Zwischen den Welten von Shizana (Das Mary Sue-Projekt) ================================================================================ Kapitel 21: Im Auftrag der Dämonenlady -------------------------------------- Ich gleite aus meinem Schlaf. Eine Zelle nach der anderen schaltet sich in meinem Kopf ein und lässt mich langsam zu Bewusstsein kommen. Ich denke an nichts. Mein Körper fühlt sich schwer an. Egal, ich bin müde. Reglos bleibe ich liegen, bis ein Ziehen in meinem Rücken verkündet, dass dies nicht die geeignetste Liegeposition ist. Verdammtes Hohlkreuz. Schwerfällig drehe ich mich auf die Seite und genieße den langen Moment, in dem der Schmerz von meiner Wirbelsäule ablässt. Gleichzeitig wird ein erstes Flimmern in meinem Kopf wach. Schnaufend und weit unter Schneckentempo stütze ich mich auf die Hände und stemme mich hoch. Mein Kopf dröhnt, als hätte ich ein Saufgelage auf Rechtschreibfehler mit Eri hinter mir. Ich fühle mich schummerig und bin froh, sicher auf weichem Polster zu sitzen. Es ist außerdem angenehm dunkel um mich herum, wofür ich dankbar bin. Während ich nach meinem Kopf fasse, merke ich, wie etwas meinen Oberkörper herunterrutscht. Schnell greife ich nach der Decke und wickle sie schluderig um mich. Etwas unbeholfen angle ich nach dem Handtuch und habe Mühe, es unter mir hervorzuholen. Die Fragen hämmern gegen meinen Schädel: Was ist hier los und wieso, zum Geier, bin ich nackt? Mein Blick geht zur Seite, von wo ich ein Gewicht auf der Decke bemerke. Ich erkenne Orion, den Kopf auf den Armen und die Augen geschlossen. Vor dem Bett sitzt er auf dem Boden und muss wohl bei seiner Wache eingeschlafen sein. Ich erkenne seinen Pullover mit der Öhrchenkapuze, welche unordentlich auf seinem Rücken liegt. Der Ärmste, wie lange hat er da wohl ausgeharrt und auf ein Lebenszeichen von mir gewartet? Die Haltung sieht nicht sehr bequem aus. Das bringt mich zu der Frage, wie spät es wohl ist. Und wo ist Ukyo gerade? Vielleicht nebenan in seinem Zimmer und schläft? So einfach wird sich das nicht beantworten lassen, wohl aber das Erste. Athletisch angle ich auf der Schrankablage nach meinem Handy. Ich nehme einige Verrenkungen auf mich, damit die Decke nicht verrutscht und ich Orion nicht versehentlich von der Matratze schubse. Ich schnaube erschöpft, als ich es endlich zu fassen kriege, und schalte sogleich das Display an. Das grelle Licht ist ekelhaft für meine müden Augen. Kurz vor drei. Mit anderen Worten: mitten in der Nacht. Kein Wunder, dass Orion pennt. Wie lange habe ich eigentlich geschlafen? Ich versuche mich zu erinnern. Es muss … wohl so gegen neun gewesen sein, als ich das Bewusstsein verloren habe. Wieso eigentlich? Ich war duschen gewesen und dann … Ja, und was ist dann eigentlich passiert? Bin ich zusammengeklappt, so richtig? Hat mich dann jemand aus der Duschkabine angeln und mich … Oh mein Gott! Wirklich? Ich schlage mir eine Hand vor den Mund. Mir wird schlecht bei dem Gedanken, wie ich dagelegen haben muss. Habe ich geblutet? Mir etwas angeschlagen? Hat Ukyo mich etwa so gefunden und mich … Oh Gott! Kurz taste ich meinen Hinterkopf ab. Eine harte Beule schmerzt, aber sie ist klein. Sonst spüre ich nichts Verdächtiges. Meine Schulter schmerzt ebenfalls; dieselbe, die ich mir erst neulich in der Rangelei mit Ukyo angeschlagen hatte. Am Rücken scheint es zu gehen, Steiß wirkt in Ordnung. Arme und Hände sind okay, Beine ebenfalls. Ich wackle mit den Zehen, spüre aber nichts. Wie es aussieht, bin ich größtenteils unversehrt. Puh, Schwein gehabt! Ich werfe einen weiteren Blick auf mein Handy. Erst jetzt bemerke ich, dass mir ein Anruf in Abwesenheit angezeigt wird. Eine Textnachricht informiert mich darüber, dass mir jemand auf die Mailbox gesprochen hat. Ich tue die unbekannte Nummer als unwichtig ab und lege das Handy zurück an seinen Platz. Um diesen wen-auch-immer kann ich mich später immer noch kümmern, aber nicht jetzt mitten in der Nacht. Still verharre ich und lausche in die Dunkelheit. Bis auf Orions ruhiges Atmen höre ich nichts. Ich sehe zu ihm und muss doch lächeln, als ich sein schlafendes Gesicht betrachte. In einer behutsamen Geste hebe ich die Hand und streiche ihm über das Haar. Ich frage mich, wie lange er wohl durchgehalten hat, bis er weggedriftet ist. So ein tapferer Junge. Es muss anstrengend für ihn sein, in diesem neuen Körper zurechtzukommen. Vielleicht hätte er die Wache lieber Ukyo überlassen. Auf der anderen Seite … Meine Gedanken driften zu meinem Mitbewohner ab. Ich frage mich wirklich, ob er nebenan ist und gerade schläft. Zu gern würde ich aufstehen und nachsehen, wage es aber nicht. Vielleicht ist er auch im Wohnzimmer, wer weiß? Egal, solange er sich nicht wieder irgendwo herumtreibt. Ich wünsche mir wirklich, dass er zu Hause ist. „Du bist wach?“, höre ich Orions schlaftrunkenes Gemurmel. Ich sehe zu ihm und beobachte, wie er sich schläfrig die Augen reibt. „Habe ich dich geweckt?“ „Mh, mh“, macht er und schüttelt den Kopf. Ein herzhaftes Gähnen folgt. „Bin ich eingeschlafen? Wie spät ist es?“ „Drei Uhr nachts. Keine Zeit, um wach zu sein.“ Orions Blick geht zum Fenster, dann zu mir. Ich erkenne in seinem Gesicht, dass sein Zustand kaum als »wach« zu bezeichnen ist. „Bist du eben erst aufgewacht? Wie geht es dir?“ „Mir geht es gut, bis auf eine kleine Beule“, sage ich und lächle beschwichtigend. „Aber heben wir uns das für später auf. Ich bin müde, du nicht? Lass uns noch ein wenig schlafen.“ „Mh“, bestätigt er und dreht sich zur Seite. In einigen wenigen Hangriffen richtet er sein Bettzeug zurecht und rollt sich, wie er ist, unter die eigene Decke. „Ich bin froh, dass du aufgewacht bist.“ Ich nicke. „Ja, ich auch. Dank euch beiden.“ Damit mummle auch ich mich zurück unter meine Decke und sorge dafür, dass sie fest und sicher um mich gewickelt ist. „Gute Nacht, Orion.“   Es ist bereits hell, als ich das nächste Mal wach werde. Ich blinzle mehrere Male, nur um mich auf die andere Seite zu drehen. Erst Minuten später bin ich soweit bei mir, dass ich mich in meine Decke gewickelt aufsetzen kann. Ich starre ins Leere, wartend, bis mein Kopf sich vollständig hochgefahren hat. ‚Orion ist nicht da‘, ist das Erste, was mir bei einem Blick zur Seite auffällt. Diese Erkenntnis lässt mich nach meinem Handy greifen für eine zeitliche Orientierung. Kurz nach neun. Während ich mir neue Klamotten zusammensuche und mich ankleide, gehe ich in Gedanken den anstehenden Tag durch. Heute ist Mittwoch. Wenn ich mich recht erinnere, habe ich heute keine Schicht im Meido. Ein Blick auf meinen Schichtplan bestätigt diesen Punkt. Das bedeutet, ich habe Zeit für mich. Vielleicht schaffe ich es endlich, mich um ausstehende Dinge zu kümmern. Kentos E-Mail, zum Beispiel. Oder ich gehe mal mit meinen Jungs weg. Ob Ukyo wohl da ist? Eine Salve angenehmer Gerüche empfängt mich, als ich die Zimmertür öffne. Es riecht verlockend nach Kaffee und frischen Brötchen. Jemand hat das Radio eingeschaltet, aus welchem leise Pop-Musik dringt. Eine einzige Zeile des Liedes fange ich auf, und sie könnte kaum treffender sein: Du schaffst dieses Gefühl, ganz wie zu Hause. „Shizana! Guten Morgen!“, höre ich Orion vom Wohnbereich rufen. Noch im selben Moment, wie es scheint, springt er auf und eilt schon zu mir herüber. „Hast du gut geschlafen? Sag, wie fühlst du dich? Hast du irgendwelche Schmerzen?“ „Mir geht es gut, alles noch dran. Guten Morgen.“ Flüchtig prüfe ich den Raum nach Ukyo ab. Lange muss ich nicht suchen, denn gerade erhebt er sich von einem der Stoffhocker. „Guten Morgen, Ukyo.“ „Guten Morgen“, spricht er leise und erwidert mein Nicken. Ich erkenne die Sorge in seinem Blick. „Tut mir leid wegen gestern“, beginne ich und sehe zu Boden. „Ich weiß nicht mehr wirklich, was passiert ist. Hattet ihr arg Schwierigkeiten wegen mir?“ „Du weißt nicht mehr, was passiert ist?“, springt Orion an. Ich sehe zu ihm. „Ich bin nicht sicher. Ich kann mich bis zu einem gewissen Punkt erinnern und ab dann an nichts mehr.“ „Was ist das Letzte, woran du dich erinnerst?“, will er wissen. Ich überlege kurz. „Hm, wir haben zusammen Abendbrot gegessen und dann habe ich mich mit Ukyo ausgesprochen. Danach war ich im Bad und … Ich glaube, ich bin unter der Dusche zusammengebrochen?“ „Weißt du noch, warum das passiert ist?“ „Ich … habe irgendetwas gehört. Oder nein, warte. Ich hatte einen Flashback und danach war alles schwarz.“ „Einen Flashback?“ „Eine Art Déjà-vu“, erkläre ich. Mein Blick wird zweifelnd. „Ich kann es nicht wirklich beschreiben. Ich stand unter dem Wasser und das hat irgendetwas in mir getriggert.“ „Eine Erinnerung?“ „Ausgeschlossen“, weise ich zurück. Hilfesuchend sehe ich zu Ukyo. „Ich meine, ich bin doch ich? Ich kann mich an alles vor … dem Ganzen hier erinnern. Das würde keinen Sinn machen. Es muss etwas anderes gewesen sein.“ „Hattest du danach Kopfschmerzen?“, drängt Orion weiter, was ich bejahe. „War dir übel? Wurde dir schwindelig? Hattest du das Gefühl, als hätte dir gerade jemand mit der Eisenpfanne auf den Kopf geschlagen?“ „Rede bitte nicht über Eisenpfannen“, flehe ich in Erinnerung an den Zwischenfall, der sich gestern auf Arbeit ereignet hatte. Ich kann von Glück reden, dass ich nicht erfahren musste, wie sich das anfühlt. Und diese Erfahrung will ich wahrlich nicht aufholen. „Aber ja, so in etwa können wir’s stehen lassen. Und es war nicht das erste Mal.“ „Bitte entschuldige … Was hast du in diesem Flashback gesehen?“ „Nichts“, antworte ich prompt. „Ich habe nur etwas gehört, sofern man das so sagen kann. Jemand sagte, er wünsche sich noch eine Chance.“ Darauf wird es still. „Hey“, werfe ich zögerlich in dem Schweigen ein, „darf ich vielleicht auch etwas fragen?“ „Klar, was denn?“, begegnet mir Orion aufgeschlossen. Ich zögere. „Uhm, nun ja … Ich bin in der Dusche zusammengebrochen. Wie … bin ich in mein Zimmer …?“ „Ah, das? Nun, weißt du, Ukyo hat –“ „Ah!“ Ukyos Ausruf lässt Orion erschrocken zusammenfahren. Kurz sieht er zu ihm, bevor er sich wild gestikulierend an mich richtet und zu erklären versucht: „A-aber es ist nicht, wie du denkst! Ich war dabei, er hat wirklich nichts Unanständiges getan! Er hat nur … mit dem Handtuch …“ „Hört auf!“, ruft Ukyo dazwischen und tritt nach vorn. Ich glaube, seine Wangen nie so rot gesehen zu haben. „K-können wir nicht einfach frühstücken? Ich … ich habe Kaffee gekocht und … die Brötchen werden bestimmt gerade kalt.“   Es gleicht einem Wunder, dass wir ein gesittetes Frühstück zustande bringen. Der Ausgang unseres letzten Gesprächs war nicht gerade angenehm gewesen, für keinen von uns. Selbst jetzt noch spüre ich, wie dieses penetrante Kribbeln in meine Wangen zurückkehren will. Dieses peinliche Thema will mir nicht aus dem Kopf, doch ich mahne mich, nicht länger daran zu denken. „Ach so“, wirft Orion irgendwann ein, „jemand hat gestern versucht dich anzurufen. Wir kannten die Nummer nicht, deswegen haben wir nicht angenommen. Hast du es schon gesehen?“ „Ach ja?“ Stimmt, da war ja was. „Ich habe es die Nacht kurz gesehen, ja. Aber es war wohl keiner meiner gespeicherten Kontakte. Ich weiß nicht, wer mich sonst noch anrufen könnte.“ „Vielleicht die Agentur?“, mutmaßt Ukyo, was mir Fragezeichen beschert. „Sie haben sich lange nicht mehr gemeldet, oder? Vielleicht geht es um den Auftrag.“ „Ah, du meinst das Ghostwriting?“ „Es könnte wichtig sein.“ „Wenn es die Agentur war, ist es bestimmt wichtig“, setzt Orion nach. Aufgeregt sieht er mich an. „Hast du nachgesehen, ob sie dir geschrieben haben? Vielleicht hast du vergessen auf eine E-Mail von ihnen zu antworten.“ „Ich hatte eine Sprachnachricht auf der Mailbox, wenn ich mich recht erinnere“, sage ich zögernd. Nach einem Moment sehe ich zu ihnen auf. „Ist es okay, wenn ich eben mein Handy herhole?“ Ich erhalte keinen Widerspruch, weswegen ich mein Vorhaben in die Tat umsetze. Keine zwei Minuten später sitze ich wieder am Tisch und wähle die Mailbox, um die hinterlassene Nachricht abzuhören. „Hier ist Rika“, verkündet mir die klare Frauenstimme direkt in mein Ohr. Ihr vornehmer Klang lockt eine Gänsehaut über meine Arme. „Wir müssen reden, es ist wichtig. Dein Rückruf hat oberste Priorität. Du entnimmst meine Nummer dem Gesprächsprotokoll. Enttäusch mich nicht.“ – Klick. Keine weiteren Nachrichten. „Und? Wer war es?“, möchte Ukyo wissen. Ich lege das Handy vor mir ab, ohne aufzusehen. „Rika.“ „Rika?“ „Rika? Etwa die Dämonenlady?“ „Orion!“ Orions Kommentar lässt mich auflachen. „Dämonenlady? Sehr treffend, Orion, wirklich.“ „Was könnte ausgerechnet sie denn von dir wollen?“ „Ich weiß es nicht.“ „Was hat sie gesagt?“, will Ukyo wissen. „Ich soll sie zurückrufen. Keine Ahnung, wieso. Es soll wohl wichtig sein.“ „Wichtig?“ „Bestimmt hat es etwas mit Luka zu tun!“, bauscht Orion auf. „Ganz bestimmt hat es etwas mit ihm zu tun! Wieso sonst sollte sie dich wegen etwas anrufen, das so wichtig ist?“ „Hm, möglich. Etwas anderes fiele mir spontan auch nicht ein.“ „Du solltest sie zurückrufen“, bringt Ukyo an, was mich entsetzt zu ihm sehen lässt. Ich erkenne Zurückhaltung auf seinen Zügen, was mich wenigstens ein bisschen beruhigt. „Was, wenn es wirklich etwas Dringliches ist? Du solltest sie zumindest fragen, worum es geht. Damit kann man niemandem wehtun, oder nicht?“ Allein der Gedanke, seinem Anraten zu folgen, löst in mir jedes denkbare Widerstreben aus. „Ich bin nicht begeistert“, murre ich leise. „Ich weiß, aber … Wäre es nicht schlimmer, es nicht zu tun?“ Ich hasse es, wie er mich zu bereden versucht. Und ich hasse es, zu wissen, dass er recht hat. Mein innerer Schweinehund kläfft wütend. „Ich will nicht“, beharre ich flehend. Ukyo lächelt verständnisvoll. Und ich, ich bin besiegt. „Na schön“, seufze ich widerstandslos. „Ich werde sie anrufen. Auf deine Verantwortung!“ Es kostet mich Überwindung, das Handy zur Hand zu nehmen und die unbekannte Nummer herauszusuchen. Laut Historie hat sie in der Nacht gegen halb eins angerufen. Hat die Frau ‘n Rad ab? Es gibt Menschen, die müssen am frühen Morgen raus und schlafen um diese Zeit längst! Es ist das längste und zäheste Tuten, das ich jemals gehört habe. Einmal, zweimal … „Hallo, hier spricht Rika. Wer ist da?“ „Hier ist Shizana, guten Morgen. Du hattest mich angerufen?“ „Oh, Shizana-san“, nimmt ihre Stimme einen helleren Klang an. Unwillkürlich lege ich meinen freien Arm um meinen Bauch. „Das habe ich, in der Tat. Wie gut, dass du die Zeit gefunden hast.“ „Worum geht es?“, treibe ich höflich an. Meinetwegen können wir direkt zum Punkt kommen. Ich bin wahrlich nicht auf Smalltalk mit ihr aus. „Du hast recht, ich habe nicht viel Zeit“, spielt sie mir zu, wofür ich den arroganten Ton in ihren Worten zu gern ignoriere. „Gestatte mir, wenn ich direkt zum Thema komme. Hatten du und mein verehrter Bruder in der vergangenen Zeit Streit?“ „Streit? Luka und ich?“ Mein Blick geht prüfend zu Ukyo und Orion. Beide beobachten mich aufmerksam. „Nein, nicht dass ich wüsste. Wieso? Wie kommst du darauf?“ „Ich war gestern bei meinem verehrten Bruder zu Besuch“, beginnt sie zu erzählen, was mich beherrscht durchatmen lässt. „Ich hatte den Abend zuvor nichts von ihm gehört, was mich sorgen ließ. Als ich ihn am Tage sah, wandte er sich von mir ab, bevor ich zu ihm sprechen konnte. Ein solches Verhalten, es ist äußerst ungewöhnlich für meinen Bruder.“ Ich rolle mit den Augen. Was bitte hat das mit mir zu tun? Sie fährt fort: „Zum Abend saßen wir beim Tee zusammen und ich erfuhr, dass er dich den Abend zuvor zum Essen ausgeführt hat. Jedoch, wie mir schien, hat es ihn nicht so erfüllt wie die Male zuvor.“ Moment mal. Höre ich da einen Vorwurf heraus? „Shizana-san“, klingt ihre Stimme glatter als bislang. „Ist an jenem Abend etwas zwischen dir und meinem Bruder vorgefallen?“ Ich krause die Stirn in Skepsis. „Nicht dass ich wüsste.“ „Er wollte mir nichts erzählen. Es ist wirklich betrüblich“, betont sie, meines Erachtens zu sehr. „Aber ich sehe meinem Bruder an, wenn ihn etwas bekümmert. Du als seine geschätzte Freundin, müsstest du nicht wissen, was der Grund dafür ist?“ „Tut mir leid, ich weiß es nicht.“ „Wirklich? Das ist zu bedauerlich“, höre ich sie seufzen. „Wenn es nichts mit dir zu tun hat, was mache ich dann nur? Ich ertrage es nicht, meinen geliebten Bruder unglücklich zu sehen.“ Was soll das hier eigentlich werden? Versucht sie mir irgendetwas einzureden? Ich fühle mich wie im Verhör, dabei habe ich gar nichts verbrochen! „Luka-san und ich hatten keinen Streit“, verdeutliche ich in aller Ruhe. Die Wut, die aufgrund ihrer Unterstellung in mir brodelt, halte ich mit aller Mühe in mir zurück. „Ich weiß nicht, vielleicht gab es da ein Missverständnis? Ich kann dir anbieten, dass ich mit ihm rede. Aber ich kann nicht versprechen, dass es etwas mit mir zu tun hatte.“ „Dann tu das, bitte.“ Ich grolle bei ihrem bestimmenden Ton. Nur der Fakt, dass ihre Stimme um ein Weiteres kühler geworden ist, hält mich davon ab, meinem Trotz zu verfallen. „Ich will nur, dass mein geehrter Bruder glücklich ist. Und wenn dies bedeutet, dass sein Glück aus dir besteht, dann sei dem so.“ „Ich werde ihn direkt im Anschluss unseres Gesprächs anrufen.“ „Nein, such bitte das persönliche Gespräch mit ihm“, gibt sie mir vor. „Mein Bruder wird heute den ganzen Tag in seinem Atelier zu finden sein. Ich nehme an, die Adresse ist dir bekannt?“ „Bedauere“, verneine ich brummig. „Oh, wirklich nicht? Kein Problem, ich nenne sie dir. Mein Bruder wird gewiss nichts dagegen haben, wenn ich bei seiner Freundin eine Ausnahme mache.“   Nach zwei weiteren Minuten ist es überstanden. Ich bin um eine Adresse reicher und eine Würde ärmer, als ich das Handy zur Seite lege. Rika hat mich ihr versichern lassen, dass ich ihren Bruder noch heute besuchen werde. Im Anschluss erwartet sie meine Rückmeldung, wie das Gespräch verlaufen ist. Wie krank ist das, bitte? Mit welchem Recht kann sie die Freundin ihres Bruders so bevormunden? Ich schwöre es, wenn diese Beziehung nicht nur fake wäre … „Und?“, fragt Ukyo an. „Was ist herausgekommen?“ „Es ging also doch um Luka! Habe ich es nicht gesagt?“ Ich seufze schwer. „Das meiste habt ihr wahrscheinlich eh mitbekommen. Rika denkt, dass Luka und ich gestritten haben.“ „Habt ihr das denn?“ „Nein“, betone ich an Ukyo gewandt und besehe ihn scharf. „Nicht dass ich wüsste, wie ich es schon sagte. Eigentlich bin sogar ich es, die auf eine Rückmeldung von ihm wartet. Allerdings … kann es gut sein, dass er da etwas in den falschen Hals bekommen hat.“ „Was meinst du?“ Ich sammle mich in einem tiefen Durchatmen. „Es gibt da etwas, das ich euch beiden bislang verschwiegen habe. Ich wollte euch keine weiteren Sorgen bereiten.“ Darauf sehe ich hoch und prüfe jeden Einzelnen von ihnen. Ihre Gesichter sind fragend, sehr zu Recht. „Es ist eigentlich nichts Dramatisches. Den Abend, als ich mit Luka aus war – also vorgestern –, hat er mich gefragt, ob ich bei ihm übernachten möchte. Ich habe sein Angebot ausgeschlagen aus mehreren Gründen. Danach wirkte er ein wenig distanziert, aber nicht wirklich niedergeschlagen. Ich kann nicht einmal sagen, ob ihn meine Ablehnung irgendwie verletzt hat. Seitdem warte ich auf Nachrichten von ihm, aber er schreibt nicht mehr.“ Darauf wird es still am Frühstückstisch. Ich will etwas fragen, da kommt mir Orion zuvor: „Du solltest bei ihm übernachten? Nie im Leben hatte der anständige Absichten! Wenn ich dagewesen wäre, ich hätte ihn –“ „Orion“, fällt ihm Ukyo beherrscht ins Wort. „Bitte, beruhige dich.“ „Ukyo hat recht“, stimme ich meinem Mitbewohner zu. „Es war wirklich nichts Bewegendes. Und wir wollen ihm nichts unterstellen, was am Ende nicht stimmt. Vielleicht wollte er ja einfach nur herausfinden, wie weit wir schon in unserer Beziehung sind.“ Orion lässt sich in seinem Stuhl zurückfallen und verschränkt die Arme. „Es war richtig, dass du nicht zugesagt hast“, befindet er mit geblähten Backen. Ich nicke. Ja, das finde ich auch. „Und du meinst, das hat ihn vielleicht verletzt?“ „Ich nicht, sondern Rika“, korrigiere ich Ukyo. „Sie ist der festen Überzeugung, sein niedergeschlagener Zustand habe mit mir zu tun. Ich habe versprochen, mit ihm zu reden. Ich werde ihn nachher besuchen gehen.“ „Was?“, fährt Orion hoch. Er ist sichtlich entsetzt von meinem Beschluss. „Du willst wirklich zu ihm nach Hause? Ganz allein?“ „Ich kann kaum mit Bodyguards bei ihm aufwarten“, erkläre ich. „Das würde ein sehr seltsames Bild ergeben.“ „Ich bin auch nicht dafür, dass du allein hingehst“, vertritt Ukyo. Ich seufze aus voller Brust. „Können wir vielleicht erst in Ruhe fertig frühstücken? Ich lasse mir schon etwas einfallen.“   Als Ausgleich für das Frühstück, das die Jungs hergerichtet haben, bediene ich den Abwasch. Viel Geschirr gibt es nicht zu spülen, trotz dass wir drei Personen sind. Die Arbeit geht mir schnell von der Hand, was ich fast bedauere. Zu gern würde ich länger hinauszögern, was heute noch vor mir liegt. „Brauchst du Hilfe?“ „Nein, ich bin fertig“, gebe ich an Ukyo zurück, der sich an meiner Seite eingefunden hat. Ein kurzer Blick durch die Küche zeigt mir, dass alles ordentlich eingeräumt ist. „Seid ihr mit dem Abräumen schon fertig?“ „Ja. Orion ist gerade im Bad.“ „Mhm.“ Ich lasse das Wasser ab und greife nach einem Handtuch, um meine Hände zu trocknen. Ukyo hat derweil begonnen, mit einem Geschirrtuch das Geschirr zu trocknen. Ich schließe mich dieser Aufgabe an. „Du, wegen gestern“, setze ich an, ohne mein Tun zu unterbrechen. „Ich bin gar nicht dazu gekommen, mich nochmal zu bedanken. Das Gespräch hat sehr gut getan und hat mir sehr geholfen. Danke dafür.“ „Nicht der Rede wert“, begegnet er mir mit einem freundlichen Lächeln. „Ich freue mich, wenn ich helfen konnte. Wenn ich weiterhin helfen kann, sag es mir bitte.“ „Ich müsste mich demnächst damit auseinandersetzen, was es mit dieser zweiten Arbeit auf sich hat. Und mein Geldbeutel sieht allmählich etwas mau aus. Ich hoffe, Waka zahlt demnächst ein wenig Lohn. Aber darauf kann ich zu Monatsanfang wohl eher nicht hoffen, hm?“ „Ach, das weißt du ja gar nicht. Du hast noch Erspartes.“ „Ach wirklich?“, frage ich überrascht. Er nickt zuversichtlich. „Es dürfte noch ausreichend für den übrigen Monat sein. Ich zeige es dir später, okay?“ „Das wäre gut. Danke.“ „Keine Ursache.“ Schweigen kehrt zwischen uns ein, während wir die restlichen Teller und das Besteck trocknen. Ich komme nicht umhin, Ukyo stumm von der Seite zu mustern, als er das Geschirr in die Schränke sortiert. „Wie geht es deinem Rücken?“ Fragend sieht er zu mir. „Meinem Rücken? Wieso?“ „Du hast dir doch bestimmt ‘n Bruch gehoben. Gestern.“ „Gestern?“ Ich beobachte auf seinem Gesicht, wie es in ihm arbeitet. Sekunden später scheint er zu verstehen und seine Wangen gewinnen an Farbe. „Du meinst, als ich …? N-nein, du bist … Können wir das bitte vergessen?“ „Sorry“, lache ich und nehme ihm das Geschirrtuch ab. Gewissenhaft hänge ich sie über ihre Halterung zum Trocknen. „Eigentlich sollte ich dich nicht damit aufziehen. Ich … bin dir dankbar. Egal, wie peinlich die Situation war. Danke, Ukyo.“ Er sieht von mir weg. Ich könnte mich irren, doch es wirkt, als schleiche ein trauriger Schatten über sein Gesicht. „Es gibt wirklich keinen Grund, mir zu danken.“ Ich weiß nicht, was er hat. Sein Flüstern ist so leise gewesen, dass ich ihn nicht verstanden hätte, hätte ich nicht direkt neben ihm gestanden. Auch wenn mich die Neugierde quält, ich befinde, besser nicht weiter nachzubohren. Am Ende mache ich es nur schlimmer. Was auch immer es ist. „Wegen der Sache mit Luka“, lenke ich daher um, „ich habe darüber nachgedacht. Ich möchte dich gern um einen Gefallen bitten.“ Ich warte, bis er mich ansieht, ehe ich fortfahre: „Ich würde gern Orion mitnehmen. Ist das okay für dich?“ „Orion? Ja, natürlich“, sagt er schnell. Er wirkt erleichtert, als er schwach lächelt. „Um ehrlich zu sein, ich wollte dich dasselbe bitten. Mir wäre es unlieb, wenn du allein gehst.“ Ich nicke verstehend. „Okay, dann machen wir’s so. Ich werde ihn gleich fragen, wenn er aus dem Bad kommt.“ „Danke.“ Ich beobachte ihn, wie er sich einen Espresso brüht. Als er sich anschließend in Richtung Wohnzimmer entfernt, folge ich ihm versetzt. Auf einer der Couchlehnen ihm gegenüber lasse ich mich nieder, wartend, wobei ich sein Gesicht studiere. „Ist alles in Ordnung mit dir? Du siehst müde aus“, spreche ich ihn an. Fragend sieht er auf, bevor er ein verlegenes Lächeln zeigt. „Ich habe die Nacht nicht gut geschlafen. Ich werde das nachholen, sobald ihr beiden weg seid.“ „Mhm.“ Still frage ich mich, ob sein Schlafmangel wohl auf mich zurückzuführen ist. Das muss es wohl, schließlich habe ich vergangene Nacht für ausreichend Tumult gesorgt. Verdammtes Gewissen! „Ich bin fertig“, höre ich Orion rufen. Sofort erhebe ich mich und gehe auf den Jungen zu. „Du, Orion? Darf ich dich um etwas bitten?“   Die genannte Adresse führt Orion und mich ins Stadtinnere. Etwas ratlos arbeiten wir uns über verschiedene Bahnlinien voran und irren durch mehrere Straßen. Am Ende stehen wir vor einem grauen Hochhaus, an dem wir zuerst dreimal vorbeigelaufen sind. Ich hätte schwören können, dass es sich dabei um ein Hotel oder modernes Büro handelt, doch nein. Noch einmal prüfe ich den Zettel in meiner Hand und schaue das mindestens zehn Stockwerk hohe Gebäude hinauf. „Das ist es? Sicher?“ „Wir sind alle Straßen in der Nähe abgelaufen“, meint Orion neben mir. Verdeutlichend hebt er den Arm. „Schau, dort steht die Hausnummer. Das muss es sein.“ „Ich hätte mir vorgestellt, dass ein Künstler wie Luka etwas … abgelegener wohnt?“ „Tja …“ Ich seufze. „Alles okay? Noch können wir umkehren und so tun, als seien wir nie hier gewesen.“ Ich lächle zu ihm runter. „Bisschen spät dafür, hm? Dann wären wir ganz umsonst hergekommen und hätten den ganzen Stress für nichts auf uns genommen. Außerdem … halte ich das für keine gute Idee.“ „Wegen Rika?“ „Mh.“ Ich nicke. „Ich soll ihr sagen, was rausgekommen ist. Ihr am Ende nichts sagen zu können, halte ich für nicht so klug.“ „Hast du Angst vor ihr?“ „Sagen wir, ich habe einen gesunden Respekt vor ihr. Außerdem denke ich nicht, dass mich ein Gespräch mit Luka umbringen wird.“ „Ja. Wohl nicht, hm?“ Noch einmal prüfe ich die notierte Anschrift auf meinem Zettel, ehe ich diesen in meiner Manteltasche verschwinden lasse. „Ab hier muss ich wohl allein weiter“, sage ich und richte meine Umhängetasche über die Schulter zurecht. Absichernd sehe ich zu Orion herunter. „Kannst du hier bitte irgendwo auf mich warten? Ich versuche, mich zu beeilen. Es kann aber sein, dass ich unter einer halben Stunde bis Stunde nicht wieder raus bin. Abhängig davon, wie lange mich Luka in Beschlag hält.“ „Kein Problem“, versichert er mir und lächelt. „Ich werde hier sicher etwas finden, um mir die Zeit zu vertreiben. Ich schaue, dass ich in der Nähe bleibe. Und sollten wir uns nicht finden, rufst du mich auf Ukyos Nummer an. Dann finden wir uns ganz bestimmt.“ Ich nicke. Vermutlich wird es darauf hinauslaufen, dass ich ihn anrufen muss. Wie gut, dass Ukyo weiter gedacht hat als ich. „Und wenn etwas ist“, sagt Orion weiter, „wenn du Hilfe brauchst oder eine Gelegenheit zur Flucht, ruf ebenfalls an. Kurz klingeln reicht. Ich hole dich dann da raus, egal wie. Versprochen!“ Seine Worte lassen mich lächeln. „Ja, ich vertraue darauf. Aber hoffen wir, dass es nicht so weit kommen muss.“ Wir verabschieden uns anschließend und ich sehe zu, wie Orion über die Straße verschwindet. Erst dann drehe ich mich herum und trete auf die Anlage zu, um diese Mission nur irgendwie hinter mich zu bringen. Bei den Klingeln stutze ich. Es sind keine Namen angebracht, lediglich vor jedem Knöpfchen steht eine Ziffer. Zur Vorsicht prüfe ich noch einmal den Zettel, bevor ich meine Wahl treffe. Ich warte. Gerade als ich erneut klingeln will, meldet sich eine männliche Stimme durch die Sprachanlage: „Ja, wer ist da, bitte?“ Ich schlucke. „Hi. Hier ist Shizana.“ „Shizana? Du?“ Er ist hörbar überrascht. Wie es scheint, hat er mit einem Besuch von mir nicht gerechnet. „Was führt dich denn hierher?“ „Sagen wir, ich wurde gebeten, vorbeizukommen.“ „Gebeten? … Ich komme sofort runter. Warte bitte drinnen auf mich, in Ordnung?“ Darauf ertönt ein Surren und ich werde eingelassen. Das Foyer ist groß und erinnert mich tatsächlich ein wenig an ein Hotel. Einen Empfang gibt es nicht, stattdessen sorgen Topfpflanzen und ein kleiner Wandbrunnen für ein freundliches Ambiente. Der dunkle Boden sieht edel aus und glänzt, könnte Marmor sein. Die Wände hingegen sind hell und mit funkelnden Schwarzflecken versehen. Linkerhand gibt es einen Fahrstuhl, der gerade in Bedienung zu sein scheint. Rechterhand führt eine Treppe sowohl nach oben als auch nach unten. Weiter hinten scheint es Abbiegungen zu den Seiten zu geben, vermutlich für Wohnungen. An der Decke entdecke ich zwischen der reich eingelassenen Beleuchtung ein blinkendes, schwarzes Etwas. Könnte ein Überwachungssystem sein oder vielleicht doch nur ein Rauchmelder? Neben mir blingt es einmal und als ich mich herumdrehe, geht gerade die Tür zum Fahrstuhl auf. Ein wohlbekannter Blondschopf tritt heraus und direkt auf mich zu. „Bitte entschuldige, falls ich eben unhöflich zu dir war. Ich habe nicht mit dir gerechnet“, erklärt sich Luka mir. Ich schüttle den Kopf. „Schon gut, du warst nicht unhöflich. Ich hätte mich auch lieber zuvor angekündigt, wenn die Umstände andere gewesen wären.“ „Ist etwas vorgefallen? Kann ich dir irgendwie helfen?“ „Nicht direkt“, sage ich und überlege, wie ich ihm mein Anliegen schildern soll. „Zumindest glaube ich, dass nichts ist. Deswegen bin ich hier, um das herauszufinden.“ Luka besieht mich fragend. Verübeln kann ich es ihm nicht, ich an seiner Stelle wäre ebenfalls verwirrt gewesen. „Ich verstehe nicht wirklich, was du meinst“, gesteht er, versieht es jedoch mit einem Lächeln. „Aber ich wäre erfreut, wenn du es mir erklärst. Magst du nicht mit rauf kommen auf eine Tasse Tee? Vielleicht kann ich dir doch behilflich sein.“ Ich nicke zustimmend und folge Luka in den Fahrstuhl. Es geht hinauf bis in die zwölfte Etage.   „Rika also“, greift Luka unsere kurze Unterhaltung vom Fahrstuhl auf, als er die Tür zu seinem Apartment aufschließt. „Was für eine aufmerksame Schwester. Dass sie dir meine Adresse geben würde, damit hätte ich nicht gerechnet.“ „Sie war wohl besorgt um dich.“ „Ist das nicht großartig? Rika ist immer so umsichtig mit mir. Welch bessere Schwester könnte man sich wünschen?“ Er lobt sie zu sehr, in meinen Augen. Schließlich scheint er zu vergessen, dass sie mich gedrängt hat, extra hierher zu kommen. Aber gut, noch habe ich ihm nicht gesagt, warum ich tatsächlich hier bin. „Fühl dich ganz wie zu Hause. Warte, ich nehme dir den Mantel ab. Ich zeige dir gleich alles.“ Kommentarlos lasse ich mir den Mantel abnehmen und schlüpfe aus meinen Schuhen. Im Anschluss folge ich Luka, der mich in den nächsten Raum führt. „Und, was sagst du? Ich hoffe, es ist nicht zu unordentlich.“ Verneinend schüttle ich den Kopf. „Es ist nicht unordentlich. Ich weiß nicht, wie du darauf kommst.“ Es stimmt. Der Raum ist groß, nur gering kleiner als das Wohnzimmer von Ukyo und mir. Die Wände sind hell und mit vielen bunten Bildern geschmückt. Anders als bei uns handelt es sich hierbei überwiegend um Gemälde in verschiedenen Stilen. Zwischen ihnen stehen vereinzelte Skulpturen, einige aus Gips und unbemalt, andere aus Ton und hochverziert. Auf verschiedenen Regalbrettern erkenne ich weitere Figuren, von Holz bis Stein scheint alles dabei zu sein. Manche davon haben eine so seltsame Form, dass ich nicht genau weiß, was sie eigentlich darstellen sollen. Und es gibt Pflanzen, in Hülle und Fülle. Der Raum selbst, so zugestellt er auch ist, ist wenig eingerichtet. Es gibt eine große Rundcouch, die den meisten Platz an der Fensterfront einnimmt. Sie scheint mir aus hellem Leder zu bestehen, ist aber größtenteils blau ausgepolstert. Viele Kissen, überwiegend schwarz und weiß bezogen, schmücken den Platz aus. Davor liegt ein weich aussehender Teppich aus hellem Langflor, auf welchem wiederum ein niedriger Glastisch steht. Auf ihm liegen allerlei Zeitschriften, Blöcke und Stifte außerhalb ihrer Halter verteilt. Das scheint mir das Einzige zu sein, was einigermaßen unordentlich wirkt. In der Nähe steht ein Fernseher, nicht sehr groß und ausgeschaltet. Das war’s. „Sieh dich ruhig um“, ermuntert mich Luka und geht an mir vorbei. „Es gibt nichts, was du dir nicht ansehen darfst. Kunst ist etwas Belebendes, nicht wahr? Was kann ich dir anbieten? Tee, Kaffee?“ „Ist mir egal“, sage ich und gehe weiter in den Raum hinein. Es gibt in diesem Zimmer so viel zu entdecken, dass ich sicher bin, mich locker Stunden rein mit Umsehen beschäftigen zu können. „Meinetwegen kann’s auch Wasser sein. Was du dahast.“ „Dann stört dich Kaffee hoffentlich nicht? Ich habe vorhin welchen aufgesetzt.“ „Ist okay. Mit Milch, wenn’s geht?“ Mit einem bestätigenden Zuspruch verschwindet Luka durch irgendeine Tür. Ich nutze die Zeit, um mich weiter in dem Zimmer umzusehen. Von irgendwoher dringt leise Musik und erfüllt den Raum mit klassischen Klängen. Es dauert ein wenig, bis ich den kleinen CD-Spieler entdeckt habe, der weiter oben auf einem der Regale steht. Er ist mit einem Soundsystem verbunden, das mehrere Boxen im gesamten Raum verbindet. Ich versuche mir den Surround vorzustellen, wenn ich meine Lieblingstracks in erhöhter Lautstärke darüber laufen lassen könnte. Bei der Couch entdecke ich eine Kommode im tiefen Mahagoni, die meine Aufmerksamkeit erregt. Keine Kunstwerke befinden sich darauf, sondern Fotografien. Allesamt schön eingerahmt und über Decken und kleine Podeste aufgestellt. Sie zeigen alle eine bestimmte Person: Rika. Mal im viktorianischen Stil, mal im farbenfrohen Kimono, auch schlichte Yukata und eine Schuluniform befinden sich darunter. Es scheinen Fotos aus verschiedenen Jahren zu sein; auf einigen schätze ich Rika nicht älter als vierzehn, bei anderen um die achtzehn. Es gibt nur zwei Bilder darunter, auf denen auch Luka zu sehen ist. Ihre Ähnlichkeit ist verblüffend, das wird deutlich, wenn beide nebeneinander gestellt sind. Zwischen den Fotos stehen einige Klappkarten. Neugierig nehme ich eine zur Hand und erkenne, dass es sich dabei um Gruß- und Geburtstagskarten handelt. Alle mit handschriftlichen Grüßen versehen. Rikas geschwungene Unterschrift ziert in jeder von ihnen. Sie hat eine wirklich beneidenswerte Handschrift, so kunstvoll und feminin. „Hier“, höre ich Luka neben mir sagen und schrecke zusammen. „Dein Kaffee.“ „Danke“, sage ich und stelle die Karte zurück, die ich eben noch bewundert habe. Anschließend nehme ich die Tasse entgegen, die Luka mir anbietet, und nippe vorsichtig an dem aromatischen Getränk. „Du hast wirklich viele Fotos von Rika. Ich konnte nicht widerstehen.“ „Viele halten sie für meine Freundin“, erklärt er und lacht, was mir einen kurzen Stich versetzt. „Oder ein Model. Sie hat einfach die Ausstrahlung dafür, findest du nicht?“ Darauf will ich nicht antworten. Es ist krank genug, seine eigene Schwester als »Freundin« zu bezeichnen und auch noch stolz darauf zu sein. Merkt er überhaupt noch, wie versessen er ist? Krank. „Da fällt mir ein“, schwenkt er um, „ich hatte dir versprochen, dir meine Arbeit zu zeigen, wenn du einmal zu Besuch kommst, richtig?“ Fragend sehe ich zu ihm auf. „Ich denke schon?“ „Das trifft sich sehr gut“, sagt er und strahlt mir breit entgegen. „Ich habe erst ein neues Kunstwerk vollendet. Vielleicht magst du es dir ansehen?“   Über einen Seitenbereich der Wohnung führt eine kleine Treppe auf eine andere Etage. Eine Tür trennt diesen Bereich vom Rest des Wohnraumes, was erklärt, warum ich nirgendwo Farbe riechen konnte. Doch hier ist es anders, kaum dass Luka den Raum für mich entriegelt hat. Der Geruch von Farbe ist hier allgegenwärtig. Der Raum ist klein, sicher keine zehn Quadratmeter, und extrem lichtdurchflutet. Überall hängen Gemälde, einige stehen am Boden gegen die Wand gelehnt, und ich erkenne eine große Staffelei an einem Ende des Raumes. Ein geräumiger Holztisch nimmt fast eine komplette Wandseite ein, der über und über voll Stifte, Papierbögen und Zeichengeräte ist. Über mehrere Wandregale stehen Töpfchen und Dosen von Farben, Paletten und andere Behälter. In den Ecken lehnen verschiedene Rollen, an einer erkenne ich Leinwandmaterial, und riesige Pappkartons. Alles hier schreit geradewegs nach Kunst, schlimmer als ich es zu Schulzeiten je erlebt habe. „Schau, hier drüben“, erregt Luka meine Aufmerksamkeit und führt mich in die Mitte des Raumes. Neben der Staffelei ist ein Bild auf ausgelegtem Zeitungspapier aufgestellt. Es zeigt ein Motiv, das mir bekannt vorkommt: zwei geflügelte Frauenwesen mit großen, prachtvollen Pflanzen um sie herum. „Was hältst du davon? Ich habe bei den Farben ein wenig experimentiert. Denkst du, es ist zu viel geworden?“ „Nein“, sage ich und schüttle den Kopf. „Die Farben sind umwerfend. Das Rot inmitten von Grün ist ein richtiger Blickfänger. Und dort hinten das vereinzelte Blau, ich finde es großartig.“ „Wirklich? Welch Glück.“ „Hast du an den Feen etwas verändert? Ich könnte schwören, auf den Skizzen hatten sie noch anders ausgesehen.“ „Ja, in der Tat.“ Luka geht die wenigen Schritte zu dem Tisch und beginnt in einem der Schubläden zu kramen. Mit einem Blatt in der Hand kehrt er kurz darauf zu mir zurück. „Ich finde, du hattest recht. Fantasiewesen wie Feen dürfen in ihrer Darstellung gelegentlich variieren. Ich habe ihre Formen verändert, sie haben jetzt mehr Bezug zu ihrer Umgebung. Schau, dieser hier zieren feine Äderchen die Haut, wie bei einem Blatt. Und hier, in ihrem Haar sind Pollen eingefangen. Hältst du die schorfen Stirnhöcker für übertrieben?“ „Ich finde es authentisch“, sage ich und lächle. „Sie wirken jetzt viel natürlicher und weniger verschönlicht. Du hast einen sehr guten Job gemacht.“ „Es freut mich, dass es dir gefällt.“ Während mir Luka erklärt, wie er bei seiner Arbeit vorgegangen ist, stört irgendwann ein Anruf seine Ausführungen. „Ein Kunde“, erklärt er mir, nachdem er einen kurzen Blick auf sein Handy geworfen hat. „Macht es dir etwas aus, kurz zu warten? Ich bin gleich zurück.“ Schon verlässt er das Zimmer und lässt mich in seinem Atelier zurück. Ich nutze die Zeit, mir einige seiner Kunstwerke näher anzusehen. Die Motive sind vielfältig und reichen von realem Stillleben bis zur freien Kunst. Eines haben sie alle gemeinsam: sie sind reich an Details und kräftigen Farben. Ich finde kein Einziges, das in irgendeiner Form untergeht. Er muss ein beneidenswerter Künstler sein. Während ich meine Runde drehe, gelange ich irgendwann zu einem kleinen Ecktischchen. Er wäre leicht zu übersehen gewesen, um ihn herum lehnen weitere Rollen und gestapelte Kleinkartons. Auf ihm entdecke ich etwas, was in dieser Wohnung Mangelware zu sein scheint: ein kleines Büchlein. Es ist nicht sehr groß, höchstens A5. Der dunkle Einband wirkt ledern und ist unbedruckt. Es scheint neu zu sein oder wurde zumindest gut behandelt. Möglicherweise ein Skizzenbuch, nach einem Roman sieht es mir jedenfalls nicht aus. Neugierig nehme ich es zur Hand und schlage den Umklappverschluss auf. Wie ich schnell feststelle, befinden sich keine Bilder darin. Keine Bleistiftskizzen, nichts in der Art. Stattdessen sind die ersten Seiten voll mit Handgeschriebenem auf blankem Papier. Und die Handschrift, sieht sie nicht aus wie meine? Ich blättere flüchtig über die ersten Seiten. Alle sind voll mit Geschriebenem, alle in derselben Handschrift. Ich bin verwirrt, denn je weiter ich schaue, desto fragloser wird es: das ist meine Handschrift, Kana hin oder her. Spätestens die Vermerke in Lateinschrift machen das unbestreitbar. Ich verstehe es nicht. Wieso hat Luka ein Buch voll mit Texten, die von mir stammen? Und das sind nicht einmal irgendwelche Texte … Was ist das überhaupt? Morgenseiten? Gedankenausschüttung? Es scheint viel Persönliches drin zu stehen. Ein Tagebuch etwa? Was immer der Grund ist, dass so etwas bei Luka liegt: Ich kann mir nicht vorstellen, dass es in meinem Einverständnis war. Was ich bislang überflogen habe, erscheint mir zu privat, um es aus der Hand zu geben. Nie im Leben hätte ich Luka erlaubt, so etwas an sich zu nehmen. Oder sonst irgendwem. Prüfend schleiche ich zur Tür und lausche nach draußen. Lukas Stimme ist undeutlich zu hören, vermutlich von irgendwo im Wohnzimmer. Ich fasse meinen Entschluss und lasse das Buch in meiner Tasche verschwinden. Es gehört nicht hierher, ganz sicher nicht. Nachdem ich mich vergewissert habe, dass weder dem Raum noch mir die Entwendung anzusehen ist, greife ich nach meiner Tasse und verlasse das Zimmer. Unten höre ich Luka, wie er weiterhin telefoniert. Bei der Couch bleibe ich stehen und spinne mir in meinem Kopf zusammen, wie ich am besten von hier wegkomme. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)