Schicksalswege von Saph_ira ================================================================================ Kapitel 11: Was tust du mit mir... ---------------------------------- André ritt in den altbekannten und vertrauten Hinterhof ein und stieg lässig aus dem Sattel. Er führte seinen Braunen zu der kleinen Behausung, wo er ihn meistens absattelte und versorgte. Aber heute war ihm nicht danach. Er wollte sich nur noch in seine Wohnung verkriechen und sich vor aller Augen unsichtbar machen... „Hey, André!“ Die leutselige Stimme seines Freundes schreckte ihn auf und er blieb stehen. Nicht weit von ihm stand Alain und half seiner Schwester bei Wäsche aufhängen. Es war ein außergewöhnliches Bild: Alain, der bei Frauenarbeit mit anpackte – das sah man nicht jeden Tag! André schielte flüchtig zu den Geschwistern und hob nur matt seine Hand zum Gruß. Diane winkte ihm fröhlich zurück. „Du bist heute aber früh zurück! Das Essen ist noch nicht fertig, aber Mutter hat schon mit dem Kochen angefangen!“ „Ich habe heute keinen Appetit“, murmelte André lustlos und wandte sich von den Geschwistern ab. „Und rechnet heute nicht mehr mit mir. Ich möchte allein sein.“ Diane legte sich ihren Zeigefinger auf das Kinn und sah verwundert zu ihrem Bruder. „Etwas stimmt nicht mit ihm...“ „Mach dir nichts daraus!“ Alain verzog eine belustigende Miene und rief seinem Freund stichelnd nach: „Er hat bestimmt schon fein auf dem Anwesen gegessen und will unser schlichtes Abendbrot nicht! Habe ich recht, André?“ „Ich habe dort nichts gegessen und das tue ich auch nie...“ André setzte seinen Weg mit hängenden Schultern fort. „Das weißt du doch, Alain...“ Alain hatte ihn zwar nicht deutlich gehört, aber auch ihn beschlich nun der Verdacht, dass mit seinem Freund etwas nicht stimmte. Normalerweise reagierte André auf seine Neckereien nicht mit so einem trüben Gesichtsausdruck, als wäre ihm etwas Unheilvolles widerfahren. Alain sah kurz zu Diane, verständigte sich mit einem stummen Blickwechsel, stellte den Wäschekorb ab und rannte seinem Freund nach. Dieser erreichte schon die kleine Pferdeunterkunft und band seinen Braunen an einem Trog an. „Hey, Kumpel, was ist mit dir?! Ist etwas auf dem Anwesen vorgefallen?! Hat dich deine Großmutter schon wieder gescholten?! Oder hat das Mannsweib dir etwas angetan?!“ André warf Alain einen scharfen Blick zu, aber gleich darauf senkte er ihn. „Nichts dergleichen, Alain...“ Er schlenderte hastig an seinem Freund vorbei. „Mit mir ist alles in Ordnung!“ Dem war nicht so. Alain wusste mit Sicherheit, dass André ihn anlog. Denn sein Verhalten und seine trübe Miene sagten etwas anderes über ihn aus. Es war auf dem Anwesen also wirklich etwas vorgefallen, worüber er mit niemandem reden wollte. „Wie du willst...“, dachte Alain unverhohlen bei sich und schaute André wohl wissend hinterher. „Wenn du jetzt nicht reden willst - gut... Aber früher oder später wirst du es mir schon erzählen, ich kenne dich doch! Mir kannst du nichts vormachen, mein Freund...“ - - - André stürmte in seine Wohnung, knallte wuchtig die Tür hinter sich zu und glitt an ihr angelehnt in die Hocke. Sein Inneres stand in Flammen, sein Herz wurde von einem unsichtbaren Dolch durchbohrt und seine aufgewirbelten Gefühle erdrückten ihn. Oscar! Immer und immer wieder geisterte ihm der Vorfall durch den Kopf: Wie sie vor ihm an dem Baum stand... Wie sie hinfiel, als sie von ihm weggehen wollte... und wie sie ihn dann, unter ihm liegend, angesehen hatte! So verheißungsvoll nahe... so verlockend... Ihre himmelblauen Augen, die ihn mit einem geheimnisvollen Glanz ansahen und in denen er sich zu ertrinken geglaubt hatte... Ihre blutroten Lippen, die auf ihn wie eine Zauberkraft wirkten und die er am liebsten geküsst hätte... Und ihr goldblondes, samtweiches Haar, das ausgebreitet auf dem Grün lag und teilweise hauchzart seinen Handrücken bedeckte... André wusste selbst nicht, wie er es geschafft hatte, der Versuchung überhaupt zu widerstehen und Oscar nicht gleich an Ort und Stelle... Er vergrub seinen Kopf in den Händen und presste sie gegen seine Schläfen. Er wollte sich nicht vorstellen, was danach geschehen wäre... Aber was war das überhaupt für ein Empfinden? Dieses tief einschneidende Gefühl war viel intensiver als bei ihrer allerersten Fechtübung oder damals, als er sie schon einmal vor einem Sturz bewahrt hatte... Und es war auch viel schmerzhafter... Oscar mochte äußerlich kühl und hartherzig wirken, aber sie war eine Frau und recht bezaubernde noch dazu... Ihren zartgliedrigen Körper unter ihrem seidigen Hemd und der dicht gewebten Weste, ihr schmaler Fuß und ihre weiche Haut... - all das spürte André noch immer unter seiner Handfläche wie ein glühendes Eisen... „Was tust du mit mir... Oscar...“, murmelte er erstickt und raufte sich hilflos die Haare. Er musste sich fangen! Niemand durfte ihn in diesem Zustand sehen! Er würde lernen müssen, sich seine Gefühle nicht anmerken zu lassen und sie im tiefsten Winkel seines Herzens verborgen zu halten. So, wie es Oscar bestimmt mit den ihren tat... - - - Oscar war für den Rest des Tages nicht mehr ansprechbar. Ihr einstiges Kindermädchen bemerkte den schmerzhaft verzogenen Gesichtsausdruck – obwohl sich Oscar bemühte, sich nichts ansehen zu lassen. Und selbst mit größter Mühe konnte Oscar nicht verhindern, dass sie hinkte. Ohne ihren Schützling darauf anzusprechen ließ Sophie sofort den Arzt holen. Und als dieser eintraf, kam sogar Rosalie aus ihrem Zimmer und vergaß darüber ihren eigenen Kummer. Sie kümmerte sich zusammen mit Sophie rührend um Oscar. Über die Fürsorge der beiden sagte Oscar nichts und ließ ihren Fuß stoisch vom Arzt untersuchen. Zu sehr beschäftigte sie noch der Vorfall am See – die Erinnerung rückte sich mehr in Vordergrund, als es ihr lieb war. „Wie konnte das nur passieren, Lady Oscar?!“ Sophie überschüttete sie wispernd mit Fragen, bekam aber keine Antwort. Sofort keimte ein Verdacht in der alten Frau auf, dass ihr Enkel daran schuld sein könnte. Denn er war nicht wie gewöhnlich mit Lady Oscar zurückgekehrt. Und was sollte der notdürftige, nasse Verband um ihren Fuß? Es war ihr klar, dass er zu Abkühlung gedacht war... André würde sich noch vor ihr verantworten müssen, das nahm sich Sophie insgeheim fest vor! „Zum Glück ist es kein Bruch“, entriss Doktor Lasonne sie aus ihren Gedanken und sie schenkte ihm wieder ihre Aufmerksamkeit. Sophie atmete auf, aber der Groll auf ihren Enkel verging dadurch noch nicht. Zusammen mit Rosalie verfolgte sie die Behandlung des Arztes. Oscar saß auf ihrem Bett, der Doktor ihr gegenüber auf einem Stuhl und ließ ihren Fuß nach der Untersuchung herabsinken. „Was können wir tun?!“, schniefte Sophie mit besorgtem Blick auf Oscars Bein. „Es ist schon sehr angeschwollen!“ Sie übertrieb ein wenig – fand Oscar. Es sah schlimmer aus als es wirklich war. „Ich empfehle ein kühles Fußbad zu machen, damit die Haut sich beruhigt und entspannt“, erklärte Doktor Lasonne und erhob sich vom Stuhl, um seine Utensilien einzupacken. „Ich werde gleich eines vorbereiten“, erbot sich Rosalie und nach einem zustimmenden Nicken von Sophie, eilte sie hinaus. „Nach dem Fußbad solltet Ihr den Fuß bandagieren und möglichst nicht laufen, um den verletzten Knöchel nicht zu belasten.“ Der Doktor sprach zu Oscar, aber diese sah nur stumm an ihm vorbei ins Leere. Daher übernahm Sophie für sie die Antwort. „Ja, Herr Doktor, so werden wir es machen. Ich danke Euch, dass Ihr so schnell kommen konntet...“ „Das ist doch selbstverständlich.“ Doktor Lasonne lächelte gütig und verabschiedete sich gleich darauf von Oscar, obwohl von ihr keine Regung kam. Sophie geleitete ihn hinaus und Oscar blieb auf ihrem Bett ungerührt weiter sitzen – darauf wartend, dass Rosalie mit dem angekündigten Sud kommen würde. Eigentlich wäre sie nicht so ruhig geblieben und hätte stattdessen heftig protestiert, wenn man sie zum Nichtstun verdonnerte. Aber das war ihr gerade nebensächlich. Sie hatte sogar den schmerzlich pochenden Knöchel während der Untersuchung ausgeblendet. Sie war tief in Gedanken: Bei dem Vorfall am See... Bei André... Wie er sie angesehen hatte, als er sie an den Baum gedrängt hatte und auch nach ihrem ungeschickten Fall... Wie er ihre Haut hauchzart berührt hatte, als er den kühl-nassen Verband um ihren Fuß legte... Wie er sie stützend in seinen starken Armen gehalten hatte, als sie beide zu den Pferden gingen... Und wie er ihr dann in den Sattel half... Oscar verschränkte ihre Arme, umfasste sich bei den Schultern und schloss ihre Augen, als wollte sie diese Bilder verwischen. Aber das ging nicht. Und als wäre das schon nicht genug, erfüllte ihr Körper mit einer eigenartigen Wärme. „Was tust du mit mir... André...“, murmelte sie und in dem Moment hörte sie, wie die Tür in ihrem Salon aufging. Sofort öffnete sie die Augen, richtete sich gerade auf und verbannte all ihre Empfindungen. Sophie kam gleich darauf in ihr Schlafzimmer, mit einem Verband und Tüchern. Hinter ihr ging Rosalie mit einer gefüllten Schüssel und stellte sie vor Oscars Füßen auf den Boden ab. Sofort stieg Oscar ein kräftiger Geruch nach irgendwelchen Heilpflanzen in die Nase. Wie benommen ließ sie von Sophie ihren Fuß in den kühlen Sud tauchen und biss die Zähne zusammen, als ihr verletzer Knöchel sich meldete. Unter dem Wasser beruhigte es sich jedoch schon bald und Oscar entspannte sich ein wenig. Nach dem Fußbad wurde ihr der Verband angelegt und sie verbrachte den restlichen Abend auf ihrem Zimmer und in ihrem Bett - so, wie der Arzt es verordnet hatte. Nicht, dass sie sich von der braven Seite zeigen wollte, sondern weil es viel zu überlegen gab. Sie musste ihre aufgewühlten Gefühle wieder ordnen und so sein, wie sie schon immer war. Nicht umsonst hatte man sie doch wie ein Mann erzogen... - - - Oscars Fußknöchel ging es am nächsten Tag wesentlich besser – im Gegensatz zu ihrem Gemüt. Die rötliche Schwellung um ihr Fußgelenk war über Nacht zurückgegangen. Oscar hinkte zwar noch etwas, aber sie brauchte keine Stütze. Sie schickte einen Boten nach Versailles, der sie für heutigen Tag entschuldigen würde. André kam kurz vor Mittag auf das Anwesen. Noch bevor er die große Vorhalle im unteren Stockwerk betrat, hörte er eine taktvolle Melodie, die das ganze Haus in einem leisen Klang erfüllte. Jemand spielte Klavier. Das konnte nur Oscar sein. André sah zu der großen Treppe hinauf und verharrte für einen Augenblick. Er hatte sie schon einmal spielen gehört – früher, als er erst anfing mit ihr Bekanntschaft zu machen und hierher kam, um mit ihr Fechten und Schießen zu üben. Und jetzt? Andrés Hände wurden feuchter, ihm wurde innerlich heiß und die Erinnerung an den Vorfall von gestern gewann wieder an Intensität. Seine Lippen bewegten sich und brachten nur tonlos ihren Namen hervor: „Oscar...“ Warum hatte man sie so erzogen? Warum ausgerechnet sie? Es gab doch so viele Frauen... aber nur diese eine hatte sein Herz berührt... Er sollte besser nicht mehr hierher kommen, aber das konnte er nicht... Er musste sie sehen, er wollte sie sehen – dass es ihr gut ging und wie es um ihren Fuß stand. André dämpfte erneut all seine wahren Empfindungen und setzte sich so unbekümmert wie möglich in Bewegung. Er ging in die Küche, um seiner Großmutter seine Anwesenheit kund zu tun. Aber diese war nicht da. „Madame Glacé ist bei Lady Oscar im Salon“, erfuhr von einer der Bediensteten. „Soll ich ihr Bescheid sagen, dass du hier bist? Oder soll ich dich gleich zu ihr bringen?“ „Ich wähle die zweite Option.“ André hatte nicht sonderlich Lust, hier auf seine Großmutter zu warten. „Dann folge mir.“ Das Dienstmädchen trocknete schnell ihre Hände an ihrer Schürze ab und ging ihm voraus. Je höher sie die Treppen empor stiegen und dann den langen Gang entlang liefen, desto mehr hörte André den Klang des Klaviers. An einer großen Doppeltür blieben sie stehen und das Dienstmädchen klopfte kurz, bevor sie eintrat. Die Musik verstummte. „Lady Oscar, verzeiht, dass ich störe.“ „Schon gut. Was gibt es?“, sage die Angesprochene und das Dienstmädchen meldete dann Andrés Besuch. „Er kann ruhig reinkommen“, entschied Oscar und André betrat sogleich den Salon. Das Dienstmädchen knickste und ging wieder in die Küche, als Oscar sie mit einem dankenden Nicken entließ. Sophie nutzte nun ihre Gelegenheit und überhäufte ihren Enkel mit einer gewaltigen Litanei: „Wo bleibt dein Anstand?! Nachdem du gestern Lady Oscars Verletzung verschuldet hast, nimmst du die Dreistigkeit hier auch noch aufzutauchen, als wäre nichts passiert! Wie konntest du Lady Oscar das antun und auch noch feige davonlaufen?“ „Es war nicht seine Schuld, Sophie!“, mischte sich barsch Oscar ein und milderte sogleich ihren Tonfall – sie wollte ja die alte Frau nicht verschrecken. Und ebenso wollte sie nicht, dass Sophie auf ihren Enkel ungerechtfertigt schimpfte. „Sei so lieb und bereite für uns bitte ein Tee“, schickte sie daher ihre einstige Kinderfrau unter dem Vorwand davon. Widerwillig, aber um das Wohl ihres Schützlings besorgt, verließ Sophie den Salon. Oscar blieb mit André und Rosalie alleine. Die junge Frau war noch nicht über die gestrigen Ereignisse hinweg und wich daher kaum von Oscars Seite. Im Gegensatz zu gestern wirkte Oscar wieder kühl und distanziert. Das lag diesmal nicht an André. Nein! Sie freute sich insgeheim über seinen Besuch. Sie war nur auf ihre eigenen Gefühle wütend und das durfte niemand mitbekommen. „Mach es dir gemütlich“, sagte sie ihm und klimperte auf ihrem Klavier ungerührt weiter. Was auch immer mit ihr los war, sie musste es verdrängen. André und Rosalie setzten sich an den Tisch gegenüber und hörten ihrem lieblichen Musikstück entspannt zu. André ließ sich erneut davon verzaubern. Und wieder spürte er dieses angenehme Prickeln unter seiner Haut... André war gegen die Stimme seines Herzens machtlos und seinen Gefühlen hilflos ausgeliefert. Es war mehr als nur freundschaftliche Zuneigung und Sympathie. Ob Oscar die gleichen Gefühle zu ihm empfand? Er hoffte zumindest darauf. Oder war ihr Kummer um Graf von Fersen stärker? Dieser Zweifel lähmte seine Hoffnung. Und: Wer war er denn schon, um überhaupt darauf zu hoffen? André wusste: Oscar wurde nicht dazu erzogen, zu lieben und geliebt zu werden. Das durfte sie nicht. Deswegen bekämpfte sie ihre Gefühle und versuchte sie aus ihrem mannhaften Lebensstil zu streichen. Als ob das so leicht wäre! Die Natur konnte man doch nicht überlisten oder gar davonlaufen, egal wie oft und wie viele Male man es versuchte. André wünschte sich, Oscar möge irgendwann auf ihr Herz hören. Denn der Glanz in ihren Augen, den er Gestern entdeckt und ihm seitdem nicht mehr aus dem Kopf ging, hatte ihm eine Leidenschaft angedeutet, die er bisher bei ihr noch nie beobachtet hatte. Und diese Leidenschaft war ganz sicher ihm gewidmet! Oscar hatte das bestimmt nicht wahrgenommen und wenn, dann hatte sie es schnell im Keim erstickt. André seufzte schwermütig. Er würde Oscar niemals bedrängen oder ihr seine Gefühle aufzwängen. Aber aufgeben wollte er auch nicht! Vielleicht würde sie es irgendwann selbst bemerken und von alleine zu ihm kommen. Dann würde er ihr auch sein Herz öffnen und sie glücklich machen. Aber bis dahin würde er weiterhin nur ein treuer Freund für sie bleiben und ihr immer wieder zeigen, wie man frei und unbeschwert sein kann. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)