Schicksalswege von Saph_ira ================================================================================ Kapitel 18: Notre Dame de Paris ------------------------------- Oscar musste in Versailles wieder aufmüpfigen Höflinge in die Schranken weisen und bei den Aufdringlichsten gar ihre Soldaten einsetzen, um sie aus Versailles zu verweisen. Sie war es leid, aber das gehörte nun mal zu ihren Pflichten als Kommandant der königlichen Leibgarde. Wann hörte der Ansturm endlich auf? Es musste etwas dagegen getan werden! Aber nur was? Es konnte nur die Rückkehr Ihrer Majestät der Königin und die Wiederaufnahme der Audienzen helfen. Aber würde das wirklich etwas ändern? Seit Oscar denken konnte, hatte Marie Antoinette ihre königlichen Pflichten vernachlässigt... Der Tag ging zur Neige und Oscar war erschöpft. Heute hatte es sogar bis Mitternacht gedauert, um Ordnung unter den Unzufriedenen und Klagenden zu schaffen. Sie wollte weg. Sie wollte ihre Ruhe haben und so übergab sie die Befehlsgewalt an ihren Untergebenen, Graf de Girodel. „Seid aber vorsichtig, denn es ist nicht empfehlenswert, nachts allein durch Paris zu reiten... Es könnte hinter jeder Ecke eine Gefahr lauern...“, meinte Girodel bedächtig. „Wovon redet Ihr? Ich scheue keine Gefahren!“ Oscar hörte ihn nicht einmal zu Ende an: „Und außerdem: Paris ist in mancher Hinsicht sogar der sicherste Ort für mich!“ Sie stieß ihrem Schimmel in die Seiten und ritt in Windeseile nach Paris, um in einem der Gasthöfe ein Bier zu trinken und den anstrengenden Trubel des Tages zu vergessen. Ihren Freund wollte sie lieber nicht behelligen. Er würde höchstwahrscheinlich noch in der Kaserne sein und erst morgen Dienstfrei bekommen. Sie würde ihn also erst morgen wiedersehen können und wohl oder übel ihr Bier heute allein genießen müssen. Aber es machte ihr nichts aus - sie war es gewohnt, alleine zu sein. Oscar hätte nicht gedacht, auf welche ungewöhnlichen Wegen sie das Schicksal zu André führen würde. Bei dem Ritt durch das nächtliche Paris, auf der Suche nach einem geeigneten Gasthof, begann ihr Schimmel leise vor sich hin zu wiehern. Nicht weit entfernt ertönte als Antwort das Wiehern eines anderen Pferdes. Es klang so, als würden sich die beiden Tiere wie alte Freunde begrüßen. Oscar wurde stutzig und neugierig zu gleich. Sie änderte die Richtung und ihr Pferd trabte von selbst immer schneller. Er folgte einer Witterung und brachte seine Herrin zu einem nicht gerade ansehnlichen Wirtshaus. An dem Pfosten zum Eingang tänzelte ein dunkles Pferd und es sah so aus, als würde es ihrem Schimmel am liebsten entgegen laufen wollen. Doch der Halfter ließ das nicht zu und so schüttelte es mit seiner Mähne und wieherte freudig. Oscar staunte nicht schlecht und sofort keimte eine heimliche Vorfreude in ihr auf. Sie zügelte ihren vierbeinigen Gefährten direkt neben dem angebundenen Braunen und klopfte ihm an den Hals. „Gut gemacht, mein Lieber!“ Sie stieg ab, band ihr Pferd an und die zwei Tiere begrüßten sich mit gegenseitigem aneinander reiben der Köpfe. Oscar schmunzelte unwillkürlich bei diesem Anblick und beschloss, sofort in den Gasthof zu gehen. In Andrés Gesellschaft würde das Bier sicherlich viel besser schmecken. Die Freude verging ihr sofort, als sie die Gaststube betrat: Vor ihr standen Männer johlend und jubelnd um drei Tische, auf denen zwei Frauen mit freizügiger Oberweite tanzten. Ihre unbedeckten Rundungen hüpften im Takt vulgären Bewegungen auf und ab. Angewidert wandte Oscar den Blick ab - und dann entdeckte sie ihren Freund! Gleich darauf traf sie der Schlag des Entsetzens! Eine vollbusige Brünette saß auf seinem Schoss und fummelte unter seinem Kragen. Er wirkte genauso entsetzt und überrascht wie sie! Ob wegen der Frau oder ihrem unverhofften Erscheinen, wusste sie nicht zu sagen. Ein schmerzlicher Stich durchfuhr in ihr Innerstes und erneut wollte sie nur noch weg. Dennoch stand sie wie festgefroren da. Die Brünette sprang sogleich leichtfüßig auf und schwebte zu ihr. „Herzlich willkommen, Monsieur. Wollt Ihr Euch zu uns gesellen?“ „Nein, danke!“, murrte Oscar heiser und ihre Füße bewegten sich dann doch wie von alleine. Sie verließ überstürzt die Gaststube, band eilig ihren Schimmel ab, stieg sofort in den Sattel und ritt im vollen Galopp davon. In der Gaststube kehrte unterdessen die Frau an den Tisch und damit zu den beiden Männern zurück, als wäre nichts passiert. „Ihr habt aber merkwürdige Freunde...“ Sie machte Anstalten, sich wieder auf Andrés Schoß sich zu setzen, als dieser wie gestochen hochsprang. „Was ist Euch auf einmal?“, fragte sie zuckersüß und schmiegte sich schamlos an ihn. André packte sie an den Handgelenken und stieß sie vehement von sich. „Lasst mich in Ruhe!“, knurrte er und hastete aus der Gaststube. „Ihr seid aber seltsame Männer...“ Die Frau sah verwundert André nach, vergaß ihn aber schnell wieder und widmete sich stattdessen nun Alain. „Dann schenke ich eben Euch meine Aufmerksamkeit.“ „Umso besser“, lachte Alain und zog sie vergnügt auf seinen Schoss. - - - Wie besessen trieb Oscar ihr Pferd durch die nachtdunklen Straßen von Paris. Die wenigen noch leuchtenden Laternen am Straßenrand flogen nur so an ihr vorbei. Wut und Schmerz brodelten in ihr, wie noch nie zuvor. Aber warum? Nur weil sie André mit einer Frau gesehen hatte? Vielleicht war das seine „Richtige“? Nein, unmöglich! Und was ging sie das überhaupt an?! Es war lächerlich! André war ungebunden und konnte tun und lassen was er wollte! Sie durfte sich nicht in sein Privatleben einmischen! Dennoch zerbarst ihr Herz qualvoll alleine bei dem Gedanken... Sie bekam immer mehr das Gefühl, ihren ganzen Schmerz und ihre Wut hinausschreien zu müssen! Sie fühlte sich auf einmal so verraten, betrogen und hintergangen! „Oscar, warte!“ War das seine Stimme? Nein, es konnte nur Einbildung sein! André befand sich in bessere Gesellschaft und sie konnte ihm das nicht verwehren! Doch das Hufklappern eines galoppierten Pferdes hinter ihr, sprach dafür, dass ihr jemand auf den Fersen war. „Nein, du bist es nicht, André...“, redete sich Oscar ein und stieß die Stiefelabsätze noch heftiger ihrem Schimmel in die Seiten. „Warte doch, Oscar, bitte!“, wieder hörte sie seine Stimme hinter sich, aber sperrte sie sogleich wieder aus. Sie war sich nun sicher, dass er ihr folgte. „Bitte nicht, André... Lass es sein... Kehre lieber um... zurück zu ihr... Du darfst mir nicht folgen... Lebe dein Leben, wie du es für richtig hältst... Aber lass mich allein – ich werde das schon verkraften...“, schluchzte Oscar hörbar, doch der Wind vermochte ihre Worte nicht an sein Ohr zu tragen. Ihre Augen brannten, ihr Brustkorb zog sich erdrückend zusammen und ihr Pferd bekam unermüdlich die Sporen ihrer Stiefel zu spüren. André setzte alles daran, Oscar einzuholen. Es war absurd! Er wollte sich rechtfertigen, ihr eine Erklärung geben – doch sie gehörte ihm nicht! Oscar gehörte niemanden! Trotzdem fühlte er sich miserabel und schuldig, weil sie ihn mit einer anderen Frau so anzüglich gesehen hatte. Es war nicht das, wonach es ausgesehen hatte und was sie nun zweifelsfrei dachte. Das wollte er ihr sagen. Die Wahrheit, dass sich diese Frau ihn an den Hals geworfen hatte, ohne dass er es gewollt hatte. Sie hatte ihn bedrängt und er hatte wirklich versucht, sie abzuwehren. André gab seinem Braunen auch immer wieder die Sporen. Das war kein Wettritt und er würde Oscar deshalb nicht gewinnen lassen. Er würde sie einholen, koste es was es wolle! Ihr Schimmel vor ihm war bereits erschöpft und wurde immer langsamer. André überholte sie und trieb sein Pferd dazu, ihr den Weg abzuschneiden. Oscar zügelte beinahe erschrocken ihren Schimmel. „Brrr!“ Dann sah sie ihren Freund mit weit aufgerissenen Augen an und eine gewisse Erleichterung durchströmte ihr Inneres. André war ihr in der Tat nachgeritten! Er hatte ihretwegen diese Frau verlassen! „Du bist es...“, meinte sie gefasst. „Was für eine Überraschung. Ich glaubte dich eigentlich woanders zu wissen...“ Wie konnte sie sich nur derart verstellen?! Sie belog sich selbst, um von ihren verletzten Gefühlen abzulenken. André ahnte das und holte tief Luft: „Wir haben nach Mitternacht dienstfrei bekommen und wollten uns in einem Gasthof ein Bierchen gönnen...“ „Das habe ich gesehen...“, entfuhr es Oscar von den Lippen - kleinlauter als gedacht. Das erschreckte sie selbst. Vor ihrem inneren Auge spielte sich immer wieder die Szene im Gasthof ab: Wie die zwei Frauen auf den Tischen tanzten und sich die Brünette an Andrés Schoß rieb. Erneut stieg dabei dieser geißelnde Schmerz in ihrem Brustkorb auf und es kam ihr so vor, als würde es ihr den Atem verschlagen. Krampfhaft versuchte sie, die anstößigen Bilder zu verdrängen und sachlich zu bleiben. André sollte nichts von ihrem Kampf mit ihren überforderten Gefühlen mitbekommen. Doch André konnte sich vorstellen, an was sie dachte. Auch ihn quälte die Erinnerung an die Tänzerinnen und der vulgäres Benehmen der Brünette. „Das habe ich nicht gewollt...“, murmelte er mit gebrochener Stimme: „Verzeih... Ich habe nicht damit gerechnet...“ „Dass ich im Gasthof erscheine?“ Oscar verfluchte sich innerlich dafür, dass ihre Zunge schneller war, als ihr Verstand. Sie wollte sich doch nicht in sein Privatleben einmischen! „Nein!“, widersprach er sofort und hielt den Riemen der Zügel noch fester in seinen Fäusten. „Ich habe nicht damit gerechnet, dass so etwas passieren würde und sich diese Frau so schamlos...“ Plötzlich geriet er ins Stottern. Er konnte einfach nicht weiter sprechen... Oscar beobachtete ihn die ganze Zeit, soweit es in der Dunkelheit möglich war. Sie spürte, dass es ihm unangenehm war, über den Vorfall zu sprechen. Also war ihm das Ganze genauso unangenehm wie ihr. „Lass gut sein, André.“ Mit diesen Worten gewann sie wieder die Oberhand über ihre verletzten Gefühle. André verstummte. Eine bedrückte Stille breitete sich augenblicklich zwischen ihnen aus - nur das Schnaufen der Pferde und das Zirpen der Grillen durchbrach sie. Irgendwann hielt es André nicht aus und er stellte die erst beste Frage, die ihm gerade einfiel: „Und, was bringt dich nach Paris in der tiefen Nacht? Ich glaubte dich eigentlich in Versailles zu wissen.“ Oscar horchte auf. Wieso interessierte ihn das? „Das ist eine lange Geschichte...“ „Wir haben Zeit.“ André zwang seinen Mundwinkeln ein Lächeln ab. Ihm kam gerade ein besserer Einfall, um nicht untätig an Ort und Stelle zu stehen. „Wir können gemütlich durch die Stadt reiten und dann erzählst du es mir. Wenn du willst...“ „Eine gute Idee.“ Oscar setzte ihren Schimmel in Bewegung und André schloss sich ihr sogleich an. Im gemächlichen Trab ritten sie nebeneinander einher und Oscar erzählte über die unzufriedenen Höflinge in Versailles. „... ich kann den Unmut der Menschen verstehen, aber sieht denn niemand Marie Antoinette, wenn sie so ungezwungen mit ihren Kindern spielt?! Seit langem habe ich kein solch glückliches Lächeln mehr bei ihr gesehen.“ „Nun...“ André konnte einerseits die Prioritäten der Königin nachvollziehen, aber er konnte auch Oscars Sorge um sie verstehen. „...ich verstehe, was du meinst. Aber wenn das so weiter geht, dann wird etwas Unheilvolles geschehen. Denn es sind nicht nur Bürgerliche, die sich bereits immer mehr von Ihrer Majestät abwenden. Es sind auch Adlige und wenn sie nichts unternimmt, dann könnte es zu spät sein...“ „Ja, ich weiß...“ Mit Bedauern gab Oscar ihm recht. Aber etwas daran ändern, konnte sie leider nicht. Sie wollte nicht mehr darüber reden. Sie war eigentlich nach Paris gekommen, um sich davon abzulenken und wenigstens für ein paar Stunden die Probleme zu vergessen. So wechselte sie unerwartet das Thema: „...aber erzähle mir lieber, wie es dir in der Kaserne geht.“ André tat ihr den Gefallen und erzählte seinerseits über das Soldatenleben in der Kaserne. „Es gibt keine nennenswerten Änderungen. Unser Oberst ist streng und behandelt uns als wären wir unter seiner Würde. Er ist der einzige, der dem Adel angehört – wir Söldner sind dagegen alle bürgerlich und halten zusammen. Aber das weißt du doch schon alles.“ Ja, das wusste sie tatsächlich schon, aber sie wollte es trotzdem immer wieder von ihm hören. „Erzähl trotzdem weiter. Es tut gut, zur Abwechslung mal etwas anderes zu hören, als immer nur vom Hof und über unzufriedenen Höflinge.“ „Was willst du denn sonst hören, Oscar?“ André sah kurz zu ihr. „Die Söldner sind genauso unzufrieden über die ungerechten Verhältnisse des Landes, wie die adligen Untertanen über das Verhalten Ihrer Majestät.“ „Nun...“ Wie eigenartig es doch war, dass das Thema erneut auf die Königin zurück kam. „Ich denke, Unzufriedenheit wird es immer geben. Aber lassen wir das jetzt lieber... Heute möchte ich über diese Sorgen nicht mehr nachdenken... Bitte lass uns über etwas anderes sprechen, André.“ „In Ordnung.“ André überlegte, welches Thema er einschlagen konnte, um Oscar aufzuheitern. „Ach, das habe ich fast vergessen: Vor paar Tage war Besuchstag bei uns in der Kaserne und Diane bat mich, dir herzliche Grüße auszurichten.“ Die Erwähnung des Mädchens blieb nicht wirkungslos. Oscars Mundwinkel zogen sich gleich nach oben und ihre Stimme klang nicht mehr so geplagt. „Danke, du kannst ihr auch von mir liebe Grüße ausrichten. Wie geht es ihr?“ An Alain versuchte sie gar nicht erst zu denken. Seit ihrer letzten Begegnung mit ihm bei der Feier hatte André nichts mehr über ihn erwähnt. Ob er ihr grollte oder nach Rache sinnte? Er war auch in der Gaststube gewesen, erinnerte sie sich, aber sie hatte ihn nicht weiter beachtet. Ihr Blick hatte nur André und der Frau gegolten. Oscar schüttelte sich. Darüber wollte sie erst recht nicht nachdenken. Sie konzertierte sich daher wieder darauf, was ihr Freund über Diane zu erzählen wusste. „Ihr geht es gut. Sie war von deinem Auftritt und deiner Ausstrahlung letztes Mal sehr angetan. Immer wieder schwärmt sie davon.“ „Das ist doch aber schon zwei Jahre her!“ Oscar staunte sichtlich, wie unvergesslich sie dem Mädchen geblieben war. André schmunzelte. „Dann kannst du mal sehen, wie schnell du die Menschen verzaubern und auf deine Seite ziehen kannst.“ Bis auf Alain und einige seiner Kameraden, aber das blieb besser unausgesprochen. „Junge, schwärmende Mädchen, die in mir einen Mann sehen und sich fragen, warum ich nicht als solcher geboren wurde...“, scherzte Oscar bitter, denn es lag doch sehr viel Wahrheit darin. Schon als sie im zarten Alter von vierzehn Jahren an den königlichen Hof kam und Kapitän der Garde wurde, hatten die Hofdamen von ihr und ihrem stolzen Erscheinungsbild geschwärmt. Daran war sie über die Jahre hinweg gewöhnt und sie machte sich nichts daraus. Aber es tat gut, sich mit dieser Unterhaltung von dem Thema abzulenken und so blieb Oscar dabei. Die Gemüter heiterten sich unterwegs immer mehr auf und die Zeit verging schnell, ohne das Oscar oder André es bemerkten. Vertieft in ihre Unterhaltung, passierten sie Straße für Straße, überquerten Brücke für Brücke, und drangen immer mehr in das Zentrum der Stadt vor. Die dunklen Umrisse einer mächtigen Kathedrale zeichneten sich schon bald vor ihnen ab und bewogen sie dazu, die Pferde zu zügeln. „Notre Dame...“ Oscar betrachtete die imposanten, mächtigen Türme. André folgte ihrem Blick. „Ja.“ Er lächelte verschmitzt. „Als Kind war ich oft dort oben.“ „Du hast dich dort wohl vor deiner Großmutter versteckt?“, neckte ihn Oscar scherzhaft. „Nein“, betonte er auffällig zweideutig. „Ich mochte den Blick über die Stadt.“ André sah zu Oscar. „Das hat mich immer verzaubert und ich kenne bis heute nichts Vergleichbares. Das würde dir bestimmt auch gefallen können.“ „Woher willst du das wissen?“, wollte Oscar fragen, doch sie spürte eine aufladende Energie in sich und ein Prickeln unter der Haut, die ihr die Sprache verschlugen. „Das weiß ich nicht, André. Aber dort hoch zu steigen, wäre mir die Sache wert.“ Hunderte von Stufen ließen sie hinter sich, bis sie ganz oben auf einen der Türme ankamen. Sie schnauften und ihre Beine fühlten sich schwer an. Heftiger Wind zerzauste ihnen die Haare und sie hatten Mühe, sie sich aus dem Gesicht zu halten. Aber das alles spielte schlagartig keine Rolle mehr. Denn der Ausblick auf Paris war herrlich und unbeschreiblich. Besonders wenn die Sonne aufging, während unten noch die Dunkelheit der Nacht herrschte. Im Osten, weit entfernt am Horizont, breiteten sich rötliche Streifen am dunkelblauen Himmelsgrund aus. Träge zeigte die Sonne ihre ersten Strahlen. Verträumt beobachteten Oscar und André das Naturschauspiel. Oscar musste André recht geben: Das sah unvergleichbar schön aus! Ein gerührtes Lächeln stahl sich auf ihren Lippen. „Du hast mir ganz Paris zu Füßen gelegt...“, sagte sie nachdenklich. „Eigentlich machen das nur Männer um ihre Liebsten zu beeindrucken...“ „Meinst du?“ André sah von der Seite zu ihr. „Ich kenne nur, dass man die Welt oder das Herz zu Füßen seiner Liebsten legt... Aber Paris?“ Er log. Für sie würde er weit mehr tun, als nur das. Warum sagte er ihr nicht gleich die Wahrheit? Die Gelegenheit war doch günstig. Hatte er Angst, dass sie es falsch aufnehmen würde? Ja, das hatte er... Oscar senkte ihre langen Wimpern. „Und dennoch hast du es getan. Ob beabsichtigt oder nicht: Du hast mir die Schönste Stadt der Welt zu Füßen gelegt. Wieso machst du das nicht lieber bei deiner Auserwählten aus der Gaststube? Sie würde sich sicher mehr freuen als ich.“ „Sie ist nicht meine Auserwählte...“, erinnerte sie André schulterzuckend. „Ich warte noch immer auf die Richtige.“ „Ja, aber...“ Oscar hob schlagartig ihren Blick und sah direkt in seine Augen. Sie erinnerte sich deutlich, dass sich ihr vorhin ein ganz anderes Bild gezeigt hatte... „...aber im Gasthof...“ „Das war nichts! Die Frau bedeutet mir nichts! Sie hat sich mir an den Hals geworfen und ich war gerade dabei mich von ihr zu befreien, als du kamst. Ich kann solch leichte Mädchen nicht ausstehen.“ Er sagte das so trocken und nüchtern, dass sich ihr unweigerlich eine Frage stellte, der sie auf den Grund gehen musste: „Welche sind dann nach deinem Geschmack?“ André überlegte angestrengt, suchte nach richtigen Worten. Er wollte Oscar weder vor den Kopf stoßen, noch sie in Verlegenheit bringen. „Eine ganz Besondere. Vielleicht auch eine Außergewöhnliche. Aber eine liebenswerte und gleichzeitig starke Frau, die mich aus tiefstem Herzen liebt.“ André sah noch eindringlicher in ihr Antlitz, das von den rötlich-orangen Strahlen der langsam aufgehenden Sonne überzogen war. Oscar schluckte hart und ihre Augen spiegelten dieses Morgenlicht mit dem Glanz der Verwunderung. „André... so eine Frau gibt es nicht...“ „Doch!“, hätte André gerne gesagt, aber er verkniff es sich. Er hatte den verborgenen Schmerz in Oscars Augen gesehen und das hielt ihn davon ab, ihr seine Gefühle zu offenbaren. Sie hatte ihn gewiss verstanden und es bedurfte keiner Worte mehr. Wenn man eine Rose unbedacht berührte, dann bestand die Gefahr, von ihren Dornen gestochen zu werden. Aber wenn man behutsam mit ihr umging, dann konnte nichts passieren. So war es auch mit Oscar. Sie brauchte noch Zeit, um sich ihre Gefühle einzugestehen. Aber dieser Punkt in ihrem Leben war nicht mehr fern. Das hatte André in ihrem Blick gesehen. Sie war bereit. Sie musste das nur noch selbst erkennen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)