Zwischen den Welten von Shizana (Das Mary Sue-Projekt) ================================================================================ Kapitel 28: Kurze Verschnaufpause --------------------------------- Pünktlich um Viertel vor acht eröffnet Waka die Kriegsbesprechung. Wie immer rät er uns an, „zu den Waffen zu greifen“ und „aggressiv gegen den Feind vorzugehen“. Ich empfinde seine Rede als anstrengend und bemühe mich wirklich, eine enthaltene Botschaft daraus zu entschlüsseln. Während er brüllt, überlege ich still, wie das nur werden soll, wenn ich erst wieder zu Hause bin. Sollte ich je wieder in den Spielen oder der Serie über so eine Szene stolpern, werde ich noch darüber lachen können? Eher nicht, wobei … vielleicht ja doch? Ach, ich weiß es nicht. Nachdem er geendet hat, verschwindet Shin in der Küche und ich mache mich an die letzten Vorbereitungen im Café. Waka bleibt hinter dem Tresen und kümmert sich um die Kasse und irgendwelchen Papierkram. Mir graut es davor, ganze vier Stunden mit ihm im Rücken zu arbeiten. Besser, ich erlaube mir keinen Patzer. Auf erdolchende Blicke und schroffe Zurechtweisung bin ich wahrlich nicht scharf.   Die ersten zwei Stunden ist wenig Betrieb. So wenig, dass Waka mich zu Schreibübungen verdonnert. Zumindest nehme ich an, dass dies seine Absicht ist, denn er knallt mir Kärtchen und Stifte auf den Tresen und verlangt, dass ich bestimmte Phrasen und Menüs darauf setze. Ich stelle es nicht infrage und gehe dieser Aufgabe nach, worauf es heftig Kritik hagelt. „Zu klein“, bemängelt er den Erstversuch und fordert eine Wiederholung. „Zu schief“, kritisiert er diese, „zu unsauber“ und „nicht bunt genug“ die Nächsten. Frust staut sich in mir auf mit jedem Mal, dass er das Papier zerknüllt und achtlos zur Seite wirft. „Nochmal“, verlangt er, wieder und wieder. Nochmal, nochmal. Ich scheine dieser Aufgabe nicht gewachsen zu sein. Nach einer kurzen Pause, die ich einer Kundenbedienung zu verdanken habe, erwartet er dasselbe in Lateinschrift von mir. Auch hierfür fällt kein Wort des Lobes. Ich könnte heulen vor Wut, während mir Waka zum x-ten Mal herunterbetet, dass ein Krieger in all seinen zur Verfügung stehenden Waffen versiert sein muss. Am liebsten will ich die Utensilien vom Platz fegen, stattdessen bestätige ich und verbeuge mich höflich, wie Waka mir befehligt hat. Und das nach jeder Predigt und jeder Kritik, die er an mich stellt. Ich bin zutiefst dankbar, als drei Kunden kurz nacheinander das Café betreten und mich fürs Erste von dieser Tortur entbinden. Erleichtert stelle ich bei meiner Rückkehr fest, dass Waka nicht länger hinter dem Tresen steht. Nur gut, soll er sich zur Abwechslung ruhig um Shin oder was-auch-immer kümmern. In der Zwischenzeit werde ich definitiv keinen einzigen Stift anrühren. Okay, abgesehen von dem, den ich für meine Bestellungsnotizen brauche. Aber alles andere kann er vergessen! Es kommt mir gelegen, dass einer der Herren länger braucht, um die Karte zu studieren. Ein anderer bestellt ein Frappé und eine Crêpe, was mich freut, denn beides wird von Hand zubereitet. Binnen dessen kann mich niemand belangen. „Zuerst kommt die Pflicht, und eure Pflicht ist das Schlachtfeld!“, das hat Waka selbst gesagt. Gut für mich. Während Shin in der Küche die Crêpe bedient, kümmere ich mich vorne um das Kaltgetränk. Ich bin noch nicht ganz fertig mit der Schaumgarnierung, da läutet jemand die Tischglocke. Verdammt, unfertig kann ich das Getränk nicht an seinen Tisch bringen. Unwillig löse ich mich von meiner Tätigkeit. „Vielen Dank, dass Sie gerufen haben, Herr“, sage ich höflich und verbeuge mich, bevor ich mich lächelnd neben dem Kunden positioniere. „Wie darf ich Ihnen dienlich sein?“ „Bring mir noch einen Kaffee“, fordert er schroff und schiebt mir klirrend die geleerte Porzellantasse entgegen. „Und kein Zucker dieses Mal. Nur schwarz, mehr nicht.“ Kurz überlege ich, ob ich dem Kunden zuvor Zucker in den Kaffee gegeben hatte. Für gewöhnlich tun wir das nicht, außer der Kunde verlangt es. Und selbst dann nur in seiner Gegenwart an seinem Platz. „Wie Ihr wünscht, Herr“, sage ich dennoch, verneige mich und nehme das Geschirr an mich. „Du“, reißt mich seine tiefe Stimme aus der Routine. Ich stoppe inmitten der Bewegung. „Du bist keine Japanerin. Woher kommst du?“ Verwirrt blinzle ich ihn an. Der Mann vor mir ist gestandenen Alters, vielleicht in den Fünfzigern, und trägt strenge Gesichtszüge. Er riecht stark nach Zigarettenrauch, nein, eher Zigarre. Sein kühler Blick aus fast schwarzen Augen schüchtert mich ein. „Aus Europa“, spreche ich ruhig und erinnere mich daran, zu lächeln. „Woher genau?“ „Aus Deutschland, mein Herr.“ „Deutschland, hm?“ Er lässt es abfällig klingen, gewollt oder nicht. Auf seiner von grauen Stoppeln überzogenen Wange zuckt es. „Herr, ich bringe Euch sofort Euren Kaffee“, wechsle ich auf die Arbeit zurück und lächle tapfer. „Ich bitte um einen Moment Geduld.“ Zurück am Tresen lasse ich alle Bedrückung in einem leisen Seufzer frei. Geknickt stelle ich fest, dass der Schaum vom Frappé in der Zwischenzeit gesunken ist. Super, ich fange noch einmal von vorne an. So kann ich es meinem Kunden nicht anbieten. Parallel zum Kaffee mixe ich ein zweites Eisgetränk. Ich bin bei der Verzierung, als Shin die fertige Crêpe nach vorne reicht. Die muss ich als Nächstes garnieren. Gerade jetzt läutet auch noch jemand die Tischglocke. Ich stehe dezent unter Stress. Eilig serviere ich die beiden Getränke, bitte meinen Kunden bezüglich der Speise um ein wenig Geduld und trete an den dritten Tisch für eine neue Bestellung. Diese und die mit Eis und Sahne angereichte Crêpe kaum ausgeliefert, tönt schon wieder Gebimmel durchs Café. Ich schnaufe und erzwinge ein Lächeln, als ich zu dem schroffen Herrn zurückkehre. „Haben Sie noch einen Wunsch, Herr?“, frage ich freundlich, wobei ich verwundert feststelle, dass er sein Getränk kaum angerührt hat. „Sind Sie mit Ihrem Kaffee nicht zufrieden, Herr?“ „Dein Japanisch ist recht gut“, äußert er trocken, „allerdings hört man einen Akzent heraus. Wie lange bist du schon in Japan?“ „Ähm, seit einigen Monaten“, stammle ich und ergänze ein höfliches „Herr“. Das Thema ist so abseits des Erwarteten, dass es mich ganz aus dem Konzept bringt. „Was führt dich nach Japan?“, bohrt er weiter. „Das …“ „Wie alt bist du?“ Ich stocke. Mir ist unwohl bei seinen Fragen und wie er mich ansieht. Bislang dachte ich immer, Japaner seien zurückhaltend. Dieser wohl eher nicht. „Mein Herr, Sie stellen mir sehr private Fragen“, weiche ich aus und verbeuge mich rasch, um den Schein zu wahren. „Darf ich Euch einen anderen Wunsch erfüllen?“ „Setz dich“, fordert er und klopft auf die freie Bankfläche neben ihm. „Unterhalten wir uns. Es ist gerade eh nichts los. Reden wir über dich und wo du herkommst.“ Panik bricht in mir aus. Wie soll ich mich jetzt nur verhalten? Ausgerechnet jetzt ist niemand da, der mich vor einem so aufdringlichen Kunden abschirmen könnte. Wenn doch nur Ikki da wäre, oder Toma, oder … Verdammt, wieso läutet niemand diese dämliche Glocke?! Erneut klopft er auf das Polster, doch ich rühre mich nicht vom Fleck. Als er Anstalten macht, nach meiner Hand zu greifen, weiche ich einen schnellen Schritt zurück. Seine Mimik verfinstert sich. „Ich will nur reden, Mädchen.“ „Verzeihung, Herr, ich …“ Ach Mist, welche Ausrede soll ich ihm auftischen? Jemand hilf mir! „Mein Herr, mit Verlaub“, drängt sich Wakas Stimme an mein Ohr, was mein Herz mit kleinen Purzelbäumen feiert. „Zu meinem Bedauern muss ich Ihnen unsere Maid leider entziehen. Sie wird in der Küche gebraucht. Geh jetzt.“ Ich nicke zu meinem Boss hoch, verbeuge mich vor dem Kunden und verlasse eilig den Bedienungsraum. Erst als ich außer Sichtweite bin, fällt alle Anspannung von mir ab und ich lasse mich schwer seufzend gegen die Wand sinken. Schon wieder hat mich Waka aus einer misslichen Lage befreit. Das wievielte Mal nun schon? Ich ärgere mich, dass ich die Dinge nicht selbst unter Kontrolle habe, bin aber zugleich dankbar, dass er eingesprungen ist. Waka trifft irgendwie immer das richtige Timing. „Shin, brauchst du Hilfe?“, frage ich in die Küche hinein, als ich sie betrete. Ich finde ihn an der Zeile stehend, wo er, soweit ich erkenne, einige Küchlein mit Sahne verziert. „Was willst du hier? Hast du vorne nichts zu tun?“, entgegnet er abweisend. Er besieht mich vorwurfsvoll über die Schulter, was wohl bedeutet, dass er von Assistenzbedarf keine Info hat. „Es wurde ungemütlich mit einem Kunden. Waka-san hat mich hergeschickt“, erläutere ich. In wenigen Sätzen schildere ich ihm die Situation. Shin geht weiter seiner Arbeit nach, während er zuhört. Ich spüre, wie ich beim Erzählen ruhiger werde. „Du musst besser aufpassen“, meint er am Ende und dreht sich mir zu. Er legt den Spritzbeutel beiseite und lehnt gegen die Theke. „Lass dich von solchen Kunden nicht einlullen. Wie willst du dich wehren, wenn einer handgreiflich wird? Du weißt, dass du dir in so einem Fall Hilfe suchen sollst. Und wenn du zu einer Ausrede greifen musst. Notfalls sag Nein zu dem Kunden und geh einfach.“ „Ich wusste nicht, ob ich das darf“, gestehe ich kleinlaut und sehe zu Boden. „Ich wollte keinen Ärger riskieren. So etwas ist mir noch nie passiert.“ „Dann merk’s dir ab jetzt. Es gibt noch wesentlich mehr von dieser Sorte, und Schlimmere.“ Ich nicke wortlos. „Geh jetzt besser wieder nach vorn“, rät Shin mir an und wendet sich selbst wieder der Arbeit zu. „Waka-san duldet es nicht, wenn Privatgespräche die Arbeit behindern. Du bist schon viel zu lange hier hinten. Vorn dürfte sich alles wieder beruhigt haben.“ Ich gebe ihm recht und bedanke mich, dass er sich die Zeit für mich genommen hat. Wenn auch mit einem flauen Gefühl im Bauch, kehre ich ins Café zurück. Ich bin erleichtert, als ich Waka weiterhin bei dem aufdringlichen Mann entdecke. Wie es aussieht, sind beide in ein Gespräch vertieft. Naja, das wird sie zumindest von meiner Person ablenken, hoffe ich. Kurze Zeit später läutet ein anderer Kunde die Tischglocke und möchte kassiert werden. Als ich das zweite Mal an den Tisch gehe, um ihn abzuräumen, wundere ich mich, dass Waka noch immer mit dem Bedränger spricht. Was mag da nur so interessant sein? Neugierig luge ich zu ihnen hinüber und versuche, herauszuhören, worüber sie sich so angeregt unterhalten. Sonderlich flüstern tun sie nicht, weswegen ich bald in Erfahrung bringe, dass es irgendwie um Waffen geht. Nicht gerade das, was ich erwartet habe. „Sie kennen sich gut aus, dafür, dass Sie ein schlichtes Café betreiben“, lobt der Mann. Er schiebt irgendein zerschlissen wirkendes Büchlein zurück in die Jackeninnentasche. „Die Arbeit eines einfachen Cafébetreibers ist dieselbe wie die eines Heerführers“, entgegnet Waka und neigt höflich das Haupt. „Das Leben ist Krieg. Jeder Ort, an dem wir uns aufhalten, ist ein Schlachtfeld. Es gewinnt nicht, wer sich hinter den Wällen verkriecht, sondern der, der den Angriff nicht scheut. Lernen und Verstehen sind nur weitere Formen dieser Strategie.“ „Ganz mein Reden!“ … Na, wenigstens verstehen sie sich. Ihr Gespräch geht mich nichts an, also wende ich mich wieder der Arbeit zu. Ich will nicht unter Beschuss geraten.   Ehe ich mich versehe, sind vier Stunden vergangen und die Frühschicht neigt sich gen Ende. Wir können pünktlich zur Mittagspause schließen, da kein Kunde mehr im Café verweilt. „Was machst du in deiner Mittagspause?“, frage ich an Shin gewandt, während wir die letzten Putzutensilien verstauen. „Ich muss etwas erledigen, danach werde ich irgendwo etwas essen.“ Er stellt Wischmopp und Eimer hinter einen Vorhang, danach lockert er das schwarze Tuch um seinen Hals. „Was ist mit dir?“ „Ich weiß noch nicht“, sage ich und zucke die Schultern. „In den zwei Stunden, vielleicht sehe ich mich in der Nähe ein wenig um. Irgendwo werde ich auch etwas essen. Ich muss nur aufpassen, dass ich nicht zu weit weggehe. Mein Orientierungssinn ist echt bescheiden.“ „Denk dran, schon eine halbe Stunde früher hier zu sein. Spätestens zwanzig Minuten früher.“ „Ja, schon klar“, winke ich ab. Shin lässt mir den Vortritt, sodass ich den Pausenraum als Erste betrete. Rasch schnappe ich mir meine Alltagssachen und verschwinde im angrenzenden Badezimmer, um mich in aller Ruhe umzuziehen. Muss ja nicht sein, dass er dabei zusieht. Als ich fertig bin, ist Shin nicht mehr im Pausenraum. Es grämt mich ein wenig, dass er ohne ein Wort des Abschieds gegangen ist. Aber vielleicht hatte er es eilig, rede ich mir ein. Er sagte ja, dass er noch irgendwohin muss. Wir sehen uns eh zur zweiten Schicht wieder, also was soll‘s. Gemütlich lege ich meine Umhängetasche um die Schulter und verlasse das Meido. Ich bin noch nicht richtig die Tür raus, da fahre ich hoch und mache einen Satz zurück. „Shin!“, keuche ich aus. Obgleich er nicht wirklich versteckt steht, springt mein Herz im Galopp. Im Reflex presse ich meine Hand auf die Brust. „Mann, hast du mich erschreckt. Wolltest du nicht los?“ „Was bist du so geistesabwesend? Selbst schuld“, wirft er mir vor. Er löst die verschränkten Arme vor der Brust, stößt sich von der Wand direkt gegenüber und macht einen einzigen Schritt in meine Richtung. „Was hast du nächsten Dienstag nach der Arbeit vor?“ „Äh, nächsten Dienstag … Wieso?“ „Hast du schon etwas vor?“, wiederholt er, ohne eine Miene zu verziehen. Ich bin verwirrt. Normal wäre Shin genervt, wenn er sich meinetwegen wiederholen muss. Aber er verhält sich ganz ruhig. Zu ruhig, für meinen Geschmack. Irgendetwas kann da nicht stimmen. Ich mustere ihn eingehend, erkenne aber nichts, das meine Vorsicht bestätigt. Möglicherweise interpretiere ich zu viel in seine Frage hinein. Ich beschließe, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen. „Nein“, sage ich. „Bisher noch nicht. Wieso fragst du?“ Shin zieht die Brauen tief, als sei dies nicht die Antwort, auf die er gehofft hat. Erst nach einer Pause sagt er: „Dann plane dir an dem Abend etwas Zeit ein.“ Er seufzt und fährt sich ins Haar, schüttelt den Kopf. „Wofür?“ Diesmal wird deutlich, dass er genervt ist. Er taxiert mich streng, beinahe vorwurfsvoll. „Wofür wohl?“, murrt er. „Überleg mal ganz angestrengt: Warum fragt jemand, ob man Zeit hat? Muss man dir eigentlich alles auf die Nase binden?“ Meine Verwirrung weicht der Perplexität. „Fragst du mich gerade nach ein Date?“ „Date? Ganz sicher nicht“, protestiert er betont. Shin stöhnt, rauft sich die Haare und brummelt irgendwas, das ich nicht verstehe. „Toma, dieser Idiot … Wir werden nur reden, mehr nicht. Keine Unternehmungen oder so, klar? Bilde dir nichts ein.“ „Klar“, sage ich und runzle die Stirn. „Über was denn reden? Geht das nicht auch während der Arbeit?“ „Nein“, widerspricht er. „Das ist eine private Angelegenheit, das hat auf der Arbeit nichts verloren.“ „Okay? Verrätst du mir wenigstens, worum es geht?“ Shin zögert einen Moment. „Es scheint einige Missverständnisse zwischen uns zu geben. Toma ist der Meinung … egal. Ich will diese Dinge geklärt haben, das ist alles.“ „Wirklich?“, frage ich überrascht. Insgeheim atme ich auf. Kurz habe ich befürchtet, Shin hätte Verdacht geschöpft und wollte mich zur Rede stellen. Doch so ist es nicht, Glück gehabt. „Was denn für Missverständnisse? Vielleicht können wir sie gleich jetzt bereinigen. Wollen wir nicht ...“ „Nicht jetzt“, schneidet er mir das Wort ab. Im nächsten Moment rückt er seine Haltung zurecht und räuspert sich verhalten. „Tut mir leid, das sollte nicht so harsch rüberkommen. Aber genau darum geht es. Können wir das wann anders bereden? Ich muss jetzt wirklich los.“ „Na schön“, gebe ich bei und lächle. Ich bin erleichtert, dass sich sein Anliegen als harmlos erwiesen hat. „Eine Frage nur noch. Was hat das mit Toma zu tun?“ „Was denkst du, auf wessen Mist das gewachsen ist?“ Shin stößt einen abfälligen Laut aus. „Dieser Kerl muss sich einfach überall reinhängen. Großer Bruder, vonwegen. Er nervt gewaltig.“ „Er meint’s sicher nur gut“, sage ich und lache. „Na gut, von mir aus. Wenn du mich so lieb bittest, kann ich schlecht Nein sagen. Ich halte mir den Dienstag nach der Arbeit frei. Vielleicht können wir irgendwo essen, während wir reden. Sofern das zeitlich bei dir passt, mit der Schule und so. Oh, oder würde das schon als Date zählen?“ „Du findest das wohl witzig.“ „Schon“, schmunzle ich. Shin stöhnt einmal lang, dann dreht er sich um und entfernt sich. „Vergiss nicht, abzuschließen. Bis später.“ „Shin, ich freue mich auf unser Date!“, rufe ich ihm nach und kann mir das Grinsen nicht verkneifen. Ich wette, dass Shin mit den Augen rollt, aber das musste jetzt sein. Nachdem er außer Sicht ist, zücke ich mein Handy hervor. Es ist kurz vor halb eins, in gut einer Stunde muss ich zurück im Café sein. Ich sollte mir irgendwo etwas zu essen suchen. Vielleicht wenn ich schnell bin, reicht die Zeit noch für einen kleinen Stadtbummel.   Auf meinem Weg zu dem Einkaufscenter, in dem ich schon öfter gewesen bin, komme ich an verschiedenen Imbissbuden vorbei. Mein Ursprungsplan sah vor, mich im Center nach einem Café oder Ähnlichem umzusehen, doch spontan entscheide ich mich anders. Ich stoppe vor einem Geschäft, aus dem ein herrlich deftiger Duft strömt. Ein Werbeaufsteller auf dem Gehweg bewirbt verschiedene Donburi-Gerichten, einzeln oder im Menü. Allem voran steht Gyûdon, das mit besonders attraktiven Mittagspreisen lockt. Ich überlege. Eine Reisschüssel mit Rindfleischstreifen on top klingt für mich wenig attraktiv, ich bin eher der Geflügeltyp. Allerdings scheint es sehr beliebt zu sein, es bietet mehr Variationen als jedes andere Gericht auf dem Werbeaufsteller. Die Preise sind ebenfalls erschwinglich, jede Medium- bis Large-Portion liegt um die 500 bis 600 Yen. Davon abgesehen … jetzt bin ich schon in Japan, warum die Gelegenheit nicht nutzen? Das Takoyaki hatte auch nicht geschadet, es war sogar ganz gut gewesen. Ich beschließe, es einfach zu riskieren.   Später spaziere ich gemütlich auf meinem Rückweg zum Café. Das Gyûdon war seinem Preis angemessen, ich bin satt und recht zufrieden nach meiner kleinen Schlendertour durch das Einkaufscenter. Es tat gut, ein wenig durch die Geschäfte zu bummeln, wenn ich mir am Ende auch nichts gekauft habe. Mich hätte das eine oder andere Buch gereizt, ein Schreibblock oder wenigstens einer der süßen Schlüsselanhänger, doch die Vernunft obsiegte. Ich kenne meine Ausgaben kaum, ich kann sie schlecht kalkulieren, dafür bin ich zu kurz in dieser Welt. Wer weiß, wofür ich das Geld noch brauchen werde? Lieber kein Risiko eingehen, Verzicht ist mir nicht neu. Ich bin früher beim Meido, als mir lieb ist. Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass es erst zehn vor halb zwei ist. Dank meiner Frühschicht weiß ich, dass nicht viel an Vorbereitung zu tun ist, und sehr lange zum Umziehen brauche ich auch nicht. Vielleicht hätte ich mir doch ein Buch kaufen sollen … Naja, was soll’s. Kurzerhand hole ich das rote Päckchen aus meiner Manteltasche hervor und zünde mir eine Zigarette an. Mit dem ersten Zug lehne ich mich gegen die Hausmauer neben dem Personaleingang und lege den Kopf in den Nacken. Ich denke an heute Abend, versuche mir auszumalen, wie die Ausstellung verlaufen wird. Bislang hat sich Luka nicht gemeldet, hoffentlich geht alles glatt. Ich mache mir Sorgen um Rika. Eigentlich sollte ich ganz andere Probleme haben, bedenke ich Niels Offenbarungen heute Morgen. Einen Monat soll ich durchhalten … Hm, eigentlich lächerlich, und doch klingt es falsch in meinen Ohren, diese Dauer mit einem »nur« zu versehen. Ein Monat kann so elendig lang sein, wenn dir der Tod mit jedem Schritt an der Hacke klebt. Gleichzeitig bleibt es eine kurze Zeit. Zu kurz, um mich an das Hier zu gewöhnen, mich zu entfalten. Was, wenn ich diese Frist überstanden habe? Und was, wenn nicht? Ich seufze laut und stoße mich von der Wand weg. Dieses ewige Gedankenchaos macht mich noch wahnsinnig. Um ihm zu entgehen, bewege ich mich ein wenig in der Gasse auf und ab. Ich schlurfe nach vorn an die Straße und lasse meinen Blick durch die nähere Umgebung schweifen. Die vielen Leute zu beobachten, wie sie ihren eigenen Wegen nachgehen, hält meinen Kopf beschäftigt und vermag mich zu beruhigen. Es gibt mir ein geringes Gefühl von Normalität zurück. Während ich ziellos die Gestalten überfliege, bleiben meine Augen schließlich auf zwei von ihnen haften. Sie laufen nebeneinander und sind, dank der kurzen Entfernung, für mich gut zu erkennen. Mist! Auf einmal ist es mir peinlich, dass ich hier stehe und rauche, und kürze den Rest des Stummels mit einem langen, tiefen Zug. „Hallo ihr zwei“, begrüße ich sie, als Ikki und Hanna in Hörweite sind. Hanna ist die Erste, die lächelt, worauf Ikki spricht: „Welch angenehmes Empfangskomitee. Hallo, Shizana. Wie war die Frühschicht?“ „Ganz okay“, fasse ich kurz, wobei ich abwechselnd zwischen ihnen hin und her sehe. „Recht ruhig, denke ich. Ein Kunde war etwas seltsam, aber Waka-san hatte ihn im Griff. Ihr habt nichts verpasst.“ „Warst du die ganze Pause hier?“ Ich schüttle auf Hannas Frage den Kopf. „Nein. Ich war ein wenig in der Gegend unterwegs und habe mir ein Gyûdon gegönnt. Nicht ganz meins, aber es war okay.“ „Unterhaltet euch ruhig noch ein wenig“, wirft Ikki ein, „ich gehe derweil vor und ziehe mich um. Danach habt ihr die Garderobe für euch. Wir wollen nicht, dass uns Waka-san beim Trödeln erwischt, hm?“ Schweigend verfolge ich, wie Ikki an uns vorbei in das Gebäude tritt. Erst als er verschwunden ist, wende ich mich wieder Hanna zu, die noch immer in Richtung Tür sieht. „Jetzt, da er es sagt, seid ihr nicht ein wenig spät dran? Im Vergleich zu sonst“, rege ich an. „Mh.“ Sie nickt und wendet das Gesicht zu mir. „Ikki-san musste einen Umweg machen, deswegen sind wir erst verspätet losgegangen.“ „Hat er dich etwa von zu Hause abgeholt?“ Erneut nickt sie und ich kommentiere lächelnd: „Na, das ist doch was?“ Im Fazit heißt das, dass sie den ganzen Weg zusammen gelaufen sind. Das freut mich, gerade wenn ich ihre Situation bedenke. Gleichzeitig beneide ich Hanna ein wenig, das lässt sich nicht leugnen. Allerdings … so wirklich glücklich wirkten sie nicht. Irre ich mich, oder habe ich sie nicht einmal miteinander reden gesehen, seit ich sie entdeckt habe? Sie hatten auch etwas distanziert beieinandergestanden, das könnte auch höfliche Gründe gehabt haben … Nein, das halte ich für unwahrscheinlich. Ich frage Hanna, was sie den Vormittag gemacht hat, und lasse sie ein wenig über ihr Studium reden. Sie erzählt ganz von selbst, dass sie eigentlich ihre Wohnung hatte aufräumen wollen für den anstehenden Mädchenabend, bis ihr Ikki mit seinen SMS dazwischengefunkt hat. „Aber es ist doch gut, dass ihr wieder ein wenig Zeit miteinander verbringt“, kommentiere ich, nachdem ich in Erfahrung gebracht habe, dass meine Vermutung richtig war. „Also privat, meine ich. Euer Verhältnis ist immer noch recht angespannt, hm?“ Sie nickt wortlos. „Auf Arbeit merkt man euch das nicht an. Aber das ist auch normal, denke ich. Ihr seid ja noch gar nicht so lange auseinander.“ „Ich glaube …“, setzt sie nach einem Zögern an, wird jedoch unterbrochen, als wir beim Pausenraum ankommen. Zu unser beider Überraschung steht die Tür offen. Ich klopfe vorbeugend und spähe in den Raum hinein. Es wäre peinlich, wenn wir Ikki mitten beim Umziehen erwischen würden. „Ihr könnt reinkommen“, höre ich ihn von irgendwo sagen und entdecke ihn bei den Spinden. „Ich bin fertig.“ „Wir beeilen uns“, sage ich und trete vor Hanna ein. „Viel muss nicht gemacht werden. Shin und ich haben schon das Meiste vorbereitet.“ „Gut. Seid pünktlich vorne, sonst wird Waka-san nur wieder wütend.“ Ich beobachte genau, wie Ikki den Raum verlässt. Er und Hanna tauschen keinen einzigen Blick. Kaum dass die Tür geschlossen ist, geht sie an ihren Spind und beginnt, ihre Sachen zu verstauen. Sie macht nicht den Eindruck auf mich, als wolle sie ihren Satz von vorhin beenden, deswegen tue ich es ihr gleich. Es war ohnehin nicht das schönste Thema für sie, ich will darauf nicht herumreiten.   „Darf ich dich etwas fragen?“, regt sie irgendwann an, als wir gemeinsam im Badezimmer stehen. Ich besehe sie aufmerksam durch den Spiegel, die Hände an den Bändern meiner Maid-Haube. Hanna ist längst mit allem fertig, nur ich bekomme diese blöden Schleifen nicht in den Griff. „Hm? Sicher.“ „Du und Ikki-san …“, beginnt sie, worauf sie zögert. „Stimmt es, dass ihr euch trefft?“ Ich stoppe inmitten der Bewegung. Eingehend studiere ich ihr Gesicht und versuche zu erraten, welche Gefühle dieses Thema in ihr wachruft. „Wie kommst du darauf?“, hinterfrage ich ruhig. „Ikki-san hat es mir erzählt, auf unserem Weg hierher.“ „Hat er?“ „Naja, nicht ganz“, gesteht sie und lächelt vorsichtig. „Er hat von jemand gesprochen, und dadurch bin ich auf dich gekommen. Er sagte nicht, dass das falsch ist … Oder liege ich falsch?“ „Nein“, bekenne ich unbetont. Plötzlich fühle ich mich ertappt, beinahe schuldig, als habe ich jemanden hintergangen. Nicht jemand, sondern sie, Hanna. Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll. „Ist schon okay“, verspricht sie. Die Sänfte darin vermag mich ein wenig zu beruhigen. „Ich bin nicht verletzt. Ich freue mich für Ikki-san. Ihr scheint euch gut zu verstehen.“ „Mh, ich denke schon.“ „Ich glaube, es geht ihm besser, seit ihr Freunde seid. … Bitte entschuldige, wenn das unhöflich ist, aber darf ich dich fragen, was du von Ikki-san hältst?“ Wa-wa-was? Wo kommt diese Frage auf einmal her? Ich durchforste mein Hirn nach den richtigen Worten. „Er ist nett“, sage ich sofort. Im Nachklang erscheint mir das zu allgemein und nichtssagend, also versuche ich es erneut. „Ich finde ihn witzig und mag seine Art. Ich denke, dass er sehr gefühlvoll ist, und Gefühle für ihn eine sehr große Rolle spielen. Deswegen leidet er schnell und … er steht nicht immer dazu. Er hat seine Fehler, wie wir alle, aber insgesamt denke ich, dass er eine prima Person ist.“ Hanna ist still. Dann, nach einiger Zeit, lächelt sie warmherzig. „Du hast recht. Ich sehe das genauso. Ich freue mich, dass du so über Ikki-san denkst.“ Ich erwidere das Lächeln und wende mich wieder meinen Bändern zu. Still bedauere ich, dass ich ihr nicht alles sagen kann, das würde nur zu schwierigen Fragen führen. Es gibt so viel, das ich nicht wissen dürfte, und es ist das Beste, wenn sie davon auch nichts weiß. „Sei bitte vorsichtig“, flüstert sie an meiner Seite. Ihr Spiegelbild wirkt bekümmert. „Ikki-san, er hat … Die Gerüchte um seine Augen sind wahr. Hast du davon gehört?“ „Mh.“ Ich nicke. „Nicht nur das, ich bin selbst schon in den Genuss gekommen.“ „Genuss?“ „Naja, nicht wirklich.“ Ich seufze leise. „Keine Sorge, ich bin vorgewarnt. Und ich denke, wir sind alle nicht besonders scharf auf gewisse Unfälle. Ich passe auf“, lächle ich aufmunternd in den Spiegel. Es scheint sie ein wenig aufzubauen.   Gerade noch rechtzeitig finden sich Hanna und ich vorne im Café ein. Kaum dort, klackt die Tür vom Personaleingang. Vor dem Tresen beziehen wir brav Stellung und lassen Wakas übliche Motivationsrede über uns ergehen. Ich lasse das meiste an mir vorbeiziehen, stimme in das abschließende „Der Kunde ist der Feind!“ mit ein und trete dankbar ab. „Denkt daran, Freitags-Spezialtechnik ab 18 Uhr! Ich will Erfolge sehen!“, brüllt Waka uns nach. Gemeint ist der Spieleabend mit den Gästen, inklusive Doppeldecker. Die Freude in mir bleibt aus, aber vielleicht gibt sich das noch. Mit dem Öffnen der Pforten werden wir sogleich von weiblicher Kundschaft überrannt. Ich zähle acht Mädchen in einer Gruppe, alle im Studentenalter, und zwei weitere, die sich abseits einen Tisch suchen. Hanna ist schneller als ich und bedient das Duo, während sich Ikki gelassen wie immer der größeren Gruppe annimmt. Ich beobachte fasziniert, wie er das Gespräch durch all das laute Chaos leitet, und fluche zugleich, weil mir dieser Fanclub einfach auf die Nerven geht. Es dauert nicht lange, bis Hanna zurück ist, und ich helfe ihr bei den Getränken. Kaum dass sie wieder auf dem Flur ist, trifft auch Ikki ein und legt eine lange Liste an Bestellungen vor mir auf der Theke ab. Ich bewundere die makellose Handschrift, die von sauberen Strichen und eleganten Schwüngen geprägt ist. Nach einer kurzen Absprache übernehme ich die Kaffeegetränke, während Ikki die bestellten Warmspeisen an die Küche trägt. Er vollendet die Schaumverzierungen, liefert die Tabletts aus und ist retour, bevor ich die drei Eisbecher vollendet habe. Er übernimmt den Streudekor und bittet mich, in der Küche nach den Crêpes zu sehen. Als ich mit den beiden Tellern zurückkehre, lässt er den Gruppentisch gerade hinter sich. Hanna hat derweil den ersten Herren in der Bedienung und Ikki nimmt mir die einzige Arbeit ab unter der Begründung, ein Butler-Menü müsse von Butlerhand hergerichtet werden. So geht es die meiste Zeit. Hanna und ich wechseln uns mit der Bewirtung männlicher Kundschaft ab, während Ikki pausenlos auf Achse ist. Er bedient, unterhält die Damen, und tut er das nicht, ist er entweder in der Küche oder hilft am Tresen aus. Ich erfasse keinen Moment, in dem er nicht in Bewegung ist, und das macht mich fast nervöser als die observierenden Blicke, die von der lauernden Mädchengruppe unentwegt ausgehen. „Schon gut“, sage ich, als er das nächste Mal bei mir am Abwasch steht und nach dem Geschirrtuch greift. „Du musst das nicht machen. Ich komme schon klar, gönn dir lieber ’ne Pause. Du bist nur am Herumwirbeln, du kippst mir noch um!“ „So schnell passiert das nicht“, meint er unbeschwert. „Ich bin eben gern in Bewegung, so vergeht die Zeit schneller.“ „Ja, aber man verausgabt sich auch schneller“, kontere ich. Prüfend mustere ich ihn von der Seite. „Im Ernst, hol auch mal Luft. Wie lange willst du so weitermachen? Mach eine Pause. Hanna dürfte gleich wieder vorn sein, dann könntest du gehen. Im Moment bietet es sich an.“ Ich nicke ins Café hinein, zur Hälfte mit Gästen besetzt. Alle versorgt und zufrieden. „Hast du deine schon gemacht?“ „Vorhin, als Shin gekommen ist. Hanna ist direkt nach mir gegangen“, erkläre ich. „Ach so“, meint er und ich glaube sofort, dass er es nicht mitbekommen hat. „Hm, dann bleibe wohl nur noch ich übrig. Wenn Hanna zurück ist, seid ihr immer noch zu zweit hier vorne. Ich denke, das dürfte in Ordnung gehen.“ „Natürlich tut es das.“ Ich lasse das Wasser ab und wechsle die Seite, um das trockene Geschirr einzusortieren. „Mach vorsichtig“, höre ich ihn sagen. Leise nur, aber eingehend genug, dass ich in der Bewegung stoppe. „Nimm nicht zu viel auf einmal. Du könntest stolpern und das Geschirr aus der Hand verlieren. Das wäre gefährlich.“ „Ich arbeite nicht anders als sonst“, sage ich und besehe ihn anzweifelnd. Unwillkürlich achte ich dennoch darauf, was meine Hände tun. „Ikki, was ist los? Die ganze Zeit versuchst du, mir Arbeit abzunehmen. Bin ich zu langsam?“ „Was? Nein. Ich … wirklich?“ Er wirkt überrascht. „Hm. Scheint, als wäre ich heute nicht gut darin, es zu verbergen. Die Wahrheit ist, ich mache mir Sorgen.“ „Sorgen? Worüber?“ „Um dich“, spricht er gedämpft und tritt näher heran. „Wegen gestern. Die ganze Zeit frage ich mich, ob es dir gut geht. Ich bekomme dieses Bild einfach nicht aus dem Kopf. Ich male mir aus, was gewesen wäre, wenn ich nicht …“ „Mir geht es gut“, sage ich schnell. Ich konzentriere mich auf das Pik-Symbol, um Ikkis Blick zu entgehen. Was ist das eigentlich, ein Tattoo? „Schau, ich bin quietschfidel und wohlauf. Hör bitte auf, dir irgendwas auszumalen. Das ist ja Folter.“ „Ja, es ist Folter“, haucht er gequält. Ich bemerke, wie sich sein Ausdruck verdüstert. „Ich tue das nicht willkürlich, aber ich denke daran, was wäre, wenn ich dich gestern verloren hätte. Der Gedanke macht mir Angst.“ „Braucht es nicht“, sage ich und zeige mein tapferstes Lächeln. Ich kämpfe das Verlangen hinunter, ihn zu umarmen. Ihn an mich zu ziehen und zu beweisen, dass es nicht nur gesagt ist. Aber das geht nicht. „Alles ist gut. Ich bin froh, dass niemand verletzt wurde. Danke dafür. Und nun lass uns das Unschöne vergessen und lieber das Schöne in Erinnerung behalten. Apropos, ich habe deine Kuchen in den Kühlschrank gelegt. Vergiss nicht, sie mitzunehmen. Die sind alle für dich!“ „Hm, Geschenke für mich?“, raunt Ikki und lächelt. Endlich. „Ich fühle mich geschmeichelt. Und, wie sind sie?“ „Sehr gut“, sage ich grinsend. „Du solltest sie unbedingt bei Kerzenlicht probieren! Da schmecken sie gleich besser.“ „Wirklich?“ Er lacht. „Na, dann werde ich das ausprobieren. Gleich heute nach der Arbeit. Etwas Süßes bei Kerzenschein zu vernaschen, klingt sehr romantisch.“ „Und überhaupt nicht zweideutig“, stimme ich ein. „Und nun ab mit dir in die Pause! Die nächsten fünfzehn Minuten will ich dich hier nicht mehr sehen.“ „Verstanden“, kapituliert er im Scherz. „Lass mich eben erst nachsehen, ob Hanna schon fertig ist. Danach siehst du mich nicht mehr, versprochen.“ Ich nicke zufrieden und verfolge, wie er im Durchgang verschwindet. Kaum außer Sicht, bemerke ich Shin, der neben dem Rahmen gelehnt steht. Unsere Blicke begegnen sich einen Moment, dann dreht er sich ab und ist verschwunden. In mir bleibt ein Gefühl zurück, als sei ich bei etwas ertappt worden. Der Gedanke scheint albern, also verwerfe ich ihn und wende mich wieder der Arbeit zu. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)