Stiller Begleiter von konohayuki ================================================================================ Kapitel 1: Stiller Begleiter ---------------------------- Luana hatte den Tod gesehen. Schon als Kind war es so gewesen, auch wenn sie nicht verstanden hatte, wer der kleine Junge war, der sie mit funkelnden Augen und einem Lächeln auf den Lippen betrachtet hatte. Beim ersten Mal hatte sie verwirrt zurückgeschaut, nicht sicher, warum er sie so ansah. Kannten sie sich etwa aus dem Kindergarten? Sie verwarf den Gedanken schnell, daran hätte sie sich erinnert. Ganz sicher. Vielleicht war er ja ein neues Nachbarskind. Immerhin wohnten sie in einer Neubausiedlung, hier zogen täglich neue Leute ein. Doch auch diese Mutmaßung bestätigte sich nicht. Nirgendwo war eine Familie mit einem Jungen in dem Alter eingezogen. Und auch wenn sie ihn suchte, der Junge blieb verschwunden. Vielleicht hatte sie sich ihn ja auch nur eingebildet, dachte sie.   Als sie ihn das nächste Mal sah, lag ihre Großmutter im Sterben. Sie war gerade sechzehn geworden und eigentlich waren Familiensachen so gar nicht ihr Ding. Aber es war ihre Großmutter, diejenige, die immer auf sie aufgepasst hatte und die immer so schöne Geschichten zu erzählen wusste. Oder besser gesagt, zu erzählen gewusst hatte. Seit dem Schlaganfall war ihre Stimme verstummt. Luana fragte sich, ob sie vielleicht doch mehr Zeit mit ihrer Großmutter hätte verbringen sollen. Sie war so schrecklich abweisend gewesen. Und genau diese Schuldgefühle hatten sie dazu bewogen, an diesem Tag ins Krankenhaus zu fahren. Als sie das Zimmer betrat, saß er dort. Zuerst fragte sie sich, ob er vielleicht ein Pfleger war, denn er trug den charakteristischen Kittel, den die Ärzte und Schwestern hier trugen. Aber eigentlich wirkte er zu jung, um schon hier zu arbeiten. Sein Blick war auf das Gesicht ihrer Großmutter gerichtet, ein kleines Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Luana fand es sehr unangebracht, über den Zustand ihrer Großmutter zu lächeln. Und genau das sagte sie ihm auch. Erst jetzt schien ihm aufzufallen, dass er nicht mehr allein im Raum war. Sein Blick wandte sich ihr zu, und als sie seine Augen sah, erinnerte sie sich. Sie erinnerte sich an den kleinen Jungen, den sie damals, als sie neu in die Gegend gezogen waren, gesehen hatte. Auch wenn sie ihn über die Jahre beinahe vergessen hatte, diese Augen hatten sich ihr eingeprägt. Diese Augen würde sie überall wiedererkennen. Sie wollte ihn fragen, wer er war, und vor allem was er hier zu suchen hatte, doch sie brachte keinen Ton heraus. Irgendetwas an den Augen des Jungen hielt sie in ihrem Bann. Wie angewurzelt stand sie dort an der Tür, starrte ihn nur an. Er strich über die Hand ihrer Großmutter, so sanft wie ein Vater es tun würde, der sein Kind nach einem Albtraum beruhigt. Dann stand er auf und verließ den Raum, ohne ein Wort zu sagen. Einen Tag später verstarb ihre Großmutter.   Es brauchte noch zwei weitere Tode - die ihrer Eltern - bei denen sie seine Gegenwart wahrnahm, um ihr klarzumachen, wer er war. Er war da, als sie ihre Mutter zu Grabe trug, stand abseits der Trauergesellschaft, wieder älter geworden, wieder mit diesem undurchsichtigen Lächeln auf dem Gesicht. In diesem Moment hasste sie ihn, hätte nichts lieber getan, als zu ihm herüberzulaufen und mit den Fäusten auf ihn einzuschlagen, bis dieses Lächeln endlich von seinem Gesicht verschwunden war. Sie war voller Gram und Schmerz, und für sie fühlte es sich so an, als würde er sie verhöhnen. Dass er es nicht tat, wurde ihr erst wesentlich später bewusst.   Und dann kam der Moment, in dem sie dachte, er würde sie mit sich nehmen. Reifenquietschen, splitterndes Glas, unglaublicher Schmerz. Nur verschwommen nahm sie wahr, wie sich eine Gestalt dem Auto näherte, in dem sie halb saß, halb lag, unfähig, sich zu bewegen. Die Autotür neben ihr wurde geöffnet und sie spürte, wie sie sanft von ihrem Sicherheitsgurt befreit und aus dem Auto gezogen wurde. Danach setzte ihre Erinnerung aus, die Rettungssanitäter sagten ihr nachher, dass sie das Bewusstsein verloren hatte. Das einzige, was sie begleitete, waren die Worte, die ohne Zweifel von ihm stammten, auch wenn sie seine Stimme noch nie gehört hatte: Deine Zeit ist noch nicht gekommen.   Der Unfall war es, der sie mit ihrem Mann bekannt machte. Er war Krankenpfleger und hatte sich während ihres gesamten Krankenhausaufenthalts um sie gekümmert. Sie hatten sich von Anfang an gut verstanden und als sie aus dem Krankenhaus entlassen wurde, gab sie ihm einen Zettel mit ihrer Handynummer. Er rief nach noch nicht einmal zwölf Stunden an. Ein halbes Jahr später waren sie Mann und Frau.   Sie war überglücklich, als ihr Kind auf die Welt kam. Die kleine Kalea erblickte das Licht der Welt an einem warmen Juniabend, kerngesund und einem kleinen Wunder gleich. Zumindest kam es Luana so vor. Es war das erste Mal seit Jahren, dass er sich wieder bei ihr blicken ließ. Als sie nachts in ihrem Krankenhausbett aufschreckte, sah sie ihn, seine Augen auf sie und das Kind gerichtet. Panik erfasste sie. War er hier um sie oder ihr Kind zu holen? Die Ärzte hatten doch gesagt, dass sie beide wohlauf waren. Als hätte er ihre Gedanken gelesen, schüttelte er seinen Kopf und lächelte. Nein, sagte ihr dieser Blick, heute würde niemand in diesem Zimmer gehen. Er war gekommen, um zu sehen dass es Mutter und Kind gut ging. Zumindest erklärte sie sich seine Anwesenheit später so. Ohne ein Wort zu sagen, verschwand er wieder, nachdem er sie noch eine Weile angesehen hatte.   Der Tod ihres Mannes war am schwersten zu akzeptieren gewesen. Ihre Tochter war mitsamt ihrem Ehemann und den Kindern am Abend nach der Trauerfeier gegangen, sie hatte sich darauf vorbereitet schlafen zu gehen. Da war er wieder bei ihr erschienen. Sie hatte ihn angeschrien, ihn gefragt, warum er ihr wieder und wieder die Menschen nahm, die ihr so viel bedeuteten. Natürlich wusste sie, dass es der Lauf der Dinge war. Menschen mussten irgendwann sterben. Trotzdem war es in diesem Moment so viel leichter, ihm die Schuld daran zu geben. Er hatte nur stumm dagestanden und ihre Tiraden über sich ergehen lassen, selbst als sie ihm eine Vase entgegenwarf, um ihm eine andere Reaktion zu entlocken. Er fing die Vase auf, wie genau er das angestellt hatte, wusste sie nicht. Mit langsamen Schritten kam er auf sie zu, sie wich zurück. Plötzlich war die Angst wieder da. Erst, als er die Vase behutsam an ihren angestammten Platz zurückstellte, wich die Anspannung aus ihr. Bevor sie sich für ihr Verhalten entschuldigen konnte, hatte er eine leichte Verbeugung angedeutet und hatte ihr Haus verlassen. Sie fragte sich, wann sie ihn das nächste Mal sehen würde. Auch sie wurde älter. Vielleicht war es bald ihre Zeit.   Sie wusste, was kommen würde, als er an ihr Bett trat. Die warme Brise, die vom offenen Fenster hereinwehte, ließ die Vorhänge wie Marionetten tanzen. Er nahm sanft ihre Hand in seine, ein Lächeln lag auf seinen Lippen. Es war das Lächeln, welches auch bei ihrer ersten Begegnung auf ihnen gelegen hatte. „Hallo, Liebling“, sagte er, seine Stimme sanft wie das Rauschen im Wind. Liebling. So hatte sie noch niemals jemand genannt. Aber es schien nicht falsch, nicht von ihm, nicht aus seinem Mund. Er begleitete sie nun schon so lange. „Hallo“, erwiderte sie. Sie klang heiser, als hätte sie ihre Stimme überanstrengt. Vielleicht hatte sie das ja auch. Vielleicht setzen die Jahre, die sie nun auf dieser Welt gewandelt war, ihrer Stimme genauso zu wie ihrem Körper. Sein Gesicht verzog sich und offenbarte Lachfalten, die sich tief in die Haut hinein gegraben hatten. Er hatte nur noch wenig schlohweißes Haar auf seinem Kopf. Alterte er mit ihr? Sie sprach die Frage nicht aus, für sie war es nicht wichtig, die Antwort zu wissen. Nicht mehr. „Müde, Liebling?“ Die Frage kam unerwartet für sie, damit hatte sie nicht gerechnet. Natürlich war sie müde, aber sie war sich sicher, dass er nicht die Müdigkeit meinte, die sich jeden Abend nach vollbrachtem Tagewerk einstellte. Sie sah ihn an, sah in diese funkelnden Augen, deren Farbe sie nie genau hatte benennen können. Noch immer waren sie wie am ersten Tag. Die Augen, die sie ihr ganzes Leben über fasziniert und niemals losgelassen hatten. Sie holte tief Luft und drückte seine Hand ein klein wenig. Viel Kraft war nicht mehr in ihren Fingern. Sie hatte ihr Leben gelebt. Es war an der Zeit nach Hause zu gehen. „Ja, ich bin müde.“ Nachdem sie die Worte ausgesprochen hatte, blieb er noch eine Weile sitzen, ohne sich zu bewegen. Dann beugte er sich zu ihr herunter und küsste sie leicht auf die Stirn. „Dann schlaf, Liebling“, sagte er, während er sich aufrichtete. Seine Hand hatte die ihre noch immer fest umschlossen. „Ich wache über dich.“ Sie spürte, wie ihre Augen sich langsam zu schließen begannen. Eine eigenartige, aber gleichzeitig tröstende Ruhe bemächtigten sich ihrer, langsam, aber sicher. Sie spürte seine Hand, die um die ihre gelegt war. Spürte, dass er neben ihr saß. Seine Präsenz beruhigte sie. „Danke“, flüsterte sie, ein Lächeln auf ihren Lippen. Und dann schlief sie ein. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)