Unausgesprochen von Kunoichi ================================================================================ Kapitel 1: Nicht wie geplant ---------------------------- Sorglosigkeit – mit diesem Wort konnte Sharrkans derzeitige Gemütslage wohl am treffendsten beschrieben werden. Worüber in aller Welt sollte er sich auch Gedanken machen? Durch das tägliche Schwerttraining mit Alibaba und Olba durfte er den Großteil seiner Arbeitszeit mit der Sache verbringen, die ihm am meisten Freude bereitete. Was war daran schon auszusetzen? Hinzu kam, dass seine beiden Schüler zwar erhebliche Fortschritte machten, ihre Fähigkeiten aber bei Weitem nicht an die ihres Meisters herankamen und für ihn kaum eine Herausforderung darstellten. Während Sharrkan sich nach Einläuten des wohlverdienten Feierabends höchstens ein wenig aufgewärmt fühlte, krochen Alibaba und Olba meistens todmüde und völlig verfrüht in ihre Betten. Nur heute, da hatte er die zwei nicht entwischen lassen und weder Gezeter noch Ausreden hatten es ihnen erspart, in einer der vielen Bars von Sindria zu landen. Sharrkans Mundwinkel verzogen sich noch immer zu einem breiten Grinsen, wenn er daran dachte, wie seine Schüler – sich gegenseitig stützend – nach Hause gewankt waren. Ja, und zugegeben hätten auch seine Beine niemals diesen Weg eingeschlagen, wäre er selbst nicht mindestens angetrunken gewesen. Doch der Alkohol überspielte die Unsicherheit ganz gut, die in seinem Bauch für ein nervöses Flattern sorgte, und flüsterte ihm eindringlich ins Ohr, dass an seinem Vorhaben überhaupt nichts Schlimmes dabei sei. Schließlich hatte auch sie schon oft genug nachts vor seiner Tür gestanden. Einen Moment hielt Sharrkan inne und blickte von der Brüstung des Turmes hinab auf die Stadt, ließ sich vom mildwarmen Wind durch die Haare fahren und betrachtete die Spiegelung des Mondes, die sanft auf den schwarzen Wellen des Meeres trieb. Vor einem halben Jahr, nach einer Maharaghan, war er zum allerersten Mal hier gewesen – zusammen mit Yamraiha, bloß ein paar Schritte von ihrem Zimmer entfernt. Sie hatten beide zu viel getrunken gehabt und irgendwie war plötzlich das Eine zum Anderen gekommen, ohne dass er wirklich realisieren konnte, was gerade geschah. Danach waren sie einander tagelang aus dem Weg gegangen, doch seltsamerweise hatte es seitdem in unregelmäßigen Abständen immer wieder nächtliche Begegnungen gegeben. Manchmal von ihm ausgehend, manchmal von ihr, aber niemals nüchtern und niemals waren Sharrkan und Yamraiha am nächsten Morgen nebeneinander aufgewacht. In stillem Einverständnis hatte keiner von beiden auch nur ein einziges Wort über ihre gegenseitigen Besuche verloren und weil ihre Sticheleien und Feindseligkeiten weiterhin zum normalen Umgangston gehörten, war ihr kleines Geheimnis bisher auch unentdeckt geblieben. Zielstrebig folgte Sharrkan dem Flur das letzte Stück bis zu Yamraihas Tür, hob die Hand um anzuklopfen und stutzte, als ihm auffiel, dass sie unverschlossen war. Aus dem Raum dahinter drang gedämpftes Schluchzen und schlagartig war all die Leichtigkeit, die ihn noch ein paar Minuten zuvor durchströmt hatte, wie weggeblasen. Eine kurzzeitige Starre wich der Idee, sich umzudrehen und diesen Ort zu verlassen – denn ganz offensichtlich war die Magierin gerade nicht in Stimmung ihn zu empfangen – doch irgendetwas hinderte ihn an der Umsetzung seines Plans. Yamraiha lag bäuchlings auf ihrem Bett, das Gesicht in einem Kissen verborgen. Reglos verharrte Sharrkan in der Diele, hoffte darauf, dass sie ihn von selbst bemerken würde und musste schließlich auf ein vernehmliches Räuspern zurückgreifen. „Yamraiha? Alles in Ordnung?“ Zu Tode erschrocken riss die junge Frau sich hoch und präsentierte ein fleckiges Gesicht, aus dem zwei rote, verquollene Augen Sharrkan irritiert anstarrten. Wäre die Situation weniger ernst gewesen, hätte er sie bei diesem Anblick ganz sicher aufgezogen. „Was willst du denn hier?“, war ihre erste Reaktion, obwohl sie darauf, wenn sie eins und eins zusammenzählte, wohl nicht wirklich eine Antwort erwartete. „Viel wichtiger ist wohl: Warum weinst du?“, stellte er als Gegenfrage, ließ die Tür hinter seinem Rücken ins Schloss fallen und kam auf Yamraiha zu. „Es ist nichts“, entgegnete sie brüsk, wischte sich mit dem Ärmel die Tränen von den Wangen und rutschte dann an die von Sharrkan abgewandte Bettkante. „Ach, wirklich? Sah mir gar nicht danach aus.“ Langsam ging er zu ihr herüber und ließ sich neben sie sinken – aufgrund ihrer aufgewühlten Verfassung, wie die Erfahrung es ihn gelehrt hatte, in einigem Sicherheitsabstand. „Ich hab bloß einen schlechten Tag gehabt“, gab Yamraiha seinen auffordernden Blicken unwillig nach. „Halb so wild.“ „Und?“ Sie biss sich auf die Lippen, wirkte elender als jemals zuvor und murmelte: „Und auf einmal ist alles wieder hochgekommen. Ich meine… mit Magnostadt… und mit…“ Sharrkan wusste, wovon sie sprach. Auch wenn er selbst nicht dabei gewesen war, hatte er von der großen Schlacht in Magnostadt vor wenigen Wochen gehört – jeder hatte das. Und ihm war auch bekannt, dass Yamraihas Adoptivvater, der Leiter der Magierakademie, bei diesem Kampf sein Leben gelassen hatte. Nur von den genauen Umständen, da hatte er keine so wirkliche Ahnung. Stumm saß Sharrkan da, überlegte fieberhaft was er Tröstendes, Hilfreiches oder Humorvolles sagen konnte, während die peinliche Stille sich im Raum ausdehnte wie zäher Kaugummi. „Sieh es doch mal so“, formulierte er schließlich recht umständlich. „Er hatte immerhin ein langes und glückliches Leben. Das ist doch auch was, nicht wahr?“ Noch bevor er den Mund ganz geschlossen hatte, wurde Sharrkan bewusst, dass er einen bösen Fehltritt begangen hatte, denn mit voller Wucht knallte Yamraihas Kissen ihm direkt auf die Nase. „Wie kannst du es wagen?! Was fällt dir überhaupt ein?!“, schrie sie ihn wutentbrannt an. „Ich meinte-“ „Was weißt ausgerechnet du davon, ob Mogamett glücklich gewesen ist? Was weißt du schon, was er in seinem Leben alles durchgemacht hat? Bildest du dir etwa ein, du hättest ihn gekannt? Du weißt gar nichts!“ Wieder und wieder schlug sie auf Sharrkan ein, der – erschrocken von ihrer Impulsivität – abwehrend die Arme hob. „So hab ich das doch überhaupt nicht gem-“, setzte er erneut an, doch Yamraiha hatte sich zu sehr in Rage geredet, als dass sie auch nur eines seiner Worte hätte wahrnehmen können. „Du bist ein egoistischer, unsensibler Mistkerl, Sharrkan!“, grollte sie weiter. Ihr Gesicht war jetzt rot vor Zorn und sie zitterte am ganzen Leib. „Yamraiha-“ „Hast du überhaupt eine Vorstellung davon, wie es ist, einen geliebten Menschen zu verlieren?!“ „Ich-“ „Mich kennst du doch genauso wenig, wie du Mogamett gekannt hast! Meine Gefühle interessieren dich einen Dreck! Du kommst immer nur bei mir an, weil du das Eine willst-“ „Es reicht!“ Sharrkan war vom Bett aufgesprungen. „Du bist völlig durchgeknallt, du verdammte Hexe!“, brüllte er zurück. „Lass deinen Frust gefälligst an jemand anderem aus!“ Das Kissen traf ihn am Hinterkopf, als er Richtung Ausgang davonstapfte und er konnte sich glücklich schätzen, dass sie keine Wassermagie gebraucht hatte. Sonst wäre er jetzt wohl bis auf die Knochen durchnässt gewesen – oder verbrüht, je nachdem. Verärgert lehnte er sich von außen gegen die Zimmertür, atmete ein paarmal tief ein und aus und hörte, wie Yamraiha drinnen hemmungslos zu weinen begann. Für einige Minuten schloss Sharrkan die Augen und kämpfte ein zweites Mal an diesem Abend gegen den Drang, einfach wegzulaufen. Er fühlte sich ertappt, dass sie so unverblümt ausgesprochen hatte, was selbstverständlich der Wahrheit entsprach: nämlich dass er sie nur aufgesucht hatte, um mit ihr zu schlafen. Sharrkan erntete haufenweise glühende Blicke von Mädchen, bei denen es ein Leichtes war, sie zu sich ins Bett zu holen und musste sich trotzdem eingestehen, dass es ihm mit keiner anderen so gut gefiel wie mit Yamraiha. Doch in allen anderen Punkten lag sie absolut daneben. Er wusste sehr wohl, wie sich der Tod einer nahestehenden Person anfühlte – für das Begräbnis seiner Mutter war er als Kind eigens zurück nach Heliohapt gereist. Und nur, weil er vielleicht nicht allzu viel über Yamraihas Vergangenheit wusste, hieß das nicht, dass es ihn nicht interessierte. Den Geräuschen nach zu urteilen, schien die Magierin sich allmählich beruhigt zu haben und Sharrkan riskierte es, die Tür vorsichtig wieder zu öffnen, während das eigene Herz ihm heftig gegen die Rippen pochte. Beängstigend stumm und mit hängenden Schultern kauerte sie noch immer an dem Platz, an dem er sie zuvor hatte sitzenlassen. „Willst du mich weiter verprügeln?“, fragte er unsicher und sie schüttelte den Kopf. „Dann komme ich jetzt rein, ja?“ Ein Nicken. Voller Misstrauen betrat Sharrkan das Zimmer, ließ seinen potentiellen Fluchtweg nicht aus den Augen und blieb außerhalb von Yamraihas Reichweite vor ihr stehen. Sie gab keinen Ton von sich – nur hin und wieder ein leises Schniefen – und blickte stur auf den blanken Holzboden zu seinen Füßen. Sharrkan schluckte die unzähligen Dinge hinunter, die ihm auf der Zunge lagen und zwang sich, seinem Instinkt zu vertrauen und einfach abzuwarten. „Matal Mogamett hatte kein einfaches Leben“, sagte Yamraiha endlich mit belegter Stimme, als hätte er sie zum Sprechen aufgefordert. „Er ist ausgenutzt worden und diskriminiert und im Krieg wurde ihm seine einzige leibliche Tochter genommen. Er hatte ein hartes Schicksal.“ „Das hab ich nicht gewusst.“ „Ich weiß.“ „Ich wollte seinen Tod auch bestimmt nicht herunterspielen.“ „Ich weiß.“ „Und ich kann nachempfinden, wie groß deine Trauer ist.“ „Ja… ich weiß.“ Lautlos fielen die Tränen in ihren Schoß, bildeten dunkle Flecken auf ihrer Kleidung und wollten sich nun endgültig keinen Einhalt mehr gebieten lassen. „Es tut mir leid“, flüsterte Yamraiha bitterlich und vergrub das Gesicht in den Händen. Sharrkan hatte sie noch nie zerbrechlicher erlebt. Er machte ein paar Schritte auf sie zu und – zu seiner eigenen Überraschung – fast so, als hätte er es von Anfang an im Sinn gehabt, nahm er ihre Handgelenke und zog sie vom Bett hoch, in seine Arme. Am ganzen Körper bebend drückte Yamraiha sich an ihn und ließ all ihrer Verzweiflung freien Lauf, während er ihr zärtlich über das lange Haar strich. Es hatte diesen vertrauten Duft, der Sharrkan jedes Mal ein bisschen an Meer erinnerte. „Warum erzählst du mir nicht ein bisschen was?“, schlug er vor, nachdem sie sich schon eine Weile an seiner Brust ausgeweint hatte und noch immer vergeblich um Beherrschung rang. Die Ablenkung zeigte ihre sofortige Wirkung und Yamraiha blinzelte ihn perplex an. „Erzählen? Worüber denn?“, krächzte sie. „Über Mogamett?“ Sharrkan spürte eine unangenehme Hitze bis in seine Wangen aufsteigen, die nicht dem Alkohol geschuldet war. Er mied ihren Blick und fasste sich ein Herz, indem er sagte: „Nein, ich… ich meinte eher über dich.“ Dem folgte ein ungläubiges Schweigen. „Bist du dir sicher, dass dich das interessiert?“, fragte Yamraiha skeptisch, doch auf ihre Lippen hatte sich plötzlich ein mildes Lächeln geschlichen, das sie nun ebenso erfolglos zu verstecken versuchte, wie zuvor ihre Tränen. „Du verstehst schließlich nicht viel von Magie. Das ist sicher totlangweilig für so einen dämlichen, selbstgefälligen Schwertkämpfer wie dich.“ Eine Erleichterung, die Sharrkan sich beim besten Willen nicht erklären konnte, durchströmte ihn vom Haaransatz bis in die Zehenspitzen. Mit einer aufsässigen Yamraiha konnte er so viel einfacher umgehen als mit einer weinenden und nicht halb so forsch wie beabsichtigt entgegnete er: „Wenn es mich langweilt, kann ich ja einfach so tun als ob. Du blöde Hexe.“ Kapitel 2: Über alle Grenzen ---------------------------- Die Klinge erstrahlte in blendend weißem Licht, so grell wie ein Blitz, als er das Magoi durch seine Hände in das Schwert lenkte. „Foraz Saiqa!“, rief Sharrkan und seine erstaunten Schüler wichen ein paar Schritte zurück. Die Macht des Hausgefäßes kribbelte in seinen Fingern wie elektrische Spannung und als er den ersten Schlag ausführte, entlud sie sich in Form eines Peitschenhiebes und hinterließ tiefe Furchen im gepflasterten Boden. Dann hielt Sharrkan die Energie wieder zurück, das Schwert nahm seine übliche Gestalt an und ehrfürchtiges Klatschen begleitete das Ende der Demonstration. „So viel zur Theorie“, hob er die Stimme und die versammelte Schar hielt augenblicklich inne, um begierig den Worten ihres Meisters zu lauschen. „Jetzt die Schwerter vor und üben!“ Aufmerksam marschierte Sharrkan durch die Reihen, korrigierte hier eine Haltung, gab dort einen Tipp und wunderte sich, dass er Alibaba und Olba nicht unter den Neulingen finden konnte. Als wenn es sich gerade die beiden erlauben dürften, das Training zu schwänzen! Wenigstens Masrur zeigte sich gewissenhaft, auch wenn es Sharrkan auf irgendeine Weise verwirrte, ihn mit einem Schwert in der Hand zu sehen. Er wollte ihn fragen, weshalb er die Waffe nicht einfach zur Seite legte, doch jedes Mal, wenn er in die Reihe trat, in dessen Mitte Masrur sich befand, musste er feststellen, dass er noch eine Reihe weiter hätte gehen müssen. Nachdem er sich das dritte Mal vertan hatte und seine Schüler ihn bereits belustigt musterten, gab Sharrkan es schließlich auf und wollte nach vorne auf seinen Platz zurückkehren – nur stand dort bereits Spartos. Ein wenig abseits der Menge beobachtete Sharrkan die Situation und war sich nicht ganz sicher, ob Spartos gerade seinen Unterricht sabotierte oder von vornherein der Lehrer gewesen war. Wäre da nicht dieses stete Klopfen, das ihn schon seit einigen Minuten nervte, hätte er wenigstens in Ruhe darüber nachdenken können. Doch die Quelle des Geräusches war beim besten Willen nicht auszumachen – ebenso wenig wie Pisti, die in der Ferne nach Yamraiha rief und weder am Boden noch in der Luft irgendwo zu sehen war. Die anklagende Stimme, die wieder und wieder seinen Namen nannte, riss ihn schließlich vollends aus den Gedanken und er wandte sich zu Yamraiha um, die wutschnaubend auf ihn zugeschritten kam. Im ersten Moment dachte er, sie sei so aufgebracht, weil er statt seines Schwertes ihren Zauberstab in der Hand hielt, aber dann fügte sie seltsamerweise hinzu: „Steh endlich auf!“ Das machte natürlich keinen Sinn und erst, als ihn ein schmerzhafter Tritt aus dem Bett beförderte, wurde ihm bewusst, wo er sich eigentlich befand. „Yamu? Bist du da? Bist du wach?“ Pistis Klopfen wurde energischer und bevor sie Gefahr lief, die Tür aus den Angeln zu heben, entgegnete Yamraiha rasch: „Einen Moment noch!“ Sichtlich zerstreut kniete sie auf dem Bett, die Haare in alle Himmelsrichtungen abstehend und die Augen so klein, als blinzle sie geradewegs in die Sonne. „Los, versteck dich!“, zischte sie Sharrkan zu, der auf dem Boden kauerte und sich die Rippen rieb. „Was?“, murmelte er schlaftrunken. „Wenn man uns hier zusammen sieht, gibt es nur Gerede! Also versteck dich!“ „Wo?“ Sie schlug die Decke zurück, zwängte Sharrkan mit beiden Händen unter das Bettgestell und breitete die Decke dann wieder darüber aus. Eingeklemmt und unfähig, sich auch nur einen Millimeter zu bewegen, spürte er, wie die Matratze sich hob, als Yamraiha aufstand und zur Tür ging. „Guten Morgen! Mensch, das hat ja ewig gedauert! Hast du wieder verschlafen?“, hörte er Pisti fragen. „Wie? Ich? Wieso?“ Yamraiha konnte die Nervosität in ihrer Stimme nicht komplett verbergen. „Was gibt’s denn? Wie spät ist es?“ „Es ist zehn und wir waren für neun in deinem Labor verabredet.“ „Verabredet? Wofür?“ „Du bist ja echt noch am pennen. Du hast mich doch gebeten, bei dem Experiment zu assistieren.“ Pisti machte eine kurze Pause. „Für die neue Zauberformel? Die Zeitmagie? Klingelt’s?“ Für einen weiteren Moment herrschte Stille, bis Yamraiha kleinlaut erwiderte: „Oh nein, das hab ich total vergessen. Wir können sofort los, ich muss nur…“ Der Boden knarzte, als sie ums Bett herum zu ihrem Kleiderschrank ging, um sich – wie Sharrkan vermutete – etwas Frisches anzuziehen. Seinetwegen hätte sie sich gerne ein bisschen beeilen dürfen: Der Nacken tat ihm weh, die Wollmäuse kitzelten in der Nase und sein Bauch war vor Kälte schon ganz taub. „Gut, das war’s“, sagte sie nach einer gefühlten Ewigkeit und durchquerte abermals das Zimmer. Sharrkans Geduldsfaden war bereits zum Zerreißen gespannt, als Pisti sie noch einmal aufhielt. „Willst du denn gar nicht abschließen?“, fragte sie. „Abschließen? Doch… klar“, antwortete Yamraiha gedehnt. „Gut, dass du mich daran erinnerst. Wofür hat man denn auch sonst einen Schlüssel? Stell dir vor, erst letztens habe ich meinen Ersatzschlüssel verlegt und ihn zum Glück im obersten Schubfach meiner Kommode wiedergefunden.“ „Versteh mich nicht falsch, aber… irgendwie bist du heute komisch“, stellte Pisti fest und mit einem Klacken wurde die Tür von außen zugesperrt. Sharrkan robbte aus seinem ungemütlichen Versteck, klopfte sich den Staub von der Kleidung und renkte die steifen Glieder wieder ein. Dann schweifte sein Blick unsicher und ziellos durch den Raum. Dünne blaue Vorhänge flatterten sacht vor einem halbgeöffneten Fenster und ließen das helle Sonnenlicht ungefiltert hinein. Sharrkan konnte das leise Rauschen des Meeres und die Schreie der Möwen vernehmen, die am wolkenlosen Himmel ihre Kreise zogen. Ansonsten war es hier oben im Turmzimmer angenehm still. Noch niemals zuvor war Sharrkan tagsüber an diesem Ort gewesen. Auch noch nie nüchtern. Und vor allem noch nie allein. Er fühlte sich dabei unbehaglich, wie ein Fremdkörper, der in die Privatsphäre der Magierin eindrang. Doch was sich an diesem Morgen so ungewöhnlich fortsetzte, hatte bereits in der letzten Nacht seinen Anfang genommen. Immerhin war Sharrkan zum ersten Mal in Yamraihas Zimmer gewesen und weder gegangen noch gekommen. Er erinnerte sich, was sie – ganz offensichtlich für ihn – über den Ersatzschlüssel gesagt hatte, ging hinüber zu ihrer Kommode und versuchte, die oberste Schublade zu öffnen. Doch sie klemmte fest und nachdem Sharrkan ein paar Mal an ihr gerüttelt und sie schließlich mühselig aufgezogen hatte, wusste er auch, wieso: Schreibutensilien, Schmuck, Kosmetik, Münzen, Besteck, Bindfäden, Knöpfe, Socken, Zettel… Ein solches Chaos war ihm bisher wahrlich selten untergekommen. Vorsichtig wühlte er in den Sachen, jeden Augenblick darauf gefasst, von irgendeinem vergessenen Tier in die Hand gebissen zu werden, und fischte gleich drei potentiell passende Schlüssel aus dem Sammelsurium heraus. Er war schon im Begriff, die Schublade wieder zu schließen, als ihm plötzlich ein Umschlag auffiel, auf dem in sorgfältiger Schrift Yamraihas Name stand. Sharrkan wusste, dass er die Finger davon zu lassen hatte. Das ging ihn überhaupt nichts an. Das war von Grund auf falsch. Und noch während er das dachte, hatte er einen absichernden Blick zur Tür geworfen und den Brief entfaltet. Seine Augen überflogen die verschnörkelten Zeilen nur grob. „…und kann es nicht erwarten, dich wiederzusehen…“ „Ich vermisse dich jetzt schon…“ „…kaum zu ertragen, wie sehr du mir fehlst…“ „…in Liebe, Arik.“ Sharrkan ließ den Brief fallen, als habe er ihn tatsächlich gebissen. Wie paralysiert stand er da, den Kopf ähnlich voll wie dieses Schubfach vor ihm und gleichzeitig doch unerträglich leer. Er konnte – nein, wollte – einfach nicht begreifen, was er gerade gelesen hatte. Yamraiha hatte nie auch nur ein einziges Wort über jemanden namens Arik verloren. Vielleicht lag der Brief dort schon über mehrere Jahre? Oder Arik war nichts weiter als ein entfernter Verwandter? In der Hoffnung, eine andere Erklärung zu finden als die, die er vermutete, hob Sharrkan den Brief wieder auf und untersuchte ihn von allen Seiten. Das Absendedatum war keine Woche alt und auf dem Umschlag prangte das Emblem von Magnostadt. Wort für Wort ging Sharrkan den Inhalt nun durch, las jeden Buchstaben wieder und wieder, bis er zu der bitteren Erkenntnis gelangte, dass es an diesem Brief rein gar nichts zu beschönigen gab. Wut kam ihm zu Hilfe, um ihn aus seiner Schockstarre zu befreien, und er pfefferte den Brief zurück in die Schublade, packte den Schlüssel und verließ fluchtartig Yamraihas Zimmer. Ohne darauf zu achten, wohin seine Schritte ihn trugen, stieg Sharrkan den Turm hinab und streifte eine Weile wie verloren durch die Bezirke des königlichen Palastes. Was ihn so verärgerte, war nicht allein die Tatsache, dass in Yamraihas Leben ein Mann existierte, der sie ganz offenkundig liebte. Vielmehr ging es ihm darum, dass er letzte Nacht tatsächlich den Eindruck gewonnen hatte, sie ein bisschen besser kennengelernt zu haben. Sie hatten geredet, bis zwei oder drei Uhr morgens, und Sharrkan war solange aufmerksam geblieben, bis er die Augen vor Müdigkeit nicht mehr hatte aufhalten können. Doch im Nachhinein betrachtet, hatte sie eigentlich kaum etwas von sich selbst preisgegeben, sondern die meiste Zeit nur über Magie und Zauberformeln philosophiert. Von einem Arik war nicht mal in einem Nebensatz die Rede gewesen. Die große Glocke schlug die zwölfte Stunde und Sharrkan machte sich missmutig auf den Weg zum Übungsplatz, um Alibaba und Olba zu treffen. Seine Laune befand sich am absoluten Tiefpunkt und für seine Schüler entpuppte sich das anstehende Training als eines der härtesten, das sie jemals absolvieren mussten. Erst viele Stunden später, als die zwei um Gnade winselnd vor ihm zu Kreuze krochen, kam Sharrkan in den Sinn, dass er es eventuell übertrieben hatte. „Kurze – Pause – bitte“, japste Alibaba, bevor er nichts weiter als ein bemitleidenswertes Röcheln zustande brachte. „Was denn? Ihr macht schon schlapp?“ Sharrkan konnte sich die spitze Bemerkung nicht verkneifen, obwohl er den Fleiß der Jungs durchaus zu würdigen wusste. „Ich weiß nicht, ob ich Jammerlappen wie euch noch weiter trainieren möchte“, sagte er mit gespielter Entrüstung und musste beinahe lachen, als seine Schützlinge daraufhin versuchten, sich mit letzter Kraft noch einmal aufzuraffen. „Schon gut, schon gut! War nur ein Scherz“, beruhigte er die beiden und steckte sein Schwert zurück in die Scheide. „Wir machen Schluss für heute. Geht euch waschen und dann gehen wir was trinken!“ Die körperliche Betätigung hatte Sharrkan gutgetan und sein Gemüt weitestgehend herunter gekühlt. Er trieb Alibaba und Olba wie zwei Schäfchen vor sich her, bis sie seine Lieblingsbar erreichten, die zu den größten und bekanntesten in Sindrias Vergnügungsviertel zählte. Sie war wie immer gut besucht, doch für einen der Acht Generäle des Königs war natürlich trotzdem noch ein Plätzchen zu erübrigen. Leichtbekleidete Frauen geleiteten ihn und seine Schüler in eine ruhige Ecke, wo sie sich auf gemütlichen Kissen und mit rotem Samt bezogenen Bänken ausbreiten konnten. „Was wollt ihr trinken?“, fragte Sharrkan, während er aufmerksam die Karte studierte. „Ist es dafür nicht noch ein bisschen zu früh?“, erwiderte Alibaba unsicher. Es war erst kurz vor sechs und die meisten anderen Gäste waren noch mit ihrem Abendessen beschäftigt. Sharrkan verengte die Augen zu Schlitzen. „Du willst dich also wieder drücken“, sagte er und Alibaba hob beschwichtigend die Hände. „Ich meine nur, wir sollten vorher eine Kleinigkeit essen.“ „Ich hab keinen Hunger“, murrte Sharrkan zur Antwort und das stimmte tatsächlich, obwohl er sowohl Frühstück als auch Mittagessen hatte ausfallen lassen. Auf ein Handzeichen hin kam eine Bedienung an ihren Tisch und nahm Sharrkans Bestellung entgegen, nur um kurzdarauf mit einer beträchtlichen Menge Alkohol zu ihnen zurückzukehren. Sofort schnappte sich Sharrkan die erstbeste Flasche und schenkte großzügig ein. „Meister“, setzte Olba zaghaft zum Sprechen an, nachdem er und Alibaba recht offenkundig Blicke miteinander getauscht hatten. „Seid Ihr sicher, dass es Euch gutgeht? Ihr wirkt heute irgendwie… bedrückt.“ Unbeirrt reichte Sharrkan den beiden ihre randvollen Becher. „Es ist nichts“, entgegnete er schroff. „Die Woche war lang und morgen ist mein einziger freier Tag, also lasst uns ein wenig Spaß haben!“ Lieber hätte er sich ein Bein abgehackt, als seinen Schülern zu gestehen, dass vor seinem inneren Auge immer wieder Bilder von Yamraiha auftauchten, wie sie sich mit einem hübschen Unbekannten vergnügte. Die Yamraiha, die niemals irgendein romantisches Interesse an irgendeinem Mann gezeigt hatte. Die Yamraiha, von der bisher jeder Verehrer abgeschreckt war, sobald sie ihren Monolog über Zauberformeln begonnen hatte. Die Yamraiha, die Sharrkan geglaubt hatte, niemals an einen anderen verlieren zu können… In nur einem Zug stürzte er sein Getränk hinunter und spürte die wohlige Wärme, die sich von seinem Magen über den ganzen Körper ausbreitete. Er taktierte die Bedienung, die am Nachbartisch ein paar Teller abräumte und versuchte ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen. Sie lächelte kokett, warf das lange seidenglatte Haar in den Nacken und versprach, ihm mit einer weiteren Flasche Wein aus Küche Gesellschaft zu leisten. Sharrkan wusste genau, dass dieses Verhalten Teil ihrer Arbeit war und kam trotzdem nicht umhin zu überlegen, später eines der Mädchen nach Hause zu begleiten. Was Yamraiha vermutlich mit diesem Arik tat, konnte er schließlich schon lange! Längst hatte er den Überblick darüber verloren, was alles auf den Tisch gekommen war, doch auf angenehm befreiende Weise war es ihm egal. Ausgelassen umgarnte er die Frauen, genoss die Musik und beobachtete die Tänze, bis Alibaba und Olba irgendwann betonten, dass sie müde seien. Für Sharrkan kam überhaupt nicht in Frage, sie jetzt schon gehen zu lassen. Ehe sie sich versahen, hatte er ihre Becher nachgefüllt und mit ihnen angestoßen, wobei die Hälfte der Getränke auf dem Boden verschüttet wurde und eine Porzellankanne den Weg vom Tisch auf den Teppich fand. Eindringlich versuchte er, den Jüngeren etwas zu erklären, was er als ungeheuer wichtig empfand, aber es fiel ihm schwer, die passenden Wörter und Formulierungen zu finden. Als er merkte, dass Alibaba und Olba ihm nicht folgen konnten, ließ er es bleiben und hatte im nächsten Moment auch schon wieder vergessen, worum es ihm gegangen war. Es war noch früh am Abend, vielleicht aber auch weit nach Mitternacht, als Sharrkan plötzlich bewusst wurde, dass etwas ganz und gar nicht stimmte: Die Temperatur im Raum hatte die Grenze des Erträglichen weit überschritten, die stickige, schwere Luft verursachte ihm Übelkeit und von den vielen lauten Stimmen, die durcheinander redeten, fühlte er sich schlichtweg überfordert. Er wollte hinaus auf die Straße, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Doch als er sich erhob, traf der Schwindel ihn mit solch ungeahnter Wucht, dass ihm die Welt wie ein schwankendes Schiff vorkam. Der Ausgang, den er so dringend suchte, lag irgendwo in einer Richtung, die er nicht ausfindig machen konnte. Ungeschickt rempelte er einen fremden Mann an, der sich mit derben Ausdrücken darüber beschwerte, und stolperte dann über einen niedrigen Tisch, den er einfach übersehen hatte. Wenigstens tat es nicht weh. Jemand half ihm auf, legte seinen Arm um die Schulter und führte ihn langsam durch das Getümmel. Sharrkan erkannte nur an der Stimme, dass es Alibaba war, als dieser sagte: „Hier entlang, Meister.“ Die kühle Nachtluft streifte ihm wohltuend übers Gesicht, als sie endlich nach draußen gelangten und Alibaba ihn auf den schmutzigen Treppenstufen vor dem Eingang platzierte. Sharrkan hörte, wie er leise mit Olba sprach – verstand, dass es scheinbar um ihn ging – aber konnte den Zusammenhang ihrer Unterhaltung nicht mehr richtig erfassen. Resigniert legte er den Kopf auf den Knien ab, schloss die Augen und wartete darauf, dass dieser unangenehme Zustand vorübergehen möge. Es war ihm schleierhaft, wie es überhaupt so weit hatte kommen können, denn bis gerade eben war er doch noch gar nicht so betrunken gewesen – oder etwa doch? Das letzte was Sharrkan wahrnahm, war Alibaba, der versuchte ihn zum Weitergehen zu überreden, bevor seine Erinnerung ihn endgültig verließ. Kapitel 3: Nachwehen -------------------- Das Frühstück war genau eine Viertelstunde lang drin geblieben, das Mittagessen immerhin eine halbe und das Abendessen gerade mal fünf Minuten. Sharrkan hatte die Befürchtung, es würde niemals enden. Er lag rücklings auf dem Bett, die Arme über der Stirn verschränkt und fühlte sich so sterbenselend, wie noch nie zuvor in seinem Leben. Die wenigen Male, die er hatte aufstehen müssen, waren eine Tortur gewesen und obwohl bereits der Mond durchs Fenster schien, pochte sein Kopf noch immer mit der gleichen Intensität wie heute Morgen. Wenn zumindest dieser quälende Durst nachlassen würde! Schwerfällig rollte er sich auf die Seite und riskierte ein paar Schlucke von dem Tee, den er sich vor Stunden gebrüht hatte und der inzwischen eiskalt war, als es plötzlich an der Tür klopfte. Sharrkan erwartete keinen Besuch und auf welchen eingestellt war er schon gar nicht. Die einzigen Personen, die ihm einfielen, waren Alibaba und Olba und die waren wirklich die letzten, denen er jetzt in die Augen sehen wollte. Soweit sein Gedächtnis es zuließ, hatten in der vorigen Nacht zum ersten Mal die beiden Schüler ihren Meister nach Hause bringen müssen, statt umgekehrt. Die Konfrontation mit dieser Schmach hatte er sich eigentlich aufsparen wollen, bis es ihm wieder besser ging. Doch es klopfte erneut und Sharrkan richtete sich mühsam auf, wartete bis der Schwindel abebbte und schlich dann langsam zur Tür. Wer auch immer dahinter auf ihn wartete – er wollte ihm so würdevoll wie möglich entgegentreten. Aber es war nicht Alibaba und es war auch nicht Olba. Es war Yamraiha. „Tut mir leid, dass ich so spät noch störe, aber ich hab Licht brennen sehen“, begann sie, stockte kurz und blickte Sharrkan dann prüfend ins Gesicht. „Geht es dir gut?“ „Ja, alles bestens“, log er und lehnte sich lässig in den Türrahmen. „Was gibt’s?“ „Ganz sicher? Du bist kreidebleich und ich hab dich den ganzen Tag nicht draußen gesehen.“ „Mir geht’s super. Was willst du?“ Yamraiha überging seine rüde Art und schaute nun ein wenig verlegen drein. „Ich wollte nur meinen Schlüssel wiederholen und… und naja… mich bei dir bedanken… fürs Zuhören letztens“, sagte sie leise. „Aha. Schön.“ „Ist irgendwas?“, fragte sie, irritiert über seine knappe Antwort. „Was soll schon sein?“, gab er provokant zurück. „Keine Ahnung. Ich hab das Gefühl, du bist sauer auf mich.“ „Na, dann trau deinem Gefühl!“ Er wollte die Tür schließen, doch Yamraiha schob blitzschnell ihren Fuß dazwischen. „Was ist eigentlich dein Problem?“, fauchte sie. „Dass du mich nervst“, entgegnete Sharrkan gereizt. Der Tee rumorte in seinem Magen und er sehnte sich danach, einfach nur zurück ins Bett zu kommen. „So? Du glaubst wohl, mir ist das hier leichtgefallen!“, wütete sie nun. „Wenn ich dich so nerve, dann sollte ich wohl besser wieder gehen!“ „Du hast es erfasst!“ Er wollte nicht, dass dieser Brief einen Platz in seinen Gedanken beanspruchte. Er wollte nicht, dass es ihn interessierte, mit wem Yamraiha schrieb oder mit wem sie sich traf. Doch so war es. Und ein wenig zu laut murmelte er: „Geh doch zu deinem Arik!“ Am liebsten hätte sich Sharrkan auf die Zunge gebissen, wäre es da nicht schon längst zu spät gewesen. Yamraiha starrte ihn an, wie vom Donner gerührt. „Woher weißt du davon?“ „Ähm…“ Eilig suchte er nach einer Ausrede – was gerade überhaupt kein leichtes Unterfangen war, denn mittlerweile hatte er wirklich Bauchweh. „Hast du etwa meinen Brief gelesen?“, fragte sie scharfsinnig und er spürte eine Hitze in sich hochwallen, die ihm die Schweißperlen auf die Stirn trieb. „Ähm…“ Dann brach eine Salve aus Beschimpfungen über Sharrkan herein und Yamraiha schien gerade erst Fahrwasser aufzunehmen. Er sah, wie sich ihr Gesicht zornesrot färbte und ihr Mund sich bewegte und bekam trotzdem keines ihrer Worte wirklich mit. Seine ganze Konzentration war nur auf ein einziges Bestreben gerichtet, das ihn vollends beanspruchte: Jetzt bloß nicht kotzen! „WIE KONNTEST DU ES WAGEN?!“ Bitte geh! „ICH HAB DIR VERTRAUT!“ Bitte, geh einfach! „WENN ICH DAS GEWUSST HÄTTE, HÄTTE ICH DICH NIE DORT ALLEIN GELASSEN!“ Um Himmels Willen, jetzt geh doch bitte! „WENN DU GLAUBST, DU KÖNNTEST JE WIEDER BEI MIR ANKOMMEN-“ Bitte geh, bitte geh, bitte „GEH!“ Hatte er das letzte Wort etwa gerade laut ausgesprochen? Energisch drängte Sharrkan Yamraiha zurück, knallte ihr die Tür vor der Nase zu und schaffte es gerade noch rechtzeitig zum Bett, wo er sich in den Mülleimer erbrach. So viel zum Thema Würde. Volle zehn Stunden hatte Sharrkan durchgeschlafen, doch als am nächsten Morgen um fünf Uhr in der Früh sein Dienst begann, wäre er trotzdem lieber noch ein wenig liegengeblieben. Zumindest stellte er erleichtert fest, dass es ihm im Vergleich zu gestern schon bedeutend besser ging. Sein Zimmer – das starke Ähnlichkeit mit einem Katastrophengebiet aufwies – schaffte er nur notdürftig aufzuräumen, bevor er sich fertig machen, ein paar Sachen zusammenpacken und in die neblige Dunkelheit hinaustreten musste. Ihm war noch immer schrecklich flau im Magen, weshalb er vorsorglich aufs Frühstück verzichtet hatte und so konnte er sich eine Menge Zeit lassen für den Weg durch Sindrias leergefegte Straßen. Erst als er das Hafengebiet erreichte, wurde es um ihn herum allmählich belebter. Die sechs großen Handelsschiffe, die am Kai vor Anker lagen, dümpelten gemächlich im Wasser, während die Matrosen eilig ihre Frachten verluden und sich am Horizont schon die ersten goldenen Strahlen der aufgehenden Sonne in den Wellen brachen. Sharrkans Kampfeinheit war nahezu vollständig. Fröstelnd und gähnend begrüßten sie ihren General, doch Sharrkan nahm nur mit halbem Ohr wahr, was sie ihm erzählten. Er blickte suchend umher, wer mit ihm zusammen die Eskorte leiten würde und entdeckte dann Masrur und – das Herz rutsche ihm in die Hose – ausgerechnet Yamraiha samt ihrer Brigaden an einem der Stege. Beide hatten sein Ankommen noch nicht bemerkt und waren in Gespräche mit ihren Leuten vertieft. Sharrkan war unentschlossen, wie er der Magierin gegenübertreten sollte. Einerseits wusste er natürlich, dass er gleich im doppelten Sinne Mist gebaut hatte. Andererseits wurmte es ihn, dass Yamraiha es geschafft hatte, knappe fünf Stunden über ihre Heimat zu sprechen, ohne eine Person namens Arik auch nur zu erwähnen. Er fühlte sich unfair behandelt, obwohl ein leises (allerdings gut zu verdrängendes) Stimmchen in seinem Hinterkopf ihm zuflüsterte, wie kindisch dieses Benehmen war. Es schien ihm daher das Beste, einfach so zu tun, als sei überhaupt nichts vorgefallen und entgegen seiner Unsicherheit bemühte er sich um eine arglose Miene und wagte sich zu ihr hinüber. „Guten Morgen, Yamraiha“, rief er gut gelaunt, doch die Angesprochene reagierte nicht und setzte die Konversation mit einem ihrer Truppenmitglieder fort. Sharrkan, der glaubte, sie habe ihn nicht gehört, kam ein paar Schritte näher, grüßte beinahe überdeutlich und wurde wieder nur mit blanker Ignoranz gestraft. Als die Schiffer Bescheid gaben, zum Auslaufen bereit zu sein, reckte Yamraiha stolz das Kinn, folgte ihrer Einheit an Bord und ließ Sharrkan stehen wie einen begossenen Pudel. Sie hätte ihn anschreien können. Sie hätte toben oder heulen, ihn beleidigen oder ohrfeigen können. Sharrkan hätte jede Reaktion in Kauf genommen, solange es nur irgendeine Reaktion gegeben hätte. Doch dass sie ihn so eiskalt missachtete, hatte er noch nie zuvor erlebt und es machte ihm deutlich, wie gekränkt und enttäuscht Yamraiha tatsächlich sein musste. Ein letzter Aufruf erfolgte und mit hängenden Schultern und wesentlich ruhiger, als seine Untergebenen es von ihm gewohnt waren, betrat nun auch Sharrkan das Flaggschiff. Dann wurden die Leinen gelöst, die Segel gesetzt und die Handelsflotte steuerte aus dem Hafen Sindrias hinaus aufs offene Meer. Die Sonne hatte sich mittlerweile gänzlich über der rauen See erhoben und obwohl sie noch nicht so viel Kraft hatte, weckte sie zusammen mit dem kristallblauen Himmel die Erwartung an einen warmen Sommertag. Sharrkan verbrachte den kompletten Vormittag damit, sich – augenscheinlich zufällig – überall dort aufzuhalten, wo Yamraiha gerade war. Er ließ beiläufig lautstarke Bemerkungen fallen, hantierte demonstrativ mit dem Schwert und versuchte durch allerlei Faxen ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, doch nicht ein einziges Mal würdigte sie ihm auch nur eines Blickes. Kurz vor der Mittagszeit fand er sie oben an Deck mit einem der Kaufmänner, lungerte eine Weile in ihrer Nähe herum und ging schließlich so dicht an ihnen vorüber, dass er Fetzen ihrer Unterhaltung aufschnappen konnte. „Wenn wir die Magie so weit entwickelt haben, wird es einfacher damit“, sagte Yamraiha und der Händler kratzte sich interessiert am Bart. „Als wenn Magie je irgendwas einfacher gemacht hätte“, warf Sharrkan spöttisch ein, ohne eine Ahnung zu haben, worum es überhaupt ging. Die Schultern der Magierin zuckten gefährlich, als müsse sie eine bevorstehende Explosion mit allen Mitteln unterdrücken und er wappnete sich bereits für ihren Gegenschlag, da wurde das Schiff plötzlich durch einen starken Ruck erschüttert. Yamraiha verlor das Gleichgewicht, prallte gegen Sharrkan und riss ihn von den Füßen, wobei er hintenüber und sie unsanft auf ihn drauf fiel. „Bist du verletzt?“, ächzte er, obwohl ihm klar war, dass ihre Landung deutlich weicher gewesen sein musste als seine. Fluchend schob sich Yamraiha den verrutschten Hut aus dem Gesicht. „Nein, ich glaube nicht“, entgegnete sie, während sie vorsichtig von ihm herunterkletterte und sich erschrocken umsah. „Was war denn das?“ Sharrkan spürte ein wohliges Kribbeln in seinem Inneren, das sich rasend schnell über seinen gesamten Körper ausbreitete. Sie hatte wieder mit ihm gesprochen! „Ich weiß nicht“, wollte er auf ihre Frage eingehen, doch es schaukelte erneut und aus Richtung der restlichen Flotte kamen angsterfüllte Schreie zu ihnen herüber geweht. Sofort sprangen die beiden auf und rannten zum Heck des Schiffes. Es war ein riesiger Teufelskraken, wie er im Südmeer nicht selten vorkam, der seine acht Arme fest um den Rumpf des nachfolgenden Schiffes geschlungen hatte und drohte, es jeden Moment in die Tiefe zu reißen. In ihrer Verzweiflung klammerte sich die Besatzung an alles, was sie an Deck zu fassen bekam, aber Sharrkan sah rundherum auch schon etliche Menschen hilflos im Wasser treiben. Durch die Bewegungen des Ungetüms schlugen die Wellen so hoch, dass sie sich kaum an der Oberfläche halten und die anderen Schiffe zur Rettung auch nicht nah genug an sie heranfahren konnten. „Wir kümmern uns um den Kraken!“ Masrur war neben Sharrkan an der Reling erschienen. Er warf seine schwere Rüstung zu Boden, stieg auf das Geländer und stürzte sich in die Fluten. In der Zwischenzeit hatte Yamraiha ihren Stab zur Hand genommen und konzentriert die Augen geschlossen. Sie begann, mithilfe ihres Zaubers, einen Ertrinkenden nach dem anderen in einer Wasserblase zu sich an Bord schweben zu lassen. Für Sharrkan bestand kein Zweifel daran, dass sein Körperbau es ihm nicht erlaubte, Masrur zu folgen – schließlich war er kein Fanalis und hatte nicht die Kraft, gegen das aufgewühlte Meer anzuschwimmen. Nein, sein Vorteil war ein anderer. Umgehend positionierte er sich einige Meter hinter der Reling, umfasste den Griff seines Schwertes und wartete auf die passende Gelegenheit. Als einer der Krakenarme dicht genug am Heck des Flaggschiffs vorbeischnellte, nahm er Anlauf, sprang mit einem weiten Satz hinüber und stieß dem Ungeheuer die Klinge ins Fleisch. Er hatte Mühe sich festzuhalten, denn in seinem Schmerz und der Absicht, den Störenfried schleunigst wieder abzuschütteln, schlug der Kraken wie wild um sich. Sharrkan wurde unter Wasser getaucht, in die Luft gewirbelt und gegen den Segelmast gerammt. Im rechten Augenblick zog er das Schwert aus dem Arm heraus und ließ sich an Deck des angegriffenen Schiffes fallen, wo Masrur längst mit den übrigen Gliedmaßen beschäftigt war. Gemeinsam trennten sie dem Teufelskraken mehrere seiner Arme ab, bis er endlich von ihnen abließ und wieder in den dunklen Untiefen des Südmeeres verschwand. Der Schaden hielt sich in Grenzen: Ein paar Fässer und Kisten mit Obst waren zerstört worden, ein Segel zerrissen und der Bug gesplittert, doch es gab nichts, was man nicht hätte reparieren können oder was die Weiterfahrt nachhaltig beeinträchtigt hätte. Auch die Belegschaft war, dank dem beherzten Eingreifen der Generäle, nur mit Kratzern und Blessuren davongekommen. Zurück auf dem Flaggschiff wurden Sharrkan und Masrur von ihren Kampfeinheiten in Empfang genommen, die unverhohlen ihre Bewunderung kundtaten, aber Sharrkans Interesse galt nur einer einzigen Person. „Das ist ja noch mal gutgegangen, was?“, sagte er an Yamraiha gewandt und sie schaute ihn abweisend an, kehrte ihm den Rücken zu und ging wortlos in ihre Kajüte. Es schien, als sei die Distanz zwischen ihnen größer denn je. Betrübt lehnte sich Sharrkan über die Reling, starrte hinunter ins glitzernde Wasser und spürte, wie die leichte Brise auf seinem nassen Körper eine Gänsehaut erzeugte. Dann wurde plötzlich ein weiches Handtuch über seinem Kopf ausgebreitet und er drehte sich überrascht um und sah Masrur, ebenfalls in ein Handtuch gehüllt, hinter sich stehen. „Warum redest du nicht einfach mit ihr?“, fragte er ohne Umschweife. „Wie denn?“, antwortete Sharrkan. „Sie will ja nicht reden.“ „Hast du es schon mal mit einer Entschuldigung versucht?“ „Wie kommst du darauf, dass ich Schuld bin?“ „Ich kenn dich doch.“ Masrurs Worte wogen deutlich schwerer als sein eigenes schlechtes Gewissen und Sharrkan trocknete sich die Haare, um sein glühendes Gesicht zu verbergen. „Sie hat doch angefangen“, sagte er trotzig. „Wenn sie mir das nicht verschwiegen hätte mit diesem… diesem schmalzigen… schnulzigen… widerlichen… dann…“ Ja, was dann? Hätte er niemals ihren Brief gelesen? Hätte er sich nicht betrunken und wäre sie nie so angegangen? Hätte er sich schon früher viel mehr um sie bemüht? Hätte er ihr offener gestanden – „Du bist eifersüchtig.“ „So ein Blödsinn!“ Sharrkan zog sich das Handtuch noch ein Stückchen tiefer ins Gesicht, doch Masrur ging auf seine Aussage nicht ein. „Du solltest ihr einfach sagen, was du fühlst“, schlug er vor, „wenn du nicht willst, dass dir ein anderer zuvorkommt.“ „Das ist aber nicht einfach“, seufzte Sharrkan. Kapitel 4: Auf Tuchfühlung -------------------------- Sharrkan war heißes Klima gewohnt – sowohl durch die trockene Wüstenregion, in der sich seine Heimat befand, als auch durch Sindrias schwülwarme Sommermonate – doch geschlagene acht Stunden in der brütenden Nachmittagshitze brachten selbst ihn allmählich an sein Limit. Die Sonne hatte ihm Nacken und Schultern versengt und das Metall seiner Halskette brannte ihm unerträglich auf der Haut. Mit gekreuzten Beinen saß er auf der Hafenmauer und sehnte sich den Feierabend herbei. Lange konnte es nicht mehr dauern, denn mittlerweile war sein Schatten bis zur gegenüberliegenden Hauswand gekrochen und hoch oben funkelten bereits die ersten Sterne. Die Aussicht auf ein kühles Bad, ein warmes Essen und ein weiches Bett war das einzige, was ihn jetzt noch bei Laune hielt – abgesehen von der Tatsache, dass die Handelsflotte morgen früh wieder ihre Heimreise antreten würde. Seit sie vor drei Tagen in Aktia vor Anker gegangen waren, hatten Sharrkan und seine Männer in wechselnden Schichten die Schiffe bewacht. Das war nicht nur eine schweißtreibende, sondern vor allem sterbenslangweilige Aufgabe. In der ganzen Zeit hatte es weder einen Zwischenfall gegeben, noch war an der Promenade irgendetwas Spannendes passiert. Zu allem Überfluss musste sich die Truppe so weit auseinander positionieren, dass noch nicht mal eine kurze Plauderei möglich war und Sharrkan dachte neidvoll an Masrur, der mit seinen Leuten die Stadtgarde unterstützen und den Handel am Marktplatz überwachen durfte. Er hätte wirklich jeden Job lieber gemacht als seinen. Doch dann stürzte plötzlich Yamraiha mit zerzausten Haaren und abgespannter Miene aus einer der Gassen hervor und machte ihm ein ums andere Mal bewusst: Nein, es hätte ihn noch wesentlich schlimmer erwischen können! Die Magierin schleppte zwei prallgefüllte Einkaufskörbe und hatte sich einen großen Jutesack auf den Rücken gebunden. Ihre beiden Helfer folgten ihr mit zitternden Knien und taumelnd unter ihrer eigenen Last. Sharrkan warf dem Trio einen mitleidigen Blick zu, aber da Yamraiha ihn seit dem Vorfall mit dem Seeungeheuer weiterhin wie Luft behandelte, wusste er, dass er sich ein Hilfsangebot getrost sparen konnte. Mit erhobenem Haupt stolzierte sie an ihm vorbei und über den Steg an Bord des Schiffes. Für heute war es das sechste Mal, dass man sie für Besorgungen losgeschickt hatte und der Erfahrung nach zu urteilen, dürfte es auch nicht das letzte Mal gewesen sein. Der Grund ihres Übels hieß Phillius Havius – ein reicher Geschäftsmann aus Reim, den Sinbad von Aktia nach Sindria eskortieren ließ und für dessen Bewachung Yamraiha und ihre Einheit zuständig war. Dabei unterlag sie dem Befehl, es dem Gast möglichst angenehm zu machen und ihm jeden Wunsch von den Lippen abzulesen. So sollte sie einen besonders guten Eindruck für die bevorstehenden Verhandlungen erwecken. Doch was auch immer sie unternahm, damit es Phillius an nichts mangelte, sie konnte ihm einfach nichts recht machen. Sharrkan hatte sein Verhalten gestern beim Abendessen miterlebt und war froh, keine weitere Sekunde mit diesem Menschen auf einem Raum verbringen zu müssen. Insgeheim bewunderte er, wie Yamraiha es schaffte so höflich zu bleiben, obwohl es fast an Schikane grenzte, was sie von ihm zu ertragen hatte. Ungeduldig beobachtete Sharrkan, wie die Sonne am rotglühenden Himmel immer tiefer sank, während sich das Getümmel am Hafen legte und Masrur mit seinem Trupp vom Markt zurückkehrte. Nur eine Stunde später war es bereits so stockfinster, dass ringsum die Fackeln und Laternen entzündet wurden und endlich erschien auch die Nachtwache zur Ablösung. Sharrkan machte einen letzten Rundgang, um zu kontrollieren, ob beim Rest seiner Einheit alles ruhig war und schlug dann erschöpft den Weg zum Flaggschiff ein. Bis auf die Wachposten hatte die Belegschaft längst zu Abend gegessen, weshalb es Sharrkan nicht wunderte, das Deck gespenstisch leer vorzufinden. Die Person, die vorne am Buck einsam in der Dunkelheit stand, fiel ihm erst auf den zweiten Blick auf. Sie hatte ihm den Rücken zugewandt, die Arme auf die Reling gestützt und die Augen verträumt aufs Meer gerichtet. Sharrkan schluckte seine Bedenken hinunter, entschloss sich nach drei erfolglosen Tagen zu einem erneuten Versuch und ging langsam auf Yamraiha zu. „Na, schläft das alte Ekel schon?“, fragte er und sie sah sich überrascht um, rümpfte die Nase, als sie ihn erkannte und drehte sich sofort wieder weg. Er entdeckte eine geöffnete Flasche Wein neben ihr auf der Brüstung, aber es fehlten höchstens ein paar Schlucke und Yamraiha wirkte auch nicht betrunken. Ermutigt davon, dass sie noch nicht gegangen war, kam Sharrkan ein paar Schritte näher und stellte sich schließlich zu ihr. „Du kannst mich nicht ewig ignorieren“, säuselte er, doch ihr beharrliches Schweigen verriet, dass sie es scheinbar sehr wohl konnte. Stur schaute sie in die Ferne und machte keinerlei Anstalten, die Konversation aufzunehmen. Sharrkan erinnerte sich an Masrurs Rat, biss sich auf die Lippen und sagte mit leiser Stimme: „Hör zu… ich weiß, es war nicht richtig von mir, deinen Brief zu lesen.“ Yamraiha warf ihm einen flüchtigen Seitenblick zu. „Und das… tut mir aufrichtig leid.“ „Wieso hast du es dann getan?“ Es waren die ersten Worte, die Yamraiha direkt an ihn richtete und sie klangen unglaublich verletzt. „Keine Ahnung“, entgegnete er ein wenig hilflos. „Er lag halt da.“ „Und das gibt dir das Recht dazu?!“ „Ich hab mich doch schon entschuldigt. Was soll ich denn noch tun?“ Eine Weile herrschte angespannte Stille zwischen ihnen, die nur durch das Rauschen der Brandung gegen das Hafenbecken übertönt wurde. Sharrkan wünschte, sie hätte weitergeredet, aber Yamraiha hatte ihre Aufmerksamkeit wieder ganz und gar der See gewidmet. „Hör zu, ich war ein Idiot“, murmelte er. „Bist ein Idiot“, korrigierte sie ihn, „aber red‘ weiter.“ „Ich wollte sagen… unsere Gespräche an diesem Abend… das fand ich wirklich schön.“ Er war froh, dass sie im Halbdunkel sein Gesicht nicht genau erkennen konnte. „Ich dachte, ich würde ein bisschen mehr über dich erfahren. Ich dachte, du würdest mir vertrauen.“ Für den Rest der Wahrheit konnte sich Sharrkan einfach nicht durchringen. „Ich habe noch mit niemandem über den Inhalt des Briefes gesprochen. Warum also ausgerechnet mit dir?“, zürnte Yamraiha. „Und wenn du willst, dass ich dir vertraue, solltest du das nächste Mal besser deine Finger von meiner Post lassen!“ „Es gibt also ein nächstes Mal?“, fragte Sharrkan hoffnungsvoll. Yamraiha musterte ihn einen Moment abschätzend. „Aber noch ein Fehltritt-“, ermahnte sie ihn und Sharrkan merkte, wie ihm ein riesiger Stein vom Herzen fiel. „Kein Fehltritt. Ich versprech’s!“ Aber was ist denn nun mit dir und Arik? Die Frage lag ihm auf der Zunge, doch er traute sich nicht, sie zu stellen. Vielleicht wollte er es auch gar nicht so genau wissen. Stattdessen lenkte er den Fokus auf die Weinflasche, die noch immer neben ihr auf dem Geländer stand. „Wofür war die überhaupt gedacht?“ „Ach, die.“ Yamraiha nahm die Flasche in die Hand. „Die sollte ursprünglich gegen den Frust helfen, nachdem Phillius mich beinahe in den Wahnsinn getrieben hat.“ „Und hat es geholfen?“ „Nicht wirklich.“ Sharrkan lehnte sich mit dem Rücken gegen die Reling und rutschte dann langsam an ihr zu Boden. „Der Typ ist schon ein echtes Scheusal, was?“ „Das kannst du laut sagen! Mach dies, mach das, mach jenes! So nicht! Das ist falsch!“, äffte Yamraiha den Kaufmann nach und ließ sich dann seufzend neben Sharrkan sinken. „Du kannst dir nicht vorstellen, was ich alles für ihn an Bord schleppen musste: Badeutensilien, Schmuck, Kosmetik, Duftwasser...“ „Viel genützt hat es bei der Visage ja nicht.“ Sie mussten beide lachen und Yamraiha reichte ihm plötzlich den Wein herüber. „Wenn er schon offen ist, sollten wir ihn auch trinken“, sagte sie. „Morgen schmeckt er ja nicht mehr.“ Über Phillius zu lästern machte Spaß und brachte eine Menge fieser Pläne zum Vorschein, die niemals eine Umsetzung erfahren würden. Gemeinsam überlegten sie, welche Methoden sich eigneten, um den Händler am schnellsten zur Weißglut zu treiben, versuchten sich an Gemeinheiten gegenseitig zu übertreffen und scherzten darüber, es Sinbad für die Strapazen heimzuzahlen. Irgendwann wandte sich das Gespräch allgemeineren Themen zu, während die Nacht unmerklich voranschritt und der Wein immer öfter zwischen ihnen hin und her wechselte. Es war das widerlich-süßeste Zeug, das Sharrkan jemals getrunken hatte und trotzdem war in der Flasche bald kein einziger Tropfen mehr übrig. Sharrkan hatte nicht den Eindruck, sonderlich betrunken zu sein, aber so richtig nüchtern fühlte er sich auch nicht. Die Hitze des vergangenen Tages hing noch immer wie ein schwerer Dunstschleier in der Luft und vermischte sich mit der salzigen Brise, die vom Meer her an die Küste wehte. In gleichmäßigem Trott tanzte das Schiff auf den Wellen, während der Mond den Zenit längst überschritten hatte. Es musste schon spät sein, doch Sharrkans Wohlbefinden überwog seiner Müdigkeit. Er schaute zu Yamraiha, die den Kopf in den Nacken gelegt hatte und stumm in den Himmel emporblickte, bis sie merkte, dass er sie beobachtete. „Was ist?“, fragte sie sacht. „Nichts“, gab er zurück und verlor sich gänzlich in dem Paar eisblauer Augen. Zögernd streckte er seine Hand aus, strich über ihre Wange und war mit dem Gesicht ihrem so nah, dass es ein Leichtes gewesen wäre, einander mit der Nasenspitze zu berühren. Dann – ganz sanft – küsste er sie. Ihre Lippen waren weich und zart und die behagliche Wärme in seiner Brust wuchs, als er spürte, wie sie ihm schüchtern entgegenkam. Behutsam legte er seine Arme um sie und vergrub die Finger in ihrem Haar, wobei ihr Hut unbeachtet zu Boden fiel. Die anfängliche Unsicherheit wurde rasch leidenschaftlicher und weckte in Sharrkan ein Verlangen, das Yamraiha zu teilen schien – davon ausgehend, wo sie ihre Hände gelassen hatte. Er versuchte, ihren Gürtel zu öffnen, doch sie wehrte ihn ab und unterbrach den mittlerweile recht stürmischen Kuss. „Nicht hier!“, flüsterte sie, stand auf und zog Sharrkan mit sich auf die Beine. Das Schiff schaukelte auf einmal heftiger als er erwartet hatte, aber Yamraiha torkelte mindestens genauso wie er. Sie hielt seine Hand fest umschlossen und führte ihn zielstrebig bis in ihre Kajüte. Im Vergleich zu allen anderen Frauen, mit denen sich Sharrkan im Laufe seines Lebens vergnügt hatte, war es noch keiner außer Yamraiha gelungen, eine solche Ekstase in ihm auszulösen. Schon seit ihrer ersten gemeinsamen Nacht, während der Maharaghan, hatte sie den Dreh rausgehabt. Sie wusste, welche Position ihm gefiel, wie sie sich bewegen und an welchen Stellen sie ihn berühren musste, um seine Erregung ins Unermessliche zu steigern. Vor allem aber wusste sie sehr genau, wie sie ihn am effektivsten über den Gipfel trieb. Das alles machte es Sharrkan umso schwerer, sich zurückzuhalten, damit auch sie am Ende auf ihre Kosten kam. Doch schlussendlich war es, als wenn all die Differenzen, die sonst zwischen ihnen herrschten, in diesem einen Akt der Vereinigung plötzlich absolut keine Rolle mehr spielten. Noch lange lagen die beiden hinterher schweigend nebeneinander. Yamraihas Kopf ruhte auf Sharrkans ausgestrecktem Arm und er genoss die Nähe ihres warmen Körpers, lauschte ihrem ruhigen Atem und roch ihren herrlichen Duft. Er liebte es, wie sie sich eine störende Haarsträhne hinters Ohr wischte, ihm einen fesselnden Blick zuwarf und dann verlegen lächelte. Er liebte jede ihrer Gesten, jede ihrer Eigenarten – liebte sie – hatte es schon immer getan, von dem Moment an, als sich ihre Blicke zum ersten Mal in Partevia gekreuzt hatten… Das Herz hämmerte ihm gegen den Brustkorb, während er mit der Entscheidung rang, einfach auszusprechen, was ihm auf der Seele lag. Er sammelte all seinen Mut, öffnete den Mund und klappte ihn im nächsten Moment gleich wieder zu. Wie sagte man sowas, ohne dass es komisch klang? Was passierte, wenn sie ganz anders empfand als er? Und die Zweifel beschworen ein Szenario herauf, das ihn keinen einzigen Ton mehr über die Lippen bringen ließ. „Sharrkan?“ Sie sah ihn an und in seinem Bauch begannen tausend Gummibälle wie wild auf und ab zu hüpfen. Hatte sie sein Vorhaben etwa durchschaut? „Weißt du… ich hab in den letzten Wochen viel nachgedacht, aber bisher war ich noch nicht bereit, darüber zu reden“, leitete sie ein und Sharrkan schluckte. „Als ich in Magnostadt war, nachdem… nachdem Mogamett gestorben war… da ging es mir ziemlich schlecht. Ich wusste nicht, an wen ich mich wenden soll. Ich hab geglaubt, dass mich sowieso niemand versteht. Aber dann hab ich Arik bei den Aufräumarbeiten kennengelernt und irgendwie… ich weiß auch nicht… hat er mich wieder aufgemuntert.“ Sharrkan hatte das Gefühl, als sei sein Innerstes zu Eis erstarrt. Wie sollte er diese Aussage bitte einordnen? Was wollte sie ihm auf diese Weise mitteilen? Dass sie an einen anderen Kerl dachte, während sie mit ihm im Bett lag? Nachdem sie mit ihm geschlafen hatte? „Er war so freundlich und hat mich auf Anhieb verstanden. Deshalb-“ Ruckartig richtete Sharrkan sich auf. „Warum fängst du jetzt davon an?“, schnitt er sie ab und seine Stimme klang aggressiver als beabsichtigt. Yamraiha wirkte perplex. „Ich dachte – ich wollte“, stammelte sie und wie zu ihrer Verteidigung ergänzte sie: „Du hast dich doch beklagt, dass ich dir nichts anvertraue. Als Freunde-“ „Seit wann sind wir Freunde?“, fragte er hart und sie verstummte. Wortlos erhob sich Sharrkan, griff nach seiner Kleidung und zog sich an. Yamraiha hielt ihn nicht auf und er wagte nicht, sich noch einmal zu ihr umzudrehen. Erst, als er bereits zur Tür hinausgetreten war, blieb er wie versteinert stehen und versuchte die bittere Kälte zu ignorieren, die sich trotz der milden Nacht durch seine Eingeweide und bis tief in sein Herz fraß. Kapitel 5: Klar und deutlich ---------------------------- „Sharrkan? Komm bitte raus!“ Yamraihas Stimme drang dumpf durch die geschlossene Tür seiner Kajüte. Sharrkan konnte nicht mehr zählen, wie oft sie in den letzten Tagen davor gestanden hatte. „Jetzt antworte mir wenigstens!“, hörte er sie flehen. „Ich mach mir langsam echt Sorgen. Lass mich rein! Lass uns reden!“ Träge wälzte sich Sharrkan auf die Seite und zog sich die Decke bis über beide Ohren. Er dachte gar nicht daran, irgendetwas von dem zu tun, worum Yamraiha ihn bat. Seit die Flotte wieder in See gestochen war, hatte er weder ihr noch sonst jemandem geöffnet und das Bett nur verlassen, wenn alle anderen an Bord bereits schliefen – und das auch nur, weil sich das Nötigste nun einmal nicht vermeiden ließ. Eine Weile konnte er noch den Schatten der Magierin am Türspalt wahrnehmen, bevor sie schließlich aufgab und das Knarzen ihrer Schritte auf den Holzdielen immer leiser wurde. Zurück blieben die fernen Gespräche der Besatzung an Deck, die vom Murmeln des Ozeans kaum zu unterscheiden waren. Sharrkan schloss die Augen, spürte das sanfte Wiegen des Schiffes und wünschte, es würde ihm in den Schlaf helfen. Doch er hatte schon so viele Stunden mit schlafen verbracht, dass er längst nicht mehr müde war. Von offizieller Seite war Sharrkan krank und die Verantwortung für seine Kampfeinheit war seinem Vizegeneral übertragen worden. Was anfangs als Ausrede gedient hatte, war mittlerweile – nachdem er so selten aufgestanden war – zu einer echten Empfindung geworden: Sharrkan fühlte sich schlapp, schwindelig und insgesamt schlecht. Alles was er wollte, war seine Ruhe. Ein lautes Donnern gegen die Tür ließ ihn vor Schreck hochfahren und er erkannte Masrur, als dieser nach ihm rief. „Senpai, mach auf!“, sagte er ruhig. „Nein“, entgegnete der Angesprochene trotzig, in der Hoffnung, dass es genügen würde ein Lebenszeichen von sich zu geben. „Hau ab!“ „Ich zähle bis drei.“ War das sein Ernst? „Verzieh dich, Masrur!“ „Eins…“ Sharrkan schwieg und wartete darauf, auch seinen Schatten wieder verschwinden zu sehen. „Zwei…“ Na gut, was konnte er schon groß tun? „Drei.“ Mit einem Krachen zersplitterte die Tür und fiel wie in Zeitlupe in den Raum. Masrur nahm seinen Fuß runter, kam gemächlich rein und trat mit ausdrucksloser Miene vor Sharrkans Bett. „Bist du noch bei Trost?! Was soll das hier werden?“, regte der sich auf und starrte entgeistert auf das Kleinholz, das bis eben noch seinen Zufluchtsort verriegelt hatte. „Das Gleiche wollte ich dich fragen.“ „Ich bin krank“, murrte Sharrkan und sank wie zur Bestätigung zurück in die Kissen. „Deine Stirn ist kühl“, widersprach Masrur, während er seine Annahme mit der Handfläche überprüfte. „Ich bin seekrank.“ „Wir haben kaum Wellen.“ „Ich bin-“ „-ein Simulant“, vollendete Masrur den Satz, packte Sharrkan mitsamt seiner Decke und warf ihn sich wie ein verschnürtes Paket über die Schulter. Zappelnd und zeternd wurde der Wehrlose aus der Kajüte befördert und über die Treppe bis nach oben an Deck geschleppt. Dann stellte sich Masrur an die Reling und schmiss ihn im hohen Bogen über Bord. Das Eintauchen ins kalte Meer verursachte ein Gefühl, wie von tausend Nadeln durchbohrt zu werden. Mühsam strampelte Sharrkan die Decke weg, kämpfte sich hoch an die Oberfläche und bekam sofort den Mund voll Salzwasser, als ihn beim Luftholen eine Welle überrollte. Im grellen Licht der Sonne, die er tagelang gemieden hatte, konnte er die Position des Schiffes zunächst kaum erfassen. Es war schon fast an ihm vorbeigezogen, da schaffte er es endlich nah genug heranzuschwimmen, um sich ein herunterhängendes Seil zu greifen. Unter größter Anstrengung kletterte er an der glitschigen Außenwand hinauf, während die Gischt ihm unbarmherzig ins Gesicht schlug, und hievte sich übers Geländer rauf an Deck. Masrur erwartete ihn bereits. „Du hast sie ja nicht mehr alle!“, keuchte Sharrkan blind vor Zorn. „Bringt man seinem Senpai so etwa Respekt entgegen?! Willst du mich vielleicht umbringen?!“ „Nur den Kopf waschen“, antwortete Masrur schlicht. Sharrkan hätte ihn am liebsten geschlagen, doch der plötzliche Energieverbrauch zollte seinen Tribut. Nach der langen Untätigkeit war sein Körper so entkräftet, dass er nichts weiter konnte, als vornüber auf die Knie zu sinken. „Yamraiha ist völlig fertig wegen dir“, eröffnete Masrur ihm. „Das interessiert mich nicht!“ „Brauchst du etwa noch eine Abkühlung?“ Sharrkan zuckte zurück, als Masrur näher kam, aber zu seiner Erleichterung setzte er sich lediglich zu ihm auf den Boden. „Augen und Ohren zu verschließen wird dir nicht weiterhelfen. Oder meinst du, du kannst dich ewig verkriechen?“ Obwohl Sharrkan längst verschnauft hatte, blieb seine Haltung geduckt, damit er den Blickkontakt meiden und nicht auf Masrurs Worte reagieren musste. An den nagenden Gewissensbissen änderte das leider überhaupt nichts. Yamraiha ging es also schlecht wegen ihm? Das war nicht seine Absicht gewesen. „Ich weiß nicht, was da zwischen euch vorgefallen ist“, sagte Masrur nach einer kurzen Pause, „aber ihr solltet dringend miteinander reden.“ „Wozu?“, platzte Sharrkan heraus und merkte während des Sprechens, wie seine Stimme zu zittern begann. „Sie hat mir ziemlich deutlich gemacht was Sache ist und ich… ich will das nicht hören!“ Der feste Knoten in seiner Brust schien sich zu lösen und drohte den Schmerz zu befreien, den er bisher so konsequent in sich verschlossen hatte. „Sie möchte dir aber etwas erklären“, räumte Masrur ein, „und soweit ich verstanden habe, hat sie dir auch eine zweite Chance gegeben. Liege ich da richtig?“ Er lag richtig. Doch Sharrkan konnte nur nicken, weil der Kloß in seinem Hals ihn ansonsten verraten hätte. Es dauerte etliche Minuten, bis er sich zum Aufsetzen in der Lage fühlte und das Gesicht in die Sonne hielt, um Haar und Kleidung trocknen zu lassen. Masrur hatte geduldig an seiner Seite verharrt und Sharrkan war für seinen Beistand unendlich dankbar – auch wenn er ihm das niemals würde sagen können. Das Deck, das die beiden bis gerade eben noch fast für sich allein gehabt hatten, war mit der Zeit auffällig voll geworden, denn nach und nach waren immer mehr Besatzungsmitglieder erschienen. Sie lösten die Leinen, setzten die Segel und riefen sich dabei harsche Befehle zu. „Wir laufen gleich in Sindria ein“, beantwortete Masrur die stumme Frage, die in Sharrkans Blick lag. „Es wäre deshalb schön, wenn du dich langsam wieder am Riemen reißen könntest.“ Ungeniert kniff Sharrkan ihm in die Wangen und verzog sie zu einer Grimasse. „Das mach ich schon.“ So ungern er Masrur Recht gab: Sich auf lange Sicht vor der Konfrontation mit Yamraiha zu drücken, war ein völlig unrealistisches Vorhaben. Außerdem war er es ihr schuldig, dass sie eine Erklärung abgeben durfte – egal, ob es sich um eine Rechtfertigung handelte oder er die Bestätigung bekam, vor der er sich insgeheim fürchtete. Denn beim besten Willen konnte er sich nicht vorstellen, wie man ihr Verhalten hätte falsch interpretieren sollen. Sharrkan hoffte, dass das Schicksal ihm noch eine kleine Schonfrist gewährte und ihn nicht sofort in Yamraiha hineinlaufen ließ, als er die Tür zum Unterdeck öffnete, doch glücklicherweise war auf dem Treppenaufgang niemand zu sehen. In der Absicht sein Gepäck zu holen, schlurfte er die Stufen hinunter, vorbei an Putzeimern, Scheuerlappen und Besen, die wohl jemand auf dem Gang vergessen hatte, als plötzlich zwei leise Stimmen seine Aufmerksamkeit erregten. Wie angewurzelt blieb Sharrkan hinter der Ecke stehen, an die sich seine Kajüte anschloss. Es war unmöglich, nicht zu belauschen, was die eine Person auf eine unverständliche Aussage der anderen antwortete – „Wegen Arik?“ – und eine üble Vorahnung ließ seinen Magen zusammenkrampfen. „Ja.“ Yamraihas verhaltenes Wispern drang Sharrkan durch Mark und Bein. „Muss er sich denn Sorgen machen?“, fragte ihre Gesprächspartnerin, welche nun sehr deutlich als eine Freundin aus ihrer Magiereinheit zu bestimmen war. Wie hieß sie noch gleich? Maire? „Natürlich nicht!“, entgegnete Yamraiha gefestigter. „Bist du in ihn verliebt?“ „Da- Das kann schon sein…“ Sharrkan setzte einen Schritt zurück und trat dabei laut scheppernd einen der Eimer um. „Verd-“, zischte er, machte schleunigst kehrt und hastete die Treppe wieder hoch, doch er war kaum mit dem zweiten Fuß durch die Tür, als er Yamraiha schon hinter sich rufen hörte. „Sharrkan, warte!“ Unschlüssig huschte sein Blick übers Deck, aber er wusste: Auf einem fahrenden Schiff konnte es kein Entkommen geben. Um ein wenig Zeit zu gewinnen, marschierte er ziellos in Richtung Bug und musste staunen, wie nahe ihnen Sindria bereits war, als die Flotte das gewaltige Felsenportal der Insel durchquerte. Trotzdem blieb ihm keine Gelegenheit nach den passenden Worten zu suchen, bevor Yamraiha ihn eingeholt hatte. Sie wirkte so unsicher, als habe sie ebenfalls noch nicht recht überlegt, was sie sagen wollte. „Sharrkan, du… bist du wieder gesund?“, erkundigte sie sich. „Du bist ja klatschnass.“ Tatsächlich triefte er noch immer von Kopf bis Fuß von dem unfreiwilligen Tauchgang, den Masrur ihm beschert hatte. „Ach, das.“ Er zuckte mit den Schultern. „Lange Geschichte“, wich er aus, aber Yamraiha schien auch keine wahrheitsgetreue Antwort erwartet zu haben. Ihr bebender Körper und ihr feuerrotes Gesicht verrieten, dass es ihr offensichtlich einiges abverlangte, aufs eigentliche Thema zu wechseln. „Wie viel hast du gehört?“, fragte sie schließlich und Sharrkan wusste sofort, wovon sie sprach. „Genug“, sagte er und ihre Wangen färbten sich noch eine Nuance dunkler. „Ich wollte nicht, dass du es auf diese Weise erfährst.“ „Schon gut. Ehrlich gesagt, hab ich das schon vermutet.“ „Und wie – wie geht es dir damit?“ „Naja, was denkst du wohl?“, murmelte Sharrkan und kratzte sich verlegen am Kopf. Glaubte sie, er würde Freudensprünge machen, wenn sich herausstellte, dass sie eigentlich für Arik schwärmte? Konnte sie nach all dem wirklich nicht gesehen haben, was er für sie empfand? „Ich kann nicht gerade behaupten, mich darüber zu freuen.“ Yamraiha blickte ihn betroffen an. „Ich weiß, ich hab bei dir einen falschen Eindruck erweckt in dieser – dieser einen Nacht. Wir waren – ich war ziemlich betrunken und ich hab einen furchtbaren Fehler gemacht. Ich hätte erst nachdenken sollen.“ Da war sie wieder: die Eiseskälte, die in keinster Weise mit seiner nassen Haut in Zusammenhang stand. Warum hatte sie sich auf ihn eingelassen, wenn es ihr da schon längst mit einem anderen ernst war? Warum hatte sie ihm dann noch Hoffnung machen müssen? „Komm, lass gut sein“, sagte er, weil es ihm mit jeder ihrer Begründungen unerträglicher wurde. „Es ist gelaufen, okay?“ Yamraihas Augen füllten sich mit Tränen. „Können wir denn wenigstens Freunde-“ „Ich glaube nicht, dass ich das hinkriege.“ Das, was Sharrkan wollte, war alles andere als Freundschaft. „Verstehe“, flüsterte sie erstickt. „Da hab ich die Signale wohl völlig falsch gedeutet.“ Aber er erfuhr nie, welche Signale sie angeblich auf welche Weise gedeutet hatte, denn während ihrer Unterhaltung war das Schiff im Hafen eingetroffen. Unter einigem Radau hetzten die Matrosen hin und her, warfen ihren Kameraden an Land ein paar Taue zu und platzierten die Rampe, woraufhin ein Teil der Belegschaft schon von Bord ging. Sharrkan nahm von dem Spektakel um ihn herum kaum Notiz und bemerkte die Palastwache erst, als sie ihm von hinten sacht auf die Schulter klopfte. „General Sharrkan, ich soll Euch ausrichten, dass Ihr Euch bitte so zeitnah wie möglich bei König Sinbad einfinden sollt“, sagte er. „Was? Wieso?“ Es war wirklich lästig, dass er ihn und Yamraiha ausgerechnet jetzt unterbrechen musste. „Euer Bruder ist hier.“ Die Nachricht rastete nur sehr langsam in Sharrkans Verstand ein und rückte schlagartig in den Hintergrund, als er Yamraihas verblüfftem Blick folgte, der an ihm vorbei zur Anlegebrücke fiel. „Ich fass‘ es nicht“, hauchte sie. „Ist das Arik?“ Kapitel 6: Getrennte Wege ------------------------- Er war nervös. Nicht bloß ein bisschen nervös, sondern so sehr, dass ihm die Handflächen schwitzten und sein Herz einen kleinen Trommelwirbel veranstaltete. Sharrkan kam sich albern dabei vor, denn schließlich handelte es sich um keinen anderen als seinen eigenen Bruder. Aber er hatte Armakan seit dem Begräbnis seiner Mutter nicht mehr gesehen und in all den Jahren, die er sich in Sinbads Obhut befand, war nicht ein einziger Brief von ihm gekommen – geschweige denn, dass er seinem kleinen Bruder mal einen Besuch abgestattet hätte. Das letzte Lebenszeichen war vor zwei Jahren eine Einladung zur Hochzeit gewesen, der Sharrkan jedoch nicht hatte folgen können. Er erinnerte sich nicht mehr an den Grund, aber er wusste noch genau, wie erleichtert er gewesen war, nur ein Geschenk und seine Glückwünsche absenden zu müssen, statt selbst bei der Feier anwesend zu sein. Und nun war er hier in Sindria, bei Sinbad im Audienzzimmer, hinter der Flügeltür, vor der Sharrkan schon fast fünf Minuten mit einem Knoten im Bauch verharrte und seinen ganzen Mut zum Anklopfen zusammenkratzte. Was konnte es nur so Wichtiges geben, dass Armakan sich höchstpersönlich herbemühte? Was gab es so Dringendes zu besprechen, dass er dafür sogar auf Sharrkans Rückkehr gewartet hatte? Zögerlich hob er die Hand, atmete ein paar Mal tief durch und klopfte dann gegen die Tür. Sinbads Stimme bat ihn herein und mit weichen Knien kam Sharrkan der Aufforderung nach. Die beiden Könige saßen einander gegenüber, zwischen ihnen stand ein niedriger Tisch mit Getränken und dahinter gab ein riesiges Fenster eine überwältigende Aussicht auf die Stadt und das Meer frei. „Ihr habt nach mir rufen lassen, Hoheit“, sagte Sharrkan förmlich. „Schön dich zu sehen! Setz dich doch bitte zu uns!“ Sinbad lächelte freundlich und verwies auf einen dritten, noch freien Stuhl. „Ich hab gehört, dir war auf der Reise nicht wohl? Geht es dir jetzt besser?“ „Was? Ach so, ja. Alles in Ordnung, danke“, antwortete Sharrkan ihm, doch sein Blick galt einzig und allein Armakan. Die vergangenen zwölf Jahre hatten aus dem Jugendlichen einen Erwachsenen gemacht, aber seine Ausstrahlung hatte sich nicht im Geringsten verändert: Er wirkte so unnahbar wie eh und je. „Du bist groß geworden“, bemerkte er, nachdem Sharrkan schweigend Platz genommen hatte. „Hast du Fortschritte in der Schwertkunst gemacht?“ „Er ist fabelhaft“, sprang Sinbad bei, weil ihm die Unsicherheit des Jüngeren offenbar aufgefallen war. „Er trägt das Kommando über eine eigene Einheit und eine Menge Leute profitieren von seinem Training.“ „Das freut mich“, sagte Armakan. „Ich habe nie bereut, dass ich ihn mit Euch habe gehen lassen, König Sinbad.“ „Nicht doch!“, lachte Sinbad und hob abwehrend die Hände. „Das ist doch nicht mein Verdienst. Außerdem hat er die Grundfertigkeiten aus der Schwertkampfschule Eures Landes und die genießt schließlich nicht zu Unrecht einen ausgezeichneten Ruf.“ „Wenn ich mir die Stärke Eurer Truppen so ansehe, habe ich die Befürchtung, dass wir noch eine Menge Arbeit vor uns haben.“ Sharrkan verfolgte den Austausch von Höflichkeiten noch eine ganze Weile, bis er die belanglose Konversation allmählich leid war. Warum kam sein Bruder denn nicht endlich zum Punkt? „Armakan“, sagte er und die beiden Männer verstummten. „Um mit uns zu plaudern, hast du wohl kaum den weiten Weg auf dich genommen. Du willst doch irgendwas von mir.“ Gemächlich griff Armakan nach seiner Tasse, rührte den Tee um und führte ihn dann langsam an die Lippen. „Ja, in der Tat“, entgegnete er. „Ich wollte dich fragen, was du davon hältst, mit mir zurück nach Heliohapt zu kommen.“ Aus dem Augenwinkel nahm Sharrkan Sinbads Blick wahr, der seine Reaktion genau beobachtete und somit verriet, dass er gerade nicht zum ersten Mal von diesem Vorschlag hörte. „Ich soll wieder nach Hause kommen?“, wiederholte Sharrkan perplex. „Warum? Warum so plötzlich?“ „Wie du weißt, hat sich unser Land von den Unruhen der Vergangenheit erholt. Wir sind expandiert, der Handel läuft hervorragend und wir pflegen eine gute Beziehung zu Reim.“ Armakan unterbrach sich, um einen Schluck Tee zu nehmen. „Aber natürlich gibt es immer noch viel zu tun. Würde es uns zum Beispiel gelingen, die Beziehung zu einer sehr einflussreichen Familie aufzubauen, könnte Heliohapt das auf dem Weltmarkt weit voranbringen.“ Sharrkan war als Kind von seinen Lehrern ein wenig in Staatskunst unterrichtet worden, aber wirklich erschließen, was es mit diesen Worten auf sich hatte, konnte er deshalb trotzdem nicht. Seine ratlose Miene bewog Armakan zum weitersprechen. „Ich habe diesbezüglich einige Verhandlungen am Laufen, nur kommen wir leider zu keiner Einigung, wenn nicht eine Verbindung zur Königsfamilie hergestellt werden kann.“ „Eine Verbindung zur – was?“ „Um genau zu sein: eine Hochzeit.“ Die Kanne, mit der Sharrkan sich eingeschenkt hatte, glitt ihm aus den Fingern und nur seinen schnellen Reflexen verdankte er, dass sie nicht auf dem Boden zerschellte. „Du willst, dass ich heirate?“, fragte er brüsk. „Nein, und lass mich das ganz deutlich machen!“, erwiderte Armakan. „Ich zwinge dich zu nichts, ich unterbreite dir lediglich ein Angebot.“ „Wa- Warum heiratest du denn nicht selbst?“ „Nun ja, ich bin bereits verheiratet.“ „Und seit wann ist das ein Problem?“ „Ich habe während meiner Regentschaft einige neue Gesetze erlassen. Um zu verhindern, dass Streitigkeiten in der Thronfolge entstehen – so wie es bei uns der Fall war – ist deshalb nur noch eine Frau zur rechtmäßigen Ehe erlaubt.“ Sharrkan stellte die Teekanne vorsichtig zurück auf den Tisch, ließ dabei seine volle Tasse jedoch unbeachtet. Ihm schwirrte der Kopf von so vielen neuen Informationen. Stumm schaute er hinab auf seine Füße und spürte, wie die beiden Älteren ihn gespannt musterten. „Hast du das auch gemacht?“, fragte Sharrkan, weil er das Gefühl hatte, etwas sagen zu müssen. „War deine Hochzeit auch rein strategisch?“ „Ich liebe meine Frau, aber ich habe sie nicht geheiratet, weil ich in sie verliebt war, falls du das damit meinst“, antwortete Armakan leise. „Für das Wohl seines Landes zu handeln muss nicht immer bedeuten, das eigene Wohl dabei auf der Strecke zu lassen. Ich habe deine Verlobte schon gesehen, Sharrkan. Sie heißt Eline, ist nur ein Jahr jünger als du, hübsch und gebildet. Sie wird dir sicher gefallen.“ Am liebsten hätte Sharrkan diese Aussage mit einem lauten Schnauben quittiert. Woher wollte ausgerechnet sein Bruder wissen, was ihm gefiel und was nicht? Die Fremdheit zwischen ihnen hätte nicht größer sein können. „So wie sich das anhört hast du wohl schon alles in trockenen Tüchern, was?“, knurrte er. „Nein, ganz und gar nicht“, widersprach Armakan. „Wie ich bereits sagte: Ich will und ich werde dich zu nichts zwingen! Du kannst mit mir kommen, Eline ganz in Ruhe kennenlernen und dich dann immer noch gegen eine Hochzeit entscheiden. Wir würden sie ohnehin frühestens in einem halben Jahr arrangieren.“ Er wartete eine Äußerung Sharrkans ab, schien dann aber selbst zu merken, dass dieser dafür viel zu durcheinander war. „Was ich bei dieser Gelegenheit ebenfalls gerne durchführen würde“, fuhr er fort, „ist deine Krönung.“ „Bitte was?! Zum König?! Nein, das will ich nicht!“, wehrte Sharrkan überhastet ab. „Warum nicht? Der Thron stand dir von Anfang an zu und du bist jetzt alt genug.“ „Ich hab doch gar keine Ahnung, wie man ein Land regiert.“ „Darüber musst du dir keine Sorgen machen“, sagte Armakan sanft. „Ich würde dich entsprechend auf deine Rolle vorbereiten lassen und wenn du das möchtest, dir auch im Hintergrund beratend zur Seite stehen.“ Er hielt abermals einen Moment inne. „Ich weiß, das ist jetzt alles ein bisschen viel für dich. Schlaf einfach ein paar Nächte drüber! Ich reise in vier Tagen wieder ab und kann dich gerne auf meinem Schiff mitnehmen. Du kannst aber auch hierbleiben oder später nachkommen, wenn dir das lieber ist. Es ist deine Entscheidung, aber du sollst wissen, dass deine Rückkehr dem Volk von Heliohapt sehr zugutekäme.“ Die Worte seines Bruders hatten sich in seinem Kopf eingenistet wie ein Parasit. Es waren die letzten Gedanken, mit denen Sharrkan an diesem Abend einschlief und die ersten, mit denen er am nächsten Morgen wieder aufwachte. Als könne er nicht weghören, während ein Tonband in Endlosschleife ihm immer wieder all seine Möglichkeiten aufzählte. Es stand außer Frage, dass ihm sein Heimatland am Herzen lag. Natürlich war ihm das Wohlergehen seines Volkes nicht egal. Natürlich wollte er zur Entwicklung seines Königreichs beitragen. Doch Armakan auf dem Thron abzulösen war eine ganz andere Verantwortung und Sharrkan hatte nicht das Gefühl, ihr schon gewachsen zu sein. Ebenso missfiel ihm die Vorstellung, sich mit einer völlig unbekannten Frau vermählen zu lassen. Eine Hochzeit war zwar nichts, was er generell für sich ausgeschlossen hatte, aber mit seinen 23 Jahren hatte er sie eigentlich noch in weiter Ferne vermutet. Ganz zu schweigen davon, dass er bisher immer davon ausgegangen war, seine Zukünftige irgendwann selbst wählen zu dürfen. Wahrscheinlich war diese Eline ebenso frustriert wie er, einfach einen Partner vorgesetzt zu bekommen, und Sharrkan stellte sich ernsthaft die Frage, ob er gleich zwei Menschen auf einmal unglücklich machen wollte. Wie sehr er das Thema auch drehte und wendete: Es hatte ihm nichts eingebracht außer dröhnende Kopfschmerzen. Er überlegte, ob er Sinbad aufsuchen und ihn nach seiner Meinung fragen sollte, denn wenn es jemanden mit politischer Erfahrung gab, zu dem er aufblickte, dann war es der König von Sindria. Im gestrigen Gespräch mit Armakan hatte er zwar keine klare Position bezogen, aber vielleicht half Sharrkan gerade die neutrale Sichtweise eines Außenstehenden, endlich Ordnung in seine wirren Gedanken zu bringen. Nach einem späten Frühstück schlug er den Weg vom Speisesaal zum Regierungsbezirk ein. Es war gut möglich, dass Sinbad im Moment viel zu beschäftigt war, um ihn zu empfangen, doch mehr als von Jafar abgewiesen zu werden konnte schließlich nicht passieren. Draußen auf dem Palasthof begegnete ihm das übliche Gewusel aus Wachposten und Bediensteten und als er im Vorbeigehen den Gruß zweier Kämpfer seiner Einheit erwiderte, wog ihm das Herz plötzlich tonnenschwer. Sindria zu verlassen hieß nicht nur, sich von seiner Truppe zu verabschieden, sondern auch all seine Freunde zurückzulassen. Er würde nicht mehr länger ein Teil der Acht Generäle sein und er würde Alibaba und Olba nicht mehr in der Schwertkunst unterrichten können. Selbstverständlich hatte er immer vorgehabt, eines Tages nach Heliohapt zurückzukehren. Er war schließlich der Prinz seines Landes und da war es völlig ausgeschlossen, sich für ewig an einen anderen König zu binden. Nur hatte er sich nie vorgestellt, wann dieses eines Tages sein sollte. Wann hatte er überhaupt angefangen, so sehr an Sindria zu hängen, dass es die Sehnsucht nach seiner Heimat fast verdrängt hätte? Wann hatte er aufgehört zu glauben, dass er der Rolle, die sein Bruder ihm nun anbot, jemals gerecht werden würde? Wann war das Leben, das er hier führte, so zur Gewohnheit geworden, dass er nichts mehr daran ändern wollte? Nachdenklich steuerte Sharrkan auf das Eingangsportal zu, als ihn ein vertrautes Lachen zu seiner Rechten abrupt in die Gegenwart katapultierte. Sein Kopf schnellte herum und er erblickte Yamraiha, die ihm mit wehendem Kleid entgegenkam. An ihrer Seite, versunken ins Gespräch, lief ein hochgewachsener Mann mit schwarzer Robe und großem Spitzhut, welcher ihn unverkennbar als Magier auszeichnete. Sharrkan gefror das Blut in den Adern. In all seiner Grübelei über Armakans Vorschlag hatte er doch glatt vergessen, dass auch Yamraiha unerwarteten Besuch bekommen hatte. Noch bevor er sich einen Fluchtplan zurechtlegen konnte, wurde sie seiner Anwesenheit gewahr und machte zusammen mit ihrer Begleitung ein paar Schritte vor ihm Halt – das Gesicht weiß wie Papier. „Ähm, Arik, das ist Sharrkan“, stammelte sie, um dem peinlichen Schweigen vorzubeugen. „Sharrkan – Arik.“ „Freut mich“, sagte Arik und streckte mit einem breiten Lächeln seine Hand aus. „Ich hab schon viel von dir gehört.“ Sharrkan fragte sich, was das wohl für Dinge sein mochten. „Ganz meinerseits“, murmelte er weniger enthusiastisch und schlug dann verhalten in die Begrüßung ein. Es war ein kräftiger Händedruck, obwohl Arik kein besonders stämmiger Mann zu sein schien. Tatsächlich wirkte er sogar relativ schlaksig, soweit sich das durch das verhüllende Magiergewand beurteilen ließ. Dafür war er einen halben Kopf größer als Sharrkan und vermutlich auch um die fünf Jahre älter. „Bist du zum ersten Mal in Sindria?“, fragte er mit gezwungener Höflichkeit und konnte augenblicklich beobachten, wie sich Yamraihas Züge ein wenig entspannten. „Ja“, antwortete Arik, „nach all den tollen Geschichten, die man sich über dieses Königreich erzählt, wollte ich mir einfach mal ein eigenes Bild davon machen.“ „Und gefällt es dir hier?“ „Es ist überwältigend! Wir sind schon seit gestern auf den Beinen und ich hab immer noch nicht alles gesehen.“ Verträumt schaute Arik zu Yamraiha hinab und legte dann lässig einen Arm um ihre Taille. „Aber ich hab ja eine bezaubernde Fremdenführerin, die mir jeden Geheimtipp zeigen kann.“ Yamraihas Wangen wechselten schneller von blass zu rot als Sharrkan Schleimscheißer denken konnte. Beschämt guckte sie zur Seite, schüttelte seinen Arm jedoch nicht ab. „Wie schön“, hörte Sharrkan sich sagen, obwohl es eine Million anderer Ausdrücke gab, die er zu gerne losgeworden wäre. Er wusste nicht, wann er das letzte Mal einen Menschen derart verabscheut hatte. „Wenn wir wieder in Magnostadt sind, werde ich mich ausgiebig dafür revanchieren“, setzte Arik fort und sofort sprang Sharrkans Blick wieder zu Yamraiha über. „Ihr geht nach Magnostadt?“, fragte er tonlos. „Nur für ein paar Wochen“, entgegnete Yamraiha hastig. „Ich habe Sinbad gebeten, mir noch ein wenig freizugeben, damit ich Zuhause helfen kann.“ „Dann sind die Aufräumarbeiten noch gar nicht abgeschlossen?“ „Noch nicht ganz“, erklärte Arik, „aber die gröbsten Schäden sind behoben und wir sind auf einem wirklich guten Weg.“ „Na, wenn alle so bemüht sind wie du, wundert es mich nicht, dass ihr nicht vorankommt.“ Die Stimmung kippte innerhalb von Sekunden. „Was soll das heißen?“, fragte Arik herausfordernd. „Komm mit!“, warf Yamraiha ein, weil sie die Gefahr scheinbar zu wittern begann. „Ich wollte dir doch noch die Promenade zeigen.“ Sie zog an Ariks Ärmel, aber der Magier reagierte nicht auf sie. „Ich meine damit“, sagte Sharrkan und versuchte jede Silbe mit Verachtung zu füllen, „dass schon einiges dazugehört, seine Heimat in so einer wichtigen Phase im Stich zu lassen und woanders Urlaub zu machen.“ Er hatte wirklich sein Bestes gegeben. Er war so freundlich und beherrscht geblieben, wie es ihm nur irgend möglich gewesen war, um Yamraiha nicht in eine unangenehme Lage zu bringen. Doch das süffisante Grinsen dieses grässlichen Typen wirkte einfach zu provokant. Zutiefst verunsichert blickte Yamraiha von dem einen zum anderen, während Ariks Augen bedrohlich funkelten. „Immer noch besser als ein Prinz, der seinem eigenen Land komplett den Rücken gekehrt hat“, zischte er und plötzlich lag eine fast elektrisierende Spannung in der Luft. Sharrkan mühte sich, seinen zitternden Fäusten Einhalt zu gebieten. Was bildete sich dieser Hänfling überhaupt ein?! „Dann spitz mal die Ohren!“, schnappte er. „Ich kehre nämlich nach Heliohapt zurück, denn im Gegensatz zu dir, bin ich für mein Reich da, wenn es mich braucht!“ Ohne das weitere Verhalten seitens Arik oder Yamraiha abzuwarten wirbelte Sharrkan herum und stürmte durch das Eingangsportal in den Regierungsbezirk des Palastes. Seine Schritte hallten von der hohen Decke wider, als er in schnellem Tempo auf die Treppe zustapfte und beim Erklimmen gleich mehrere Stufen auf einmal übersprang. In seiner grenzenlosen Wut achtete er weder auf die Wachen, die sein Betragen mit Geringschätzung verfolgten noch auf Jafar, der ihn vor dem Audienzzimmer des Königs erfolglos versuchte abzufangen. Als er polternd die Flügeltür aufstieß, zuckte Sinbad hinter seinem Schreibtisch sichtlich erschrocken zusammen. „Wo ist Armakan?“, presste Sharrkan atemlos hervor. „Ich muss dringend mit meinen Bruder sprechen! Ich habe mich entschieden!“ Kapitel 7: Heimkehr ------------------- Die Nacht war drückend heiß, sternenklar und unendlich lang. Sharrkan saß auf der Fensterbank, den Rücken gegen den Rahmen gelehnt und ein Bein nach draußen baumelnd. Er hoffte auf einen kühlen Windzug, doch die Luft stand so still, dass selbst die Blätter der Palmen vor den Palastmauern wirkten, als habe jemand die Zeit eingefroren. Das Zimmer hinter ihm lag im Dunkeln und nur ein schmaler Streifen Mondlicht fiel auf ein paar gepackte Taschen, die unordentlich gestapelt neben der Tür standen. Nichts in diesem Raum deutete auf einen Umzug hin und Sharrkan wollte seine bevorstehende Reise auch nicht als solchen betrachten. Er hatte Armakans Angebot zwar angenommen, doch dies beinhaltete schließlich auch, dass er sich eine Rückkehr nach Sindria jederzeit offenhalten konnte. Unbewusst schlossen sich seine Finger fester um das kleine warme Stück Metall, das er sorgfältig in der Hand verwahrte, seit es ihm beim Aufräumen vor die Füße gefallen war. Er hatte Yamraiha ihren Zimmerschlüssel nie zurückgegeben, obwohl sie bereits einmal danach gefragt und er es sich mehrfach vorgenommen hatte. Doch irgendwie hatte sich die passende Gelegenheit dafür nicht ergeben und seit seiner Auseinandersetzung mit Arik war er ihr nicht mehr über den Weg gelaufen. Sharrkan hegte keinen Zweifel daran, dass sie wütend auf ihn war und er wusste, dass sie jedes Recht dazu hatte. Spätestens jetzt musste der letzte Funken Unsicherheit erloschen sein, sollte sie jemals zwischen ihm und Arik geschwankt haben. Das Klopfen – in der nächtlichen Stille laut wie ein Kanonenschuss – kam nicht unerwartet und fuhr Sharrkan trotzdem eiskalt in die Glieder. Eilig rutschte er von der Fensterbank, durchquerte den Raum und öffnete die Tür. „Ich dachte schon, du hast verschlafen“, begrüßte Masrur ihn und spähte in das unbeleuchtete Zimmer. „Tja, falsch gedacht!“, gab Sharrkan patzig zur Antwort. Wahrscheinlich klang er dabei ein wenig zu übermütig, denn Masrur durchschaute ihn sofort. „Hast du überhaupt geschlafen?“, forschte er nach. Sharrkan überhörte die Frage, schnappte sich stattdessen zwei seiner Taschen und drückte sie ihm auffordernd entgegen. „Hör auf zu quatschen und mach dich lieber nützlich!“ Sie teilten die Gepäckstücke untereinander auf, verließen Sharrkans Zimmer und folgten dann schweigend den langen Fluren, hinaus aus dem Palast und hinein in das verwinkelte Gassensystem Sindrias. Die Hitze hatte sich in den Straßen der Stadt noch schlimmer aufgestaut als oben an der Residenz und die hohe Luftfeuchtigkeit machte den Marsch nicht gerade angenehmer. Sharrkan war froh, dass es Masrur war, der ihn zur Abreise begleitete, denn der sprach generell nicht viel und Sharrkan war im Moment absolut nicht nach einer Unterhaltung zumute. Er war sich mittlerweile unsicher, ob er seine Entscheidung doch zu voreilig getroffen hatte. Wäre Sinbad nicht gewesen, hätte er Armakan in seinem Zorn wohl noch am gleichen Tag alles vorbehaltlos zugesagt. Aber sein König hatte zunächst eine längere Beurlaubung vorgeschlagen und im Nachhinein konnte Sharrkan ihm gar nicht genug danken, an seiner Stelle einen kühlen Kopf bewahrt zu haben. Der Hafen wirkte fast menschenleer, denn die Fischerboote waren schon vor Stunden aufs Meer hinausgefahren und für die großen Frachter war es noch viel zu früh am Morgen. Armakans Schiff lag bewegungslos in der ruhigen See. Es war in edlen Schwarz- und Goldtönen bemalt, zwei riesige Schlangengravuren zierten beide Flanken und auf den Segeln prangte das schützende Auge, das auch den Königspalast von Heliohapt bewachte. Sharrkan sah seinen Bruder bereits oben an Deck stehen und als ihre Blicke sich trafen, nickte dieser ihm ermutigend zu. Vielleicht hatte er befürchtet, dass Sharrkan nicht kommen würde. „Bist du bereit?“, fragte Masrur und stellte die Taschen vor sich auf dem Boden ab. Sharrkan wollte mit Ja antworten, doch sein Hals war so trocken, dass er nichts als einen schwachen Kehllaut zustande brachte. Er drehte sich um, Richtung Stadt, als erwarte er jemanden zwischen den Häuserfronten zu entdecken – nur war es dort ebenso ausgestorben wie hier. „Wenn du sie siehst“, murmelte er, griff in sein Gewand und zog den kleinen bronzenen Schlüssel hervor, „dann gib ihn ihr zurück… und sag ihr, dass es mir leid tut.“ Masrur nahm Yamraihas Schlüssel stumm entgegen. In seinen Augen war der unausgesprochene Vorwurf deutlich zu lesen: Warum hast du das nicht selbst getan? „Es wird Zeit.“ Armakan stand an der Reling, während die Matrosen um ihn herum die letzten Vorbereitungen zum Ablegen trafen. „Wir müssen los.“ Mit gemischten Gefühlen betrat Sharrkan die Rampe und ließ sich von Masrur das restliche Gepäck über die Brüstung reichen. Dann standen sich die beiden ein vorerst letztes Mal gegenüber. „Pass auf dich auf, Senpai“, sagte Masrur und schaute zu dem Älteren hoch. „Versuch, keine Dummheiten zu machen.“ Sharrkan konnte nicht anders, als bei diesen Worten zu lächeln. Er beugte sich weit übers Geländer, streckte den Arm aus und knuffte Masrur gegen die Brust. „Das mache ich doch nie.“ Das Schiff setzte sich in Bewegung, entfernte sich langsam von der Bucht und Sharrkan blickte empor zum hellerleuchteten Palast, der über der gesamten Insel thronte. Rechts und links davon zeichneten sich die Steilklippen scharf gegen das Firmament ab, terrassenförmig darunter verlief die Stadt. Ihre noch spärlichen Lichter wurden hier und da von einigen Grünflächen überschattet. Die weitläufigen Wälder und das Ackerland, das sie umrahmte, wirkten in der Dunkelheit fast schwarz im Vergleich zu den zahlreichen Laternen am Hafen. Masrurs Silhouette auf der Kaimauer war bereits in solche Ferne gerückt, dass Sharrkan ein zweites Mal hingucken musste, um die weitere Person neben ihm überhaupt zu erkennen. Sie war ein ganzes Stück kleiner als er und anhand der Form ihres Hutes und des langes Stabes in ihrer Hand war eine Verwechslung beinahe ausgeschlossen. „Yamraiha“, flüsterte Sharrkan, doch dann passierte das Schiff das Felsenportal Sindrias und beide verschwanden abrupt aus seinem Sichtfeld. Einen Moment später fragte er sich, ob seine Fantasie ihm aufgrund der Müdigkeit wohl einen Streich gespielt hatte. Konnte sie wirklich dagewesen sein? Völlig unvermittelt legte ihm jemand von hinten eine Hand auf die Schulter und als Sharrkan sich umdrehte, fand er sich in Gesellschaft seines Bruders wieder. „Das Frühstück ist fertig“, sagte Armakan, nahm ihn an seine Seite und lenkte ihn behutsam von der Reling fort. „Du hast doch sicher Hunger.“ Und mit einem letzten Blick zurück ließ sich Sharrkan widerstandslos die Treppe hinunter und unter Deck des Schiffes bugsieren. Die Überfahrt dauerte zwei Wochen – zwei geschlagene Wochen, die Sharrkans Geduldsfaden auf eine harte Zerreißprobe stellten. Er durfte sich an der Arbeit, die auf dem Schiff anfiel, nicht beteiligen, weil sich dies für einen Prinzen nicht ziemte. Er durfte an Deck keine Schwertkunst trainieren, weil das die Besatzung bei ihrer Tätigkeit gestört hätte. Er durfte Armakan nicht von seinen Regierungspflichten ablenken, welchen er von seiner Kajüte aus nachging, obwohl er einer der wenigen Menschen an Bord war, mit denen sich Sharrkan hätte unterhalten können… Und so siechte Tag um Tag in qualvoller Langeweile dahin, bis eines Abends endlich eine dünne Linie am Horizont ihre Ankunft auf dem Dunklen Kontinent ankündigte. Die Hafenstadt, in der das Schiff zu einsetzender Dämmerung vor Anker ging, war nicht sonderlich groß. Armakan hatte sie hauptsächlich als Handelsposten errichten lassen, nachdem er Sinbads Allianz der Sieben Meere beigetreten war. Deshalb gab es nur wenige Wohnhäuser, aber dafür umso mehr Lagerstätten. Beim Anlanden fiel Sharrkan auf, dass auch die Marine hier stationiert zu sein schien. Ansonsten bot die Stadt nicht viel zu sehen. Sie war umgeben von einer unwirtlichen Steinwüste, in der außer trockenem Gestrüpp nichts gedieh und schon von Weitem ließen sich die Sanddünen ausmachen, die das Gelände in Richtung Landesmitte dominieren würden. Von hier aus sollte man den angeblich kürzesten und bequemsten Weg nach Heliohapt haben. „Willkommen daheim, König Armakan, Prinz Sharrkan.“ Es war Narmes, der seine Herrscher mit einer tiefen Verbeugung als Erster begrüßte. Gemeinsam mit einer Handvoll Bediensteten, einigen Soldaten und einem Teil des Volkes, das sich neugierig im Hintergrund hielt, hatte er den beiden Brüdern am Steg seine Aufwartung gemacht. „Schön, Euch wieder bei uns zu haben“, sagte er an Sharrkan gewandt und schenkte ihm ein so warmes Lächeln, als sähe er immer noch den kleinen Jungen vor sich, den er vor zwölf Jahren hatte gehen lassen. „Es ist alles für die Nacht vorbereitet. Wenn Ihr mir folgen würdet?“ Er führte sie einen kurzen Weg entlang zu einem prunkvollen Anwesen, das den Anschein machte, als habe es Armakan schon öfter für den einen oder anderen Zwischenstopp genutzt. Denn kaum waren sie zur Tür eingetreten, da boten ihnen bereits mehrere Hausangestellte ihre Dienste an. Sharrkan war von der Reise und der zunehmenden Hitze so erschöpft, dass er alle Umstehenden – im wahrsten Sinne des Wortes – am liebsten in die Wüste geschickt hätte. Trotzdem ließ er sich klaglos auf sein Zimmer geleiten, beantwortete brav, ob er noch etwas zu Essen oder ein Bad wünschte und versprach, sich jederzeit zu melden, sollte es ihm an etwas fehlen. Erst, als es an der Tür klopfte und der König höchstpersönlich den Raum betrat, zogen sich die Diener zurück und ließen Sharrkan mit seinem Bruder allein. Über Armakans Schulter lugte der Kopf seiner riesigen gelben Schlange, die er in der Heimat immer bei sich zu tragen pflegte. „Morgen um die gleiche Zeit sind wir in Heliohapt“, sagte er, ging um Sharrkan herum und ließ sich auf dessen Bett nieder. „Ich habe eben einen Boten losgeschickt, damit der Palast Bescheid weiß. Sicher erwarten sie uns schon. Delia, meine Frau… und Eline.“ „Sie ist schon da?“, fragte Sharrkan überrascht. „Du wirst sie morgen Abend kennenlernen.“ Einen Moment lang musterte Armakan seinen kleinen Bruder abschätzend. „Nervös?“, fragte er und Sharrkan reagierte mit einem Achselzucken. Er hatte sich nicht vorgestellt, dass alles so schnell gehen würde. Armakan schien seine Gedanken zu erraten und bedeutete ihm mit der Hand, sich neben ihn zu setzen. „Lass es erst mal auf dich zukommen“, schlug er vor. „Niemand verlangt von dir, dass sich da sofort was entwickelt.“ Zögernd folgte Sharrkan dem Wink und nahm ebenfalls auf der Bettkante Platz. Sein Bruder begutachtete ihn kurz von der Seite und fuhr dann mit den Fingern über die Segmente der Goldkette, die von Sharrkans Ohr zu dessen Hals führten. „Die musst du hier nicht tragen“, sagte er. „Ich hab etwas Besseres für dich.“ Er griff hinter seinen Rücken und zog eine kleine ockerfarbene Schlange von seinem Körper, die Sharrkan zuvor an ihm gar nicht aufgefallen war. Geschmeidig wandte sie sich um seinen Arm, bevor sie nahtlos auf ihren neuen Besitzer überwechselte. „Für mich?“, vergewisserte Sharrkan sich. „So ist es Tradition.“ Wie ein glatter, weicher Schlauch schlängelte sich das Tier an Sharrkans Schulter hinauf, glitt ihm unter die Kleidung, über die Brust und um die Seite auf den Rücken. „Sie ist großartig“, sagte er glücklich und streichelte den Kopf, welcher in seinem Nacken wieder zum Vorschein kam. „Er“, verbesserte Armakan ihn. „Sein Name ist Essam. Er ist noch jung, aber wenn du dich gut um ihn kümmerst, kann er mindestens vier Meter lang werden.“ Eine Weile beobachtete er, wie Sharrkan mit der Schlange spielte, bis er schließlich aufstand und sich langsam zur Tür begab. „Ich muss noch ein paar Dinge mit Narmes besprechen, aber du solltest jetzt besser schlafen. Wir brechen morgen sehr früh auf.“ Er war schon halb hinausgegangen, als er mit der Hand an der Klinke ein letztes Mal innehielt. „Hab eine gute Nacht, Sharrkan“, sagte er mild, „und mach dir nicht so viele Gedanken!“ Dann fiel die Tür hinter ihm ins Schloss und trotz seines Rates saß Sharrkan noch lange vollkommen reglos auf einem Fleck. Undeutlich spürte er, wie die Schlange von seinem Bein hinunter auf den Boden kroch, hörte die Bediensteten im Nebenzimmer leise sprechen und draußen aus der Ferne den Schrei eines Wüstenfuchses, während das Dämmerlicht im Raum allmählich der Finsternis wich. Sich nicht so viele Gedanken machen? Sharrkan schien das genauso unmöglich wie die Vorstellung, ohne ein Schwert in den Kampf zu ziehen. Sollte ihm Eline morgen unsympathisch sein, würde das unter Umständen nicht nur seinen Bruder enttäuschen, sondern auch die Zukunft seines ganzen Volkes beeinträchtigen. Nach einer gefühlten Ewigkeit erhob er sich endlich vom Bett und begann sich für die Nacht umzuziehen, als sein Blick zufällig an den mitgebrachten Taschen hängen blieb, die ihm die Angestellten bei ihrer Ankunft hineingetragen hatten. Das Ende von Essams Schwanz hing oben aus dem Verschluss und seufzend ging Sharrkan in die Hocke und zog ihn vorsichtig wieder heraus. Wäre das metallische Klirren nicht gewesen, hätte er in der Dunkelheit glatt übersehen, dass dabei ein kleiner bronzener Schlüssel herausgefallen war. Fassungslos hob Sharrkan ihn auf. „Masrur, du Mistkerl“, wisperte er und kam dennoch nicht umhin, sich zu fragen, was Yamraiha gerade tat, ob sie bereits in Magnostadt angekommen war und – viel wichtiger – mit wem sie diesen Abend wohl verbracht hatte. Kapitel 8: Wahrheiten und Pflichten ----------------------------------- Der Teppich war bedeckt mit den köstlichsten Speisen: einheimisches Obst und Gemüse, das am Nanile Fluss angebaut wurde, aber auch importierte Früchte aus der restlichen Welt, diverse Fleischgerichte wie Mash’hamam, dazu Mululukhiyah und andere Suppen sowie als Beilage Reis, Bohnen und Linsen. Sharrkan wusste überhaupt nicht, wo er zuerst hingreifen sollte. Viele der Gerichte erinnerten ihn an seine Kindheit, andere hatte er noch nie im Leben probiert. Zu seiner rechten, auf einem leicht erhöhten Podest, saß Armakan mit seiner Frau Delia. Die Hausleute seines Bruders hatten es sich auf Kissen rund um das Abendessen bequem gemacht. Ihre Stimmung war aufgrund des reichlichen Weines ausgelassen, doch Sharrkan selbst hatte davon keinen einzigen Tropfen angerührt. Seine Augen huschten zu seiner linken, an der ein hübsches brünettes Mädchen gerade ein Stück Fladenbrot in zwei Hälften brach. Eline trug die traditionelle Kleidung und den für Heliohapt typischen Schmuck, was dennoch nicht ausreichte, um ihre ausländische Herkunft zu verbergen – wie einst Delia war sie in Reim geboren und aufgewachsen. Sie hatte eine schlanke Statur, langes zu zwei Zöpfen geflochtenes Haar und Sommersprossen auf der Nase. Als sie Sharrkan vor ein paar Stunden das erste Mal gegenübergestanden hatte, war sie höflich, beinahe schüchtern gewesen. Auch jetzt beim Essen benahm sie sich absolut vorbildlich und lieferte keinen Grund, sich über ihr Verhalten zu beschweren. Trotzdem fehlte Sharrkan irgendetwas an ihr und er konnte beim besten Willen nicht sagen, was es war. Er beugte sich vor, nahm sich eine Schüssel mit Sesamcreme und reichte sie Eline. „Das passt wirklich gut dazu“, empfahl er ihr und sie schien sowohl überrascht als auch erfreut, dass er sie als Erster ansprach. „Danke“, murmelte sie verlegen. „Die schmeckt echt gut. Hab ich jetzt schon ein paar Mal gegessen.“ Sorgfältig verteilte sie die Creme auf ihrem Fladenbrot. „Wie lange bist du denn schon hier?“, fragte er, um das Gespräch am Laufen zu halten. „Etwa drei Monate müssten es nun sein.“ „Was?! So lange schon?“ „Ich bin mit meinem Vater hergekommen, um Verhandlungen mit König Armakan zu führen. Er ist anschließend nach Aktia weitergereist, aber ich bin vorerst geblieben.“ Sharrkan dachte an seine zweiwöchige Überfahrt zurück, in der ihn die Langeweile beinahe um den Verstand gebracht hätte. „War das nicht furchtbar öde, so ganz alleine hier?“ „Überhaupt nicht“, widersprach Eline. „Ich hatte endlich genug Zeit, all meine Schriftrollen zu lesen.“ „Liest du so gerne?“ „Oh ja, hauptsächlich spannende Geschichten, aber ich habe mir auch Texte über Heliohapt besorgt, um mehr über das Land zu lernen. Während ich mit meinem Vater auf Geschäftsreise war, musste ich ihm viel helfen und da blieb das Lesen leider oft auf der Strecke.“ Zu diesem Thema wusste Sharrkan nichts beizusteuern. Er hatte sich noch nie eingehender mit spannenden Geschichten beschäftigt und schon gar nicht freiwillig irgendwelche Wissensliteratur entrollt. Das war immer eher Yamraihas Ding gewesen, die Unmengen an Zauberschriften bei sich im Labor gehortet hatte. „Was machst du gerne, wenn du frei hast?“, fragte Eline, sein Schweigen richtig deutend. „Ich trainiere mit dem Schwert“, antwortete Sharrkan. „Wenn du Lust hast, kannst du ja mal zusehen.“ Er bereute es noch im gleichen Moment, in dem er es aussprach. Wann hatte diese Masche bitte jemals funktioniert? Wie vielen Mädchen hatte er in jungen Jahren schon erfolglos versucht, auf diese Weise zu imponieren? Wie oft hatte er dafür Yamraihas Spott kassieren müssen, weil Mädchen an der Schwertkunst angeblich nicht interessiert seien? Doch Eline sagte: „Das würde mich freuen.“ und Sharrkan klappte die Kinnlade herunter. „Im Ernst?“, fragte er ungläubig. „Ja, warum nicht?“, entgegnete sie. „Ich hab gelesen, die Schwertkampftechnik aus Heliohapt sei auf der ganzen Welt einmalig.“ Sharrkan fühlte sich auf einmal deutlich größer als er eigentlich war. „Das stimmt“, sagte er fröhlich. „Man ahmt die Bewegungen einer Schlange nach und nutzt die Schwachstellen des Gegners aus. Ich hab das schon als Kind gelernt und in Sindria dann an meine Schüler weitergegeben.“ „Du warst lange in Sindria, oder? Ich hab gehört, es soll ein wunderschönes Land sein. Mein Vater ist aktuell dort, bei König Sinbad. Vielleicht hast du ihn sogar gesehen.“ Sie sagte es so leichthin, doch Sharrkan, der sich einen Löffel Suppe in den Mund gesteckt hatte, verschluckte sich dermaßen, dass er einige Minuten brauchte, um wieder Luft zu bekommen. „Warte, wie heißt dein Vater?“, hustete er. „Phillius Havius“, antwortete Eline mit argloser Miene. „Hast du ihn etwa schon kennengelernt?“ „Nur- nur flüchtig…“ Es war kaum zu glauben, dass dieses schlaue, anmutige Mädchen die Tochter eines solchen Widerlings sein sollte. Sharrkan hatte noch gut im Gedächtnis, welche Scherereien Yamraiha auf ihrer Eskorte mit Phillius gehabt hatte. Nichts war je zu seiner Zufriedenheit erfolgt, nie auch nur ein Dankeschön über seine Lippen gekommen. Eline dagegen schien ihm glücklicherweise weder äußerlich noch in ihrem Charakter besonders ähnlich zu sein. „Du hast nicht viel von ihm“, gestand Sharrkan und sie lachte. „Das sagen alle. Offenbar komme ich mehr nach meiner Mutter, aber sie ist leider schon sehr früh gestorben, darum erinnere ich mich nicht an sie.“ „Dann hat dein Vater dich alleine großgezogen?“ „Ja, das ist richtig.“ Eine der Dienerinnen bückte sich zu Eline hinab, um ihren leeren Becher aufzufüllen und Sharrkan nutzte die Gelegenheit, sich den Teller erneut mit Essen zu beladen. Er war erleichtert, dass sich seine Verlobte – entgegen seiner Befürchtung – nicht als vollkommen unausstehlich entpuppt hatte, auch wenn er nach wie vor nicht erklären konnte, was genau ihm an ihr fehlte. Wenn ihn etwas beunruhigte, dann höchstens Armakans Geschäftsbeziehungen mit einem Mann, der bereit war, sein eigenes Kind gegen ein bisschen Macht einzutauschen. Sharrkan dachte mit Bitterkeit daran, dass seine Mutter mit ihm damals ähnliche Absichten gehabt hatte und beschloss, seine Meinung über Eline nicht an ihren Familienverhältnissen festzumachen. Womöglich brauchte es einfach nur ein wenig mehr Zeit, um miteinander warm zu werden. Doch Zeit war, wie Sharrkan mit Entsetzen feststellen musste, plötzlich ein rares Gut geworden. Innerhalb der nächsten Wochen hatte er ein so straffes Pensum zu bewältigen, dass er froh sein konnte, hin und wieder einen Augenblick für sich selbst zu finden. Der Vormittag war blockiert durch Narmes‘ Unterweisungen über die politische Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Heliohapts. Dies beinhaltete neben dem Studium des Rechtssystems, der Handelsrouten oder der geografischen Expansion auch eine Auffrischung der Toran-Sprache. Sharrkan hatte bereits Kopfweh, noch bevor es Mittagessen gab, musste im Anschluss aber trotzdem Armakan zu seinen Konferenzen begleiten. Nur, wenn sich diese nicht bis in den Abend zogen, durfte er am späten Nachmittag für ein paar Stunden den Schwertkampf trainieren. Danach war er meistens so gerädert, dass er schlafen ging, bevor die Sonne den Horizont überhaupt berührt hatte. Zu allem Überfluss schien es sich Eline zur Aufgabe gemacht zu haben, überall dort aufzutauchen, wo Sharrkan gerade beschäftigt war. Sie wollte mit ihm am Unterricht teilnehmen, zu den Mahlzeiten tiefgründige Gespräche führen und wohnte ausnahmslos jeder seiner Trainingsstunden bei. Was er zu Beginn noch als niedliche Annäherungsversuche abgetan hatte, wurde ihm schnell so lästig, dass er Umwege einschlug, sobald er sie nur von Weitem sah. Auch an diesem Morgen war er in Narmes‘ Arbeitszimmer gehuscht, bevor sie sich an seine Fersen heften konnte und hatte dafür prompt den missbilligenden Blick seines Lehrers geerntet. „Mein Prinz“, sagte er respektvoll, während Sharrkan vor ihm Platz nahm, „wenn Ihr ständig die Flucht ergreift, werdet Ihr nie herausfinden, ob Eline die geeignete Braut für Euch ist.“ Mit einem Anflug von schlechtem Gewissen rollte Sharrkan seine bisherigen Notizen aus und tauchte den Pinsel in die Tinte. „Ich versuch’s ja, aber sie ist… penetrant“, murrte er leise. „Dann sprecht mit ihr darüber!“, riet Narmes ihm. „Erklärt ihr, dass Ihr mehr Freiraum braucht! Sonst wird sie irgendwann die falschen Schlüsse aus Eurem Verhalten ziehen.“ Sharrkan bezweifelte stark, einen solchen Dialog führen zu können, ohne dass Eline es in den falschen Hals bekam, antwortete Narmes jedoch nicht. Dieser drang nicht weiter auf ihn ein und schon bald waren sie in ihre jüngsten Aufzeichnungen über den Export von Arzneimitteln vertieft. Es war ein rekordverdächtig langweiliger Vormittag und nachdem Sharrkan die gleiche Zeile bestimmt fünfmal gelesen hatte, wusste er, dass es zwecklos war. Verträumt ließ er Essam über seine Arme gleiten, bis ein ungehaltenes Räuspern ihn wieder aus seiner Trance riss. „Konzentriert Euch bitte!“, mahnte Narmes. „Ihr müsst Euch ausgiebig auf die Krönung vorbereiten! Als Herrscher braucht Ihr Kenntnisse in allen Regierungsbereichen.“ „Nur eine praktische Kenntnis ist wohl nicht inbegriffen“, schoss Sharrkan zurück. „Als Kind durfte ich mir den Palast immer nur von innen ansehen und jetzt ist es auch nicht viel anders. Seitdem ich wieder hier bin, war ich kein einziges Mal draußen.“ Er hielt Narmes‘ ärgerlicher Miene trotzig stand und fuhr fort: „Warum machen wir immer nur Theorie? Warum kann ich nicht rausgehen und mir selbst ein Bild machen?“ „Weil Ihr der Prinz seid. So sehr ich Euren Wunsch auch verstehe, aber wir bräuchten zuerst eine offizielle Verkündung, die Garde müsste mobilisiert werden und-“ „Sinbad konnte immer-“ „Dies ist aber nicht Sindria!“ Sie funkelten einander böse an und Sharrkan musste sich aus Respekt vor dem deutlich Älteren eine bissige Bemerkung verkneifen. Missmutig widmete er sich wieder dem Lernmaterial und setzte seinen Pinsel so hart auf den Papyrus, dass dicke Tintenklekse entstanden. „Nur eine Stunde“, hörte er Narmes sagen. „Eine Stunde und keine Sekunde länger. Ihr werdet Euch maskieren und mit niemandem sprechen. Ich werde Euch begleiten.“ Verblüfft schaute Sharrkan zu ihm auf. Sein Lehrer machte ein Gesicht, als handele er wider besseren Wissens. „Verpetzt mich bloß nicht bei Eurem Bruder!“ Er öffnete seinen Schrank, holte zwei schlichte Reisegewänder hervor und reichte eines an Sharrkan. Es war ihm ein Stück zu lang, passte ansonsten aber wie angegossen. Narmes zog ihm die Kapuze weit über den Kopf. „So oder gar nicht“, beantwortete er Sharrkans stummen Protest, „und die Schlange bleibt hier!“ Sie schafften es unbehelligt an den Wachen vorbei, indem Narmes ihnen weismachte, mit seinem Diener ein paar Einkäufe tätigen zu müssen. Dann standen die beiden auf den obersten Stufen des Palastes, in der erbarmungslosen Wüstenhitze, die zwar weniger schwül, doch um einiges heißer war als in Sindria. Unter ihnen erstreckte sich die Stadt Heliohapt bis runter zum Nanile Fluss, dahinter bot ein weiter Ausblick nichts als riesenhafte Dünen. Sharrkan folgte Narmes den langen Weg zum Fuß der Treppe und ließ sich anschließend nach rechts, in Richtung Handelsviertel leiten. Unbewusst verlangsamte er dabei sein Tempo – bestaunte hier ein Bauwerk oder lauschte dort einer Unterhaltung – sodass er immer wieder rennen musste, um zu Narmes aufzuschließen. Die allgemeine Stimmung im Land schien gut zu sein. Er vernahm nur wenig Kritik, auch wenn manche Konservative mit Armakans Wahl einer ausländischen Ehefrau offenbar nicht ganz einverstanden waren. Auf dem Markt herrschte dichtes Gedränge, denn jeder wollte seine Besorgungen erledigen, bevor die Sonne ihren höchsten Punkt erreichen würde und man sich lieber in den kühlen Häusern verschanzte. Da Narmes nach seiner Ausrede nicht mit leeren Händen zurückkehren konnte, schob er sich durch die übervollen Gänge und schleifte seinen Prinzen am Arm hinter sich her. Sie kauften Stoffe und Tücher ein und Sharrkan hätte sich die unterschiedlichen Stände gerne noch länger angeschaut, wurde von Narmes jedoch konsequent wieder vom Marktplatz hinunter komplimentiert. Entlang des Nanile Flusses traten die beiden allmählich ihren Rückweg an, vorbei an am Ufer spielenden Kindern und einer Gruppe Senioren, die im Schatten der Palmen gemeinsam Tee trank. Sharrkan machte gerade Platz für einen Karren, der sie von hinten überholte, als seine Aufmerksamkeit auf ein im Rohbau stehendes Haus gelenkt wurde. Die Arbeiter dort stammten allesamt nicht aus Heliohapt – und an ihren Füßen rasselten Eisenketten. Wie erstarrt blieb Sharrkan stehen. „Warum?“, fragte er an Narmes gewandt und merkte, dass seine Stimme plötzlich zitterte. „Warum sind hier Sklaven?“ „In Heliohapt gab es doch schon immer Sklaven“, antwortete Narmes verständnislos. „Ich meinte, warum das immer noch-“, zischte Sharrkan ihm zu, doch der Rest des Satzes blieb ihm im Hals stecken. Ein kleiner Junge, das Gesicht ebenso feuerrot wie sein Haar, mühte sich einen Steinblock die dafür vorgesehene Rampe empor zu schieben. Für einen Fanalis sollte das im Normalfall kein Problem sein, aber das Kind strauchelte, rutschte einen halben Meter zurück und noch bevor Narmes Sharrkan aufhalten konnte, war der ihm zu Hilfe geeilt und hatte sich mit dem gesamten Gewicht dagegen gestemmt. Das Bauteil stoppte und der Junge blickte erstaunt zu ihm hoch. „Hey, weg da von ihm!“ Der Mann, der aus dem Inneren des Gebäudes auf sie zukam, wedelte mit den Händen, als wolle er einen streunenden Köter verscheuchen. „Lass deine dreckigen Pfoten von meinem Eigentum, klar?!“ Sharrkan beachtete ihn nicht und nahm stattdessen den Jungen neben sich ins Visier. Er war in die Hocke gesunken, so als habe er keine Kraft mehr, um aufrecht zu stehen, wage es vor seinem Herren aber auch nicht, sich auf den Boden zu setzen. Sein Atem ging schwer, seine Haut glühte fiebrig. „Ihm geht es nicht gut“, sagte Sharrkan, umfasste den Arm des Jungen und erschrak, was für eine Hitze dieser kleine Körper ausstrahlte. „Unsinn, das ist ein Fanalis!“, hörte er den Bauleiter keifen. „Der hält einiges aus. Und jetzt zieh Leine, wir müssen hier fertig werden!“ Das Klingeln in seinen Ohren übertönte jedes warnende Wort von Narmes. Mit bebenden Fäusten richtete sich Sharrkan auf, ließ alle Vorsicht fahren und schlug die Kapuze seines Reisegewands zurück. Vielleicht war es der Schock darüber, wen er vor sich hatte, vielleicht auch Sharrkans vernichtender Blick, doch in jedem Fall machte der Bauleiter keinen Mucks mehr. Schweigend duldete er, dass sein Sklave aufgehoben und durch die schaulustige Menge auf der Straße von ihm fortgetragen wurde. Bleischwer und komplett erschlafft hing der Junge auf Sharrkans Rücken, während die gaffenden Menschen eine Schneise schlugen, um das auffällige Trio passieren zu lassen. Der Weg bis zu den Treppen des Palastes kam Sharrkan wie ein endloser Marsch vor. Er spürte unzählige Augenpaare auf sich gerichtet, spürte die kochende Wut von Narmes, der still neben ihm herging und diese unfassbare Hitze des Kindes an seinem Rücken. In der prallen Mittagssonne erklomm er Stufe um Stufe, Schritt für Schritt, bis er eine gefühlte Ewigkeit später mit tauben Beinen auf dem obersten Absatz ankam. Den Palastwachen stand die Verwirrung förmlich ins Gesicht geschrieben, als sie Sharrkan schweißüberströmt vorbeilaufen sahen, doch das war nichts im Vergleich zu Eline, die ihm bereits in der Eingangshalle entgegenrannte. „Sharrkan, wo warst du denn?“, fragte sie und schlug die Hände vor den Mund, als sie den kleinen Fanalis-Jungen bemerkte. „Was ist mit ihm? Was hat er?“ „Er ist krank“, erwiderte Sharrkan knapp, drängte Eline zur Seite und schlug den Weg zu den Gemächern ein. „Schick einen Arzt zu mir! Sofort!“ „Narmes ist schon losgegangen“, sagte sie atemlos und folgte ihm wie ein Küken die langen Flure entlang bis in sein Zimmer, wo er den Jungen vorsichtig auf dem Bett ablegte. Noch immer war sein Gesicht stark gerötet, die Atmung flach und der Puls viel zu schnell. „Er hat hohes Fieber“, stellte Eline fest, nachdem sie ihm die Stirn gefühlt hatte. „Ich hole Wasser.“ Sie wuselte wieder hinaus und mit einem Schlag war es so leise im Raum, dass Sharrkan deutlich wahrnahm, wie viel Anstrengung ihn die ganze Aktion eigentlich gekostet hatte. Zittriger als er es von sich gewohnt war, ließ er sich neben dem Kind auf die Bettkante sinken, wischte sich die nassen Haare aus der Stirn und versuchte, sein rasendes Herz zu beruhigen. Der Junge war kaum älter als Masrur es bei Sharrkans erster Begegnung mit ihm gewesen war, seine Fußgelenke durch die Ketten ebenso wundgescheuert. Sharrkan hätte sich niemals träumen lassen, ein solches Déjà-vu ausgerechnet in Heliohapt erleben zu müssen. Warum war er so fest davon ausgegangen, dass Armakan die Sklaverei in seiner Amtszeit abgeschafft haben würde? Weil er selbst es getan hätte? Es klopfte an der Tür und Narmes, dicht gefolgt vom königlichen Leibarzt sowie hintendran auch Eline, betraten unaufgefordert das Zimmer. Sofort erhob sich Sharrkan vom Bett und während der Arzt sich mit Elines Unterstützung dem Jungen annahm, zog Narmes ihn grob mit sich hinaus auf den Flur. „Der König will uns sprechen“, sagte er steif und mit einem Mal tat es Sharrkan unglaublich leid, in was für eine missliche Lage er seinen Lehrer da gebracht hatte. Er dachte an Masrurs letzten Appell – versuch, keine Dummheiten zu machen – und musste sich trotzdem eingestehen, dass er um keinen Preis der Welt anders gehandelt hätte. Kapitel 9: Mehr als Worte ------------------------- Es hatte ein Donnerwetter gegeben und das nicht zu knapp. Sharrkan hatte seinen älteren Bruder noch nie so außer sich erlebt, weder in seiner Kindheit noch danach. Was ihm wohl eingefallen sei, sich heimlich aus dem Palast zu schleichen?! Was er sich dabei gedacht habe, den Jungen einfach mitzunehmen, anstatt nach einer anderen Lösung zu suchen, um ihm zu helfen?! Was er denn glauben würde, welchen Eindruck sein Verhalten beim Volk hinterlassen habe?! Auch Sharrkans Einwurf, die Sklaverei hätte längst verboten werden müssen, war von Armakan sofort abgeschmettert worden: Es sei eben nicht so einfach, ein solches System innerhalb weniger Jahre zu reformieren. So etwas müsse Stück für Stück erfolgen, damit die Bevölkerung es akzeptiere und nicht von heute auf morgen alle Arbeitskräfte fehlten. Hätte er in Narmes‘ Unterricht besser aufgepasst, würde er wissen, dass es in diesem Bereich bereits Fortschritte gegeben habe. Daraufhin waren Sharrkan die Argumente ausgegangen und er hatte versucht, Armakan zumindest in seine Geschäfte mit Phillius reinzureden, was dem Fass endgültig den Boden ausgeschlagen hatte. Schließlich habe der Charakter einer Person rein gar nichts mit dessen beruflichen Kompetenzen zu tun und als König müsse man so professionell sein, auch mit Menschen zusammenzuarbeiten, die man weniger gut leiden könne. Am Ende war Sharrkan wie ein geprügeltes Tier zurück auf sein Zimmer geschickt worden und hatte es seit fünf Tagen kaum verlassen. Er hatte das Gefühl, unter Arrest zu stehen, auch wenn sein Bruder behauptete, dass dies nicht stimme. Zwar durfte er sich im Palast frei bewegen, wurde aber weder für Lektionen von Narmes noch zu Konferenzen von Armakan einbestellt. Im Grunde hatte er überhaupt keine Verpflichtungen mehr und das war fast noch schlimmer als die ganze Zeit beschäftigt zu sein. An diesem Morgen lag das Zimmer wieder im Halbdunkel – den dritten Tag in Folge – obwohl die Sonne schon aufgegangen war. Sharrkan saß am Fenster, kaute gedankenverloren an einer Mango und beobachtete, wie der Sand gegen die Scheibe peitschte, sodass von der Stadt unten kaum etwas zu sehen war. Wie eine Horde wütender Geister heulte der Wind um den Königspalast und das war wahrscheinlich auch der Grund, warum der kleine Fanalis hinter Sharrkan in dessen Bett schlief. Eigentlich war ihm eine eigene Kammer zugewiesen worden, doch seitdem der Sturm richtig Fahrt aufgenommen hatte, war er jede Nacht unbemerkt zu Sharrkan unter die Decke geschlüpft. Sein Fieber gehörte längst der Vergangenheit an. Es war durch Schatten und Kühle ebenso schnell abgeklungen, wie es durch Sonne und Hitze entstanden war. Trotzdem hatte er in all der Zeit noch kein einziges Wort gesprochen. „Hoheit!“ Sharrkan hatte kurz die Befürchtung, sein Herz würde einfach aussetzen. Er drehte sich so ruckartig um, dass sein Hocker hintenüberkippte und ein scharfer Schmerz ihm direkt in den Nacken schoss. Der Junge kniete auf dem Bett, mit starren Gliedern und weit aufgerissenen Augen. Ihm gegenüber lag, zu einem friedlichen Häufchen zusammengerollt, Essam. „Hab keine Angst!“, sagte Sharrkan, rieb sich fluchend den Nacken und kam langsam auf die beiden zu. „Der ist ganz zahm. Siehst du?“ Mit geübtem Griff hob er die Schlange hoch und legte sie sich um die Schultern. „Du kannst ihn anfassen, wenn du willst! Er beißt nicht.“ Der Junge schüttelte seinen roten Schopf, als sei er von dieser Demonstration nicht im Mindesten überzeugt. Dann wanderte sein Blick von dem Reptil zu dem Stück Mango in Sharrkans Hand. „Hast du Hunger?“ Ein zaghaftes Nicken. Sharrkan holte sein halbvolles Frühstückstablett von der Fensterbank und setzte sich damit zu dem Jungen aufs Bett. „Iss!“, forderte er ihn auf, als er dessen Zögern bemerkte, reichte ihm die eine Hälfte seines Omeletts und steckte sich die andere selbst in den Mund. „Oder magst du das nicht?“ Der Kleine schwieg, nahm das Angebot aber entgegen und Sharrkan fragte sich, wie er es schaffen sollte, ihn erneut zum Reden zu bringen. Er hatte mit Olba schon einmal ein solch unzugängliches Kind vor sich sitzen gehabt. Er wusste, dass es nicht unmöglich war. „Ich werde nach dem Essen in die Trainingshalle gehen und ein wenig mit dem Schwert üben“, verkündete er. „Du kannst mich ja begleiten.“ Fast beiläufig zuckte der Junge mit den Achseln. Er schien mehr daran interessiert, die Schüssel mit den Datteln zu leeren und Sharrkan ließ ihn in Ruhe aufessen, bevor er sich sein Schwert umband und mit ihm gemeinsam hinaus auf den leeren Korridor trat. Wie immer in der Früh wirkte der Palast beinahe ausgestorben, denn alle Bediensteten waren mit ihren täglichen Aufgaben beschäftigt. Auf den Gängen patrouillierten nur die Wachen und auch den Trainingsraum fand Sharrkan vollkommen verlassen vor. „Weißt du, wie man fechtet?“, fragte er den Jungen, während er ihm ein kurzes Schwert aus der Waffenkammer aussuchte. Der Fanalis schüttelte den Kopf. „Du solltest es lernen“, sagte Sharrkan. „Wenn du dich verteidigen kannst, traut sich kein Sklavenhändler der Welt mehr an dich heran.“ Er gab ihm das passende Schwert für seine Größe, machte die Grundhaltung vor, in die sich der Junge begeben sollte und kontrollierte anschließend seinen Stand. Nach ein paar Probeschlägen in die Luft stellte sich Sharrkan ihm dann gegenüber. „Greif mich an!“, befahl er, doch der Junge rührte sich nicht. „Keine Sorge, wir können uns nicht verletzen. Ich schlage nicht zurück und du triffst mich sowieso nicht.“ Es war, als wäre er noch einmal in Sindria. Ein Rausch aus Glücksgefühlen stellte sich ein, mit jedem parierten Hieb, jedem erfolgreichen Ausweichen, jedem zugerufenen Kommando und bald gab es um Sharrkan herum nichts mehr außer dem Klirren ihrer Klingen. Für seinen ersten Versuch kämpfte der Junge nicht schlecht, auch wenn Schwertführung und Beinarbeit natürlich zu wünschen übrig ließen. Dafür schlug er mit einer Wucht zu, die seiner Herkunft als Fanalis alle Ehre machte. Sharrkan begann nach einiger Zeit, ihn aus der Reserve zu locken, indem er das Tempo anzog und manchmal einen aufs Schwert gezielten Angriff zurückgab. Er dachte schon, die Ausdauer würde dieses Kind niemals verlassen, als es endlich keuchend vor ihm in die Knie ging. „Wir sind noch nicht fertig“, amüsierte sich Sharrkan. „Ich hab mich gerade aufgewärmt.“ „Bitte… nicht… Hoheit“, flüsterte der Junge nach Atem ringend. „Oho, er spricht ja doch!“ Zufrieden verstaute Sharrkan sein Schwert in der Scheide und ließ sich vor dem Jungen auf dem Hallenboden nieder. „Nenn mich nicht Hoheit!“, sagte er streng. „Du bist nicht mein Untertan. Wenn ich dich im Schwertkampf ausbilden soll, bist du mein Schüler. Also nenn mich Meister!“ „Ja, Meister.“ Seine Stimme klang so leise und ehrfürchtig, dass sie kaum zu verstehen war. „Und wie darf ich dich nennen?“, bohrte Sharrkan weiter nach. „Ich heiße Jaron.“ „Warum willst du nicht mit mir sprechen, Jaron?“ „Ich darf nicht mit meinem Herrn sprechen.“ Sharrkan merkte, wie es ihn heiß und kalt überkam. „Aber ich bin nicht dein Herr“, stellte er klar. „Du bist jetzt frei. Du bist kein Sklave mehr.“ Es dauerte einen Moment, bis Jaron diese Aussage zu begreifen schien. „Ich gehöre Euch nicht?“ „Nein.“ „Ich muss auch nicht zu meinem alten Herrn zurück?“ „Auf gar keinen Fall!“ Eine Mischung aus purer Freude und tiefem Unglauben spiegelte sich in Jarons Gesicht wider. „Du kannst tun und lassen, was immer du willst“, bekräftigte Sharrkan. „Du kannst durch diese Tür dort gehen und ich werde dich nicht aufhalten.“ „Wohin soll ich denn gehen?“, fragte Jaron verunsichert und Sharrkan lachte. „Das kannst du selbst entscheiden. Gibt es einen Ort, den du gerne besuchen möchtest? Hast du eine Familie? Oder Freunde?“ „Ich habe nichts.“ Es war der gleiche Satz, den Sharrkan schon einmal gehört hatte und es war der gleiche Schmerz, den er transportierte. „Dann bleibst du eben hier“, sagte er vergnügt, weil er wusste, dass Mitleid das Letzte war, was der Junge jetzt gebrauchen konnte. „Ich kann dir jemanden vorstellen, der dir sehr ähnlich ist. Er ist auch ein Fanalis, genau wie du. Ihr würdet euch bestimmt gut verstehen.“ Das Knarzen der Flügeltür unterbrach abrupt ihr Gespräch und Sharrkan sah Elines Kopf vorsichtig um die Ecke spähen. „Hab ich mir doch gedacht, dass du hier bist“, sagte sie mit erhellender Miene und kam zu ihnen in den Trainingsraum. „Du warst nicht in deinem Zimmer und den Jungen konnte ich auch nirgendwo finden. Seid ihr schon fertig oder fangt ihr gerade an?“ „Wir sind fertig“, entschied Sharrkan kurzerhand. Er hatte wenig Lust auf Elines neugierige Zwischenfragen, die ihn schon zur Genüge ablenkten, wenn er keinen Schüler unterrichten musste. „Ach so, wie schade“, entgegnete sie enttäuscht. „Was habt ihr denn als nächstes vor?“ Unnötig gründlich fummelte Sharrkan an der Wandhalterung von Jarons Schwert herum, als er es in die Waffenkammer zurückbrachte. Wenn er sich nicht schnell etwas überlegte, würde ihm Eline für den Rest des Tages nicht mehr von der Seite weichen. Erst gestern war aus ihrer angekündigten kurzen Angelegenheit ein stundenlanger Monolog geworden, ob man dem Geschwätz von Wüstennomaden eigentlich trauen durfte. Sharrkan hatte nicht mal realisiert, welche Gerüchte da angeblich im Umlauf waren, sondern nur innerlich abgewogen, wie hoch die Chancen standen, aus seinem eigenen Zimmer zu entkommen. „Wir müssen ein Bad nehmen“, sagte er mit Blick auf Jarons verschwitztes Gesicht und weil ihm das der einzige Ort schien, an den Eline ihnen nicht folgen konnte. Keiner der beiden wirkte besonders erfreut, doch Einspruch zu erheben, wagten sie auch nicht. „Ihr verabscheut sie, oder?“, fragte Jaron, während er seinen Meister durch die Flure zu den Waschräumen begleitete. Blitzschnell wandte Sharrkan sich um und vergewisserte sich, dass Eline nicht hinter ihnen herkam. „Ich verabscheue sie nicht!“, wisperte er, obwohl seine Verlobte weit und breit nicht zu sehen war. „Sie ist kein schlechter Mensch. Es ist nur-“ Fast hätte er gesagt, was in den letzten Wochen immer stärker in ihm herangewachsen war: der Verdacht, dass Eline nicht diejenige war, mit der er den Rest seines Lebens verbringen wollte. Jaron schaute ihn gespannt an, doch Sharrkan beschlich das irrationale Gefühl, seine Entscheidung nicht mehr ändern zu können, sobald er sie einmal laut ausgesprochen hatte. „Es ist kompliziert“, schloss er unbeholfen, öffnete die Tür zum Bad und ließ sie beide hinein. Der kreisrunde Raum beinhaltete ein großes, unbeheiztes Becken, das nach jeder Benutzung abgelassen und neu aufgefüllt wurde. Nach oben hin öffnete eine gläserne Kuppel die Sicht auf den sturmverhangenen Himmel. Sharrkan zog seine Kleidung aus, glitt ins kühle Wasser und wartete darauf, dass Jaron es ihm gleichtat. „Nun komm schon rein!“, spornte er ihn an. „Ich mag solche Bäder nicht“, antwortete Jaron zähneknirschend, stieg aber dennoch hinein. „Wegen diesem Blumengestank kann ich gar nichts mehr riechen.“ Es brauchte erst seinen Hinweis, damit Sharrkan den dezenten Seifenduft nach Lotus überhaupt wahrnahm und er erinnerte sich, dass alle Fanalis deutlich schärfere Sinne besaßen. „Du brauchst ja nicht lange bleiben“, sagte er, drehte sich um und legte sein Zopfband an den Beckenrand, als er plötzlich Jarons Hand auf seinem Rücken spürte. „Diese Narbe…“, murmelte er und zeichnete sie mit dem Finger nach. „Woher habt Ihr die?“ „Das ist bei einem Schwertkampf passiert. Ich musste unsere Schüler zusammen mit zwei meiner Kameraden beschützen. Ist schon ‘ne Weile her.“ „War der andere Fanalis auch dabei?“ „Ja, der auch. Und eine ziemlich nervige Frau, die glaubt, mit Magie lasse sich jedes Problem lösen.“ „So nervig wie Eline?“ Sharrkan konnte nicht verhindern, dass ihm bei diesem schalkhaften Unterton das Blut in die Wangen schoss. „Davon verstehst du noch nichts!“, keifte er. „Wie alt bist du? Acht? Oder neun?“ „Ich bin schon zehn“, sagte Jaron nicht ohne Stolz. „Dann gib dir lieber Mühe zu wachsen!“, höhnte Sharrkan, fuhr herum und riss den Jungen mit sich unter Wasser. Eine Viertelstunde und eine Katzenwäsche später hatte er dem unleidlichen Verhalten seines Zöglings schließlich nachgegeben und ihn vorzeitig aus dem Bad entlassen. Sharrkan trieb auf dem Rücken, starrte hoch zu den rotbraunen Sandverwirbelungen, die über den Himmel fegten und genoss die ungestörte Ruhe. Hätte er nicht allmählich zu frieren begonnen, wäre er sicher noch länger im Wasser geblieben, denn nur so konnte er hinauszögern, von Eline belagert zu werden. Er dachte über Jarons Bemerkung nach, doch abgesehen von ihrem ausgeprägten Bedürfnis nach Nähe, konnte Sharrkan keinen objektiven Grund finden, Eline nicht zu heiraten. Sie war höflich und hilfsbereit, zeigte Interesse an Heliohapt und versuchte sich sogar für die Schwertkunst zu begeistern. Sie war hübsch, klug, beherrscht, tat stets was man ihr auftrug, hatte niemals Widerworte… und trotzdem. Trotzdem. Die Gänsehaut scheuchte Sharrkan aus dem Becken und da er niemanden beauftragt hatte, ihm frische Kleidung bereitzulegen, hüllte er sich von Kopf bis Fuß in ein riesiges Handtuch und durchquerte rasch den kurzen Gang bis zu seinem Zimmer. Jaron war nicht hier – vermutlich weil er nicht mit Essam alleine sein wollte – dafür musste aber zwischenzeitlich ein Diener für Ordnung gesorgt haben: Das Bett war gemacht, das Frühstückstablett verschwunden und Tee und Wasser aufgefüllt. Sharrkan fiel es immer noch schwer, sich nach dem Leben in Sindria wieder an die viele Fürsorge zu gewöhnen. Er setzte sich an die Bettkante, zog die oberste Schublade seines Nachtschrankes auf und wollte sich eigentlich saubere Wäsche herausnehmen, als ein kleiner bronzener Gegenstand darin seine Aufmerksamkeit erregte. Wie ferngesteuert las er den Schlüssel auf und betrachtete ihn, als gäbe es irgendetwas an ihm zu entdecken, was vorher noch nicht dagewesen war. Yamraiha musste nun schon seit über einem Monat in Magnostadt sein. Oder war sie vielleicht längst zurück bei Sinbad? Was, wenn sie einfach bei Arik blieb und Sindria für immer verließ? Würde Sharrkan sie dann jemals wiedersehen? Jemals erfahren, wie es ihr ging und was sie gerade erlebte? Und was, wenn er für immer in Heliohapt blieb, mit Eline als seiner Königin? Störte sie diese Vorstellung genauso wie ihn? Die Erinnerung versetzte Sharrkan an jenen Tag, an dem er Yamraiha weinend in ihrem Turmzimmer gefunden hatte. Es war das erste Mal gewesen, dass sie eine echte, ernsthafte Unterhaltung geführt hatten. Er dachte daran, wie er damals neben ihr eingeschlafen war – ohne sie anzufassen und ihr trotzdem so nah wie nie zuvor. Die gleiche Vertrautheit war ihm auch in Aktia aufgefallen, als sie gemeinsam die halbe Nacht über Phillius gelästert hatten. Sharrkan vermisste dieses Gefühl. Er sehnte sich nach ihrer Gegenwart, ihrer Stimme, ihrem Duft, ihrer Haut… Es war kaum mehr zu ignorieren, was die lebhaften Fantasien bei ihm ausgelöst hatten und behutsam glitten seine Finger unter das Handtuch. Für eine Weile schloss er die Augen und malte sich aus, wie Yamraiha ihn berührte, während sich Atmung und Puls unkontrolliert beschleunigten und er immer heftiger aufs Ziel zusteuerte. Noch länger einzuhalten schien nun beinahe ausgeschlossen. Doch ein lautes Klopfen an der Zimmertür unterbrach jäh sein Vorhaben und selbst ein eindringliches „Jetzt nicht!“ hielt den ungebetenen Gast nicht davon ab, in den Raum zu linsen. Es war wieder Eline. „Das ist gerade echt ungünstig“, sagte Sharrkan und versuchte die Hände möglichst diskret in den Schoß zu pressen. „Es ist aber wichtig“, antwortete sie, schlüpfte hinein und zog die Tür hinter sich zu. „Ich brauch auch nicht lang.“ „Was denn?“, fauchte er ungehalten und beobachtete, wie sie ums Bett herum kam und in einigem Abstand zu ihm stehenblieb. „Ich glaube, du gehst mir aus dem Weg“, brachte sie ohne Umschweife hervor. „Ich hab mich bisher extrem um dich bemüht, aber von dir kommt nicht das kleinste Bisschen zurück.“ Sharrkan wusste nicht, was er dem entgegensetzen sollte. Es war der denkbar unpassendste Zeitpunkt für eine solche Diskussion, auch wenn es natürlich stimmte, was sie ihm da vorwarf. „Können wir das vielleicht später besprechen?“, fragte er hoffnungsvoll, doch Eline machte nicht den Eindruck, als würde sie so schnell kleinbeigeben. Mit traurigem Blick ging sie ein paar Schritte auf ihn zu und blieb dann direkt vor seinen Knien stehen. „Was hab ich falsch gemacht?“, wollte sie wissen. „Hab ich dich verärgert? Muss ich was ändern? Dann sag es mir bitte! Oder bin ich dir einfach nur zuwider?“ Nicht bloß das Pochen seines Herzens verschlimmerte sich um ein Vielfaches. Verzweifelt mühte sich Sharrkan, seine Gedanken in eine andere Richtung zu lenken, nur war die Grenze für Selbstkontrolle bereits meilenweit überschritten. Er war sich nicht sicher, ob Eline bewusst war, wobei sie ihn gestört hatte, aber zumindest hatte er das Handtuch so drapiert, dass sie es nicht sehen konnte. „Gib uns eine Chance!“, bat sie leise und stützte sich mit den Armen auf seinen Knien ab. Sharrkan überrollte ein heißer Schauer nach dem nächsten. „Ich will eine gute Ehefrau für dich sein.“ „Eline-“, begann er heiser und sie kam seinem Gesicht immer näher und näher, bis sie schließlich rittlings auf seinen Beinen saß. Jetzt musste sie es merken! Spätestens jetzt musste sie es merken! „Ich werde dich wirklich glücklich machen“, hauchte sie, strich mit den Fingerspitzen über seine Wange und legte ihre Lippen auf seine. Sharrkan warf alle Bedenken über Bord – zu sehr verlangte sein Körper nach einer Erlösung – und führte Elines Hände unter das Handtuch, wo sie sanft seinen Bauch streichelten und dann noch ein Stück tiefer sanken. Kapitel 10: Streng geheim ------------------------- Sie zappelte und kratzte, versuchte in blanker Panik um sich zu beißen und so den Fingern zu entkommen, die sie hielten. Gelbe Augen taxierten jede Faser ihres zitternden Körpers, vom aufgestellten Fell bis zum umherpeitschenden Schwanz. Dann bohrten sich lange, scharfe Zähne mit einem schnellen Schlag in ihr Fleisch und der immer enger werdende Würgegriff erstickte schlussendlich auch ihr letztes angsterfülltes Quieken. Essam sperrte das Maul weit auf, um die Ratte mit dem Kopf voran zu verschlingen und neben Sharrkan drehte sich Jaron schaudernd zur Seite. „Ist das ekelig!“, sagte er und Sharrkan brach in schallendes Gelächter aus. „Warte ab, bald kann er sogar ganze Hasen verdrücken!“ „Unmöglich! Wie schnell soll der denn noch wachsen?!“ Damit hatte Jaron recht, denn Essam häutete sich mittlerweile am laufenden Band. „Schneller als du jedenfalls“, neckte Sharrkan ihn, ließ die Schlange in Ruhe verdauen und begutachtete stattdessen die kleine Schachtel, mit der Jaron vor etwa fünf Minuten in sein Zimmer gekommen war. „Wolltest du mir etwas geben?“ „Ach ja, das ist von Eline.“ Er reichte ihm das Geschenk, das dem Duft nach zu urteilen irgendein Gebäck enthielt. „Hat sie selbst gemacht. Sie meinte, sie bringt Euch später noch mehr davon vorbei.“ Sharrkan nahm es nicht entgegen. „Kannst du haben“, sagte er knapp und Jaron stieß einen gedämpften Jubelschrei aus und verzog sich flink aufs Bett, um die Süßigkeit zu essen. Schon der bloße Gedanke an Eline trieb Sharrkan die Schamesröte ins Gesicht. Nachdem sie ihm gestern Morgen zur Hand gegangen war – und sie hatte wahrlich nicht mehr lange nachhelfen müssen – hatte er unter einem Vorwand fluchtartig das Zimmer verlassen und jedes weitere Aufeinandertreffen erfolgreich vermieden. Im Gegensatz zu ihm schien sie jedoch kein Problem damit zu haben, ihm unter die Augen zu treten: Ständig musste er ihren suchenden Blicken ausweichen und hatte auf diese Weise wahrscheinlich mehr Ecken des Palastes erkundet als in seiner Kindheit. „Was hast du ihr gesagt?“, fragte er Jaron nervös. „Dass ich nicht weiß, wo Ihr seid“, gab dieser schmatzend zurück, „und dass ich die Schachtel in Euer Zimmer lege.“ Rastlos ging Sharrkan zum Fenster hinüber und betrachtete die vom Sand verschluckte Stadt. Der Sturm der letzten Tage hatte den Dächern Heliohapts dicke Hauben aufgesetzt, Straßen unpassierbar gemacht und die Luft so verstaubt, dass man sie zurzeit nur durch ein Tuch atmen konnte. In der vorigen Nacht hatte der Wind zwar genug nachgelassen, um endlich mit den Räumungsarbeiten zu beginnen, doch noch immer versteckte sich die Sonne hinter einem trockenen Dunstschleier. „Ihr seid echt beliebt“, kam es von Jaron völlig unvermittelt und Sharrkan sah sich irritiert zu ihm um. „Wie kommst du darauf?“, fragte er. „Na, weil Eline Euch die ganze Zeit hinterherläuft“, antwortete Jaron schlicht und biss in ein Stück Grießkuchen. „Außerdem war eine Frau beim König und hat um eine Audienz bei Euch gebeten.“ Sharrkan zog überrascht die Brauen hoch. „Was für eine Frau?“ „Keine Ahnung. Ich hab sie vorhin zum ersten Mal gesehen, aber die Dienerinnen haben erzählt, dass sie auch schon gestern nach Euch gefragt hat.“ „Weißt du, was sie von mir will?“ „Nein, sie wollte es dem König nicht sagen, darum hat er sie wieder weggeschickt.“ „Wie sah sie denn aus?“ Jaron legte den Kopf schief und dachte einen Moment nach. „Komisch“, befand er. „Sie trug einen spitzen Hut und eine schwarze Robe und hatte einen großen grünen Stab dabei.“ In nur zwei langen Sätzen hatte Sharrkan den Raum durchquert und Jaron an den Schultern gepackt. Sein Herz schlug ihm so hart gegen die Kehle, dass es wehtat. „Ihr Stab war grün, sagst du? Ganz sicher grün?“ „J-ja, ganz sicher“, bestätigte Jaron und krümelte vor Schreck den Kuchen über die Bettdecke. „Was für eine Haarfarbe hatte sie?“ „Schwarz, glaube ich. Vielleicht auch dunkelbraun, ich weiß nicht mehr genau…“ Sharrkan ließ ihn los, sank enttäuscht zu Boden und lehnte sich mit dem Rücken gegen das Bettgestell. Sie war es nicht. Er hatte kurz die Hoffnung gehabt, doch sie war es nicht. Tief seufzend vergrub er das Gesicht in den Armen. In seinem Kopf überschlugen sich die wildesten Spekulationen, so als habe das Toben des Sturmes sich plötzlich von draußen in sein Inneres verlagert. Wer auch immer diese Frau war, die ihn so unbedingt treffen wollte: der Beschreibung nach war sie eindeutig eine Magierin. Womöglich hatte sie sogar eine Verbindung zu Magnostadt und damit auch zu Yamraiha. Sharrkan musste sie anhören – um jeden Preis! „Meister, geht es Euch gut?“ Besorgt blickte ihm Jaron von hinten über die Schulter. „Bestens“, murmelte Sharrkan, sprang auf und durchforstete das Regal mit den Schriftrollen nach seinen alten Lernunterlagen. „Ich brauche deine Hilfe, Jaron.“ Er breitete eine Karte von Heliohapt über dem Bett aus. „Unser Land ist nicht besonders groß, darum gibt es nur fünf Gasthäuser“, sagte er, fuhr mit dem Finger darüber und zeigte sie Jaron. „Drei direkt hier in der Stadt, jeweils eines an den zwei Handelsposten. In denen kann sie nicht sein.“ Sharrkan deckte die beiden Punkte außerhalb der Hauptstadt mit der Handfläche ab. „Aber in einem dieser drei ist sie ganz sicher untergekommen. Würdest du die Frau für mich ausfindig machen?“ Jaron warf sich stolz in die Brust. „Verlasst Euch auf mich!“, entgegnete er. „Was soll ich ihr sagen?“ „Richte ihr aus, dass ich sie heute Abend gegen zehn im Schankraum treffe.“ „Ihr wollt Euch noch einmal aus dem Palast schleichen?!“ „Was hab ich für eine Wahl?“ „Aber der König-“ „-wird das besser nie erfahren.“ Es waren drei Wachen auf dem Korridor. Der eine von ihnen kontrollierte die Treppe zu den Gästezimmern, der andere stand vor der Tür zur Bibliothek. Ein dritter war eigentlich in der Eingangshalle positioniert, machte aber jede halbe Stunde einen Rundgang. Sharrkan hatte ihn erst passieren lassen, bevor er mit Jaron um die Ecke huschte und wusste deshalb, dass ihm kaum mehr 30 Minuten blieben für den Weg aus dem Palast bis zum Gasthaus. Die gestreifte Katzenstatue, die er erreichen wollte, verdeckte die Sicht auf die Bibliothekstür, wenn man sich nah genug an der Wand bewegte. So lautlos wie möglich schlich er an sie heran und versuchte gleichzeitig den gegenüberliegenden Treppenaufgang nicht außer Acht zu lassen. Doch der Wachmann schien gerade wieder nach oben gegangen zu sein. Ganz langsam, um bloß kein Geräusch zu verursachen, drückte Sharrkan den Stein, der die sitzende Hinterpfote bildete, bis er weit in den Katzenkörper hineinreichte und einen engen Einstieg freigab. Mit stummen Handzeichen bedeutete er Jaron als erster hineinzukriechen, folgte ihm dann und schob den Stein wieder in seine Ausgangsposition. Er konnte Eline nur danken, denn wäre sie den einen Tag nicht unerwartet aus der Bibliothek geplatzt, hätte er sich nicht hinter der Statue verstecken müssen und diesen Geheimgang wohl niemals gefunden. Sharrkan war sich nicht mal sicher, ob Armakan ihn kannte. Sowohl die Stadt als auch der Palast Heliohapts waren vor hunderten von Jahren erbaut worden und ihre Ahnen hatten ihnen keine brauchbaren Baupläne hinterlassen. „Wohin führt dieser Tunnel?“, fragte Jaron flüsternd, während Sharrkan die mitgebrachte Fackel entzündete, damit sie wenigstens ein bisschen Licht hatten. „Ich bin ihn nicht zu Ende gegangen“, gab er leise zu und warf sich das Reisegewand über. Nach seinem ersten unerlaubten Ausflug hatte er keine Gelegenheit gefunden, es Narmes zurückzugeben. „Wenn meine Vermutung stimmt, kommen wir irgendwo im Nordosten bei der Schutzgottheit raus. Die sieht genauso aus wie diese Katzenstatue, nur in größer. Von dort ist es auch nicht mehr weit bis zum Gasthaus.“ „Und wenn der Weg woanders endet?“ Sharrkan ließ die Frage lieber unbeantwortet. Der von Spinnweben durchzogene Gang führte sie zunächst etliche Stufen bis unter die Erdoberfläche und verlief dann in einer langen Linie geradeaus Richtung Nordosten, wie Sharrkan es bereits geahnt hatte. Er war so schmal, dass ein Erwachsener kaum die Ellenbogen ausstrecken, geschweige denn aufrecht gehen konnte. Sharrkans Rücken begann schon zu protestieren, als sie endlich die Treppe für den Aufstieg erreichten und nur wenige Minuten später vor einer massiven Steinmauer zum Stehen kamen. Sorgfältig klopfte er jeden Millimeter der Wand nach einem Ausgang ab, doch selbst nach mehr Krafteinsatz und schließlich auch brachialer Gewalt – hier bewegte sich nicht mal ein Kiesel. „Sackgasse“, hörte er Jarons angespannte Stimme hinter sich. „Was machen wir jetzt?“ Sharrkan nahm seine Schwertscheide zu Hilfe, um irgendwo eine Hebelwirkung zu erzeugen, blieb aber auch mit dieser Technik erfolglos. Von Ideen und Kräften verlassen rutschte er an der Mauer hinunter und überdachte in Windeseile seine Alternativen: Einen anderen Weg aus dem Palast finden? Lächerlich. Seinen Bruder um Erlaubnis bitten? Nur, wenn er einen langsamen und qualvollen Tod sterben wollte. Er fing Jarons ratlosen Blick auf, dessen rote Iris den Feuerschein der Fackel reflektierten und sagte: „Probier du es mal!“ „Was soll ich denn bewirken, wenn nicht mal Ihr es schafft?!“, ereiferte sich Jaron. „Versuch es einfach!“ „Ich bin nicht stark genug!“ „Glaub mir… das bist du.“ Sharrkan trat für ihn beiseite und Jaron stemmte sich mit aller Kraft gegen das Hindernis. Im ersten Moment sah es so aus, als liefen auch seine Anstrengungen ins Leere, bis sich plötzlich der unterste Stein herauslöste und mit einem Schleifen über den Boden ins Freie gestoßen wurde. Feiner Sandstaub, der dabei in den Tunnel wirbelte, brachte sie beide zum Husten. „Na bitte!“, jubelte Sharrkan und wuschelte dem verblüfften Jaron durchs Haar. „Wusste ich’s doch!“ Er löschte das Feuer, krabbelte an dem Jungen vorbei und fand sich draußen am Hinterlauf der riesigen Schutzgottheit wieder. Die verdreckte Luft kratzte so unangenehm in der Lunge, dass er den Kragen seines Gewandes über Mund und Nase halten musste. „Beeilung!“, sagte er, sprang vom Sockel der Skulptur herunter und rannte, von Jaron begleitet, durch die Dunkelheit aufs beleuchtete Wohnviertel zu. Das Gasthaus war nicht schwer zu finden. Es war ein mehrstöckiges, rund angelegtes und von Palmen umsäumtes Gebäude, das über die umliegenden Bauten hinausragte. Mit tief ins Gesicht gezogener Kapuze folgte Sharrkan Jaron an der Rezeption vorbei und in den erstaunlich vollen Schankraum. Dass sie ihn betreten hatten, fiel in dem Meer aus lauten Stimmen, Gelächter und Gesängen niemandem auf. Einzig die junge Frau, die von einem Tisch in der hintersten Ecke den Eingang beobachtet hatte, guckte erwartungsvoll zu ihnen herüber. Sie war Sharrkan wohlbekannt. Das letzte Mal hatte er sie auf einem Schiff von Aktia nach Sindria gesehen, in der Brigade Yamraihas. „Hallo Maire“, begrüßte er die Magierin und setzte sich ihr gegenüber. Sie erwiderte mit einem Nicken, schien sich dann aber nicht länger mit Höflichkeiten aufhalten zu wollen. „Hast du ihn dabei?“, fragte sie prompt und wie von Jaron übermittelt kramte Sharrkan den kleinen Schlüssel aus seiner Innentasche hervor, den er nun schon seit seiner Abreise unbeabsichtigt in Verwahrung hatte. Maire griff danach, doch Sharrkan zog seine Hand rasch zurück. „Wofür brauchst du ihn?“ „Das kann ich dir nicht sagen.“ „Dann kann ich ihn dir auch nicht geben.“ Unwirsch schnalzte sie mit der Zunge. „Ich muss etwas aus ihrem Zimmer holen und ihr bringen“, erklärte sie kurz angebunden. „Es ist eilig, also bitte gib ihn mir!“ Sharrkan hatte sofort bemerkt, dass mit der Magierin irgendwas nicht stimmte. Statt fröhlich und aufgeschlossen, wie damals in Sindria, wirkte sie auffällig gestresst und die dunklen Schatten unter ihren Augen bezeugten mehrere schlaflose Nächte. „Was sollst du ihr bringen?“, fragte er weiter. „Warum kann sie es nicht selbst holen?“ „Das geht dich nichts an.“ „Warum brauchst du ausgerechnet diesen Schlüssel? Warum kommst du extra den weiten Weg nach Heliohapt dafür?“ „Ich darf wirklich nichts sagen.“ „Warum nicht?“ „Weil sie es mir verboten hat.“ „Warum?“ Wäre in dieser Sekunde nicht die Bedienung an ihren Tisch gekommen, hätte Maire wohl sicher die Beherrschung verloren. Um nicht erkannt zu werden, wandte Sharrkan sich ab, während sie fahrig eine willkürliche Bestellung aufgab. Eines war klar: Die ganze Sache hier stank bis zum Himmel und er würde nicht aufhören zu bohren, bevor sie ihm nicht ein paar gute Antworten geliefert hatte. Verrichteter Dinge trippelte die Bedienung wieder davon und als Sharrkan sich zu Maire zurückdrehte, lag ein stummes Flehen auf ihren Lippen. „Yamraiha steckt vielleicht in Schwierigkeiten“, zischte sie. „Magnostadt ist vielleicht in Gefahr. Und wenn dir je irgendwas an ihr gelegen hat, dann gibst du mir jetzt diesen verdammten Schlüssel!“ Kapitel 11: Wendepunkt ---------------------- „Yamraiha… steckt in Schwierigkeiten?“ Sharrkan hatte das dumpfe Gefühl, als habe jemand eine Faust in seinen Magen gerammt. Er ignorierte Maires ausgestreckte Hand, die vor seiner Nase hin und her wedelte und konzentrierte sich darauf, die unerklärliche Furcht niederzuringen, die diese Worte bei ihm ausgelöst hatten. Wenn ihre Freundin solche Strapazen auf sich nahm, um Yamraiha aus der Klemme zu helfen, musste es sich um eine wirklich ernste Angelegenheit handeln. „Inwiefern Schwierigkeiten?“, forschte er nach und Maire schien hellauf erzürnt. „Hörst du mir eigentlich zu?! Ich darf ni-“ „SCHLUSS DAMIT!“ Es war ein Glück, dass Sharrkans Ausruf in der Lautstärke des Schankraumes unterging, doch er reichte aus, damit die Magierin sichtlich zusammenzuckte. „Sag mir auf der Stelle, was los ist!“, forderte er ein wenig gemäßigter. „Ansonsten kannst du lange auf den Schlüssel warten!“ Mit bangem Blick schaute Jaron von einem unnachgiebigen Gesicht ins andere. Es war kaum zu sagen, wer von den beiden wütender aussah. Minutenlang herrschte Stille zwischen ihnen, bis Maire schließlich als erste wieder zu sprechen begann. „Ich weiß selbst nicht genau, was passiert ist“, offenbarte sie. „Es gibt Gerüchte, dass in Magnostadt eine Rebellion im Gange ist, aber warum oder wofür habe ich nicht herausgefunden.“ Irgendwo in Sharrkans Hinterkopf regte sich eine vage Erinnerung. Hatte Eline nicht mal sowas erwähnt? Hatte sie ihm nicht von Wüstennomaden erzählt, die haarsträubende Geschichten bis nach Heliohapt weitertrugen? War es dabei um Rebellen gegangen? Ganz sicher hatte sie ihm kein Land genannt, denn sonst wäre er bei Magnostadt bestimmt aufmerksam geworden, oder etwa nicht? Hätte er bloß besser zugehört! „Bist du dir sicher, dass da was dran ist?“, fragte Sharrkan und Maire griff in ihren Rucksack, den sie neben sich ans Tischbein gelehnt hatte. Sie zog eine handtellergroße, mit Rauch gefüllte Glaskugel hervor – ein Auge der Rukh. „Hiermit hat Yamraiha mich letzte Woche kontaktiert“, sagte sie. „Sie meinte, es gebe Unruhen in Magnostadt, hätte aber keine Zeit für Einzelheiten. Sie hat ziemlich gehetzt gewirkt, sich ständig umgedreht und so… Jedenfalls bat sie mich darum, ein magisches Utensil aus ihrem Zimmer zu holen und es ihr zu bringen. Sie wolle damit die Ausführung eines Zaubers stoppen, ansonsten könne Magnostadt für immer zerstört werden.“ Maire stockte kurz. „Ich darf dir das eigentlich gar nicht erzählen“, betonte sie abermals. „Wenn in Sindria, Kou oder Reim der Eindruck entsteht, dass aus Magnostadt wieder eine Bedrohung hervorgeht, könnte das in einem erneuten Krieg enden. Gerade nach den letzten Ereignissen…“ „Keine Sorge!“ Sharrkan hob abwehrend die Arme. „Ich verrate es niemandem! Erst recht nicht meinem Bruder.“ Aus ihrer Mimik war nicht herauszulesen, ob sie tatsächlich auf seine Ehrlichkeit vertraute oder sich zum Reden gezwungen fühlte, doch in jedem Fall fuhr sie fort: „Leider ist es nicht so leicht, an dieses magische Utensil zu kommen. Yamraiha hat ihr Zimmer mit einem Zauber versiegelt, bevor sie abgereist ist. Außer ihr selbst kommt niemand hinein, nicht mal ein Magi.“ „Das sieht ihr ähnlich“, warf Sharrkan dazwischen und verdrängte den Gedanken, dass er vielleicht nicht ganz unschuldig an diesen Vorkehrungsmaßnahmen war. „Der Schlüssel öffnet die Tür auch ohne ihre Anwesenheit“, erläuterte Maire. „Den einen trägt sie bei sich und der andere“ – sie zeigte mit dem Finger auf Sharrkans rechte Hand – „ist eine exakte Kopie, die den Bann ebenfalls brechen sollte.“ Unscheinbar wie eh und je lag der kleine, bronzene Gegenstand in seiner Handfläche. „Er sollte den Bann brechen?“, wiederholte Sharrkan skeptisch. „Er wird den Bann brechen“, versicherte ihm Maire. „Hat Yamraiha das bestätigt?“ „Nun… nein.“ „Wäre es dann nicht sicherer, du hättest ihren Schlüssel genommen?“ „Das war der Plan! Als Yamraiha sagte, sie könne selbst nicht aus Magnostadt heraus – sieh mich nicht so an, ich weiß den Grund doch auch nicht!“, fügte sie hitzig hinzu, bevor Sharrkan Luft holen konnte. „– wollten wir einen Treffpunkt für die Übergabe vereinbaren.“ „Aber?“, fragte er in ihre Pause hinein und Maire machte einen furchtbar beklommenen Eindruck. „Aber jemand hat sie unterbrochen und das Gespräch beendet“, antwortete sie. „Seitdem herrscht Funkstille. Das Auge der Rukh reagiert nicht mehr, was entweder bedeutet, dass sein Gegenpart zerstört wurde oder ein mächtiger Zauber die Kontaktaufnahme blockiert.“ „Du denkst also, Yamraiha ist was zugestoßen?“ Sharrkans Mund fühlte sich auf einmal trockener an als zuvor auf Heliohapts Straßen. „Ich kann es zumindest nicht ausschließen“, gab Maire leise zu. „Ich muss schnell nach Magnostadt und nach ihr sehen, aber ich kann nicht ohne das magische Utensil gehen, das sie so dringend wollte. Darum bin ich hierhergekommen. Weil sie mir erzählt hat, dass du ihren Ersatzschlüssel nie zurückgegeben hast.“ Die Bedienung wühlte sich mit erhobenem Tablett bis zu ihnen durch und stellte zwei Krüge und einen Becher in ihre Mitte, bevor sie sich den ungeduldigen Rufen der nächsten Kunden widmete. Maire verteilte die Getränke unter ihnen und erst als Jaron sich zu Wort meldete, fiel Sharrkan wieder ein, dass er ja auch noch mit am Tisch saß. „Darf ich mal probieren?“, fragte er, ließ seinen eigenen Tee links liegen und schielte auf die Bierkrüge der Erwachsenen. „Du spinnst wohl! Du bist zehn!“, sagte Sharrkan entrüstet und nahm demonstrativ einen großen Schluck. Er beobachtete Maire, die zaghaft an ihrer Schaumkrone nippte und sprach endlich aus, was ihm schon die ganze Zeit unter den Nägeln brannte: „Ich dachte, dieser Arik hätte sie begleitet? Warum hat er Yamraiha nicht geholfen?“ Maire musterte ihn einen Moment, als müsse sie abwägen, wie viel er verdiente zu erfahren. „Sie haben sich wohl gestritten“, entgegnete sie knapp und Sharrkan setzte fix den Krug an die Lippen, damit sie sein verhaltenes Grinsen nicht sehen konnte. „Hör auf, dich darüber zu freuen!“, fauchte sie ihn an. „Es sollte dir lieber leidtun, nachdem du ihr so vor den Kopf gestoßen hast!“ „Ich ihr?!“, prustete Sharrkan. „Guter Witz! Ich hab euch beide doch gehört, kurz bevor wir in Sindria eingelaufen sind! Yamraiha hat sich in diesen Deppen verknallt und somit war das Thema durch!“ „Du bist ein Depp!“, echauffierte sich Maire. „Glaubst du, wir hätten über Arik gesprochen?! Wir haben über dich geredet!“ Sharrkan starrte sie an, wie vom Donner gerührt. „Über mich?“ „Yamraiha hat mir erzählt, wie eifersüchtig du warst – ja, und da brauchst du jetzt auch gar nicht rot werden!“, sagte sie, was nur dazu führte, dass er noch deutlicher anlief. „Ich hab sie gefragt, ob du dir wegen Arik und ihr Sorgen machen müsstest und sie hat es verneint. Dann hab ich gefragt, ob sie in dich ver-“ „Schon gut! Schon gut!“, rief er, um ihre Stimme abzuwürgen und stand plötzlich auf den Beinen, ohne gemerkt zu haben, wie er aufgesprungen war. Ein riesiges Loch im Boden, das sich unter seinen Füßen auftäte, wäre ihm gerade überaus willkommen gewesen. „A- Aber Arik…“, stammelte er. „Sie ist mit ihm nach Magnostadt gegangen!“ „Um bei den Aufräumarbeiten zu helfen“, erinnerte ihn Maire. „Das hat sie dir doch gesagt!“ „Dann lief nichts mit ihm?“ „Nein, auch wenn er das wahrscheinlich gerne gehabt hätte.“ Fassungslos ließ Sharrkan sich zurück auf seinen Stuhl fallen, zog das Bier zu sich heran und trank es in einem Zug leer. Yamraiha hatte sich in ihn verliebt?! In ihn?! Das konnte nicht stimmen! Wie passte ihr Auftreten zu seinen Annahmen? Wie passten ihre Aussagen zu seinen Auslegungen? Und allmählich dämmerte ihm, welchen Sinn ihr sonderbarer Satz machte und dass er nicht nur auf sie, sondern offensichtlich auch auf ihn zutraf: Da hab ich die Signale wohl völlig falsch gedeutet. „Hey! Aufwachen!“ Der Tritt gegen das Schienbein traf ihn unvorbereitet, erzielte aber die gewünschte Wirkung und beförderte Sharrkan sofort zurück in die Gegenwart. Maire hatte erneut ihre Hand ausgestreckt. „Gibst du mir nun den Schlüssel?“ „Nein.“ Für einen Augenblick sah sie so aus, als wolle sie ihn umbringen. „Wie nein?!“ „Nein, ich gebe ihn dir nicht. Ich komme selbst mit.“ „Das ist ein Scherz!“ „Keineswegs. Ich gehe mit dir nach Magnostadt.“ „Ist dir klar“, wisperte Maire bedrohlich ruhig, „dass das eine Stadt voller Magie ist? Ich kann dich da überhaupt nicht gebrauchen! Du wärst ein Klotz am Bein! Ich nehm dich nicht mit! Nein! Auf gar keinen Fall! Vergiss es!“ „Dann willst du es also ohne Schlüssel probieren?“, fragte Sharrkan mit gespielter Neugier und stützte seinen Kopf auf den Ellenbogen ab. Maire knallte die Fäuste auf die Tischplatte, sodass das Bier neben ihr leicht überschwappte. „Wie willst du das deinem Bruder beibringen?!“, polterte sie. „Lass das mal meine Sorge sein.“ „Oder deiner Verlobten?!“ „Das kriege ich schon hin.“ „Du weißt noch, dass in Bezug auf Magnostadt nichts öffentlich werden darf, oder?!“ „Beruhig dich! Ich hab einen Plan.“ „Ach ja?! Und welchen genau?“ „Das wirst du dann sehen…“ „Mit anderen Worten: Du hast absolut keine Ahnung!“ Sharrkan versuchte Maires Blick standzuhalten ohne zu Blinzeln. Das Letzte, was er wollte, war ihr zu signalisieren, wie sehr sie mit ihrer Vermutung ins Schwarze getroffen hatte. Denn in Wahrheit konnte er sich nicht festlegen, bei welchem Gespräch er den schlimmeren Ausgang vermutete: Seinen Bruder, der ohnehin schlecht auf ihn zu sprechen war, so geschickt anzuschwindeln, dass er ihn aus dem Land ließ, klang schon in seiner Fantasie absurd. Für mehrere Tage einfach zu verschwinden würde das Königshaus allerdings erst recht in Alarmbereitschaft versetzen. Was für eine Ausrede sollte er Armakan also präsentieren, ohne sein Misstrauen zu wecken? Unangenehmer als das, war eigentlich nur die Konfrontation mit Eline. Dass er sie so nah an sich herangelassen hatte, musste ihren Heiratswunsch noch weiter bestärkt haben. Was würde sie dazu sagen, wenn sie erführe, dass er wegen einer anderen Frau abreisen wollte? Mit geschürzten Lippen und verschränkten Armen saß Maire vor ihm, bis sie schließlich einen entnervten Seufzer ausstieß und abermals in ihrem Rucksack langte. Zum Vorschein kam ein flaches, rundes und mit blauem Tuch umwickeltes Objekt. „Hier drin befindet sich ein magisches Utensil des zweiten Typs“, erklärte sie mürrisch. „Ich hätte es zwar lieber mit nach Magnostadt genommen, da ich nicht weiß, was mich dort erwartet, aber nun ja…“ „Was bewirkt es?“ Sharrkan wollte das Tuch wegziehen, doch Maire hielt seine Hand fest. „Du darfst es erst benutzen, bevor wir aufbrechen!“, warnte sie ihn. „Das Magoi, was darin gebündelt wurde, ist auf vier Tage limitiert. Danach löst sich der Zauber auf.“ „Welcher Zauber?“, fragte er, nun ebenfalls gereizt, dass er ihr jede Information aus der Nase ziehen musste. „Eine Variation von Shallal Sarab“, antwortete Maire. „Ein Trugbild. Eine durch Wassermagie erzeugte Spiegelung. Eine Projektion, die sich genauso bewegen kann wie sein Anwender.“ „Sowas wie ein Doppelgänger?“ „Nicht ganz. Bei einem Doppelgänger könntest du keinen Unterschied zu einer realen Person feststellen. Eine Spiegelung ist jedoch leichter zu enttarnen. Man kann sie nicht berühren und sie kann auch nicht sprechen. Außerdem ist sie seitenverkehrt, in deinem Fall zum Beispiel Linkshänder.“ Sharrkan malte sich die – zugegeben recht gruselige – Existenz seines eigenen stummen Ichs aus, wie es in Lebensgröße durch sein Zimmer spazierte. Die Bediensteten würde man damit sicher täuschen können und solange diese Armakan meldeten, dass bei ihm alles unauffällig war, standen die Chancen gut, dass er seinen kleinen Bruder nicht zu sich beorderte. Mit Eline sah das Ganze allerdings schon ein wenig schwieriger aus… „Das ist ziemlich riskant“, sagte Sharrkan und Maire zuckte mit den Schultern. „Was anderes kann ich dir nicht anbieten“, erwiderte sie. „Versuch‘s oder überlass mir den Schlüssel!“ „Ich hab nur vier Tage Zeit?“ „Vier, höchstens fünf – vorausgesetzt, das magische Utensil bleibt intakt und befindet sich immer im selben Raum wie die Spiegelung.“ Vorsichtig nahm Sharrkan den verhüllten Gegenstand hoch. Er war leicht, dünn und fühlte sich irgendwie zerbrechlich an. Ohne groß zu überlegen reichte er ihn an den verdutzten Jaron weiter. „Kann ich dir das anvertrauen?“ Obwohl sein Schützling zustimmend nickte, stand ihm die bittere Enttäuschung ins Gesicht geschrieben. „Ich würde Euch viel lieber auf der Reise begleiten“, gestand er. „Das kann ich unmöglich verantworten“, widersprach Sharrkan. „Wer weiß, wie gefährlich es in Magnostadt wird.“ „Aber ich bin stark, das habt Ihr vorhin selbst gesehen! Ich bin ein Fanalis! Ich kann mich verteidigen! Ich kann Euch helfen!“, bettelte Jaron. „Bitte nehmt mich mit!“ „Nein, ich brauche dich unbedingt hier.“ Sharrkan schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. „Du kriegst die wichtigste Aufgabe von allen: Du bist der einzige, der dafür sorgen kann, dass ich im Palast nicht auffliege. Würdest du mir diesen Gefallen tun, Jaron?“ Der Junge schwieg und blickte hinunter auf seine halbvolle Teetasse. „Na schön…“, murmelte er endlich und Maire klatschte zufrieden in die Hände. „Dann wäre das wohl geklärt“, sagte sie geschäftsmäßig. „Am besten treffen wir uns morgen wieder vor dem Gasthaus, da fällst du am wenigsten auf. So um die Mittagszeit, würde ich vorschlagen.“ Sie beugte sich halb über den Tisch und stach Sharrkan drohend mit dem Zeigefinger gegen die Brust. „Und ich rate dir, bloß den Schlüssel nicht zu vergessen! Ansonsten hetz ich dir einen solchen Fluch auf den Hals, dass nicht mal Yamraiha dich noch zusammenflicken kann!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)