In the Dark von Drachenprinz ================================================================================ Kapitel 1: Tea Time ------------------- Hübsch. Wirklich passend. Und absolut gerechtfertigt. Genau das waren die Worte, die ihm bei dem Anblick, der sich ihm in diesem Moment bot, in den Sinn kamen. Oder vielmehr waren es die Worte, die ihm hätten in den Sinn kommen sollen. Loki Laufeyson, stolz und hoheitsvoll auf dem großen Thron, der nur ihm allein gebührte - niemandem sonst. Sein Bruder hatte ihn nicht gewollt, obwohl er ihm zugestanden hätte. Nach seiner Verbannung hatte er sich den Thron - zumindest Odins Ansicht nach - ehrlich verdient, doch er hatte ihn abgelehnt, um nach Midgard zurückzukehren. Einerseits eine weise Entscheidung, wenn man ihn fragte. Er wurde dieser Verantwortung, dieser Ehre, ohnehin nicht gerecht. Andererseits war es ein absoluter Fehltritt, der allerdings zu jemandem wie ihm passte. Sein falscher Vater würde ihm ebenso nicht mehr in die Quere kommen, dafür hatte er gesorgt. Während Thor schlicht und einfach ein naiver Idiot war, hatte Odin seine Karten bei ihm definitiv verspielt. Egal, wie sehr er sein ganzes Leben lang versucht hatte, sich anzupassen, und egal, wie sehr der Alte sich bemüht hatte, die Fassade eines liebenden Vaters konstant aufrechtzuerhalten - es war mehr als offensichtlich, welchen seiner beiden Söhne er bevorzugte. Er hätte tun können, was er wollte; er hätte weitere Jahrhunderte mit dem Versuch verschwenden können, dem Allvater zu gefallen, um endlich angemessen von ihm respektiert zu werden. Aber wozu? Am Ende war er für ihn doch nichts weiter als ein Werkzeug gewesen, ein Mittel zum Zweck, das so lange liegen gelassen wurde, bis es eines Tages von Nutzen sein würde. Am Ende war er eben doch nur ein Abkomme der falschen Rasse. Trotz all dieser wenig ruhmreichen Tatsachen, saß er nun dort, anstelle von Thor oder Odin, und war zu dem geworden, was ihm ohne seine Eigeninitiative wohl ewig verwährt geblieben wäre: Dem alleinigen Herrscher über Asgard. König. Er war König. Sah er aus wie ein König? „Beinahe...“, flüsterte er, den Blick skeptisch auf sein Ebenbild gerichtet, das er kurz zuvor erschaffen hatte und das, anstatt von ihm selbst, erhobenen Hauptes auf der monumentalen Vorrichtung thronte. „Beinahe tue ich das.“ Wie zur Antwort legte sich augenblicklich ein spöttisches Lächeln auf die Lippen seines Gegenübers. Nicht nur beinahe, schien er ihm sagen zu wollen. Er, der große Herrscher voller Anmut und Würde, wollte nicht mehr in Frage gestellt werden. Und doch - etwas an diesem Bild war falsch. Leisen Schrittes näherte er sich seinem Ebenbild, betrachtete es von allen Seiten, während er selbst von diesem nicht aus den Augen gelassen wurde, und blieb schließlich vor ihm stehen. Außer ihm und seinem Doppelgänger war niemand hier. Allein mit mir selbst, dachte er und hätte fast gelacht, wäre es nicht so traurig gewesen. Ironischerweise war es genau das, was er im Grunde genommen bereits seit einer Ewigkeit war. Alleine mit sich selbst. Noch immer lächelte der Andere ihn an, als würde das seine eigene Zerrissenheit ausgleichen. Warum lächelte er? Weil er nach langer Zeit endlich das bekommen hatte, was er wollte? Weil er sein Ziel erreicht hatte? Ja, das hatte er wahrlich, aber warum fühlte er sich dann so elend? Anscheinend war alles, woran er je geglaubt hatte, der letzte Rest, an den er sich in den vergangenen Jahren geklammert hatte, nichts als eine riesige Lüge. Er konnte sich selbst vormachen, sein Ziel erreicht zu haben und erhaben zu sein über die Anderen, die dazu verpflichtet gewesen waren, ihm ihre Treue zu schwören. Er konnte sich und den Anderen vieles vormachen, die Vergangenheit hinter sich lassen und nun beweisen, wozu er fähig war. Aber eines machte ihn all das letztendlich trotzdem nicht: Glücklich. Er war es nicht und er würde es auf diese Weise auch nicht werden, das war seine bittere Erkenntnis, die sich schleichend bemerkbar gemacht hatte. „Was machst du für ein Gesicht?“, hörte er seinen Doppelgänger mit amüsierter Stimme fragen. „Sieht so ein König aus? Ein Gott?“ Langsam hob er seinen Blick und erwiderte das spöttische Lächeln seines Ebenbildes, bevor er zu einer Antwort ansetzte. „Nein...“, sagte er ruhig. „Aber vielleicht bin ich das auch nicht. Im Moment bist du derjenige, der auf dem Thron sitzt.“ Er lachte. Das war offenbar das einzige, was der Andere dem eben Gesagten entgegenzusetzen hatte. Seltsam nur, dass er nicht verstand, weshalb er das tat. Er selbst lachte nicht, doch je länger er darüber nachdachte, desto mehr beschlich ihn das Gefühl, dass seine eigens erschaffene Erscheinung sich über ihn lustig machte. Tatsächlich brachte sie es fertig, über ihn zu lachen. Er musste den Verstand verloren haben. „Sei still...!“, zischte er, die Arme auf beiden Seiten neben dem Gesicht seines viel zu realen Gegenübers abgestützt, Auge in Auge mit dem König des Spotts. Sein Lachen verstummte, doch weiterhin war ihm anzusehen, wie überlegen er sich fühlte. „Steh auf!“ „Und wenn ich nicht will?“ „Du vergisst, wem du zu gehorchen hast.“ Schweigend erhob er sich von seinem Platz, nicht ohne seinen Erschaffer unaufhörlich mit seinen hämischen Blicken zu fixieren, und blieb einen Augenblick lang dicht vor ihm stehen. Lange hatte er sich selbst nicht mehr derart eingehend betrachtet und jetzt wurde ihm klar, aus welchem Grund. Für gewöhnlich fiel es nicht auf, von Nahem jedoch waren noch immer die winzigen Narben zu erkennen, die einst der dunkelste Tag seines ehrlosen Lebens auf seinen Lippen hinterlassen hatte. Schwach, aber sie waren zu erkennen. „Das wollt ihr doch nicht wirklich tun... Bruder...?“ „Ich glaube, du weißt selbst sehr gut, dass du es verdient hast, nicht wahr...?“ Die Worte erklangen in seiner Erinnerung, als wären sie eben erst gesagt worden, und der alte Schmerz, den er so oft versucht hatte zu verdrängen, durchzuckte ihn erneut. Nicht die Narben waren es, die schmerzten; aber die Stimme. Seine Stimme. „War doch nur ein kleiner Scherz“, sagte er, der sein eigenes Aussehen trug, und riss ihn damit zurück in die Realität, bevor er ihm aus dem Weg ging und den Thron wieder für ihn frei gab. Kurz musste er überlegen, worauf dieser Satz sich bezog, dann ließ er sich auf seinem rechtmäßigen Platz nieder, während er mit einer beiläufigen Geste seinen Doppelgänger verschwinden ließ. „Nur ein kleiner Scherz...“, wiederholte er flüsternd die zuletzt gesagten Worte und verlor sich für eine Weile in seinen Gedanken. 'Die Zeit heilt alle Wunden', hieß es immer wieder, doch wie viel Wahrheit steckte dahinter? Wie viel Zeit musste vergehen, bis alle Wunden verheilt waren? Ein Mensch konnte nicht ewig warten. Und auch ein Gott konnte das nicht. Warum, Bruder, bin ich derjenige von uns beiden, der jetzt allein ist?, dachte er, obwohl er die Antwort bereits kannte. Die Schwächeren, die sich dem Einfluss ihrer Außenwelt hingaben, bekamen all die Aufmerksamkeit und den Ruhm, den sie brauchten, während die Stärkeren, die für sich selbst kämpften und nicht für die Gunst der Anderen, von Anfang an als Einzelgänger bestimmt waren, zu denen sich niemand umdrehte, wenn sie einmal den Pfad verloren. Wer es auch nur einmal wagte, in seinem eigenen Interesse zu handeln, anstatt in dem der Anderen, der war zu ewiger Einsamkeit verdammt. Es war ein ungeschriebenes Gesetz, dem niemand zu widersprechen schien. Schade, wenn man bedenkt, dass wir jetzt auch zusammen hier sein könnten... wärest du nicht so ein verfluchter Narr gewesen. Du und Vater. Wie es ihm jetzt wohl ging? Ob er sein Glück gefunden hatte in seinem simplen Leben auf der Erde? Vermutlich ließ er sich entweder von den Menschen feiern, die voller Bewunderung zu ihm und seinen Heldentaten aufschauten, oder er ließ sich anschmachten von seiner kleinen Freundin, die er neuerdings hatte. Die Frau, die ihm wichtiger gewesen war als Asgard... und alles andere. Was konnte an ihr so Besonderes sein, das ihn derart blind machte? Das ihn vergessen ließ, wo er hingehörte? Es war ihm ein Rätsel, das er vorerst wohl nicht lösen würde. Schließlich hielt sein einfältiger Bruder - wenn er ihn überhaupt noch so nennen konnte - ihn für tot. Er hatte keine Ahnung von dem, was sich hier oben abspielte, während er dort unten mit seiner ach so großartigen Freundin beschäftigt war. Ein Jammer. Nachdenklich schloss er die Augen und musste unwillkürlich lächeln, als ihm ein nahezu absurder Einfall kam, der ihm, trotz seiner Einfachheit, möglicherweise doch die Chance gab, seinem Bruder wenigstens einen kurzen Besuch abzustatten. Du wirst überrascht sein, mich schon sehr bald wiederzusehen...!, waren seine letzten Gedanken, bevor er beschloss, dass er seinen Doppelgänger noch einmal brauchte. „Würdest du mir bitte mal helfen, Darcy?“ Keine Antwort. Angespannt wandte Jane den Blick von der zur Hälfte mit verschiedenstem buntem Zeug behangenen Tanne ab und musterte ihre Freundin auf der anderen Seite des Raumes. „Hey, ich habe dich nicht eingeladen, damit du in meiner Wohnung über deinen Freund herfällst! Du hast gesagt, ihr beide hättet nichts Besseres vor und würdet mir behilflich sein, aber davon sehe ich hier nichts...“ „Ist ja gut, reg dich ab“, war Darcys kurz angebundene Antwort, nachdem sie sich nach einer gefühlten Ewigkeit wieder von Ian gelöst hatte, der grinsend neben ihr stand und bisher so gut wie kein Wort mit jemandem außer ihr gewechselt hatte. „Ihr beiden passt echt zusammen wie die Faust aufs Auge“, kommentierte Jane das Schauspiel scheinbar ein wenig amüsiert. „Und was ist mit dir? Was machst du da eigentlich?“ „Ich lerne etwas über eure Bräuche. Darcy war so nett, mir ihr Smartphone zu leihen.“ „Aber ich habe dir doch schon erklärt, was Weihnachten ist! Kommst du überhaupt klar mit dem Ding?“ „Er macht sich super an dem Teil!“, antwortete Darcy für ihn. „Außerdem kann man doch nie genug lernen, findest du nicht?“ „Ich lese nur noch den Artikel zuende. Dann helfe ich dir, versprochen“, sagte er mit versöhnlicher Stimme und besah sich fasziniert den geschmückten Baum in der Ecke. „Danke“, lächelte Jane. „Allerdings wäre das gar nicht nötig, wenn meine liebe Freundin hier mal eher mit angepackt hätte. Und du dahinten könntest auch mal was tun!“ „Was, ich? Okay, okay... ich komme.“ Aus dem Radio tönte ein Weihnachtslied, das er in den letzten Tagen sicher schon mindestens zehn Mal an unterschiedlichen Orten gehört hatte. Thor starrte wie gebannt auf den leuchtenden Bildschirm des vor ihm auf dem Tisch liegenden Gerätes und schaute hin und wieder zu seinen Freunden hinüber, die seit dem Frühstück damit zu tun hatten, Janes Wohnung, die sie sich nun miteinander teilten, ein festliches Aussehen zu verleihen. Bisher hatte er noch nicht sonderlich viel dazu beigetragen, aber das würde er definitiv in Kürze nachholen. Es war sein erster Winter auf Midgard und er hatte das Glück, diesen gleich mit einer so hübschen und wundervollen Frau verbringen zu dürfen. Ihm war klar, dass er jetzt auch ebenso in seiner Heimat sein könnte, in der er seine ganze Kindheit und Jugend verbracht hatte. Der Ort, an dem er aufgewachsen war und der ihm jederzeit für seine Rückkehr offenstand. Und bestimmt würde er sich irgendwann wieder dort blicken lassen, aber nicht jetzt. Er wusste, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte, als er hierhergekommen war, um bei dem Menschen zu sein, den er liebte. Hier war jetzt sein Zuhause. Und je länger er darüber nachdachte, desto mehr hatte er das Gefühl, dass sich die Erde gar nicht einmal so sehr von Asgard unterschied. An beiden Orten wurde er geschätzt. Bemüht, schnellstmöglich mit dem Artikel über 'Die Bedeutung des Weihnachtsfestes' fertigzuwerden, genoss er die feierliche, wenn auch - seitens seiner Freundin - etwas gestresste Stimmung. „So, das war's!“ Zufrieden betrachtete Jane den mittlerweile vollständig geschmückten Tannenbaum, rückte eine rote Kugel noch etwas zurecht und blickte dann erwartungsvoll in die Runde. „Das haben wir gut hingekriegt“, bemerkte Darcy. „Wir? Ja... Das nehme ich dann mal so hin.“ „Und was steht als nächstes an?“ „Eine Pause. Setzt euch. Wollt ihr Tee?“ Janes Angebot fand überall Zustimmung und so kam es, dass sie in der Küche verschwand, während er mit ihren beiden Gästen allein am Tisch saß. Darcy war wie so oft in ihr Smartphone vertieft und Ian schaute ihr über die Schulter. „Sagt mal...“, begann Thor und hatte sofort die Aufmerksamkeit der beiden auf seiner Seite. „Es ist bei euch doch üblich, sich zu Weihnachten gegenseitig zu beschenken, stimmt's?“ „Gut aufgepasst“, antwortete Janes Freundin. „Es ist ja nicht mehr so lang... und ich überlege, was ich Jane schenken soll. Meint ihr, sie würde sich über einen Verlobungsring freuen?“ Darcy machte ein prustendes Geräusch, ließ beinahe ihr Handy fallen und starrte ihn an, als hätte er ein totes Tier im Gesicht. „Meinst du nicht, dafür ist es noch ein bisschen zu früh? Und schon mal drüber nachgedacht, wie du dir das leisten willst?“ „Wieso 'zu früh'?“, fragte Ian verständnislos dazwischen. „Sie sind immerhin schon länger zusammen als wir beide.“ „Jaaa“, sagte sie langgezogen. „Aber wir wollen ja auch noch nicht heiraten... oder?!“ „Nein...! Das wollte ich damit nicht sagen.“ „Gut. Also, um auf deine Frage zurückzukommen...“, sagte sie, wieder an Thor gewandt. „...Mit Verlobungsringen würde ich noch warten. Jane freut sich auch über eine Kleinigkeit. Irgendwas Persönliches... Sie ist bestimmt froh, wenn du ihr zeigst, dass du dir Gedanken über sie gemacht hast!“ „Alles klar, verstehe“, murmelte er nachdenklich. „Was wollt ihr beide euch eigentlich schenken?“ „Schätzchen, wenn ich das jetzt laut sagen würde, wäre es ja keine Überraschung mehr.“ „Ach ja. Ich bin ein bisschen nervös, tut mir leid.“ „Hast du ihn gerade 'Schätzchen' genannt...?“ „Hast du ein Problem damit?“ Die Neckereien der beiden so gut es ging ignorierend, überlegte er angestrengt, welche Art von Kleinigkeit für Jane wohl angemessen wäre. Viel Zeit blieb ihm dafür jedoch nicht, da sie kurz darauf aus der Küche zurückkam, ein Tablett mit vier Tassen auf der Handfläche balancierend, das sie in der Mitte des Tisches abstellte, bevor sie sich zu ihnen gesellte. „Habt ihr euch nett unterhalten?“, fragte sie, scheinbar nichts ahnend. „Ja, supernett“, war Darcys Antwort darauf, die Ian mit einem zögerlichen Nicken bestätigte. Nicht viel später ließen sie sich gemeinsam ihren Tee schmecken und lachten, als Darcy Thor aus Spaß darauf hinwies, nicht wieder die Tasse auf den Boden zu pfeffern, wenn er Nachschlag wollte. Ein kalter Windzug brachte seine Haare durcheinander, als er durch die dunklen Straßen lief, die nicht ganz so dunkel waren wie sonst. Die Beleuchtungen, die vor Kurzem an einigen Gebäuden angebracht worden waren, erhellten sie ein wenig. Eine persönliche Kleinigkeit, dachte er zum wiederholten Mal und warf einen Blick in jedes Schaufenster, das ihm ins Auge fiel. Es war nicht so leicht, wie er zunächst angenommen hatte, ein schönes Geschenk zu finden. Wieso gab es hier nichts, das ihm den Eindruck vermittelte, perfekt für sie zu sein? Was für ein Pech, dass er sie nicht einfach danach fragen konnte, was sie sich wünschte. Darcy war der festen Überzeugung, er müsse von selbst darauf kommen, um ihr eine richtige Freude zu machen. Aber woher sollte er wissen, was ihr gefiel, bei einer so großen Auswahl an Ramsch? Und was genau stellten sich die Menschen unter einer 'Kleinigkeit' überhaupt vor? Er hatte sich für diesen Abend fest vorgenommen, einen Alleingang durch die Stadt zu unternehmen, von dem er nicht ohne ein passendes Geschenk wiederkehren wollte. Aber bisher erwies sich dieses Vorhaben eher als eine Suche nach der Nadel im Heuhaufen... Noch dazu hatte er bereits seit einer Weile das merkwürdige Gefühl, beobachtet zu werden. Entweder wurde er paranoid oder es lauerte ihm tatsächlich jemand auf. Konnte es sein, dass er wieder einmal einen heimlichen Fan hatte, der ihm hinterherlief und sich nicht traute, ihn anzusprechen? Der Gedanke brachte ihn zum Schmunzeln und er machte sich mit plötzlich neu aufgekommener Motivation daran, weitere Schaufenster zu untersuchen. Lange stand er vor einem Schmuckgeschäft und konnte sich nicht entscheiden, ob er hineingehen sollte oder nicht, als er glaubte, hinter sich Schritte zu vernehmen. „Suchen Sie etwas Bestimmtes?“ Ein wenig erleichtert, dass es keine Einbildung gewesen war, drehte er sich zu der Person, die ihn angesprochen hatte, um - ein Mann mittleren Alters, der eine Mütze, einen Schal und eine dunkle Winterjacke trug und äußerlich recht unscheinbar wirkte - und antwortete etwas unsicher: „Ja, ich... ich suche ein kleines Geschenk für meine Freundin. Ich fürchte, ich habe kein sehr gutes Gespür für sowas...“ Der Mann sah ihn einen Moment lang schweigend an, mit einem Ausdruck, der ihm seltsam bekannt vorkam. Er wusste nur nicht, wo er diesen Ausdruck schon gesehen hatte. Womöglich fantasierte er sich doch langsam etwas zusammen, aufgrund des gewissermaßen anstrengenden Tages, den er hinter sich hatte. „Ich kann Ihnen da vielleicht weiterhelfen.“ „Wirklich?“ „Allerdings. Kommen Sie... einfach mit.“ Obwohl er sich bei Weitem nicht sicher war, ob die Idee, einem zwielichtigen Typen zu trauen, der ihn aus heiterem Himmel auf der Straße angesprochen hatte, so klug war, folgte er ihm in eine schmale Seitengasse, die wie abgeschieden vom Rest der Stadt wirkte. Er fragte sich, ob dieser Typ überhaupt wusste, wer er war, oder ob er ihn für einen ganz gewöhnlichen Spaziergänger hielt. Beides wäre denkbar gewesen. „Und...? Sie haben gesagt, Sie könnten mir helfen, oder?“ Anstatt einer Antwort legte sich ein Grinsen auf das Gesicht des Fremden und er musste sich vergewissern, dass er nicht träumte, als dieser mit bloß einem einzigen Fingerschnippen von einer Sekunde auf die nächste eine andere Gestalt angenommen hatte. Und es war nicht irgendwer, der nun unmittelbar vor ihm stand... Nein. „Loki...!“ „Shh. Nicht so laut“, flüsterte er mit seiner eigenen unverkennbaren Stimme. „Ich bin nicht unbedingt scharf darauf, hier erkannt zu werden.“ Seine Kleidung hatte sich im Gegensatz zu dem Rest nicht verändert, was er wahrscheinlich beabsichtigt hatte, wenn er unerkannt bleiben wollte. Aber was bei allen neun Welten machte er hier? Es konnte nicht sein. Sein Bruder war... Er hatte ihn mit eigenen Augen sterben sehen! „Wie... Wie kommst du hierher? Du warst tot! Ich dachte... ich würde dich nie wiedersehen... Du kannst unmöglich hier sein!“, versuchte er, seine Gedanken in Worte zu fassen, aber er merkte, dass die Situation für ihn zu erschlagend war, um das vernünftig hinzubekommen. Loki, sein Adoptivbruder, mit dessen Hilfe er seine letzte große Schlacht bestritten - und gewonnen - hatte, jedoch zu dem Preis seines Verlustes... Dabei hatte er an ihrem letzten gemeinsamen Tag noch die Hoffnung gehabt, von jetzt an wieder mit ihm zusammenleben zu können. Als Familie. Ohne Komplikationen. Doch der Lauf der Dinge war so grausam gewesen, Loki einfach aus seinem Leben zu reißen, bevor sie die Gelegenheit hatten, einen Neustart zu wagen. Zuletzt war es mehr als schwierig gewesen zwischen ihnen. Eine tödliche Mischung aus Verbitterung, Neid und dem Mangel an Verständnis, das sie füreinander aufgebracht hatten, hatte den Frieden zerstört, der in all der Zeit zwischen ihnen bestanden hatte. Und ausgerechnet an dem Tag, an dem die alte Harmonie wieder zu ihnen zurückgekehrt zu sein schien, musste er ihn verlassen. Wie also konnte er ihm jetzt gegenüberstehen? War sein Tod etwa nur eine Täuschung gewesen? Ein Trick, wie er es zuvor schon einmal bewerkstelligt hatte? „Wie du siehst, Bruder, ist es in der Tat möglich, dass ich hier bin. Aber leider werde ich nicht lange bleiben können“, sagte Loki in einem entschuldigenden Tonfall. „Mein Tod... war kein Trick, wie du vielleicht jetzt denkst. Mir bleiben nur wenige Stunden in dieser Welt, bevor ich dorthin zurück muss, wo ich herkomme. Es würde zu lange dauern, es dir zu erklären... Betrachte meine Anwesenheit als Chance, uns in aller Ruhe voneinander zu verabschieden, bevor wir endgültig getrennte Wege gehen müssen.“ Seine Präsenz war von einer gewissen Traurigkeit umgeben, als er mit ihm sprach. Thor starrte ihn ungläubig an, bemüht, die Bedeutung dessen, was er ihm da gerade erzählt hatte, vollständig zu erfassen. „Soll das heißen... du bist wirklich tot? Willst du damit sagen, du bist mir... als Geist erschienen?“ „So wie du es sagst, klingt es skurril. Sagen wir einfach, ich bin gekommen, um wenigstens einen kleinen Teil der verlorenen Zeit nachzuholen, die meine Niederlage mir genommen hat. Um mir sozusagen meinen letzten Wunsch zu erfüllen...“ „Deinen letzten Wunsch...? Okay, sag mir... Sag mir, was du dir wünschst, und ich werde alles tun, um dir dabei zu helfen!“ Loki lächelte schwach. „Alles, was ich will, ist, etwas Zeit mit meinem Bruder zu verbringen, genau wie früher, als... belanglose Dinge, wie die Thronfolge, noch keine Rolle gespielt haben“, sagte er und sah aus, als würde er weit, sehr weit zurückdenken. „Ich vermisse die alten Tage unserer Jugend. Damals war noch alles in Ordnung, nicht wahr? Lass uns... noch ein einziges Mal so tun, als hätte nie irgendetwas zwischen uns gestanden, und meine restlichen verbleibenden Stunden dazu nutzen, unseren sinnlosen Streit für immer zu begraben! Was sagst du...?“ Einen Moment lang war es still, weil er nicht wusste, was er dazu sagen sollte. Die Erklärung für sein Erscheinen war einerseits einleuchtend, andererseits war es das letzte, womit er gerechnet hatte, ausgerechnet ihn hier und heute wiederzusehen und diese Worte von ihm zu hören. Sein letzter Wunsch ist es, Zeit mit mir zu verbringen?, dachte er, und mit einem Mal verspürte er nichts als den starken Drang danach, seinem Bruder einen unvergesslichen Abend zu ermöglichen, der ihn bis in alle Ewigkeit in Frieden ruhen lassen würde. „Gut... Ich tue, was ich kann, um dir deinen Wunsch zu erfüllen!“, versprach er und schloss den Anderen in seine Arme, solange er es noch konnte. Nach kurzem Zögern merkte er, wie Loki es ihm gleich tat und mit leiser Stimme antwortete: „Ich danke dir.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)