Zwischen den Welten von Shizana (Das Mary Sue-Projekt) ================================================================================ Kapitel 10: Ominöse Besucher ---------------------------- Ein weiterer Arbeitstag im »Meido no Hitsuji« hat seinen Anfang genommen und verspricht mir, die nächsten Stunden frei von sämtlichen kreisenden Gedanken zu sein. Zumindest hoffe ich das noch, während ich darauf warte, dass mehr Kunden eintreffen, die mich beschäftigt halten. Der Betrieb im Café kommt nur langsam in Gang. Die erste Stunde habe ich so wenig zu tun, dass ich es mir zur Aufgabe gemacht habe, in meinen vereinzelt längeren Pausen neue Servietten zu falten und die Vorräte der beiden Kaffeeautomaten aufzufüllen. Von weniger Langeweile kann wohl Ikki sprechen, der schon jetzt öfter in die Bedienung gehen muss als ich. Für längere Gespräche bleibt selten Zeit, weswegen ich es bald aufgegeben habe, irgendwelche Themen, die überwiegend mit der Arbeit zu tun haben, mit ihm bereden zu wollen. Es führt ja doch zu nichts, da wir nie weit kommen, bis einer von uns in ein neues Kundenanliegen eingespannt wird. Kento hat derweil Windbeutel zubereitet, welche ich unseren Kunden fleißig anbiete. Sie sehen wirklich gut aus. Zu gern würde ich selbst einen von ihnen probieren und herausfinden, ob sie auch geschmacklich halten, was sie versprechen. Leider würde Waka das wohl nicht gutheißen, wenn ich mir einfach einen reservieren würde, also halte ich mich an, standhaft zu bleiben. Wer weiß, vielleicht komme ich ja selbst einmal in das Vergnügen, die Qualitäten unseres Cafés aus Kundensicht kennenzulernen. Mit Ukyo vielleicht, das hätte einen Mehrwerteffekt für alle. Ja, dieser Gedanke klingt gar nicht so ungeschickt in meinem Kopf. Vielleicht sollte ich das in der Tat einmal in Erwägung ziehen. Hinter dem Tresen bediene ich den Abwasch und erlaube mir, neben den gewohnten Handgriffen ein Auge auf Ikki zu haben. Er spielt die Rolle des Butlers sehr überzeugend, das halte ich ihm nicht zum ersten Mal zugute. Höflich und zuvorkommend bedient er die weibliche Kundschaft, als würde er nie etwas anderes tun. Sein Lächeln wirkt stets aufrichtig und zeugt von Professionalität, was die Damen unverkennbar zu schätzen wissen. Er ist ein Anziehungsmagnet für Frauenaugen, was gewiss nicht nur daran liegt, dass die schlicht-elegant geschnittene Dienstuniform ihm Format und einen gewissen Reiz des Nichtalltäglichen verleiht. Ich kann verstehen, dass die Damen seine Aufmerksamkeit nach bestem Zutun an die Grenzen der Toleranz zu treiben versuchen. Auch, dass einige von ihnen wahrlich keinen Hehl daraus machen, seinem Charme instant verfallen zu sein. Wäre ich an ihrer Stelle, ich glaube, ich würde es nicht anders versuchen. Aber von einer solchen Gelegenheit bin ich weit entfernt. Schwer seufze ich in mich hinein. Es ist deprimierend. Je länger ich Ikki beobachte, umso mehr wird mir bewusst, dass er auf einem ganz anderen Level als ich spielt. Genauso wie Kento eine ganz andere, eigene Liga für sich ist. Ich habe wirklich keine sehr geringe Meinung von mir, aber selbst in Rücksicht auf meine Vorzüge denke ich nicht, dass ich an sie heranreichen kann. Egal in welcher Hinsicht. Wie frustrierend. Nie hätte ich gedacht, dass es mir so schwerfallen würde, in ihrer Nähe zu sein. Obwohl es genau das ist, was ich immer wollte. Ist es nicht irgendwie Ironie, dass ich mich zwar in demselben Universum wie sie bewege, und doch das Gefühl habe, Welten von ihnen entfernt zu sein? Vorsichtig sehe ich zu Ikki hinüber. In diesem Moment steht er an dem Tisch mit der kleinen Gruppe Mädchen, die zu seinem Fanclub gehören müssen. Zumindest erkenne ich einige von ihnen wieder, die schon bei Ikki gestanden hatten, als Kento und ich am Café angekommen waren. Es sind weniger Mädchen als vorhin, doch das ändert nichts daran, dass mich ihre Anwesenheit verärgert. Genauso wie Ikkis geduldsame Art, jedes ihrer Komplimente entgegenzunehmen, charmant mit den Mädchen zu feixen und jede ihrer Bemühungen mit einem Lächeln zu belobigen. Und wofür das alles? Dafür, dass gerade einmal zwei von ihnen etwas bestellen, mit Sicherheit in der eingespielten Absicht, ihn in kurzer Zeit für die nächsten Bestellung erneut zu sich rufen zu können. Wie mich das anstinkt! Die Türglocke läutet und ich bin froh, in diesem Moment Kundschaft zu bekommen. Ablenkung kommt mir gerade recht und ich beeile mich, die beiden Herren zu empfangen und an ihren Platz zu führen, um ihre Bestellungen in guter Maidmanier entgegenzunehmen.   „Ein Toast Hawaii und ein Käseomelette mit Schinken“, lasse ich Kento die Wünsche meiner beiden Kunden wissen und reiche ihm den Zettel, auf welchem ich diese vermerkt habe. Anstandslos nimmt er ihn entgegen. „Zehn Minuten“, lässt er mich wissen, ohne aus seiner Arbeitsroutine zu mir aufzublicken. Ich nicke. Dass er das nicht sehen kann, ist mir klar, aber es interessiert mich nicht. Ich trete einen Schritt zur Seite und lehne mich mit dem Rücken gegen den freien Platz gleich neben der Tür. Mit gekreuzten Füßen verweile ich in meiner Position, den Blick gen Fliesenboden gerichtet, und möchte für einen Moment einfach ein bisschen Ruhe und Abstand vom Café auf mich wirken lassen. „Ist noch etwas?“, will Kento wissen, der überraschend schnell bemerkt hat, dass ich noch nicht ins Café zurückgekehrt bin. „Willst du den Kunden in der Zwischenzeit nichts zu trinken anbieten?“ „Habe ich schon“, sage ich knapp. „Sie mussten erst die Karte checken. Laufkunden“, erkläre ich, was nicht mehr benötigt. „Hm.“ Kento wendet sich wieder seiner Arbeit zu. „Ich habe keine Zeit für Gespräche.“ „Ich weiß“, entgegne ich. Natürlich hat er die nicht, das ist mir schon klar. Dafür bin ich auch nicht hier. Für die Zeit, in der Kentos Kochgeräusche die Küche erfüllen, bin ich bemüht, einfach an nichts zu denken. Im Café gibt es aktuell nichts für mich zu tun. Mit einem Ohr bleibe ich wachsam, ob nicht doch der Klang der Türglocke mich wieder nach vorne ruft für den Fall, dass sich das ändern sollte. Bisher ist dem jedenfalls nicht so. „Wenn du etwas sagen willst, dann tu’s“, bricht Kentos Stimme die Stille, die so angenehm für mich gewesen war. Ich bin erstaunt, dass er mich anspricht, was ich nicht erwartet habe. „Ich denke, du hast keine Zeit für Gespräche?“ Ich kann einfach nicht anders, als ihn ein wenig zu necken. Es entlockt mir zumindest schon wieder ein kleines Schmunzeln. „Ich höre zu“, stellt er klar, „aber erwarte nicht, dass ich viel zur Lösung deines Problems beitragen werde.“ Ich sage nichts. Es war nie meine Absicht, über irgendetwas zu reden. Ich bin wegen der Ruhe hier, das ist alles. „Ich bin kein Gedankenleser“, erinnert mich Kento unnötig. „Wenn du nicht redest, kann ich dir nicht helfen.“ „Ich habe nichts zu bereden.“ Stille kehrt zwischen uns ein. „Um ehrlich zu sein, bin ich nur der Stille wegen hier. Ich hatte nie vor, dich von der Arbeit abzuhalten oder mit irgendwelchen Problemen zu belangen“, erkläre ich ruhig. „Ist irgendetwas vorgefallen?“ Er überrascht mich ganz schön oft in kurzer Zeit. „Nein, ich –“ „Ken, ein Gemüsegratin und zwei Omelette, eines mit Tomaten, bitte“, fällt mir Ikki mit seiner Bestellung so abrupt ins Wort, dass ich kurz zusammenfahre. Er ist so plötzlich in der Tür erschienen, dass mein Herz ins Rasen gerät, weil ich so erschrocken bin. „Omelette in zehn Minuten, das Gratin in voraussichtlich zwanzig.“ „Ah, hier steckst du“, wendet sich Ikki mir zu, kaum dass er mich in meiner kleinen Ecke ausfindig gemacht hat. Lächelnd sieht er mich an. „Ich hatte dich schon gesucht. Alles in Ordnung?“ „Ja“, sage ich knapp und versuche, ebenfalls zu lächeln. „Ich habe mir nur gerade etwas von Kento erklären lassen. Bin gleich wieder vorne.“ „Wenn etwas ist: Du weißt ja, wo du mich findest“, unterbreitet er mir, schon ist er wieder aus der Küche verschwunden. So schnell, wie er gekommen war. Ich entlasse ein schweres Seufzen. „Gibt es einen Grund dafür, dass du zu ihm gelogen hast?“, holt mich Kento mit seiner Frage aus meiner Melodramatik, nachdem ich ihn erneut für einige Zeit angeschwiegen hatte. Es liegt kein Vorwurf in seinen Worten, nur reines Interesse, wie mir scheint. „Du hast mir keine Fragen gestellt und ich habe dir nichts erklärt“, fasst er noch einmal zusammen. Schwerfällig lasse ich meinen Kopf gegen die Wand hinter mir sinken. „Ich weiß es nicht“, sage ich, was wahr ist. „Im Moment … fällt es mir nur irgendwie schwer, mit ihm zu reden. Ich weiß nicht, wieso ich gelogen habe.“ Kento erwidert nichts darauf. Ich sehe ihn nicht an, höre nur zu, wie er weiterhin gewissenhaft seiner Arbeit nachgeht, während wir beide schweigen. „Wirst du es ihm sagen?“, möchte ich schließlich wissen. Es wäre vermessen, ihn um seine Verschwiegenheit zu bitten, weswegen ich davon absehe. „Ich halte es grundsätzlich nicht für klug, wenn sich Dritte in die Probleme anderer einmischen wollen“, erklärt er, wobei er die fertige Omelette auf einen bereitstehenden Teller manövriert und einen Plastikbehälter zur Hand nimmt, um es zu verzieren. „Zumal ich mir nicht anmaße, zu verstehen, was auf zwischenmenschlicher Basis die Ursache darstellen könnte. Wenn du ein Problem mit Ikkyu hast, wirst du deinen eigenen Weg finden müssen, es zu lösen. Dabei kann dir keiner helfen.“ Ich lächle verbittert. »Problem«, huh? Ja, wenn hier jemand ein Problem hat, dann bin nur ich das. Und dass mir jemand dabei helfen können wird, wage ich zu bezweifeln. „Danke.“ „Hier, bring das zu Tisch Fünf.“ Mit einem Kopfnicken nehme ich Kento die beiden Teller ab, die er mir auffordernd entgegenhält. Ich vermeide es, seinen Augen zu begegnen, und halte meinen Blick gesenkt. Nach dem, was ich mir hier vor ihm geleistet habe und welche Gedanken mir durch den Kopf gegangen sind, fühle ich mich einfach nur scheußlich.   Der Andrang im Café hat im Vergleich zu der ersten Stunde bedeutend zugenommen. Die Mädchengruppe ist um einige Mitglieder mehr aus Ikkis Fanclub angestiegen, was Ikki gut in Schach hält. Sie nehmen den Ärmsten so in Beschlag, dass er sichtlich Mühe hat, auch noch seinen anderen Verpflichtungen nachzukommen. Dass er dennoch für keinen Moment sein Lächeln verliert, halte ich für bewundernswert. Ich weiß nicht, wie er das macht, aber sofern ihn die permanente Beanspruchung unter Stress setzt, so lässt er sich davon zumindest nichts anmerken. Da sich die Anzahl männlicher Kunden weiterhin in Grenzen hält, habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, Ikki mit den Damen zu unterstützen. Auch wenn das normalerweise den Vorgaben unseres Cafés widerspricht. Wann immer ich kann, führe ich unsere neuen Gäste schon einmal an ihren Platz und frage sie, ob ich ihnen bereits etwas bringen darf. Einige von ihnen beharren dennoch darauf, von Ikki bedient werden zu wollen, einige andere sind etwas nachsichtiger mit meinem Kollegen. Ich frage mich vermehrt, wie er mit dieser Popularität nur zurechtkommt und ob es ihn nicht belastet, sich so zerreißen zu müssen, um jeder Erwartung, die an ihn gestellt wird, gerecht zu werden. In meinen Augen ist das jedenfalls nichts, worum man ihn beneiden sollte. Im Gegenteil, ich empfinde sogar Mitleid für ihn. Mittlerweile handhaben wir es schon so, dass ich die fertigen Bestellungen für Ikkis Kundschaft bereits mit nach vorne bringe, um ihm den Gang in die Küche zu ersparen. Es mag nur eine kleine Erleichterung sein, die ich ihm dadurch verschaffe, doch solange es ihm hilft, soll es mir recht sein. Die Situation jedenfalls scheint sich durch solche Kleinigkeiten schnell zu entspannen, und es wird wieder überschaubarer, wer noch wen zu bedienen hat. Ich drehe mich herum, als ich die Türglocke vernehme, die ein weiteres Eintreffen neuer Kunden verkündet. Inzwischen ist es Routine, dass ich als Erste nach vorn gehe, um die neuen Gäste zu begrüßen. Es ist Ikki schon länger nicht mehr vergönnt, dieser Aufgabe nachzukommen, weswegen ich sie bis auf Weiteres gänzlich übernommen habe. Mein Kopf spult bereits die übliche Phrase auf, die ich zur generellen Begrüßung neuer Kunden verwende, doch ich stocke noch rechtzeitig, bevor ich der leidigen Leier gänzlich verfallen kann. „Ukyo?“ Tatsächlich erkenne ich meinen Mitbewohner, der lediglich die Hand hebt und ein heiteres „Hallo“ verlauten lässt. Er trägt ein freundliches Lächeln, was mich glücklich stimmt und für diesen Moment sämtlichen Stress vergessen lässt. „Was machst du denn hier?“, will ich wissen und habe Mühe, meine Begeisterung zurückzuhalten, um niemandem ein falsches Bild zu vermitteln. Sicherlich wäre es bei den anderen Gästen nicht sehr gut angekommen, wenn eine Maid einem Kunden direkt um den Hals fällt. Stören will ich sie bei ihren ausgelassenen Gesprächen ebenfalls nicht, weswegen ich bemüht bin, nicht versehentlich zu laut zu werden. „Ich war in der Gegend und dachte mir, ich statte euch bei der Gelegenheit einen kleinen Besuch ab.“ Ich bin fast enttäuscht, dass er im Plural spricht. Vermutlich hatte ich erwartet, dass er tatsächlich meinetwegen gekommen ist. Wie idiotisch. Natürlich hat er hier auch noch andere Freunde, die seine Anwesenheit bereits vermisst haben. „Das ist ja schön“, zwinge ich mich zu sagen und es mit einem vorsichtigen Lächeln zu versehen. „Wenn du möchtest, sage ich gleich den anderen Bescheid. Im Moment sind wir nur zu zweit und haben deswegen viel zu tun, aber tu dir keinen Zwang an. Setz dich doch schon mal.“ „Also, ich bräuchte einen Tisch für zwei Personen“, erklärt er zögerlich, was mich kurz aus dem Konzept bringt. Neugierig luge ich an Ukyo vorbei, und Tatsache. Erst jetzt bemerke ich den jungen Mann, der ihm dicht auf den Fersen gefolgt ist. Seine Kleidung ist gewöhnlich: verwaschene Jeans, graues Shirt und darüber eine schwarze Stoffweste, welche er offen trägt. Auf dem Kopf trägt er ein Basecap irgendeines Vereins, dessen Vertreter wohl die Farben Schwarz, Blau und Grün zu sein scheinen mit einem gelben Stern als Logo. Das Cap ist so seltsam geschnitten und der Schirm reicht ihm gebogen bis tief ins Gesicht, dass ich in seiner gesenkten Kopfhaltung weder seine Augen erkennen noch seine exakte Haarfarbe bestimmen kann. Ich kann lediglich abschätzen, dass er in etwa unsere Altersgruppe sein müsste, vielleicht auch etwas darüber oder darunter, aber sonst kommt mir nichts an diesem seltsamen Typen bekannt vor. Ich verneige mich in höflicher Maidmanier vor dem mir Unbekannten. „Seid uns willkommen, Herr“, begrüße ich ihn. Kurz warte ich ab, ob er etwas darauf erwidert, doch er zieht sich lediglich den Schirm tiefer ins Gesicht und wendet den Blick von mir ab. Seltsamer Geselle. Mein Blick geht hinüber zu Ukyo, als ich mich zurück in eine gerade Haltung begebe. Ich bemerke, dass er gedankenverloren dreinblickt, und etwas verzögert, dass er mir auf das Halstuch starrt. Ich kann mir denken, wohin ihn seine Gedanken leiten, weswegen ich leicht mit dem Fuß gegen seine Schuhspitze stoße, um ihn aus seiner Trance zurückzuholen. Der wache Ausdruck kehrt in seine grünen Augen zurück und als ich seine Aufmerksamkeit habe, deute ich ein knappes Kopfschütteln an. Er beantwortet meine Geste mit einem entschuldigenden Lächeln, was mich hoffen lässt, dass er meine stumme Botschaft verstanden hat. „Wenn Sie mir bitte folgen möchten, Herr“, weise ich Ukyo und seine Begleitung an, mit mir zu kommen, während ich sie an einen freien Tisch führe. „Wie kann ich Ihnen heute bedienlich sein? Mit Verlaub, kann ich den Herren heute unsere Gratin bestens empfehlen. Sollten Sie bereits anderweitig zu Mittag gespeist haben, empfiehlt die Küche heute unsere locker-leichten Windbeutel nach Art des Hauses. Selbstverständlich darf es auch nur ein warmes oder gekühltes Getränk sein, wenn die Herren dies wünschen“, gehe ich geflissentlich in die Bedienung über, kaum dass die beiden ihren Platz gefunden haben. Bereit, ihre Bestellungen aufzunehmen, halte ich Block und Stift vor mir und sehe sie abwartend an. „Bringst du mir bitte einen Short Brandy und einen Espresso?“, besieht mich Ukyo mit einem Lächeln, das mir sofort das Herz erwärmt. „Natürlich“, lächle ich zu ihm zurück. Fragend wende ich mich an den mir Unbekannten, der seinen Platz vor mir auf dem Stuhl bezogen hat und noch immer nicht zu mir hinaufsieht. „Und für Sie, mein Herr?“ „Wasser“, fällt seine Antwort aufs Mindeste begrenzt aus. Sein versetztes „Bitte“ macht es nicht gerade besser. Komischer Kauz. „Sehr wohl, Herr“, bleibe ich professionell, verneige mich höflich vor meinen Gästen und wende mich ab, um ihren Bestellungen unverzüglich nachzukommen. Auf meinem Rückweg zum Tresen denke ich über die beiden nach. Es ist ungewöhnlich für Ukyo, in Begleitung unterwegs zu sein. Nicht, dass ich das sicher für diese Welt beurteilen könnte, aber bisher kannte ich ihn nur als Einzelgänger. Vielleicht ist es ja ein Kunde oder Geschäftspartner von ihm? Ein neuer Freund, den er hier gefunden hat? Wieso sollte es ihm auch nicht möglich sein, neue Kontakte zu knüpfen? Er ist doch ein sehr freundlicher und aufgeschlossener Charakter. Ich bemerke, als ich einen verstohlenen Blick über die Schulter zu Ukyo werfe, dass der Unbekannte mich offensiv mustert. Er sitzt halb herumgedreht auf seinem Stuhl und sieht mich an, ohne sein Interesse an meiner Person zu verbergen. Ukyo sagt irgendetwas zu ihm, aber es scheint mir keine Mahnpredigt zu sein. Vielmehr sieht er sehr ernst aus, konzentriert in gewisser Weise, und scheint kein bisschen irritiert oder gar verärgert, dass seine Begleitung mehr Aufmerksamkeit an mich vergibt als an ihn. In gewohnten Handgriffen bereits ich die drei Getränke zu. Auf einem Tablett balancierend bringe ich sie wenig später an ihren Tisch, wo ich sie vor Ukyo und dem Fremden verteile. „Wie darf ich den Herren noch dienlich sein?“, lasse ich mir mein Unbehagen nicht vor ihnen anmerken, als ich nach ihren weiteren Wünschen frage. „Nein, das ist schon so okay. Danke dir“, winkt Ukyo ab. Erneut kann ich nicht anders, als sein freundliches Lächeln zu erwidern. Der Unbekannte hat sich wieder von mir weggedreht. Seit ich neben ihm stehe, hat er nicht ein Mal zu mir aufgesehen. Auch jetzt sagt er nichts und macht keine Anstalten, auf meine Frage zu antworten. Irgendwie ist er mir suspekt, verdächtig und erscheint mir auf gewisser Weise falsch. Ich will nicht länger in seiner Gegenwart sein, als zwingend notwendig. „Bitte ruft nach mir, Herr, wenn Ihr weitere Wünsche habt. Ich gehe dann jetzt“, verabschiede ich mich von den beiden in meiner kleinen Performance, verneige mich leicht und drehe mich ab. Hinter mir schiebt gerade einer meiner Kunden seinen Stuhl zurück, und ich nehme mich ihrem Tisch an, um die Herren abzukassieren und anschließend zur Tür zu geleiten. „… irgendwie anders“, höre ich jemanden hinter mir sagen, leise und im gedämpften Flüsterton, sodass es mir nicht möglich ist, den gesamten Satz zu verstehen. Als ich daraufhin Ukyos ruhige Stimme vernehme, weiß ich, dass es von dem Unbekannten gekommen sein muss. Ich tue es ab und schenke dem Gespräch keine weitere Beachtung, während ich darauf warte, dass meine Kunden fertig gezahlt und ihre Sachen zusammengeräumt haben. Nachdem ich meine Kunden an der Tür verabschiedet habe, kehre ich zu dem nun freien Tisch zurück. Als ich Ukyo und seinen Freund passiere, schnappe ich einen weiteren Fetzen ihrer leisen Unterhaltung auf, mit dem ich nicht sehr viel anfangen kann. Irgendetwas mit »Gefahr«. »Gefahr«, hm? Während ich den Tisch abräume, beginne ich nachzudenken. Ich habe keine Ahnung, von was ihr Gespräch wohl handeln mag. Allerdings ist es nie ein gutes Zeichen, wenn dieses Wort fällt. Ganz gleich, in welchem Zusammenhang es geschieht. Am allerwenigsten, wenn es Ukyo ist, der es in den Mund nimmt. Ich gehe um den Tisch herum, um ihn abzuwischen. Von dieser Position aus habe ich ein gutes Sichtfeld auf die beiden Männer, und ich nutze diesen Vorteil, um einen vorsichtigen Blick auf Ukyo zu erhaschen. Sein kleines Glas Brandy ist kaum angerührt. In einer lockeren Haltung sitzt er vornübergebeugt auf der Bank und wirkt doch verkrampft, so wie er die zu Fäusten geballten Hände auf der Tischplatte hält. Aus der Entfernung kann ich noch weniger hören als zuvor, aber ich glaube, anhand seiner Lippen ablesen zu können, dass er etwas mit »Schuld« sagt. Sein Kopf geht daraufhin nach oben und er besieht sein Gegenüber fest entschlossen, wobei ich zugleich glaube, eine stille Verzweiflung an ihm zu erkennen. Was er dieses Mal zu ihm sagt, kann ich wirklich nicht bestimmen, aber es bewirkt, dass der Unbekannte seinen Kopf in meine Richtung dreht. Ich weiche ihm aus, als sich unsere Blicke für den Bruchteil einer Sekunde begegnen, und beeile mich, meine Arbeit zu einem Abschluss zu bringen. Die letzten Wortfetzen, die ich noch aufschnappe, lauten irgendetwas mit »meine Pflicht« und »ihr helfen«. Meine Sinne sind auf Ukyo fixiert, dennoch gelingt es mir nicht, Näheres zu verstehen. Der Lärm von der anderen Seite des Cafés hat zugenommen und die lauten Stimmen der Mädchen, die ich als Ikkis Fanclub vermute, machen mir dieses Unterfangen schlichtweg unmöglich. Ich weiß nicht einmal zu sagen, ob sie in irgendeinem Zusammenhang zueinander stehen. Mir fehlt der Mittelteil und auch Ukyos Stimme geht soweit in dem Gemenge unter, dass ich ihre Tonlage nicht näher definieren kann. „Ukyo-san, wie schön, dich mal wieder zu sehen. Lang ist’s her“, höre ich Ikki in der Nähe sagen, was mich aufsehen lässt. Ich erkenne ihn am Tisch nebenan, wie er zwischen Ukyo und dessen Freund steht. Von meiner Position aus habe ich lediglich einen Blick auf seinen Rücken, doch dafür kann ich die Reaktionen Ukyos und dessen Begleiter bestens beobachten. „Ah, Ikki! Lange nicht gesehen“, erwidert Ukyo die Begrüßung und zeigt um ein Weiteres sein freundliches Lächeln. „Ich wollte schon früher herüberkommen und kurz Hallo sagen, aber du siehst ja, was heute los ist.“ Ikkis Worte werden von einem lächelnden Unterton begleitet. Es lässt mich unwillkürlich mitlächeln. „Ist nicht schlimm, ist doch gut fürs Geschäft? Ich wollte auch nur kurz vorbeischauen.“ Zu gern hätte ich ihrem Gespräch länger zugehört, doch schon wieder bemerke ich den undurchlässigen Blick von Ukyos Begleitung auf mir. Ich habe keine Lust, mich dieser Musterung länger auszusetzen, also räume ich alles Geschirr zusammen und trete missmutig gestimmt den Rückzug an.   Dieser Kerl kann es einfach nicht lassen! Wann immer ich meinen Blick in Ukyos Richtung hebe, kann ich davon ausgehen, der Aufmerksamkeit des Fremden zu begegnen. So allmählich geht mir das wirklich auf die Nerven. Was will dieser Typ von mir? Wenn er ein Problem hat, soll er es sagen oder über Ukyo ausrichten lassen, wenn er selbst zu feige dazu ist. Wenn der es nicht bald unterlässt, mich so anzustarren, werde ich zu ihm hinübergehen und ein Machtwörtchen sprechen. Mir egal, was die anderen Kunden vielleicht darüber denken mögen. Zumindest scheint Ukyo endlich darauf aufmerksam geworden zu sein. Ich habe beobachtet, wie er eingehend auf ihn eingesprochen hat, wobei sein Blick peinlich berührt zu mir herübergewandert ist. – Ja, richtig so! Mach ihn ruhig zur Sau. Was gafft der mich auch so dämlich an? „Möchtest du nicht eine Pause einlegen?“, werde ich von Ikki aus meiner Rage geholt. Im Stillen verfluche ich seine Stimme, die eine so immense Wirkung auf mich hat. Ihr ruhiger Klang reicht aus, um den brodelnden Frust in mir zum Abklingen zu bringen. „Jetzt schon?“, will ich wissen und sehe prüfend zu ihm auf. „Warum nicht? Es ist gerade günstig.“ Schweigend folge ich seinem Blick. Derweil sind auch Waka und Kento aus dem hinteren Bereich nach vorn getreten, um meinen Mitbewohner und ihren vermissten Freund angemessen zu begrüßen. Die drei befinden sich inmitten eines Gespräches, das sehr ausgelassen auf mich wirkt. Ukyos Begleitung hält den Kopf gesenkt, wie er es auch in meiner Gegenwart immer getan hat, und scheint bestrebt, so unscheinbar wie möglich zu wirken. Er hält sich aus den Gesprächen heraus, was Waka und Kento mit Außerachtlassung zollen. „Willst du die Gelegenheit nicht nutzen? Es muss anstrengend sein, die ganze Zeit der Aufmerksamkeit der Kundschaft ausgesetzt zu sein, ohne sich kurzzeitig zurückziehen zu können“, spricht Ikki ruhig an meiner Seite. Fragend sehe ich zu ihm auf. Bilde ich mir das nur ein, oder sollte das eine direkte Anspielung gewesen sein? Kann es sein, dass Ikki die Musterungen von Ukyos Freund bemerkt hat? Unauffällig waren sie ja nun nicht gerade gewesen. Sollte ich ihn fragen? „Und was ist mit dir?“, weiche ich stattdessen aus, nachdem ich mich gegen diese Überlegung entschieden habe. „Hättest du eine Pause nicht dringender nötig als ich? Du hattest ganz schön viel zu tun“, erkläre ich. „Ich bin okay“, versichert er. Kaum dass er das gesagt hat, findet eine Veränderung auf seinem Gesicht statt. Ich beobachte, wie es von einem ernsten Ausdruck in einen nachdenklichen wechselt und sich anschließend aufhellt, als habe er eine Erleuchtung erfahren. Sein wacher Blick trifft direkt auf mich, als er sich ein Stück weit zu mir herüberlehnt. „Hm? Was denn, machst du dir etwa Sorgen um mich?“, besieht er mich mit einem Lächeln, das mir unverblümt vermittelt, dass dieser Gedanke Gefallen in ihm auslöst. Ah, verdammt! Panisch senke ich den Kopf – zu spät. Ich bin seinen Augen begegnet. Dieser kurze Moment hat ausgereicht, um mir die Hitze in die Wangen zu jagen und mein Herz in rege Aufregung zu versetzen. Mist, nicht aufgepasst! Die ganze Zeit über bin ich vorsichtig gewesen, habe wenn, dann nur aus sicherer Distanz zu ihm gesehen, und jetzt … Naja, jetzt habe ich zumindest die Gewissheit, dass ich echt am Arsch bin. „I-ich …“, beginne ich zu stammeln. Eisern fechte ich gegen die Magie an, die von Ikkis Augen auf mich wirkt und an die Vorherrschaft über meine Gefühle appelliert. Es fällt mir schwer, klar zu denken. „Ich möchte nur, dass es fair abläuft“, ringe ich aus mir hervor. Ich höre Ikkis leises Lachen. Keine Ahnung, was ihn gerade so amüsiert, aber es stimmt mich wütend. „Ist schon okay“, sagt er, woraus noch ein Rest Erheiterung klingt. „Du kannst ruhig gehen. Sawa wird gewiss bald hier sein. Ich gehe in die Pause, sobald sie ihre Schicht angetreten ist.“ „Auf eine Zigarettenlänge“, mühe ich hervor und wende mich schon ab. Ikkis freundliches „Schöne Pause“ blende ich, so gut ich kann, aus. Jetzt gerade erscheint es mir doch als keine so schlechte Idee mehr, eine Weile Abstand zu gewinnen.   Meiner Schürze entledigt und gegen meinen Mantel ersetzt, stehe ich draußen neben dem Personaleingang und gebe mich meiner Zigarette hin. Tausend Dinge gehen mir durch den Kopf. Ein wenig fühle ich mich wie an meinem ersten Tag. Verdammt. Mir wäre es wirklich lieber gewesen, hätte ich nie erfahren, dass ich Ikkis Augen tatsächlich unterliege. Das wird mein Verhältnis zu ihm nur noch mehr verkomplizieren. Es gefällt mir nicht, aber ich muss in seiner Gegenwart wirklich höllisch aufpassen. Ein direkter Blick von ihm und ich muss darum bangen, falschen Gefühlen zu unterliegen. Das möchte ich ihm nicht antun, und mir auch nicht. Mist, wie mache ich das nur? Hm, wie stark diese Magie wohl ist? Könnte sie mich tatsächlich dazu bewegen, ihm Hals über Kopf zu verfallen? Wie weit würde sie mich bringen? Würde ich ihn anstandslos alles mit mir machen lassen und schätze ich ihn so ein, dass er das hemmungslos ausnutzen würde? Streng schüttle ich den Kopf. Stopp! Auf gar keinen Fall werde ich das zulassen! Natürlich bin ich neugierig und ich kann nicht verleugnen, dass sich mein Herzschlag bei diesen Gedanken beschleunigt hat. Aber ich meine es ernst! Mein Interesse an ihm ist aufrichtiger und neutraler Natur. Ich will nicht, dass er diese Gewalt über mich hat und alles zerstört, was mir heilig ist. Auf gar keinen Fall! Schwer seufze ich. Ach, was soll’s. Es macht ja doch keinen Sinn, sich schon wieder verrückt zu machen. Ein Desaster mehr oder weniger, darauf kommt es so langsam auch nicht mehr an. Sehen wir, wie es ist: Ich bin am Arsch, so richtig. Ob so oder so. Scheiß drauf. Schon seltsam. Wann immer ich heute an Ikki denke, deprimiert es mich. Allmählich ist das so richtig frustrierend. So hatte ich mir das nie vorgestellt. Ich will an andere Dinge denken. Ukyo. Wer ist nur dieser seltsame Typ, der bei ihm ist? Woher kennen sie sich und worüber haben sie sich nur unterhalten? Ich will nicht kapieren, warum er mich die ganze Zeit so seltsam angestarrt hat. Und Ukyo … Moment! Kann es sein …? Kann es vielleicht sein, dass sie über mich gesprochen haben? Ich schüttle den Kopf. Nein, das kann eigentlich nicht sein. Aber warum sonst sollte der Typ mir immerzu diese prüfenden Blicke zugeworfen haben, während Ukyo mit ihm gesprochen hat? Was hat er ihm erzählt und was hat dieser Kerl bitteschön mit mir zu schaffen? Was interessiert ihn meine Person? Ich kapiere es einfach nicht, echt nicht! »Gefahr«, »Schuld«, »Hilfe«. – In Gedanken spule ich mir diese Begriffe erneut auf. Sie sind allesamt von Ukyo gefallen. Diese Konstellation gefällt mir nicht; am wenigsten, wenn ich dabei eine Rolle spielen soll. Ich will gar nicht wissen, was das zu bedeuten hat. Und doch … glaube ich, dass ich das besser sollte. „Hey …“ Ich tauche aus meinen Gedanken auf. Fragend wende ich den Kopf, um neben mich zu blicken, von wo aus ich die junge Kinderstimme vernommen habe. Rechts von mir steht ein kleines Mädchen. Sie könnte im Teenager-Alter sein, so sicher bin ich mir nicht. Ich schätze sie auf die elf, zwölf Jahre, könnte aber auch jünger sein. Wer weiß das schon noch so genau bei der heutigen Jugend? Auf jeden Fall ist sie mir unbekannt und ihr Aufzug … erscheint mir ein wenig fragwürdig für ein kleines Mädchen. Sie trägt ein knielanges, dunkelgraues Kleid mit kreuzverziertem Spitzensaum. Der Rock ist um die Hüften bauschig. Hinter ihrem Rücken lugt etwas hervor, das wie durchsichtige Kunstflügel aussieht. Ziemlich albern. Sie sind mit silbernen Glitzer versehen. Muss wohl von einem Kostüm stammen. Über die Brust trägt sie eine kurze, spitz zulaufende schwarze Weste. Sie reicht ihr nicht einmal bis zum Bauch. Dazu eine schwarz-weiße Ringelstrumpfhose, vermute ich, und hohe Schnürstiefel in schwarz mit gelben Bändern. Ebenfalls schwarz-weiß sind ihre fingerlosen Armstulpen, die knapp bis zu den Ellenbeugen reichen. Ich frage mich, ob ihr Haar wohl echt ist. Sie trägt es mit je einer großen, gelben Zierschleife zu zwei voluminösen Seitenzöpfen gebunden, was mich zu der Annahme bringt, dass es offen wohl etwas über schulterlang sein dürfte. Aber was ist mit der Farbe? Schneeweiß mit einem Deut von Rosa in den Spitzen? Im Ernst jetzt? „Ähm, bitte entschuldige. Ich wollte dich nicht stören“, spricht sie vorsichtig zu mir hinauf, wobei ihre großen Kinderaugen stetig zwischen mir und dem Boden wechseln. Ich bin nicht ganz sicher, ob sie wirklich mich meint. Allerdings muss sie das wohl, da ich die Einzige bin, die hier bei ihr steht. … Wobei mir gerade auffällt: Wo kommt sie eigentlich her? Ich habe sie gar nicht bemerkt. Ist sie an mir vorbeigeschlichen, als ich in Gedanken war? Aus einem der Fenster wird sie kaum geklettert sein und hinter ihr befindet sich die Sackgasse, die diesen Seitengang abschließt. „Kann ich dir irgendwie helfen?“, frage ich sie und drücke meine Zigarette in dem Aschenbecher aus, um mich ihr ganz zuwenden zu können. „Ich wollte nur sehen, wie es dir geht“, sagt sie. Sie spricht wirklich so leise, dass ich sie kaum richtig verstehen kann. „Ich bin froh, dich endlich gefunden zu haben. Ich hatte Angst, ich würde dich nie finden. Dir geht’s doch gut, oder?“ Ich verstehe nicht, wovon sie redet. „Entschuldige, was meinst du?“ Zaghaft sieht sie zu mir hoch. Die Kleine hat ein wirklich sehr niedliches Gesicht, aber im Moment habe ich das Gefühl, als würde sie etwas ernsthaft bekümmern. Ihre eisblauen Augen wirken traurig auf mich. „Bruder hatte recht“, wispert sie vor sich hin. „Ist das auch meine Schuld? Meine … es tut mir so leid.“ „Hör mal, ich verstehe dich kaum“, versuche ich ihr zu erklären. Kurzerhand drehe ich mich ihr zu und gehe vor ihr in die Hocke, um einigermaßen auf selber Augenhöhe zu ihr zu sein. „Entschuldige, kannst du bitte noch einmal wiederholen, was du zuletzt gesagt hast?“ „Weißt du, es ist meine Schuld. Es tut mir wirklich sehr leid“, sagt sie, was mir wirr erscheint. „Bruder war wirklich böse mit mir. Er hat mit mir geschimpft. Aber er hat recht, es ist meine Schuld und es tut mir schrecklich leid! Ich wollte das nicht. Ich wollte nicht, dass das passiert. Ich habe es doch nur gut gemeint, aber ich wusste doch nicht, dass das passieren würde …“ „Hey, schön langsam, Kleine“, falle ich ihr ins Wort. Ihr Monolog ist schon irritierend genug, aber dass sie jetzt auch noch so aufgelöst ist, überfordert mich fast. Ich will vermeiden, dass sie mir jeden Moment in Tränen ausbricht. „Also, das tut mir leid für dich, dass dein Bruder mit dir geschimpft hat. Aber Fehler sind dazu da, um aus ihnen zu lernen, weißt du? Wie heißt du eigentlich?“ „Ich verspreche, ich werde diesen Fehler nie wieder machen“, beschwört sie, woraufhin ihre Augen den typischen Trotz eines kleinen Kindes annehmen. „Ich weiß, es hilft dir nicht … oder ihr … oder euch … aber ich werde einen Weg finden! Mein großer Bruder hilft dir auch, das hat er mir versprochen, und er wird bestimmt gut auf dich aufpassen.“ „Ich … verstehe noch immer nicht, sorry“, beginne ich zu verzweifeln. Spreche ich vermutlich gerade mit einer Verrückten? Ohne es böse zu meinen. Sämtlicher Trotz schwindet aus dem Gesicht des Mädchens und macht einer erneuten Sorgewelle Platz. „Ich weiß“, spricht sie wieder so leise, dass ich Angst habe, sie könnte jeden Moment vor mir zerspringen wie eine zarte Puppe aus Porzellan. „Du verstehst nicht, was ich meine … und das tut mir leid. Aber, hey …? Sei nicht traurig, ja? Ich verspreche, auch nicht traurig zu sein und ich werde dir helfen, ja? Warte bitte nur noch ein bisschen.“ „Warten? Auf was soll ich denn warten?“, will ich von ihr wissen. Die Sache steigt mir allmählich zu Kopf. „Hör mal, ich verstehe noch immer nichts. Mit was willst du mir helfen und warum –“ „Shizana?“, werde ich in meinem Frageschwall unterbrochen, was mich erschrocken zusammenfahren lässt. Hastig drehe ich meinen Kopf und erkenne Sawa, die gerade vor dem Café eingetroffen ist. „Sag mal, was machst du da? Und mit wem redest du?“ „Ah, Sawa“, begrüße ich sie wenig geschickt und erhebe mich, um mich ihr zuwenden zu können. „Gutes Timing, vielleicht kannst du mir helfen. Ich glaube, dieses Mädchen hier braucht Hilfe, aber ich weiß nicht recht, was sie von mir will.“ „Mädchen? Welches Mädchen?“ Ihre Frage bringt mich ganz aus dem Konzept. „Na“, will ich erklären und drehe mich herum, aber muss erkennen, dass das kleine Mädchen, mit dem ich eben noch gesprochen hatte, plötzlich nicht mehr da ist. „Na?“, hakt Sawa nach, wobei sie an meine Seite tritt. „Welches Mädchen denn nun? Ich sehe keines.“ „Ich … irgendwie auch nicht.“ Sie besieht mich mit einem zweifelnden Blick. „Du, sag mal … ich will dir ja nicht zu nahe treten, aber … kann es vielleicht sein, dass du mit dir selbst geredet hast?“ „Nein, eigentlich nicht.“ „Weißt du, das wäre auch nicht schlimm. Jeder redet hin und wieder mit sich selbst. Zumindest tu ich das manchmal. Da ist wirklich nichts dabei, denke ich.“ „Ja, ich ja auch“, entgegne ich teilnahmslos. Ich höre Sawa durchaus zu, aber die Tatsache, dass ich allem Anschein nach gerade einem Geist begegnet bin oder aber am Rande des Wahnsinns stehe, lässt mich doch etwas im Zweifel zurück. „Ich kann das normalerweise sogar ganz gut, aber ich schwöre dir, Sawa, da war bis eben noch ein kleines Mädchen gewesen.“ „Hm“, macht sie und scheint abzuwägen, ob sie mir glauben soll oder nicht. „Du, ich weiß es nicht. Ich habe jedenfalls keines gesehen und jetzt ist es auch weg. Wollen wir nicht vielleicht reingehen?“ Geistesabwesend nicke ich. Bin ich jetzt gänzlich bescheuert? Ich weiß doch, was ich gesehen habe! Das Mädchen war zu real, um sie mir nur eingebildet zu haben. Aber kleine Kinder lösen sich doch nicht einfach in Luft auf, oder etwa doch? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)