Zwischen den Welten von Shizana (Das Mary Sue-Projekt) ================================================================================ Kapitel 27: Was ihr Schicksal nennt ----------------------------------- Nur langsam dringt die laute, rockige Musik zu mir durch. In meinem Unterbewusstsein ordne ich sie dem Weckton meines Handys zu, doch alles in mir sträubt sich, diesem Ruf Folge zu leisten. Brummig drehe ich mich auf die andere Seite und ziehe die Decke ein Stück über mich. Nur noch fünf Minuten … Das nächste Mal, dass ich wach werde, verdanke ich einem zarten Klopfen an meiner Tür. „Shizana? Bist du schon wach? Du musst aufstehen.“ „Mmh …“ Ich rühre mich kaum. Stumm flehe ich um weitere Minuten, die man mir mein warmes Bett und diesen seligen Schlaf gönnt. Es sind nur Sekunden, bis das Klopfen erneut ertönt. „Shizana?“ „Bin schon wach“, grummle ich zur Antwort und schlage die Decke zurück. Meine Lider fühlen sich schwer an, ich fröstle, aber es hilft ja nichts. Müde blinzle ich in die Dunkelheit und nehme mir die Minuten, bis ich die Augen richtig auf bekommen habe. Ich strecke mich einmal ausgiebig und gähne, bevor ich mich erhebe. Vorsichtig steige ich über das Schlaflager vor meinem Bett und tapse hinüber zum Lichtschalter. Es klickt, doch nichts tut sich. Ich versuche es zweimal mehr, mit demselben Erfolg. ‚Ach, stimmt ja‘, dämmert es mir. Da war ja etwas … der Stromausfall. Scheint, als würde er andauern. Klar, es war gestern reichlich spät passiert. Eigentlich hatte ich es nicht anders erwartet. Mithilfe Gewohnheit und blindes Tasten bewege ich mich voran. Mir fehlt jegliche Lichtquelle, draußen ist es noch duster und die Straßenlaternen sind aus. Zum Glück kenne ich die Schritte und schaffe es dennoch, mich zu orientieren. Schließlich bin ich angezogen und öffne das Fenster auf Kipp. Ein letzter Blick durch das dunkle Zimmer bestätigt mir, dass von Orion jede Spur fehlt. Sein Nachtlager ist leer. Seltsam, sollte er schon auf den Beinen sein? Der Kleine muss ein echter Frühaufsteher sein, ganz im Gegensatz zu mir. Was für ein unruhiger Geist. Ich mache mir nichts daraus und verlasse das Zimmer. Draußen empfängt mich warmes Kerzenlicht, das die Wohnung einigermaßen erkennbar erhellt. Am kleineren Küchentisch mache ich Ukyo ausfindig, den Laptop vor sich auf dem Tisch. Ich geselle mich zu ihm auf meinen Platz, was ihn sofort aufsehen lässt. „Ah, endlich. Du bist wach“, empfängt er mich lächelnd und klappt das Display herunter. Er schiebt den Laptop zur Seite und hebt eine braune Papiertüte hervor, die irgendwo zu seinen Füßen gestanden haben muss. „Wir haben noch immer keinen Strom“, beginnt er zu berichten, wobei er in die Tüte greift. „Die ganze Nachbarschaft in der Straße ist betroffen. Die Straßenlaternen sind auch aus, aber ich glaube, daran wird demnächst gearbeitet. Ich habe Handwerker auf dem Weg gesehen. Leider konnte ich uns keinen Kaffee machen, deswegen bin ich in die nächste Bäckerei gegangen und habe uns dort etwas geholt. Hier, für dich einen Cappuccino. Ich hoffe, er schmeckt und ist noch warm. Die Bäckersfrau sagt, sie wusste nicht, dass in unserer Straße der Strom ausgefallen ist.“ Stumm nehme ich den zugedeckten Becher entgegen, den er mir reicht. Er ist in Alufolie eingewickelt, was mich wundert. Heiß ist er nicht mehr, höchstens lauwarm, als ich daran nippe. Trotzdem noch besser als gar nichts. In der Zwischenzeit legt Ukyo eine kleinere Tüte vor mir ab und erhebt sich, nur um kurz darauf mit den beiden Boxen zurückzukommen, die Ikkis und meine Gebäckstücke enthalten. Er redet unaufhörlich dabei, was mich dezent überfordert. „Danke für das Frühstück“, sage ich, als Ukyo mir wieder gegenübersitzt, und wickle das belegte Baguette zurück in seine Verpackung. „Das nehme ich mit auf Arbeit. Wo ist Orion?“ „Ähm, also … Er ist nicht mehr da.“ Fragend sehe ich auf. „Wo ist er denn?“ „Also …“, beginnt er zögernd und sieht mich an. Nervös spielen seine Hände mit dem Becher, drehen ihn hin und her. „Werd bitte nicht wütend. Er sagte, ihm ist unwohl, wenn wir nichts wegen dieser Unfälle unternehmen. Er wollte unbedingt mit Niel reden und ist losgegangen, um ihn zu suchen.“ „Was?“ „Er war schon unterwegs, als ich vom Bäcker zurückkam. Er sagte, er weiß, wo sich Niel aufhält. Oh, und du sollst bitte nicht böse auf ihn sein. Er will versuchen, etwas herauszufinden, das uns weiterhilft.“ „Wieso hast du ihn nicht davon abgehalten?“, mache ich Ukyo zum Vorwurf. Betroffen zieht er die Schultern zusammen. „Ich … ich hatte keine Argumente. Außerdem … finde ich, dass er recht hat.“ „Aber wir haben doch gestern ausgemacht, dass wir das zusammen entscheiden.“ Ich seufze frustriert. Die Enttäuschung ist groß, dass Orion unser Versprechen gebrochen hat. Auch wenn ich weiß, dass es nicht in böser Absicht geschah. Nichtsdestotrotz bin ich verletzt. „Es tut mir leid“, spricht Ukyo nach einiger Zeit. „Ich wollte nicht, dass du dich hintergangen fühlst. Du hast uns gebeten, auf deine Entscheidung zu warten. Aber … versteh bitte.“ „Was soll’s“, gebe ich knapp zurück. Mir ist jetzt nicht nach Entschuldigungen zumute und noch weniger nach Diskussionen. Es ist ohnehin zu spät. Wir nehmen unser Frühstück schweigend zu uns. Als ich aufstehe, um meinen Platz zu räumen, tut es mir Ukyo gleich und folgt mir auf Abstand in die Küche. „Hast du etwas dagegen, wenn ich dich nachher zur Arbeit begleite?“ Prüfend sehe ich ihn an. „Generell nicht, aber wozu die Umstände?“ „Es ist mir lieber, wenn ich dich sicher angekommen weiß“, erklärt er leise. Mir entgeht der traurige Schatten nicht, der über seinen sonst so weichen Zügen liegt. „Nach all den Vorfällen in den letzten Tagen … Ich habe Angst, dass noch etwas passieren könnte. Und wenn ich dann wieder nicht da bin, um dich zu beschützen … Ich habe es versprochen.“ „Ukyo …“ Armer Kerl. Er wirkt so betroffen, dass ich ihn in die Arme nehmen will. Ihm sagen will, dass alles gut ist. Obwohl ich bis vor einer Minute noch böse auf ihn sein wollte, wünsche ich mir jetzt nichts sehnlicher, als dass er lächelt. Ich möchte ihn nicht so bekümmert sehen. „Ich verstehe dich“, sage ich leise und wende mich ab. Ich suche nach etwas, was ich in der Küche tun kann, doch es gibt nichts, womit ich mich ablenken könnte. „Begleite mich ruhig, ich habe nichts dagegen. Ich würde mich sogar freuen.“ Ukyo sagt nichts, ich sage nichts. Als ich zu ihm sehe, tauschen wir ein vorsichtiges Lächeln. „Ich gehe mich fertig machen“, bekunde ich und wende mich ab. Im Vorbeigehen lege ich Ukyo eine Hand an den Oberarm, danach verschwinde ich in mein Zimmer.   Geschafft. Meine Tasche für die Arbeit ist gepackt plus der, in der ich meine Sachen für heute Abend verstaut habe. Mir bleibt zu hoffen, dass meine Wahl für die Ausstellung genügen wird. Ich habe das Beste zusammengesucht, das ich zu bieten habe. Make-up, Bürste und Kontaktlinsen sind ebenfalls von der Partie. Ärgerlich, ich hätte mich gern zu Hause in aller Ruhe zurechtgemacht, aber nein. Dank Lukas tollen Plan wird mir kein Zeitfenster bleiben. Ich werde mich wohl oder übel im Meido umziehen müssen, anders geht es nicht. Na, das kann ja stressig werden. Sei’s drum. Als Nächstes muss ich die Kuchen für Ikki zusammenstellen und alles im Flur platzieren. Es ist jetzt zehn vor sieben, keine Zeit für unnütze Eitelkeit. Ich werde die letzten Handgriffe an mir im Meido vollrichten müssen. „Shizana?“ „Hier, in der Küche.“ „Es ist ein Brief für dich gekommen. Das habe ich vergessen, dir zu sagen.“ Verdutzt drehe ich mich Ukyo zu und strecke die Hand nach dem weißen Umschlag aus, den er mir entgegenhält. Seltsam, ich habe noch nie Post bekommen, seit ich in dieser Welt bin. Wer könnte mir schreiben? „Die Polizei“, verkünde ich, nachdem ich den Absender geprüft habe. Im ersten Moment bin ich verwundert und durchforste meine Erinnerungen, was ich verbrochen haben könnte. Erst als ich das Blatt entfaltet und die ersten Zeilen überflogen habe, fällt der Schrecken von mir ab und ich atme erleichtert auf. „Eine Einladung zur Zeugenaussage“, sage ich an Ukyo gewandt. „Es geht um den Unfall vor einer Woche. Ich soll nächsten Donnerstag aufs Revier kommen. Uh, das hatte ich fast vergessen …“ „Ach so“, entlässt er und übernimmt das Schreiben. „Ich war mir nicht sicher, als ich den Absender gelesen habe. Ich habe schon das Schlimmste befürchtet.“ „Ich auch“, gestehe ich und grinse schief. Während Ukyo liest, verschränke ich die Finger, hebe sie unter mein Kinn und wippe unruhig hin und her. „Woah, ich hatte noch nie mit der Polizei zu tun. Das ist das erste Mal, dass ich auf ein Revier muss. Ich bin echt nervös …“ „Es ist nur für eine Zeugenaussage.“ „Ja, aber trotzdem.“ Er lächelt aufmunternd, faltet das Papier zusammen und schiebt es zurück in den Umschlag. „Passt der Termin denn mit deiner Schicht im Meido? Sonst musst du dort Bescheid sagen.“ „Das weiß ich nicht aus dem Kopf, müsste ich nachschauen. Sollte aber gehen, denke ich.“ „Gut. … Möchtest du, dass ich mitkomme?“ „Zu dem Termin? Naja, wenn es bei dir passt? Mir wäre wohler, wenn ich nicht allein hin muss.“ „Ich versuche es“, verspricht er und lächelt mir zu. Dann plötzlich, wie aus dem Nichts, schleichen Bedenken auf sein Gesicht. Seine Augen verlieren an Glanz, werden trüb, während ich zusehe, wie sein Lächeln verschwindet. Auf einmal wirkt er zutiefst traurig, ohne dass ich den Grund verstehe. „Ukyo?“, spreche ich ihn vorsichtig an. „Alles okay? Bedrückt dich etwas?“ „Ah! Nichts, nichts“, überstürzt er, ringt sich ein falsches Grinsen ab und dreht sich zur Seite. „Ach ja, heute kommt der Vermieter mit den Maurern. Wegen dem Balkon. Sie wollen versuchen, ihn heute zu reparieren.“ „Schaffen die das denn?“, gehe ich mit dem Thema und linse skeptisch in Richtung geschlossener Balkontür. Vor meinem geistigen Auge reflektiere ich den Schaden, der sich dahinter erstreckt. „Das wissen wir nicht. Es wird bestimmt einige Zeit dauern, mehrere Stunden auf jeden Fall.“ „Kostet uns das extra? Wegen den Bauarbeitern und Materialien und so?“ „Mh, ich denke nicht“, überlegt er laut. „Es war ja kein willkürlicher Schaden und so etwas ist für gewöhnlich abgesichert.“ „Ich weiß nicht, ob wir uns das leisten könnten“, gebe ich zu bedenken. „Ich will gar nicht wissen, wie viel uns das kosten würde. Mir wird schon ganz flau, wenn ich daran denke, wie viel ich noch im Portemonnaie habe. Und bis zum nächsten Lohn dauert es bestimmt noch …“ „Ach ja! Das habe ich auch ganz vergessen.“ Ohne Vorwarnung wirbelt Ukyo herum und winkt mir, ihm zu folgen. Im Flur stoppt er am Garderobenschrank, öffnet dort eine der Schubladen und holt einen kleinen, vergriffenen Umschlag hervor. „Wie viel hast du noch? Ich wollte dir schon die ganze Zeit sagen, wo das zurückgelegte Geld liegt. Du hast auch ein eigenes Bankkonto. Warst du schon einmal bei der Bank?“ „Nein?“ Ich lasse mir erklären, wie ich Zugriff auf mein Erspartes bekomme und wo sich die nächste zuständige Bank befindet. In dem Kuvert befinden sich mehrere tausend Yen, von denen mir Ukyo einen Anteil reicht. Genug, dass ich einige Tage über die Runden kommen dürfte. „Wenn du mehr brauchst, nimm es dir heraus“, weist er mich an und geht sicher, dass ich sehe, wo er die Notscheinchen versteckt. „Du musst nicht fragen, das Geld gehört uns beiden. Leg aber am besten wieder etwas hinein, wenn du das nächste Mal Lohn bekommst. Es kann immer sein, dass man einmal schnellen Zugriff darauf braucht.“ „Okay“, bestätige ich und nicke. Erneut zähle ich das Geld in meiner Hand und falte es anschließend, um es später leichter verstauen zu können. „Danke“, wende ich mich wieder Ukyo zu, „das rettet mich. Ich hatte vergessen, dich zu fragen, und es wäre mir zugegeben ein wenig unangenehm gewesen. Aber jetzt weiß ich Bescheid und muss mir wenigstens darum keine Sorgen mehr machen. Danke nochmal, Ukyo.“ „Nicht dafür“, erwidert er mein Lächeln. Sein Blick senkt sich, schweift hinüber zu der Schublade, in die er den Umschlag gelegt hat, und bleibt daran haften. Wie vorhin glaube ich, Trübsinn an ihm zu erkennen, den ich mir nicht erklären kann. Ukyo ist ganz offensichtlich in Gedanken versunken, denn obwohl ich warte, verharrt er unbewegt in Schweigen. „Was ist denn los?“, hinterfrage ich sanft. „Du bist heute so abwesend. Gibt es etwas, worüber du reden möchtest?“ „Ah, tut mir leid!“, schreckt er hoch. Er wirkt kurz desorientiert, als habe er vergessen, bei welchem Thema wir zuletzt stehengeblieben sind. Als es ihm wieder einfällt, so meine Vermutung, lächelt er verdrossen. „Es ist nichts, wirklich. Alles in Ordnung. Ähm, wir müssen langsam los, nicht? Hol doch schon einmal deine Sachen, ich warte unten auf dich.“   Es ist hell draußen geworden, jedenfalls ausreichend, dass man trotz fehlendem Laternenlicht sehen kann. Auf der Straße begegnet uns ein Aufgebot an Werksfahrzeugen und Leuten, die über beide Seiten verteilt stehen, laut redend und planend. Elektriker und Energieversorger, wie ich den Aufdrucken an den Kleinlastern entnehme und mir Ukyo bestätigt. Scheint, als würde sich endlich jemand um die gerissene Leitung bemühen. Wobei, an sich ging das schneller, als erwartet. „Ob wir heute Abend wohl wieder Strom haben?“, frage ich an Ukyo gewandt. „Gut möglich“, vermutet er und führt uns sicher an dem Tumult vorbei. „Ich denke, das wird eine Weile dauern. Aber die Stadt ist bestimmt bemüht, dass alles wieder funktioniert, bevor es dunkel wird.“ „Mhm“, bestätige ich nickend. Ich sehe mich um, ohne es wirklich zu wollen, und verschaffe mir einen Überblick zu dem, was mir gestern größtenteils entgangen ist. Die Straße sieht aus wie gewohnt, auch der Gehweg scheint unbeschädigt. Das Auto, dessen Sirenen mich nahezu taub gemacht hatten, hat seinen Platz verlassen. Vermutlich wurde es abgeschleppt. Nichts weist auf einen Vorfall hin, der einen Menschen beinah das Leben gekostet hätte. Lustig, ich könnte es glatt unter Paranoia verbuchen, aber die Erinnerung spricht anders. „Im Nachhinein wirkt es immer so harmlos“, murmelt Ukyo leise. Fragend sehe ich auf, doch er lächelt nur. Ich forsche, ob sich auf seinem Gesicht irgendwo Missmut verborgen hält, den ich dachte, gehört zu haben. Fündig werde ich nicht, weswegen ich nichts sage und brav folge, als Ukyo strikt an allem vorbeizieht.   Auf unserem Weg versuche ich, Ukyo in ein Gespräch zu verwickeln. Orion kommt mir als Erstes in den Sinn und ich frage ihn, ob der Kleine noch etwas gesagt hat, bevor er zu Niel aufgebrochen ist. Ukyo gibt mir dieselbe Antwort wie zuvor, dass er ihn auf seinem Rückweg von der Bäckerei getroffen hat. In ihrem kurzen Gespräch habe er nur gesagt, dass ihn die vielen Unfälle beunruhigen und er so schnell es geht mit Niel darüber reden will. Erneut bittet er mich, dass ich es Orion nachsehe und legt mir ans Herz, dass er nur aus Sorge gehandelt hat. Meine Wut ist inzwischen verflogen, doch ich gestehe, dass mir Niels Hinzuziehen wenig behagt. Am wenigsten, wenn nicht ich es bin, die mit ihm spricht. Freundlich wie immer geht Ukyo auf meine Fragen und Bedenken ein, ist sonst aber sehr still. Spät fällt mir auf, wie knapp seine Antworten sind, stets aufs Thema bedacht und ohne jede Eigeninitiative. Ich versuche, mir einen Reim anhand seiner Körpersprache zu machen. Er hält Distanz zu mir, seine Haltung wirkt angespannt und Besorgnis zeichnet sich auf seinem Gesicht ab. Bei jeder kleinen Regung um uns sieht er auf, als erwarte er einen Überfall. Ich halte einen Meteoritenregen zwar für unwahrscheinlich, doch so oft, wie Ukyo den Himmel prüft, ist er da anderer Ansicht. „Ukyo, alles okay bei dir?“ „Hm? Ja, ich … mache mir nur Sorgen“, meint er und lächelt unbeholfen. „Entschuldige, habe ich etwas verpasst? Ich höre dir wieder zu.“ „Sicher, dass alles okay ist? Du bist so ruhig im Vergleich zu sonst.“ „Ja, alles okay.“ „Hm.“ Nachdenklich lege ich den Kopf zur Seite und mustere ihn einen Moment länger. Sein Gesicht erscheint mir auffallend blass, die Augen unterschattet und glanzlos. Seine Mimik birgt wenig Elan und mangelt an Überzeugung. Was immer es ist, Sorge allein kann nicht dahinterstecken. „Du siehst nicht gut aus“, merke ich an. „Hast du schlecht geschlafen? Du siehst aus, als gehörtest du ins Bett.“ „Eh? Wie … wie kommst du denn darauf?“ „Du bist sehr blass und siehst müde aus. Vielleicht gehst du besser nach Hause und ruhst dich ein wenig aus.“ „Nein, geht schon. Ich …“ Er zögert. „Ich bin nur seit Früh wach. Aber mir geht es gut, wirklich.“ „Wie früh?“, hake ich nach. „Vielleicht schläfst du zu wenig. Wann hast du das letzte Mal so richtig ausgeschlafen?“ „Ich …“, setzt Ukyo an, stockt jedoch. Schweigend wendet er den Blick von mir ab, was ich ihm gleichtue. „Du schläfst generell recht wenig in letzter Zeit“, stelle ich irgendwann fest, nachdem ich die letzten Tage auf Ukyos Schlafverhalten untersucht habe. „Kann das sein? Orion meinte gestern, dass du die ganze Nacht nicht zu Hause warst. Zumindest seien deine Sachen nicht da gewesen. Stimmt das?“ Er sagt nichts, was mir mehr Raum für eigene Überlegungen lässt. Streng genommen ist dieser Verdacht nicht neu. In den vergangenen Wochen habe ich mich des Öfteren gefragt, wo Ukyo so lange bleibt oder ob er schon so früh unterwegs ist. Ich habe es immer auf seine Arbeit geschoben, über die ich nichts weiß, oder dass er einen anderen Schlafrhythmus hat. Aber kann ich mir sicher sein? Woher soll ich wissen, welche Gewohnheiten für Ukyo »normal« sind? Wie viel er für gewöhnlich schläft, welche Zeiten für ihn gelten? Ich kenne ihn nicht sehr lange und dem Spiel waren solche Informationen nicht zu entnehmen gewesen. Was, wenn mir etwas Wichtiges entgangen ist? „Was weißt du schon?!“, dringen die Worte in mein Bewusstsein. Klar und deutlich klingt die dunkle Stimme in meinem Kopf. Die Missgunst und Abscheu darin erschüttern mich, nicht minder wie an jenem Abend. „Was glaubst du über ihn zu wissen? Heuchlerin, du weißt nicht das Geringste!“ Instinktiv fahren alle Mauern in mir hoch. Ich will mich an diesen Wahnsinn nicht erinnern, doch ich weiß, dass ich es muss. Etwas Entscheidendes steckt in diesem Vorwurf, nur was? Verdammt, denk nach! Was hatte mir der andere Ukyo damit sagen wollen? „Sag mal“, beginne ich nach einigem Grübeln, „an dem Abend, als das mit dem Balkon war … Da hat der andere …“ „Sieh mal“, fällt mir Ukyo ins Wort. „Da vorne, schau!“ „Was?“ „Da ist Niel!“ Verdattert folge ich seinem Fingerzeig, und tatsächlich: dort steht er. Ich erkenne ihn unweit bei der Bahnhaltestelle, wenn auch erst auf den zweiten Blick. Vor ihm sitzt eine zierliche Frau, ergraut vom hohen Alter und mit Gehhilfe, mit der er sich angeregt unterhält. Dieses Bild ist so alltäglich, dass ich mein Sehvermögen anzweifle. Ukyo beschleunigt seinen Schritt, bevor ich es verhindern kann. Im selben Moment hebt die Alte ihren Arm in unsere Richtung, worauf Niel zu uns sieht. Er verbeugt sich eilig vor ihr, bedankt sich sichtlich, bevor er sich herumdreht und uns hoch winkend entgegenkommt. „Niel“, empfängt ihn Ukyo zuerst, während ich noch am Aufholen bin. „Ukyo, schön dich zu sehen“, erwidert Niel fröhlich und lächelt ihm offen ins Gesicht. Ohne das Basecap wirkt er sehr viel freundlicher, nahbar und ernüchternd gewöhnlich. Bis auf den seltsam femininen Klang seiner Stimme erinnert nichts an den skurrilen Fremden, als der er mir das erste Mal begegnet ist. „Ach, wie gut“, jauchzt er befreit. „Ich habe also doch alles richtig gemacht. Bahn fahren ist ja so aufregend! Wieso haben wir das damals nie gemacht?“ „Wieso bist du hier?“, übergeht Ukyo seine Frage. „Wo ist Orion? Er wollte zu dir.“ „Oh ja, das war er. Deswegen bin ich hier.“ Sein Blick schweift zu mir, kaum dass ich neben Ukyo herangetreten bin. Mir scheint, als husche ein flüchtiger Schatten über sein Gesicht, doch sein frohes Strahlen widerlegt diese Vermutung. „Ah, da ist sie ja! Zu dir wollte ich.“ „Zu mir?“ „Ja, ja“, bekräftigt er und nickt euphorisch. Im nächsten Moment wird er ernst. „Ich habe beunruhigende Dinge über dich gehört. Wir müssen reden, jetzt gleich.“ „Ich … bin gerade auf dem Weg zur Arbeit.“ Ratlos sehe ich zu Ukyo, der mein Ersuch nicht erwidert. Erst etwas versetzt dreht er sich mir zu und lächelt dünn. „Schon gut“, spricht er sanft. „Redet ihr, es ist bestimmt wichtig. Niel ist extra den Weg hergekommen. Er kann dich den Rest zur Arbeit begleiten, dann habt ihr ein wenig Zeit.“ „Und was ist mit dir?“ „Ich werde zurückgehen. Ich will euch nicht stören.“ „Du störst doch nicht“, protestiere ich leise. Stumm flehe ich, dass er bleibt und mich vor dieser unangenehmen Situation bewahrt. Nach dem, was zuletzt zwischen Niel und mir vorgefallen ist, möchte ich nicht mit ihm allein sein. „Wir können doch zusammen gehen, wenn’s keinen stört. Du weißt eh über alles Bescheid“, argumentiere ich, doch Ukyo schüttelt den Kopf. „Es ist besser, wenn ich gehe. Nur keine Sorge, bei ihm bist du sicher.“ Ich will widersprechen, doch Ukyo kommt mir mit einem Lächeln zuvor. Wehmütig lasse ich ihn Abschied nehmen und sehe zu, wie er sich abwendet und in entgegengesetzter Richtung entfernt. Er ist noch nicht ganz außer Sicht, da spricht Niel an meiner Seite: „Ukyo ist ein guter Mensch. Er hat sich kaum verändert in all der Zeit. Nach allem, was er durchlebt hat … Es erscheint mir wie ein Wunder. Hm, wir haben wohl nicht viel Zeit. Arbeit ist etwas Wichtiges für euch Menschen, nicht? Also dann, wo müssen wir lang?“   Ich weiß wirklich nicht, was ich von Niel halten soll. Es fällt mir schwer, zu glauben, dass er ein Gott sein soll. Oder der Geisterkönig, wie auch immer. Seit wir losgelaufen sind, erzählt er ununterbrochen von seiner Anreise und jubiliert die kleinsten Dinge, die für uns Leute ganz alltäglich sind. Er wirkt wie ein Kind, das zum ersten Mal Fuß in die Welt hinter der heimischen Türschwelle gesetzt hat. Naja, so weit scheint mir das nicht hergeholt zu sein. „Es sieht so einfach aus“, erzählt er, wobei er das Reisen via Nahverkehr meint, „aber in Wahrheit ist es sehr viel komplizierter, habe ich erkannt. Erstaunlich, dass ihr Menschen das jeden Tag macht und ganz selbstverständlich damit zurechtkommt. Wirklich faszinierend. Und wie schnell man damit von einem Ort zum anderen kommt! Und es macht so viel Spaß! Ist das nicht großartig? Ihr Menschen habt so unglaubliche Ideen, wenn es darum geht, eure Welt und euer Leben interessant zu gestalten. Ich werde nicht satt, euch dabei zuzusehen, welch große Visionen ihr euch verwirklicht. Dass ich das jetzt alles aus nächster Nähe erleben darf …“ „Sag mal“, mache ich mir die Lücke zu Nutze, die er sicher unabsichtlich gelassen hat, „wo ist Orion jetzt? Sagtest du nicht, er sei bei dir gewesen?“ „Oh ja, das war er“, meint er wie beiläufig. „Es hat mich sehr überrascht. Das Geschäft war noch gar nicht geöffnet, trotzdem hatte ich Kundschaft! Doch dann war es nur Orion und er war ganz außer Atem. Er hat sofort zu erzählen begonnen: Niel-sama, Niel-sama! Ich muss mit Euch reden, es ist wichtig!“, versucht er einen Orion zu imitieren, wobei seine Stimme zu kindlich gerät. Er klingt ihm wesentlich ähnlicher, wenn er normal spricht, aber das erwähne ich nicht. „Wieso ist er nicht bei dir?“, frage ich weiter. „Ich hätte vermutet, dass er dich begleitet.“ „Na, jemand muss doch aufs Geschäft aufpassen.“ Ich falle aus allen Wolken. Orion, allein in einem Blumengeschäft! Mein Gott, der Arme. Kommt er zurecht? Weiß er denn, was zu tun ist, wenn … Ein lautes Lachen unterbricht meine wüsten Gedanken. Zu spät bemerke ich, dass mein entsetzt dreinblickendes Gesicht Niel so amüsieren muss. Na wunderbar, das habe ich von meiner lebhaften Fantasie. Wie peinlich. „Orion hat mir alles erzählt“, lenkt er auf unser ursprüngliches Thema zurück. „Ich hatte gehofft, ich würde mir zu große Sorgen machen, und dass meine Befürchtungen unbegründet seien. Aber … ich gebe zu, es fiel mir schwer, daran zu glauben. Aus dem Grund habe ich Orion zu dir geschickt. Er sollte die Lage für mich überwachen, nur um sicherzugehen. Jemand sollte an meiner statt in deiner Nähe sein, falls etwas passiert. Es war die richtige Entscheidung.“ Er macht eine Pause, in der er nachzudenken scheint. „Orion hat mir berichtet, dass du kürzlich beinah in die Tiefe gestürzt wärst. Und gestern hat dich eine Stromleitung nur knapp verfehlt. Stimmt das?“ Ich nicke verkrampft. „Ja.“ „Und diese Unfälle“, betont er, „sind binnen weniger Tage passiert. Stimmt das ebenfalls?“ Erneut nicke ich. Niel kehrt in Schweigen ein. In diesem kurzen Moment, in dem seine Züge entspannen, erkenne ich eine Reihe an Emotionen durch seine Augen ziehen. Tiefste Betroffenheit lässt das Blau seiner Augen dunkler erscheinen. Es überrascht mich. Im Spiel habe ich ihn nie als sonderlich empathisch empfunden. Eigentlich ein Widerspruch, wenn man bedenkt, was er tut oder zumindest versucht. Habe ich ihn so falsch eingeschätzt? „Es tut mir leid, zu hören, was du durchmachst“, sagt er, so zart, dass es nahezu tröstlich klingt. „Bestimmt hattest du Angst. Es ist betrüblich, welch furchtbare Dinge du durchleiden musst … Unseretwegen. Nicht nur Mari, auch ich trage eine ebenso große Verantwortung an dieser Situation. Ich muss dich um Verzeihung bitten.“ Ich senke den Kopf und weiche ihm aus. Es stimmt, was er sagt, so gern ich es bestreiten möchte. Doch dem zuzustimmen würde nichts besser machen, im Gegenteil. Also schweige ich. „Es gibt etwas, das ich dir sagen will“, führt Niel fort. „Du musst wissen, wie die Dinge funktionieren, um deine Lage besser zu verstehen.“ Mir scheint, als diene die gelassene Pause dem einzigen Zweck, dass ich aufsehe. Denn erst als sich unsere Blicke begegnen, und sich Niel meiner ungeteilten Aufmerksamkeit vergewissert hat, erzählt er: „Jedem Wesen ist ein fester Platz in einer Welt zugeteilt. Jedes Leben, das entsteht, erfüllt im Laufe der Zeit eine ihm allein zugewiesene Rolle. Ihr Menschen habt ein Wort dafür: Schicksal. Was ihr Schicksal nennt, ist das Bestreben der Welt, in weiser Voraussicht und zu jeder Zeit für innere Ordnung und ein stetes Gleichgewicht zu sorgen. Sie folgt dafür sehr strengen Regeln, die unumgänglich sind. Eine davon ist, jedes Leben, das Kraft fremden Einwirkens in eine ihm nicht zugedachte Welt eingeschleust wird, konsequent und restlos zu eliminieren. Bevor sich sein Schicksal neu geschrieben hat.“ Ich schaudere bei seinen Worten. Was bislang eine bloße Vermutung war, ist nun grausige Gewissheit. Es stimmt, dass die Welt meinen Tod will. Die Erkenntnis lähmt alles Empfinden in mir. Mehr denn je wünsche ich, dass alles nur ein Traum ist. Ein bittersüßer Traum, in dem alles Übel verschwindet, sobald ich meine Augen öffne. „Shizana“, dringt Niels sanfte Stimme in mein Bewusstsein. „Hör zu, hör mir jetzt gut zu. Du bist in noch größerer Gefahr, als wir angenommen haben. Deine Existenz war für diese Welt nie vorbestimmt und wird als eine ernstzunehmende Bedrohung angesehen. Allein dass du hier bist, verändert vieles und interferiert mit der vorgesehenen Weltenordnung. Die Welt versucht daher, dich mit allen Mitteln zu entfernen, bevor dein Einfluss zu groß und unwiderruflich wird. Ihr bleibt nur begrenzt Zeit dafür, deswegen wird sie …“ Ich höre kaum zu. Meine Gedanken driften zu dem Spiel, der Serie, die »Amnesia« bislang für mich gewesen war. Es erscheint mir absurd, dass ich sterben soll. In einer fiktiven Welt noch dazu. Was geschieht, wenn das passiert? Bin ich dann tot, so richtig? Welche Auswirkung hätte das auf meine Welt? Wäre es, als wäre ich nie geboren worden? Als hätte ich nie existiert? Würde ich aus den Erinnerungen meiner Liebsten verbannt? Und die Leute in dieser Welt – Ukyo, Ikki und die anderen – würden sie mich genauso vergessen? Ist mein Leben, meine Existenz, denn wirklich … Etwas packt mich am Handgelenk und zieht mich herum. Ich japse und erschrecke, Niels Gesicht so nah vor meinem zu sehen. „Hör mir zu“, spricht er beruhigend, aber eindringlich. „Ich weiß, was ich dir sage, ist nicht leicht zu verstehen, aber höre mir bis zum Ende zu. Ich sagte, dass die Regeln unumgänglich sind, doch das ist nicht richtig. Das Weltensystem birgt zahllose Schwachstellen. Durch sie werden Wunder ermöglicht. Dass du hier bist, ist der Beweis. Du kannst deinem Schicksal entgehen.“ Ich horche auf. Zum ersten Mal in diesem Gespräch verspüre ich so etwas wie Hoffnung in mir. Gleichzeitig werde ich misstrauisch. „Ist das nicht widersprüchlich? Warum ändert die Welt die Regeln nicht, um diese Schwachstellen zu decken?“ „Sie kann nicht“, sagt er, lässt von mir ab und setzt sich in Bewegung. Ich folge ihm eilig. „Diese Regeln stemmen die gesamte Weltenordnung. Nur eine Änderung könnte dafür sorgen, dass das Leben nicht mehr so funktioniert, wie wir es gewohnt sind. Es ist daher von Vorteil, die Regeln zu kennen und ihre Lücken richtig zu nutzen. Oh, nur keine Sorge. Ich kenne sie alle und tue es regelmäßig“, meint er schnell, lacht und zwinkert verschwörerisch in meine Richtung. „Okay, und was bedeutet das nun?“ „Es bedeutet … Nun, dafür musst du zuerst wissen, dass kein Schicksal ein Leben lang beständig ist“, kehrt er zum Ernst zurück. „Entgegen eurem Glauben wird es keinem in die Wiege gelegt, und noch weniger steht es von Geburt an fest. Ein Schicksal formt sich mit der Zeit und durchläuft, wie ihr selbst, eine ständige Entwicklung. Es ist also, hm, gleich … nur anders.“ „Verstehe ich nicht“, gestehe ich. Niel lacht verlegen. „Es ist schwieriger, die Dinge mit euren Sprachmitteln zu erklären. Ich habe die Unterschiede unterschätzt. Bitte entschuldige, ich möchte dich nicht verwirren. Was ich zu sagen versuche, dass all dies durch nur eine Regel ermöglicht wird, die über allen anderen steht. Sie lautet: »Ein neues Schicksal – gleich der Lebensform, deren Alter und Funktion – erfindet sich binnen eines Monats.« Was im Verständnis eines Menschen nichts anderes bedeutet, als dass jeder sein Schicksal binnen dieser Zeit verändern kann. Jeder, ausnahmslos. In jeder Welt. Auch du.“ „Das heißt“, setze ich nach langer Überlegung an, kappe jedoch. Niel nickt, als habe er verstanden. „Ja, ganz recht. Wenn es dir gelingt, einen Monat in dieser Welt zu bestehen und dir binnen dieser Zeit einen Platz zu schaffen, wirst du ihrer Verfolgung entgehen. Du kannst dein eigenes Schicksal bestimmen und, wie Ukyo, ein Teil dieser Welt werden.“ Ich schlucke hart. Ein Monat, das klingt so harmlos. Aber ein Monat im Visier der Welt, die alles daran setzt, mich auszuradieren, das steht auf einem ganz anderen Blatt. Und ich habe noch nicht einmal die Hälfte überstanden … „Allerdings“, gibt Niel zu bedenken, „wird das nicht einfach werden. Der Welt stehen Mächte zur Verfügung, denen ein Mensch unterlegen ist. Alles kann zur Gefahr werden, aber wenn du diesen Monat überlebst …“ Er schüttelt den Kopf, als widerspräche er dem restlichen Part. „Du kannst es schaffen“, betont er und nickt bekräftigend. „Du bist immerhin nicht allein. Mari wacht über dich und wird dich nach Kräften unterstützen. Ich würde mehr für euch tun, doch ich fürchte, im Moment sind meine Mittel ein wenig begrenzt.“ Ich erwidere sein beklommenes Lächeln und wende mich dem Gehweg zu. Den Blick auf das graue Pflaster gerichtet, spüre ich die alten Zweifel wieder aufsteigen, ohne dass ich es verhindern kann. An eines wurde ich erinnert: Niel ist in seinem derzeitigen Zustand kaum göttlicher als ich. Orion hat das hoffentlich bedacht, als er Hals über Kopf losgezogen ist, um ihn zu suchen. Sicher, sein Wissen über die Welt ist wertvoll, aber wird das genügen, um mich am Leben zu halten?   Während wir weiter den Straßen folgen und ich bewusst auf Wege steuere, die möglichst wenige Passanten bieten, befrage ich ihn zu näheren Erläuterungen bezüglich seiner Anspielung auf Ukyo. Niel erklärt mir, dass er in seiner Welt als Geisterkönig gilt und es zu seinen wichtigsten Aufgaben gehört, die Wünsche der Menschen zu erhören. Dann erzählt er, wie er eines Tages auf Ukyo traf und sich seinem Wunsch angenommen hat. Einem Wunsch, dessen Ausmaß er dramatisch unterschätzt hat und dessen Auswirkungen er sich im Vorfeld nicht bewusst war. Ukyo habe unter denselben Bedingungen gestanden, wie er sie mir erläutert hat. Jedoch war Ukyo nicht stark genug gewesen, und ihm selbst hatte die nötige Erfahrung gefehlt, um ihn an den Gewalten der Welt vorbeizuführen. Das hatte dazu geführt, dass Ukyo endlos Qualen litt und zahllose Tode starb. Schmerz, Angst und Verzweiflung zermürbten seinen Verstand und Niel, gebunden an Ukyos Wunsch, hatte nichts tun können, um ihn aus dieser Spirale der Hoffnungslosigkeit zu befreien. „Es gibt noch eine weitere Möglichkeit, dieser Verfolgung zu entkommen“, meint Niel irgendwann, worauf ein Schatten über sein Gesicht huscht. „Du kannst den Platz eines Weltgeborenen einnehmen, indem du eine Lücke füllst. In diesem Fall findet eine Übertragung statt und deine Existenz wird von der Welt akzeptiert.“ Ich verstehe nicht auf Anhieb, was das bedeuten soll. Erst nach einigem Überlegen beschleicht mich ein Verdacht, den ich kaum zu Ende spinnen möchte. „Du meinst, indem ich jemanden an meiner Stelle …?“ Es schüttelt mich am ganzen Körper. Allein es zu denken, löst in mir jedes Widerstreben aus. Niel nickt verkrampft. Ich sehe, wie er die Stirn in Falten legt, die Augen verdüstert. „Ein abscheulich grausames System, und noch dazu furchtbar veraltet. Ich habe diese Option Ukyo gegenüber nie erwähnt, sie wäre mir nie in den Sinn gekommen. Zu meinem Bedauern kam er ganz von selbst dahinter, was sein Leid nur verschlimmerte. Er konnte sich seine Tat nicht verzeihen, und ich konnte ihn nicht von seinem Kummer erlösen. Ganz gleich, wie oft er getötet hat, das größere Verbrechen habe ich begangen. Ich war töricht und längst nicht so stark, wie ich für Ukyo hätte sein sollen.“ Mein Herz krampft sich zusammen bei seiner Erzählung. Gern will ich etwas sagen, um mein Mitgefühl zum Ausdruck zu bringen, doch mir fehlen die Worte. „Mari ahnt nicht, was sie getan hat“, spricht Niel so leise, dass es in dem Lärm der vorbeirauschenden Autos beinah untergeht. „Genau wie ich einst. Es lag in meiner Verantwortung, sie angemessen auf diese Aufgabe vorzubereiten. Es hätte nie dazu kommen dürfen, dass sie meine Fehler wiederholt. Sie ist noch so jung und unerfahren. Es ist unverzeihlich.“ „Mari ist euch sehr wichtig“, stelle ich fest. „Orion hat mir erzählt, dass sie ursprünglich wie er war und sie sich daher schon sehr lange kennen. Ihr seid irgendwie wie eine Familie, habe ich recht?“ „Ja, so kann man es sagen. Dieser Vergleich kommt unserer Beziehung sehr nahe.“ Seine Mundwinkel heben sich, während er in Gedanken schwelgt. „Jemand wie Mari ist selten. Sie ist etwas ganz Besonderes, auch für unseresgleichen. Nach ihrem Aufstieg wurde mir ihre Ausbildung anvertraut. Ich ging dieser Aufgabe mit bestem Gewissen nach, ich begleitete sie auf ihrem Weg, jedoch … Eine der wichtigsten Lektionen konnte ich nicht vermitteln. Ich habe versagt.“ „Das denke ich nicht“, widerspreche ich prompt. „Es war nicht vorauszusehen, dass das geschehen würde. Du hättest Mari ewig lehren können, Jahrhunderte meinetwegen, das wäre kein Garant für irgendwas gewesen. Die Theorie allein wiegt niemals die Praxis auf. Man muss eigene Erfahrungen sammeln, Fehler machen, und aus diesen Dingen lernen. Häufig ist das Leben der beste Lehrmeister, manchmal sogar der einzige. »Learning by doing« sagt man bei uns. Ich denke nicht, dass du deine Sache von Grund auf schlecht gemacht hast.“ Niel schweigt, aber ich spüre seinen Blick auf mir ruhen. Als er das nächste Mal spricht, glaube ich, ein Lächeln aus seiner Stimme zu hören: „Ich habe nie an das gute Herz der Menschen gezweifelt. Danke, dass du für jemanden wie mich Verständnis zeigst.“ Ich fühle mich befangen. Die Idee, dass ein Gott sich bedankt, erscheint mir irgendwie falsch. Andererseits habe ich soeben Niel belehrt, auch nicht viel besser. Oh weh, jetzt fühle ich mich noch unbehaglicher. Anderes Thema, schnell! „Tut mir leid wegen der Ohrfeige“, sage ich und verfluche mich im selben Moment. Ausgerechnet das fällt mir ein? Oh Mädel, das war ein Eigentor. „Hm? Ach ja, das. Nur keine Sorge, ich hatte sie verdient“, reagiert er unbeschwert und lacht, entgegen meiner Erwartung. „Aber ich war erschrocken. Es hat richtig wehgetan. Aus meiner Zeit mit Ukyo weiß ich, wie es sich anfühlt, wenn dir jemand ein Messer in den Bauch sticht, oder den Arm bricht, oder ins Gesicht tritt. Hm, es ist wohl etwas anderes, wenn man es am eigenen Körper zu spüren bekommt. Faszinierend, wenn auch erschreckend … Weißt du, was auch schlimm ist? Wenn ein Baum auf dich einschlägt, oder du von der Treppe stürzt, oder wenn ein Stein …“   Den restlichen Weg bin ich bemüht, Niel von sämtlichen Themen abzubringen, die in mir Fluchtinstinkte hervorrufen. Ich möchte nicht wissen, welches Leid er durch Ukyo erfahren hat und auch nicht, welche Missgeschicke ihm mit einigen Wünschen widerfahren sind. Wobei mich Letztes gelegentlich zum Schmunzeln bringt. Ganz zu schweigen von seiner Auflistung kurioser Begehren, die sich niemand vorstellen kann. Verdammt, wir lachen, dabei verstößt diese Unterhaltung gegen jede Form von Datenschutz! Aber ich glaube, da, wo Niel herkommt, interessiert das keinen. Also was soll‘s. Bald ist es geschafft und ich sehe das Meido in einiger Entfernung vor mir. Endlich. Mag sein, dass sich meine Meinung zu Niel ein wenig gebessert hat, aber seine ständigen Begeisterungsanstürme sind auf die Dauer echt anstrengend. Wie bei einem Vorschulkind, aber das ist wohl verständlich. Aus seiner Perspektive zumindest. So will ich es mir einreden. „Hier ist es“, sage ich und halte an. „Ah, ja, ich erinnere mich.“ Gemeinsam stehen wir vor dem Maid-Café und betrachten es kurzweilig. Dann wendet sich Niel mir zu. „Ich würde gern noch mit reinkommen und ein wenig bleiben, aber ich muss ins Geschäft zurück. Ich muss mich noch um eine Kundenbestellung kümmern. Magst du Blumen?“ „Ich glaube, so ziemlich jeder mag Blumen. Allerdings kaufe ich selten welche. Ich mag es nicht, wenn sie so schnell verblühen.“ „Das verstehe ich“, meint er und lächelt mild. „Man will das Schöne wahren. Aber ich sehe das anders. Ich denke, durch ihre Kurzlebigkeit wollen Blumen uns daran erinnern, wie wichtig es ist, den Moment zu leben. Jeder Moment im Leben ist kostbar und sollte geschätzt werden.“ „Wieso eigentlich ausgerechnet ein Blumengeschäft?“, möchte ich wissen. „Was bringt dich dazu? Ich meine, wie kamst du zu dieser Idee?“ „Ich habe Blumen schon immer gemocht. Sie faszinieren mich. Die vielen Farben, die verschiedenen Formen, ihre endlosen Bedeutungen. Menschen erschaffen so viel Schönes mit ihnen, überbringen mit ihrer Hilfe Botschaften und bereiten einander Freude. Ich dachte, für die Zeit, die ich hier bei den Menschen verbringe, möchte ich dasselbe tun. Ich möchte etwas tun, das ihnen Freude macht. Damit lässt sich am schönsten ein Lebensunterhalt verdienen, findest du nicht?“ Wir lächeln beide. In diesem Moment, während ich in sein verträumtes Gesicht sehe, denke ich, dass Niel durchweg guten Wesens ist. Er mag nicht ohne Fehler sein, aber das macht ihn irgendwie menschlich. Lustig, das über einen Gott zu denken. Ob er das beleidigend fände? „Du solltest gehen“, spreche ich sanft. „Orion wartet sicher schon auf dich. Der Arme verzweifelt bestimmt gerade, so ganz allein im Blumengeschäft.“ „Ah, Orion hatte ich ganz vergessen!“ Verdutzt beobachte ich, wie Niels Gesicht einen gehetzten Ausdruck annimmt. Er wirkt nahezu panisch, was irgendwie goldig ist, weil es ihn so jungenhaft erscheinen lässt. Ich muss mich zusammennehmen, nicht loszulachen.  „Bitte entschuldige mich, ich muss jetzt los. Es hat mich gefreut, mit dir zu reden. Ähm, da lang?“ Ich weise ihm die Richtung und erkläre in wenigen Sätzen, wie er zum gewünschten Bahnhof gelangt. An die Strecke, die ich zu Luka genommen habe, kann ich mich noch grob erinnern. Niel bedankt sich, entfernt sich eiligen Schrittes, nur um zurückzukommen, gerade als ich in die Seitengasse biegen will. „Ich vergaß“, ruft er im Gehen, lange bevor er bei mir steht. Sein Atem geht stoßweise, doch er gönnte sich keinen Moment zum Luftholen. „Es gibt eine Schwachstelle, die uns nützen könnte. Ich erklärte bereits, dass die Welt strengen Regeln unterliegt. Eine davon beschreibt die Unantastbarkeit des Schicksals, unabhängig der Umstände. Das bedeutet, dein bestmöglicher Schutz liegt in der Gesellschaft mit anderen. Die Welt wird nichts riskieren, wodurch ein fremdes Schicksal gefährdet würde. Aber ich muss dich warnen: die Welt ist älter als alles. Sie wird nach Wegen suchen, deswegen bleibe immerzu  wachsam. Halte Ausschau nach Zeichen. Umgib dich mit Menschen, denen du vertraust, so oft es dir möglich ist. Ich weiß nicht, ob Orion und meine Person einen Einfluss auf diesen Schild haben, aber unabhängig davon wünsche ich, dass er bei dir bleibt. Er soll mir auch künftig als Übermittler dienen für den Fall, dass wir reagieren müssen. Was da auch kommt, wir müssen alle – wie sagt ihr? – stets auf der Wut sein.“ „Du meinst »auf der Hut«?“ „Ja, ja genau!“ Er lacht und ich kann nicht anders, als zaghaft mitzumachen. „In Ordnung“, sage ich und seufze lang. „Ich versuch’s. Die paar Wochen sind zu schaffen, irgendwie. Immerhin weiß ich jetzt, woran ich bin. Danke, Niel, für die Information.“ Er nickt besänftigt. Ein letztes Mal spricht er mir Mut zu, winkt zum Abschied und hastet davon, dieses Mal ohne Wiederkehr. Hoffentlich hat er meinen Unmut im Gepäck.   Willkommene Stille empfängt mich, als ich das Meido durch den Seiteneingang betrete. Kein Waka, der mich anschreit, und auch sonst keine plötzlichen Überraschungen, denen ich mich gegenübersehe. Gut, wenigstens etwas. Gedankenverloren schlurfe ich die wenigen Schritte durch den leeren Flur hinüber zum Pausenraum. In meinem Kopf gehe ich das Gespräch mit Niel von Neuem durch, bis mir Shin begegnet, der fertig hergerichtet gerade durch die Tür tritt. „Guten Morgen, Shin.“ „Guten Morgen“, erwidert er angebunden. Er mustert mich einen Moment, bis er die zusätzliche Tasche bemerkt und verdeutlichend nickt. „Was ist das?“ „Meine Umziehklamotten“, erkläre ich. „Ich muss nach der Arbeit noch wo hin und habe keine Zeit, noch vorher nach Hause zu gehen.“ „Ah ja.“ Shin zieht die Brauen tief, als überlege er, was dieses Vorhaben sein könnte. Sonderlich zu interessieren scheint es ihn jedoch nicht, denn er lässt davon ab und geht an mir vorüber. „Beeil dich besser. In fünfzehn Minuten sollten wir vorne sein. Überlass nicht mir die ganze Arbeit.“ Ich sehe ihm über die Schulter nach und verkneife mir die Bemerkung, dass er ohnehin allein für die Küche verantwortlich ist. Aber sei’s drum, ich will wegen solchen Kleinigkeiten nicht streiten. Stattdessen beherzige ich seinen Rat und mache mich fertig, bevor Waka samt Stöckchen auf der Matte steht. Im Pausenraum steuere ich auf meinen Spind zu. Meine Tasche mit den Wechselkleidern passt gerade so hinein. Ich angle lediglich die Bürste hervor, um sie gleich griffbereit zu haben, und gehe der üblichen Routine nach. Als ich keine zehn Minuten später mit allem fertig bin, versetzt es mich beinah einen Satz zurück ins Badezimmer. Mari! Einfach so, wie aus dem Nichts, steht sie direkt vor mir. Ich bin zu perplex, um irgendein Wort herauszubekommen; ich starre sie lediglich an. „Es ist unhöflich, einfach ein Badezimmer zu betreten“, erklärt sie unaufgefordert, wobei sie betreten auf dem Fuß dreht, „sonst wäre ich gleich zu dir gekommen. War es richtig, hier zu warten?“ „Denke schon“, entgegne ich trocken. In meiner Brust herrscht ein Hochbetrieb wie auf der Baustelle. Es dauert noch einen Moment, bis ich mich gefangen habe. „Mari, was machst du hier? Du kannst doch nicht einfach hier auf Arbeit auftauchen“, flüstere ich, darauf bedacht, dass uns niemand hört. „Ich war bei Bruder und er hat gesagt, ich soll mit dir reden. Weißt du, ich muss dir etwas ganz Wichtiges sagen!“ „Also … das ist jetzt ein wenig ungünstig. Ich muss in fünf Minuten vorne sein, sonst bekomme ich Ärger.“ Besorgt sehe ich zu der Wanduhr über der Tür. „Oh, ich verstehe. Ähm, also … War Bruder schon bei dir?“ „Wenn du Niel meinst“, dränge ich, „er hat mich zur Arbeit gebracht. Ihr habt euch ganz knapp verpasst.“ „Oh, gut. Dann … hat er schon mit dir gesprochen, ich verstehe. Aber da ist eigentlich noch mehr …“ „Mari“, unterbreche ich ihre Aufregung, „wenn du es in einer Minute schaffst, höre ich dir gerne zu. Aber wenn es länger dauert, lass uns lieber ein andermal reden. Ich bekomme echt Ärger, wenn ich nicht pünktlich bin.“ „Ich lasse nicht zu, dass die Welt dich tötet“, platzt sie heraus. „Auch wenn ich nicht gut bin, ich versuche alles, um dir zu helfen! Ich will, dass du wieder nach Hause kommst. Ich mache alles wieder gut, versprochen!“ „Ich weiß“, sage ich und lächle bemüht. „Wir müssen unbedingt reden“, setzt sie mir nach, als ich an ihr vorbei in Richtung Garderobe gehe. „Zusammen mit Bruder und Orion. Und Ukyo, er auch. Bitte, es ist mir wirklich wichtig …“ „Wie wäre es mit Sonntag?“, überlege ich, während ich in gewohnten Handgriffen Bürste und Kleidung verstaue. Ich wende mich Mari zu, nachdem ich meinen Spind verschlossen habe. „Vorher habe ich keine Zeit. Ich muss heute den ganzen Tag arbeiten und heute Abend bin ich verabredet. Morgen geht’s direkt weiter mit Arbeit und danach bin ich bei den Mädchen zur Übernachtung. Vor Sonntag werde ich nicht richtig zu Hause sein. Allerdings weiß ich noch nicht, ab wann genau. Wäre denn Sonntagabend okay?“ „So spät erst?“ Mari lässt die Schultern fallen. „Hm, na gut. Wenn es früher nicht geht … Aber versprich mir, dass du solange sehr gut auf dich aufpasst! Ich bin zwar immer in deiner Nähe, meistens, aber ich kann nicht mit der Welt interagieren, weißt du? Also wenn dir etwas passiert, kann ich nur über andere …“ „Schon gut, ich passe auf“, sage ich schnell. Noch einmal huscht mein Blick zur Uhr. „Ich musste das Niel und Ukyo auch schon versprechen, und Orion sowieso. Außerdem bin ich bis dahin nahezu durchweg in Begleitung. Es wird schon gut gehen. Du, ich will ja nicht unhöflich sein …“ „Ja, du musst arbeiten. Ich verstehe schon“, meint sie geknickt. „Es tut mir leid, dass ich dich aufhalte. Ich werde sofort gehen.“ „Sorry, es ist leider ungünstig. Übermorgen dann, ja?“ Sie nickt und als ich mich das nächste Mal nach ihr herumdrehe, ist sie verschwunden. Verwirrt sehe ich mich um, zucke dann mit den Schultern und schnappe mir die Tüte mit dem Kuchenkarton darin. Mir bleiben noch fünf Minuten.   Zu meinem Glück ist der Weg zur Küche frei. Ich verliere keine Zeit, lade mein Gepäck auf der Arbeitsplatte ab und mache mich daran, den Kühlschrank auf ausreichend Platz durchzusuchen. „Was machst du da?“ Urplötzlich ertönt Shins Stimme in dem kleinen Raum. Ich erschrecke und fahre zusammen, wobei ich mir den Kopf mit einem lauten »Dong« anstoße. „Ich habe Kuchen dabei, der kühl gelagert werden muss. Wegen der Sahne“, erläutere ich knapp, ohne mich umzudrehen. Still fluche ich, dass Shin sich nicht ankündigen konnte. Ein Klopfen hätte genügt. „Kuchen? Wozu bringst du denn bitte Kuchen mit auf Arbeit, wenn du in einem Café arbeitest?“ „Der ist nicht für mich, sondern für Ikki.“ „Für Ikki-san?“ Ich entnehme Interesse aus seiner Frage. „Du bäckst für ihn? Seit wann das?“ „Tue ich nicht“, weise ich zurück. „Er hat sie nur bei mir vergessen. Ich sollte sie ihm zu heute mitbringen.“ „Vergessen? Du lässt ihn in deine Wohnung?“ „Also eigentlich …“ Ich hadere inmitten der Bewegung. Irgendwie verläuft dieses Gespräch in eine ganz falsche Richtung, nur warum? „Er war nicht in meiner Wohnung, sondern hat sie mir draußen gegeben“, korrigiere ich. „Ach ja?“, äußert er anzweifelnd. „Eben meintest du, er habe sie bei dir vergessen. Vergessen und gegeben sind etwas widersprüchliche Formulierungen, meinst du nicht?“ Alles klar. Da also liegt der Hase im Pfeffer. Ich atme einmal lang, bevor ich meinen Kopf aus dem Kühlschrank ziehe und zu Shin sehe. „Er hat sie mir gegeben, ich habe mich falsch ausgedrückt.“ Shin sagt nichts, er sieht mich nur an. „Was denn?“, dränge ich ihn zum Reden. Allmählich werde ich unruhig. „Wieso ist das wichtig?“ Sein Schweigen dauert an, ich ertrage es kaum. Gerade als ich etwas sagen will, liftet er das Kinn ein Stück und wird ernst. „Ich rate dir an“, spricht er eindringlich, „nicht zu viel auf seine nette Art zu geben. Er ist zu jeder nett, egal, wer es ist. Das solltest du inzwischen bemerkt haben. Interpretiere nicht zu viel hinein.“ Ich starre ihn an, sprachlos. Mir will nicht begreiflich werden, was er mir zu vermitteln versucht. Denkt er, zwischen Ikki und mir könnte etwas laufen? Bevor ich meine nächste Frage formulieren kann, wendet sich Shin zur Seite ab und dreht mir den Rücken zu. „Sieh zu, dass du hier drin fertig wirst. Wenn Waka-san hiervon Wind bekommt, habe ich damit nichts zu tun.“ Ich sehe ihm nach, wie er die Küche verlässt. Anschließend beende ich, wofür ich gekommen bin, und mache mich eilig daran, ihm zu folgen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)