Are You Sane, Baby? von Blaubeere20 ================================================================================ Kapitel 3: Tabletten schlucken und Ängste spucken | Ryou -------------------------------------------------------- Ist in der Schule etwas vorgefallen?”, im Wohnzimmer war es still. “Ich bin dort nicht willkommen”, erklärte ich und fühlte mich genau so, wie Dad es beschrieben hatte; verweichlicht und schwach. Wie eine Lusche. Mum nickte leicht und blickte über meine Schulter, in die Ferne. Sie wusste, dass es mir die meiste Zeit nicht gut ging und wie ich jeden Tag kämpfen muss, um auch nur aufzustehen. Während Mama die war, die mich verstand, entwickelte sich Dad mit den Jahren zu ihrem Gegenteil. Als er merkte, dass ich nicht so taff, wie die anderen Jungs war, begann er, mich zu kritisieren. Während die Burschen in meiner Klasse schon feste Freundinnen oder zumindest One Night Stands hatten, beschäftigte ich mich lieber mit Modemagazinen und Kunst. Die Bezeichnung “Schwuchtel” war vielleicht nicht ganz so verfehlt; ich könnte mir nicht vorstellen, ein Mädchen zu beschützen und auf sie aufzupassen. Stattdessen würde ich mir jemanden an meiner Seite wünschen, der auf mich Acht gibt. Ich bin schreckhaft, zerbrechlich und liebesbedürftig. Und welche Figur würde besser zu mir passen, als ein großer, starker Mann, der mich im Arm hält? “Wann ist dein nächster Termin beim Arzt? Hast du noch Anti-Depressiva?”, fragte Mum, die sich seit meinem aller ersten Arztbesuch Sorgen um mich machte. “Ich gehe heute welche holen”, gab ich von mir und presste die Lippen zusammen. Theoretisch müssten diese Tabletten wirken, da sie den Serotoninspiegel erhöhen, sprich: die Glückshormone. Bei Depressionen wird die Gehirnregion, die für diese Hormone verantwortlich ist, blockiert. Anti-Depressiva lösen diese Blockade. Jedoch gibt es da ein Problem; die Medikamente lindern meine Symptome, aber nicht den Grund für meine Symptome. Welches da wäre: Einsamkeit und Missverständnis. Mum und ich redeten oft darüber, ob ich die Schule wechseln wollen würde. Ich aber bezweifelte, dass das viel helfen würde. Wer weiß, ob meine Art in einem anderen Schulgebäude akzeptiert werden würde? Natürlich bestünde die Möglichkeit. Aber die Schule, in der ich war, hatte einen sehr guten Ruf und es wurde sehr anerkannt, wenn man diese abgeschlossen hatte. Nur noch ein Jahr, dann wäre ich draußen. Dann hätte ich endlich etwas, worauf ich stolz wäre. “Rezept hast du?”, riss es mich aus meinen Gedanken. “Ja, hab’ ich”, versicherte ich und beschloss, mich auf den Weg zu machen. “Ach, ja: Schöner Goldring”, fiel ihr auf. Ich lächelte sie warm an und drückte sie noch, bevor ich erneut für diesen Tag aus dem Haus ging. Die Apotheke war nur 5 Minuten von mir entfernt, was ein umständiges hin- und herfahren vermied. Es war inzwischen 12 Uhr und die Wärme erreichte ihren Höhepunkt. Es war ein schöner Junitag, den viele Menschen fürs Schwimmen nutzten. Familien waren mit Sporttaschen bepackt und trotteten glücklich die Straßen entlang oder warteten bei Haltestellen. Wann war ich das letzte Mal schwimmen? Ich konnte mich nicht mehr erinnern. Es ist sicherlich schon 4 Jahre her, denn die Bänder an meinen Handgelenken würden viel zu komisch ausschauen. Und noch verrückter würde es aussehen, wenn ich sie nicht tragen würde. Stellt euch doch mal vor, ihr seht eine Person mit frischen Narben an den Armen im Schwimmbad… Ich hatte die Apotheke erreicht und zog die Türe, zum Öffnen. Ein Schmerz durchzuckte meine Armmuskeln, als ich dies tat. Scheint so, als hätte sich ein Muskelkater in mir breit gemacht. Es roch nach dem typischen Apothekengeruch, als ich den kleinen Laden betrat. Der Geruch gab mir eine Art Heimatgefühl und zugleich machte er mich traurig. Es war mittlerweile schon Routine, meine Medikamente zu holen. Es waren ein paar Leute hier, die sich Dinge, wie Nasensprays kauften, wegen der Pollenallergie. Wenn man hier so als Nichtallergiker stand, fühlte man sich schon fast topgesund. Doch das war ich nicht… Als ich mein Rezept der Dame vorzeigte, die mich schon kannte, zog sie eine Augenbraue hoch; “Keine Schlaftabletten?”. Ich schüttelte den Kopf und lächelte leicht; “Ich versuche, sie abzusetzen”. Wir beide wussten, dass so etwas erst möglich war, wenn man wieder psychisch gesund war. “Ganz sicher? Ich würde sie dir dazugeben”, die Frau hielt mir die Packung hin. “Ganz sicher”, bestätige ich und zahlte nur die erste Packung. Dankend verabschiedete ich mich und machte mich auf den Weg zurück. Als ich die Türe öffnete, flog mir Konfetti und Glitzer entgegen; “Happy Birthday, mein Großer!” - Mum. Sie hatte einen Partyhut auf und man sah eine Torte am Tisch stehen. Ich schnitt mir ein Stück ab und wollte hoch in mein Zimmer, als Dad plötzlich vor mir stand. “Wieso zittern deine Arme?”, wollte er wissen. Ich ignorierte ihn und ging an ihm vorbei. Wenn er wüsste, dass es vom Sportunterricht wäre, würde er nur wieder auf mir herumreiten. So ging ich die Treppen hoch und betrat mein Zimmer, in dem meine Katze Aurora war. Sie lag gemütlich auf meinem Bett und schnurrte vor sich hin. Als sie mich wahrnahm, sprang sie auf den Boden und lehnte sich liebesbedürftig an mich. “Hey, Kleine!”, begrüßte ich sie und setzte mich aufs Bett. Wie in Zeitlupe aß ich das Stückchen Torte; der ganze Appetit war mir vergangen. Den Teller, der irgendwann leer geworden war, stellte ich auf mein Nachtkästchen. Aurora miaute mehrmals, was mir den Verdacht gab, dass sie Hunger hatte. “Ich kann nicht aufstehen”, brummte ich und zog mir die Decke über den Kopf.Ich kann nicht aus dem Bett. Meine Augen schlossen sich, und mich überkam wieder diese unglaublich starke Müdigkeit, die ich nicht kontrollieren konnte. Nein, Ryou - wenn du jetzt einschläfst, bleibst du die ganze Nacht wach. Und dann schleichen sich die ganzen schlimmen Gedanken ganz nah an dich heran. Die Dunkelheit wird dich komplett auffressen. Unter dem Gefühl, zu ersticken, überstehst du die finsteren Stunden dann irgendwie, bevor dann ein paar Minuten später der Wecker klingelt - Schule. Ich richtete mich auf und sah aus dem Fenster; Stirbt man, wenn man aus dieser Höhe springt? Oder bricht man sich da nur ein Bein? Mein Grübeln hielt mich mehrere Stunden wach und hinderte mich daran, einzuschlafen. Ich weiß nicht, ob das nun besser war, als gedankenlos ins Land der Träume geschickt zu werden. Um 19 Uhr setzte ich mich für zwei Stunden an den Computer und sah nach, wann und wo die nächste Kunstausstellung war. Um 21 Uhr machte ich mich bettfertig und startete den ersten Versuch seit vier Jahren, ohne Tabletten einzuschlafen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)