Zwischen den Welten von Shizana (Das Mary Sue-Projekt) ================================================================================ Kapitel 1: Auf in den Kampf! ---------------------------- Ist alles richtig so? Ich bin mir nicht ganz sicher, denke aber, dass ich alles korrekt angezogen habe. Mit dem Kimono hatte ich so meine lieben Schwierigkeiten. Als Europäerin kenne ich mich mit dieser Mode schlicht und ergreifend nicht aus. Ich bin mir sogar sicher, dass ich ihn falsch gebunden habe. Allerdings bin ich ganz stolz darauf, wie ich meine eventuelle Unschicklichkeit mit der roten Schürze kaschieren konnte. Der Kragen sieht richtig aus und die Schürze liegt vernünftig über dem erstaunlich leichten und bequemen Stoff. Ich muss sagen, dass ich den Schnitt sowie die Konstellation sehr schick finde. Auch mit dem Rot-Schwarz-Farbthema kann ich sehr gut leben. Immer noch besser als etwas Knallbuntes tragen zu müssen. Weniger überzeugt bin ich von meinen Haaren. Zu meiner Erleichterung habe ich im Badezimmer eine Dose Haarspray gefunden. Damit war mein Pony, der nie liegen will, weniger das Problem. Aber was machte ich mit dem Rest? Kurzerhand habe ich mich dazu entschieden, sie hochzustecken. Eine schwarze Haarklammer ist vielleicht etwas zu schlicht für diese Arbeit, die ich ausführen soll, aber welche Wahl habe ich schon? So kann ich zumindest sicher sein, dass mir die langen Zotteln nicht ständig während der Arbeit in die Sicht fallen werden. Mein Haar war, trotz dass es eher glatt ist, noch nie gut zu bändigen gewesen. Mir ist noch immer unwohl bei dem Gedanken an das mir Bevorstehende. Natürlich bin ich mehrere Alternativen durchgegangen. Gemessen aber an meiner Situation, dass ich nicht genau weiß, was hier los ist und warum, bin ich zu dem Entschluss gekommen, dass es das Klügste ist, vorerst mitzuspielen. Ich wüsste sonst nicht wohin und generell frage ich mich, ob es überhaupt einen Ausweg für mich gibt. Aber vielleicht ergibt sich ja eine Gelegenheit, jemanden zu fragen? Die Frage ist nur, wen. Vorausgesetzt, dass ich richtig liege und dem Unmöglichen eine faire Chance einräumen muss, wird es hier einige Leute geben, die ich besser nicht befrage. Dafür gibt es viele Gründe, von vorsichtigem Respekt bis hin zur Panik vor Kontrollverlust. Ohne hierbei Namen nennen zu wollen, an welche Personen ich dabei denke. Aber noch ist nichts entschieden. Noch ist mir niemand weiter über den Weg gelaufen. Waka ausgenommen. Doch allein, dass ich mir bereits um die Identität meines harschen »Entführers« sicher bin, schließt nahezu jeden Zweifel in mir aus, wem ich noch begegnen werde. Auf kurz oder lang betrachtet. Zwangsweise. Vermutlich … Nein, höchstwahrscheinlich. Ich schüttle entschieden den Kopf. Nein, nicht darüber nachdenken! Besser nicht darüber nachdenken. Das macht es nur schlimmer. Und das wilde Herzklopfen, das ich schon wieder habe, macht es auch nicht gerade besser. Ist es Angst oder Vorfreude, die mein Herz so wild zum Schlagen bringt? Ich will es lieber gar nicht wissen, aber ich werde es wohl herausfinden. Schon sehr bald. Schnell werfe ich noch einen letzten Blick in den Spiegel. Die Haube bereitet mir Sorgen. Zum Glück handelt es sich bei ihr nur um einen schlichten Haarreif mit Rüschenverzierung, den ich mir nur aufsetzen brauchte. Die roten Schnüre an den Seiten brauchte ich nur zu großzügigen Schleifen zu binden. Aber wird das wirklich reichen? Hoffentlich hält sie und verrutscht mir nicht ungewollt. Aber dafür ist jetzt keine Zeit mehr! Waka wird mir die Hölle heiß machen, wenn ich mich nicht beeile. Die fünf Minuten dürften längst rum sein. Ich hoffe inständig, dass er mich nicht in der Luft zerreißen wird, weil ich ein oder zwei Minuten länger gebraucht habe.   „Du bist zu spät!“ Sein Drill lässt meine Ohren schmerzen. Ich hatte ja geahnt, dass er wütend sein würde … aber muss er so laut brüllen? Wir sind allein hier, es ist fast unheimlich ruhig im Café. Eine normale Lautstärke hätte es auch getan. Naja, wir sind nicht ganz allein … So gut ich kann, beeile ich mich, vor dem Tresen Stellung zu beziehen. Bemüht, nicht zu stolpern, da der eng geschnittene Rock meines Kimonos mir Schwierigkeiten beim Laufen bereitet. Es ist mir unsagbar peinlich. Gleichzeitig fluche ich innerlich über die knapp bemessene Beinfreiheit, die ich habe. Na, das kann ja heiter werden. Hoffentlich blamiere ich mich nicht oder schlimmer noch: Jemand bemerkt, dass ich unvertraut mit dieser Kleiderordnung bin. „Tut mir leid“, zwänge ich eine leise Entschuldigung hervor, die mir mit einem scharfen „Hmpf“ quittiert wird. Brav beziehe ich eine gerade Haltung und lasse meinen Blick vorsichtig zu meinem Arbeitskollegen neben mir schweifen. Shin. Von allen Möglichkeiten muss es ausgerechnet Shin sein, mit dem ich heute offensichtlich Schicht habe. Allein. Es sind nur wir beide hier. Ich bin nicht begeistert. Bisher kenne ich Shin als einen recht schroffen bis unhöflichen Charakter. Und irgendwie bezweifle ich, dass sich diese Version von meiner groß unterscheiden wird. Zum Glück werde ich nicht viel mit ihm zu tun haben, da er seine Kochuniform trägt. Er wird wohl die meiste Zeit über in der Küche sein. Immerhin. „Ist das dann damit klar? Ich erwarte wie immer von euch, dass ihr eurer Arbeit sorgfältig nachgeht. Der Kunde ist der Feind! Lasst ihn keine Sekunde aus den Augen!“ Ich seufze innerlich. Wie kann Waka mit solch einer Einstellung ein Café führen? Ich bin verwundert, dass die Kunden noch immer kommen. In meiner Vorstellung wäre das undenkbar. „Wir eröffnen das Schlachtfeld. Ihr dürft abtreten“, verkündet Waka und schlägt mit der Spitze seines Stocks kräftig auf dem hölzernen Dielenboden auf. Ich bemerke, wie Shin in eine tiefe Verbeugung vorfällt und ich beeile mich, es ihm gleichzutun. Etwas unschicklich, wie ich vermute, da ich zu wenig Zeit habe, um darüber nachzudenken, wie ich mich richtig zu verbeugen habe. Zu meiner Erleichterung sagt keiner der beiden etwas dazu. Waka stößt noch einen Laut aus, der als ein Kriegsschrei hätte durchgehen können, dann wendet er sich von uns ab, um das Geschäft für die Kunden zu öffnen. „Pass besser auf, dass du nicht noch mehr Dummes anstellst“, höre ich Shin sagen. Verwundert drehe ich mich nach ihm um. „Wie?“ „Wenn du dir heute noch mehr Patzer leistest, wirst du demnächst eine Doppelschicht schieben dürfen“, erklärt er mir, gänzlich unbeeindruckt. Anschließend zuckt er kurz mit den Schultern, ehe auch er sich abwendet. „Nicht, dass das mein Problem wäre. Aber heul‘ dann nicht rum.“ „Bitte?!“ Ich bin entrüstet. Wie stellt er mich denn bitteschön dar? Überhaupt, was erlaubt der Knirps sich, so mit mir zu sprechen?! Ich bin wesentlich älter als er. Geht der immer so mit mir um? „Ruhe!“, schallt Wakas laute Stimme durch den Raum. Ich zucke erschrocken zusammen. Mann, hat der Kerl ein Volumen! „Du!“, höre ich ihn zischen, als er an meine Seite tritt. Ich bereue sofort, meinen Kopf erhoben zu haben, denn er ringt mich regelrecht mit seinem stechenden Blick nieder. „Dafür, dass du dich verspätet hast, wirst du nach Abschluss deiner Tagesmission noch eine weitere Strafrunde leisten! Ich dulde keinen Fluchtversuch! Haben wir uns verstanden?“ „J-ja“, stammle ich leise. Verdammt, ich wage wirklich nicht, ihm zu widersprechen. Dabei gefällt mir der Ton, in dem er mit mir spricht, überhaupt nicht. Aber im Augenblick ist er mein Boss und ich kann schlecht Widerstand leisten. Oder davonlaufen. Oder nicht? „Hm!“, stößt er abfällig aus. Dann endlich entfernt er sich und ich bin von seiner Präsenz erlöst. Erleichtert atme ich aus. Doch es ist zu früh, um sich in Sicherheit zu wägen. Ich höre das melodische Glockenläuten der Tür und weiß, dass wir Kundschaft bekommen haben. Oh, Mist! Schnell – und so elegant es mir in dieser beengenden Kleidung sowie meinem Unwissen über das korrekte Maidverhalten möglich ist – eile ich zur Tür. Ich weiß nicht viel, das wird mir schlagartig bewusst, aber ich rufe einfach all meine Erinnerungen ab, wie ich mich richtig zu verhalten habe. „Willkommen zurück, mein Herr, Herrin“, begrüße ich die Gruppe junger Leute, die mir vorhin schon auf der Straße begegnet waren, und falle in eine tiefe, höfliche Verbeugung vor. Ich stutze. Ist das wirklich richtig so? Die Begrüßung klingt so seltsam in meinen Ohren. Etwa, weil sie nicht auf Japanisch ist? Aber es fühlte sich richtig an, es so zu sagen. … Moment, welche Sprache spreche ich eigentlich? Können mich die Kunden überhaupt verstehen? Mich überfällt ein Anflug leiser Panik. Aber Waka hatte mich doch auch verstanden, oder nicht? Wir haben zwar nicht viel gesprochen – er hatte mir ja gar keine Möglichkeit dafür gelassen –, aber er hätte doch sicher etwas gesagt, wenn ich für ihn komisch geklungen hätte? Plötzlich spüre ich, wie mir ein eiskalter Schauer über den Rücken fährt. Mir kommt der Gedanke in den Sinn, dass jemand versuchen würde, mich von hinten zu erdolchen. Schnell richte ich mich in eine kerzengerade Haltung auf. Ich wage es kaum, aber ich werfe einen vorsichtigen Blick über meine Schulter zurück. Hinter dem Tresen steht Waka und fixiert mich stechend durch seine Brille hindurch. Unwillkürlich schlucke ich.  Verdammt, ich war so mit meinen Zweifeln beschäftigt gewesen, dass ich nicht bemerkt habe, wie die Gruppe längst an mir vorbeigegangen ist. Oh verdammt, verdammt! Und vermutlich hat Waka alles gesehen. Gar nicht gut! Wieder beeile ich mich, in Bewegung zu kommen. Meine Kundschaft hat sich derweil selbständig einen Sitzplatz ausgesucht. Ich habe die Hoffnung, dass es sich entweder um Lauf- oder sehr tolerante Stammkunden handelt. Zumindest wirken sie nicht so, als wäre ihnen mein unprofessioneller Fehler wirklich aufgefallen. Höflich trete ich an ihren Tisch heran und zücke Block und Stift hervor. „Wie darf ich zu Diensten sein? Haben Sie bereits einen Wunsch?“ Wieder trifft mich ein eiskalter Dolchstoß mitten zwischen die Schultern. Ich erschauere, während sich meine Haltung versteift. Was habe ich denn dieses Mal falsch gemacht? „Ich hätte gern einen Kaffee“, bestellt der Junge. „Ich eine heiße Schokolade und ein Stück Käsekuchen, bitte“, das Mädchen neben ihm. Brav notiere ich ihre Bestellungen und lächle tapfer. „Hm, ich hätte Lust auf etwas Neues. Können Sie mir denn etwas empfehlen?“ Ich gefriere an Ort und Stelle. Unter anderen Umständen hätte ich den Stift aus meinen Fingern verloren, wäre er gerade nicht das Einzige, an das ich mich krampfhaft klammern kann. Oh, verdammt! Empfehlen? Ich weiß noch nicht einmal, was dieses Café überhaupt im Sortiment hat. Geschweige denn, ob es so etwas wie ein spezielles Tagesangebot gibt. Mist, was mache ich jetzt? „Ähm …“ Ich spüre den fragenden Blick des Mädchens auf mir. Und nicht nur ihren, auch die anderen beiden ihr gegenüber sehen mich erwartungsvoll an. Zu allem Überfluss ist da diese kalte Aura, die mir bedrohlich im Nacken sitzt. Mir wird fast schlecht von der Panik, die durch meine Venen jagt. „Viele unserer geehrten Kunden schätzen unseren Latte Macchiato“, lüge ich schnell und gebe mir wirklich allergrößte Mühe, es ruhig und souverän klingen zu lassen. Mit Kunden kenne ich mich immerhin aus. Verkauf und Überzeugung sind vertrautes Terrain für mich. Ich hoffe nur, dass diese Erfahrungswerte genügen werden, um mich aus dieser verzwickten Situation herauszuwinden. „Wir verwenden spezielle Bohnen für unsere kaffeehaltigen Getränke. Dazu kann ich Ihnen ein Stück Maidkuchen empfehlen oder ein erfrischendes Fruchtparfait nach Art des Hauses. Natürlich stellen wir all unsere Gerichte von Hand her. Frisch auf Bestellung des Kunden.“ Sie wirkt nicht sehr glücklich mit meiner Antwort. Die Art, wie sie mit der schmal-länglichen Speisekarte herumspielt, lässt mich das Schlimmste vermuten. Aber was bleibt mir schon anderes übrig? „Ein Sandwich wäre mir lieber“, sagt sie dann, zu allem Überfluss. Es klingt wie ein Todesurteil für mich. „Haben Sie nicht so etwas in der Art?“ Fest presse ich die Lippen aufeinander. Woher soll ich das denn wissen? Ich weiß ja nicht einmal, was ich hier mache. „Sie entschuldigen.“ Ich sterbe gefühlt tausend Tode, als plötzlich Waka neben mir aufgetaucht ist und das Kundengespräch an sich reißt. Unwillkürlich versteife ich mich und wage nicht, zu ihm aufzublicken.  „Gestatten? Mein Name ist Waka. Ich bin der Geschäftsführer dieses Cafés. Kann ich vielleicht irgendwie behilflich sein?“ Wow. Ich bin wirklich erstaunt. Waka kann also auch höflich sein? Auch wenn seine Stimme klingt wie das Klimpern von Eiswürfeln, so spricht er zumindest förmlich mit der Kundin. Zudem ist er genau im richtigen Moment eingesprungen. Mein ersehnter Retter in der Not! Gott sei Dank. „Ich hätte Lust auf ein Sandwich“, erklärt sie. Ich bin nicht sicher, ob ich zu viel hineininterpretiere, aber sie macht den Eindruck auf mich, als sei sie ein bisschen von meinem Boss eingeschüchtert. Sie sieht nicht zu ihm auf, sondern prüft lieber den Inhalt der Speisekarte. „Haben Sie hier so etwas?“ „Selbstverständlich“, gibt sich Waka höflich. Sein Blick richtet sich auf mich, als er sagt: „Ich übernehme hier. Gib der Küche schon einmal die übrige Bestellung.“ „J-ja“, antworte ich schnell, verbeuge mich brav vor der Kundschaft, ehe ich mich abwende. Das Herz ist mir bis in die Hose gerutscht bei dem, was sich soeben abgespielt hat. Ich bin Waka wirklich ausgesprochen dankbar dafür, dass er mich erlöst hat. Neben dem Türrahmen zum Hinterbereich wartet bereits Shin auf mich. „Sag mal, was sollte das denn gerade darstellen? Man hatte das Gefühl, du arbeitest den ersten Tag hier“, tadelt er mich. ‚Ach nee!‘, will ich ihm am liebsten entgegenschmettern, verkneife es mir jedoch. Etwas sagt mir, dass ich mir besser nicht anmerken lassen sollte, dass ich tatsächlich keinen blassen Dunst von meinem Tun hier habe. Das vorhin war schließlich auch nur hohes Pokern von mir gewesen, mehr nicht. Und ich habe das Spiel zu allem Überfluss auch noch verloren. „Hier ist die Bestellung“, lenke ich vom Thema ab und trenne den Zettel aus meinem Block heraus, um ihn Shin zu überreichen. Nur kurz wirft er einen Blick darauf. „Was ist das?“, fragt er mich. „Was?“, frage ich irritiert zurück. Shin wendet das Blatt in seiner Hand und hält es vor mir in die Höhe. „Die Schrift“, bemerkt er. Unmissverständlich deutet er mit dem Zeigefinger seiner anderen Hand auf mein Geschriebenes. „Lateinschrift? Ist das dein Ernst?“ Mich durchfährt ein Schock. Ich hatte gar nicht darauf geachtet, wie ich schreibe. Vielleicht ging ich davon aus, dass wenn ich – wie es scheint – eine andere Sprache spreche, ich sie auch automatisch schreibe. Da lag ich wohl falsch. „Es musste schnell gehen“, presse ich leise hervor. Was sonst soll ich auch dazu sagen, ohne dass es wie eine offensichtliche Lüge klingt? Skeptisch senkt er die Augenbrauen. Mir scheint, als wolle er mich in meiner Überzeugung prüfen. Dann endlich seufzt er geschlagen und zuckt abtuend mit den Schultern. „Wenn du meinst.“ „Ah, Shin!“, rufe ich ihm eilig nach, gerade als er sich umgedreht hat und zum Gehen ansetzt. Mit einer Mischung aus Verwirrung und Gereiztheit sieht er zu mir zurück. „Was ist noch?“ „Ähm, also …“ Es ist mir äußerst unangenehm, ihm diese Frage stellen zu müssen. „Die Kundin eben hat mich gefragt, was ich ihr empfehlen kann … Haben wir so etwas wie ein Tagesangebot oder so?“ Ich erkenne die Skepsis in seinem Blick. „Was ist heute nur los mit dir?“, macht er mir zum Vorwurf. Es folgt eine kurze Pause darauf. Schlussendlich seufzt er geschlagen und wendet sich mir noch einmal zu. „Du verhältst dich heute wirklich seltsam. Natürlich haben wir ein Tagesangebot. Inzwischen solltest du das wissen.“ Ja, vermutlich sollte ich das. Ich hatte schon vorher die Vermutung, dass ich schon länger hier arbeiten musste. Zumindest laut Ansicht der anderen. Shin bestätigt mir nur, was mir Waka bereits durch das Dornengebüsch zu verstehen gegeben hatte. So viel hatte selbst ich bis hierhin begriffen. „Aber wer lieber zu spät kommt, als seine Verpflichtungen ernst zu nehmen, kann das natürlich nicht wissen. Dummkopf!“ Ich beiße fest die Zähne aufeinander. Mir liegt ein Kommentar zu seiner abfälligen Art auf der Zunge, aber ich verkneife ihn mir lieber. Vorerst. „Wenn der nächste Kunde fragt, kannst du ihm sagen, dass wir heute Frühlingssuppe im Angebot haben. Wenn er dazu nach einem passenden Getränk fragt, biete ihm Grünen Tee oder Earl Grey an. Desserts haben wir aktuell noch Käsekuchen, Rote Bohnenkuchen und Eclair. Muffins bereite ich gleich noch auf, anschließend werde ich Windbeutel zubereiten. Biete den Kunden heute bitte keine Ciabatta an, der Bäcker hatte keine. Du kannst alternativ Toast anbieten oder ich backe Minibrote auf. Ansonsten das Übliche.“ Stumm nicke ich, während ich ihm aufmerksam zuhöre. Ich denke, dass ich mir die Dinge merken kann. Für den Anfang muss es genügen, wenn ich mich auf das konzentriere, was er mir anrät. „Soll ich dir den Rest der Speisekarte auch noch aufzählen?“, will Shin wissen und gibt sich ganz bewusst keinerlei Mühe, seinen vorwurfsvollen Unterton vor mir zu verbergen. Leise schnaube ich durch die Nase aus. „Nein, danke“, lehne ich ab. „Das sollte fürs Erste genügen. Alles andere kann ich ja notfalls nochmal nachlesen. Hab‘ vielen Dank für deine Hilfe.“ „Wenn noch etwas ist, komm mich fragen.“ „Danke, mache ich.“ „Also dann.“ Er wendet sich ab und verschwindet in Richtung Küche. Ich gestehe es ungern, aber ich bin Shin wirklich sehr dankbar für seine Hilfe. Auch, dass er so viel Nachsicht mit mir gezeigt hat. Wenngleich er es auch mit etwas mehr Nettigkeit hätte versehen können. Aber naja, sei’s drum. Ich hatte mir nichts anderes von ihm erwartet. Wenn ich ehrlich bin, sogar weit weniger als das. Vielleicht ist Shin ja doch kein so schlechter Kerl, wie ich ihn immer zu sehen versuche. Ein erstes Lächeln zaubert sich mir an diesem verrückten Tag auf die Lippen. „Hey!“ Und stirbt auch schon eines erbarmungslosen Todes. „Was gibt es zu lächeln? Was stehst du hier überhaupt unnütz herum?! Kehr auf der Stelle auf das Schlachtfeld zurück! Unser Kampf hat gerade erst begonnen!“ „J-jawohl!“ „Im Übrigen …“ Ich halte abrupt inne. Waka hat wirklich ein perfektes Timing. Gleich an seiner Seite stehe ich wie festgewachsen und kann nicht verhindern, dass ich sein frostiges Raunen direkt an meinem Ohr vernehme. „Für deine Unzulänglichkeit eben wirst du zur Rechenschaft gezogen werden. Die Anzahl deiner Strafrunden hat sich soeben verdoppelt.“ Mir ist wirklich zum Heulen zumute. „Jawohl …“   Mit jedem Kunden, den ich bediene, werde ich sicherer in meiner Arbeit. Die Begrüßung fällt mir leichter und ich verpasse es kein zweites Mal, die Kundschaft an ihren Platz zu führen. Mit der Annahme der Bestellungen bin ich noch etwas unsicher, doch ich nutze die freien Minuten, um hinter dem Tresen das Angebot unserer Speisekarte zu studieren. Ich bin mir sicher, wenn ich die ersten zwei oder drei Tage heil überstanden habe, werde ich meine Arbeit gut machen. Zumindest gut genug, dass Waka mich nicht mehr ständig im Auge behält. Ich spüre jeden einzelnen Moment, in dem sein Blick auf mir ruht. Und genauso befreiend ist es jedes Mal, wenn er für einige Zeit in der Küche verschwindet, vermutlich um nach Shin zu sehen. Wobei es fraglich ist, ob ich überhaupt so lange in dieser Welt bleiben werde. Darüber nachzudenken, mich an diese Schoße gewöhnen zu wollen, erscheint mir irgendwo lachhaft. Das wäre absurd, oder nicht? Es ist wahrscheinlicher, dass ich träume, wenn sich auch alles ziemlich real anfühlt. Aber ich rede es mir ein, ich versuche es zumindest. Anders lässt sich diese Situation nicht erklären. Sie ist nicht logisch, in keinem Punkt. Schlussfolgernd muss es ein Traum sein, und er wird enden. Früher oder später. Doch bis es soweit ist, will ich das Beste daraus machen. Allein schon, weil ich zu stolz bin, in meinem eigenen Traum zu versagen. Und, hey, es könnte schlimmer sein! Das hier ist immerhin das Amnesia-Universum. Ich wäre dumm, mich zu beklagen. Zu meiner Erleichterung fällt mir das Bewegen im Kimono allmählich leichter. Das Schuhwerk ist zudem sehr bequem, womit ich nicht gerechnet hätte. Lediglich das stetige Aufrechtgehen mit kleinen Schritten gestaltet sich für mich anstrengend. Ich rechne jetzt schon damit, am Abend Rückenschmerzen zu haben. Ein kleineres Übel, wie mir scheint. Omelette stellte sich mir schnell als die meist verhasste Bestellung heraus. Beim ersten Mal hatte ich ganz vergessen, dass es Tradition in Japan ist, das simple Eigericht auf Kundenwunsch mit einem kleinen Ketchup-Motiv zu verzieren. Und das, wo ich zwei künstlerisch linke Hände habe … Aber die Kunden des »Meido no Hitsuji« scheinen allesamt sehr nachsichtige Leute zu sein. Keiner hat sich über meine mangelhafte Kunst bislang beschwert.   Zum späten Nachmittag hin füllt sich das Café zusehends. Seit einer halben Stunde habe ich Mühe, mit dem Kundenempfang, der Bestellungsaufnahme, dem Servieren, Abräumen und Säubern hinterherzukommen. Der Abwasch am Tresen ist gänzlich liegen geblieben, seit Waka in der Küche verschwunden ist, um dort Shin unter die Arme zu greifen. Ich hoffe auf einen baldigen ruhigen Moment, um diese Arbeit nachzuholen. Bei meinem letzten Kundenpärchen habe ich gesehen, dass mir allmählich Gläser und Becher ausgehen. Nicht gut. Ich kehre gerade in Richtung Küche zurück, um Shin die nächste Bestellung zu übergeben, als mir in der Tür ein unerwartetes Hindernis in die Quere kommt. Ich kann in meiner Eile nicht mehr rechtzeitig bremsen und laufe der Person, die gerade in den Cafébereich treten will, direkt in die Arme. „Hoppla, schön langsam“, höre ich eine jung klingende Männerstimme zu mir sagen. Der sanfte, melodische Klang lässt mein Herz sich augenblicklich überschlagen. Ich kenne diese Stimme! Unter tausend anderen würde ich sie jederzeit wiedererkennen. „Nanu? Hattest du es etwa so eilig, mich wiederzusehen?“ Ich kann das amüsiert-süffisante Lächeln aus diesen Worten zweifellos heraushören. Obgleich die ruhige Sänfte weiterhin überwiegt. „Tut mir leid!“, haste ich eine Entschuldigung hervor. Die Art, wie meine Stimme dabei in die Höhe schnellt, ist mir selbst unsagbar peinlich. Jetzt bloß nicht nach oben sehen! „Normalerweise habe ich nichts gegen eine solch stürmische Begrüßung einzuwenden, aber in Front der Kundschaft erscheint mir das nicht sonderlich angemessen. Bedauerlicherweise.“ Waah, sei still! Sei still! „Soll ich vielleicht ein Stück zurückgehen, damit du mich abseits unseres Publikums noch einmal richtig begrüßen kannst?“ „Nicht notwendig!“ – Nein! Schon wieder zu überschlagen! Ich trete zwei Schritte zurück und lasse mich in eine Verbeugung vorfallen. „Tut mir leid, so war das nicht gemeint … Ich habe nicht richtig aufgepasst.“ Das leise Lachen, das ich daraufhin ernte, lässt mein Herz flattern wie die Flügel eines Schmetterlings. „Kein Grund zur Entschuldigung. Wenn, dann sollte ich derjenige sein, der sich bei dir entschuldigt.“ Nur zögerlich wage ich aufzusehen. Mein Blick haftet sich auf das fein geschnittene Gesicht meines Gesprächspartners, das von weißsilbernem Haar umrahmt wird, ohne nach seinen Augen zu suchen. „Tut mir leid, dass du warten musstest. Hast du die drei Stunden ohne mich gut überstanden? Hattest du viel zu tun?“ Ich blinzle überrascht. Drei Stunden? So lange bediene ich hier schon? Es ist mir gar nicht so lang vorgekommen. Vielleicht, weil ich kaum Gelegenheit hatte, um auf die Uhr zu schauen? Aber einmal ganz davon abgesehen, dass sich mir jetzt wieder die Frage aufdrängt, wieso ich das hier eigentlich alles mache, gestaltet sich mir gerade noch ein ganz anderes Problem. Ikki ist im Café aufgetaucht. Er steht genau vor mir. Jetzt, in diesem Augenblick. Live und in Farbe. Ich kann den schwachen Duft eines milden Eau de Toilette von ihm ausgehend vernehmen. Damit steht mir meine persönlich größte Herausforderung gegenüber. Die Person, vor der ich insgeheim am meisten Angst hatte, ihr zu begegnen. Obwohl ich wusste, dass es unausweichlich sein würde. Früher oder später. Und das sollte wohl nicht einmal mein größtes Problem sein. Anhand der Reaktionen von Waka und Shin auf mich, und der Art, wie sie mit mir umgehen, arbeite ich schon länger mit ihnen zusammen. Ich existiere schon länger in dieser Welt. Sie verbinden Erinnerungen mit mir. Wie lange schon? Und was noch viel wichtiger ist: Welche Beziehungen habe ich zu ihnen? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)