Per Anima Familiare von Flordelis ================================================================================ Kapitel 6: Bist du allein hier? ------------------------------- Der Schmerz war vollkommen verschwunden, aber mit ihm war auch jegliches Gefühl über seinen Körper gegangen. Es kam ihm vor, als könne er sich nicht mehr bewegen, als existierten nur noch seine Gedanken, Empfindungen und schemenhafte Erinnerungen. Jene stachen irgendwo, aber er konnte den genauen Ort nicht bestimmen, weil er den Schmerz nicht spüren konnte, lediglich den daraus resultierenden Druck. Er wollte sich bewegen, irgendetwas, die Augen öffnen – aber es schien ihm geradewegs unmöglich. Die ausgesendeten Befehle verhallten irgendwo im Nichts, ohne an ihrem Ziel oder auch nur in der entsprechenden Nähe anzukommen. Doch je länger er wach war (war er das überhaupt? Er war sich nicht einmal mehr sicher, wie sich das anfühlen müsste – hatte er überhaupt je wirklich gelebt?), desto mehr spürte er Dinge um sich herum. Er schwebte in einer schleimigen Masse, die sich unangenehm anfühlte, weswegen der Wunsch, ihr zu entfliehen, immer stärker wurde. Hier wollte er keinesfalls für den Rest seiner Existenz bleiben – falls er überhaupt gerade irgendwo existierte und nicht nur ein verblassendes Bruchstück irgendeiner anderen Person. Dadurch gelang es ihm, genug Kraft aufzubringen, um seine Augen – oder das, was er dafür hielt – zu öffnen. Tatsächlich befand er sich in einer Art zähflüssigem schwarzen Schleim, der es ihm dennoch erlaubte, zu atmen, obwohl er sich auch da nicht sicher war, ob er es wirklich tat oder ob er gerade nur an einer Erinnerung festhielt. Mit genug Konzentration war es ihm möglich, sich zu bewegen. Der Widerstand, den seine Umgebung ihm bot, ließ nach wenigen Schritten nach, so dass er sich einfach fortbewegen konnte. Dabei war er sich zuerst nicht sicher, ob sich überhaupt etwas änderte. Aber bald (wobei Zeit hier keine Bedeutung zu haben schien) wurde das Schwarz von gelben Adern durchzogen, die einen unwirklichen Schein verbreiteten. Durch diesen war es ihm möglich, festzustellen, dass sein Körper zwar existierte – aber er sich nur langsam aufzubauen schien, als befände er sich in einem Videospiel (die er nur dank Faren kannte). Es benötigte weitaus mehr Konzentration, um sich selbst vollständig zu erstellen, dabei war er überzeugt, dass es nicht notwendig war, doch gleichzeitig sagte ihm dies, dass er nicht tot war. Er konnte hier unmöglich im Jenseits sein. Wo bin ich aber dann? Alraune? Er lauschte konzentriert, wurde aber nur von einer unheilvollen Stille begrüßt, in der ein rauschendes Summen die einzige Geräuschquelle war. Alraune? Diesmal hielt er sogar inne, obwohl sich die schwarze Masse sogar wieder um ihn verfestigte und damit drohte, ihn nie wieder gehen zu lassen. Darum konnte er sich im Moment aber nicht kümmern, dafür war er zu sehr damit beschäftigt, auf ein Zeichen von Alraune zu warten. Einen Ton, ein warmes Gefühl, irgendetwas. Aber es kam nichts. Es war, als wäre Alraune einfach weg, was aber nicht so sein dürfte. Als seine Familiar war sie immer mit ihm verbunden, seit sie aus ihrem Ei geschlüpft war, das war unumgänglich. Es gab keine Möglichkeit, Jäger und Familiar wieder voneinander zu trennen, nicht einmal für einen kurzen Moment – es sei denn, der Familiar starb, was aber nur äußerst selten vorkam. Doch bei Alraune konnte er sich das nicht vorstellen. Vor allem weil er sich nicht daran erinnerte. Unwillkürlich griff er sich an die Brust, durch die ein scharfer Schmerz fuhr. In seinem Gedächtnis tauchte wieder die blasse Hand vor ihm auf, der Griff in seine Brust hinein, das Summen der Sirene, das ihn überhaupt erst an diesen Ort gelockt hatte – und Alraunes verzweifelte Schreie. Die Erinnerung endete abrupt, aber nicht, ohne ihm zu verraten, dass er nicht mehr mit ihrer Stimme und ihrer Hilfe rechnen dürfte. Diesmal spürte er den Schmerz, wie er sich eiskalt in seinem Herzen festsetzte, ihn zur Aufgabe bewegen wollte. Bliebe er hier, flüsterte ihm eine dunkle, samtene Stimme zu, wäre all das für immer vergessen, er könnte eins werden mit der Dunkelheit, gegen die er normalerweise immer kämpfte. Im ersten Moment war er geneigt, dieser Stimme zu folgen – aber dann flackerte eine andere Erinnerung in ihm auf. Er sah Farens begeistertes Gesicht, als er ihn wegen den Partnerkostümen ansprach, das immerwährende Lächeln, das ihm sofortige Beliebtheit bei jedem, den er traf, garantierte. Bei jedem, außer Kieran. Im selben Moment erschien inmitten der Schwärze wirklich Farens Gesicht vor ihm. Er lächelte ihn an, so wie eh und je. Er konnte Farens Stimme hören, die von überall her gleichzeitig zu kommen schien, sie hallte in der Schwärze wider, was das Echo derart stark machte, dass die eigentlichen Worte nicht mehr zu verstehen waren. Aber allein dass es Farens Stimme war, genügte im Moment, um ihn vollkommen ruhig werden und vergessen zu lassen, dass er hier an einem Ort war, den er nicht im Mindesten kannte – und von dem er auch nicht wusste, ob er ihn kennen wollte. Nein, das einzige, was er gerade wollte, war, wieder bei Faren zu sein, bei der Person, die ihn mit derart viel Leben erfüllte, wie kein anderer. Die einzige Person, die sogar das Jagen, seine eigentliche Passion, in den Hintergrund rücken ließ. Er streckte die Hand nach dem Bild Farens aus, doch kaum berührten seine Finger es, verschwamm es bereits und verschwand wieder. An seiner Stelle erschien dafür eine leuchtende Stufe. Sie war nicht von der schwarzen Masse eingehüllt,deswegen erschien es ihm wie die beste Methode, hier herauszukommen. Er setzte einen Fuß auf diese Stufe, dann erschien eine weitere, dieser Vorgang wiederholte sich mit jedem weiteren Schritt, den er tat, so dass eine Treppe nach oben entstand. Mit jeder Stufe fiel mehr von dem Schleim ab, als entließe dieser ihn nach und nach, wenn auch nur zurückhaltend. Ich werde Faren gleich wiedersehen. Ich werde ihm sagen, dass … Ein helles Licht umhüllte ihn, bevor er den Satz ganz beenden konnte, und zwang ihn, die Augen zu schließen. Es war auffallend warm, als er wieder zu sich kam. Von der schwarzen Masse war nichts mehr zu spüren, dafür lag er in einem Bett, das nicht sein eigenes war, wie er direkt an dem kratzigen Leinen und dem unbekannten Geruch bemerkte. Ein Piepsen im Rhythmus eines Herzschlags, direkt neben ihm, verriet ihm dann sofort, dass er sich in einem Krankenhaus befand. Also musste seine Ohnmacht doch schwerer gewesen sein, als er gedacht hätte. Wie viele Tage sind vergangen? Er öffnete die Augen, dann versuchte er sich vorsichtig aufzurichten, nur um mit einem leisen Keuchen wieder zurückzufahren. Ein kurzer Blick zeigte ihm, dass er an das EKG angeschlossen war, in seinem linken Arm wiederum war eine Infusionsnadel zu sehen. Die dafür bestimmte Flüssigkeit tropfte gleichmäßig aus ihrem Gefäß in den Schlauch hinein. Erst als er ein Geräusch hörte, lenkte er seinen Blick davon ab, hin zu der Ursache der Ablenkung. Es war eine Frau, die ihm nicht ganz unähnlich war, nur war ihre Erscheinung wesentlich filigraner, ihr schwarzes Haar reichte bis an ihre Hüfte – aber es hieß, dass sie beide dasselbe Lächeln hatten. „Mama …“ Kierans Mutter, deren Namen Granya lautete, setzte sich auf einen Stuhl neben sein Bett. „Ich bin froh, dass du wieder wach bist. Das werden die anderen sicher auch sein.“ „Ich bin auch froh“, sagte er mit rauer Stimme. „Welchen Tag haben wir heute?“ Granya legte einen Finger an ihre Wange, dachte einen kurzen Moment gewissenhaft darüber nach, ehe sie antwortete: „Der 2. November.“ Also habe ich vier Tage geschlafen. Damit hatte er auch Halloween verpasst, die Feier, zu der Faren ihn extra eingeladen hatte. Da ich gerade an ihn denke … „Wo ist Faren?“ Falls Granya in irgendeiner Art und Weise amüsiert war, ließ sie es sich nicht anmerken. „Wir haben ihn nach Hause geschickt. Er war hier, seit du eingeliefert wurdest, deswegen hielten wir es heute für besser, wenn er sich endlich richtig ausruht.“ Er war hier gewesen. Bei ihm. Kieran spürte ein warmes Gefühl in seinem Inneren, das ihn nur noch mehr darin bestärkte, dass er Faren gegenüber seine Dankbarkeit ausdrücken musste. Statt das allerdings seiner Mutter zu sagen, stellte er ihr lieber eine weitere Frage: „Bist du allein hier?“ Sie schüttelte den Kopf. „Cathan und Jii sind auch hier. Sie wollten dich unbedingt sehen, sobald du wieder wach geworden bist.“ Im Moment war in diesem Raum aber nichts von ihnen zu sehen. Es gab kein zweites Bett, dafür aber einen großen Tisch mit mehreren Stühlen. Auf den Rückenlehnen von zwei davon hingen Jacken – eine schwarze und eine graue – die Kieran gut kannte. „Sie sind gerade Kaffee holen gegangen“, erklärte Granya, die seinen fragenden Blick bemerkte. „Aber sie dürften bald wieder da sein. Wir wussten ja nicht, dass du gerade jetzt wach wirst.“ Ihre Hand legte sich auf seine, wobei er wieder spürte, wie zart und zerbrechlich sie war. Es wunderte ihn nicht, dass Cathan sie so sehr behütete und liebte, wenn sie für ihn ebenfalls einen solchen Ruhepol bildete wie für Kieran. „Du wirst uns hoffentlich erzählen können, was passiert ist.“ Ihre Besorgnis stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben, in solchen Momenten bereute er stets, ein Jäger geworden zu sein. Zumindest wusste er aber wirklich, was er erzählen müsste. Er erinnerte sich daran, was geschehen war, bevor er ohnmächtig geworden war – aber auch, dass ihm Alraune weggenommen worden war. Auch jetzt noch hörte er sie nicht mehr, spürte sie nicht in seinem Herzen. Ein seltsames Gefühl, das ihn schon lange nicht mehr erfüllt hatte – oder sollte er besser das Gegenteil sagen? Ohne sie fühlte er sich jedenfalls nicht einmal mehr im Mindesten erfüllt, nur noch leer und … einsam. Erst die Tür, die gerade geöffnet wurde, riss ihn wieder aus seinen Gedanken. Cathan warf vorsichtig einen Blick hinein und lächelte, als er feststellte, dass Kieran wach war. Erst dann trat er mit zwei Bechern Kaffee in den Raum. „Hey, Kieran~.“ Er reichte Granya einen Becher und setzte sich auf einen weiteren Stuhl neben das Bett. „Du hast uns einen ziemlichen Schrecken eingejagt. Aber ich bin froh, dass du jetzt wieder wach bist.“ Ehe Kieran etwas antworten konnte, kam hinter ihm noch ein anderer Mann durch die Tür herein. Als er Jii das erste Mal begegnet war, hatte keiner der beiden den jeweils anderen gemocht. Aber inzwischen verstanden sie sich doch recht gut – glaubte Kieran jedenfalls, deswegen lächelte er dem grimmig wirkenden Mann auch zu. Dieser erwiderte es nur halbherzig, nachdem er an seinem Kaffee genippt hatte und ehe er seine Brille zurechtrückte. Das Außergewöhnlichste an Jii, wie Kieran fand, war nicht nur sein schneeweißes Haar, trotz seines recht jungen Alters, sondern die goldenen Augen, die einen aufgrund der zusammengezogenen Brauen stets finster und tadelnd anzusehen schienen. Deswegen fiel es Leuten wohl auch so schwer, sich wirklich mit ihm anzufreunden – glücklicherweise legte er auf so etwas auch keinen Wert. Jii schloss die Tür hinter sich wieder, dann trat er ebenfalls näher ans Bett. Er stellte seinen eigenen Becher auf dem Beistelltisch ab. „Ich dachte nicht, dass du so schnell wieder wach wirst. Kann ich dich kurz untersuchen?“ Es war eine Frage, aber eigentlich gab es nur eine Antwort. Jii griff auch bereits nach einer kleinen Taschenlampe, die er stets in seiner Hemdtasche mit sich trug, um seine Untersuchung zu beginnen. Jii war nicht nur ein langjähriger Freund der Familie Lane – Cathan und Lowe kannten ihn anscheinend schon, seit sie Jugendliche waren –, sondern auch früher der Arzt von Abteracht gewesen. Das war aber noch damals gewesen, als die Jäger nur versteckt operieren konnten. Kaum waren sie in die Öffentlichkeit getreten, war Jii dem Angebot gefolgt, im Krankenhaus Patienten behandeln zu dürfen. Das beschränkte sich zwar auf Dämonenjäger, die zu schwer verletzt waren, um in Abteracht ambulant behandelt zu werden, sowie auf menschliche Opfer von Dämonenangriffen, aber es genügte wohl, um ihm die Anstellung zu sichern. Nachdem er die Pupillen-Reflexe, sowie den Puls – trotz des noch angeschlossenen EKG-Geräts – überprüft hatte, steckte Jii die Taschenlampe wieder ein. „Es scheint dir wieder gut zu gehen. Das ist schon mal eine gute Nachricht.“ „Gibt es denn auch eine schlechte?“, fragte Granya. „Kommt darauf an.“ Jii sah weiterhin Kieran an. „Kannst du uns erzählen, was vor deiner Bewusstlosigkeit geschehen ist?“ Darum ließ er sich nicht lange bitten. Sofort begann er von den Dämonen zu erzählen, sowie seiner Begegnung mit Vane Belfond – die Jii wieder einmal schmunzelnd zur Kenntnis nahm – und schließlich auch von der Sirene, die ihn zu sich gelockt hatte. „Sie hat eine Hand in meine Brust gesteckt.“ Er legte eine eigene auf sein Herz. „Ich weiß nicht, was sie dann gemacht hat, es schmerzte furchtbar. Aber seitdem habe ich keinen Kontakt mehr zu Alraune. Sie ist einfach … weg.“ Bei diesen Worten brach seine Stimme ein wenig ein, aber das war nicht der richtige Zeitpunkt, um über seine verlorene Familiar zu trauern. Andere Dinge besaßen gerade eine weitaus größere Priorität. Während Granya nur wieder beruhigend eine Hand auf seine legte, hatte Cathan bei dieser Erzählung die Stirn gerunzelt. Jii nahm seinen Kaffee wieder, um noch einen Schluck zu nehmen. Dabei dachte er offenbar gerade über diese Kette an Ereignissen und auch das Ergebnis nach. „So einen Fall hatten wir noch nie“, urteilte er schließlich, als Kieran schon glaubte, dass es keine Antwort mehr gäbe. „Ich weiß nicht so recht, was wir jetzt machen sollen.“ „Für mich ist ziemlich deutlich, dass er jetzt erst einmal nicht mehr jagen kann“, sagte Cathan. „Ohne Familiar kann er seine Fähigkeiten nicht benutzen.“ Kieran verzog sofort das Gesicht. Die Aussicht, nicht mehr kämpfen zu dürfen, besonders so kurz vor der Dämonenschwemme, glich einem Albtraum. Wie sollte er dann noch seine eigene Existenz rechtfertigen? Und wer sollte ihn beruhigen, wenn Alraune das nicht mehr tun konnte? Faren … Faren hilft mir bestimmt, wenn es sein muss. Aber dafür muss ich mit ihm reden. „Vorerst solltest du dich von Konia untersuchen lassen“, sagte Jii. „Sie wird bestimmt begeistert sein, wenn sie sich einmal mit einem neuen Fall auseinandersetzen darf.“ Immerhin war Konias Anwesenheit angenehm genug, dass es ihn nicht stören dürfte, wenn er so viel Zeit bei ihr verbringen musste – und wenn er in Abteracht war, könnte er auch direkt mit Faren sprechen, ohne ihn erst anrufen zu müssen. Ja, das erschien ihm wie eine sehr gute Strategie. „Ich bin einverstanden.“ Aus den Augenwinkeln sah er die zusammengezogenen Brauen seiner Mutter, was ihm verriet, dass sie mit diesem Plan nicht sonderlich einverstanden war. Aber sie war auch schon nicht begeistert davon gewesen, dass er überhaupt ein Jäger geworden war. Mit Sicherheit wäre es ihr lieber, wenn er diese Gelegenheit nutzte, um den Beruf endlich aufzugeben – es würde ihn nicht einmal wundern, wenn sie ab und an mit Dr. Belfond über derartige Dinge sprach und er da seine Informationen bezog. Sie meinte es nicht böse, aber irgendwem musste sie ihre Befürchtungen mitteilen, er verstand das. „Gut“, sagte Jii, nachdem er Kierans Akte, die an seinem Bett befestigt war, überprüft hatte. „Ich werde dich morgen früh direkt nach Abteracht verlegen. Konia wird sich dann um alles kümmern.“ Davon ging Kieran ebenfalls aus. Deswegen hoffte er, dass es ihr gelänge, ihm zu helfen, damit er seine Fähigkeiten wieder einsetzen könnte – und hoffentlich auch, dass Alraune bald wieder bei ihm wäre. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)