In the Dark von Drachenprinz ================================================================================ Kapitel 1: Tea Time ------------------- Hübsch. Wirklich passend. Und absolut gerechtfertigt. Genau das waren die Worte, die ihm bei dem Anblick, der sich ihm in diesem Moment bot, in den Sinn kamen. Oder vielmehr waren es die Worte, die ihm hätten in den Sinn kommen sollen. Loki Laufeyson, stolz und hoheitsvoll auf dem großen Thron, der nur ihm allein gebührte - niemandem sonst. Sein Bruder hatte ihn nicht gewollt, obwohl er ihm zugestanden hätte. Nach seiner Verbannung hatte er sich den Thron - zumindest Odins Ansicht nach - ehrlich verdient, doch er hatte ihn abgelehnt, um nach Midgard zurückzukehren. Einerseits eine weise Entscheidung, wenn man ihn fragte. Er wurde dieser Verantwortung, dieser Ehre, ohnehin nicht gerecht. Andererseits war es ein absoluter Fehltritt, der allerdings zu jemandem wie ihm passte. Sein falscher Vater würde ihm ebenso nicht mehr in die Quere kommen, dafür hatte er gesorgt. Während Thor schlicht und einfach ein naiver Idiot war, hatte Odin seine Karten bei ihm definitiv verspielt. Egal, wie sehr er sein ganzes Leben lang versucht hatte, sich anzupassen, und egal, wie sehr der Alte sich bemüht hatte, die Fassade eines liebenden Vaters konstant aufrechtzuerhalten - es war mehr als offensichtlich, welchen seiner beiden Söhne er bevorzugte. Er hätte tun können, was er wollte; er hätte weitere Jahrhunderte mit dem Versuch verschwenden können, dem Allvater zu gefallen, um endlich angemessen von ihm respektiert zu werden. Aber wozu? Am Ende war er für ihn doch nichts weiter als ein Werkzeug gewesen, ein Mittel zum Zweck, das so lange liegen gelassen wurde, bis es eines Tages von Nutzen sein würde. Am Ende war er eben doch nur ein Abkomme der falschen Rasse. Trotz all dieser wenig ruhmreichen Tatsachen, saß er nun dort, anstelle von Thor oder Odin, und war zu dem geworden, was ihm ohne seine Eigeninitiative wohl ewig verwährt geblieben wäre: Dem alleinigen Herrscher über Asgard. König. Er war König. Sah er aus wie ein König? „Beinahe...“, flüsterte er, den Blick skeptisch auf sein Ebenbild gerichtet, das er kurz zuvor erschaffen hatte und das, anstatt von ihm selbst, erhobenen Hauptes auf der monumentalen Vorrichtung thronte. „Beinahe tue ich das.“ Wie zur Antwort legte sich augenblicklich ein spöttisches Lächeln auf die Lippen seines Gegenübers. Nicht nur beinahe, schien er ihm sagen zu wollen. Er, der große Herrscher voller Anmut und Würde, wollte nicht mehr in Frage gestellt werden. Und doch - etwas an diesem Bild war falsch. Leisen Schrittes näherte er sich seinem Ebenbild, betrachtete es von allen Seiten, während er selbst von diesem nicht aus den Augen gelassen wurde, und blieb schließlich vor ihm stehen. Außer ihm und seinem Doppelgänger war niemand hier. Allein mit mir selbst, dachte er und hätte fast gelacht, wäre es nicht so traurig gewesen. Ironischerweise war es genau das, was er im Grunde genommen bereits seit einer Ewigkeit war. Alleine mit sich selbst. Noch immer lächelte der Andere ihn an, als würde das seine eigene Zerrissenheit ausgleichen. Warum lächelte er? Weil er nach langer Zeit endlich das bekommen hatte, was er wollte? Weil er sein Ziel erreicht hatte? Ja, das hatte er wahrlich, aber warum fühlte er sich dann so elend? Anscheinend war alles, woran er je geglaubt hatte, der letzte Rest, an den er sich in den vergangenen Jahren geklammert hatte, nichts als eine riesige Lüge. Er konnte sich selbst vormachen, sein Ziel erreicht zu haben und erhaben zu sein über die Anderen, die dazu verpflichtet gewesen waren, ihm ihre Treue zu schwören. Er konnte sich und den Anderen vieles vormachen, die Vergangenheit hinter sich lassen und nun beweisen, wozu er fähig war. Aber eines machte ihn all das letztendlich trotzdem nicht: Glücklich. Er war es nicht und er würde es auf diese Weise auch nicht werden, das war seine bittere Erkenntnis, die sich schleichend bemerkbar gemacht hatte. „Was machst du für ein Gesicht?“, hörte er seinen Doppelgänger mit amüsierter Stimme fragen. „Sieht so ein König aus? Ein Gott?“ Langsam hob er seinen Blick und erwiderte das spöttische Lächeln seines Ebenbildes, bevor er zu einer Antwort ansetzte. „Nein...“, sagte er ruhig. „Aber vielleicht bin ich das auch nicht. Im Moment bist du derjenige, der auf dem Thron sitzt.“ Er lachte. Das war offenbar das einzige, was der Andere dem eben Gesagten entgegenzusetzen hatte. Seltsam nur, dass er nicht verstand, weshalb er das tat. Er selbst lachte nicht, doch je länger er darüber nachdachte, desto mehr beschlich ihn das Gefühl, dass seine eigens erschaffene Erscheinung sich über ihn lustig machte. Tatsächlich brachte sie es fertig, über ihn zu lachen. Er musste den Verstand verloren haben. „Sei still...!“, zischte er, die Arme auf beiden Seiten neben dem Gesicht seines viel zu realen Gegenübers abgestützt, Auge in Auge mit dem König des Spotts. Sein Lachen verstummte, doch weiterhin war ihm anzusehen, wie überlegen er sich fühlte. „Steh auf!“ „Und wenn ich nicht will?“ „Du vergisst, wem du zu gehorchen hast.“ Schweigend erhob er sich von seinem Platz, nicht ohne seinen Erschaffer unaufhörlich mit seinen hämischen Blicken zu fixieren, und blieb einen Augenblick lang dicht vor ihm stehen. Lange hatte er sich selbst nicht mehr derart eingehend betrachtet und jetzt wurde ihm klar, aus welchem Grund. Für gewöhnlich fiel es nicht auf, von Nahem jedoch waren noch immer die winzigen Narben zu erkennen, die einst der dunkelste Tag seines ehrlosen Lebens auf seinen Lippen hinterlassen hatte. Schwach, aber sie waren zu erkennen. „Das wollt ihr doch nicht wirklich tun... Bruder...?“ „Ich glaube, du weißt selbst sehr gut, dass du es verdient hast, nicht wahr...?“ Die Worte erklangen in seiner Erinnerung, als wären sie eben erst gesagt worden, und der alte Schmerz, den er so oft versucht hatte zu verdrängen, durchzuckte ihn erneut. Nicht die Narben waren es, die schmerzten; aber die Stimme. Seine Stimme. „War doch nur ein kleiner Scherz“, sagte er, der sein eigenes Aussehen trug, und riss ihn damit zurück in die Realität, bevor er ihm aus dem Weg ging und den Thron wieder für ihn frei gab. Kurz musste er überlegen, worauf dieser Satz sich bezog, dann ließ er sich auf seinem rechtmäßigen Platz nieder, während er mit einer beiläufigen Geste seinen Doppelgänger verschwinden ließ. „Nur ein kleiner Scherz...“, wiederholte er flüsternd die zuletzt gesagten Worte und verlor sich für eine Weile in seinen Gedanken. 'Die Zeit heilt alle Wunden', hieß es immer wieder, doch wie viel Wahrheit steckte dahinter? Wie viel Zeit musste vergehen, bis alle Wunden verheilt waren? Ein Mensch konnte nicht ewig warten. Und auch ein Gott konnte das nicht. Warum, Bruder, bin ich derjenige von uns beiden, der jetzt allein ist?, dachte er, obwohl er die Antwort bereits kannte. Die Schwächeren, die sich dem Einfluss ihrer Außenwelt hingaben, bekamen all die Aufmerksamkeit und den Ruhm, den sie brauchten, während die Stärkeren, die für sich selbst kämpften und nicht für die Gunst der Anderen, von Anfang an als Einzelgänger bestimmt waren, zu denen sich niemand umdrehte, wenn sie einmal den Pfad verloren. Wer es auch nur einmal wagte, in seinem eigenen Interesse zu handeln, anstatt in dem der Anderen, der war zu ewiger Einsamkeit verdammt. Es war ein ungeschriebenes Gesetz, dem niemand zu widersprechen schien. Schade, wenn man bedenkt, dass wir jetzt auch zusammen hier sein könnten... wärest du nicht so ein verfluchter Narr gewesen. Du und Vater. Wie es ihm jetzt wohl ging? Ob er sein Glück gefunden hatte in seinem simplen Leben auf der Erde? Vermutlich ließ er sich entweder von den Menschen feiern, die voller Bewunderung zu ihm und seinen Heldentaten aufschauten, oder er ließ sich anschmachten von seiner kleinen Freundin, die er neuerdings hatte. Die Frau, die ihm wichtiger gewesen war als Asgard... und alles andere. Was konnte an ihr so Besonderes sein, das ihn derart blind machte? Das ihn vergessen ließ, wo er hingehörte? Es war ihm ein Rätsel, das er vorerst wohl nicht lösen würde. Schließlich hielt sein einfältiger Bruder - wenn er ihn überhaupt noch so nennen konnte - ihn für tot. Er hatte keine Ahnung von dem, was sich hier oben abspielte, während er dort unten mit seiner ach so großartigen Freundin beschäftigt war. Ein Jammer. Nachdenklich schloss er die Augen und musste unwillkürlich lächeln, als ihm ein nahezu absurder Einfall kam, der ihm, trotz seiner Einfachheit, möglicherweise doch die Chance gab, seinem Bruder wenigstens einen kurzen Besuch abzustatten. Du wirst überrascht sein, mich schon sehr bald wiederzusehen...!, waren seine letzten Gedanken, bevor er beschloss, dass er seinen Doppelgänger noch einmal brauchte. „Würdest du mir bitte mal helfen, Darcy?“ Keine Antwort. Angespannt wandte Jane den Blick von der zur Hälfte mit verschiedenstem buntem Zeug behangenen Tanne ab und musterte ihre Freundin auf der anderen Seite des Raumes. „Hey, ich habe dich nicht eingeladen, damit du in meiner Wohnung über deinen Freund herfällst! Du hast gesagt, ihr beide hättet nichts Besseres vor und würdet mir behilflich sein, aber davon sehe ich hier nichts...“ „Ist ja gut, reg dich ab“, war Darcys kurz angebundene Antwort, nachdem sie sich nach einer gefühlten Ewigkeit wieder von Ian gelöst hatte, der grinsend neben ihr stand und bisher so gut wie kein Wort mit jemandem außer ihr gewechselt hatte. „Ihr beiden passt echt zusammen wie die Faust aufs Auge“, kommentierte Jane das Schauspiel scheinbar ein wenig amüsiert. „Und was ist mit dir? Was machst du da eigentlich?“ „Ich lerne etwas über eure Bräuche. Darcy war so nett, mir ihr Smartphone zu leihen.“ „Aber ich habe dir doch schon erklärt, was Weihnachten ist! Kommst du überhaupt klar mit dem Ding?“ „Er macht sich super an dem Teil!“, antwortete Darcy für ihn. „Außerdem kann man doch nie genug lernen, findest du nicht?“ „Ich lese nur noch den Artikel zuende. Dann helfe ich dir, versprochen“, sagte er mit versöhnlicher Stimme und besah sich fasziniert den geschmückten Baum in der Ecke. „Danke“, lächelte Jane. „Allerdings wäre das gar nicht nötig, wenn meine liebe Freundin hier mal eher mit angepackt hätte. Und du dahinten könntest auch mal was tun!“ „Was, ich? Okay, okay... ich komme.“ Aus dem Radio tönte ein Weihnachtslied, das er in den letzten Tagen sicher schon mindestens zehn Mal an unterschiedlichen Orten gehört hatte. Thor starrte wie gebannt auf den leuchtenden Bildschirm des vor ihm auf dem Tisch liegenden Gerätes und schaute hin und wieder zu seinen Freunden hinüber, die seit dem Frühstück damit zu tun hatten, Janes Wohnung, die sie sich nun miteinander teilten, ein festliches Aussehen zu verleihen. Bisher hatte er noch nicht sonderlich viel dazu beigetragen, aber das würde er definitiv in Kürze nachholen. Es war sein erster Winter auf Midgard und er hatte das Glück, diesen gleich mit einer so hübschen und wundervollen Frau verbringen zu dürfen. Ihm war klar, dass er jetzt auch ebenso in seiner Heimat sein könnte, in der er seine ganze Kindheit und Jugend verbracht hatte. Der Ort, an dem er aufgewachsen war und der ihm jederzeit für seine Rückkehr offenstand. Und bestimmt würde er sich irgendwann wieder dort blicken lassen, aber nicht jetzt. Er wusste, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte, als er hierhergekommen war, um bei dem Menschen zu sein, den er liebte. Hier war jetzt sein Zuhause. Und je länger er darüber nachdachte, desto mehr hatte er das Gefühl, dass sich die Erde gar nicht einmal so sehr von Asgard unterschied. An beiden Orten wurde er geschätzt. Bemüht, schnellstmöglich mit dem Artikel über 'Die Bedeutung des Weihnachtsfestes' fertigzuwerden, genoss er die feierliche, wenn auch - seitens seiner Freundin - etwas gestresste Stimmung. „So, das war's!“ Zufrieden betrachtete Jane den mittlerweile vollständig geschmückten Tannenbaum, rückte eine rote Kugel noch etwas zurecht und blickte dann erwartungsvoll in die Runde. „Das haben wir gut hingekriegt“, bemerkte Darcy. „Wir? Ja... Das nehme ich dann mal so hin.“ „Und was steht als nächstes an?“ „Eine Pause. Setzt euch. Wollt ihr Tee?“ Janes Angebot fand überall Zustimmung und so kam es, dass sie in der Küche verschwand, während er mit ihren beiden Gästen allein am Tisch saß. Darcy war wie so oft in ihr Smartphone vertieft und Ian schaute ihr über die Schulter. „Sagt mal...“, begann Thor und hatte sofort die Aufmerksamkeit der beiden auf seiner Seite. „Es ist bei euch doch üblich, sich zu Weihnachten gegenseitig zu beschenken, stimmt's?“ „Gut aufgepasst“, antwortete Janes Freundin. „Es ist ja nicht mehr so lang... und ich überlege, was ich Jane schenken soll. Meint ihr, sie würde sich über einen Verlobungsring freuen?“ Darcy machte ein prustendes Geräusch, ließ beinahe ihr Handy fallen und starrte ihn an, als hätte er ein totes Tier im Gesicht. „Meinst du nicht, dafür ist es noch ein bisschen zu früh? Und schon mal drüber nachgedacht, wie du dir das leisten willst?“ „Wieso 'zu früh'?“, fragte Ian verständnislos dazwischen. „Sie sind immerhin schon länger zusammen als wir beide.“ „Jaaa“, sagte sie langgezogen. „Aber wir wollen ja auch noch nicht heiraten... oder?!“ „Nein...! Das wollte ich damit nicht sagen.“ „Gut. Also, um auf deine Frage zurückzukommen...“, sagte sie, wieder an Thor gewandt. „...Mit Verlobungsringen würde ich noch warten. Jane freut sich auch über eine Kleinigkeit. Irgendwas Persönliches... Sie ist bestimmt froh, wenn du ihr zeigst, dass du dir Gedanken über sie gemacht hast!“ „Alles klar, verstehe“, murmelte er nachdenklich. „Was wollt ihr beide euch eigentlich schenken?“ „Schätzchen, wenn ich das jetzt laut sagen würde, wäre es ja keine Überraschung mehr.“ „Ach ja. Ich bin ein bisschen nervös, tut mir leid.“ „Hast du ihn gerade 'Schätzchen' genannt...?“ „Hast du ein Problem damit?“ Die Neckereien der beiden so gut es ging ignorierend, überlegte er angestrengt, welche Art von Kleinigkeit für Jane wohl angemessen wäre. Viel Zeit blieb ihm dafür jedoch nicht, da sie kurz darauf aus der Küche zurückkam, ein Tablett mit vier Tassen auf der Handfläche balancierend, das sie in der Mitte des Tisches abstellte, bevor sie sich zu ihnen gesellte. „Habt ihr euch nett unterhalten?“, fragte sie, scheinbar nichts ahnend. „Ja, supernett“, war Darcys Antwort darauf, die Ian mit einem zögerlichen Nicken bestätigte. Nicht viel später ließen sie sich gemeinsam ihren Tee schmecken und lachten, als Darcy Thor aus Spaß darauf hinwies, nicht wieder die Tasse auf den Boden zu pfeffern, wenn er Nachschlag wollte. Ein kalter Windzug brachte seine Haare durcheinander, als er durch die dunklen Straßen lief, die nicht ganz so dunkel waren wie sonst. Die Beleuchtungen, die vor Kurzem an einigen Gebäuden angebracht worden waren, erhellten sie ein wenig. Eine persönliche Kleinigkeit, dachte er zum wiederholten Mal und warf einen Blick in jedes Schaufenster, das ihm ins Auge fiel. Es war nicht so leicht, wie er zunächst angenommen hatte, ein schönes Geschenk zu finden. Wieso gab es hier nichts, das ihm den Eindruck vermittelte, perfekt für sie zu sein? Was für ein Pech, dass er sie nicht einfach danach fragen konnte, was sie sich wünschte. Darcy war der festen Überzeugung, er müsse von selbst darauf kommen, um ihr eine richtige Freude zu machen. Aber woher sollte er wissen, was ihr gefiel, bei einer so großen Auswahl an Ramsch? Und was genau stellten sich die Menschen unter einer 'Kleinigkeit' überhaupt vor? Er hatte sich für diesen Abend fest vorgenommen, einen Alleingang durch die Stadt zu unternehmen, von dem er nicht ohne ein passendes Geschenk wiederkehren wollte. Aber bisher erwies sich dieses Vorhaben eher als eine Suche nach der Nadel im Heuhaufen... Noch dazu hatte er bereits seit einer Weile das merkwürdige Gefühl, beobachtet zu werden. Entweder wurde er paranoid oder es lauerte ihm tatsächlich jemand auf. Konnte es sein, dass er wieder einmal einen heimlichen Fan hatte, der ihm hinterherlief und sich nicht traute, ihn anzusprechen? Der Gedanke brachte ihn zum Schmunzeln und er machte sich mit plötzlich neu aufgekommener Motivation daran, weitere Schaufenster zu untersuchen. Lange stand er vor einem Schmuckgeschäft und konnte sich nicht entscheiden, ob er hineingehen sollte oder nicht, als er glaubte, hinter sich Schritte zu vernehmen. „Suchen Sie etwas Bestimmtes?“ Ein wenig erleichtert, dass es keine Einbildung gewesen war, drehte er sich zu der Person, die ihn angesprochen hatte, um - ein Mann mittleren Alters, der eine Mütze, einen Schal und eine dunkle Winterjacke trug und äußerlich recht unscheinbar wirkte - und antwortete etwas unsicher: „Ja, ich... ich suche ein kleines Geschenk für meine Freundin. Ich fürchte, ich habe kein sehr gutes Gespür für sowas...“ Der Mann sah ihn einen Moment lang schweigend an, mit einem Ausdruck, der ihm seltsam bekannt vorkam. Er wusste nur nicht, wo er diesen Ausdruck schon gesehen hatte. Womöglich fantasierte er sich doch langsam etwas zusammen, aufgrund des gewissermaßen anstrengenden Tages, den er hinter sich hatte. „Ich kann Ihnen da vielleicht weiterhelfen.“ „Wirklich?“ „Allerdings. Kommen Sie... einfach mit.“ Obwohl er sich bei Weitem nicht sicher war, ob die Idee, einem zwielichtigen Typen zu trauen, der ihn aus heiterem Himmel auf der Straße angesprochen hatte, so klug war, folgte er ihm in eine schmale Seitengasse, die wie abgeschieden vom Rest der Stadt wirkte. Er fragte sich, ob dieser Typ überhaupt wusste, wer er war, oder ob er ihn für einen ganz gewöhnlichen Spaziergänger hielt. Beides wäre denkbar gewesen. „Und...? Sie haben gesagt, Sie könnten mir helfen, oder?“ Anstatt einer Antwort legte sich ein Grinsen auf das Gesicht des Fremden und er musste sich vergewissern, dass er nicht träumte, als dieser mit bloß einem einzigen Fingerschnippen von einer Sekunde auf die nächste eine andere Gestalt angenommen hatte. Und es war nicht irgendwer, der nun unmittelbar vor ihm stand... Nein. „Loki...!“ „Shh. Nicht so laut“, flüsterte er mit seiner eigenen unverkennbaren Stimme. „Ich bin nicht unbedingt scharf darauf, hier erkannt zu werden.“ Seine Kleidung hatte sich im Gegensatz zu dem Rest nicht verändert, was er wahrscheinlich beabsichtigt hatte, wenn er unerkannt bleiben wollte. Aber was bei allen neun Welten machte er hier? Es konnte nicht sein. Sein Bruder war... Er hatte ihn mit eigenen Augen sterben sehen! „Wie... Wie kommst du hierher? Du warst tot! Ich dachte... ich würde dich nie wiedersehen... Du kannst unmöglich hier sein!“, versuchte er, seine Gedanken in Worte zu fassen, aber er merkte, dass die Situation für ihn zu erschlagend war, um das vernünftig hinzubekommen. Loki, sein Adoptivbruder, mit dessen Hilfe er seine letzte große Schlacht bestritten - und gewonnen - hatte, jedoch zu dem Preis seines Verlustes... Dabei hatte er an ihrem letzten gemeinsamen Tag noch die Hoffnung gehabt, von jetzt an wieder mit ihm zusammenleben zu können. Als Familie. Ohne Komplikationen. Doch der Lauf der Dinge war so grausam gewesen, Loki einfach aus seinem Leben zu reißen, bevor sie die Gelegenheit hatten, einen Neustart zu wagen. Zuletzt war es mehr als schwierig gewesen zwischen ihnen. Eine tödliche Mischung aus Verbitterung, Neid und dem Mangel an Verständnis, das sie füreinander aufgebracht hatten, hatte den Frieden zerstört, der in all der Zeit zwischen ihnen bestanden hatte. Und ausgerechnet an dem Tag, an dem die alte Harmonie wieder zu ihnen zurückgekehrt zu sein schien, musste er ihn verlassen. Wie also konnte er ihm jetzt gegenüberstehen? War sein Tod etwa nur eine Täuschung gewesen? Ein Trick, wie er es zuvor schon einmal bewerkstelligt hatte? „Wie du siehst, Bruder, ist es in der Tat möglich, dass ich hier bin. Aber leider werde ich nicht lange bleiben können“, sagte Loki in einem entschuldigenden Tonfall. „Mein Tod... war kein Trick, wie du vielleicht jetzt denkst. Mir bleiben nur wenige Stunden in dieser Welt, bevor ich dorthin zurück muss, wo ich herkomme. Es würde zu lange dauern, es dir zu erklären... Betrachte meine Anwesenheit als Chance, uns in aller Ruhe voneinander zu verabschieden, bevor wir endgültig getrennte Wege gehen müssen.“ Seine Präsenz war von einer gewissen Traurigkeit umgeben, als er mit ihm sprach. Thor starrte ihn ungläubig an, bemüht, die Bedeutung dessen, was er ihm da gerade erzählt hatte, vollständig zu erfassen. „Soll das heißen... du bist wirklich tot? Willst du damit sagen, du bist mir... als Geist erschienen?“ „So wie du es sagst, klingt es skurril. Sagen wir einfach, ich bin gekommen, um wenigstens einen kleinen Teil der verlorenen Zeit nachzuholen, die meine Niederlage mir genommen hat. Um mir sozusagen meinen letzten Wunsch zu erfüllen...“ „Deinen letzten Wunsch...? Okay, sag mir... Sag mir, was du dir wünschst, und ich werde alles tun, um dir dabei zu helfen!“ Loki lächelte schwach. „Alles, was ich will, ist, etwas Zeit mit meinem Bruder zu verbringen, genau wie früher, als... belanglose Dinge, wie die Thronfolge, noch keine Rolle gespielt haben“, sagte er und sah aus, als würde er weit, sehr weit zurückdenken. „Ich vermisse die alten Tage unserer Jugend. Damals war noch alles in Ordnung, nicht wahr? Lass uns... noch ein einziges Mal so tun, als hätte nie irgendetwas zwischen uns gestanden, und meine restlichen verbleibenden Stunden dazu nutzen, unseren sinnlosen Streit für immer zu begraben! Was sagst du...?“ Einen Moment lang war es still, weil er nicht wusste, was er dazu sagen sollte. Die Erklärung für sein Erscheinen war einerseits einleuchtend, andererseits war es das letzte, womit er gerechnet hatte, ausgerechnet ihn hier und heute wiederzusehen und diese Worte von ihm zu hören. Sein letzter Wunsch ist es, Zeit mit mir zu verbringen?, dachte er, und mit einem Mal verspürte er nichts als den starken Drang danach, seinem Bruder einen unvergesslichen Abend zu ermöglichen, der ihn bis in alle Ewigkeit in Frieden ruhen lassen würde. „Gut... Ich tue, was ich kann, um dir deinen Wunsch zu erfüllen!“, versprach er und schloss den Anderen in seine Arme, solange er es noch konnte. Nach kurzem Zögern merkte er, wie Loki es ihm gleich tat und mit leiser Stimme antwortete: „Ich danke dir.“ Kapitel 2: Dogs --------------- Die Umarmung eines temperamentvollen Donnergottes war nicht gerade etwas, das der Bezeichnung 'sanft' gerecht wurde. Trotzdem befand er den bisherigen Ablauf ihres Wiedersehens für äußerst zufriedenstellend. Thor hatte seine Geschichte geschluckt, ohne weiter nachzuhaken; er glaubte ihm jedes Wort und würde ihn, in Anbetracht der Tatsache, dass sie nicht viel Zeit hatten, mit Moralpredigten über die unglaublich schlimmen Verbrechen, die er begangen hatte, verschonen. Eine kleine Lüge mehr oder weniger - was machte das für einen Unterschied? Wenn Thor so dumm war, darauf hereinzufallen, dann war es sein eigener Fehler. Aus irgendeinem Grund brachte er ihm sein Vertrauen immer bei den falschen Gelegenheiten entgegen. Aber das war jetzt egal. Irgendwann hatte sein Bruder ihn wieder losgelassen und schaute ihn scheinbar leicht verunsichert an. „Und hast du schon eine Vorstellung davon, wie du deine Zeit mit mir verbringen willst?“, fragte er. „Hoffentlich nichts, was unsere Mitmenschen und Umgebung in Gefahr bringt...?“ Welch Überraschung. Offenbar war sein Vertrauen in ihn doch nicht sonderlich groß. „Wie, glaubst du, sollte ich etwas tun, das 'unsere Mitmenschen und Umgebung in Gefahr bringt', ohne dabei aufzufallen und unerkannt zu bleiben? Denkst du, ich hatte vor, mit dir quer durch die Stadt zu laufen, alles heiter niederzumetzeln, dann wieder zu verschwinden und einfach zu hoffen, dass niemand etwas gemerkt hat?“ Thor lachte auf seine üblich-verpeilte Art und stimmte ihn mit seiner Antwort wieder etwas milder. „Tut mir leid. Ich hatte wirklich nicht erwartet, auf dich zu treffen. Erst recht nicht unter diesen Umständen. Aber du sagst die Wahrheit, oder?“ Unschuldig schaute er ihn an, wie ein Hund, der nach Wochen sein Herrchen wiedertraf, voller Vorfreude auf einen bevorstehenden Spaziergang. Treu, solange man ihm das Gefühl gab, ein guter Gefährte zu sein. Ja, es war ein durchaus treffender Vergleich. Und er musste sich eingestehen, dass es ihm gefiel, Thor einmal in der Rolle des erwartungsvollen Hundes zu sehen - wo er diese Rolle doch selbst so oft widerwillig hatte einnehmen müssen. Der streunende Köter, dem stets vorgespielt wurde, ein Teil der Familie zu sein, nur um, wenn er einmal ein wenig zu laut gebellt hatte, angekettet und ausgestoßen zu werden, verlacht von seinen angeblich so liebevollen Besitzern. Ein Teil der Familie... Ob er das für ihn war? Oder betrachtete er ihn auch bloß als Haustier, das der reinen Belustigung diente und ihm zu jedem Zeitpunkt je nach Belieben zur Verfügung stand? Was war er für ihn? Wieder holte die Vergangenheit ihn ein, als wolle sie ihn zwanghaft an Dinge erinnern, die er, wenn ihm die Wahl geblieben wäre, lieber vergessen hätte. Sie schien ihn am heutigen Tage regelrecht bis zur Erschöpfung zu verfolgen, und er war zu schwach, sich dagegen zu wehren. „Das kann nicht euer Ernst sein... Bitte...! Ich weiß, dass ich Mist gebaut habe, aber ich kann es wiedergutmachen!“ „Das hättest du dir früher überlegen sollen. Jedes Mal hast du die gleichen Ausreden. Bist du zu feige, dich deiner Strafe zu stellen?“ Festgehalten. Bloßgestellt. Den spöttischen Blicken der Anderen hilflos ausgesetzt. Sie lachten, während er am Boden war, wimmernd und erniedrigt bis aufs Äußerste. Und inmitten der spottenden Menge stand er, dessen Augen amüsiert und selbstgefällig, ohne ein Fünkchen Mitleid, zu ihm herabblickten. „Jetzt hast du wohl nicht mehr so viel zu sagen, Bruder.“ „Was ist los mit dir? Deine Augen...!“ Umgehend fiel ihm auf, wie die Anspannung, die sich unbemerkt in ihm ausgebreitet hatte, von ihm abfiel, als auch die Bilder in seinem Geist wieder verblassten. Kälte kroch ihm über die Haut, er spürte es unter seiner Kleidung. Doch es war eine angenehme Kälte. Eine natürliche Kälte. „Du solltest aufpassen, Loki“, hörte er Thor leise sagen, der ihn mit besorgter Miene musterte. „Im Moment siehst du nämlich alles andere als unauffällig aus.“ Er hatte zwei Gesichter. Vielleicht nicht jedem gegenüber, aber es bestand kein Zweifel daran. Thor hatte zwei Gesichter. „Es ist nicht leicht, meine Asengestalt hier draußen aufrechtzuerhalten“, erklärte er und konzentrierte sich einen Augenblick lang. Innerhalb weniger Sekunden hatte er seine vorherige Form erneut angenommen. „Jetzt sollte es keine Probleme mehr geben.“ „Ist auch alles in Ordnung mit dir?“, fragte sein Stiefbruder, eine Hand auf seine Schulter legend, mit überfürsorglicher Stimme. „Ja“, erwiderte er. „Absolut. Für einen Toten geht es mir... außerordentlich gut.“ „Alles klar, dann... Willst du mich ein bisschen durch die Stadt begleiten? Zu zweit ist es nicht so langweilig.“ Endlich machte er einen Vorschlag, der ihm auf der Stelle zusagte und dem er ohne Weiteres zustimmen konnte. „Liebend gern.“ Anfangs noch in dem Glauben, alles unter Kontrolle zu haben, entwickelte sich der Abend mit Thor langsam aber sicher immer mehr in eine andere Richtung als geplant. Es hatte nicht lange gedauert, bis er angefangen hatte, ihre Unterhaltungen ständig auf ein und dasselbe Thema zu lenken: Jane Foster. Er hörte nicht auf, über sie zu reden. Zu allem, worüber sie sprachen, was sie sahen und was sie hörten, fielen ihm mindestens drei grandiose Dinge ein, die er mit Jane getan hatte. Verdammt, er erzählte ihm sogar, was sie im Bett miteinander anstellten! Erst hatte er es ignorieren können - das lästige Gefühl, dass ihn etwas gewaltig daran störte, auf welche Weise Thor gedachte, sich von ihm 'zu verabschieden'. Nach jedoch fast einer Dreiviertelstunde, die sie inzwischen gemeinsam unterwegs waren, ohne über etwas anderes als Jane und ihre Freunde, Geschenke und das Essen auf Midgard geredet zu haben, fühlte er sich eindeutig fehl am Platze. Liefen Leute mit Weihnachtsgebäck an ihnen vorbei, erzählte er ihm, wie toll Jane doch backen könne; liefen lachende Kinder mit Spielzeug an ihnen vorbei, musste er sich anhören, was er seinen eigenen fünf oder sechs Kindern alles kaufen würde, wenn er und Jane erst einmal Nachwuchs hatten. Jane war hier, Jane war dort. Jane war überall. Von irgendwoher ertönte Musik - eine heisere Männerstimme, die begleitet von teils schiefen Gitarrenklängen leidenschaftlich über verliebte Menschen sang, die sich an Weihnachten gegenseitig ihre Herzen schenkten. Einige Schritte Richtung des herzzerreißenden Gesangs später, entdeckte er den Kerl, der dafür verantwortlich war. In zerlumpten Sachen saß er nicht weit entfernt vor einem Geschäft, das Instrument fest im Griff, ganz in seinem Element. Ihm musste unwahrscheinlich kalt sein, aber das schien er verdrängen zu können, solange er die Passanten mit schnulzigen Liedern beschallen konnte. „Wusstest du, dass Weihnachten das Fest der Liebe ist?“, fragte Thor mit demselben übertrieben fröhlichen Grinsen, das sich schon seitdem sie losgegangen waren von selbst in sein Gesicht eingemeißelt hatte. „Sag bloß...“, knurrte er, während er noch immer damit zu kämpfen hatte, seine wahre Gestalt nicht in aller Öffentlichkeit preiszugeben. Das Wetter schien definitiv nicht auf seiner Seite zu sein. „Ich finde es schön, was sich die Menschen auf Midgard einfallen lassen, um sich ihre Liebe zu beweisen“, plauderte sein Bruder munter weiter. „Dieses Lied trifft es doch wirklich auf den Punkt. Es muss hier wohl ziemlich beliebt sein. Heute morgen lief es im Radio, als ich Jane geholfen habe, den Tannenbaum zu schmücken.“ „Weißt du, Thor... Es ist, meines Wissens nach, nicht gerade alltäglich, aus dem Reich der Toten zu den Lebenden zurückzukehren“, sagte Loki, so ruhig und geduldig wie möglich. „Ich habe nur wenig Zeit; kostbare Zeit, die ich nicht zurückerlangen kann, wenn sie erst um ist. Diese Zeit will ich nutzen, um mit dir zusammen zu sein, weil...“ Er stockte einen Moment lang und suchte nach den richtigen Worten, doch bedauerlicherweise wollten sie ihm gerade jetzt nicht einfallen. Thor sah ihn erwartungsvoll an. Wieder hatte er diesen furchtbaren Hundeblick. Der große, heroische Donnergott starrte ihn an, wie ein kleiner, unschuldiger Welpe, dem niemand je hätte böse sein können. Machte er das mit Absicht? „Ich will... noch ein einziges Mal bei dir sein, bevor ich gehe. Und es wäre mir recht, wenn wir bei unserem letzten Treffen nicht die ganze Zeit über Jane reden würden. Wäre das für dich im Rahmen des Möglichen?“ Kurz wirkte er ein wenig überrascht, dann lächelte er ihn verständnisvoll an. „Selbstverständlich“, war alles, was er sagte, aber er schien es ernst zu meinen. Beruhigend, in gewisser Hinsicht. Ob Thor nun egoistisch war oder nicht, wenigstens war er es nicht mit Absicht. „Danke“, gab er leise zurück. Wie es aussah, war es eine echte Seltenheit, dass etwas so lief, wie er es sich vorstellte. Wenn er darüber nachdachte, hatte er sich eigentlich schon immer gewünscht, einen etwas sensibleren Bruder zu haben, der es von allein merkte, wenn er auf seinen scheinbar für die Außenwelt vollkommen undurchschaubaren Gefühlen herumtrampelte, ohne ausdrücklich darauf hingewiesen werden zu müssen. Was für ein lächerlicher Gedanke. Als hätte jemand wie ich jemals so etwas wie Gefühle besessen, dachte er zynisch und lachte kaum merklich über sich selbst, als er Thor ansah, der sich gerade zur Seite gedreht hatte und sich offenbar umschaute. Nein, er wollte keinen anderen Bruder als ihn. Er wollte nur, dass er ihn verstand. „Und... Willst du mir irgendwas erzählen?“, fragte Thor, nachdem er sich ihm wieder zugewandt hatte. „Ich habe so viel über mich geredet, jetzt bist du dran.“ „Hm, lass mich überlegen. Ich fürchte, als Verstorbener hat man nicht allzu viel zu erzählen...“ Langsam fing seine Lüge an, ihm gehörig auf die Nerven zu gehen. Aber eine andere Möglichkeit, seinen Plan in die Tat umzusetzen, gab es nicht. Würde er ihm sagen, dass er in Wahrheit sehr wohl noch lebte und seinen Tod ein zweites Mal zu seinen eigenen Zwecken vorgetäuscht hatte, würde Thor ihm Fragen stellen - er würde wissen wollen, was auf Asgard vorgefallen war, seit er seine Heimat verlassen hatte, und was er mit Odin gemacht hatte. Er würde alles von ihm wissen wollen, und letztendlich würde er ihn hassen für all seine Lügen und Intrigen, würde wieder auf ihn herabblicken, weil ein streunender Köter wie er niemals in der Position sein konnte, einem wahrhaft reinen Gott wie ihm den Thron streitig zu machen, und am Ende würde bloß eine noch größere Leere zurückbleiben; zu groß, um damit leben zu können. „Warum eigentlich nicht?“, wurde er aus seinen Gedanken gerissen. „Wie ist es denn da, wo du herkommst, so? Ich war noch nie tot und hätte gerne eine Vorstellung davon, was mich irgendwann erwartet!“ „Das ist...“ Weiter kam er nicht. Ihre ohnehin nicht richtig in Gang kommende Konversation wurde von einem kleinen Mädchen unterbrochen, das aus heiterem Himmel kreischend mit einem Blatt Papier und einem Stift in der Hand auf sie zugestürmt kam, Thor mit einem begeisterten Ausdruck in den Augen fixierend, vollkommen verzückt. Sie blieb vor ihm stehen, als warte sie auf eine Reaktion seinerseits, die sie auch schnell bekam. „Na, Kleine? Kann ich dir helfen?“ Eine Weile lang strahlte sie ihn stumm an, bevor sie aussprach, was sich anhand ihres nicht sonderlich subtilen Auftretens jeder sofort hätte denken können. „Du bist Thor, oder?“, fragte sie mit einer reichlich quietschigen Stimme. Der Angesprochene nickte grinsend, woraufhin sie ihm offensichtlich hocherfreut ihr Schreibzeug entgegen streckte. „Krieg' ich ein Autogramm von dir? Bitte, bitte!“ Abwechselnd betrachtete Loki seinen Bruder und das Mädchen, das ihn - im wahrsten Sinne des Wortes - absolut zu vergöttern schien, während er freudig ihrer Bitte nachkam, ihr das nun mit seinem Namen gezierte Blatt Papier wieder in die Hand drückte und sich schließlich zwinkernd von ihr verabschiedete, ehe sie fröhlich zu ihren Eltern zurückhüpfte, die etwas abseits auf sie warteten.   „Tut mir leid“, entschuldigte sich Thor, als er sich von dem Anblick seiner kleinen Verehrerin wieder losreißen konnte. „Was wolltest du mir gerade sagen?“ „Nichts... Gar nichts.“ Er hatte keine Lust, sich auch noch Geschichten über das Totenreich zusammenzuspinnen, nur damit er ein Stück weit glaubwürdiger wirkte. Insofern hatte das plötzliche Auftauchen der Kleinen durchaus seinen Vorteil, wenn man bedachte, wie leicht sich Thor aus dem Konzept bringen ließ. „Du bist hier wohl richtig berühmt, wie?“ „Tja, ich habe... den einen oder anderen Anhänger“, lachte er ein wenig verlegen, wirkte aber nicht so, als würde diese Tatsache ihn stören. Im Gegenteil. Allerdings war das kaum verwunderlich, immerhin war er bereits als Kind bei allen sehr beliebt gewesen. „Da fällt mir ein...“ Erstaunt beobachtete er, wie Thor hektisch einen kompakten, schwarzen Gegenstand aus seiner Jackentasche zog, auf dem er herumdrückte und überrascht auf den kleinen Bildschirm des Gerätes starrte. „So spät schon?“, murmelte er, während er das Teil wieder einsteckte, und fügte erklärend hinzu: „Janes altes Handy. Sie hat es mir mitgegeben, ist ganz nützlich.“ „Du scheinst dich auf der Erde ja prima eingelebt zu haben“, bemerkte Loki, nicht sicher, was er davon halten sollte. „Kann man so sagen. Aber ich hätte wirklich nicht gedacht, dass es schon so spät geworden ist. Ich müsste eigentlich langsam nach Hause. Die Anderen warten auf mich...“ „Habe ich dich etwa aufgehalten?“ „Nein, überhaupt nicht. Das ist schon okay. Vielleicht könnten wir ja irgendwie...- Oh nein, so ein Mist!“, unterbrach Thor sich selbst. „Jetzt habe ich völlig vergessen, dass ich ja ein Geschenk für Jane finden wollte! Was mache ich denn jetzt? So schnell kann ich keines mehr auftreiben... Kannst du mir nicht vielleicht irgendwas für sie herbeizaubern?“ „Verdammt, Thor, nein, das kann ich nicht!“ „... Nicht?“ „Nein“, antwortete er gereizt. „Und wenn ich es könnte, würde ich es nicht tun! Jane, Jane, Jane... Du denkst an nichts anderes! Wenn du glaubst, eure unheimlich tolle Bilderbuch-Beziehung würde mich auch nur im Entferntesten interessieren, muss ich dir leider mitteilen, dass du falsch liegst. Deine kleine Jane ist mir vollkommen egal, und du kannst gefälligst alleine zusehen, wie du sie glücklich machst oder auch nicht!“ „Ist ja gut, reg dich ab! Was ist denn auf einmal los mit dir?! Sie ist meine Freundin, da ist es doch wohl normal, dass ich...“ Thor stockte und schaute ihn erst angesäuert, dann irritiert an. „Warte mal... Bist du eifersüchtig?“ „Sei nicht albern. Ich und eifersüchtig? Auf Jane? Das habe ich überhaupt nicht nötig. Weil es an ihr nicht einmal etwas gibt, worauf ich eifersüchtig sein könnte. Es ist mir ganz einfach egal, wie harmonisch ihr zusammenlebt, und es ist mir genauso egal, wie viele Halbgötter ihr miteinander zeugt. Mach doch, was du willst.“ „Komm mit.“  „Was...?“ Anstatt dem, was er gesagt hatte, etwas entgegenzusetzen, hatte Thor ihn kurzerhand am Arm gepackt und ihn, ohne zu fragen, mit sich gezerrt, ein paar Meter von der Stelle, an der sie bis eben noch gestanden hatten, entfernt. Im Schatten eines Gebäudes hielt er an - vermutlich, weil dort deutlich weniger los war als zuvor in dem Getümmel - und stellte sich ihm mit direktem Blick gegenüber. Einen Augenblick lang musste er sich beherrschen, um nicht wieder die Kontrolle über seine äußere Gestalt zu verlieren. Er seufzte langgezogen. „Was soll das, Thor? Warum hast du mich hierhergeschleppt?“ Inzwischen hatte sich der Ausdruck seines Gegenübers verändert. Plötzlich schien ihn das Ganze auf irgendeine Art sehr zu amüsieren. „Du kannst mir erzählen, was du willst... Du bist eifersüchtig!“, sagte er leise, jedoch nicht leise genug, um die triumphale Freude in seiner Stimme zu verbergen. „Du könntest ein noch so guter Schauspieler sein, Loki... Aber das erkennt selbst ein Blinder.“ „Hältst du dich für so unwiderstehlich, dass du das denkst?“, erwiderte er, obwohl er wusste, dass Thor ihn mittlerweile an einem Punkt hatte, an dem er ihn, trotz mangelnder Empathie, durchschaute. Nur wollte er es ihm nicht ganz so leicht machen. Er wollte ihn - wenigstens ein bisschen - auf die Probe stellen, wenn sich ihm die Gelegenheit schon einmal bot. „Ich halte mich nicht für unwiderstehlich“, entgegnete Thor. „Aber für eine schlechte Wahl halte ich mich auch nicht. Und ich kann es auseinanderhalten, ob mich jemand mit brüderlichen Gefühlen ansieht oder etwas anderes im Sinn hat.“ Loki lächelte. „Eingebildeter Narr.“ „Bin ich das, nur weil ich ausgesprochen habe, was du dich nicht traust, mir zu sagen?“ Allein mit seinem Blick schaffte er es förmlich, ihn an die Wand zu nageln und zu verhindern, dass er sich von dort wegbewegte. Ob er noch daran dachte, was er ihm über seinen Tod und die Zeit, die ihnen blieb, gesagt hatte? Er selbst zumindest schien es allmählich zu verdrängen oder schlicht nicht mehr daran denken zu wollen. „Und wenn es so wäre, wie du sagst... Was dann?“, fragte er und erwiderte seinen Blick, obwohl es sich wie ein Stich anfühlte, ihm in die Augen zu sehen. „Für dich war ich doch immer nur der dumme, kleine Bruder, den niemand ernst genommen hat. Was willst du jetzt tun, wenn ich dir sage, dass du Recht hast? Was würde das für dich schon ändern?“ Thor betrachtete ihn, weniger amüsiert, dafür aber umso interessierter, als würde er dadurch noch mehr in Erfahrung bringen, das er ihm bisher verschwiegen hatte. „Was das für mich ändern würde? Es würde dich in ein ganz anderes Licht rücken“, sagte er. „Wie lange verheimlichst du mir das schon?“ Er konnte nicht anders als über diese Frage zu lachen. „Was spielt es für eine Rolle, wie lange? Eine Zahl ist nur eine Zahl.“ Und Jahre sind Jahre, und Jahrhunderte sind Jahrhunderte, dachte er. Es machte keinen Unterschied, ob es zehn, zwanzig, fünfhundert oder sechshundert Jahre waren, die er sein Geheimnis für sich behalten hatte. Es war nichts als ein unwichtiges Detail. Erst als er aus dem Augenwinkel bemerkte, wie Thor sich ein Stück zu ihm vorbeugte und sich mit beiden Händen an der Hauswand abstützte, an der er selbst mit dem Rücken lehnte, wurde ihm bewusst, dass er sich von ihm abgewandt und die ganze Zeit zur Seite gestarrt hatte. Er musste in seinen Augen wohl wie ein Schwächling aussehen, der versuchte, ihm auszuweichen, weil er Angst hatte, über die Wahrheit zu sprechen. Das Problem an der Sache war zum einen, dass er genau das anscheinend war, und zum anderen, dass die Wahrheit, so unangenehm sie auch sein mochte, sich nicht mehr leugnen ließ. „Schau mich an“, hörte er Thor erstaunlich sanft zu ihm sagen. „Ich will nicht, dass du dich länger so vor mir verschließt. Ich will, dass du mit mir redest!“ „Mit dir reden? Weißt du, was du da von mir verlangst? Du hast immer davon gesprochen, dass man mir nicht trauen kann, und vielleicht stimmt das auch. Aber woher weiß ich, ob ich dir trauen kann?“ „Warum sagst du das? Natürlich kannst du mir vertrauen!“ „Erinnerst du dich an diesen einen Tag...?“, gab er leise zurück. „Du, Odin, Heimdall und die Anderen... Weißt du noch, was ihr damals mit einer Nadel und einem Faden getan habt? Du hast mich festgehalten. Und es hat dir Spaß gemacht...! Euch allen!“ Zum ersten Mal, seit sie hier standen, sah er, dass Thor zu Boden blickte, als hätte er eben etwas gesagt, womit er überhaupt nicht gerechnet hatte und worüber er erst ausschweifend nachdenken musste. Lange sagte keiner von ihnen ein Wort, doch innerlich hoffte er inständig, dass Thor es wenigstens ein bisschen bereute, ihm an diesem Tag nicht geholfen zu haben. Ihn einfach der ungerechten Grausamkeit seiner so ehrwürdigen Freunde überlassen zu haben. In all der Zeit, die seitdem vergangen war, hatten ihn Zweifel geplagt. Zweifel an der Welt, in der er lebte. Misstrauen. Er war nicht mehr Derselbe gewesen und bis zum heutigen Tage wusste er nicht, ob er es jemals wieder sein konnte. Tatsächlich schien Thor sich sehr lebendig daran zu erinnern, was damals vorgefallen war - er konnte es in seinem Blick lesen und er war sich ziemlich sicher, dass ihm gerade einige verhältnismäßig düstere Dinge durch den Kopf gingen. „Ja... Ich habe nicht vergessen, was wir getan haben“, sagte er, wohl bemüht, Ruhe zu bewahren. „Ich habe auch nicht vergessen, was du getan hast. Aber ich gebe zu, dass deine Bestrafung vielleicht etwas... zu hart ausgefallen ist.“ „Oh, das ist schon in Ordnung. Nicht der Rede wert. Ich hatte es verdient, oder? Was macht es schon, von seinem eigenen Bruder mehr oder weniger wegen eines Unfalls verraten zu werden?“ „Verflucht, ja...! Es tut mir leid! Es war ein Fehler... Hätte ich gewusst, dass diese Sache dich auf ewig verfolgen würde, hätte ich vielleicht... Ich weiß nicht, was ich gemacht hätte. Aber ich will nicht, dass du in mir einen Verräter siehst, dem du nicht vertrauen kannst. Falls es noch mehr gibt, weswegen du mir böse bist, dann entschuldige ich mich hiermit für alles, was ich falsch gemacht habe. Tut mir leid, dass ich es nicht rückgängig machen kann...“ Seltsam. Jetzt, wo er ihn endlich da hatte, wo er ihn immer haben wollte, fühlte er sich beinahe schuldig, ihm derartige Gewissensbisse eingepflanzt zu haben. Dabei gab es bei Weitem keinen Grund für ihn, sich schuldig zu fühlen. Von Thor eine Entschuldigung zu hören, war das Mindeste, das er sich seit Langem erhofft hatte, und doch war es alles, was er genau jetzt brauchte, um ihm zu verzeihen - nicht mehr und nicht weniger. „Keine Sorge. Entschuldigung angenommen“, sagte er, und er erkannte, wie sich ein erleichterter Ausdruck auf das Gesicht seines Bruders legte, als er es über sich brachte, ihn wieder anzusehen. Er wollte diesen Moment nicht mit unnötigen Diskussionen zerstören. Thor schien es ähnlich zu sehen. Außer einem kaum hörbaren „Danke“ sagte er nichts. Stattdessen lehnte er sich, ohne lange zu zögern, noch etwas weiter zu ihm vor und küsste ihn. Ein paar Sekunden dauerte es, bis er realisierte, in was für einer Situation er sich gerade befand. Und mit der Erkenntnis schloss er die Augen, ausnahmsweise einmal froh darüber, mit seinem Bruder nicht leiblich verwandt zu sein, und gab sich ihm hin, während alles andere um ihn herum unwichtig wurde. Das hier war das einzige, was jetzt zählte, solange nichts und niemand zwischen ihnen war. Entschlossen und gleichzeitig unsicher fühlte er sich, als er den Kuss löste. Sein Gespräch mit Loki hatte ihn in mehr als nur einer Hinsicht ziemlich durcheinander gebracht. Nie hätte er gedacht, ausgerechnet mit ihm einmal so etwas zu tun, und dennoch hatte er merkwürdigerweise nicht das Gefühl, eben etwas falsch gemacht zu haben - hoffentlich. Für wenige Sekunden glaubte er zu träumen, als er Loki ansah, der mit geschlossenen Augen dicht vor ihm stand, in einer Verfassung, in der er ihn noch nie zuvor gesehen hatte. Er wirkte so schwach, dass ihn fast das Bedürfnis überkam, ihn zu stützen. Bevor er jedoch dazu kam, irgendetwas zu tun, drängten sich ihm Fragen auf, die es ihm nur erschwerten, daran zu glauben, dass das hier gerade wirklich passiert war. Ein Anflug von etwas Unbekanntem erfasste ihn, als er in die grünen Augen seines Gegenübers sah, in denen ein so ehrlicher Ausdruck lag, wie schon lange nicht mehr. Er wusste wahrlich nicht, was er denken geschweigedenn sagen sollte. Allerdings schien es Andere zu geben, denen genug zu seiner derzeitigen Lage einfiel. Erschrocken drehte er sich nach hinten um, als er zwei aufgeregte Frauenstimmen vernahm. „Oh mein Gott, das ist Thor! Und er macht mit 'nem anderen Kerl rum!“ „Das kann nicht sein! Thor, sag mir bitte nicht, dass du das Ufer gewechselt hast...!“ Unbeholfen starrte er die beiden fremden jungen Frauen an, die, ohne dass er es mitbekommen hatte, um die Ecke gekommen sein mussten und einen schockierten Blick miteinander wechselten. „Was für ein Ufer? Ich weiß nicht, was ihr meint...!“, stammelte er lachend und wunderte sich, weil er plötzlich keine Reaktion mehr von ihnen bekam. Als hätte jemand in ihren Köpfen zur selben Zeit einen Schalter betätigt, wandten sie sich um, kümmerten sich nicht länger um ihn und verschwanden wieder. „Die haben nichts gesehen“, hörte er Loki sagen und bemerkte dessen zufriedenes Grinsen, als er wieder in seine Richtung schaute. „Ich habe ein bisschen nachgeholfen.“ „Du solltest deine Kräfte doch nicht bei Anderen einsetzen“, tadelte er ihn halbherzig. „Wäre es dir lieber gewesen, wenn sie überall herumerzäht hätten, was sie gesehen haben, und deine Freundin möglicherweise Wind davon bekommen hätte?“ „Ich dachte, Jane wäre dir egal?“, fragte Thor gespielt überrascht. „Das ist sie, ja. Und nur, weil ich dir einen kleinen Gefallen getan habe, wird sich daran auch nichts ändern.“ Thor zuckte die Schultern, ließ sich seine Enttäuschung nicht anmerken und überlegte kurz, wie es jetzt weitergehen sollte. Zumindest die Frage, was er aus dem Rest des heutigen Abends machen sollte, erforderte dringend eine schnelle Antwort. Diese Entscheidung wurde ihm allerdings mehr oder weniger abgenommen, als er Janes Handy gedämpft in seiner Jackentasche klingeln hörte. „Heeey, mein Schatz!“, rief er in das Gerät, nachdem er es hastig hervorgekramt und den grünen Knopf betätigt hatte. Loki verzog angewidert das Gesicht. „Hi, Thor. Hier ist Darcy“, tönte es aus dem Lautsprecher. „Ich glaube, wenn Ian das mit uns beiden rausfindet, ist er nicht so begeistert.“ Der Gedanke, jetzt gerne im Boden versinken zu wollen, ging ihm kurzzeitig durch den Kopf, bevor er schnell wieder das Gespräch aufnahm. „Ja, ähm, Darcy... vergiss, wie ich dich gerade genannt habe. Was gibt's?“ „Wenn du mich jetzt alleine hier stehen lässt, verzeihe ich dir das nie...!“, zischte die Stimme seines Bruders verschwörerisch dazwischen. Unsicher, wie er darauf reagieren sollte, versuchte er, sich auf das zu konzentrieren, was die Frau am anderen Ende der Leitung ihm mitteilen wollte - nicht unbedingt ein leichtes Unterfangen, wenn man einen aufgebrachten Jotunen neben sich stehen hatte, der einen konstant mit skeptischem Blick im Auge behielt. „Wir fragen uns alle, wo du bleibst“, sagte Darcy, und er hörte eine weitere Stimme im Hintergrund, die zu leise war, um sie richtig definieren zu können. „Du wolltest doch längst zu Hause sein. Das Essen ist schon so gut wie fertig und- Ian, könntest du bitte bis nach meinem Telefonat warten und mich dann weiter vollquatschen? Danke. Wo war ich stehengeblieben? Ach ja, das Essen. Also, wenn du jetzt nicht mal langsam nach Hause kommst, wird es noch kalt... und das wird es wahrscheinlich sowieso, weil...“ Darcys Gerede führte sich noch eine Weile lang fort, wie er es bereits von ihr gewohnt war, aber er bekam bei Weitem nicht alles mit, was sie ihm während eines Anfalls an Überschwänglichkeit erzählte. Zu beschäftigt war er damit, eine Lösung für das Problem zu finden, vor dem er im Augenblick stand. „Ja, weißt du... Ich... Ich bin schon auf dem Weg zu euch. Es hat sich etwas verzögert, aber ihr braucht euch keine Sorgen zu machen!“, improvisierte er eine Erklärung, doch die Rechnung hatte er ohne Loki gemacht. „Willst du ihr nicht sagen, dass du heute in Gesellschaft nach Hause kommen wirst?“, flüsterte er ihm mit einem vielsagenden Lächeln zu. Dass er ihn damit ganz schön in Bedrängnis brachte, schien ihn nicht sonderlich zu interessieren. „Ähm, Darcy? Bist du noch da?“, fragte er ein wenig verzweifelt, ohne sich von dem Anderen abzuwenden. „Klar bin ich das. Ist alles okay bei dir? Du klingst irgendwie, als wärst du überfallen worden oder so.“ „Ja, also nein, mir geht's gut“, antwortete er so überzeugend er konnte. „Hör mal... Ihr habt doch nichts dagegen, wenn ich noch jemanden mitbringe, oder?“ „Wen denn?“ „Wen? Naja, jemanden, der... nur für heute Abend... zu Besuch- Aaah! Ja, das ist perfekt...!“ Anerkennend musterte er Loki, der kurzerhand die Gestalt des singenden und Gitarre spielenden Mannes angenommen hatte, den sie auf ihrem Weg vor einem der Läden gesehen hatten. „Thor?“ Darcys Stimme lenkte erneut seine Aufmerksamkeit auf sich. „... Ja?“ „Mann, hast du was Komisches eingeschmissen oder was ist los mit dir?“ „Nein, ich war nur gerade... abgelenkt, sorry. Also, ich habe hier... einen Bekannten, den ich gerne zu uns einladen würde, wenn es keine Umstände macht...?“, formulierte er seine Bitte vorsichtig und war fürs Erste recht zufrieden mit dieser Lösung. Etwas Besseres wäre ihm jedenfalls definitiv in der Eile nicht eingefallen. „Einen Bekannten also? Hmmh...“, machte seine Gesprächspartnerin, bevor sie sich anscheinend etwas von dem Hörer entfernte und sich Jane widmete, ehe sie ihm auch in ihrem Namen ihre Zustimmung gab. „Jane sagt, es ist in Ordnung - wenn dein Bekannter ein anständiger Kerl ist.“ „Ja! Das ist er, keine Sorge“, sagte er erleichtert und gab dem Fremden neben sich, der sein Bruder war, mit einer Geste zu verstehen, dass alles glatt gelaufen war. „Ich bin dann gleich bei euch. Wir sehen uns!“ Ein schweres Seufzen entfuhr ihm, als er auflegte und das Handy zurück in seine Tasche gleiten ließ. Janes Freundin war zu scharfsinnig. Sie merkte es sofort, wenn etwas nicht stimmte. Ein Glück, dass er dank seiner schauspielerischen Leistung und Lokis Verwandlungskünsten noch einmal davongekommen war. Sich auf die Schnelle gute Ausreden auszudenken war noch nie seine Stärke gewesen; darin hatte Loki eindeutig mehr Erfahrung. Umso mehr hatte er einen Grund, jetzt stolz auf sich zu sein. „Also, gut... dann komm mit“, sagte er an seinen Begleiter gewandt. „Nicht, dass das Essen kalt wird!“ Kapitel 3: Dinner ----------------- Kaum, dass Jane ihnen die Tür geöffnet hatte, fing er an, nervös zu werden. Solange er und Loki bloß zu zweit in der Stadt gewesen waren, war es ihm nicht allzu bewusst gewesen. Aber jetzt, wo derjenige, den er vor nicht einmal einer halben Stunde geküsst hatte, und die Frau, mit der er liiert war, sich gegenüberstanden, war es schwer, sich nicht unwohl zu fühlen. Außerdem machte die Tatsache, dass die beiden sich bereits kannten, es kein Stück besser. Er konnte nur hoffen, dass Loki sich nicht aus irgendeinem Grund vor den Anderen zurückverwandelte. „Da bist du ja endlich!“, stieß Jane hervor, ehe sie sich scheinbar leicht irritiert ihren Gast von Nahem besah. „Und Sie sind dann wohl...-“ „Freut mich, Sie kennenzulernen, Ma'am.“ Thor glaubte sich im falschen Film, als er beobachtete, mit welch übertriebener Höflichkeit Loki seine Freundin begrüßte. Nicht nur die seltsame Anrede, er nahm auch noch ihre Hand und hielt es für nötig, sich vor ihr zu verbeugen. Ihr verlegenes Kichern, das sie als Reaktion darauf von sich gab, passte ihm ebenfalls nicht. Das musste ein schlechter Scherz sein. „Mich freut es auch. Aber kommt doch erst mal rein!“, flötete sie und schwang die Türe zu, nachdem sie die Wohnung betreten hatten. „Entschuldigt mich bitte kurz. Und Sie... Fühlen Sie sich wie zuhause!“ Offenbar gut gelaunt begab sie sich in die Küche, während er sich seiner Winterkleidung entledigte und seinen Bruder ansah, der es ihm gleich tat. „Kannst du mir mal verraten, was das gerade sollte? Das hätte doch wirklich nicht sein müssen...!“, sagte er leise. „Erstens war das dafür, dass dir vorhin fast unser ganzes bisheriges Treffen über nichts anderes eingefallen ist, als mich von Jane vollzuschwärmen. Und zweitens muss ich mich schließlich in meine neue Rolle hineinfühlen. Wenn ich nicht überzeugend wirke, könnte unser kleiner Schwindel ganz schnell auffliegen - und das wollen wir doch nicht, stimmt's?“ Er wusste, dass Loki damit in Wirklichkeit nur für ihn sprach, immerhin hatte er ihm mehr als deutlich klargemacht, dass seine heile Beziehung zu Jane ihn nicht im Geringsten interessierte. Damit schien er sich wohl oder übel abfinden zu müssen. „Hey, warum ist es hier eigentlich so kalt?“ Fragend blickte er zu Darcy hinüber, die mit Ian zusammen am gedeckten Tisch saß, als er seinen Gast ins Wohnzimmer führte. „Ich habe doch vorhin am Telefon gesagt, dass die Heizung ausgefallen ist! Hast du mir überhaupt zugehört?“, entgegnete sie empört und Lokis Gesichtsausdruck ließ ihn ahnen, dass es eventuell Schwierigkeiten bedeuten könnte. „Männer... Manchmal seid ihr mir ein Rätsel.“ „Entschuldigen Sie... Können Sie mir sagen, wo ich das Badezimmer finde?“, hörte er seinen Begleiter mit heiserer Stimme fragen. „Da drüben“, antwortete Darcy knapp und zeigte ihm die Richtung, in der er dankend verschwand, wahrscheinlich um seine äußere Form noch einmal gründlich zu überprüfen. Sobald er außer Hörweite war, merkte Thor, wie Darcy ihm an die Schulter tippte und sich etwas zu ihm vorlehnte. „Sag mal... Du meintest doch, dein Bekannter wäre ein anständiger Kerl...“ „Ja, und?“ „Es ist'n Penner“, sagte sie feststellend. Er musste zugeben, da hatte sie Recht. „Tja... das ist er. Stimmt genau“, bestätigte er ausgedehnt, nur um ein wenig Zeit zu gewinnen bis ihm wieder einmal ein Geistesblitz kommen würde. Glücklicherweise kam dieser auch rechtzeitig. „Tut mir leid. Ich habe ihn als einen Bekannten ausgegeben, obwohl ich mich erst ein Mal zuvor mit ihm unterhalten habe. Er ist ein großer Fan von mir, musst du wissen. Als ich ihn vorhin in der Stadt wiedergesehen habe, wie er alleine in der Kälte saß, konnte ich nicht anders, als ihn einzuladen. Und ich dachte... Wenn ich am Telefon erklärt hätte, dass ich einen Obdachlosen mitbringe, hättet ihr bestimmt 'Nein' gesagt...“ Mit dieser Erklärung hatte er sich selbst übertroffen. Er wurde wirklich besser darin. „Verstehe“, gab Darcy schmunzelnd zurück. „Der große Donnergott hat ein weiches Herz. Aw. Na gut, solange Jane damit einverstanden ist... Sie hat mir jedenfalls nicht den Eindruck gemacht, als hätte sie irgendein Problem damit.“ „Nein... mir auch nicht“, murmelte er und bemerkte im selben Moment seinen Bruder, der unverändert und beruhigt wirkend aus dem Badezimmer zurückkehrte. Beinahe gleichzeitig kam Jane mit einem großen Topf aus der Küche, den sie auf dem Esstisch abstellte, bevor sie sich zu ihnen gesellte und sich setzte, ihrem noch immer im Raum stehenden Gast fröhlich zuwinkend. „Setzen Sie sich! Es ist genug für alle da... hoffe ich.“ In der Tat war eine Menge Eintopf in dem Behälter, aus dem sich jeder der Reihe nach eine kleine Portion genehmigte. Loki kam Janes Aufforderung nach und ließ sich neben ihm auf einem etwas zu niedrigen Gartenstuhl nieder, den sie extra für ihren Besuch irgendwo ausgegraben haben musste. Beachtlich, wie viel Mühe sie sich gibt, dachte er. Sie war eine Person, die immer nur das Beste für alle wollte - und er war jemand, der ihre Freundlichkeit ausnutzte und sie schamlos betrog. Das hatte er getan, ja. Er hatte sie betrogen und er tat es noch immer, jetzt, in diesem Augenblick, in dem er ihr etwas vorspielte, das weit von der Wahrheit entfernt war. Ein gütiger Held, der einem armen Mann zur Weihnachtszeit für eine Nacht einen warmen Unterschlupf bieten wollte... Dafür hielten sie ihn. Warum nur hatte er sich in diese fürchterliche Situation gebracht? „Das ist echt lecker, Jane. Seit wann kannst du so gut kochen?“, hörte er Darcy fragen und sah von seinem Teller auf. In Gedanken schwelgen konnte er auch später noch. Abwesend vor sich hinzustarren wirkte womöglich ein wenig verdächtig. „Danke, Darcy. Ich habe geübt, schließlich habe ich einen Mitbewohner mit einem gesunden Appetit“, antwortete Jane lächelnd und schaute in die Runde. „Und ihr? Schmeckt es euch auch...?“ „Wirklich gut.“ Ians Kommentar. „Vorzüglich.“ Lokis Kommentar. Warte, was...? „Ich bin schon ewig nicht mehr in den Genuss gekommen, etwas so Gutes zu kosten. Vielen Dank.“ „Oh, Sie schmeicheln mir...!“ Wieder dieses Kichern. „Jetzt wüsste ich aber gerne mal, wie ihr beide euch eigentlich kennengelernt habt? Erzählt doch mal!“ Unauffällig warf er einen Blick auf seinen Bruder, der nur kurz zu ihm herüberschielte, ehe er anfing zu erzählen, als hätte er die Story bereits Wochen zuvor parat gehabt. Alle hörten ihm gespannt zu, während er sprach. „Das ist eine witzige Geschichte. Ich saß an meinem üblichen Platz auf dem Bürgersteig und spielte auf meiner Gitarre. Es war kalt und ich hatte Hunger, da ich seit drei Tagen nichts Richtiges mehr gegessen hatte. Wie dem auch sei, ich bemerkte diesen Kerl, der, umringt von einer Schar kreischender junger Frauen, in meine Richtung lief. Es war Thor, aber das erkannte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Ich dachte, es wäre nur irgendein Blender, der-“ Niemand bemerkte den leichten Tritt, den er Loki unter dem Tisch verpasste. „Au...?!“ „Was ist los mit Ihnen?“ Jane schaute besorgt zu ihm herüber. „... Nichts, Gnädigste. Meine Knochen spielen nur manchmal nicht mit. Ich bin nicht mehr der Jüngste...“ „Oh. Ich verstehe.“ „Nun, jedenfalls...“, erzählte er weiter, nicht ohne ihm einen vorwurfsvollen Blick zuzuwerfen. „Thor unterhielt sich mit seinen Anhängerinnen, die ihn umschwärmten wie eine Horde Fliegen. Eine von ihnen hatte ihm sogar extra einen Kuchen gebacken, den sie ihm in einer rosa Schachtel vor die Nase hielt. Ich hatte den Eindruck, dass er sich darüber sehr freute, aber es sah auch so aus, als hätte er eigentlich lieber wieder seine Ruhe gehabt. Gehe ich richtig in dieser Annahme, Thor?“ „Ja...! Absolut. Manchmal... brauche ich auch etwas Abstand zu meinen Groupies. Die werden teilweise echt aufdringlich“, sagte er so überzeugend wie möglich, obwohl es tatsächlich eher selten vorkam, dass er dringend Abstand zu besagten Groupies brauchte. „Das dachte ich mir“, fuhr Loki fort. „Irgendwie schaffte er es dann, seine Anhängerinnen loszuwerden. Er sagte etwas zu ihnen, woraufhin sie sich von ihm verabschiedeten und verschwanden, und dann kam er auf mich zu, wechselte ein paar Worte mit mir und schenkte mir schließlich den Kuchen, den er gerade geschenkt bekommen hatte. Ihr glaubt mir sicher, wie dankbar ich ihm dafür war. Von dem Moment an wusste ich, dass ich es mit einem wahren Helden zu tun habe.“ Eine Weile lang war nichts als Schweigen zu vernehmen; ausnahmslos alle schauten wie gebannt abwechselnd zwischen ihm und Loki hin und her und vergaßen dabei vollkommen das Essen. Darcy war die Erste, die ihre Stimme wiederfand. „Rührende Geschichte“, kommentierte sie knapp. Ian sagte nichts, sondern nickte nur scheinbar fasziniert. Jane hörte er leise so etwas nuscheln wie: „Ich hätte nicht gedacht, dass Thor einen Kuchen verschmähen würde“. „Tja, so war es!“, rief Thor, bevor das nächste gemeinschaftliche Schweigen entstehen konnte. „Ihr versteht also sicher, dass ich ihn nicht einfach draußen sitzen lassen konnte, als ich ihn heute wiedergetroffen habe. Übrigens schmeckt dein Eintopf wirklich ganz hervorragend, Schatz!“ „Er ist mittlerweile eiskalt, aber es freut mich, dass du das so siehst, Thor.“ „Apropos 'eiskalt'... Wie lösen wir eigentlich das Problem mit der Heizung? Habt ihr schon versucht, euch darum zu kümmern?“, fragte er vorsichtig. „Nein, wann hätten wir das denn machen sollen? Wir drei haben leider keine Ahnung von solchen Sachen. Nicht mal Darcy hat das Teil wieder in Gang gekriegt“, antwortete Jane, die von der Kälte ziemlich genervt zu sein schien. „Und zum Hilfe holen ist es schon zu spät. Lass uns das morgen regeln. Für eine Nacht kann man das gerade noch aushalten.“ „Ihr könnt das aushalten. Ian und ich verduften nachher wieder“, sagte Darcy und zog wie aus dem Nichts ihr Smartphone hervor. „Aber vorher würde ich gern, wenn ihr nichts dagegen habt, ein Erinnerungsfoto schießen. Auf dass dieser abwechslungsreiche Tag nicht in Vergessenheit gerät!“ Die Reaktionen der Anderen auf ihr Vorhaben hätten unterschiedlicher nicht sein können. Jane schien damit einverstanden zu sein - jedenfalls wirkte sie jetzt fröhlicher als zuvor bei ihrer Erklärung über die Heizung - , Ian schien aus irgendeinem Grund wenig begeistert, und Lokis Mimik war schlichtweg nicht zu definieren. Das war häufig der Fall. Wer wusste schon genau, was in ihm vorging. Wahrscheinlich niemand. Da keiner einen Einwand äußerte, positionierte Darcy sich so hinter dem Esstisch, dass alle in ihrem Blickfeld lagen - er und Loki auf den Stühlen zu ihr nach hinten gewandt; Ian und Jane im Hintergrund geradewegs in die Kamera schauend - , tippte auf dem Bildschirm des Gerätes herum und rief mit zuckersüßer Stimme „Bitte lächeln!“, bevor sie den Auslöser betätigte. Thor lächelte sein charmantestes Lächeln und war gewissermaßen zufrieden, als Darcy bekundete, dass das Bild hübsch geworden sei. Nicht viel später hatte sie sich mit ihrem Freund aus dem Staub gemacht. Anscheinend hatten die beiden noch etwas zu besprechen. Wie auch immer - Tatsache war, dass er nun mit seiner Freundin und seinem in einen Bettler verwandelten Bruder allein in einer kleinen Wohnung war. Noch dazu in einer kalten, kleinen Wohnung. Hatte Darcy ihn am Telefon wirklich darüber informiert, dass die Heizung ausgefallen war? Er musste es überhört haben. Nachdenklich stand er inmitten des Wohnzimmers, während Jane damit anfing, den Tisch abzuräumen, und sah mehr zufällig als alles Andere, wie Loki ihm mit einem unmissverständlichen Zwinkern zu verstehen gab, dass er zu ihm kommen sollte. Er zögerte nicht, seiner Aufforderung nachzukommen, und stellte sich ihm gegenüber, um leise mit ihm reden zu können. „Es gibt da noch eine Kleinigkeit, die wir klären müssen“, flüsterte Loki, und, obwohl Thor sich die Antwort bereits denken konnte, fragte er: „Und die wäre?“ Unauffällig drehte der Andere sich um und sah Jane nach, die gerade zwei leere Gläser in die Küche trug. „Sie.“ Unmittelbar nachdem er es ausgesprochen hatte, ließ er ihn stehen und lief in Richtung des Raumes, in dem 'sie' sich aufhielt. Es dauerte ein paar Sekunden bis ihm dämmerte, dass er irgendetwas im Schilde führen musste. „Warte!“ „Ja...?“ „Was hast du vor? Du willst doch nicht-“ „Keine Angst. Ich werde ihr nichts tun. Lass das nur meine Sorge sein, Bruder.“ Mit diesen Worten setzte er seinen Weg fort, gefolgt von Thor, der jede seiner Bewegungen kritisch im Auge behielt. „Kann ich noch irgendetwas für Sie tun?“, fragte Jane im Vorbeigehen, während sie nach einem Teller griff. Loki setzte eine Unschuldsmiene auf. „Ich würde gerne ein wenig behilflich sein, wenn ich kann“, sagte er mit gespielter Höflichkeit, und man konnte beobachten, wie Jane immer mehr seinem falschen Charme erlag. Trotz seines schmuddeligen Äußerens schien er eine eigenartige Faszination auf sie auszuüben. „Das ist sehr nett von Ihnen, wirklich. Aber das ist nicht nötig, es ist sowieso nicht mehr viel.“ „Sind Sie da sicher?“, fragte er und starrte ihr auf eine mehr als unheimliche Art direkt in die Augen. „Sie sehen so müde aus.“ „Hmm... Ja, ich bin wirklich ein bisschen müde“, murmelte sie. „Sogar hundemüde. Komisch...“ Irritiert trat Thor einen Schritt auf sie zu und betrachtete sie eingehend. Sie sah aus, als würde sie jeden Moment im Stehen einschlafen. „Ist alles in Ordnung mit dir?“ „Ja, alles klar... Hm... Sorry, ich weiß nicht, warum, aber ich glaube, ich bin heute zu nichts mehr zu gebrauchen. Stört es dich, wenn ich schon mal ins Bett gehe? Ich bin einfach zu müde... Und Sie... Ich hoffe, Sie entschuldigen das?“ „Überhaupt kein Problem! Ruhen Sie sich aus, Miss Foster. Es war nett, Sie mal kennenzulernen.“ Ohne ein weiteres Wort hatte sie auf eine für sie sehr untypische Weise alles stehen und liegen lassen und sich ins Schlafzimmer zurückgezogen. Kurz kam ihm der Gedanke, ihr hinterherzulaufen und nach ihr zu sehen, aber er tat es nicht. Stattdessen schaute er zu Loki, auf dessen Gesicht sich ein verschlagenes Grinsen formte. „Armes Mädchen... Sie ist so erschöpft, dass es sie nicht einmal mehr kümmert, was ein abgehalfterter Typ von der Straße in ihrer Wohnung anstellt. Wahrscheinlich ist ihr Vertrauen in dich so groß, dass sie davon ausgeht, du regelst das schon. So wie immer.“ „... Du warst das, oder? Du hast irgendwas in ihrem Kopf verschoben, dass sie plötzlich müde geworden ist!“ Ein grelles Licht blendete ihn, ausgehend von seinem Gesprächspartner, und mit einem Mal war es kein Bettler mehr, der dort in seinem Wohnzimmer stand. Sondern Loki, genauso wie er ihn kannte und nicht anders. „Bis morgen früh wird sie durchschlafen, ohne sich von irgendetwas in ihrer Ruhe stören zu lassen. So leicht wird sie nichts wecken können“, sagte er, noch immer mit demselben Grinsen. Jetzt, da er wieder er selbst war, wirkte es an ihm jedoch wahrhaftiger als zuvor in dem bärtigen Gesicht des Straßenmusikers. „Also dann... mein lieber Bruder... Meine Zeit ist fast um. Mir bleibt noch etwa eine Stunde, bevor ich diese Welt verlassen muss und du mich niemals wiedersiehst“, fügte er wehmütigen Blickes hinzu. „Du hast doch sicher schon eine Idee, wie du die restliche Zeit mit mir verbringen möchtest, nicht wahr? Du hattest doch heute so viele sagenhafte Ideen.“ „Ich... naja...“ Thor merkte, wie Lokis Aussage ihn verlegen machte, und das hatte unterschiedliche Gründe. Dass er in Wirklichkeit gar nicht mehr unter den Lebenden weilte und seine Zeit fast abgelaufen war, hatte er doch tatsächlich beinahe vergessen. Der Verlauf des heutigen Abends war so chaotisch gewesen, dass er nicht mehr wusste, was er denken, tun oder glauben sollte. Eigentlich wusste er überhaupt nichts mehr. „Du weißt, ich hasse es, dich zu drängen, aber... Eine Stunde ist nicht viel, Thor.“ Er sah ihn erwartungsvoll an. „Ich überlasse dir die Entscheidung, wie es jetzt weitergehen soll.“ Natürlich wusste er genau, was Loki von ihm erwartete. Zumindest war er sich ziemlich sicher, es zu wissen. Er war zwar nie ein Experte auf dem Gebiet der Annäherungsversuche gewesen, aber nach allem, was er in den letzten Stunden erfahren hatte, wäre es doch schwer verwunderlich, wenn Loki jetzt mit ihm hätte Tee trinken wollen. „Gut...“, sagte er lächelnd. „Unser Gästezimmer ist nicht besonders groß und etwas unaufgeräumt. Ich hoffe, das stört dich nicht?“ „Nicht im Geringsten“, antwortete sein Bruder. Kapitel 4: Gifts ---------------- Zu seinem Bedauern - und wahrscheinlich noch mehr zu Lokis Bedauern - war das Gästezimmer nicht nur unaufgeräumt und eng, sondern auch verflucht kalt. Kälter als die anderen Räume, was höchstwahrscheinlich daran lag, dass das Fenster hier undicht war. Normalerweise hatte ihm das selten etwas ausgemacht, aber jetzt, da die Heizung nicht funktionierte und es draußen auch noch zu schneien angefangen hatte, war die Kälte unmöglich zu ignorieren. Während er für einen Moment in den Anblick der Schneeflocken vertieft war, die langsam durch die Dunkelheit des Nachthimmels schwebten und diesen so ein wenig erhellten, registrierte er leise Lokis Stimme hinter sich, die undeutlich etwas murmelte, das sich wie 'Verdammt' anhörte. Als er sich zu ihm umdrehte, erklärte sich von selbst, worauf sein Fluchen sich bezog. „... Bei der Temperatur hast du sicher Schwierigkeiten, deine Gestalt zu wahren, oder?“ „Nein, Thor. Wie man sieht, fällt mir das ganz leicht. Ich habe nur zum Spaß diese hässliche Form angenommen“, sagte er in einem überaus sarkastischen Tonfall. Seine roten Augen funkelten ihn auf eine Weise an, die er nicht richtig deuten konnte, aber er war sich sicher, dass Loki sich in diesem Raum wohl nicht entspannen können würde, wenn er seine äußere Form nicht in den Griff bekam. Seufzend widmete er sich wieder dem Fenster, um die Rolläden herunterzulassen, ehe er ein paar Schritte auf seinen Bruder, der nun absolut nichts mehr von einem Asen an sich hatte, zuging und ihn mitfühlend ansah. „Kannst du nicht irgendeinen Trick anwenden, damit du nicht so aussehen musst...?“, fragte er vorsichtig und hatte noch immer seine Probleme damit, die Mimik seines Gegenübers richtig zu verstehen. Als Jotun aus Fleisch und Blut erschien ihm sein Gesicht so fremd, obwohl es ihn im Grunde nicht einmal stark veränderte. „Wie hättest du mein Aussehen denn gerne?“ Mit einer Gegenfrage dieser Art hatte er offen gestanden nicht gerechnet. Bevor er jedoch Gelegenheit hatte, darauf einzugehen, umgab Loki plötzlich ein aufblitzendes Licht, das Thor reflexartig die Augen zukneifen ließ. Als er sie wieder öffnete, schluckte er schwer. Er stand Jane gegenüber. „Gefällt es dir so besser?“, fragte sie spöttisch, ihre zierlichen Züge zu einem angestrengten Lächeln verzogen. Thor musste sich klar machen, dass es nicht wirklich Jane war, die da vor ihm stand. Aber Loki hatte sie überzeugend getroffen, das konnte er ihm nicht absprechen. Vermutlich musste er all seine Konzentration dazu aufbringen, nicht wieder die Kontrolle über seine Form zu verlieren. Sprachlos beobachtete er, wie 'Jane' prüfend an sich herunterschaute und sich ihm dann wieder zuwandte, mit dem typischen Grinsen, das er unter Hunderten als das seines Bruders identifiziert hätte. Unschuldig zu ihm aufblickend griff sie ihm mit einer Hand in den Nacken und zog ihn ohne Vorwarnung in einen Kuss; nicht langsam und auch nicht schnell. Fordernd. Das war das treffendste Wort, um ihre Berührungen zu beschreiben. Thor ließ es zu, was sie mit ihm tat, erwiderte ihren Kuss, der zunehmend leidenschaftlicher wurde, während er ihre Hand erst auf seiner Brust und später unter seinem Shirt spürte. Das ist nicht Jane, sagte er sich erneut in Gedanken. Es waren ihre Lippen und es war ihr Körper. Und trotzdem fühlte es sich nicht an wie sie. Es war nicht zu vergleichen. Loki ging einen Schritt rückwärts, nachdem er sich von ihm gelöst hatte, und musterte ihn durch Janes Augen von oben bis unten. „Das scheint Eindruck bei dir hinterlassen zu haben“, sagte er mit ihrer Stimme. Seine Haltung war sichtlich angespannt, vermutlich ebenfalls wegen der Anstrengung, die seine Verwandlung erforderte. Allerdings hatte er vollkommen Recht mit dem, was er sagte. Es hatte Eindruck bei ihm hinterlassen. Und wie es das hatte. Doch er konnte sich kaum vorstellen, dass es Loki gefiel, die Rolle seiner Konkurrentin einzunehmen, jetzt, wo sie alleine und ungestört waren. Er selbst betrachtete ihn und Jane nicht einmal als etwas, das sich Konkurrenz nennen sollte. Sie beide waren ihm wichtig, wenn auch auf unterschiedliche Weisen. Aber Loki betrachtete es so, daran bestand kein Zweifel. Es war für ihn wie ein Spiel, das er gewinnen wollte. Ein Unentschieden duldete er nicht. Und er würde ihm geben, was er wollte, in dieser einen Nacht. Es war seine letzte Nacht und er würde ihm alles geben, was er wollte - nur um seinen Bruder noch ein einziges Mal glücklich zu sehen, bevor ihre Wege sich endgültig trennten. „Loki... Warum tust du das?“, fragte er rau, selbst überrascht von der Erregung, die bereits in seiner Stimme lag. „Diese Gestalt meine ich. Wieso...?“ „Oh. Ist das etwa nicht gut?“ Eine Handbewegung seinerseits ließ ihn ein weiteres Mal sein Äußeres verändern, als wäre es etwas Alltägliches, nicht Erwähnenswertes. „So vielleicht?“ Leicht erschrocken musste Thor feststellen, dass es nun Darcy war, die ihn mit einem undefinierbaren Blick durchbohrte, doch auch ihre Erscheinung blieb nicht lange bestehen. Wenige Sekunden später fand er sich Auge in Auge mit Sif wieder, die durch ein bloßes Fingerschnippen im nächsten Moment völlig unbekleidet in verführerischer Pose vor ihm stand. „Oder ist es dir so am liebsten?“, hauchte sie, in einer Art zu ihm vorgebeugt, die weder wirklich zu ihrem Wesen passte noch aufgesetzt wirkte. Es war schlichtweg nicht sie. „Genug“, flüsterte Thor. Ihm wurde merklich wärmer, mit jedem Atemzug, doch das Gefühl der Begierde, das sich langsam immer mehr in ihm ausbreitete, wurde begleitet von Schuldgefühlen; tiefen Schuldgefühlen, die sein Gewissen in Beschlag nahmen und nicht mehr losließen. „Hör auf damit. Du bist weder Jane noch Darcy noch Sif. Auch wenn du ihnen noch so sehr gleichst... Das ist nur eine Hülle. Für mich sollst du dich nicht verwandeln.“ „Nein?“ Genauso plötzlich, wie er innerhalb kürzester Zeit das Aussehen drei völlig unterschiedlicher Personen angenommen hatte, stand Loki nun wieder in seiner ursprünglichen Form dort - das kalte Blau auf seiner Haut durchzogen von feinen Musterungen, die sich über seinen gesamten Körper erstreckten. „Dann ist es also das, was du willst?“ Die Temperatur schien ihm nicht im Entferntesten etwas auszumachen; zumindest physisch. Kein Fünkchen Anstrengung war ihm mehr anzusehen, jetzt, da er seine Magie nicht benutzte. Dafür war dort etwas anderes. Trotz der Eleganz, die seine gewissermaßen respekteinflößende Jotunengestalt ausstrahlte, wirkte er auf ihn seltsam schwach. Es lag nicht an seiner Statur. Obwohl er auf den ersten Blick keinen sonderlich kräftigen Eindruck machte, da er im Vergleich zu Thor eher zierlicher Natur war, waren deutlich Muskeln zu erkennen, die sich auf seinem wohlgeformten Körper abzeichneten und davon zeugten, dass er alles andere als schwächlich war. Es war viel eher eine innere Schwäche, die er glaubte, ihm anzusehen - selbst bei seinen verfremdeten Gesichtszügen, in denen er bisher nicht hatte lesen können. „Glaubst du mir nicht, dass du mir auch so wie du jetzt bist gefällst?“, fragte Thor, seine eigene Nervosität so gut es ging überspielend. „Soll ich es dir beweisen?“ Anstatt auf eine Antwort seines Gegenübers zu warten, die er ohnehin nicht bekam, legte er einen Arm um Lokis Hüften und gab ihm einen Kuss, sanft und versöhnlich, wie zur Bestätigung, dass das, was sie hier taten, richtig war. Er selbst brauchte diese Bestätigung. Nie im Leben hätte er sich ausgerechnet, dass er einmal in eine solche Situation geraten würde; nicht hier, nicht an diesem Tag, nicht mit dieser Person. Und doch wäre es eine glatte Lüge gewesen, hätte er behauptet, er sei der Sache abgeneigt. Thor wusste nicht, ob es richtig war. Aber falsch war es definitiv nicht. Er spürte Lokis Unsicherheit, während er mit Lippen und Zunge seinen Hals hinabglitt, und hörte, wie ihm ein leises Seufzen entfuhr, als er an seinem Schlüsselbein angelangt war. Wie auch immer es hierzu gekommen war - es sollte nicht aufhören. Er wollte ihn. Für den Rest seiner geringen Lebensdauer würde er ihm gehören, und er würde es gewiss bereuen, ließe er diese Gelegenheit verstreichen. Lokis Wunsch zu erfüllen war alles, was im Augenblick zählte. Sein Duft, die Kühle seiner nackten Haut und die zischenden Laute, die er hin und wieder als Reaktion auf seine Berührungen von sich gab, trieben ihn in eine Art Rausch. Er wollte mehr, mehr von ihm. Doch bevor er dazu kam, einen Schritt weiterzugehen, wurde er zurückgehalten. Fragend blickte er Loki an, dessen rechte Hand ihn bestimmt auf Abstand hielt, und versuchte zu erkennen, was in ihm vorging. „Sieh mich nicht so an...“, sagte er, das Gesicht von ihm abwendend. „Ich glaube dir nicht. Wie könntest du diesen Körper dem einer Asenfrau - oder von mir aus auch dem einer Menschenfrau - vorziehen? Du kannst das Jotunenvolk nicht ausstehen. Auch wenn du mich... küsst, beweist mir das gar nichts.“ „Hör zu, Loki... Ich glaube, du selbst hast ein viel größeres Problem mit dir als ich es habe“, gab er ruhig zurück. „Es ist mir egal, von wem oder was du abstammst. Du bist und bleibst derjenige, mit dem ich aufgewachsen bin... mit dem ich fast mein ganzes bisheriges Leben verbracht habe und mit dem ich diese Nacht verbringen will. Ganz gleich, wie du aussiehst.“ Entschlossen, seine Zuneigung zu ihm unter Beweis zu stellen, lächelte er ihn an, mit einer beiläufigen Geste den kleinen Schalter hinter sich in der Wand betätigend. „Ist es dir lieber, wenn das Licht aus ist? Dann musst du dich selbst nicht sehen...!“, lachte er, bemüht, seine Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen. Es dauerte nicht lang, bis er Konturen im Raum erkennen konnte. „Mach dich nicht über mich lustig“, hörte er Loki leise sagen. Er schien sich nicht zu bewegen, und, obwohl er nicht allzu viel von ihm sah, wusste er, dass er eben irgendetwas Falsches gesagt haben musste. „Das tue ich nicht! So war das nicht gemeint, ehrlich!“, versuchte er, sich für das zu entschuldigen, was Loki anscheinend verärgert hatte. Warum war es bloß heute so schwierig mit ihm? Nein, nicht bloß heute. Wenn er darüber nachdachte, war sein Bruder schon während ihrer Jugend häufig aus für ihn nicht nachvollziehbaren Gründen aufgewühlt gewesen, doch wenn man ihn darauf angesprochen hatte, hatte er nicht darüber reden wollen. „Weißt du... Ich finde es ja reizend, was du mir hier gerade erzählt hast. Allerdings habe ich dir auch etwas zu sagen, Thor“, flüsterte er. Seine Stimme klang mit einem Mal seltsam verbittert. „Ich weiß nicht, was diese Minuten dir bedeuten... Aber mir bedeuten sie alles. Du kannst es dir wahrscheinlich nicht vorstellen. Für dich ist das wahrscheinlich nur ein nebensächlicher Abschied von einem Familienmitglied, an den du irgendwann keinen Gedanken mehr verschwendest. Eine kleine Abwechslung, bevor du dich wieder ganz deiner Frau widmest und weiterlebst, als wäre nichts gewesen. Aber weißt du, was es für mich ist?“ Beinahe traute er sich nicht, etwas darauf zu erwidern. Es gab so viel, das er jetzt gern zu ihm gesagt hätte, doch letztendlich waren es nur drei Worte, die er leise herausbrachte: „Sag es mir!“ Als hätte er eine Ewigkeit auf diesen Moment, auf diese winzige Aufforderung von ihm gewartet, nahm Loki einen tiefen Atemzug, bevor er anfing, es ihm zu erklären. „Damals... als wir noch Kinder waren, habe ich zu dir aufgeschaut“, sagte er. „Nicht wegen deiner Kraft oder deiner Fähigkeiten. Darauf war ich nie neidisch. Aber du hattest immer etwas, das ich nicht hatte: Freunde. Du hattest andere Kinder um dich herum, die dich offen und ehrlich bewundert haben, die dich mochten und mit denen du Spaß hattest. Eine andere Art von Spaß als wir zuhause mit unseren Eltern hatten. Ausgelassener, sorgloser... frei von Regeln. Du kanntest diese Art von Spaß, von Freiheit, die ich nicht kannte... weil ich meist alleine war, in der Nähe unserer Mutter, und mir einredete, solche albernen Freunde überhaupt nicht zu brauchen. Irgendwann kam der Tag, an dem mir bewusst wurde, dass ich mir etwas vormache, wenn ich so denke. Das war abzusehen gewesen. Ich hätte ganz schön naiv sein müssen, das nicht zu merken. Also habe ich gelernt, einfach damit zu leben, dass du beliebt warst und ich eben nicht. Einige Zeit später hast du angefangen, Mädchen mit anderen Augen zu betrachten als Jungen. Ich hatte den Unterschied damals nicht verstanden, bis du ihn mir erklärt hast. Erinnerst du dich an unser Gespräch, das wir geführt haben, als wir alleine waren, ohne unsere Eltern oder deine Freunde?“ Thor musste kurz überlegen, dann fiel es ihm verschwommen wieder ein. „Das ist lange her, aber... ja, ich weiß es noch“, antwortete er, nicht sicher, worauf Loki hinaus wollte. „Dieses Gespräch... hat etwas verändert zwischen uns. Ich glaube, du hast es nicht wirklich mitbekommen, aber obwohl du mir alles, was es zu wissen gab, genauestens erklärt hast, war ich danach ziemlich durcheinander. Während wir darüber geredet haben, habe ich versucht, mir vorzustellen, wie es wohl ist mit einem Mädchen. Was das für ein Gefühl sein muss, das du mir beschrieben hast. Als du mich nach unserem Gespräch seit Langem das erste Mal wieder umarmt hast, habe ich dieses Gefühl bekommen, von dem ich dachte, ich müsse es haben, wenn ich mit einem Mädchen zusammen bin. Von da an war mir klar, dass mit mir etwas nicht stimmt.“ Er machte eine kurze Pause, bevor er weitersprach, und Thor glaubte langsam zu begreifen, was Loki ihm sagen wollte. „Manchmal habe ich dich gesehen, mit deinen Freundinnen. Und zum ersten Mal war ich wirklich eifersüchtig. Nicht auf dich, sondern auf sie. Ich habe es anfangs darauf geschoben, dass sie mehr Zeit mit dir verbracht haben als ich. Aber, wie es nicht anders zu erwarten gewesen war, hat es nicht lange funktioniert, mir das einzureden. Als ich feststellte, dass nicht die Zeit, die sie mit dir verbrachten, mich eifersüchtig machte... sondern die Tatsache, dass sie Seiten von dir kannten, dir mir immer unbekannt bleiben würden... Ich konnte es nicht dabei belassen und habe versucht, mir das auszutreiben. Ich habe alles getan, um nicht mehr daran zu denken, und am Ende war ich so frustriert, dass ich mich am liebsten für den Rest meines Lebens eingeschlossen hätte, weil es nicht ging...“ „Komm schon, Loki... So schlimm ist es doch nicht. Jetzt übertreibst du aber...“ „Ich übertreibe?“, zischte er aufgebracht. „Du hast keine Ahnung, wie es mir die ganze Zeit damit ging...! Ich hielt mich für krank, dass ich so etwas für meinen eigenen Bruder empfand... Ich habe es weder fertiggebracht, darüber zu sprechen, noch irgendwen in meine Nähe zu lassen! Bis heute hat mich niemand berührt, während du dich ständig mit irgendwelchen Frauen vergnügt hast. Weißt du, wie es für mich war, das immer sehen zu müssen...?“ „Moment“, unterbrach Thor ihn, als ihm schlagartig etwas bewusst wurde. „Bis heute hat dich niemand- Verstehe ich das richtig? Du hattest tausend Jahre lang keinen Sex? Ist das wahr?“ Loki seufzte schwer, und Thor befürchtete, ihn mit dieser Frage nur unnötigerweise noch mehr heruntergezogen zu haben. „Ich habe es ein einziges Mal ausprobiert... mit einer unserer Bediensteten. Aber ich konnte es nicht. Es ist nichts passiert zwischen uns“, antwortete er hörbar angespannt. „Verstehe.“ Unglaublich. Unglaublich, wie viel sein neu erlangtes Wissen doch änderte. Eigentlich änderte es so gut wie alles. Und das Schlimmste war, dass er es noch nicht einmal nachempfinden konnte. Er hatte immer bekommen, was er wollte - von Anfang an. Sein Bruder jedoch hatte all das, was er als selbstverständlich erachtete, sein ganzes Leben lang nie besessen. So viele Jahrhunderte lang war niemand da gewesen, mit dem er reden konnte. So gesehen war es kaum verwunderlich, dass er irgendwann angefangen hatte, sich gegen die Anderen zu stellen, die ihm schließlich auch selten etwas entgegengebracht hatten außer Ignoranz oder Verachtung. Thor konnte sich nicht einmal im Ansatz vorstellen, wie es sein musste, immer alles mit sich selbst ausmachen zu müssen. Aber Loki war es von klein auf so ergangen. Und dann war da noch diese schreckliche Sache, die er und seine Freunde ihm damals in Asgard angetan hatten, als Strafe für einen lächerlichen Streich... Wie viel von dem was Loki getan hatte war in Wirklichkeit seine Schuld, weil er ihn, anstatt sich wie ein guter Bruder um ihn zu kümmern, die ganze Zeit, ohne es selbst zu merken, gedemütigt hatte? Es konnte einfach nicht wahr sein. Er hatte alles falsch gemacht. Verunsichert blieb er in der Dunkelheit stehen und rührte sich nicht. Er wollte Loki in den Arm nehmen und ihm sagen, dass es ihm leid tat. Aber war es wirklich das, was er jetzt hören wollte? Reichte eine Zeitspanne von weniger als einer Stunde überhaupt aus, um wiedergutzumachen, was er mit seiner Starrsinnigkeit angerichtet hatte? So gut er auch für gewöhnlich mit den unterschiedlichsten Situationen umgehen konnte - seine derzeitige Lage überforderte ihn. Er konnte nichts tun. „Willst du mir nicht... etwas sagen?“, hörte er die Stimme seines Gegenübers, leise, als würde sie sich fast im Raum verlieren. Zögerlich sah er ihn an, inzwischen gewöhnt an die durch spärlich vorhandene Lichtquellen verschleierte Sicht. „Ich... weiß es nicht“, flüsterte er. „Würdest du mir verzeihen, wenn... ich dich als dein Bruder ehrlich darum bitte?“ Loki trat einen Schritt auf ihn zu, sodass nun kein Abstand mehr zwischen ihnen bestand. „Nein, Thor“, antwortete er. Seine Nähe war wie ein eisiger Luftzug an einem verschneiten Tag wie diesem. „Du hast dich heute schon einmal bei mir entschuldigt. Du sollst mich nicht um Verzeihung bitten. Was ich von dir verlange, ist lediglich, dass... du mich dieses eine Mal nicht als deinen kleinen Bruder betrachtest. Das ist alles...“ Es war ein bescheidenes Anliegen, doch es schien ihm so wichtig zu sein, dass er es ihm unmöglich abschlagen konnte. Lange, lange Zeit hatte er in ihm nichts als einen Bruder gesehen; einen Bruder, der seltsam anders war als er selbst und alle, die er gekannt hatte. Am Ende hatte erst etwas Furchtbares passieren müssen, damit er die Wahrheit erkannte. „Einverstanden, Loki“, sagte er, während er ihn, zitternd von der Kälte, in seine Arme schloss, fast so wie früher, als noch nichts zwischen ihnen gestanden hatte. „Wenn das dein Wunsch ist...“ Hitze und Kälte erfassten ihn gleichermaßen, als er Lokis Haut auf seiner spürte. Das Oberteil, das er sich kurzerhand abgestreift hatte, lag irgendwo in der Schwärze des Zimmers auf dem Boden, während er auf dem Bett über Loki kniete, dessen grazile Hände federleicht über seinen entblößten Oberkörper strichen, als hätte er dies schon unzählige Male getan. Einzig der Blick in seine rot glühenden Augen verriet ihm, dass dem nicht so war. Hatte er anfangs noch die Mimik der von dünnen Linien durchzogenen Züge nicht deuten können, so las er jetzt umso mehr in ihnen - Begierde und Verlangen genauso wie Angst und Unsicherheit. Und zum ersten Mal fühlte er mit absoluter Sicherheit genau dasselbe. Das Verlangen danach, sich diesen nahezu perfekten, wenngleich auch so fremden Körper zu Eigen zu machen, gepaart mit der Unsicherheit und der Angst vor dem Ungewissen. Der Angst, wieder etwas falsch zu machen. In gewisser Weise war es beruhigend zu wissen, dass er nicht der einzige war, dem es so ging. Loki spürte all das mit großer Wahrscheinlichkeit noch um einiges intensiver als er, wenn er es auch nicht direkt zeigte. Eine beinahe unwirkliche Schönheit lag in der Art, in der er ihn von unten herauf ansah, jede kleinste Bewegung genau verfolgend, umgeben von der nächtlichen Dunkelheit. Er schien nahezu eins zu sein mit ihr. Der Anblick war so surreal, dass er fürchtete, das Bild vor seinen Augen könne sich jeden Moment auflösen und er sich allein und verlassen in seinem Bett wiederfinden. Doch nichts dergleichen geschah; egal, wie lange er den Anderen betrachtete, wie viel er von ihm spürte oder schmeckte, und wie oft er ihn trunken vor Lust zum Stöhnen brachte. Nichts löste sich auf, und bald war die Befürchtung, sich nicht länger beherrschen zu können, größer als alles andere. Lokis unnahbare Fassade durchbrochen zu haben, war etwas, das er längst nicht mehr zu hoffen gewagt hatte. Nicht in diesem Ausmaß. Zu erleben, wie er sich ihm öffnete, sich ihm mit Leib und Seele hingab, ließ den letzten Rest an brüderlichen Gefühlen, die er bis vor Kurzem noch für ihn gehegt hatte, ersterben, nur um einem anderen, weitaus tiefergehenden Gefühl Platz zu schaffen, das er in der Form bisher nicht gekannt hatte. Er wollte die Welt mit all ihren Regeln hinter sich lassen und mit ihm zusammen über die Grenze schreiten, wenigstens bis Anbruch des nächsten Tages - bis er ihn für alle Ewigkeit loslassen musste. Nein... Er durfte nicht daran denken. Die Vorstellung war zu schwer zu ertragen. Ausgerechnet jetzt, wo sie sich wiedergefunden hatten und wo endlich alles gut war, sollte er... „Was ist los...?“ Thor bemerkte die Verständnislosigkeit in Lokis Stimme und in seinem Blick, als er in seinem Tun innegehalten und sich von ihm gelöst hatte. „Warum hörst du auf...?“ „Musst du mich wirklich... wieder verlassen?“, fragte er leise, und als er keine Antwort bekam, fügte er lauter hinzu: „Ich will nicht, dass du gehst...!“ Loki schaute stumm zur Seite, so als wisse er nichts darauf zu erwidern. Seine Haare waren durcheinander, seine Atmung deutlich beschleunigt. Hinter seiner so makellosen Maske wirkte er fast hilflos. Verletzlich und hilflos. „Bleib bei mir, Loki. Wir können die Vergangenheit ruhen lassen und neu anfangen.“ „Gutgläubiger Narr...! Wie stellst du dir das vor? Soll ich vielleicht jedes Mal eine andere Gestalt annehmen, sobald deine Freunde in der Nähe sind? Wo, denkst du, soll ich denn hin?“ „Wir finden eine Lösung! Irgendwie wird es funktionieren und wir werden alles nachholen, was wir damals versäumt haben...“ „Selbst wenn du eine Lösung finden würdest... Es geht nicht. Ich kann hier nicht bleiben, und das weißt du.“ Betrübt sah er ihn an, in dem Wissen, dass dies die letzte Gelegenheit sein würde, etwas nachzuholen. Die letzte Gelegenheit, ihm nah zu sein. Doch so oft er es sich auch vor Augen führte, er wollte es nicht wahr haben. Wäre Loki doch gar nicht erst aufgetaucht, sondern fortgeblieben... Es wäre alles so viel einfacher gewesen. Er hätte nicht mit diesem furchtbar schlechten Gewissen zu kämpfen, sondern würde glückliche und zufriedene Weihnachtstage mit Jane verbringen, sich auf Midgard einleben und an die gemeinsame Zukunft mit seiner Freundin denken, anstatt sich Gedanken über die Vergangenheit zu machen. Offenbar wollte das Schicksal es aber nicht so, denn sonst läge er nicht anstelle von Jane mit seinem Adoptivbruder im Bett, den er auf eine seltsame Art begehrte, die außerhalb seines eigenen Verständnisses lag. „Es ist in Ordnung, Thor“, hörte er ihn leise sagen, und erschauderte unter den Berührungen seiner kalten Hände auf seinem Rücken. „Noch bin ich da.“ „Ja... ich weiß“, antwortete er; die letzten Worte, die vorerst fielen. Dann wurde es still. Bis auf ihre ungleichmäßigen Atemzüge, die er bald nicht mehr voneinander unterscheiden konnte, hatte sich wie auf einen Schlag eine undurchdringliche Ruhe zwischen ihnen ausgebreitet, die so viel mehr sagte als irgendein Wort es in diesem Moment gekonnt hätte. Jede Geste; jede Bewegung, die einer von ihnen vollführte, schien wie im Rausch zu geschehen, als wären es nicht mehr sie selbst, die die Kontrolle über ihre Handlungen ausübten, sondern ein fremder, noch unentdeckter Teil in ihnen, der nun erstmals zum Vorschein kam. Begierig, mehr von ihm zu spüren, beugte Thor sich ein Stück weiter herunter und presste seine Lippen auf die des Anderen, woraus sich schnell ein tiefer und leidenschaftlicher Kuss entwickelte, während er eine Hand über Lokis Oberschenkel streichen ließ, langsam zu seiner Mitte hin. Der lustvolle Laut, den er ihm damit entlockte, trieb ihn dazu an, weiterzugehen, seine Erregung bis in ungeahnte Maße zu steigern; und er intensivierte seine Berührungen, von Sekunde zu Sekunde, bis er das Gefühl hatte, Loki mit jedem weiteren Kontakt dieser Art an den Rand des Wahnsinns zu treiben. Er wusste plötzlich, wie er fühlte; wie er all die Jahre gefühlt hatte, und er wollte diese neue Verbundenheit zwischen ihnen nicht verlieren. Nein - er wollte noch so viel mehr. Loki blickte ihn fragend an, als Thor von ihm abgelassen und sich ein Stück weit aufgerichtet hatte, schien jedoch zu begreifen, was er vorhatte, als er ihn weiterhin beobachtete. Kurz zuckte er zusammen, als Thor seine Hand erneut zwischen dessen gespreizten Beinen positionierte und damit anfing, ihn auf den weiteren Verlauf der Nacht vorzubereiten; vorsichtig und immer bedacht, nichts zu überstürzen. Trotzdem war seine Anspannung ihm deutlich anzusehen - sein leicht schmerzlich verzogenes Gesicht und die Anstrengung, mit der er das Laken umklammert hielt, zeugten davon, dass er es definitiv nicht gewohnt war, was er mit ihm tat. Würde er es nicht mit eigenen Augen sehen und hätte Loki ihm nicht bereits zuvor gestanden, dass er keinerlei Erfahrung in solchen Dingen hatte... er hätte es nicht geglaubt. Tatsächlich war er immer davon ausgegangen, dass Loki jemand war, der sich gern hier und dort vergnügte, sowohl mit Frauen als auch mit Männern, und sich einfach nahm, was er wollte, wenn ihm danach zumute war. Dass er ihn wohl vollkommen falsch eingeschätzt hatte, wurde ihm jetzt allzu klar bewusst. Mit beiden Armen auf der Matratze abgestützt überließ Loki sich ihm schweigend; nur gelegentlich schloss er seine Augen für einen Moment, scheinbar überwältigt von der ungewohnten Nähe und dem Gefühl, das sie mit sich brachte. Dann wieder öffnete er sie, um ihn dabei ansehen zu können; um keine seiner Blicke zu versäumen. Noch immer fragte er sich, ob das, was sich hier abspielte, wirklich geschah oder ob es nicht doch bloß ein eigenartiger Traum war. Jedoch entschied er für sich, dass es keine Rolle spielte - alles, was er wollte, war, es bis zum Ende auszukosten. Egal, was danach passieren würde. Kein Geräusch störte die inzwischen Teil von ihnen gewordene Ruhe, abgesehen von dem leisen Rascheln des Stoffes, das verursacht wurde, als Thor sich entschlossen seiner noch übrig gebliebenen Kleidung - der mittlerweile viel zu engen Jeans und der darunter befindlichen Shorts - widmete, die er mit einem Griff auszog und achtlos in der Dunkelheit verschwinden ließ, irgendwo auf dem Boden, wo auch sein Oberteil zuvor gelandet war. Loki, der sich, wie es aussah, wieder etwas gefasst hatte, setzte sich auf und musterte eingehend Thors nun ebenfalls nackten Körper. Die in dieser Situation etwas absurde Frage, ob er als Jotun mit seinen roten Augen wohl darauf spezialisiert war, im Dunkeln besser sehen zu können, schoss ihm durch den Kopf. Doch lange konnte er sich auf diesen Gedanken nicht konzentrieren, da sein Gegenüber sofort wieder seine volle Aufmerksamkeit auf sich zog. Lächelnd, dann auf eine für ihn äußerst untypische Art kichernd, sah Loki starr an ihm vorbei, zur Tür oder sonstwohin, offenbar nervöser geworden als er es normalerweise von sich hätte preisgegeben. „Ver-dammt“, murmelte er betont in die Länge gezogen, noch immer mit diesem unpassenden Lächeln im Gesicht. „Hey, bin ich wirklich so unattraktiv...?“, scherzte Thor, und Loki vermied es sichtlich, ihn direkt anzusehen. „Was ist denn los mit dir? Hast du es dir anders überlegt?“ Stumm betrachtete sein sonst so schwer aus der Ruhe zu bringender Adoptivbruder das Bettlaken, und gab erst, als Thor ihm sanft eine Hand auf die Schulter legte, eine Reaktion von sich. „... Nein, ich habe es mir nicht anders überlegt“, sagte er nach einer Weile, ohne den Blick vom Laken abzuwenden. „Es kommt mir nur gerade alles sehr unwirklich vor... und ich bin nicht sicher, wie viel von dieser verzerrten Realität ich noch aushalte.“ „Heißt das etwa, du gestehst dir tatsächlich Schwäche ein, Br-“ Er schaffte es gerade rechtzeitig, sich zurückzuhalten und das Wort nicht auszusprechen. Loki wollte von ihm nicht so genannt werden, doch es war die Macht der Gewohnheit, die ihn überkommen hatte. Der Ausdruck in Lokis Gesicht war seltsam leer geworden. „Darf ich nicht ein einziges Mal vor meinem eigenen Bruder Schwäche zeigen...?“, fragte er, und es wirkte so traurig, dass ihm nicht einmal Zeit blieb, von dem eben Gesagten überrascht zu sein. Das Bedürfnis, ihn wieder aufzuheitern, überwog, und ohne lange nachzudenken, umfasste er Lokis Handgelenk, führte es zu sich und gab ihm einen Handkuss, wie ein ehrfürchtiger Diener es bei seiner Königin tat. „... Hey! Was...“, protestierte er und erwiderte endlich, mit einer Mischung aus Verwunderung und Scham, seinen Blick. „Natürlich dürft Ihr Schwäche zeigen, Prinz Loki... sofern Ihr denn welche besitzt.“ Die Art, auf die er ihn anschaute, als hätte er völlig den Verstand verloren, war unbezahlbar. „Du spinnst ja...!“, sagte er, halbherzig bemüht, seine Hand aus Thors Griff zu befreien. „Willst du, dass ich dich auslache?“ „Solange du nur etwas lockerer wirst...“, gab er zurück, was Loki mit einem leisen Seufzen quittierte. Sein Handgelenk noch immer umschlossen zog er ihn kurzerhand zu sich, sodass er diesmal über ihm kniete, aufrecht, von Angesicht zu Angesicht auf dem Bett in dem kleinen Gästezimmer. Er wollte noch etwas zu ihm sagen, irgendetwas, doch er entschied, dass es nicht mehr nötig war; und schon bald gab es nur noch das Spüren des jeweils Anderen, das Gefühl von Haut auf Haut, und die Wärme, die sie die Kälte vollends vergessen ließ. Ein flüchtiger Blick in Lokis Augen genügte ihm, um zu wissen, dass er genauso danach verlangte, weiterzugehen, ihn ganz für sich zu vereinnahmen, so wie auch er es wollte, wie er ihn wollte; und ohne einen weiteren Gedanken an Nebensächlichkeiten zu verschwenden, brachte er seine Hände an Lokis Hüften und überließ ihm die Führung, als er sich zitternd und langsam auf seinen Schoß sinken ließ, sein schlanker Körper, heiß und kalt zugleich, mit dem Seinen vereint. Schier überwältigt von der plötzlichen Intensität, mit der er Lokis Gewicht auf sich wahrnahm, keuchte er ungehalten auf, hob ihm reflexartig sein Becken entgegen, und zuckte seinerseits von einem kurzen Schmerz überrascht zusammen, als Lokis Hände sich fest in seinen Rücken krallten. Sein Atem streifte Thors Nacken, und er musste sich einen Moment lang beherrschen, sich nicht zu bewegen. Loki sollte sich die Zeit lassen, die er brauchte, um sich an das Gefühl zu gewöhnen. Allerdings stellte es sich als schwieriger heraus als ihm lieb war, sich zurückzuhalten. Niemals hätte er erwartet, dass es sich so unheimlich gut anfühlen würde mit ihm. Er konnte nicht sagen, ob es besser war als er es mit seinen bisherigen Partnern erlebt hatte. Es war schlichtweg anders. Vielleicht war es die besondere Vertrautheit, die diesen Unterschied ausmachte. Vielleicht war es auch das Wissen, dass diese Bindung mit allem, was sie bedeutete, einmalig sein würde. Egal, was es war - es war nicht wichtig. Loki sah ihn an, zögerlich, und es war wie eine Welle verschiedener Emotionen, die ihn innerlich erfasste und ihn elektrisierte, quälend und gleichzeitig so erlösend. Er spürte die stetig wachsende Spannung, die zwischen ihnen bestand, und die Abhängigkeit; die Notwendigkeit, den Anderen zu berühren, ihm alles zu geben, was er hatte, und umgekehrt alles zu nehmen, was er ihm gab. Nicht mehr und nicht weniger. Die Arme eng um sein Gegenüber geschlungen verharrte er in der Position, genoss die Nähe, als Loki ihn von sich aus küsste, vergrub eine Hand in seinen dunklen Haaren, die ihm wild über die Schultern fielen und ihm ein noch animalischeres Aussehen verliehen, und ließ es zu, dass auch die letzten Hemmungen, die er sich bis zu diesem Zeitpunkt bewahrt hatte, sich in Luft auflösten. Zum ersten Mal gab es absolut nichts mehr, das sie voneinander unterschied. Ihre Stimmen, ihre Bewegungen, ihre Leidenschaft - all das war eins; und mit jeder Sekunde, die sie sich mehr und mehr fallen ließen und sich, vertieft in ihren Akt, einander hingaben, wurde auch das grausame Gefühl der Einsamkeit stärker, die zurückbleiben würde, sobald sie sich wieder trennten. Trotz der Angst und der furchtbaren Ungewissheit, die er verspürte, gewann der Teil in ihm, der gierig nach immer mehr verlangte, und sie trieben sich gegenseitig so weit, dass er drohte, alles um sich herum zu vergessen. Kurz, nur für einen winzigen Augenblick, glaubte er zu sehen, wie etwas an Loki sich veränderte; wie seine Haut heller und wärmer wurde und das Glühen aus seinen Augen verschwand, bevor sie sich ihrem Höhepunkt näherten, der begleitet von einer gewaltigen Hitze erst Thor und schließlich Loki überkam, nur um sie danach erschöpft und schwer atmend zurückzulassen, Arm in Arm in der Dunkelheit - nur sie beide, wie es sie niemals wieder geben würde. Müde und von einer schmerzlichen Melancholie erfüllt lehnte er an der starken Schulter zu seiner Rechten. Hier saßen sie, zu zweit und so nah beieinander, und doch war er allein. Nichts als Stille lag in der eisigen Luft; eine sehr merkwürdige Stille. Sie erschien ihm so unvollkommen. Aber vielleicht kam es ihm auch nur deshalb so vor, weil er selbst sich so unvollkommen fühlte? Nein. Eigentlich hätte er sich ausgeglichen fühlen müssen. Zufrieden, weil er nach langer Zeit endlich das bekommen hatte, was er wollte. Weil er sein Ziel erreicht hatte... und das hatte er wahrlich. Trotz anfänglicher Komplikationen war sein Plan aufgegangen, er hatte besser funktioniert als er es sich ursprünglich erhofft hatte. Er hatte es allen Ernstes geschafft, dass Thor seine Fehler eingestand, ihm zuhörte und sich einmal in seine Lage versetzte, anstatt wie üblich nur an sich und seine heile Welt zu denken. Mehr noch, er hatte es fertiggebracht, dass er ihn begehrte, trotz der Tatsache, dass Thor fest mit einer Frau liiert war und bisher niemals irgendeine erdenkliche Art von Interesse an ihm gezeigt hatte. Er war so unglaublich durchschaubar. Es war ein Leichtes gewesen, ihn dorthin zu bekommen, wo er ihn haben wollte; ihn zu manipulieren, auch ohne seine Magie einzusetzen. Er kannte ihn gut genug, um zu wissen, wie er bei ihm vorgehen musste, um sein Handeln zwecks eigener Vorteile in eine andere Richtung zu lenken. Nicht zum ersten Mal hatte er gewusst, sich das zunutze zu machen. Was konnte er nicht alles bewerkstelligen, wenn er nur genug Eifer aufbrachte. Was konnte er nicht alles erreichen dank seiner Fähigkeit, sich durch Intrigen und einfache Tricks Vorteile zu verschaffen. Was konnte er sich nicht alles vormachen. Aber eines machte ihn all das letztendlich trotzdem nicht: Glücklich... Vage registrierte er, dass Thor ihn ansah. Ein stummer Blick, schwermütig, weil er wusste, dass der Moment jetzt gekommen war. Der Moment des Abschieds. Loki lächelte. Das tat er immer in Situationen wie dieser, in denen er seine wahre Unsicherheit vor der Außenwelt verbergen musste. Er lächelte, und kurze Zeit später hatten sie beide sich erhoben und lagen sich in den Armen, lange, so lange, dass er sich fragte, ob Thor ihn jemals wieder loslassen würde. So rein und ehrlich war seine Umarmung, dass er all seine Beherrschung dazu aufbringen musste, sich nicht in seinen Gefühlen zu verlieren; sich nicht in einem Anfall von Verletzlichkeit an ihn zu klammern, wie ein einsames Kind, das bei seinem Bruder Trost suchte. Jämmerlich war es, einfach jämmerlich. Er durfte jetzt nicht schwach werden. Rechtzeitig hatte er seine Fassung wiedererlangt, als sie sich nun gegenüberstanden, lächelnd, während Loki seine letzten freundlichen Worte an Thor richtete, bevor seine eiserne Fassade erneut bröckeln konnte. „Meine Frist... ist abgelaufen. Ich bin wohl oder übel dazu gezwungen, jetzt wieder zu gehen und diese Welt zu verlassen.“ Thor blickte ihm hinterher, als er sich ein paar Schritte von ihm entfernte. Er sah aus, als wolle er etwas sagen, wisse aber nicht, wie er es ausdrücken soll. „Ich danke dir. Die vergangenen Stunden hätten nicht schöner sein können, und... das habe ich dir zu verdanken, Bruder“, sagte Loki, überrascht von seinen eigenen Worten, die nicht Teil seines Planes waren. „Du hast mir meinen Wunsch erfüllt. Das bedeutet, ich kann hier nicht länger bleiben. Aber sei versichert, dass wir uns eines Tages wiedersehen werden. Irgendwann...“ Das war der Abschluss gewesen. Mit diesem Versprechen ging er fort, verschwand in einem gleißenden Licht und ließ Thor allein in dem kleinen Gästezimmer zurück. „Loki...!“, hörte er ihn rufen, und er sah, wie er traurigen Blickes die Stelle fixierte, an der er bis eben gestanden hatte. Nun, in Wirklichkeit tat er das noch immer. Nur war er für ihn nicht mehr sichtbar. Er hielt es für besser, Thor in dem Glauben zu lassen, er sei in die Totenwelt zurückgekehrt; an einen Ort, an dem er ihn gar nicht erst suchen geschweigedenn finden könnte. Es würde weiterhin alles so bleiben wie es war, nichts würde sich verändern - zumindest für ihn. Lange noch blieb Loki dort stehen, und erst als Thor das Zimmer verließ, beschloss er, ihm unbemerkt zu folgen. Er beobachtete ihn dabei, wie er sich ein abgetragenes Shirt überstreifte und in Shorts schlüpfte, die er schnell hervorgekramt hatte, und wie er sich dann für wenige Minuten ins Badezimmer zurückzog, bevor er sich zu Jane gesellte und eine volle Stunde lang wach lag, ohne auch nur den Versuch zu starten, einzuschlafen. Die Augen starr an die Decke gerichtet lag er neben ihr und bewegte sich nicht, bis er sich irgendwann doch auf die Seite wälzte, seine schlafende Freundin betrachtete und ihre Hand nahm. Friedlich sahen sie aus. Und obwohl er auch im Dunkeln der Nacht den nachdenklichen Ausdruck in Thors Gesicht erkennen konnte, wusste er, dass sie friedlich miteinander verbleiben würden - sie und er. Sie würden eine Familie gründen und glücklich werden, genauso wie Thor es gesagt hatte, und wenn sie irgendwann das Zeitliche segnete, würde Thor sein Glück in einer neuen Liebe mit einer anderen Frau finden. Ohne Zweifel würde es so sein, das wusste er. Aber es war in Ordnung. Du wirst dich trotz allem an mich erinnern. Für immer. Dafür habe ich gesorgt. Eines Tages würden sie sich ohnehin wiedersehen. Er hatte es ihm versprochen, und es war keine Lüge gewesen. Vieles war eine Lüge, jedoch nicht alles. Es stand außer Frage, dass sie sich wieder gegenüberstehen würden; nur wann, das konnte bloß die Zukunft zeigen. Wann, wie und wo. Niemand konnte sagen, wie es werden würde an diesem Tag. Ob sie sich jemals wieder in die Augen sehen können würden. Was würden sie sein? Rivalen? Brüder? ... Freunde? Mit einem Lächeln, das ausnahmsweise nicht seiner Fassade diente, begab er sich auf den Heimweg, zurück nach Asgard. Vielleicht, dachte er, gab es ja tatsächlich noch eine Chance für sie, ihre Differenzen endlich auf ewig zu begraben. Vielleicht... „Gefällt es dir?“ Janes sanfte Stimme war voller Harmonie und strahlte solch eine Wärme aus, dass ein akuter Glücksmoment ihn erfasste. Er hatte es so gut, dass er Weihnachten mit einer Frau wie ihr verbringen durfte, daheim, in ihrem eigenen, kleinen, inzwischen wieder beheizten Zuhause, das nur ihnen gehörte. „Ja, es ist... wundervoll“, sagte er, gerührt und beeindruckt von der Mühe, die sie sich mit seinem Geschenk gemacht hatte. Es war ein großes Album, in das sie all die gemeinsamen Fotos geklebt hatte, die in der Zeit, die er nun auf der Erde lebte, entstanden waren. Auf manchen Bildern waren Eric und Darcy zu sehen, und jedes der Fotos spiegelte das besondere Glück wider, das sie miteinander gefunden hatten. Ein Smartphone hatte er auch bekommen. Offenbar waren Jane und die anderen der Ansicht, er könne dringend ein eigenes gebrauchen, damit er sich auf Midgard zukünftig besser zurechtfinde und ihm nicht ständig jemand eines leihen müsse. Alle hatten sie etwas von ihren Ersparnissen dazu beigetragen, ihm diese Freude machen zu können. Er hatte einfach die besten Freunde, die man sich nur wünschen konnte. Sein Geschenk war ebenfalls ein voller Erfolg gewesen. Er hatte es ihr bereits am Abend zuvor überreicht. Wobei 'überreicht' in dem Fall nicht wörtlich zutraf, denn es war kein materielles Geschenk gewesen. Als er sich vor einigen Tagen wieder eine Weile in der Stadt aufgehalten hatte, um nachzudenken und einen klaren Kopf zu bekommen, hatte er ihn wieder an seinem üblichen Platz sitzen sehen - den Straßenmusiker mit seiner Gitarre. In denselben schmutzigen Fetzen hatte er dort in der Kälte seine Lieder gespielt, einsam und allein und auf die Gutmütigkeit der Passanten angewiesen. So angestrengt hatte er tagelang überlegt, was er seiner Freundin schenken sollte. Worüber sie sich wohl freuen würde. Und dann war ihm schlagartig eine Idee gekommen, die gleichzeitig so simpel und doch perfekt war: Er hatte nicht viel Geld ausgeben müssen, um ihr eine Freude zu machen. Er hatte schlicht und einfach einen romantischen Abend mit ihr verbracht, hatte sie zum Essen ausgeführt und war mit ihr spazieren gegangen, um ihr zu beweisen, dass er an sie dachte. Er wusste es zu schätzen, dass er an Weihnachten nicht einsam und frierend auf dem Bürgersteig sitzen musste, sondern alles hatte, was er brauchte. Und sie war ihm dankbar gewesen für das, was er sich hatte einfallen lassen. Alles war perfekt, ja. Anders konnte er es nicht beschreiben. „Das war es auch schon. Noch sind zwar nicht viele Bilder darin, aber es wird bestimmt nicht allzu lange dauern, bis das Album erst einmal voll ist“, sagte Jane gut gelaunt, während sie offenbar die letzte Seite aufgeschlagen hatte. „Schau mal, hier ist das Foto, das Darcy von uns geschossen hat, als du deinen Bekannten zum Essen mitgebracht hast!“ „Sofort, Schatz“, murmelte er, gerade damit beschäftigt, sich nebenbei ein wenig mit seinem neuen Smartphone vertraut zu machen. Faszinierend, mit welcher Vielfältigkeit die Menschen ihre Technik ausstatteten. „Bei Ian und Darcy ist übrigens wieder alles in Ordnung“, plauderte Jane fröhlich weiter. „Ihre kleine Auseinandersetzung hat sich wohl schnell geklärt. Sie hat ihm einen Ring geschenkt. Zumindest hatte sie mir erzählt, dass sie es vorhat. Bei ihnen ist eben alles etwas verdreht! Siehst du, was für ein entnervtes Gesicht er hier macht? Wie ein beleidigtes Mädchen...!“ Langsam legte er sein Smartphone beiseite und besah sich das Bild selbst. Und mit einem Mal stockte ihm der Atem und er merkte, dass er fürchterlich blass wurde. „Thor? Geht es dir gut...?“, hörte er seine Freundin mit besorgter Stimme fragen. Scheinbar hatte sie selbst es nicht bemerkt - die Reflektion in der Glasscheibe, dort, wo eigentlich das Spiegelbild des Straßenmusikers hätte zu sehen sein müssen. Dort war ein Gesicht, aber es war eindeutig nicht das, das dorthin gehörte. Wie eine geisterhafte Erscheinung lächelte ihm die Spiegelung auf dem Foto entgegen, die schwarzen Haare im engen Kontrast zu den hellen, grünen Augen, die eindeutig auf ihn gerichtet waren. Genau hier und jetzt wurde er von ihm gesehen. „... Mir geht es gut, ja“, antwortete er zögerlich, klappte das Buch zu und stand auf. „Mir ist nur gerade eingefallen, dass ich... dringend etwas erledigen muss. Einkaufen. Wir haben keine Milch mehr.“ „Die Geschäfte haben geschlossen. Bist du sicher, dass es dir gut geht?“ „Ja... Ganz sicher.“ Den restlichen Tag über hatte er mit einer seltsamen Nervosität zu kämpfen. Selbst in der Nacht fand er keine Ruhe. Als Jane bereits schlief, saß er grübelnd auf der Bettkante, und schließlich konnte er nicht anders als aufzustehen und es sich noch einmal anzusehen. Er musste sich vergewissern, ob es noch da war. Möglicherweise hatte er es sich ja eingebildet? Leise zog er das Album aus dem Regal und schlug die letzte beklebte Seite auf. Da war er. Noch immer. Als wäre er jetzt in diesem Augenblick mit ihm im selben Raum, erwiderte Thor sein Lächeln, und ruhig, kaum hörbar, flüsterte er: „Frohe Weihnachten, Loki...!“, bevor er Janes Geschenk an seinen Platz zurückstellte und durch die Dunkelheit wieder ins Schlafzimmer schlich. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)