als er plötzlich ihren innigen Kuss löste und sie verunsichert ansah. „Bist du dir sicher, dass du das willst?“ „Mehr denn je“, raunte sie verführerisch und wollte sich gerade über ihn beugen, als er sie abermals aufhielt. „Warte, ich…“ Doch Mimi schüttelte sofort den Kopf, da sie genau wusste auf was er hinaus wollte. „Ist in Ordnung. Da kann nichts passieren“, murmelte sie sinnlich und beugte sich bestimmend über ihn. Sie wollte, dass es etwas ganz Besonderes wurde. Etwas, dass sie niemals vergessen würden. Sie fixierte seine Augen, als sie sich langsam hinabsenkte und fühlte, wie sie sich bedächtig miteinander verbanden. Als er in sie eindrang, machten sich Gefühle in ihr frei, die sie bisher noch nicht kannte. Tiefste Verbundenheit und lang unterdrückte Sehnsucht fanden endlich zusammen und ließen Endorphine durch ihren Körper tanzen. Sie konnte nicht den Blick von ihm wenden, der nicht hätte intensiver sein können. Er küsste sie liebevoll, als sie ihn vollends in sich spürte. Vorsichtig begann sie sich auf ihm zu bewegen, ließ ihre Hüften kreisen und verschränkte die Arme hinter seinem Nacken. Wieder und wieder küssten sie sich hingebungsvoll, genossen die unvermittelte Verbundenheit und die Wärme, die sie empfanden. Ihr Herz pochte wie wild gegen ihre Brust, als sie ihre Bewegungen immer flüssiger wurden und er über ihre weiche Haut fuhr und ihr Schulterblatt sanft küsste. Seine Hände ruhten auf ihrem Rücken, als sich weitere Strähnen aus ihrem Zopf lösten und er sie behutsam zur Seite strich. Genüsslich schloss sie die Augen und ließ sich völlig fallen. Einen Arm spürte sie noch immer in ihrem Rücken, als sie sich etwas nach hinten lehnte und er somit zärtlich über ihre Brust streicheln konnte. Er hob sie sachte an, senkte seinen Kopf, sodass seine Haare ihre Stirn leicht kitzelten. Er fuhr mit der Zunge darüber, während Mimi ihn noch näher an eine ihrer empfindlichsten Stellen drückte. Sie presste ihr Becken ihm entgegen, bemerkte seinen verstärkten Griff hinter ihrem Rücken, als er in ihr eine Stelle berührte, die ihr Atem zum Stocken brachte. Sie riss überrascht die Augen auf und erkannte schnell, dass er noch immer mit ihrer Brust beschäftigt war. Wieder bewegten sich ihre Hüften gegeneinander und trafen den gleichen Punkt erneut. Es fühlte sich seltsam an. Eine druckempfindliche Stelle, der man nicht lange Stand halten konnte, wenn man diesen Punkt zu lange reizte. Irritiert über diese Empfindung hob sie Tais Kopf an und legte gierig ihre Lippen wieder aus seine. Das Gefühl wurde immer stärker, je näher sie ihrem Höhepunkt kam. Tai keuchte leise, seine Atmung wurde immer kürzer, als er seine Augen zusammenkniff und Mimi eine wundervolle Wärme in sich spürte. Ein starkes Kribbeln breitete sich in ihr aus, ließ alles in ihr zusammenziehen und ihre Arme hinter seinem Nacken verkrampfen, als ihre Bewegungen kontinuierlich langsamer wurden. Ein belebenes Gefühl machte sich in ihr breit, als sie ihn kurz küsste und er sich der Länge nach auf seine Matratze sinken ließ. Sie waren immer noch eng miteinander verbunden, so als könnte sie nichts trennen. Kraftlos schmiegte Mimi sich an seinen Brustkorb und genoss seine Wärme, die er ihr spendete. Sanft fuhr er über ihr Gesicht und konnte nicht verbergen, wie glücklich es ihn machte mit ihr zusammen zu sein. Noch eine ganze Weile lagen sie dicht beieinander und sahen sich einfach nur in die Augen, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, als sich Mimi etwas von ihm löste und ihren Kopf behutsam gegen seine Brust drückte Tai küsste sachte ihren Haaransatz und lächelte glücklich vor sich hin, während er sie weiterhin in seinen Armen hielt „Denkst du, es lohnt sich nochmal aufs Fest zu gehen?“, fragte sie grinsend, obwohl sie die Antwort bereits wusste. Tai verteilte kleine Küsse auf ihrer Nasenspitze, wanderte begierig ihren Hals hinunter und machte nicht den Anschein, dass er sonderlich viel Lust hatte, sich auf das Fest zu begeben. „Tut mir leid, aber Madame hat keine Unterwäsche dabei und ich glaube nicht, dass dieser wunderschöne Anblick, noch für jemand anderen bestimmt ist“, raunte er und drückte sie dicht an sich, während Mimi herzlich kichern musste. Sie stützte sich auf seiner Brust ab und fuhr ihm liebevoll über sein Gesicht, als sie ihre Lippen wieder auf seine legte. Bitte Nachwort beachten! Kapitel 65: Im Taumel des Glücks -------------------------------- Die Sonne schien durch die halboffenen Jalousien und ließ sie langsam wach werden. Sie musste ein paarmal blinzeln, bevor sie alles klar erkennen konnte und feststellte, dass die gestrige Nacht kein Traum gewesen war. Eng gepresst lag er hinter ihr und hatte seinen Arm um sie geschmiegt. Er schien noch friedlich zu schlafen, während sie sich müde über ihre Augen fuhr und ihren Blick über die Schultern wandte. Vorsichtig drehte sie sich zu ihm, spürte wie er seinen Griff langsam lockerte und leise aufstöhnte. Er kniff die Augen fest zusammen und drückte sein Gesicht ins Kissen, da die Sonne direkt auf sein Bett schien. „Es ist noch viel zu früh, um schon so hell zu sein“, grummelte er schlaftrunken in sein Kissen, als Mimi sich ihm liebevoll entgegendrückte und ihm einen kurzen Kuss auf die Wange gab. Einäugig sah er auf und grinste, als Mimi ihren Kopf sanft auf sein Kissen bettete. Behutsam strich er über ihr Gesicht, wanderte mit der Hand hinter ihren Nacken und zog sie bestimmend zu sich hinunter. Begierig begann er sie zu küssen, als Mimi weiter zu ihm runterrutschte und ihr Bein um seine Hüfte schlang. Sie wollte ihm so nah sein, wie es ihr nur möglich war, ihn küssen und berühren. Gestern Nacht hatten sie noch viel miteinander geredet. Mimi erzählte ihm von der Sache mit Matt, wie es damals abgelaufen war und dass sie es nur getan hatte, weil sie dachte, dass sie nie eine Chance miteinander hätten. Dass, sie ihn für einen Abend aus dem Kopf bekommen wollte, aber sich hinterher nur noch mehr nach ihm sehnte. Auch er entschuldigte sich für sein Verhalten, dafür, dass er sie den halben Abend ignoriert hatte, obwohl er zugeben musste, dass sie in ihrem Yukata einfach fabelhaft ausgesehen hatte. Tai hatte gemerkt, dass er ihr nicht länger böse sein konnte, dass diese Sache der Vergangenheit angehörte und sie nun gemeinsam in die Zukunft blickten. Er löste den Kuss, zog sie in eine innige Umarmung und lächelte sie glücklich an. „Du hast mir gestern gar nicht gesagt, was du dir gewünscht hast“, fiel ihm plötzlich ein und ihre Nasenspitzen berührten sich zärtlich. Doch Mimi senkte leicht den Kopf und drückte sich gegen seine starke Brust. „Mein Wunsch war dämlich, ich weiß auch nicht mehr, warum ich mir ausgerechnet das gewünscht habe“, gab sie kleinlaut zu und krallte ihre Nägel in sein Schlafshirt. „Was hast du dir denn gewünscht?“, fragte er behutsam und streichelte ihr über den Rücken. Auch sie trug ein Shirt von ihm, an dem sein unvergesslicher Geruch haftete, sodass sie es am liebsten nicht mehr ausziehen wollte. „Ich habe mir gewünscht, dass ich sie irgendwann wiedersehe“, sagte sie mit bebender Stimme und presste ihre Lippen verbittert aufeinander. Sie wusste, dass es ein bescheuerter und unrealistischer Wunsch war, doch in diesem Moment, war es das einzige, was sie sich von Herzen wünschte. „Ich finde deinen Wunsch echt schön und er ist überhaupt nicht bescheuert“, sagte er auf einmal und strich sachte über ihren braunen Schopf. Verwundert hob Mimi ihn an und blickte Tai voller Liebe an. „Was hast du dir gewünscht?“, wollte sie auf einmal wissen, auch wenn sie ihn nicht an den Bambussträuchern gesehen hatte. Er lächelte herzlich und wanderte mit seinem Mund zu ihrem Ohr. „Das wir uns wieder vertragen und glücklich zusammen sein können.“ Gerührt von seinen Worten, blickte sie ihn an und fuhr mit ihren zarten Fingern ein paar Strähnen aus seinem Gesicht. „Du machst mich gerade unfassbar glücklich“, raunte sie, als er seine Stirn gegen ihre drückte. „Du mich auch“, murmelte er und ließ sie langsam los, um sich aufsetzten zu können. „Willst du erst duschen, oder frühstücken?“ Ein keckes Grinsen zog sich über sein Gesicht, als er sie in seinem Shirt vor sich sitzen sah und sie sich durch ihre langen Haare fuhr. Sie kämpfte sich aus der Decke, blieb einen kurzen Moment sitzen, als ihr eine Idee kam. Provokant beugte sie sich zu ihm, sodass er einen Blick unter ihr Shirt erhaschen konnte und drückte ihm einen kurzen Kuss auf die Lippen. „Ich glaube, ich möchte zuerst duschen gehen“, sagte sie lachend und krabbelte von seinem Bett. Etwas perplex blieb Tai sitzen und nickte nur verhalten, als Mimi sein T-Shirt über den Kopf zog und es ihm entgegenwarf. Geschickt fing er es und runzelte die Stirn, als Mimi plötzlich nackt vor ihm stand und selbstsicher ins Bad stolzierte. „Das brauche ich zum Duschen ja nicht“, sagte sie, lehnte sich gegen den Türrahmen und spielten mit ihren weiblichen Reizen, während Tai sprachlos auf seinem Bett saß und nicht wusste, was er antworten sollte. Mimi legte den Kopf schief und zog eine Augenbraue in die Höhe. Er schien wohl nicht zu verstehen, was sie von ihm erwartete. Sie verrollte nur die Augen und grinste verführerisch. „Du kannst auch gerne mitkommen, aber natürlich nur, wenn du willst“, erwiderte sie lustbetont und schritt langsam ins Badezimmer. Keine Sekunde später, hörte sie ihn aus seinem Bett steigen und ihr hinterhereilen. Geschwind drehte sie sich ihm zu, sah, dass er bereits sein eigenes Shirt über den Kopf gezogen hatte und die Tür hinter sich zuwarf. Schwungvoll packte er sie und presste sie gegen die massive Holztür, als er ihren Mund mit seinen Lippen verlangend attackierte. _ Die letzten zwei Wochen vergingen rasend schnell und der letzte Schultag vor den Sommerferien war bereits angebrochen. In ihrer Freizeit hatte Mimi so viel Zeit wie nur möglich mit Tai verbracht, der mittlerweile ebenfalls Semesterferien hatte. An ihrem letzten Schultag hatte sie sich mit Kari und Yolei verabredet, um mit ihnen zum krönenden Abschluss ein Eis essen zu gehen. Gemeinsam schlenderten sie die Einkaufpassage entlang, bis sie eine Eisdiele erspähten und einen Platz vor dem Café ergatterten. Ein wenig erschöpft ließ sich Mimi auf ihrem Stuhl nieder und seufzte leise, als Kari die Eiskarte an sie weiterreichte. „Danke“, murmelte sie und schlug sie auf. Irgendwie hatte sie Lust auf etwas Fruchtiges, aber auch zu einem Schoko-Vanille-Eisbecher würde sie sicher nicht nein sagen. Letztlich entschied sie sich für ein kleines Spaghettieis, da ihr einfiel, dass sie später noch zu Tai fahren wollte, um sich dann bei Masaru und Chiaki zum Kochen zu treffen. Geduldig warteten die drei Mädchen auf ihre Bestellung und unterhielten sich derweil über belanglose Dinge. Seit Mimi nebenher arbeitete, hatte sie dem Tanzverein abgeschworen, auch wenn ihre ehemalige Trainerin wieder die Führung übernommen hatte. „Ohne dich ist es wirklich nur halb so witzig. Seit Frau Nakamora wieder da ist, ist die Atmosphäre viel entspannter geworden“, erklärte sie ihr ausschweifend. „Kann ich mir echt vorstellen…Frau Kurama war eine wahrhaftige Hexe“, grummelte Mimi und sah, dass ihre Eisbecher gerade gebracht wurden. Dankend nahm sie ihren entgegen und ließ sich das süße Vanilleeis sofort auf der Zunge zergehen, während Kari und Yolei erst ihre Waffeln verdrückten. „Und wie läuft es mit euren Männern?“, fragte Mimi interessiert und nahm einen großen Löffel Eis in ihrem Mund auf. Kari und Yolei sahen sich erst ein wenig perplex an, musste aber relativ schnell kichern. „Mit denen läuft es wirklich gut, ich glaube Takeru ist bereits genervt, dass ich auf jedes seiner Basketballspiele komme und ihn wie eine Verrückte anfeuere“, gestand sich Kari ein und lief etwas rot an. „Ach was, ihm gefällt es sicher, wenn seine Freundin, ihn anfeuern kommt“, entgegnete Mimi sofort, während Yolei bestätigend nickte. „Er ist wirklich verrückt nach dir“, meinte Yolei und schob ihre Brille zurecht. „Als ob Ken nicht verrückt nach dir wäre. Er ist jedes Wochenende bei dir und wurde von deiner Familie bereits adoptiert“, lachte Kari und leckte genüsslich über ihren Löffel. „Mein Bruder ist so begeistert von ihm und zeigt ihm jedes Mal seine Star Wars Sammlung“, seufzte Yolei resigniert, als Kari und Mimi herzlich zu lachen begannen. Unauffällig sah Mimi zu Kari und fixierte sie kurz mit einem nachdenklichen Blick. Tai hatte noch nichts von ihnen erzählt, da sie beschlossen hatten, es langsam anzugehen, auch wenn Mimi bereits in den höchsten Tönen bei ihrer Mutter von ihm schwärmte. Sie hoffte wirklich, dass es ihre Freundschaft nicht verändern würde, wenn sie auf einmal auch noch die Freundin ihres Bruders war. „Gibt es bei dir eigentlich etwas Neues?“, fragte Yolei spitzfindig und ließ Mimi leicht erröten. „Ähm, im Moment versuche ich das Chaos ein wenig zu ordnen“, antwortete sie verhalten und war bedacht darauf, mit ihren Worten nicht irgendwelche Vermutungen anzuheizen. Beide wussten über Noriko und das ganze Drama Bescheid, auch wenn sie nur sehr ungern mit ihren Freundinnen darüber sprach. Es fiel ihr einfach immer noch sehr schwer darüber zu reden, weil es sie doch noch sehr belastete und sie oftmals den Tränen sehr nah war. Bei Tai hatte sie mittlerweile keine Probleme mehr sich fallen zu lassen, da er wusste, wie er sie wieder aufheitern konnte. Bei Kari und Yolei brauchte sie wohl einfach noch ein bisschen Zeit. Doch Yolei schien sich mit ihrer Antwort zufrieden zu geben, da sie nicht weiter nachfragte, bis Mimi auffiel, dass Kari bedrückt in ihrem Eis herumstocherte. „Was ist denn mit dir los?“, hakte Mimi verwundert nach und konnte den plötzlichen Stimmungsumschwung ihrer Freundin nicht ganz nachvollziehen. Kari druckste erst etwas herum, wollte nicht so wirklich mit der Sprache herausrücken, als Mimi langsam ungeduldig wurde. „Ach komm‘, du kannst uns doch alles erzählen“, versuchte sie sie aufzumuntern. „Ist doch etwas mit Takeru?“ Doch Kari schüttelte sofort den Kopf und stöhnte leise. „Es geht um meinen Bruder…eigentlich will ich dir das nicht erzählen, weil…“ „Ich kann das schon aushalten“, meinte Mimi nur und sah zu Yolei, die gespannt das Gespräch der beiden verfolgte. Sie hatte nie wirklich gewusst, dass Mimi schon länger Gefühle für Tai hatte, hatte es nach dem Kuss in der Bar jedoch vermutet gehabt und sie bereits öfters darauf angesprochen. Damals hatte sie es immer verleugnet gehabt, doch jetzt wollte sie ihre Gefühle packen und am liebsten der ganzen Welt präsentieren. Er machte sie so unglaublich glücklich, dass sie es kaum in Worte fassen konnte. „Er war am Wochenende zu Besuch bei uns“, fing Kari langsam an zu erzählen, „aber dann hat er sich gegen Abend, nachdem unsere Eltern ins Bett gegangen sind, von zuhause weggeschlichen und ist erst am nächsten Tag kurz vor dem Frühstück wieder aufgetaucht.“ Mimi hielt plötzlich inne und bemühte sich möglichst überrascht zu geben, da sie genau wusste, wo er die Nacht verbracht hatte. „Ich habe ihn darauf angesprochen und bin in sein Zimmer geplatzt, als er sich gerade umgezogen hatte.“ Sie machte eine kurze dramatische Pause und sah zwischen ihren beiden Freundinnen hin und her. „Er hatte überall Kratzspuren am Rücken und hatte sich bei mir voll ausgeredet, als ich ihn darauf angesprochen hatte. Und später als wir beim Mittagessen saßen, hat er plötzlich erzählt, dass er schon seit längerem eine Freundin hat. Und dann konnte ich eins und eins zusammenzählen.“ Mimi riss die Augen auf, sank ihren Stuhl etwas hinab und wollte am liebsten im Erdboden versinken. Tai und sie hatten ein wildes Liebesleben, das in den letzten paar Wochen intensiv ihren Alltag geprägt hatte. Sie konnten einfach nicht die Finger voneinander lassen, wollten sich so nah wie möglich sein, sodass die Leidenschaft manchmal ein Eigenleben entwickelte. „Und seine Freundin hat ihm den Rücken aufgekratzt?“ hakte Yolei entsetzt nach und hielt die Hand vor den Mund. „Ja, anscheinend schon. Ich weiß, wirklich nicht wen er sich da angelacht hat, aber ihm scheint es wohl sehr ernst mit ihr zu sein.“ Kari verdrehte die Augen, während Mimi hellhörig wurde. „Ach wirklich? Was erzählt er denn über sie so?“ „Naja, dass sie ihn glücklich macht und er sie nie wieder gehen lassen will. Er ist total verknallt, dass kenne ich gar nicht von ihm!“, erwiderte Kari verzweifelt. „Er hat sich eine richtige Domina angelacht.“ Entrüstet sah Mimi zu Kari, obwohl sie sich zuvor noch sehr über ihre Worte gefreut hatte. Eine Domina? Sie? Das ging zu weit. „Warum kann er nicht einfach mit dir zusammen sein?“, richtete Kari ihre Frage an Mimi, die gerade etwas Licht ins Dunkele bringen wollte. Mimi hielt augenblicklich inne und sah Karis verzweifelten Blick. Wenn sie wüsste, dass sie das ihrem Bruder angetan hatte, würde sie dann anderes darüber denken? Mimi schluckte. Sie entschied sich dazu, nichts zu sagen und wartete lieber darauf, dass Tai sie seiner Familie offiziell als Freundin vorstellte. „Ach Kari, du kennst sie ja noch nicht! Vielleicht ist sie ja wirklich ganz nett“, versuchte Mimi die Situation zu retten und erntete von den beiden nur einen argwöhnischen Blick. „Du scheinst ja bereits über ihn hinweg zu sein“, jammerte Kari deprimiert, als sich auch Yolei eimischte. „Vielleicht solltest du ihm das nächste Mal ein bisschen auf den Zahn fühlen und darauf bestehen, seine Freundin näher kennen lernen zu wollen“, riet sie ihr und nickte bestätigend. Mimi lächelte nur verhalten und rutschte ihren Stuhl weiter hinunter. Hier wollte sie sich eher bedeckt halten. _ Den Abend vor ihrem achtzehnten Geburtstag verbrachte sie, wie viele Abende zuvor, bei Tai, der sie von der Arbeit abgeholt hatte. Liebevoll hatte er seine Finger mit ihren verschränkt, als sie vor seiner Zimmertür ankamen. Er kramte den Schlüssel aus seiner Hosentasche und legte ein schelmisches Grinsen auf. „Es wird Zeit das du die Augen schließt, Prinzessin“, sagte er und stellte sich hinter sie. Irritiert blickte sie ihn über die Schulter hinweg an, als er ihr plötzlich mit einem Tuch die Augen verband. Sie sah nun nichts mehr und konnte nur noch hören, wie er den Schlüssel im Schloss herumdrehte und sie behutsam in sein Zimmer drückte. Sie bekam noch mit, wie die Tür hinter ihr Schloss fiel und er ihr einen kurzen Kuss auf die Schläfe drückte. „Darf ich die Augenbinde abnehmen?“, fragte sie nach und wollte sie schon nach unten ziehen, als Tais hektische Stimme ertönte. „Noch nicht! Gleich, ein bisschen Geduld“, meinte er geheimnisvoll und ließ Mimi einfach mitten im Raum stehen. Verwirrt verschränkte sie die Arme vor der Brust und fragte sich, was Taichi nur vorhatte. Plötzlich vernahm sie den Duft von Vanille und spürte, dass er direkt vor ihr stand. „Tai, was soll das denn? Was hast du vor?“, quietschte sie, als seine rauen Hände ihr Gesicht entlangfuhren. Mit seinen geschickten Fingern löste er die Schleife der Augenbinde. Mimi blinzelte leicht, konnte allerdings anfangs nicht viel, außer einem leichten Flackern, erkennen. Erst nach und nach erstreckte sich vor ihr ein Kerzenmeer und der süßliche Vanilleduft stieg ihr in die Nase. „Aber? Was?“ Sprachlos starrte sie ihn an, als sie die Rosenblätter auf dem Boden entdeckte. Noch nie hatte sich jemand für sie so viel Mühe gegeben, sein ganzes Zimmer in Rosen getaucht und es mit den Kerzen erleuchtet. „Das…oh mein Gott“, brachte sie hervor und schüttelte immer wieder ungläubig den Kopf. „Das ist wunderschön.“ „So wie du“, hauchte er halblaut und legte die Arme um ihre Hüfte. Mimi kicherte nur und spürte seine warmen Lippen an ihrem Hals. „Du bist so ein verdammter Schleimer“, unterstellte sie ihm gespielt vorwurfsvoll und drehte sich ihm zu. „Bin ich gar nicht“, verteidigte er sich ein wenig beleidigt und zog schmollend seine Unterlippe vor, als er sie in eine erneute Umarmung zog. Mimi legte ihre Arme hinter seinen Nacken und drückte ihn zu sich hinunter, um ihn küssen zu können. Sie konnte einfach nicht die Finger von ihm lassen, wollte am liebsten jeden Tag in seiner Nähe sein, mit ihm ein gemeinsames Bett teilen, neben ihm einschlafen und wieder aufwachen. Sie liebte ihn so sehr, auch wenn ihr die berühmten Worte noch nicht über die Lippen kamen. Vielleicht wartete Mimi darauf, dass er es zuerst zu ihr sagte, weil sie es romantischer fand. Aber es konnte natürlich auch sein, dass sie so bedeutungsvolle Worte nicht gleich zu Beginn einer neuen Beziehung verlieren wollte. Daher entschloss sie sich zu warten, ihm einfach zu zeigen, wie sehr sie ihn liebte. Sie vertiefte ihren Kuss, spürte seine Hände an ihr hinunter wandern, als er sie auf einmal packte und hochnahm. Ohne ihren innigen Kuss zu lösen, trug er sie zu seinem Bett und ließ sich darauf nieder. _ Sie lag dicht an ihn gekuschelt und streichelte über seine nackte Brust. Mimi spürte seinen starken Arm im Rücken, der ihr das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit gab. Mittlerweile waren ein paar Stunden vergangen, in denen sie sich liebten, miteinander kuschelten und sich schweigsam verliebte Blicke zuwarfen. Sie fühlte sich wie auf Wolken, als er sich leicht aufraffte und zur Uhr schielte. Grinsend ließ er sich auf sein Kopfkissen sinken und strich ihr liebevoll eine Haarsträhne hinter die Ohren. „Es ist schon nach zwölf“, murmelte er, als Mimi verwundert zur Uhr sah. Tatsächlich. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass die Zeit schon so weit vorangeschritten war. Auf einmal spürte sie, wie er ihren Kopf zu sich drehte und ihr einen zarten Kuss auf die Lippen hauchte. „Alles Gute zum Geburtstag“, nuschelte er gegen ihre Lippen und vergrub seine Hand hinter ihrem Nacken, um den Kuss mehr Leben einzuverleiben. Glücklich wandte er sich nach einem kurzen Moment der Leidenschaft von ihr ab, beugte sich über sie und zog seine Nachtischschublade auf. Er musste nicht lange suchen und zog mit einem verschmitzten Grinsen ein kleines Kuvert hervor, dass er mit pinken Bändern versehen hatte. Verwundert setzte sich Mimi auf und hielt sich die Decke vor die Brust. „Ist das etwa für mich?“, fragte sie lieblich, als er es ihr entgegenhielt. „Na los, mach‘ es schon auf“, forderte Tai sie auf und Mimi fuhr mit den Fingern über das glatte bunte Papier. Ungeduldig pfriemelte sie an den Bändern, suchte einen Weg, dass Geschenkpapier nicht allzu sehr zu beschädigen. Doch sie war nervös und gespannt zugleich und wollte unbedingt wissen, was Tai ihr geschenkt hatte. Schmuck konnte es nicht sein, Mimi tendierte aufgrund des sehr flachen Umschlages zu einer Geburtstagskarte, auch wenn sie sich ein wenig mehr von ihm erhofft hätte. Doch als sie das Papier unsanft aufriss und den Inhalt des Kuverts sah, stockte ihr der Atem. „Tai…“, brachte sie gerade noch hervor und hielt sich die Hand vor den Mund. Sie konnte nicht verbergen, wie sehr sein Geschenk sie rührte. „Woher…?“ „Ich habe Masaru um Rat gebeten. Er hat mir erzählt, dass du gerne mit ihr dahingegangen wärst.“ „Ja…aber…ich, das ist doch viel zu teuer“, stammelte sie perplex. „Quatsch“, sagte er sofort und machte eine abwinkte Handbewegung. „Ich habe etwas Studentenrabatt bekommen und vom Flyer verteilen habe ich noch etwas Geld übrig gehabt.“ Sprachlos betrachtete sie ihr Geschenk und war vor Rührung den Tränen nah. „Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll“, murmelte sie tief ergriffen und näherte sich ihm langsam. Ihre Gesichter waren nah beieinander, als sie zärtlich seine Wange berührte und ihn verliebt anschmachtete. „Danke“, flüsterte sie mit gedämpfter Stimme und fuhr mit dem Daumen über seine weichen Lippen. Noch nie im Leben, hatte sie sich so vollkommen und glücklich gefühlt, wie in diesem Moment. Tai war der Richtige. Er brachte sie zum Lachen, war die starke Schulter, die sie zum Anlehnen brauchte und zeigte ihr tagtäglich, wie viel sie ihm bedeutete. Sie hatten einen harten Weg hinter sich, doch Mimi war sich sicher, dass nun alles bergauf gehen würde. Kapitel 66: Liebesbeweise ------------------------- „Warum musst du ausgerechnet heute frei haben?“, stöhnte Etsuko genervt und machte ein paar Getränke fertig. „Du weißt doch, dass ich heute eine Verabredung habe“, antwortete sie ein wenig empört und betrachtete ihr schickes Sommerkleid. Etsuko verrollte nur die Augen, stolzierte mit den Getränken an ihr vorbei, um einen Augenblick später an die Bar zurückzukehren. Sie verschnaufte kurz und sah verschmitzt zu Mimi, die verträumt auf ihre Armbanduhr schielte. Tai würde bald auftauchen und gemeinsam mit ihr ins Theater gehen. Er hatte tatsächlich Karten für Alice im Wunderland besorgt und wollte anschließend bei ihr übernachten, weil ihre Mutter auf einer Fortbildung war. „Ich freue mich wirklich für dich“, sagte Etsuko auf einmal und wischte über die Theke. „Danke“, murmelte sie und schielte augenblicklich zu Daigo, der nur ein paar Meter von ihnen entfernt stand. Auch Etsuko warf ihm einen kurzen Blick zu, wandte sich aber verhältnismäßig schnell wieder von ihm ab, was Mimi stutzig werden ließ. Sie beugte sich ein wenig vor und sah Etsuko fragend an. „Wie läuft es denn bei euch?“ Ihre Augen huschten von Daigo hin und zurück, sodass sie verstand wen sie mit „euch“ meinte. Etsuko lächelte nur verhalten, bis sich eine verbitterte Miene auf ihr Gesicht schlich. „Ich glaub‘ ich bin nicht so der Beziehungsmensch“, antwortete sie nur und ließ das Unverständnis in Mimi wachsen. „So ein Quatsch, was redest du dir da ein?“, hakte sie argwöhnisch nach, blickte kurz zu Daigo, der den beiden Mädchen ein zaghaftes Lächeln schenkte. „Hast du das gesehen? Er steht voll auf dich!“ „Das weiß ich auch“, knurrte sie und klang genervt. „Und warum schlappst du ihn dir nicht einfach?“ Das Unverständnis war aus ihrer Stimme herauszuhören. „I-Ich…ach keine Ahnung“, redete sie sich heraus und strich ein paar Strähnen ihres pinken Haares hinter die Ohren. Verständnislos runzelte die Mimi die Stirn und wollte gerade etwas sagen, als sie spürte wie sich zwei starke Arme um sie legten. Etwas erschrocken fuhr sie zusammen, lächelte aber, als sie Tais Gesicht erblickte. „Hey, du hast mich ganz schön erschreckt“, tadelte sie ihn, sah ihn allerdings liebevoll an, als er ihr einen Kuss auf die Wange hauchte. „Was denn, ich wollte dich nur überraschen“, meinte er und kitzelte sie leicht. Mimi begann zu kichern, als Etsuko nur einen genervten Laut von sich gab. „Könnt ihr nicht woanders süß sein? Mein Mittagessen wandert schon nach oben.“ Mimi warf ihr einen giftigen Blick zu, den sie jedoch nur traurig erwiderte. Sie wurde auf einmal ganz nachdenklich, besonders als Taichi ihr ins Ohr flüsterte, was mit Etsuko heute los war. Sie konnte sich selbst keinen Reim darauf bilden. Nur ein einziges Mal hatte sie sie so komisch erlebt… „Na los, geht schon! Das war nicht so gemeint! Habt Spaß“, sagte sie schnell und legte ein gequältes Lächeln auf. Mimi löste sich aus Tais Umarmung und ging auf Etsuko zu. „Wenn dich etwas bedrückt, kannst ruhig mit mir reden. Ich weiß, dass ich nicht Noriko bin, aber ich kann gut zuhören“, schlug sie ihr vor und legte ihre Hand auf ihre. „Danke“, flüsterte sie ihr entgegen und zog sie etwas näher an sich heran. „Er sieht heute echt verdammt gut aus. Ich hoffe, ihr habt einen wundervollen Abend.“ Mimi lächelte, sah kurz zu Tai, der auf sie wartete. Etsuko hatte Recht. In seinem weißen Hemd und der engen schwarzen Jeans sah er einfach zum Anbeißen aus. „Wir sehen uns“, verabschiedete sich Mimi zwinkernd und eilte zu Tai, der sofort ihre Hand nahm und seine Finger mit ihren verschränkte. Gerade als sie aus der Tür hinausgingen, blieb Mimi nachdenklich stehen und erhaschte so Tais Aufmerksamkeit. „Hast du drinnen etwas vergessen?“, fragte er nach, doch Mimi schüttelte den Kopf. Sie verfestigte den Griff um seine Finger, presste angespannt die Lippen aufeinander und sah ihn erwartungsvoll an. „Können wir noch einen kleinen Zwischenstopp einlegen?“ _ Eine unangenehme Stille breitete sich aus, als beide auf das vor ihnen liegende Grab starrten. Mimi hielt seine Hand fest umschlossen, erinnerte sich daran, dass sie schon eine Ewigkeit nicht mehr hier gewesen war. Sie umfasste mit der anderen Hand ihre Herzkette, die sie heute bewusst angezogen hatte. „Du vermisst sie sicher“, durchdrang seine tiefe Stimme die Stille. „Mehr als ich jemals erwartet hätte“, antwortete schwach und spürte wie er ihre Hand losließ, um sie in den Arm zu nehmen. Er hauchte ihr einen Kuss auf die Schläfe, während sie sich an ihm anlehnte. Tai gab ihr den nötigen Halt, den sie brauchte, um nicht zusammenzubrechen. Mimi war schon länger nicht mehr an ihrem Grab gewesen, da sie es nicht ertrug zu wissen, dass sich ihre Schwester, ihr eigen Fleisch und Blut, unter der Erde befand. Nur noch Staub und Knochen war und lediglich in ihrer Erinnerung existierte. Je länger sie den Grabstein anstarrte, desto bewusster wurde ihr, dass sie weg war. Dass sie nie wiederkommen würde und sie verlassen hatte. Ein unbeschreiblicher Schmerz fuhr durch ihren Körper, als sie bei ihrem Namen hängen blieb. Noriko Tanaka. Sie presste schmerzerfüllt die Lippen aufeinander, erinnerte sich daran als Norikos Mutter von der Hochzeit erfahren hatte. Sie war nicht böse geworden, schien lediglich nur überrascht zu sein. Ayame erzählte, dass sie ihren Wunsch kannte, einmal in ihrem Leben heiraten zu wollen. Dass sie im Kindergarten schon oft Braut und Bräutigam spielte und erzählte, dass sie mal eine wunderschöne Braut sein wollte. Sie war dankbar, dass sie Norikos Herzenswunsch erfüllt hatten, sodass sie Chiaki ebenfalls einen Wunsch erfüllte. „Noriko und Chiaki haben kurz nach seinem achtzehnten Geburtstag geheiratet, weil sie es sich so sehr gewünscht hatte“, schwelgte sie verträumt in Erinnerungen, wirkte aber gleichzeitig verbittert. „Sie sah unfassbar schön aus, auch wenn wir kein richtiges Hochzeitskleid gefunden hatten. Sie war einfach glücklich und hatte bis über beide Ohren gestrahlt.“ Tai verstärkte den Griff um sie und blickte nachdenklich nach vorne. „Steht deswegen Tanaka auf ihrem Grabstein? Du meintest ja mal, dass sie Yamaguchi hieß.“ Mimi lächelte milde und strich sich ein paar aufkommende Tränen aus dem Gesicht. „Ihre Mutter meinte, sie hätte es sicher so gewollt.“ „Sie hat ihn wirklich geliebt, oder?“, hakte Tai nach. „Mehr als alles andere auf der Welt. Sie waren wirklich ein süßes Paar und er…“, sie stoppte abrupt, als sie daran dachte, dass Chiaki mit dem Verlust nur sehr schwer zurechtkam. „Er…er wird sie immer lieben.“ Tai sah sie einen kurzen Moment intensiv an und schien nicht wirklich zu wissen, was er darauf antworten sollte. „Ich…“ Er setzte an, brach jedoch nach wenigen Sekunden wieder ab. Er schüttelte den Kopf, während Mimi verwirrt dreinblickte. „Was ist denn?“, fragte sie ihn, als sie sein gedankenverlorenes Gesicht bemerkte. „Nichts…“, beeilte er sich zu sagen und wandte den Blick von ihr. Er ließ sie nicht los, doch etwas schien ihn zu bedrücken. Es irritierte sie, dass er sich auf einmal so komisch verhielt, während sie über ihre Schwester sprachen. Er hatte sie doch nur einmal gesehen. Oder gab es etwas, was sie noch nicht wusste? Hatte Noriko vielleicht doch irgendwie ihre Finger im Spiel gehabt? _ Auch wenn ihre Stimmung einen kleinen Dämpfer erhielt, schafften sie es noch rechtzeitig ins Theater. Allmählich hob sich ihre Laune wieder, auch wenn Mimi Noriko immer noch im Hinterkopf hatte. Sie fragte sich, ob sie genau in diesem Moment hier war und sich gemeinsam mit ihnen das Theaterstück anschaute. Auch wenn es auf Englisch war und Tai so seine Schwierigkeiten hatte, alles zu verstehen, verbrachten sie eine wundervolle Zeit zusammen. Die Geschichte der Heldin ihrer Schwester wurde weitererzählt und zeigte nun eine viel ältere, aber immer noch genauso neugierige Alice, die vieles von damals vergessen hatte. Gemeinsam mit dem verrückten Hutmacher und der Grinsekatze kämpften sie gegen die Herzkönigin, die die Macht an sich gerissen hatte. Ein Abenteuer voller bunter Fabelwesen und der inneren Intension, niemals aufzugeben, zeigten Mimi, warum Noriko Alice so sehr bewunderte. Vielleicht gab es auch einen Ort wie Wunderland, wo alle verrückten Träume und Wünsche wahr wurden. Vielleicht hatte Noriko ihn sogar gefunden. Nach der Vorstellung machten sie sich sofort auf den Nachhauseweg, da Mimi bereits sehr müde war. Sie brauchten gut fünfundzwanzig Minuten mit der U-Bahn bis sie bei ihr zu Hause ankamen. Mimi machte sich zuerst fertig, putzte ihre Zähne und schlüpfte in ihrem Schlafanzug, als sie danach langsam in ihr Zimmer trottete. Tai begegnete ihr auf halbem Weg, drückte ihr einen kurzen Kuss auf den Mund und verschwand ebenfalls im Badezimmer. Ausgelaugt kroch Mimi auf ihr Bett, legte sich auf den Bauch und kuschelte sich in ihr Kissen. Genüsslich schloss sie ihre Lider, während die schönsten Momente des Tages vor ihrem inneren Auge vorbeizogen und Glücksgefühle durch ihren Körper wandern ließen. Sie kam langsam zur Ruhe, atmete entspannt und drohte schon einzunicken, als sie plötzlich einen dumpfen Schlag hörte und sich ein brennender Schmerz auf ihrem Po ausbreitete. „Aua!“, brüllte sie und hielt sich den Hintern. Wütend sah sie nach oben und bemerkte Tai, der sie keck angrinste und sich zu ihr aufs Bett warf. „Du bist so ein Idiot“, giftete sie bedrohlich und setzte sich auf. „Das wird bestimmt rot.“ „Ganz ehrlich, du hast es herausgefordert“, erwiderte Tai nur grinsend, während Mimi auf einmal glockenhell wach war. „Du…“ Doch weiter kam sie nicht, da er sich auf sie stürzte und wild anfing zu kitzeln. Mimi krümmte sich vor Lachen, da sie sehr empfindlich war. Sie strampelte heftig umher und versuchte sich zu wehren, doch er war viel stärker als sie. „Tai…hör bitte auf…ich bekomme keine Luft mehr“, sagte sie unter Tränen, als er langsam von ihr abließ und sich neben sie legte. „Du hältst auch nichts aus, Tachikawa“, spottete er überheblich. „Das ist gemein, du hast mich einfach ohne Vorwarnung angegriffen“, schmollte sie, wie ein kleines Mädchen, was ihm ein Lächeln ins Gesicht trieb. „Du bist so unglaublich süß, wenn du das machst“, sagte er nur und küsste sie unvermittelt. Bevor sie den Kuss weiter intensivieren konnte, hatte er schon von ihr abgelassen und drückte seine Stirn gegen ihre. „Mein Vater feiert bald seinen Geburtstag…“, begann er leise und schielte auf ihre Lippen, die er mit dem Daumen sanft berührte, „…ich würde dich echt gerne mitnehmen und dich offiziell vorstellen, also natürlich nur, wenn du willst.“ Etwas perplex starrte sie ihn an, lächelte aber sofort und schlang die Arme um ihn. „Ich würde dich echt gerne begleiten“, sagte sie zaghaft und verdrängte das Gespräch, dass sie vor kurzem mit Yolei und Kari hatte. „Hast du ihnen denn schon von mir erzählt?“ „Natürlich“, raunte er und zog sie in eine liebevolle Umarmung. „Was denn?“, wollte sie wissen und sah ihn erwartungsvoll an. Sie spürte das Pochen ihrer beiden Herzen, so als würden sie im Einklang miteinander schlagen. Sein Gesicht veränderte sich und seine Miene wirkte auf einmal sehr ernst, als er ihr ein paar Strähnen aus dem Gesicht strich. „Erinnerst du dich an die SMS, die ich dir mal geschrieben, du aber nicht gelesen hast?“ Verwundert über seine Frage, nickte sie nur, konnte aber nicht ganz nachvollziehen, was er ihr damit sagen wollte. „Ich musste vorhin irgendwie daran denken und das ich im Nachhinein ganz froh bin, dass du sie nicht gelesen hast“, meinte er nachdrücklich, während Mimi einen verwirrten Blick aufsetzte. „Warum? Was hast du geschrieben? War es gemeiner, als die SMS davor?“ Sie erinnerte sich noch genau daran, was sie in diesem Moment gefühlt hatte. Wie sauer sie auf ihn war und wie sehr er sie verletzt hatte. „Nein, das nicht. Aber es war unüberlegt, dass zu schreiben, weil es einfach nur verdammt unromantisch war und ich jetzt immer noch die Gelegenheit habe, es dir persönlich zu sagen.“ Mimi setzte sich auf und legte den Kopf schief. „Du hast dich doch früher immer über Romantik beschwert“, unterstellte sie ihm, obwohl sie wusste, dass er sehr romantisch sein konnte. „Ich weiß, aber das hat sich halt durch dich verändert“, druckste er herum, setzte sich ebenfalls auf und spielte an der Schleife ihres Oberteils. „Was hast du denn damals geschrieben?“, bohrte sie nach, da es sie einfach nicht losließ. Tai senkte den Kopf und nuschelte etwas vor sich hin, was sie allerdings nicht verstand, weshalb sie etwas näher an ihn heranrutschte. „Was hast du gesagt?“ Er hob sofort den Kopf an und war prompt rot angelaufen. „Ich…ach verdammt. Hör auf mich so anzugucken“, meinte er wehleidig. „Ach, stell‘ dich nicht so an. Ich gucke doch immer so.“ „Aber, dass macht es nicht leichter“, grummelte er etwas genervt und fuhr sich durch seine wilde Mähne. „Tai…“ „Ich habe damals geschrieben, dass ich dich verdammt nochmal liebe“, platzte aus ihm hervor, als er gleichzeitig peinlich berührt den Kopf senkte. Mimi klappte der Mund auf, als eine Welle der Gefühle auf sie zugesteuert kam, die sie nicht kontrollieren konnte. Er hatte gerade gesagt, dass er sie liebte. „Es war so unpassend, da ich es dir lieber persönlich sagen wollte, aber an dem Tag hatten wir uns gestritten, wie so oft…und als wir vorhin am Grab gestanden haben, ist mir eingefallen, dass ich es mich bisher noch nicht getraut habe zu sagen. Ich weiß auf nicht warum. Irgendwie fühlt man sich dabei so nackt“, murmelte er vor sich hin. Liebevoll sah sie zu ihm, presste ihre Lippen aufeinander, um sie ein wenig zu befeuchten, als sie sich in seine Arme legte und ihm einen emotionsgeladenen Kuss auf die Lippen hauchte. Er konnte nicht ahnen, wie glücklich er sie damit machte. Natürlich wollte sie diese drei Worte von ihm hören, jedes Mädchen wünschte sich das. Doch es war schwer den richtigen Zeitpunkt abzuwarten. Sie spürte, dass ihre Gefühle im Einklang miteinander waren, dass er nur Augen für sie hatte, aber es zuhören, machte es nochmal besonders schön. Schwer atmend löste sie sich von ihm, als sie zaghaft über sein markantes Gesicht strich. „Ich liebe dich, so sehr“, murmelte er und legte seine Lippen wieder auf ihre. Mimi krallte ihre Finger in sein T-Shirt und legte sich über ihn, als die puren Glücksgefühle durch ihren Körper tanzten. Sie lächelte in ihre Küsse, konnte den Blick nicht von ihm wenden und schmiegte sich fest an ihn. „Ich liebe dich auch“, nuschelte sie gegen seine Lippen, als er etwas von ihr abgelassen hatte. Doch ihr Geständnis veranlasste ihn dazu, sie noch näher an sich zu drücken. Er vertiefte den nächsten Kuss, indem er sanft mit seiner Zunge in ihre Mundhöhle glitt und seine Hand hinter ihrem Nacken vergrub. Mimi war wunschlos glücklich. Nach diesem Abend standen sie sich noch näher als zuvor. Sie liebte ihn bedingungslos, sodass sie froh war, es ihm endlich auch ohne Bedenken sagen zu können. Kapitel 67: Freudige Zusammenkünfte ----------------------------------- „Ich bin nervös“, sagte sie und schritt durchs Wohnzimmer, während die beiden Jungs sie unbeeindruckt beobachteten. „Warum das denn? Du kennst doch seine Familie schon“, stellte Masaru unbeeindruckt fest. Doch Mimi lief schon seit einer geschlagenen Viertelstunde auf und ab, machte sich viel zu große Sorgen, die durch das damalige Gespräch mit Kari und Yolei entstanden waren. „Aber seine Schwester hält mich insgeheim für eine Domina, weil ich ihm mal den Rücken aufgekratzt habe“, brabbelte sie unbedacht drauf los. Chiaki verschluckte sich sofort an seinem Bier und hustete, während Masaru ein süffisantes Grinsen auflegte. „Wow, ich wusste doch, dass das Kätzchen Krallen hat“, erwiderte er nur, als Mimi fassungslos im Raum stehen blieb und verzweifelt dreinblickte. „Ich meine das wirklich ernst! Kari wird mich ansehen und…ach keine Ahnung. Sie ist meine Freundin. Ich will nicht, dass es komisch zwischen uns wird“, antwortete sie voller Bedenken. Doch Masaru winkte sofort ab. „Warum das denn? Du machst ihren Bruder glücklich, anscheinend sogar mehrmals in der Nacht…jedenfalls habe ich das gehört.“ „Was von wem? Tai?“, hakte sie mit der Fassung ringend nach und spürte wie die Hitze in ihr Gesicht schoss. Hatte Tai etwa mit Masaru über ihr Sexleben gesprochen? Der konnte etwas erleben. „Beruhig dich, er hat nichts gesagt“, sagte Masaru sofort und sah zu Chiaki, der seinen Sessel hinabrutschte. Er schenkte ihm einen vielsagenden Blick, den er jedoch nicht erwidern wollte, während Mimi ungeduldig vor den beiden stand und nervös an ihrem gelben Sommerkleid herumspielte. Chiaki setzte sich auf und nippte kurz an seinem Bier, als er zu erzählen begann. „Naja, anscheinend seid ihr beide wohl etwas laut. Jedenfalls hat mir das ein Kommilitone erzählt, der wohl das Zimmer neben Tai hat.“ Peinlich berührt wandte sie den Kopf von den beiden und starrte stur zu Boden. „Das darf doch nicht wahr sein“, murmelte sie kopfschüttelnd. So wollte sie sicher nicht in die Geschichte eingehen. Sie mussten sich wohl doch öfter bei ihr treffen, auch wenn sie dann Gefahr lief, dass ihre Mutter etwas mitbekommen könnte. Und sie war wirklich die letzte Person, mit der sie über Sex reden wollte. Ohne weiter darüber nachzudenken, wagte sie einen kurzen Blick auf die Uhr, die ihr zeigte, dass sie bereits zu spät dran war. „Oh Gott, ich muss los! Wünscht mir Glück!“, sagte sie hastig und schnappte ihre Tasche. Sie lief zur Tür und hatte ihre Hand bereits an der Klinke als Masaru ihren Namen rief. Mimi hielt kurz inne und wandte sich zu den beiden. Erwartungsvoll sah sie zu Masaru und hoffte, dass er ihr ein paar motivierende Worte auf den Weg gab, sie die beruhigen sollten. Doch Masaru wäre nicht Masaru, wenn er keinen kessen Spruch auf den Lippen gehabt hätte. „Ein Kumpel von mir kennt wirklich ein ziemlich gutes Love Hotel mit Themenräumen und schalldichten Zimmer. Also wenn ihr Interesse habt“, ein verschwörerisches Lächeln schlich sich auf sein Gesicht, während Chiaki nur resigniert seufzte. „Vielleicht kann er euch auch Rabatt oder so besorgen, wenn ihr öfter als einmal die Woche hingeht.“ Empört klappte Mimi der Mund auf, sodass sie nur noch mit dem Kopf schütteln konnte. „Du hast sie doch nicht mehr alle“, antwortete sie mehr amüsiert als ernst. Danach öffnete sie die Tür und machte sich auf den Weg zu Tai, der sie bereits erwartete. _ Ein paar Minuten zu spät, kamen beide händchenhaltend am Restaurant an, als Mimi die Nervosität auf den Magen schlug und seine Hand fest drückte. „Ich bin ein bisschen nervös“, flüsterte sie ihm zu, als er mit dem Kellner gesprochen hatte und wusste an welchem Tisch seine Eltern, seine Schwester und Takeru saßen. „Das brauchst du nicht. Du kennst sie doch alle schon und außerdem siehst du heute unfassbar toll aus“, raunte er in ihr Ohr und küsste ihre Schläfe. Auch wenn seine Worte sie etwas beruhigten, war sie dennoch verunsichert, da seine Eltern, sie nur als eine Freundin kannten und nicht als das Mädchen, dass mit ihrem Sohn zusammen war. Es war schon ein Unterschied, wenn auch nur ein kleiner. Schwerfällig bewegte sie sich, spürte das Tai etwas an ihrem Arm zog, ihr aber ein aufmunterndes Lächeln schenkte. Kurz bevor sie den Tisch erreicht hatten, hatte Kari sie bereits erkannt, da sich ihre Augen gefährlich weiteten und sie ungläubig in ihre Richtung starrte. Takeru war der zweite, der die beiden bemerkte und ebenfalls ungläubig aus der Wäsche guckte. Danach drehten sich auch seine Eltern zu ihnen, die sie mit einem freudigen Lächeln begrüßten. „Da bist du ja endlich, Taichi“, sagte seine Mutter und betrachtete Mimi von oben bis unten. Ihr Grinsen wurde breiter, als sie sich plötzlich zu ihrem Mann hinüberlehnte und ihm augenscheinlich etwas zuflüsterte. „Tut uns leid für die Verspätung, aber jetzt sind wir ja hier“, entschuldigte er sich etwas unsicher, hielt aber noch immer ihre Hand. „Na, da hast du uns aber ein entzückendes junges Fräulein mitgebracht und sie ist ja gar keine Unbekannte“, grinste Susumu, während Mimi versuchte vor Anspannung nicht zu sterben. Ihr Blick wanderte zu Kari, die sie ansah, als wollte sie ihre Gedanken lesen, es jedoch nicht schaffte. „Alles Gute zum Geburtstag“, brachte Mimi nur noch zu Stande und brachte seine Eltern prompt zum Lachen. Tai reichte seinem Vater eine Flasche Sake, die sie gemeinsam besorgt hatten. Danach begaben sie sich auf ihre Plätze, als Mimi Yuuko etwas zu Susumu murmeln hörte. „Ich habe es die ganze Zeit gewusst“, brüstete sie sich und sah übertrumpfend zu ihrem Ehemann, der sich nur an die Stirn fasste und die Augen verdrehte. Ganz Gentlemanlike zog Tai ihren Stuhl an, damit sie sich setzen konnte. Sie saß direkt Kari gegenüber, während Tai seiner Mutter in die Augen blickte und seine Hand sofort auf Mimis Oberschenkel platzierte. Liebevoll strich er über die freiliegende Haut und nahm ihr damit die Anspannung, die sich bei ihr aufgebaut hatte. Ihr war gar nicht wohl dabei, von jedem angestarrt zu werden, besonders nicht von Kari, die ihren unergründlichen Blick gar nicht mehr ablegen konnte. „Na, dann erzählt doch mal“, begann Yuuko freudig und verschränkte ihre Hände vor dem Gesicht. „Ich bin schon ganz neugierig.“ „Mama…“, brummte Tai peinlich berührt. „Was denn? Ich habe schon immer gedacht, dass das nur eine Frage der Zeit ist. Erinnerst du dich nicht mehr dran, wie du von ihrem Geburtstagsgeschenk geschwärmt hast?“, erinnerte sie ihn, als er leicht rot anlief. „Das habe ich dir im Vertrauen erzählt“, erwiderte er grimmig, als Mimi leise kichern musste. „Du musst ihn wirklich entschuldigen. Er braucht immer so lange bis er in die Puschen kommt. Das hat er von seinem Vater“, winkte sie ab und schielte zu Susumu, der gerade an seinem Wein nippte. „Hört sich ja fast so an, als hättest du es schon viel länger gewusst“, hakte Kari misstrauisch nach, als ihre Mutter ein abgeklärtes Gesicht aufsetzte. „Natürlich, eine Mutter spürt sowas. Bei euch beiden habe ich auch gewusst, dass ihr mal zusammenkommen werdet. Ich hatte sogar mit Natsuko gewettet, leider habe ich knapp verloren“, jammerte sie, während Kari die Schamesröte ins Gesicht fuhr. „Das darf doch nicht wahr sein“, murmelte sie und versteckte ihr Gesicht hinter ihren Handflächen, während Takeru sich unbeholfen am Hinterkopf kratzte. Er war diese Familientreffen wohl schon gewöhnt gewesen. Für Mimi war das alles neu, auch wenn sie sich gleich sehr aufgenommen fühlte. Gemeinsam bestellten sie das Essen und unterhielten sich über belangloses Zeug, als Kari sich auf einmal räusperte. „Ich geh mal kurz auf die Toilette“, sagte sie verheißungsvoll, starrte kurz zu Mimi, die die Hand von Tai abrupt losließ und Karis Wink sofort verstand. „Ich glaube, ich werde mich Kari anschließen“, beeilte sie sich zu sagen, drückte Tai einen kurzen Kuss auf die Wange und ließ ihn verwirrt dreinblickend zurück. Als beide die Damentoilette betraten, wandte sich Kari sofort zu ihr herum und stemmte die Hände in ihre Hüfte. „Kari…ich kann dir das wirklich erklären“, begann Mimi sofort, als Karis ernster Ausdruck sofort aus ihrem Gesicht wich und sich in ein freudiges Strahlen verwandelte. Quietschend fiel sie ihr um den Hals und drückte sie fast zu Tode, bis sie sie letztlich losließ. „Okay?“, kam es von Mimi, die ihre Stirn gerunzelt hatte. Mit dieser Reaktion hatte sie wirklich nicht gerechnet. „Ach Mimi, ich freue mich ja so für euch“, sagte sie freudig und strich ihr über die Schulter. „Wirklich? Letztens hast du aber noch ganz anders über Tais Freundin gesprochen“, stellte sie nüchtern fest und zog eine Augenbraue nach oben. Kari schnaubte nur und verschränkte auf einmal die Arme vor der Brust. „Genau genommen, wollte ich dich etwas aus der Reserve locken, da ich es schon länger vermutet, aber eben keine Beweise hatte“, erklärte sie und machte eine kurze Pause. „Er hat so glücklich gewirkt und das war er bisher nur bei einer Person. Und ich kann mich noch gut daran erinnern, wie er drauf war, als er mehr Zeit mit dir verbracht hatte. Er war einfach gelöst und hat ständig vor sich hin gegrinst. Eigentlich gar kein Wunder, dass es Mama bemerkt hat“, stellte sie grübelnd fest, richtete aber ihren Blick wieder zu Mimi, die einfach nicht fassen konnte, was Kari ihr da erzählte. „Ich glaube, du schaffst es ihn richtig glücklich zu machen. Auch wenn ich mir erhofft hatte, dass du es mir eher erzählst.“ Schmollend zog sie die Unterlippe nach vorne, während ihre Worte Mimis Hirn vernebelten. Sie war die einzige Person, die ihn bisher so glücklich gemacht hatte? Mimi biss sich nachdenklich auf die Unterlippe, hatte aber keine Zeit ihren Gedanken nachzuhängen, da Kari immer noch auf eine Antwort wartete. „Kari, das hatte nichts mit dir zu tun. Unsere Beziehung war einfach sehr turbulent gewesen und wir wollten es langsam angehen lassen. Es erst jemandem sagen, wenn es gut zwischen uns läuft.“ „Und mittlerweile läuft es gut?“, hakte sie interessiert nach. Mimi wurde etwas rot um die Nase und nickte nur verhalten. „Ich fühle mich echt sehr wohl bei ihm und es fühlt sich einfach alles richtig an“, eröffnete sie ihr wahrheitsgemäß. „Oh, das klingt furchtbar romantisch“, quietschte sie wieder und zog sie in eine erneute Umarmung. Mimi ließ die ganze Prozedur einfach über sich ergehen, freute sich insgeheim, dass sich Kari so sehr für sie freute. Sie fragte sich aber dennoch, was Tai in ihrer Abwesenheit noch alles über sie sprach. Anscheinend brauchte er noch nicht mal viele Worte zu verwenden, weil man ihm sein Glück bereits ansah. Auch seine Eltern, beziehungsweise seine Mutter schienen schon länger etwas geahnt zu haben. Aber das war in Ordnung. Sie brauchten sich nicht länger zu verstecken. _ Kari und Mimi gesellten sich zügig wieder zu den anderen und mussten feststellen, dass sie nicht allzu viel verpasst hatten. Takeru beantwortete einige Fragen zu Matt, der Tour und seinen weiteren Plänen, als Mimi merkte, dass Tai eher angespannt dem Gespräch folgte. Sie wusste, dass er nicht begeistert war, dass sie mit ihm geschlafen hatte, doch beide redeten offen darüber und Tai hatte sich fest vorgenommen auch mit Matt nochmal über alles zu sprechen, wenn er von seiner Tour zurückkommen würde. „Er ist zurzeit in Europa, da die Tour um drei weitere Konzerte verlängert wurde“, erzählte Takeru aufgeregt. „Meine Eltern hätten nie im Leben gedacht, dass es so gut für ihn laufen würde, aber bisher klappt alles ziemlich gut.“ „Das ist doch schön“, bestärkte Yuuku ihn und richtete ihren Blick zu Tai, der gerade sein Steak in kleine Stücke schnitt. „Hast du eigentlich auch nochmal was von Sora gehört? Wie läuft Paris?“ Verwundert über die Frage seiner Mutter, sah Mimi Tai erwartungsvoll an. Er hatte gerade ein Stückchen Fleisch im Mund und kaute darauf herum, als er es versuchte hinunter zu schlucken. Warum sollte ausgerechnet Tai das wissen? Er hatte sicherlich genauso wenig Kontakt zu Sora wie sie, auch wenn es Mimi sehr ärgerte. Sie konnte sich auch keinen Reim darauf bilden, was mit ihrer Freundin nur los war. Seit ihrer Abreise hatte sie sich nur noch selten bei Mimi gemeldet, schrieb ein paar SMS und Mails, die sehr unterkühlt und abgehakt klangen, was Mimi allerdings auf den Stress des Praktikums schob. „Bei ihr läuft es soweit ganz gut. Wir schreiben oft miteinander und hatten vor zwei Wochen sogar mal die Gelegenheit miteinander zu skypen. Sie hat mir letztens ein paar Bilder von Paris geschickt und im September kommt sie schon wieder nach Hause, um pünktlich mit ihrem Studium beginnen zu können“, schmatzte er mit halbvollem Mund. Mimis Augen weiteten sich, da sie bis vor wenigen Minuten noch nicht mal etwas von dem engen Kontakt zu Sora wusste. Sie hatten geskypt? Und sie hatte ihm Bilder geschickt? Ihr antwortete sie kaum auf ihre SMS. Das giftgrüne Monster der Eifersucht stieg hinauf, auch wenn sie versuchte dagegen anzukämpfen. Sora war schon immer ihr wunder Punkt gewesen. Und jetzt erfuhr sie zwischen Tür und Angel, dass beide wieder mehr Kontakt zueinander hatten? Warum hatte er ihr nichts davon erzählt? Seine Mutter schien wohl über alles Bescheid zu wissen. Verbittert sah sie auf ihren halbvollen Teller und kämpfte gegen ihre plötzliche Appetitlosigkeit, indem sie sich zwang weiter zu essen. Sie hasste dieses Gefühl. Eifersucht. Dabei hatte sie doch eigentlich gar keinen Grund dazu? Oder etwa doch? Sie schob diesen Gedanken schnell beiseite, konnte aber nicht verbergen, dass sie sich in diesem Punkt mal wieder unsicher war. Gerade als Tai vorsichtig ihre Hand berührte, entzog sie ihm diese und versuchte sich auf ihr Essen zu konzentrieren, während er ihr einen fragwürdigen Blick schenkte. Doch sie konnte es nicht abstellen. Sora machte aus ihr das unsichere kleine Mädchen, das sie nicht mehr sein wollte. _ Schweigsam gingen sie den Flur des Wohnheims entlang, als Tai seinen Schlüssel hervorkramte und die Tür aufschloss. Schwerfällig betrat Mimi sein Zimmer und wollte eigentlich nur noch schlafen und am liebsten gar nicht mehr mit ihm reden, da sie etwas enttäuscht von ihm war, ihr so etwas Wichtiges verschwiegen zu haben. Weder bei seinen Eltern, noch bei Kari und Takeru, hatte sie sich ihre gedrückte Stimmung anmerken lassen. Erst als sie das Restaurant verlassen hatten, ging sie immer weiter auf Distanz, was Tai nicht unbemerkt blieb. Ruppig packte er sie am Handgelenk und presste sie gegen seine Zimmertür. Seine Augen fixierten sie durchdringend, sodass sie seinem Blick nicht lange Stand halten konnte und zu Boden starrte. „Was ist mit dir los?“, wollte er wissen und seine tiefe Stimme durchdrang ihren gesamten Körper, der innerlich rebellierte. „Nichts…“, murmelte sie verhalten, doch das genügte ihm nicht. „Ich weiß genau, wenn du lügst! Ist es wegen Sora? Mein Gott, sie hat mir nur ein paar Fotos geschickt“, schwächte er ab, als Mimis Wut geschürt wurde. Erbost sah sie ihn an und versuchte sich aus seinem Griff zu befreien, doch er war zu stark. „Und warum hast du mir nichts davon erzählt?“, fragte sie aufgebracht und war mit jedem Wort lauter geworden. Tais Miene veränderte sich auf einmal und wirkte sehr amüsiert. „Du bist eifersüchtig!“ unterstellte er ihr vorsätzlich und ein unverschämtes Grinsen zierte sein Gesicht. Mimi fand das jedoch alles andere als witzig, da sie genau wusste, wie verknallt er in ihre rothaarige Freundin gewesen war. „Lass mich einfach los! Ich will ins Bett und nicht mehr darüber reden“, quengelte sie, als er stürmisch die Lippen auf ihre presste. Überrascht über den plötzlichen Kuss, riss sie die Augen auf. Sofort wanderte er den Armen über ihren zierlichen Körper, drang fordernd mit der Zunge in ihre Mundhöhle ein und begann wild über ihre eigene zu streichen. Schnell kochte die unbändige Leidenschaft, die von Wut und Frustration angetrieben wurde, auf. Mimi schlang instinktiv die Beine um seinen Körper, als er sie noch enger gegen die Tür presste und hochhob, von ihrem Mund allerdings abließ und sie lustverschleiert ansah. Gott, wo kam nur dieses ständige Verlangen her? Es war noch gar nicht so lange her gewesen, seitdem die beiden das letzte Mal miteinander intim geworden waren, aber sie war immer noch böse auf ihn und das sollte er auch zu spüren bekommen. Sie schlang die Arme um seinen Hals und attackierte harsch seinen Mund, strich sanft mit der Zunge über seine Lippen, als sie unvermittelt in seine Unterlippe biss und er schmerzvoll aufstöhnte. Fassungslos ließ er sie runter, sodass sie wieder auf ihren eigenen Füßen stand, während er sich mit dem Finger über seine Lippen strich. „Du willst also Krieg“, murmelte er, als er feststellte, dass sie ihn so fest gebissen hatte, dass er leicht blutete. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, sah auf sie hinab und wanderte mit seinen Händen hoch zu ihrem Nacken. Er näherte sich ihrem Gesicht gefährlich, küsste sie aber nicht. „Den kannst du bekommen“, raunte er, als er an ihrem Ohr angekommen war. „Ich wollte dir eh schon den ganzen Abend das Kleid vom Leib reißen.“ Kaum hatte er seine Worte ausgesprochen, zog er auch schon den Reißverschluss ihres Kleides nach unten und drängte sie aus dem Stück Stoff, sodass sie nur noch in Unterwäsche vor ihm stand. Sie schluckte hart, als sie etwas in seinem Blick sah, dass sie zuvor noch nie gesehen hatte. Er war wie ein Jäger, der im Wald nach einem saftigen Stück Fleisch jagte. Mimi konnte gar nicht so schnell reagieren, als er sie auf einmal packte und sie Richtung Schreibtisch drängelte. Gierig presste er seine Lippen auf ihre und brachte sie dazu, sich darauf zu setzen. Überrascht von seinem ungestümen Vorgehen, ließ sie sich jedoch voll und ganz darauf ein. Sora war in den Hintergrund gerückt, während ihre Erregung ihren Kopf vernebelte. Mit einer geschickten Handbewegung öffnete er ihren BH und ließ ihn sofort auf den Boden segeln, um sich mit ihren Brüsten befassen zu können. Er knabberte an ihren Brustwarzen, saugte sich fest und fuhr immer wieder neckend mit seiner Zunge über ihr empfindsames Fleisch. Bestimmend drückte Mimi ihn an sich, drückte ihre Fingernägel in seinen Nacken, als er unvermittelt von ihr abließ, sein T-Shirt über den Kopf zog und seine Hose öffnete. Sie lag ausgeliefert vor ihm, spürte wie die spitze Kante eines Buches in ihren Rücken drückte, doch das war ihr egal. Bereitwillig blieb sie liegen, als er sich aus einer Unterhose kämpfte und seine geballte Männlichkeit vor ihr präsentierte. Begierig sah sie ihn an, öffnete die Beine und wartete darauf von ihm endgültig vernascht zu werden. Doch er gab ihr einen Kuss auf die Mitte ihres Slips, bevor er ihn quälend langsam auszog. Dann beugte er sich zu ihr vor, berührte ihre Mitte mit seiner Spitze, drang aber nicht in sie ein. Langsam strich er über ihre empfindlichste Stelle. Er wiederholte es einige Male, als Mimi vor Frustration aufstöhnte und ihn böse anstarrte. Sie lag bereitwillig vor ihm, doch er quälte sie weiter. Hatte er etwa vergessen, wie man das Ding einführte? Grinsend drückte er ihr einen Kuss auf die Lippen, strich wieder über ihr Zentrum der Lust, als Mimi die Schnauze voll hatte und ihn einfach ergriff. Selbstständig führte sie ihn ein, bog sich ihm entgegen und genoss das Gefühl der Verbundenheit, dass jedes Mal stärker zu werden schien. „Da ist aber jemand ungeduldig“, flüsterte er ihr zu, bewegte sich aber nicht. Sie schnaubte, drückte sich ihm weiter entgegen und zog ihn in einen kurzen aber leidenschaftlichen Kuss. „Ich dachte du wolltest Krieg“, sagte sie mit rauer Stimme, als er sie unverschämt angrinste. „Den bekommst du auch“, antwortete er lüstern und stieß fest zu. Überrascht riss Mimi die Augen auf, da sie solche harschen Bewegungen von ihm nicht kannte. Doch er ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, verwöhnte sie mit schnellen und präzisen Bewegungen, die ihre eigene Lust ins Unermessliche trieben. Sie setzte sich leicht auf, bewegte sich ihm genauso wild entgegen und zog ihn am Nacken zu sich hinunter. Sie verschränkte die Beine hinter seinem Rücken, brachte ihn dazu noch tiefer in sie einzudringen und drückte ihn noch näher an sich. Barsch glitt er in ihre Mundhöhle, begegnete ihrer Zunge fordernd, während er ihre linke Brust gleichmäßig zu massieren begann. Er wurde immer schneller und auch sie konnte sich nicht zurückhalten, sich ihm entgegen zu bewegen. Sie keuchte in ihre Küsse, als ein lustgetränkter Seufzer ihren Höhepunkt ankündigte. Mimi spürte wie ihre Muskeln unkontrolliert zu zucken begannen und sich um ihn zusammenzogen. Tai beschleunigte daraufhin sein Tempo, musste sich aber einen kurzen Moment später ergeben, als er seinem eigenen Körper erlag und laut aufstöhnte. Sie fühlte wie sich ihr Körper mit seiner Wärme füllte und ihr ein sagenumwobenes Gefühl bescherte. Mimi biss sich auf die Unterlippe, als sich ihre Blicke wieder trafen und sie ihm liebevoll übers Gesicht strich. „Boah! Könnt ihr mal leise sein? Ich muss morgen arbeiten!“, brüllte auf einmal eine unbekannte Stimme und hämmerte ziemlich kraftvoll gegen die Wand. Mimi und Tai fuhren zusammen und verharrten kurz in ihrer Position, als sie dann in einem herzlichen Gelächter ausbrachen. „Oh Scheiße, der hat uns wohl gehört“, meinte Tai lachend, blickte aber zeitgleich relativ nachdenklich zu Mimi, die immer noch kicherte. „Tut mir leid, ich hätte es dir wirklich sagen sollen, aber ich habe mir nichts dabei gedacht, da ich vermutet hatte, dass ihr auch Kontakt zueinander habt.“ Mimi lächelte verschmitzt, setzte sich etwas auf und strich ein paar Strähnen aus seinem Gesicht. „Ich habe überreagiert, okay? Sora ist meine Freundin, aber trotzdem war ich immer so neidisch auf eure Verbindung zueinander gewesen, weil ich dachte, dass ich keinen Platz in deinem Herzen habe“, antwortete sie aufrichtig. „Ach Mimi, du weißt doch was ich für dich empfinde“, erwiderte er nur und drückte seine Stirn gegen ihre. „Ich liebe dich. Dich ganz allein!“ „Ich weiß“, murmelte sie heiser und küsste ihn sanft auf die Nasenspitze, als sie sich näher an ihn herankuschelte. „Vielleicht sollten wir jetzt wirklich langsam mal ins Bett gehen“, schlug Tai diplomatisch vor, während Mimi einen ganz anderen Gedanken hegte. Mit sanften Berührungen strich sie seine harte Brust entlang und blickte ihn verführerisch an. Für sie war dieser leidenschaftliche Moment noch lange nicht vorbei. „Was soll das denn?“, fragte er grinsend, als sie mit ihren Berührungen weiter nach unten wanderte. Mimi schaffte es zu seinem Ohr und fuhr mit ihrer warmen Zunge über sein Ohrläppchen, während er scharf nach Luft sog. „Ich wäre für eine zweite Runde“, erwiderte sie sinnlich und begann seinen Hals hinab zu küssen. „Wenn du darauf bestehst.“ Er grinste und genoss sichtlich ihre Liebkosungen, als er sie behutsam von sich wegdrückte. „Steh‘ auf“, forderte er sie streng auf, während Mimi ihm einen begierigen Blick schenkte und das tat, was er von ihr verlangte. Er fuhr über ihre rosige Haut, als er sie unvermittelt rumdrehte, sich gegen sie presste, ihre seidige Haut mit begehrenden Küssen bedeckte und seine Hand bestimmend zu ihrer Mitte gleiten ließ… Kapitel 68: Zukunftsaussichten ------------------------------ „Und er hatte die ganze Zeit Kontakt zu ihr?“, fragte sie verwundert und griff nach der Tüte Chips, die sie gemeinsam geöffnet hatten. „Ja, hatten sie. Mittlerweile antwortete sie mir zwar auch regelmäßiger auf meine E-Mail, aber irgendwas stört mich an der ganzen Sache“, murmelte sie gedankenverloren und legte den Kopf in den Nacken. Etsuko runzelte die Stirn und musterte Mimi eindringlich. Beide hatten sich heute zu einem DVD-Abend getroffen, doch keiner der beiden hatte aufgepasst, um was es bei dem Film eigentlich ging. Schnell lenkte sich die Aufmerksamkeit auf die wichtigeren Themen des Abends. „Vielleicht fühlst du dich ja bedroht“, meinte Etsuko auf einmal und setzte sich auf. „Bedroht?“, hakte Mimi unwirsch nach. Was meinte sie denn jetzt damit? Warum sollte sie sich von Soras baldiger Heimkehr bedroht fühlen? „Du hast mir doch mal erzählt, dass Tai auf sie stand, oder?“ Mimi nickte nur verhalten und legte sich auf den Bauch. „Vielleicht hast du Angst, dass diese Gefühle wieder aufflammen könnten, wenn sie wieder häufiger um ihn herumschwirrt“, sprach sie ohne darüber nachzudenken aus und traf ungewollt genau ins Schwarze. Mimis Augen weiteten sich unnatürlich, da sie diesen Gedanken schnellstens beiseiteschieben wollte. Nach der sagenumwobenen Nacht, die sie mit Tai erleben durfte, hatte sie ihre Zweifel tief in ihrem Innern vergraben, da sie genau wusste, was er für sie empfand. Doch Etsuko hatte Recht. Sora würde immer ein wichtiger Teil seines Lebens bleiben, genauso wie für sie. Wenn die beiden allerdings wieder mehr Zeit miteinander verbringen würden, Sora erneut ins Grübeln kam und es auch keinen Matt gab, der zwischen ihnen stand, wer wusste schon, was sich da wieder entwickeln könnte? „Hey, ich wollte dich jetzt nicht verunsichern“, erklang die Stimme ihrer Freundin besorgt, als Mimi zu ihr aufschaute. „Ich mache mir definitiv keine Sorgen“, log sie sofort und drehte ertappt den Kopf zur Seite. „Zwischen uns läuft es ja auch gut und Sora wird sich sicher für uns freuen, wenn sie wieder zurückkommt.“ „Weiß sie denn noch nicht Bescheid?“ „N-Nein…jedenfalls habe ich ihr nichts gesagt. Wir hatten ja auch kaum Kontakt“, redete sich Mimi raus und überlegte fieberhaft, wie sie das Gespräch auf ein anderes Thema lenken konnte. Etsuko war eine neugierige Person, die gerne alles hinterfragte, aber selbst den Fragen eher aus dem Weg ging. Mimi konnte noch nicht einschätzen, wie es mit Sora werden würde, da sie erst in zwei Wochen wieder in Japan wäre. Tai freute sich auf ihre Ankunft, während sie mit dem grünen Monster, genannt Eifersucht, kämpfte. Sie wollte gar nicht eifersüchtig sein, doch Sora schaffte es immer wieder, dass sie sich unsicher fühlte. Ihr Band zu Tai hatte sie immer bewundert, da sie sich fast blind verstanden und sich gut in den jeweils anderen hineinversetzten konnten, während Mimi eine Zeitlang Tai überhaupt nicht einschätzen konnte. Und ihre Liebe befand sich noch am Anfang des Weges. Sie wollte nicht, dass sich jemand dazwischen drängelte. „Du solltest dir keine Gedanken machen. Ihr zwei seid so süß zusammen, dass ich manchmal sogar ganz neidisch werde“, verkündete Etsuko grinsend, während Mimi überrascht dreinblickte. „Aber wieso denn? Ich dachte mit Daigo läuft es soweit gut, oder nicht?“ Zwar hatte sie letztens noch gemeint, sie nicht der typische Beziehungsmensch wäre, doch die beiden hatten letzte Woche ein traumhaftes Date gehabt, von dem Etsuko ihr am nächsten Tag die Ohren voll gesäuselt hatte. „Ich versteh‘ dich nicht. Mal findest du ihn ganz toll und dann willst du ihn wieder auf Abstand halten. Hat er ‘ne zweite Persönlichkeit, von der ich nichts weiß?“ „Nein, er ist wundervoll, aber…“ Etsukos Stimme brach ab, als sie den Blick auf ihr Bett richtete. Sie presste die Lippen aufeinander, sodass ein schmaler Strich entstand. Nervös zupfte sie an ihrer Steppdecke, fuhr immer wieder über den weichen Stoff und zog leichte Kreise darüber. „Er liebt seine Familie und ist nur nach Tokio gekommen, um zu studieren. Er hat vier Geschwister und ist mit ihnen auf dem Land aufgewachsen. Am liebsten würde er sein Leben genauso fortsetzen, wie es begonnen hat“, erklärte sie und wirkte verzweifelt. „Aber das klingt doch alles ganz schön. Vielleicht lernst du ja auch bald seine Familie kennen“, versuchte Mimi die Situation zu retten, stellte jedoch fest das Etsuko bereits Tränen in den Augen hatte. Mimi hatte sie noch nie vor jemandem weinen gesehen. Nach Norikos Tod war sie oft den Tränen nah, verschwand aber kurz bevor sie es nicht mehr zurückhalten konnte. „Ich kann das nicht. Er will bestimmt mal eine Familie und ich…“ Sie sah Mimi direkt in die Augen, als sich einzelne Tränen lösten und ihr innerer Schmerz ans Tageslicht kam. Erst jetzt konnte Mimi den Zusammenhang erkennen. Es ging nicht darum, dass sie diese Beziehung nicht wollte, oder sich für Beziehungsuntauglich hielt. Nein, dafür kannten sie sich noch nicht lang genug. Doch Mimi erinnerte sich daran, warum Etsuko lieber Menschen von sich wegstieß, statt sie in ihr Herz zu lassen. Man konnte sie verlieren und diesem Verlust wollte sie sich nicht stellen. _ „Du solltest dir nicht so viele Gedanken darübermachen, es ist doch nicht so, dass…“, sie stoppte abrupt und hielt inne. Etsuko hatte keine Ahnung, dass sie über die Sache mit ihrer Mutter Bescheid wusste. Noriko hatte es ihr im Vertrauen erzählt, damit Mimi die Möglichkeit hatte sie besser zu verstehen. Doch jetzt darüber zu sprechen, fühlte sich so falsch an. Sie war nicht ihre Schwester, die mit ihr eine gemeinsame Vergangenheit hatte, der sie blind vertraute. „Du weißt es wohl“, schlussfolgerte sie mit leiser Stimme und wandte ihr Gesicht von ihr. Sie zog die Beine an und lehnte sich gegen ihre harte Wand. „Hat es dir Noriko erzählt?“ „Ja“, antwortete sie nur und schämte sich ein wenig, sie so in die Ecke getrieben zu haben. „Wir standen uns wirklich sehr nah. Sie wusste alles über mich und ich über sie. Zusammen waren wir wie eine Familie“, erzählte sie wehmütig und zwang sich zum Lächeln. Mimi hörte diesmal nur zu, wollte sie nicht unterbrechen, da sie glaubte, dass ihr das Reden helfen könnte. „Weißt du, wie beschissen es ist, seine Familie Stück für Stück zu verlieren?“, fragte sie mit gebrochener Stimme und richtete den Blick auf ihre Knie. „Als meine Mutter gestorben war, wollte mein Vater mich nicht mal mehr ansehen, weil wir uns ähnlichen sahen. In den ersten fünf Jahren meines Lebens kannte ich ihn nur als eine Art Onkel, der ab und zu auf mich aufgepasst hat, wenn meine Großeltern keine Zeit hatten.“ Unsicherheit kroch in ihr hoch. Was sollte sie nur sagen? Jedes Wort klang falsch, egal wie lange sie auch darüber nachdachte. Sie blickte zu Etsuko, die erneut mit den Tränen kämpfte, immer wieder auffällig blinzelte und sich mit dem Daumen über ihre Augenpartie fuhr. Eine pinke Haarsträhne löste sich und hing ihr ins Gesicht, als Mimi plötzlich auf das Foto starrte, dass sich hinter ihr befand. Es zeigte eine junge Frau mit schönen dunkelbraunen Haaren, die freudig in die Kamera lächelte. „Ist das deine Mutter?“, fragte Mimi sehr behutsam und deutete auf das Bild, das neben ihr auf dem Nachtisch stand. Etsukos Gesicht entspannte sich auf einmal, als sie den Rahmen in ihre zarten Finger nahm und über das Glas strich. „Ja, das ist sie. Das Foto wurde kurz nach der Hochzeit meiner Eltern aufgenommen. Sie hatten sich bereits in der Oberschule kennengelernt und während dem Studium geheiratet.“ Mimi rutschte näher an sie heran, sodass sich ihre Schultern leicht berührten. Sie sahen sich tatsächlich sehr ähnlich, abgesehen von den pinken Haaren, die zu Etsukos Markenzeichen gehörten. „Sie waren so unfassbar glücklich…bis ich alles kaputt gemacht hatte“, murmelte sie vor sich hin und verstärkte den Griff um den Rahmen. Entgeistert blickte Mimi zu ihr und konnte gar nicht fassen, was sie gerade ausgesprochen hatte. „Aber das stimmt doch gar nicht, sie haben sich dich doch…“ „Ja, das haben sie, aber hätten sie gewusst, welche Opfer sie bringen mussten, wäre es besser, wenn es mich nicht gegeben hätte. Jedes Mal, wenn ich in die traurigen Augen meines Vaters gesehen hatte, wurde mir bewusst, dass ich ihm genommen hatte.“ „So ein Unsinn! Was redest du dir da ein?“, aufgebracht wedelte Mimi mit den Armen und konnte nicht verstehen, warum sie so einen Schwachsinn von sich gab. Ihr Vater liebte sie, mehr als alles andere auf dieser Welt. „Ich rede mir überhaupt nichts ein! Ich quäle ihn jeden Tag damit, dass ich genauso wie sie aussehe. Erst als mir damals die Haaren ausgefallen sind, sah ich nicht mehr aus wie sie!“ Verblüfft über diese Aussage, hob Mimi die Augenbraue an. „Färbst du dir deswegen die Haare immer pink?“ „Naja immer mit ‘ner Glatze rumzulaufen, ist auf Dauer wirklich nicht so toll und vor allem sehr kalt. Und da kam ich halt auf die Idee, mich zu verändern und seither funktioniert es auch besser mit uns“, erklärte sie überzeugt und nickte bestätigend. „Das hat doch bestimmt nichts damit zu tun. Ihr seid eine Familie und er will dich nicht auch noch verlieren. Dein Vater hat einfach Zeit gebraucht, aber immer, wenn er über dich redet, spricht er voller Stolz und strahlt über das ganze Gesicht“, versuchte Mimi ihr vor Augen zu führen. „Du bist ein wundervoller Mensch, der meiner Schwester geholfen hat, nicht aufzugeben. Du hast sie unsterblich werden lassen, genauso wie deine Mutter, da ein Teil von ihr immer in dir weiterleben wird. Und auch du hast das Recht glücklich zu werden, jemanden zu lieben und eine Familie zu haben. Denn irgendwie sind wir doch auch eine große Familie.“ Sie beendete ihren Monolog und spürte das Brennen ihrer eigenen Tränen in ihren Augen. Gerührt sah Etsuko zu ihr und verzog leicht das Gesicht, als sie sie in eine stürmische Umarmung zerrte. „Danke“, murmelte sie schwach, drückte sie aber noch fester an sich. Mimi erwiderte ihre liebe Geste indem sie ihre Arme um sie schlang und ihr den Halt gab, den sie ihr einst gegeben hatte. Manchmal wirkte das Leben grau und trist, so als hätte es sämtliche Farben verloren. Doch dann gab es immer wieder Menschen, die einen auffingen, ein Teil ihres Lebensmutes weitergaben und das Leben neu einfärbten. Und Etsuko war genauso ein Mensch. Jedoch war es nun an der Zeit, ihrem Leben eine neue Färbung zu geben. _ „Du hast was gemacht?“, hakte er erneut nach, als sie sich an seine stramme Brust lehnte. Mimi grinste leicht vor sich hin und fuhr über seine nackten Arme, die er am Badewannenrand abgelegt hatte. Sie hatte sich ihre Haare hochgesteckt, nur ein paar wenige Strähnen hatten sich aus der Klammer gelöst und umrahmten ihr frech grinsendes Gesicht. „Ich habe ihr die Haare umgefärbt. Ein natürliches braun, dass ihre blauen Augen hervorragend zur Geltung bringt“, lachte sie und kuschelte sich näher an ihn heran. Nachdenklich legte er sein Kinn auf ihrer Schulter ab und küsste sanft ihre Wange, als er sie mit den Armen näher an sich zog. „Ich hoffe, dass ich sie noch erkennen werde“, murmelte er leicht verwirrt, da er sich Etsuko mit braunen Haaren wohl so gar nicht vorstellen konnte. „Es sieht wirklich super aus. Daigo war ganz sprachlos, als er sie heute bei der Arbeit gesehen hatte“, informierte sie ihn freudig. „Er meinte zwar, dass er auch die pinken Haare mochte, aber das braun viel besser zu ihr passt.“ Tai schnaubte leise, sodass Mimi ihren Kopf leicht zu ihm drehte. Ein argwöhnischer Blick zierte sein Gesicht und seine rechte Augenbraue war senkrecht nach oben gezogen. „Was ist denn jetzt los?“ Mimi setzte sich auf, damit sie sich ihm voll und ganz zudrehen konnte. Ihr Oberkörper war voller Schaum und der süßliche Geruch von Erdbeeren und Honig stiegen ihr in die Nase. „Ich hoffe, sie kommt jetzt nicht auf die Idee und färbt dir die Haare pink. Damit wäre ich so gar nicht einverstanden“, stellte er klar und grinste sie schelmisch an. Mimi verdrehte nur spielerisch die Augen, da sie genau wusste, dass er braun pink definitiv vorzog. Sie rutschte näher an ihn heran, fuhr mit den Fingern über seine nackte Brust und schenkte ihm einen verliebten Blick. „Aber ich habe auch nichts gesagt als du letzte Woche deine Haare abgeschnitten hast“, grummelte sie und zog die Unterlippe nach vorne. Sie waren mittlerweile ein ganzes Stück kürzer, was Mimi so gar nicht gefiel. Sie mochte seine Wuschelmähne, die er einfach ohne ihr Einverständnis hatte kürzen lassen. „Prinzessin, das ist etwas völlig anderes. Zu lange Haare sehen bei einem Kerl halt doof aus und außerdem nervt es beim Fußballspielen“, erklärte er ihr und fischte ihre nassen Haarsträhnen aus dem Gesicht. „Aber du würdest mich auch mit pinken Haaren lieben, oder?“ „Ähm…“, druckste er herum und wich ihren fragenden Blicken aus. „Hey!“, polterte sie schrill und schlug ihm gegen den Arm „Sag‘ lieber etwas Nettes, sonst bekommst du Anfass-Verbot.“ „Anfass-Verbot?“, wiederholte er lachend und fuhr zärtlich mit den Fingern über ihren makellosen Rücken. „Ja, genau!“, sagte sie bedrohlich, wandte sich spielerisch aus seiner Umarmung und drehte ihm etwas beleidigt den Rücken zu. „Ach Mimi, du beleidige Leberwurst“, hörte sie ihn noch sagen, als er sich leise an sie heranpritschte und sie wieder näher an sich heranzog. Ruckartig zog er sie nach hinten, sodass sie leise quietschen musste und etwas Wasser aus der Badewanne schwappte. Liebevoll verteilte er zarte Küsse auf ihrem Nacken, während sie eine leichte Gänsehaut überkam. „Das war’s wohl mit Anfass-Verbot“, neckte sie ihn und spürte wie er seine starken Arme um ihren Bauch schmiegte. „Du weißt doch, dass ich die Finger nicht von dir lassen kann. Da würden selbst pinke Haare nichts daran ändern“, sagte er überzeugend. Mimi lächelte zufrieden, fuhr mit ihren Händen unter das warme Wasser und suchte mit ihren Fingern nach seinen. Kaum hatten sie einander gefunden, verschränken sie sich miteinander, so als würde sie nie wieder etwas trennen können. Tai bettete wieder sein Kinn auf ihrer Schulter und drückte sie noch näher an sich, bevor er das Wort wiederergriff. „Ich habe mir letztens ein paar Wohnungen im Internet angeschaut, die für das nächste Sommersemester frei werden.“ „Willst du aus dem Wohnheim ausziehen?“, fragte Mimi verwundert, weil er kein Sterbenswörtchen darüber erwähnt hatte. „Naja, du hast doch gesagt, dass du definitiv studieren willst, oder?“, stellte er die Gegenfrage. Mimi runzelte die Stirn, da sie nicht verstand, was er damit sagen wollte. Ja, sie wollte studieren, hatte jedoch nur noch nicht die zündende Idee, was am besten zu ihr passte. In den letzten Wochen hatte sie sich einen Studiengang über gesunde und ausgewogene Ernährung angesehen, den man sogar an der Tokai Universität studieren konnte. Doch bisher war sie sich noch nicht sicher, da sie viele Dinge interessierten und sie sich erst noch ein paar Studiengänge ansehen wollte, bevor sie sich letztlich entschied. „Ja, das stimmt so weit, aber warum fragst du?“ „Naja…ich…also“, druckste er herum und verstärkte den Griff um ihren zierlichen Körper. „Wir könnten uns doch nach deinem Abschluss eine gemeinsame Wohnung suchen. Wir verbringen doch so viel Zeit zusammen, aber ich würde es auch sehr schön finden, jeden Abend neben dir einschlafen und am nächsten Morgen neben dir aufwachen zu können.“ Ergriffen von seinen Worten, sah sie ihn an. Meinte er das ernst? Wollte er mit ihr zusammenziehen? Doch was war mit ihrer Mutter? Sie konnte sie doch nicht einfach so alleine lassen… „Du willst mit mir zusammenziehen?“, fasste sie nochmal zusammen und konnte selbst nicht glauben, dass er ihr diesen Vorschlag unterbreitete, auch wenn es sie sehr freute. „Ist das etwa so abwegig?“ „Nein, aber was ist mit meiner Mutter? Ich kann sie doch nicht alleine lassen“, murmelte sie leise, doch er verstand jedes Wort. „Sie kann ja gerne bei uns einziehen, dann können wir auch umso früher mit der Reproduktion anfangen“, grinste er unverschämt, während Mimi ihn fassungslos anstarrte. „R-Reproduktion?“, stammelte sie und lief automatisch rot an. „Das war doch nur ein Spaß…“, lachte Tai herzlich, „…obwohl unsere Kinder sicher süß aussehen würden.“ Immer noch sprachlos starrte sie ihn an und konnte nicht kontrollieren, dass ihre Wangen einen rötlichen Schimmer annahmen. Soweit hatte sie noch nicht geplant gehabt, auch wenn sie sich das Zusammenleben mit Tai durchaus traumhaft vorstellte. Er trug sie auf Händen, während sie sich immer noch dumme Gedanken um Sora machte. Schon wieder tauchte sie vor ihrem inneren Auge auf und nahm einen zu großen Platz in ihrer Gedankenwelt ein. Sie machte sich unnötige Sorgen, die völlig unbegründet schienen. Er wollte mit ihr zusammenziehen! Mit ihr ein gemeinsames Leben beginnen! Warum zögerte sie? Natürlich würde es schwer werden ihre Mutter zu verlassen, aber das wäre unvermeidlich, wenn sie die Uni besuchen würde. „Was meinst du? Ich weiß, dass du und deine Mutter wirklich zu einem unschlagbaren Team geworden seid, aber ich denke, dass sie auch…“ „Ja“, antwortete sie matt und lächelte verlegen. „Ja? Also ja im Sinne von zusammenwohnen?“, hakte er nach, obwohl ihr Blick eigentlich alles sagte. Sie nickte bestätigend, als er nicht mehr an sich halten konnte, sie zu sich drehte und seine Lippen auf ihre drückte. Glücksgefühle tanzten durch ihren Körper, um ihr zu zeigen, dass sie das Richtige tat. Sie liebte ihn aufrichtig und wollte keine Angst mehr vor der Zukunft haben, auch wenn es noch etwas dauerte, bis ihre Gemeinsame begann. Sie wollte leben. Und dieses Leben konnte sie sich nicht mehr ohne ihn vorstellen. Kapitel 69: Entweder…oder? -------------------------- „Hallo Papa!“, rief sie freudig und stürmte auf ihn zu. Sie hatten sich schon eine Weile nicht mehr gesehen, da ihr Vater viel arbeiten musste und sogar für die nächsten drei Monate einen Auftrag in den USA angenommen hatte. Mimi wollte sich heute nochmal mit ihm treffen und ihm eine gute Reise wünschen, bevor er sich am nächsten Montag auf den Weg machte. Sie umarmte ihn kurz, drückte ihn fest an sich, bevor sie sich an einem Tisch niederließen. „Wie geht’s dir? Was macht die Schule?“, fragte er interessiert und schlug sofort die Karte auf. „Mir geht es soweit gut und in der Schule läuft es prima“, antwortete sie stolz, da sie sich wirklich nicht beschweren konnte. Alles lief wie am Schnürchen, auch wenn es Mimi sehr wunderte, dass auch Mathe ihr sehr wenige Probleme bereitete. Die Lerngruppe schien wirklich Früchte zu tragen. „Willst du auch etwas essen? Die Pizza hier ist sagenhaft gut.“ Mimi lächelte verhalten und klappte die Karte, nachdem sie die Getränke durchgeschaut hatte, wieder zu. „Nein, heute kommt Sora wieder und wir haben eine kleine Party für sie organisiert. Ich habe ziemlich viel gekocht und das muss ja auch irgendwer essen“, erzählte sie lachend und war schon etwas stolz auf sich. Normalerweise bereitete sie meist den Nachtisch vor, doch diesmal hatte sie sich an ein komplettes Abendessen ran getraut und viele kleine Leckereien für sich und ihre Freunde vorbereitet. Hilfe bekam sie von Yolei und Kari, die ihr heute Morgen beim Zubereiten assistiert hatten. Tai hatte den Rest in die Hand genommen und eine kleine feine Party für Soras Rückkehr organisiert. Er wollte sie später am Flughafen abholen und bei der ersten Gelegenheit zur Halle locken, in der sie auch schon ihre Abschiedsfeier gefeiert hatten. „Erzähl‘ doch mal was es so Neues gibt! Mama hat erzählt, dass du vielleicht nach der Schule ausziehen möchtest und zwar nicht allein“, hakte er neugierig nach, als er die Bestellung bei dem Kellner aufgegeben hatte. Mimi lief automatisch etwas rot an und krallte nervös die Finger in den seidigen Stoff ihres Tops. Eigentlich hatte sie es bisher nur ihrer Mutter erzählt, da es ja auch noch gar nicht spruchreif war, auch wenn sie sich immer wieder mal nach Wohnungen umschauten. „Ach Papa, das dauert noch“, winkte sie schnell ab, lächelte aber glücklich. Als der Kellner jedoch ihre Getränke gebracht hatte, legte er ein verschwörerisches Grinsen auf und ließ es sich nicht nehmen, etwas weiter zu bohren. „Mimi lass‘ dir doch nicht alles aus der Nase ziehen. Ich möchte unbedingt wissen, wer mein kleines Mädchen so zu strahlen bringt.“ Verlegen wandte Mimi den Blick von ihm und rieb mit dem Daumen über den Henkel ihrer Teetasse. „Naja, also…“, begann sie zu erzählen, als hätte sie den halben Tag darauf gewartet. Sie konnte ihr Grinsen nicht mehr kontrollieren, aber das ging ihr immer so, wenn sie über Taichi sprach. Sie konnte nicht verbergen, wie glücklich er sie machte, wie sehr sie seine Nähe genoss und sich immer wieder nach seinen starken Armen sehnte. Mimi redete ohne Punkt und Komma, während ihr Vater geduldig zuhörte und ab und zu an seinem dampfenden Kaffee nippte. Gedankenverloren legte er sein Kinn auf seiner Hand ab und musterte seine Tochter genau. Ein warmes Lächeln schob sich auf seine Lippen. „Er scheint dich wirklich sehr glücklich zu machen“, stellte er mit Freuden fest und Mimi unterbrach ihren Redefluss abrupt. Mimi nickte nur, als das Lächeln ihres Vaters plötzlich verschwand und einer traurigen Miene wich. „Es tut mir so unendlich leid, wie alles gelaufen ist. Ich habe sehr viel auf Spiel gesetzt und viel verloren. Aber vor allem habe ich dich und deine Mutter sehr verletzt.“ Mimis Gesicht versteinerte sich augenblicklich. „Ich hätte so viel anders machen müssen. Allein schon wegen Noriko. Es war nicht fair von mir, mich vor meiner Verantwortung zu drücken und sie dir vorzuenthalten“, murmelte er betroffen. Es war das erste Mal, dass er ihren Namen in den Mund nahm. Mimi presste die Lippen aufeinander und kämpfte gegen das Brennen in ihren Augen an. Ihr Mund stäubte sich die passenden Worte auszuspucken, da sich alles auf einmal so falsch anhörte. Was sollte sie nur sagen? Sollte sie ihm Recht geben? Ja, er hatte viele Fehler gemacht, aber welcher Mensch war schon fehlerlos? Natürlich hatte sie sich die ganze Zeit erhofft, dass sich ihre Eltern doch noch vertragen würden, doch sie jagte einer Kinderfantasie hinterher. Es war zu viel passiert. Beide hatten zwar einen Weg gefunden, wieder einigermaßen normal miteinander umzugehen, aber Mimi konnte auch ihre Mutter verstehen, die das Vertrauen komplett verloren hatte und ihrem Vater keine weitere Chance geben konnte. Vielleicht war es besser so. Sie waren ja nach wie vor noch eine Familie, auch wenn sich ein paar Dinge verändert hatten. „Mimi“, ertönte seine brüchige Stimme. Er beugte sich nach vorne und ergriff ihre Hand. „Ich werde immer für dich da sein. Daran wird sich nichts ändern. Du bist alles was ich noch habe und ich möchte, dass du weißt, dass ich vieles anders gemacht hätte, aber nicht mutig genug war, zu meinen Fehlern zu stehen. Ich…ich kann dir nicht das zurückgeben, was ich dir genommen habe, aber ich werde immer an deiner Seite sein, egal was auch passiert. Und ich bin auch sehr froh, dass du jemanden gefunden hast, der dir zur Seite steht und dir ein Lächeln ins Gesicht zaubern kann. Du hast es verdient, glücklich zu werden.“ Ganz ergriffen von seinen Worten, drückte sie seine Hand, während eine einzelne Träne ihre Wange hinunterkullerte. Auch wenn nicht immer alles nach Plan lief, durfte man niemals, unter gar keinen Umständen, aufgeben. Es gab für alles eine Lösung. Man musste sie nur finden. _ Unbekümmert machte sie sich auf den Weg zur Halle, in der sie die Willkommensparty für Sora feiern wollten. Sie war schon sehr gespannt, was sie alles erzählen würde, welche Erfahrungen sie gesammelt und ob Paris sie verändert hatte. Sie freute sich natürlich auch sehr auf Tai, den sie in den letzten Tagen nur sehr selten alleine angetroffen hatte, da er alles in die Hand nahm und vorbereitete. Sie fand es fast schon ein wenig süß, wie er sich für Sora ins Zeug legte, wenn da nur nicht schon wieder ihre Eifersucht wäre. Mimi musste aufhören, ihre Freundin ständig als Bedrohung wahrzunehmen, auch wenn tatsächlich von Tais Seite Gefühle vorhanden gewesen waren. Doch das war vorbei. Sie waren nun zusammen und sogar sehr glücklich miteinander. Sora würde sich sicher sehr für sein freuen und ihnen ganz sicher nicht im Wege stehen. Jedenfalls versuchte Mimi sich das einzureden. Jedoch drängten sich immer wieder die Zweifel an die Oberfläche, die sie ins Grübeln kommen ließen. Sie hatte Tais Euphorie und seinen funkelnden Blick durchaus mitbekommen, wenn er über Sora sprach. Mimi hatte nicht vor, sich etwas einzureden, doch ihre Angst vor Soras Ankunft und der bevorstehenden Veränderung, quälten sie schon seit Wochen. Meist versuchte sie sich nichts anmerken zu lassen, spielte ihre Sorgen geschickt hinunter und engagierte sich ebenfalls sehr für Soras Party, aber mehr um Tai zu gefallen, da sie wusste, wie glücklich sie ihn damit machte. Er freute sich über die Rückkehr seiner besten Freundin, während Mimi mit ihren Unsicherheiten kämpfte. Sie blieb mitten auf dem Weg plötzlich stehen. Warum machte sie sich nur so viele Sorgen? Sora war doch auch ihre Freundin. Mimi fuhr sich durch ihr langes braunes Haar und seufzte leise, als sie sich zeitgleich wieder in Bewegung setze. Lag es vielleicht daran, dass ihre Beziehung erst funktionierte, nachdem sich Soras Abschied ankündigte? Sie schüttelte sofort den Kopf. Nein, sowas durfte sie auf gar keinen Fall denken. Tai und sie hatten lange Zeit aneinander vorbeigeredet, Sora traf keine Schuld dran. Die junge Frau beschleunigte abrupt ihre Schritte, lief über die Straße und sah bereits die Halle auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Schnell schob sie ihre störenden Gedanken beiseite und beeilte sich ein wenig, da sie bereits schon etwas zu spät dran war. Sie sprintete in Richtung Eingang, als sie auf einmal Zeuge eines sehr innigen Moments wurde, der ihr Herz prompt in Stücke zerfetzte. Ihr stockte der Atem und sie blieb wie angewurzelt einige Meter vor dem Eingang stehen. Die Szene, die sich vor ihr bot, raubte ihr die Luft zum Atmen und ließ die Zweifel in ihr hochkriechen. Sie hatte es gewusst. Sie war nur die zweite Wahl. Verbittert biss sie sich auf die Unterlippe und versuchte ihre Tränen zurückzuhalten, als sich die beiden aus ihrer herzlichen Umarmung lösten und sie bemerkten. Er lächelte leicht, als er sie sah, während in ihr der Brechreiz raufstieg. „Da bist du ja endlich“, sagte er fröhlich, während er immer noch dicht neben ihr stand und sie verlegen nach unten sah. Mimi stolperte leicht rückwärts, als er einen Schritt auf sie zukam. Sie schüttelte nur den Kopf, spürte, dass sich eine Träne löste und langsam ihre Wange hinunterwanderte. Warum tat er ihr so etwas an? Ein unbeschreiblicher Schmerz drückte auf ihre Brust und ihre Sicht wurde von den aufkommenden Tränen getrübt. Er bemerkte relativ schnell, dass etwas nicht stimmte und wollte gerade nach ihrem Arm greifen, als sie auf Abstand ging, sich in Bewegung setzte und loslief. Sie wollte beide nicht mehr sehen. Jedenfalls nicht im Moment. Warum umarmten sie sich nur so innig? Hatte sie etwas verpasst? Oder hätte sie es ahnen müssen? Ihre Lunge brannte bereits nach wenigen Metern, da ihre Gefühle sich machtvoll an die Oberfläche kämpften und ihr sämtliche Kondition nahm. Sie blieb stehen, als sie die gegenüberliegende Straßenseite erreicht hatte. Mimi ging leicht in die Knie und schnaubte kraftvoll, als einige Tränen auf den Bürgersteig tropften. Sie wollte so schnell es ging hier weg. Doch gerade als sie sich in Bewegung setzte, wurde sie abrupt nach hinten gerissen. Ohne es zu wollen, drehte sie sich reflexartig herum und sah in seine wundervollen braunen Augen, die ihr Atmen erneut zum Stocken brachte. _ „Was machst du denn? Warum haust du einfach so ab?“, fragte er etwas gereizt und hielt ihre Handgelenke fest umschlossen. Mimi versuchte sich aus seinem Griff zu winden, scheiterte aber kläglich, da er viel zu stark für sie war. „Lass‘ mich gefälligst los! Du tust mir weh“, brachte sie gerade noch hervor und konnte damit bewirken, dass er seinen Griff um sie lockerte. Ruppig riss sie sich von ihm los und ging auf Abstand. „Was sollte das gerade? Sora fragt sich auch schon, was plötzlich in dich gefahren ist.“ „Es ist überhaupt nichts in mich gefahren!“, verteidigte sie sich weniger überzeugend und senkte den Kopf. Sie konnte ihm nicht in die Augen blicken. „Du lügst doch!“, stellte er aufgebracht fest und konnte die Reaktion seiner Freundin wohl ganz und gar nicht verstehen. „Warum wundert dich mein Verhalten so? Ich komme hier an und muss sehen, wie ihr euch innig in den Armen liegt! Was soll ich davon denn halten?“ „Nicht die Leier schon wieder“, grummelte er genervt und verdrehte die Augen. „Warum bist du nur so eifersüchtig auf sie? Darf ich jetzt noch nicht mal mehr meine beste Freundin umarmen, oder was?“ „Das sah aber mehr als nur freundschaftlich aus“, erwiderte sie nur und verschränkte die Arme vor der Brust. „Was? Sag‘ mal hast du sie noch alle? Du kommst hier an und machst hier voll die Szene, weißt du das? Echt Mimi, krieg‘ dich mal wieder ein“, antwortete er verständnislos. Sein Ton ärgerte sie ungemein. Er wirkte gleichgültig, fast schon ein wenig überheblich. „Ich hätte es von Anfang an wissen müssen“, murmelte sie und richtete das Gesicht von ihm. „Was hättest du von Anfang an wissen müssen?“, hakte er nach und ging ein paar Schritte auf sie zu. „Bleib‘ da stehen, Taichi!“, sagte sie und signalisierte ihm mit den Händen, dass er ihr nicht zu nah kommen sollte. „Ich verstehe dein Problem nicht! Was glaubst du denn gesehen zu haben?“ Mimi schluckte. Er dachte sicher, dass sie überreagierte. Er konnte sich nicht vorstellen, wie es sich anfühlte, ständig im Schatten ihrer besten Freundin zu stehen. Er hatte sie früher kaum bemerkt, wenn Sora in der Nähe war, hatte sie ihr immer vorgezogen, weil die beiden eine tiefe Freundschaft verband, bei der Mimi einfach nicht mithalten konnte. „Hast du noch Gefühle für sie?“, fragte sie unvermittelt und kämpfte mit den Tränen. Völlig perplex sah Taichi sie an und konnte scheinbar nicht fassen, was sie gerade gefragt hatte. „Was? Sag‘ mal geht’s dir etwa darum? Nur weil ich sie umarmt habe?“ „Beantworte einfach meine Frage!“, brüllte sie und wusch sich die Tränen aus dem Gesicht. „Ganz ehrlich, du spinnst!“, gab er zurück. „Komm‘ jetzt erstmal wieder runter und dann gehen wir zu den anderen.“ „Warum kannst du meine Frage nicht beantworten? Vorhin habt ihr so vertraut auf mich gewirkt und du hast mir auch mal gesagt, dass du in sie verliebt warst! Sie war sechs Monate weg und erst dann hat es mit uns geklappt und jetzt…jetzt ist sie wieder da und wird alles kaputt machen“, murmelte sie immer leiser werden und konnte selbst nicht fassen, was sie da gerade von sich gegeben hatte. Doch genau das, dachte sie sich schon die ganze Zeit. Sie wollte es nur nicht wahrhaben, vergrub es tief in ihrem Innern und versuchte die kurze Zeit, die sie mit Tai vermeintlich noch hatte, zu genießen. Sora würde immer ein wichtiger Teil seines Lebens bleiben, egal was mal zwischen ihnen passiert war. „Was redest du für einen Unsinn? Sora freut sich für uns!“ „D-Du hast es ihr erzählt?“, hakte sie nach und blickte ihm ins Gesicht. Seine Gesichtszüge wurden auf einmal ganz weich, als er wieder auf sie zuging und ihren Kopf anhob. „Wir haben uns nur umarmt, weil sie mir erzählt hat, dass Matt ebenfalls wieder nach Japan zurückkommt. Er will sogar ein Studium beginnen!“, erklärte er freudig, doch Mimi war dies nicht genug. Sie ging wieder auf Distanz, merkte wie Tai hörbar seufzte und sich durch sein Haar fuhr. Wieso konnte er ihre Frage nicht einfach beantworten? Warum wich er ihr aus? „Was soll ich denn noch machen? Du bist gerade echt verdammt anstrengend!“, meinte er leicht vorwurfsvoll. „Warum kannst du meine Frage nicht beantworten? Hast du etwa noch Gefühle für sie? Willst du es nur nicht vor mir zugeben, oder was? Warum hast du dich damals überhaupt für mich entschieden?“ Verdutzt blickte er sie an und rang mit seiner Fassung. „Stellst du etwa gerade unsere Beziehung in Frage? Mimi, ich weiß, dass gerade die Eifersucht aus dir spricht, aber hör dir doch mal zu! Was erwartest du denn von mir? Eine Entscheidung zwischen dir und Sora?“ Sie überlegte einen Moment und hielt inne. Mimi schloss die Augen und versuchte das Pochen ihres schmerzenden Herzens zu ignorieren. Reagierte sie gerade wirklich über? Setzte sie somit ihre Beziehung aufs Spiel? Sie konnte so eine Entscheidung doch nicht von ihm verlangen, auch wenn ihr Herz genau nach einer solchen schrie. Konnte er wirklich beide Frauen an seiner Seite haben? Konnte er die damaligen Gefühle für Sora wirklich abstellen, oder war Mimi wieder nur Mal ein Mittel zum Zweck, weil er die Frau, die er liebte nicht bekommen konnte? Ihr wurde auf einmal schlagartig bewusst, dass so viel Unausgesprochenes ihre Beziehung belastete. Mimi war es immer sehr schwer gefallen, mit ihm über Sora zu sprechen, da sie von seinen Gefühlen zu ihr wusste und Angst hatte, dass er ihr etwas sagte, mit dem sie nicht umgehen konnte. Vielleicht war es nun soweit. Vielleicht musste sie diese entscheidende Frage stellen, um in seiner Reaktion lesen zu können, wer ihm wichtiger war. Sie schluckte, benetzte ihre trockenen Lippen mit ihrer Zunge und sah ihn mit einem starren Blick an. „Ich glaube, das ist die einzige Möglichkeit. Entweder Sora, oder ich!“ Epilog: Liebe ist… ------------------ Sieben Jahre später… Behutsam fuhr sie durch die seidigen Haare ihrer Freundin und befestigte einige samtweiße Perlen in ihrem braunen Haar, das kunstvoll zusammengesteckt wurde. „Ich bin ganz schön nervös“, sagte sie schwer atmend und betrachtete sich im Spiegel. Sie lächelte nur sanft und legte ihre Hände auf ihren Schultern ab. „Keine Sorge, du siehst fantastisch aus. Er wird sicher große Augen machen“, beruhigte sie sie mit sanfter Stimme und vollendete ihr Werk. Alles sah so unfassbar toll an ihr aus, obwohl sich Mimi noch gut daran erinnern konnte, dass Etsuko niemals heiraten wollte. Gut, Daigo hatte wirklich lange gebraucht, um sie zu überzeugen, doch heute war es endlich soweit. Etsukos großer Tag war gekommen. Sie trug ein unfassbar schönes Kleid, das bis auf den Boden reichte. Es war sehr schlicht gehalten, betonte ein wenig das Dekolleté, das mit einer filigranen Kette von ihrer Mutter abgerundet wurde. „Ich hole noch schnell deinen Schleier, ja?“ Etsuko nickte als Mimi zur Kommode ging. Sie spähte kurz aus dem Fenster und erblickte die zahlreichen Gäste, die extra für den heutigen Tag angereist waren. Die Hochzeit fand in einem kleinen abgelegenen Hotel mit einer malerischen Parkanlage statt. Der Priester war bereits vor einer halben Stunde eingetroffen und Mimi kümmerte sich nur noch um die Feinheiten, bevor die Zeremonie beginnen konnte. Sie schnappte sich den Schleier und befestigte ihn mit Haarnadeln auf Etsukos Kopf. Mimi achtete darauf, ihre wunderschöne Frisur nicht allzu sehr zu verdecken, auch wenn sie genau wusste, dass Etsuko den Schleier wohl als erstes wieder ausziehen würde. Sie hatte den Kopf etwas schräg gelegt und beobachtete Mimi dabei, wie sie ihn versuchte zu befestigen. „Du sag‘ mal…“, begann sie leise, wandte den Kopf zur anderen Seite, während Mimi einige Haarnadeln mit den Zähnen festhielt. „Hm?“ Sie hielt kurz inne, nahm die Klammern aus dem Mund und blickte fragend zu Etsuko. „Wann hast du gewusst, dass er der Richtige ist?“ Ein wenig überrascht sah sie in den Spiegel, der Etsuko und sie zeigte, als ihr Blick zu ihrem rechten Ringfinger wanderte, an dem ein silberner Ring funkelte. Sie lächelte leicht vor sich hin und schwelgte in Erinnerungen. „Ich glaube, das ist die einzige Möglichkeit. Entweder Sora, oder ich.“ Fassungslos starrte er sie an, brachte aber kein einziges Wort über die Lippen. Mimi rechnete schon mit dem Schlimmsten. Hatte sie es zu weit getrieben? Was hatte sie nur in diese Umarmung hineininterpretiert? Das letzte Mal, als sie die beiden so vertraut miteinander gesehen hatte, hatte Taichi Sora geküsst gehabt. In ihr rebellierte es, da sie bemerkte, wie machtlos sie gegen ihre eigenen Emotionen und Gefühle war. Sie wollte sich gerade von ihm abwenden als seine Stimme ertönte. „Du bist unfassbar stur, zickig und geigst mir gerne mal die Meinung, wenn dir etwas nicht passt…“ Überrascht sah sie ihn an und konnte sich nicht zusammenreimen, auf was er hinaus wollte. „Was?“ „Du machst mich mit deiner Art so wahnsinnig, dass ich gleichzeitig ganz verrückt nach dir werde und spüre, wie sehr ich dich brauche.“ Er machte wieder einen Schritt auf sie zu, fixierte sie mit einem eingehenden Blick, sodass ihre Knie ganz weich wurden. „Ich weiß nicht, warum du dich immer so schlecht machst und so eifersüchtig auf Sora bist. Das hast du nicht nötig. Ich weiß, dass ich früher viel falsch gemacht habe und ja, es gab eine Zeit, wo ich dachte, dass Sora, die Frau ist, mit der ich zusammen sein will. In Wirklichkeit habe ich mich nur vor meinen wahren Gefühlen versteckt, weil ich Angst hatte erneut verletzt zu werden, aber…“ Seine Stimme brach ab, als er ganz dicht vor ihr stand und sanft mit den Händen über ihren Rücken fuhr. Er wanderte mit seinen Fingern zu ihrem Gesicht und sorgte dafür, dass sie jedes einzelne Wort von seinen Lippen ablesen konnte. „Aber ich will dich nicht verlieren. Du machst mich so glücklich, indem du mir jeden Tag ein Lächeln auf die Lippen zauberst, dich um mich kümmerst und mich mit deinen aufrichtigen Worten Tag für Tag motivierst, indem du mir deine Liebe schenkst. Doch ich kann mich nicht zwischen zwei Menschen entscheiden, die mir so wichtig sind. Sora ist meine…nein, unsere Freundin und dir ist doch diese Freundschaft genauso wichtig wie mir.“ Er machte eine kurze Pause, näherte sich ihrem Gesicht, sodass sich ihre Nasenspitzen zart berührten. „Ich liebe dich. Nur dich allein. Ich würde alles für dich tun, nur um mit dir zusammen sein zu dürfen, aber bitte verlange nicht so eine Entscheidung von mir.“ Tränen quollen ihre Wangen hinunter. Sie fühlte sich schäbig, da sie so eine Entscheidung von ihm verlangt hatte. Er hatte Recht. Auch ihr war diese Freundschaft wichtig, genauso wichtig wie diese Beziehung, die nur funktionieren konnte, wenn sie sich offen und ehrlich ihren Gefühlen stellten. Ja, sie war eifersüchtig. Sie war immer noch das sechszehnjährige Mädchen von damals, dass mit ihren Komplexen und Ängsten kämpfte. Doch es hatte sich so viel geändert. Sie waren beide älter geworden und vor allem auch reifer. „Finde dein Glück und verteidige es heldenhaft. Denn das ist das, was du verdienst.“ Plötzlich fielen ihr genau diese Worte ein, die ihr Noriko auf den Weg gegeben hatte. Liebe war nie einfach. Man musste kämpfen und sie verteidigen, bis man wirklich glücklich werden konnte. Vielleicht war es nicht perfekt, hatte einige Hindernisse, die man überstehen musste, doch sie war nicht bereit, diese Liebe aufzugeben. Schluchzend warf sie sich in seine Arme und drückte ihn fest an sich. „Es tut mir so leid. I-Ich bin so dumm…so unglaublich dumm“, murmelte sie gegen seine starke Brust und vergrub ihr Gesicht in seiner Jacke. Zärtlich fuhr er über ihren braunen Schopf, während sie leise Tränen weinte. Langsam hob sie den Kopf an und sah ihm wieder in die Augen. „Ich bin einfach echt furchtbar!“ Tai legte ein sanftes Grinsen auf und fuhr über ihre verquollenen Augen, um weitere Tränen abzufangen. „Du bist nicht furchtbar…vielleicht furchtbar eifersüchtig, aber du brauchst dich vor nichts zu fürchten“, antwortete er eindringlich. „Wirklich? Sicher, dass du mich nicht irgendwann abschießt, wenn ich ständig an die Decke fahre?“ „Aber genau das liebe ich doch an dir. Deine ehrliche aufbrausende Art, die mich einfach mitreißt. Wir haben so viel überstanden und ich habe gelernt, dass es sehr wichtig ist für jemanden zu kämpfen, den man aufrichtig liebt.“ Vollkommen ergriffen von seinen Worten blickte sie zu ihm hinauf, als er sie näher an sich drückte. „Ich glaube, ich bin Sora eine Entschuldigung schuldig“, murmelte sie heiser. „Du solltest einfach mal offen mit ihr über alles reden. Du bist ihr sehr wichtig!“, erwiderte er matt und ließ sie los. Danach streckte er ihr seine Hand entgegen und sah sie erwartungsvoll an. „Wir sollten gemeinsam zurückgehen.“ Ohne einen weiteren Gedanken zu verschwenden, hörte sie auf ihr Herz, ergriff seine Hand und ließ sich von ihm in die richtige Richtung führen. Es war der Moment, der alles zwischen ihnen änderte und einen neuen Weg ebnete, den sie zuvor einfach noch nicht sehen konnte. Mimi hatte vieles nicht gewusst und musste lernen, dass sie auch an ihrer Freundschaft zu Sora stetig arbeiten musste. Sie hatten sich sehr voneinander distanziert gehabt, was Mimi nicht wahrhaben wollte. Sie hatte all ihre Probleme innerhalb ihrer Freundschaft ignoriert gehabt und versuchte nach vorne zu schauen, ohne es tatsächlich zu klären. Ein gefährliches Spiel der Emotionen, besonders, wenn noch Geheimnisse im Weg standen, die die Beziehung zueinander zusätzlich belasten konnte. Mimi war daher sehr überrascht gewesen, als Sora ihr von ihrer damaligen Abschiedsfeier erzählte und was danach passiert war. Sie war wohl wieder Matt nähergekommen und verbrachte ihren letzten Abend in Japan mit ihm. Doch bevor sie einen Schritt weitergingen, hatte sich Matt dazu entschlossen gehabt, ihr die Wahrheit zu erzählen, was bedeutete, dass Sora bereits von der gemeinsamen Nacht wusste. Sie hatte daraufhin sowohl zu Matt, als auch zu Mimi Abstand gebraucht, den sie in Paris fand. Das war auch der Grund gewesen, warum sich Sora so selten bei ihr gemeldet hatte. Sie wollte in Ruhe darüber nachdenken, was es für ihre Freundschaft bedeutete, ob sich etwas ändern würde und ob sie in der Lage wäre ihr zu verzeihen. Noch während sie in Paris war, kam plötzlich alles anders, als es Sora erwartet hätte. Ein paar Wochen vor ihrer Abreise, stand auf einmal Matt vor der Tür ihrer kleinen Pariser Wohnung. Sie hatte bereits gehört, dass seine Band einige Konzerte in Europa geben würden, da sie selbstverständlich die Berichte fleißig verfolgt hatte. Dennoch war sie sehr überrascht gewesen, ihn vor sich zu sehen, auch wenn ihre Gefühle immer noch dieselben waren. Er hatte sie kurz darauf auf ein Konzert eingeladen, da es ihm schon immer leichter gefallen war, die passenden Worte über die Musik zu vermitteln. Sora hatte nicht damit gerechnet, dass er ausgerechnet ihr ein Lied geschrieben hatte, es ihr sogar extra widmete und ihr damit sagte, dass er sie zurückhaben wollte. Mimi konnte damals in ihren Augen lesen, wie glücklich Matts Geste Sora gemacht hatte. Noch an diesem Abend, setzten sie dort an, wo sie damals bei der Abschiedsfeier aufgehört hatten. Es gab durchaus Paare, die manchmal mehrere Chancen benötigten, um zusammen zu kommen. Sora und Matt waren genau eines dieser Paare, die nach ihrer gemeinsamen Nacht ihre Gefühle füreinander nicht mehr länger verleugnen konnten. Matt hielt daraufhin wirklich Wort und kehrte keine zwei Wochen später tatsächlich nach Japan zurück, um ein Studium zu beginnen. Er machte sozusagen sein Hobby zum Beruf und wurde Musiklehrer an der Oberschule, was ihn voll und ganz erfüllte, auch wenn er nicht mehr in einer Band spielte. Mimi erinnerte sich noch gut an die Zeit, als alle vier zusammen waren und an ihrer Zukunft feilten. Es war nicht immer einfach, da sie viel aufzuholen und zu klären hatten, aber es gelang ihnen, das Vergangene hinter sich zu lassen und gemeinsam nach vorne zu blicken. Und heute krönte ein weiterer Meilenstein ihr Leben und das ihrer Freunde. Etwas rührselig sah sie zu Etsuko, die von ihrer Geschichte einige Tränen in den Augen hatte. Mimi tupfte behutsam über ihre Augen und strahlte sie an. „Hey, du kannst später weinen, jetzt wird erstmal geheiratet“, sagte sie freudig und half ihr auf. Gemeinsam machten sie sich auf den Weg nach unten. _ Ein wenig erschöpft lehnte sie sich gegen die kühle Armatur des Waschbeckens und schnaufte herzlich. Mit einer Hand strich sie über ihren Rücken und spürte eine deutliche Verspannung, die sich langsam schmerzvoll ausbreitete. Sie musste auch dringend aus ihren Schuhen, da ihre Füße etwas geschwollen waren und sie ziemlich zu drücken begannen. Mimi stellte sich gerade hin und betrachtete sich im Spiegel. Sie musste immer noch Lächeln, wenn sie an die wundervolle Zeremonie dachte. Noch nie im Leben hatte sie Etsuko so glücklich und unbeschwert gesehen, wie in diesem einen Moment. Gerade waren sie dabei einige Erinnerungsfotos zu schießen, auf denen Mimi natürlich nicht fehlen wollte. Genau genommen wollte sie sich nur kurz frisch machen, brauchte aber einen Augenblick für sich, um alles zu realisieren, was um sie herum geschah. Wieder blickte sie in den Spiegel, musterte ihr türkisfarbenes Kleid und ihre langen gelockten Haare, die ihr bis zur Brust gingen. Sie sah ein wenig müde aus, doch das war im Hinblick ihres Zustands gar kein Wunder. Sie konnte froh sein, wenn sie es heute Abend noch heil ins Bett schaffte. Plötzlich klopfte es sachte an der Tür und Mimi war schon recht verwundert, wer wohl an der Damentoilette anklopfte. „Herein?!“ Doch als ihr Mann auf einmal sein Gesicht zur Tür hineinstreckte, wurde ihr einiges klar. „Ich wollte mal sehen, ob bei euch beiden alles in Ordnung ist“, sagte er nur und trat ein. Mimi grinste verschmitzt und fuhr sich bedacht mit beiden Händen über ihr kleines Sechs-Monats-Bäuchlein, dass in ihrem Kleid sogar noch etwas extremer zur Geltung kam. „Du machst dir immer so viele Sorgen um uns, dabei geht es mir und dem Baby wirklich gut“, antwortete sie fröhlich und zog ihn in eine innige Umarmung. „Ich brauche halt etwas länger, da ich nicht mehr so beweglich bin.“ Sie hauchte ihm einen Kuss auf die Lippen und schmiegte sich noch ein wenig näher an ihn heran. „Ist ja schon gut, ich übertreibe vielleicht ein wenig, aber ich muss doch aufpassen, dass es meiner Frau und meinem zukünftigen Stammhalter gut geht“, konterte er gewitzt und legte fürsorglich seine Hand auf ihren Bauch, bevor er liebevoll ihre Stirn küsste. „Du weißt doch noch gar nicht was es wird, Tai. Vielleicht wird es ja auch ein Mädchen“, zog sie ihn auf, da sie genau wusste, dass er sich insgeheim einen kleinen stammen Jungen wünschte. „Hey, das wäre total unfair. Ich wäre voll in der Unterzahl!“, verteidigte er sich schmollend. „Wir haben aber gesagt, dass wir uns überraschen lassen wollen und ich bin mir auch ziemlich sicher, dass du dich auch gegen drei Mädchen durchsetzen kannst“, entgegnete sie nur und sah ihn mit großen Augen an. „Wo ist eigentlich unser kleiner Wirbelwind?“ „Draußen. Bei Masaru und den anderen“, antwortete er und deutete mit dem Kinn in die Richtung, aus der er hergekommen war. „Vielleicht sollten wir doch besser zu den anderen gehen.“ „Warum?“ Tai runzelte die Stirn, als Mimi sich aus seiner Umarmung löste und zur Tür schritt. „Sie ist deine Tochter und hat genug Unfug im Kopf. Darum“, betonte sie nachdrücklich und öffnete die Tür. _ Beide kehrten Arm in Arm nach draußen zurück. Wie Mimi es erwartet hatte, tobte ihr kleines Mädchen ausgelassen im Freien herum. Mimi hatte ihre braunen Haare zu einem hohen Zopf zusammengebunden, der bei jeder Bewegung der Kleinen, freudig mitwippte. Sie trug ein rosanes Kleid und ihr knubbeliges Knie zierte ein kleines buntes Pflaster, da sie vor wenigen Tagen beim Spielen mit Freunden hingefallen war. Doch das hinderte sie noch lange nicht daran, wieder so wild wie immer durch die Gegend zu hüpfen. Erst als Mimi ihren Namen rief, drehte sie sich ihnen zu und rannte quietschend los. „Papa!“, brüllte sie aus nächster Nähe und rannte prompt auf Taichi zu, der seine Arme ausgebreitet hatte. Sie ließ sich in seine Arme fallen, als Tai sie direkt danach hochnahm und Mimi etwas beleidigt aus der Wäsche blickte. „Was soll denn der Blick?“, fragte er, als seine Tochter sich an ihn kuschelte. „Sicher, dass du nicht doch noch ein Mädchen willst? Manchmal habe ich das Gefühl, dass sie dich viel lieber mag, als mich!“ Etwas eingeschnappt verschränkte sie die Arme vor der Brust, als Tai verschwörerisch zu grinsen begann. „Komm‘ sag‘ der Mama wie lieb du sie hast. Sie fühlt sich ja schon ganz ausgeschlossen“, hörte sie ihn zu ihrer Tochter sagen. Mimi verdrehte die Augen, spürte aber, wie sie sich auf einmal zu ihr hinunterbeugte und die Arme um ihren Hals schlang. „Ich hab‘ dich lieb, Mama!“, sagte sie mit zuckersüßer Stimme, als Mimi ihr zusätzliches Gewicht auf ihren Knochen bemerkte. Ein verstohlener Blick verirrte sich zu Tai, während sie sanft über den Rücken ihrer kleinen Tochter strich. Sie hatte ihre kleinen Ärmchen um ihren Hals gelegt und drückte ihr Gesicht gegen ihre Brust. Tai hatte den Arm um Mimi gelegt und steuerte sie sachte zu den anderen, die bereits auf sie warteten, um ein Erinnerungsfoto zu schießen. Doch Mimi schwelgte kurz in ihren eigenen, dachte an die ersten gemeinsamen Jahre mit Tai zurück und an das kleine Wunder, dass sie auf ihren Armen trug. Wie sie sich vorgenommen hatten, waren beide nach Mimis Abschluss in eine kleine gemeinsame Wohnung gezogen. Während Tai weiterhin Politikwissenschaften studierte, entschied sich Mimi für Ernährungswissenschaften, um später einmal als Ernährungsberaterin arbeiten zu können. Sie wollte sich besonders für gesunde und reichhaltige Ernährung in Krankenhäusern einsetzen und engagierte sich für Familien mit kranken geschwächten Kindern. Allerdings kam etwas dazwischen, mit dem sie nicht unbedingt gerechnet hatte. Während Tai bereits seine Abschlussarbeit vorbereitete, stellte Mimi mit Erschrecken fest, dass ihre Regel ausblieb und ihr öfters morgens schlecht wurde. Gemeinsam mit Sora und Etsuko hatte sie damals den Test gemacht, der ihr Leben schlagartig veränderte. Kurz vor ihrem letzten Studienjahr stellte sich heraus, dass sie mit Tai ein Baby erwartete. Beide hatten damit nicht gerechnet gehabt, da sie sehr verantwortungsbewusst mit dem Thema Verhütung umgingen, doch irgendetwas war wohl schiefgelaufen und beide fanden sich in einer Situation wieder, die sie anfangs sehr überfordert hatte. Doch der Zuspruch ihrer Eltern und Freunde, als auch die aufrichtige Liebe zueinander, nahmen ihnen die Entscheidung quasi ab und beide freuten sich auf ihr kleines Wunder, dass sie gemeinsam in diese Welt gebracht hatten. Mimi pausierte daraufhin ihr Studium für ein halbes Jahr, während Tai eine gutbezahlte Anstellung in einem großen Unternehmen fand. Gemeinsam fieberten sie der Geburt ihres ersten Kindes entgegen, die bereits drei Jahre her war. Sie hatten sich dazu entschlossen, sich bezüglich des Geschlechts überraschen zulassen, wobei die beiden Namen bereits von Anfang an feststanden. Als klar wurde, dass sie eine Tochter bekommen hatten, Mimi ihr Baby das erste Mal in den Armen hielt und ihr zartes roséfarbenes Gesicht sah, fühlte sie, dass es genau die richtige Entscheidung war, ihr genau diesen Namen zu geben. „Da seid ihr ja endlich“, sagte Masaru etwas ungeduldig und winkte sie direkt neben sich. Mimi setzte ihre Tochter ab, die prompt zu Chiaki zusteuerte, der auch gleichzeitig ihr Patenonkel war. „Wow, er ist sogar noch größer geworden“, stellte Masaru überrascht fest, als er Mimis Babybauch erspähte. „Das Baby muss ja auch anständig wachsen und Jungs werden ja bekanntlich auch ein wenig größer als Mädchen“, stichelte Taichi, der prompt von Mimi einen Hieb in die Rippen bekam. „Du bist echt unausstehlich“, murrte sie gespielt empört, schenkte ihm aber im nächsten Augenblick wieder ein Lächeln. „Also, ich wette auch auf ein Mädchen!“, meinte Masaru und sah herausfordernd zu Tai, der ihn grimmig anguckte. „Und warum bist du dir da nur so sicher?“ „Naja, ich glaube Mimis Gene sind zu dominant für dich. Sie setzt sich einfach durch. Bei allem“, lachte er und duckte sich schnell, bevor Tai ausholen konnte. „Entspann‘ dich doch mal! Eure Familie bekommt doch eh bald männliche Verstärkung, oder etwa nicht?“ „Alter, erinnere mich doch nicht daran!“, brummte er und sein Gesichtsausdruck verfinsterte sich zusehends. Mimi tätschelte seine Wange und richtete den Blick zu Masaru, der nur mit den Schultern zuckte. „Tai ist immer noch nicht so begeistert. Er ist eben ein typischer großer Bruder.“ Automatisch dachte sie an den Tag zurück, als Takeru bei ihnen aufschlug und äußerst nervös wirkte. Ganz traditionell hatte er sowohl Karis Vater, als auch ihren Bruder, um ihre Hand gebeten. Nach langem hin und her, willigte Tai schließlich ein, was lediglich an Mimis bösen Blicken lag, die sie ihm unauffällig zuwarf. Gemeinsam mit Sora und Matt befanden sich seine Schwester und Takeru zurzeit in Paris, um seinen Großeltern einen Besuch abzustatten. Doch Takeru hatte insgeheim ganz andere Pläne und wollte Kari direkt vor dem Eifelturm den langersehnten Antrag machen. Beide waren von ihrer kleinen Gruppe am längsten zusammen, hatten aber immer noch nicht den entscheidenden Schritt gewagt. Mimi wusste bereits, dass Kari etwas ungeduldig wurde, weshalb sie gemeinsam mit Sora, Takeru etwas in die richtige Richtung schubste, doch das behielt sie lieber für sich, da Tai es immer noch sehr schwer fiel, seine kleine Schwester loszulassen. Sie fragte sich wirklich, wie das bei ihrer Tochter nur werden sollte… „Schade das Yasuo nicht kommen konnte“, versuchte Mimi das Gespräch auf ein anderes Thema zu lenken. „Ja ich weiß, aber das Praktikum ist wirklich wichtig für ihn und kann ihm sehr weiterhelfen“, erinnerte Masaru sie und vergrub seine Hände in seiner Anzugshose. Yasuo hatte sich in den Kopf gesetzt, Filme zu machen und ein begnadender Regisseur zu werden. Für das Praktikum in den USA hatte er mehrere Bewerber ausgestochen, was Mimi nicht sonderlich wunderte. Sie hatte sein Talent bereits in jungen Jahren erkannt und förderte ihn so gut es ging, auch wenn sie ihm meist nur gut zuredete. Auch Masaru hatte das gefunden, was ihn erfüllte, auch wenn es bei ihm mehr um Akzeptanz ging. Nach der Beendigung seines Studiums, hatte er sich dazu entschlossen, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten, auch wenn man es so nicht unbedingt nennen konnte. Er steckte sich eigene Ziele, die er verwirklichen wollte, setzte sich für gleichgeschlechtliche Beziehungen ein und hatte sogar die Gelegenheit, sich mit seinem Vater auszusprechen. Er ging voll und ganz auf, so als hätte er seine wahre Berufung im Leben gefunden. Noch fehlte ihm das private Glück, um seinen beruflichen Erfolg auch mit jemandem teilen zu können, doch Mimi war sich sicher, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis er jemanden finden würde. Erst vor kurzem hatte sie ihm einen netten Arbeitskollegen vorgestellt, mit dem er sich bereits mehrmals verabredet hatte. Ihr Blick wanderte zu Chiaki, der mit ihrer Tochter herumblödelte, als eine junge Frau hinter ihn trat und sanft ihre Hand auf seine Schultern legte. Mimi lächelte, als sie diese zarte Geste vernahm und gönnte ihm sein Glück, dass er in Momoko fand. Es war nicht leicht für ihn, eine neue Liebe zu finden, da ihre Schwester immer einen großen Teil in seinem Herzen einnehmen würde. Sie war seine erste große Liebe, die er niemals vergessen würde. Doch in Momoko fand er ein Stückchen Wunderland, dass sein Herz allmählich heilen und den Verlust über Norikos Tod überwinden ließ. Er wollte die schönen Erinnerungen in seinem Herzen behalten, die ihre Schwester unsterblich machten. „So, jetzt stellen sich bitte mal alle Gäste um das Brautpaar herum. Für das große Gruppenfoto“, dirigierte der Fotograf und brüllte in die Menge. Während sich Daigo bereits aufrecht hingestellt hatte, zupfte Ayame noch an Etsukos Kleid herum, damit es perfekt saß. Beide schenken sich liebevolle Blicke und umarmten sich kurz, als sich Ren zu ihnen gesellte und dem Arm um Ayames Hüfte schlang. Mimi lehnte sich an Tais Brust und musste unweigerlich seufzen, als sie die beiden sah. Eine lange Zeit hatte Mimi nicht mehr damit gerechnet Ayame so ausgelassen und strahlen zu sehen. Sie hatte sogar ihren Abschluss in Jura nachgeholt und blühte förmlich neu auf, indem sie in ihrem Leben nicht nur eine neue Aufgabe fand, sondern auch eine Familie, die sie unterstützte. Schnell wandte sie den Kopf zu ihrer Tochter, die immer noch bei Chiaki stand und mit ihm herumalberte. Der Fotograf scheute alle zusammen und rangierte die Gäste mehrfach um, bis alles einigermaßen passte. „Noriko!“ Sie drehte sich prompt herum, sodass ihr Zopf wieder mitschwang. „Komm‘ her, wir machen jetzt das Foto“, sagte Mimi und winkte sie zu. Sie schlängelte sich durch die Menge, als sie bei ihren Eltern angekommen war und Mimi sie hochnahm. „Du, Mama?“ „Was gibt es denn?“, fragte sie gespannt und zupfte ein paar Flusen von ihrem Kleidchen. „Chiaki meinte, dass ich bald eine große Schwester bin und gut auf das Baby aufpassen muss, stimmt das?“ Mimi runzelte etwas die Stirn, strich ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht ihrer Tochter und lächelte vor sich hin. „Ja, das stimmt und ich glaube, dass du eine hervorragende große Schwester wirst.“ Sie küsste sie auf die Wange, als sie Tai plötzlich hinter sich spürte, wie er beide näher an sich drückte. Der Fotograf blickte durch die Linse, fokussierte die Personen davor, während sich dahinter eine malerische Landschaft mit großen Kirschbäumen erstreckte. Er schoss ein das Foto, als im selben Moment ein starker Wind blies und die Kirschblütenblätter durch die Luft wehte. Mimi genoss den Anblick, kuschelte sich noch näher an Tai heran, als sie ihre Anwesenheit deutlich bemerkte. Sie war hier. Immer. Sah auf sie hinab, beobachtete und beschützte sie auf Schritt und Tritt. Mimi schloss die Augen, atmete tief ein, als die frische Luft ihre Lungen durchströmte. Ein belebendes Gefühl machte sich in ihr breit und sie erkannte, nicht mehr das, was sie einst verloren hatte, sondern was sie dazugewann. Sie waren alle eine große Familie, die durch eine Person, die sie aufrichtig liebten, zusammengefunden hatte. Das Leben war chaotisch, bot sehr viele Möglichkeiten, ließ einen leiden, aber auch lieben. Genau genommen, war es wirklich wie jonglieren. Jeder hatte ein Päckchen zu tragen, dessen Last meist unfassbar groß war, dass man drohte darunter zusammenzubrechen. Doch das konnte nicht geschehen, wenn man jonglieren lernte. Die Tatsache akzeptierte, dass schreckliche Dinge einen wiederfahren mussten, um schätzen zu lernen, was man im Leben alles ermöglicht bekam. Doch es lag auch an einem selbst, die Chancen und Möglichkeiten zu ergreifen. Wenn ein Ball auf den Boden fiel, musste man sich bücken, ihn aufraffen und weitermachen. Aufgeben zählte noch nie zu Mimis Stärken und sie war froh, alles riskiert zu haben, um ihr Glück zu finden und es auch halten zu können. Denn kämpfen lohnte sich, das wusste sie. Verschwende nicht deine Zeit mit der Vergangenheit. Lebe, als gäbe es keinen Morgen mehr.Nimm so viel mit, wie du nur kannst und genieße jede Sekunde, die du auf dieser Welt bekommst. Finde dein Wunderland! The Story of a Bastard Child Ende. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)